Heinrich Triepel: Leben und Werk [1 ed.] 9783428492169, 9783428092161

Die vorliegende Studie befaßt sich mit Leben und Werk Heinrich Triepels (1868-1946), einem der bedeutendsten deutschen S

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Heinrich Triepel: Leben und Werk [1 ed.]
 9783428492169, 9783428092161

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Ulrich M. Gassner · Heinrich Triepel

Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht Herausgegeben von Wolfgang Graf

Vitzthum

in Gemeinschaft mit M a r t i n Heckel, Karl-Hermann Kästner F e r d i n a n d K i r c h h o f , Hans v o n M a n g o l d t Thomas Oppermann, Günter Püttner Michael Ronellenfitsch sämtlich in Tübingen

Band 51

Heinrich Triepel Leben und Werk

Von Ulrich M. Gassner

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gassner, Ulrich M.: Heinrich Triepel : Leben und Werk / von Ulrich M. Gassner. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht ; Bd. 51) Zugl.: Tübingen, Univ., Habil.-Schr., 1995 ISBN 3-428-09216-3

D 21 Alle Rechte vorbehalten © 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6061 ISBN 3-428-09216-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier

entsprechend ISO 9706 θ

Dem Andenken meiner Eltern

Vorwort I. „Habent libelli sua fata" - gewiß ein Gemeinplatz, doch in diesem Fall vielleicht angebracht: Das erste Mal ist mir die Person Heinrich Triepel in einem Referat zum Thema „Vernunftrepublikaner" begegnet, das ich im Wintersemester 1985/86 in einem Seminar über „Geistig-politische Strömungen in der Weimarer Republik" des unvergessenen Tübinger Öffentlichrechtlers Roman Schnur gehalten habe. Nicht zuletzt aufgrund der Anregungen, die ich in diesem Seminar empfangen hatte, war ich mir nach dem Referendarexamen recht bald darüber klargeworden, eine wissenschaftsgeschichtliche Dissertation biographischen Zuschnitts schreiben zu wollen. Dafür, daß die Wahl auf Heinrich Triepel fiel, waren im wesentlichen zwei Gründe ausschlaggebend: Zum einen hat Triepel neun Jahre in Tübingen gelehrt, so daß ein lokaler Bezug gegeben war. Zum anderen war er bislang im Schrifttum recht stiefmütterlich behandelt worden. Zwar gab es verdienstvolle Abhandlungen von Carl Bilfinger 1 und Rudolf Smend2 sowie aus neuerer Zeit die besonders gedankenreiche Studie Alexander Hollerbachs 3. Im Gegensatz zu anderen bedeutenden Staatsrechtslehrern dieses Jahrhunderts, wie etwa Hugo Preuß4 oder Carl Schmitt5, war Triepel aber noch keine Monographie gewidmet worden. Zunächst hatte sich der Tübinger Ordinarius Robert Scheyhing bereit erklärt, die Dissertation zu betreuen. Wiewohl von Haus aus Zivilrechtler, befaßte er sich auch eingehend mit verfassungsrechtlichen und wissenschaftsgeschichtlichen Fragen6. Nach dessen allzu frühem Tod im Jahre 1989 war Thomas Oppermann so freundlich, die Betreuung der Arbeit zu übernehmen. Nachdem ich die Dissertation Ende 1991 der Tübinger Juristenfakultät eingereicht hatte, teilte er mir Mitte 1992 überraschend mit, sie sei seines Erachtens habilitationswürdig. Dank seiner Fürsprache konnte ich mich dann tatsächlich mit der Ursprungsfassung der Arbeit im Januar 1995 habilitieren. Ein halbes Jahr zuvor war ich über ein wirtschaftsverfassungsrechtliches Thema promoviert worden.

1

Bilfingen ZaöRV 1950/51, S. 1-13. Smend, Triepel, S. 107-120. 3 Hollerbach, AöR 91 (1966), S. 417-441. 4 Gillessen (1955). 5 Bendersky (1983). 6 Ein eindrucksvoller Beleg hierfür ist seine 1968 erschienene „Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit". 2

Vorwort

8

Ich stand nun vor der Aufgabe, meine Studie über Triepel bis zur Publikationsreife zu überarbeiten. Dieses Vorhaben war jedoch nicht so schnell zu bewältigen, wie ich dies ursprünglich geplant hatte. Dies lag nicht zuletzt auch daran, daß in der Zwischenzeit doch eine überraschend große Menge einschlägiger Literatur erschienen war, die es einzuarbeiten galt7. Darüber hinaus sah ich mich veranlaßt, aufgrund nicht weniger eigener Trouvaillen und auch vieler Hinweise von dritter Seite noch zahlreiche inhaltliche Ergänzungen und Verbesserungen vorzunehmen. Die Gliederung der Arbeit habe ich dagegen weitgehend beibehalten. II. Eine solche Arbeit kann nicht nur das Werk eines Einzelnen sein. Ich danke daher allen, die hierzu einen Beitrag geleistet haben. Mein ganz besonderer Dank gilt meiner lieben Mutter, Frau Anne Votteler, geb. Knöller, die sich der Mühe unterzogen hat, die teilweise kaum leserlichen handschriftlichen Dokumente aus verschiedenen Quellen zu transskribieren. Sehr zu Dank verpflichtet bin ich auch Frau Renate v. Gebhardt, der Enkelin Triepels, die mir nicht nur Einblick in den (Rest-)Nachlaß gewährte, sondern auch bereitwillig weitere Auskünfte erteilte. Dem Freiburger Emeritus Alexander Hollerbach danke ich dafür, daß er mich nicht nur zu dieser Arbeit ermutigt, sondern mir auch Triepel betreffende Archivalien zur Verfügung gestellt hat. Hartmut Maurer (Konstanz) hat mir freundlicherweise gestattet, in die in seinem Besitz befindlichen Vorlesungsmitschriften Einblick zu nehmen8. Für manchen wertvollen Hinweis habe ich ferner Lothar Becker (München), Konrad Hesse (Freiburg), Helmut Marcon (Tübingen), Hermann Mosler (Heidelberg), Reinhard Mußgnug (Heidelberg), Andreas Sattler (Göttingen), Walter Pauly (Jena), Michael Stolleis (Frankfurt a. M.), Manfred H. Wiegandt (Bonn), Thomas Wirth (Worms), Daniela Westphalen (Dreieich) und vielen anderen zu danken. Der Reinhold-und-Maria-Teufel-Stiftung (Tuttlingen) verdanke ich die finanzielle Unterstützung einer Archivreise, die mich im Sommer 1988 nach Berlin (Ost), Dresden und Merseburg geführt hat. Das Reisestipendium wurde mir aufgrund der befürwortenden Stellungnahme des Tübinger Kriminologen Hans-Jürgen Kerner gewährt. Besonderer Dank gebührt den Mitarbeitern der dortigen Archive, die meinen Bitten um Einsichtnahme in Dokumente und Fertigung von Kopien trotz der damals recht schwierigen Arbeitsbedingungen unbürokratisch entsprachen. Auch in den anderen von mir besuchten Archiven war das Personal stets sehr hilfsbereit. Dankenswerterweise wurden meine

7

Zu nennen sind hier vor allem die Arbeiten von Friedrich (1997), Pauly (1992) und Stolleis (1992, 1996 und 1999). 8 Weitere Vorlesungsmitschriften befinden sich in den Beständen des Max-PlanckInstituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (Heidelberg) und des Tübinger Universitätsarchivs, vgl. Quellen- und Literaturverzeichnis, IV. 5.

Vorwort

schriftlichen Anfragen ebenfalls zügig bearbeitet. Für zahlreiche hilfreiche Hinweise danke ich ferner allen Kennern von Triepels Werk, besonders denjenigen aus den Reihen meiner Heimatfakultät. Mein aufrichtiger Dank gilt schließlich Martin Heckel, der so freundlich war, die Zweitbegutachtung der Habilitationsschrift zu übernehmen, sowie vor allem Thomas Oppermann, ohne dessen ermutigenden Zuspruch die Arbeit nicht ihre jetzige Gestalt gewonnen hätte.

Augsburg, im August 1999

Ulrich M. Gassner

Inhaltsverzeichnis Einleitung

21

Erster Teil

Leben 1. Kapitel: Familiäre Herkunft, Kindheit und Schule

26

2. Kapitel: Studienjahre in Freiburg und Leipzig

33

3. Kapitel: Referendariat und erste Lehrtätigkeit

40

4. Kapitel: Tübingen 1900-1909

50

5. Kapitel: Kiel 1909-1913

63

6. Kapitel: Berlin 1913-1944

76

I. An der Friedrich-Wilhelms-Universität 1. Fakultät

76 76

2. Lehre

80

3. Berufliche Anerkennung

85

4. Ämter in der akademischen Selbstverwaltung

88

5. Literarisches Schaffen

91

6. Schüler und Kollegen

92

7. Politisch-publizistisches Ränkespiel

94

8. Vorzeitiger Abschied vom Lehramt

98

II. Außeruniversitäre Aktivitäten 1. Verein „Recht und Wirtschaft"

104 104

a) Inhalt des Verfassungsentwurfs

106

b) Bedeutung des Verfassungsentwurfs

113

2. Staatswissenschaftliche Gesellschaft

119

3. Deutsche Gesellschaft für Völkerrecht

121

4. Deutscher Juristentag

127

5. Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

133

a) Gründung

133

b) Entwicklung

139

c) Auflösung

141

6. Rechtsschutzgemeinschaft der deutschen Fakultäten

145

7. Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

146

12

nsverzeichnis

8. Verfassungsausschuß der Länderkonferenz 9. Historische Reichskommission 10. Herausgebertätigkeit 11. Institut international de Droit public 12. Sonstige außeruniversitäre Aktivitäten

151 162 163 168 168

III. Homo politicus 1. Kaiserreich 2. Weimarer Republik 3. „Drittes Reich"

170 170 179 186

IV. Privates

189

7. Kapitel: Untergrainau 1944-1946

196

Zweiter Teil

Werk 8. Kapitel: Öffentliches Recht und Methodik I. Frühschriften 1. Das Interregnum ( 1892) 2. Die Entstehung der konstitutionellen Monarchie (1899) 3. Wahlrecht und Wahlpflicht ( 1900) 4. Der Streit um die Thronfolge im Fürstentum Lippe (1903) II. Triepels Kritik des staatsrechtlichen Positivismus 1. Der wissenschaftsgeschichtliche Hintergrund 2. Wege zu materialem Verfassungsdenken a) Grundlegung in den Jahren 1907 und 1908 b) Bedeutung c) Ursachen d) Bekräftigung und Erweiterung e) Kritik und Metakritik 3. Zusammenfassende Würdigung

202 202 202 209 213 216 222 223 230 230 239 247 251 263 286

III. Elemente einer materialen Staatslehre 1. Staatsbegriff 2. Der Begriff des Politischen

290 291 294

IV. Staatenverbindungen 1. Unitarismus und Föderalismus (1907) 2. Die Kompetenzen des Bundesstaats und die geschriebene Verfassung (1908) 3. Die Reichsaufsicht (1917) 4. Unitarismus und Föderalismus in der Weimarer Reichsverfassung

297 298 306 310 323

nsverzeichnis

5. Die Hegemonie (1938) a) Die Hegemonie als universale Rechtsfigur b) Zeitgenössische Kritik und aktuelle Bedeutung 6. Nach 1945: Vom „Herzensunitarier" zum „Vernunftföderalisten"? V. Aspekte materialen Rechtsstaatsdenkens 1. Rechtsstaatsbegriff 2. Grundrechte und Einrichtungsgarantien a) Grundrechtsfunktionen b) Gleichheitsgebot (Art. 109 WRV) aa) Von der Rechtsanwendungsgleichheit zur Rechtsetzungsgleichheit bb) Entwicklung und Bedeutung der neuen Lehre c) Eigentumsgarantie (Art. 153 WRV) d) Wohlerworbene Beamtenrechte (Art. 129 Abs. 1 S. 3 WRV) 3. Rechtsschutz a) Richterliches Prüflingsrecht b) Verfassungsgerichtsbarkeit 4. Grenzen der Delegation von Gesetzgebungsbefiignissen a) Ermächtigungsgesetzgebung b) Verfassungsdurchbrechung c) Legale Revolution 5. Zusammenfassung VI. Einzelthemen 1. Parteien und Parlamentarismus 2. Alternativen zum Parteienstaat 3. Kontinuität und Wandel des Staatsideals 4. Staatsdienst und staatlich gebundener Beruf (1911) 5. Delegation und Mandat im öffentlichen Recht (1942) 6. Verwaltungsrecht 9. Kapitel: Völkerrecht I. Völkerrecht und Landesrecht ( 1899) 1. Inhalt 2. Rezeption und Kritik II. Einzelfragen des Völkerrechts 1. Völkerbund und Kriegsschuldfrage 2. Staatsangehörigkeitsrecht 3. Extraterritoriale Zwangsvollstreckung 4. Internationale Wasserläufe 5. Private Außenpolitik

13

333 333 347 351 355 355 358 358 362 362 366 371 372 374 374 378 388 388 392 398 401 402 402 416 425 428 434 442 446 446 446 459 470 470 471 474 474 476

III. Humanitäres Völkerrecht

478

IV. Seekriegsrecht

480

nsverzeichnis

14

1. Regeln der Seekriegfuhrung

481

2. Geschichte des Seekriegsrechts

489

V. Das Verhältnis zur nationalsozialistischen Völkerrechtslehre VI. Die Zukunft des Völkerrechts - 1916 und 1946 1. Bewährung des Völkerrechts 2. Umwälzung des Völkerrechts 10. Kapitel: Rechtsästhetik

490 494 494 499 504

I. Möglichkeit einer ästhetischen Betrachtung des Rechts II. Grundsätze der ästhetischen Würdigung rechtlicher Phänomene

504 507

III. Stile rechtlicher Erscheinungen 1. Objektiver Rechtsgeist 2. Objektivierter Rechtsgeist

508 511 512

IV. Kritische Würdigung

514

Schlußbetrachtung

518

Quellen- und Literaturverzeichnis I. Bibliographie 1. Öffentliches Recht, historisch-politische Arbeiten a) Selbständig erschienene Schriften b) Aufsätze und sonstige Beiträge in Zeitschriften, Festschriften, Sammelwerken und Lexika c) Rechtsgutachten, soweit nicht unter a) oder b) d) Ansprachen und Redebeiträge, soweit nicht unter a) oder b) e) Rezensionen f) Zeitungsbeiträge g) Quelleneditionen und sonstige Herausgebertätigkeit h) Sonstiges 2. Völkerrecht a) Selbständig erschienene Schriften b) Aufsätze und sonstige Beiträge in Zeitschriften, Festschriften, Sammelwerken und Lexika c) Rechtsgutachten und Denkschriften, soweit nicht unter a) oder b) d) Redebeiträge, soweit nicht unter a) oder b) e) Rezensionen f) Zeitungsbeiträge g) Quelleneditionen und sonstige Herausgebertätigkeit 3. Varia

525 525 525 527 528 529 530 531 531 532 532 532 533 533 534 534 535 535 536

nsverzeichnis

15

a) Selbständig erschienene Schriften 536 b) Aufsätze und sonstige Beiträge in Zeitschriften, Festschriften, Sammelwerken und Lexika 536 c) Zeitungsbeiträge 536 II. Schrifttum und Quellen mit biographischen Daten

537

III. Rezensionen zu Schriften Triepels

538

IV. Ungedruckte Quellen 1. Staatliche Archive 2. Universitätsarchive und -bibliotheken 3. Sonstige Archive 4. Zitierte mündliche (m) und schriftliche Mitteilungen und Auskünfte 5. Vorlesungsmitschriften

543 543 545 546 546 547

V. Gedruckte Quellen

547

VI. Literatur

550

1. Bis 1945 2. Ab 1946

550 562 Personenregister

596

Sachregister

602

Abkürzungsverzeichnis a. Α.

anderer Ansicht

Abs.

Absatz

AcP

Archiv für civilistische Praxis

a. E.

am Ende

AfDR

Akademie für Deutsches Recht

a. M.

anderer Meinung

Anm.

Anmerkung

AöR

Archiv für öffentliches Recht bzw. (seit 1911) Archiv des öffentlichen Rechts

APuZ

Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilage zur Zeitschrift „Das Parlament")

ARSP

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie

Art.

Artikel

ARWP

Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie

AStA

Allgemeiner Studentenausschuß

ASWS

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik

Aufl.

Auflage

AVR

Archiv des Völkerrechts

BA

Bundesarchiv Koblenz

BayVBl.

Bayerische Verwaltungsblätter

Bd.

Band

Bde.

Bände

bearb.

bearbeitet

begr.

begründet

BNSDJ

Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen

BRV

Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871 (Bismarcksche Reichsverfassung)

BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

chap.

chapitre

Abkürzungsverzeichnis

17

DAZ

Deutsche Allgemeine Zeitung

DBE

Deutsche Biographische Enzyklopädie

DCZ

Deutsche Corpszeitung

DDP

Deutsche Demokratische Partei

DeuPol

Deutsche Politik (Zeitschrift)

DeuV

Deutsche Verwaltung (Zeitschrift)

Dig.

Digesten

DJT

Deutscher Juristentag

DJZ

Deutsche Juristen-Zeitung

DLA

Deutsches Literaturarchiv

DNVP

Deutschnationale Volkspartei

DÖV

Die Öffentliche Verwaltung (Zeitschrift)

DOK

Die Ortskrankenkasse (Zeitschrift)

Drs.

Drucksache

DRZ

Deutsche Rechtszeitschrift

DVB1.

Deutsches Verwaltungsblatt

d. Verf.

der Verfasser

ebd.

ebenda

eingel.

eingeleitet

em.

emeritiert

erg.

ergänzte

erw.

erweiterte

EuGRZ

Europäische Grundrechte-Zeitschrift

FAZ

Frankfurter Allgemeine Zeitung

FischersZ

Fischers Zeitschrift für Verwaltungsrecht

Fn.

Fußnote (ggfs. auch getrennt paginiert)

fol.

folio

FW

Die Friedens-Warte (Zeitschrift)

geb.

geboren(e)

gest.

gestorben

ggfs.

gegebenenfalls

GrünhutsZ

Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart

2 Gassner

18

Abkürzungsverzeichnis

GS

Gesammelte Schriften

GStA PK

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz

Halbbd.

Halbband

HJb

Historisches Jahrbuch

h. M.

herrschende Meinung

hrsg.

herausgegeben

HZ

Historische Zeitschrift

i. E.

im Erscheinen

IheringsJb

Jahrbücher fur die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts (Zeitschrift)

insbes.

insbesondere

JfK

Jahrbuch für Kommunalwissenschaft

JöR

Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart

JuS

Juristische Schulung (Zeitschrift)

JW

Juristische Wochenschrift

JZ

Juristenzeitung

Kap.

Kapitel

KritV

Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft

LAS

Landesarchiv Schleswig-Holstein

MPG

(Archiv zur Geschichte der) Max-Planck-Gesellschaft

NatVers.

Nationalversammlung

NDB

Neue Deutsche Biographie

N. F.

Neue Fassung

NiemeyersZ

Niemeyers Zeitschrift für Internationales Recht

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

NL

Nachlaß

Ν. N.

nomen nescio

NrwHStA

Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv

NS

Nationalsozialistische^,s)

N.Y.U. L. Rev.

New York University Law Review

ÖZöR

Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht

Abkürzungsverzeichnis

19

ο. J.

ohne Jahr(esangabe)

OKW

Oberkommando der Wehrmacht

ο. Ο.

ohne Ort(sangabe)

ο. S.

ohne Seite(nangabe)

ο. T.

ohne Titel(angabe)

PAG

Privatarchiv Renate ν. Gebhardt

PrJb

Preußisches Jahrbuch

RdC

Recueil des Cours de l'Académie de Droit International

Rev. gén.

Revue générale de droit international public

RFHE

Sammlung der Entscheidungen und Gutachten des Reichsfinanzhofs

RGBl.

Reichsgesetzblatt

RJ

Rechtshistorisches Journal

Rn.

Randnummer(n)

RT

Reichstag

RuPrVBl.

Reichsverwaltungsblatt und Preußisches Verwaltungsblatt

RuW

Recht und Wirtschaft

RVB1.

Reichsverwaltungsblatt

SächsHStA

Sächsisches Hauptstaatsarchiv

SBB

Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz

SchmollersJb

Schmollers Jahrbuch fur Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche

SchwJZ

Schweizerische Juristen-Zeitung

seil.

scilicet

SJZ

Süddeutsche Juristen-Zeitung

SPD

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

SS

Sommersemester

StuW

Steuer und Wirtschaft (Zeitschrift)

UAL

Universitätsarchiv Leipzig

UAH

Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin

UAT

Universitätsarchiv Tübingen

UB

Universitätsbibliothek

Umdrucks.

Umdruckseite(n)

2*

20

Abkürzungsverzeichnis

VB1BW

Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg

VDStRL

Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

Verh.

Verhandlungen

VerwArch

Verwaltungs-Archiv

VfZG

Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte

VGH Bad.-Württ

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg

VjschrStuFR

Vierteljahresschrift für Steuer- und Finanzrecht

VKV

Volkskonservative Vereinigung

VN-Charta

Charta der Vereinten Nationen

VuV

Völkerbund und Völkerrecht (Zeitschrift)

WDStRL

Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

WRV

Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (Weimarer Reichsverfassung)

WS

Wintersemester

WVRK

Wiener Vertragsrechtskonvention

Ζ

Zentrum

ZAfDR

Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht

ZaöRV

Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

ZevKR

Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht

ZfG

Zeitschrift für Geschichtswissenschaft

ZfP

Zeitschrift für Politik

ZfV

Zeitschrift für Völkerrecht

ZGB

Schweizerisches Zivilgesetzbuch

zit.

zitiert

ZNR

Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte

ZöR

Zeitschrift für öffentliches Recht

ZRG (GA)

Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Germanistische Abteilung)

ZRG (RA)

Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Romanistische Abteilung)

ZStW

Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft

Wer der Göttin der Gerechtigkeit dient, soll ihren Thron auch vor den Angriffen eines machtlüsternen Gesetzgebers schützen, der sich vermißt, stärker zu sein als das Recht, das auch ihn bindet. Heinrich Triepel (DJZ 1926, Sp. 850)

Einleitung I. „Die Schatten großer Juristen wirksam zu beschwören, ist", wie Rudolf Smend einmal gerade in bezug auf Heinrich Triepel festgestellt hat, „keine leichte und keine sehr dankbare Aufgabe" 1 , aber, so ließe sich hinzufugen, eine ebenso sinnvolle wie notwendige. Denn nicht nur für die Welt-, sondern auch fur die Wissenschaftsgeschichte mag das Desiderat Jacob Burckhardts Geltung beanspruchen, daß jedwede Geschichtsschreibung ihren Ausgangspunkt „vom einzigen bleibenden und für uns möglichen Zentrum, vom duldenden, strebenden und handelnden Menschen" nehmen solle2. Zwar pflegte das Leben deutscher Gelehrten und Professoren zumindest bis 1933 weitgehend linear, d. h. ohne größere biographische Brüche, zu verlaufen, so daß bei diesem Personenkreis - anders als etwa bei Künstlern - konkrete Interdependenzen zwischen Vita und Werk nur selten auszumachen sind. Gleichwohl verwenden (Rechts-)Historiker, und zwar traditionell vor allem im angelsächsischen Sprachraum 3, die wissenschaftliche Biographie im allgemeinen und die Biographie von Wissenschaftlern im besonderen als trennscharfes Sezierinstrument, um die jeweiligen individuell veranlaßten Paradigmenwechsel (Thomas S. Kuhn) aus dem wirbelnden Strom der Geistesgeschichte herauszupräparieren. Dies auch aus gutem Grund: Gerade mit Blick auf Gelehrtenbiographien ist seit längerem anerkannt, daß das Gedankenbild des Wissenschaftlers vom konkreten Ich in seiner lebensgeschichtlichen Prägung beeinflußt wird 4 . Ein biographischer Ansatz ist darüber hinaus in besonderem Maße geeignet, die Zeitgebundenheit wissenschaftlicher Arbeit zu erschließen. Er ermöglicht, vom Individuellen zum Allgemeinen aufzusteigen, d. h. die konkreten Vermittlungen und Verknüpfungen des einzelnen Wissenschaftlers mit seiner Lebensumwelt zu erforschen 5. Schon bei Hegel heißt es ganz in diesem 1

Smend, Triepel, S. 107. Ganz ähnlich hat Richard A. Posner, N.Y.U. L. Rev. 1995, S. 510, 521, in bezug auf Biographien amerikanischer Richter festgestellt, es handele sich hierbei um ein (besonders) „costly genre". 2 Burckhardt , S. 5. 3 Vgl. nur Raulff, FAZ vom 4. März 1997, S. 33. 4 Engelberg/Schleier, ZfG 1990, S. 210. 5 Engelberg/Schleier, ZfG 1990, S. 217.

Einleitung

22

Sinn: „Das Interesse der Biographie ... scheint direct einem allgemeinen Zweck gegenüber zu stehen, aber sie selbst hat die historische Welt zum Hintergrunde, mit welchem das Individuum verwickelt ist" 6 . Damit ist aber zugleich eine Bedingung gelungener Gelehrtenbiographien formuliert: Erkenntnisziel kann es nicht primär sein, meist ohnehin nicht vorhandene Zusammenhänge zwischen Persönlichkeitsstruktur und Denken aufzuzeigen 7; vielmehr muß es vor allem darum gehen, zum einen Einflüsse des je konkreten zeit- und lebensgeschichtlichen Umfelds auf die wissenschaftlichen Äußerungen (und umgekehrt) zu bestimmen8 und zum anderen, falls vorhanden, die praktische Tätigkeit des Wissenschaftlers und deren Auswirkungen zu beleuchten. Beide Elemente spielen, wie zu zeigen sein wird, gerade in Triepels Vita eine bedeutende Rolle. Neben der hermeneutischen Fruchtbarkeit der Biographik steht, freilich weit weniger bedeutsam, deren pädagogische Wirkkraft 9 . Zwar ist uns Heutigen das damit verbundene Pathos der Goethezeit weitgehend fremd geworden 10. Doch auch in der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft ist anerkannt, daß Biographien ein ebenso legitimes wie probates Mittel sind, um Vorbilder für die Nachgeborenen zu schaffen 11. Nachdem schon 1979 etwas vorschnell eine „Renaissance der Biographie" konstatiert worden war 12 , ist sich in letzter Zeit auch die deutsche akademische Historiographie nach drei Jahrzehnten weitgehend unbestrittener Herrschaft biographikferner Richtungen, wie etwa der strukturgeschichtlichen Schule, wieder des Nutzens biographischer Darstellungen bewußt geworden. Der ebenso wohlfeile wie pauschalisierende Soupçon, Biographien seien bestenfalls ästhetisch zu bewerten und hätten keinen theoretischen - und damit auch keinen wissenschaftlichen - Gehalt 13 , gilt als widerlegt. Man hat erkannt: „Figuren und Strukturen gehören zusammen."14

6

Hegel, S. 527 (§ 549). Auf dieses „problem of inconsequence or disconnection" weist Richard A. Posner , N.Y.U. L. Rev. 1995, S. 506, eindringlich hin. 8 Gerade in diesem „Aufschwung zum Allgemeinen" liegen, wie Oliver Lepsius, FAZ vom 26. März 1999, S. 47, zutreffend anmerkt, „Chance und Risiko des biographischen Ansatzes"; vgl. auch ders., Bewertungskriterien, S. 65. 9 Posner, N.Y.U. L. Rev. 1995, S. 503. Gustav Radbruch, Einführung, S. 267, hielt Biographien großer Juristen für eine „Quelle charakterbildender Berufsethik". 10 Vgl. etwa das Postulat Goethes: „Halte das Bild der Würdigen fest! Wie leuchtende Sterne teilte sie aus die Natur durch den unendlichen Raum.", Werke Bd. 1, S. 207. 11 So Mikoletzky, S. 223. 12 Lutz, S. 13. 13 Vgl. näher Graevenitz, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1980, S. 106 m. w. N. 14 Zwahr, S. 7. 7

Einleitung

Freilich vermag die heute gerade auch unter Rechtshistorikern herrschende Hochkonjunktur des biographischen Genres 15 die in ihm verborgenen Versuchungen nicht vergessen zu machen. Zweierlei Gefahren gilt es besonders zu wehren: Zum einen sollte Wissenschaftsgeschichte nicht als posthumer Exekutionsplatz obsoleter Auffassungen mißbraucht werden. Hegelianischer Determinismus und moralisierende Überheblichkeit ist hier, wie auch sonst, fehl am Platze. Zum anderen gilt es tunlichst zu vermeiden, daß sich der Verfasser, wie ein erfahrener Historiker einmal treffend formuliert hat, „von seiner Titelgestalt, dem treuen Begleiter langer Arbeitsjahre, am Ende doch gefangennehmen, ja überrumpeln" läßt 16 und so nur eine Biographie romancée zustande bringt, die wissenschaftlichen Maßstäben nicht standhalten kann. Gefordert ist also gerade in der wissenschaftlichen Biographik ein (selbst-) kritischer Ansatz 17 , der in die Lage versetzt, zwischen der Scylla hagiographischer Idolatrie und der Charybdis der Be- oder gar Verurteilung nach heutigen Maßstäben hindurchzulavieren. Nicht zuletzt um diese Gefahren zu umschiffen, orientiert sich die vorliegende Studie an einer kritisch-restriktiv 18 aufgefaßten Methode des „Verstehens" 19. Ihre Leitbilder sind sowohl konsequente Historisierung wie auch kritische Distanz. Damit wird der jeweilige politischsoziale Kontext des Triepelschen Rechtsdenkens einerseits nicht ausgeblendet, andererseits aber auch nicht unter dem ahistorischem Signum „Wissenssoziologie" perspektivisch verzerrt 20. Darüber hinaus schließt es der hier gewählte methodische Ansatz aus, die - empirisch ohnehin kaum verifizierbaren - Erklärungsangebote der Psychohistorie heranzuziehen. Kurzum, beabsichtigt war nicht mehr - aber auch nicht weniger - als eine möglichst „wahrheitsgetreue Erzählung" 21 von Triepels Leben und Werk unter Ausschluß voreiliger Wertungen und unsubstantiierter Schlüsse. II. Die Verwirklichung dieses Plan stieß jedoch insbesondere hinsichtlich biographischer Daten auf enge Grenzen. Zwar war es mir noch vor der Revolution von 1989/90 möglich, Archive in Leipzig, Dresden und Berlin (Ost) intensiv zu nutzen. Auch konnte ich Einsicht in maschinenschriftliche Manuskripte 15 Patrick Bahners, Merkur 1995, S. 531, diagnostiziert „die gegenwärtige Konjunktur der Gelehrtenbiographie". Wie Oliver Lepsius, FAZ vom 26. März 1999, S. 47, mit Recht vermerkt, ist die juristische Biographie inzwischen gar „zum herrschenden Genre der Rechtsgeschichte des Nationalsozialismus" geworden. 16 Markov , S. 244; vgl. hierzu auch Engel-Janosi, S. 208-210. 17 Vgl. näher Hubatsch, S. 250-252. 18 Dazu eingehend Mommsen, S. 227-226. 19 Vgl. die klassische Definition von Droysen, S. 26: "Das Wesen der historischen Methode ist forschend zu verstehen." 20 Mit dem Instrumentarium der Wissenssoziologie Karl Mannheims hat Ralf Walkenhaus (1997) das konservative Staatsdenken Ernst Rudolf Hubers zu deuten versucht. 21 Veyne, S. 13.

24

Einleitung

von Marie Triepel und Heinrich Mitteis nehmen, die sich im Besitz Renate v. Gebhardts, der Enkelin Triepels, befinden. Dies änderte jedoch nicht allzuviel an der insgesamt nur als wenig ergiebig zu bezeichnenden Quellenlage. So wurde der Hauptnachlaß Triepels ebenso wie das Archiv der Leipziger Juristenfakultät infolge Kriegseinwirkungen vernichtet. Der im Bundesarchiv Koblenz verwahrte Restnachlaß, enthält zwar eine Autobiographie, die aber bereits im zehnten Lebensjahr abbricht. Auch den Briefen Triepels, die sich in den Nachlässen verschiedener Gelehrter fanden, konnten nur bruchstückhafte Informationen entnommen werden. Die fur den Biographen „tödliche Gefahr, in dem Übermaß an Quellen zu ertrinken" 22 , bestand hier also nicht. Hieraus ergab sich für die Darstellung ein negativer und ein positiver Aspekt: Einerseits erhielt der biographische Teil der Studie wegen des Mangels an Quellen zwangsläufig einen bloß fragmentarischen Charakter; andererseits konnte aber die Lebensbeschreibung authentischer werden, weil es im Interesse eines ganzheitlichen Bilds vom Menschen Triepel möglich war, alle halbwegs wissenswerten Tatsachen mitzuteilen. III. Um den Maximen der Transparenz und Übersichtlichkeit ausreichend Rechnung zu tragen, habe ich die Arbeit in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil („Leben") ist naturgemäß strikt chronologisch aufgebaut. Diese Ordnung des Stoffes wird freilich nicht überall durchgehalten, sondern dort durchbrochen, wo es sachgerecht und zweckmäßig erscheint. Im zweiten - systematischen - Teil („Werk") werden zwar die Beiträge Triepels zum Öffentlichen Recht und Völkerrecht, zu Methodenfragen und zur Ästhetik des Rechts breit referiert und analysiert. Eine Darstellung mit katalogartiger Vollständigkeit habe ich jedoch nicht angestrebt. Anliegen der Arbeit ist vielmehr, eine Art schwerpunktorientierter Querschnittsanalyse zu leisten, um so einen Zugang zu den wesentlichen Leitlinien des Rechts- und Staatsdenkens Triepels zu schaffen. Einen Schwerpunkt bildet hierbei der bislang nicht ausreichend gewürdigte und weithin unterschätzte Beitrag Triepels zum Methodenwandel im Öffentlichen Recht. Aber auch intrikate Einzelfragen, wie etwa die Rolle politischer Parteien im modernen Staat oder Inhalt und Ausmaß verfassungsgerichtlicher Kontrolle, werden eingehend erörtert. Methodische Leitlinie ist hierbei die werkimmanente Interpretation, ohne aber die Verortung Triepelscher Auffassungen in den je verschiedenen zeitgenössischen Diskurszusammenhängen gänzlich außer acht zu lassen. Werkgeschichtlichen Gesichtspunkten wird durch eine - freilich topisch eingegrenzte bewußt chronologische Darstellungsweise entsprochen. Auf diese Weise können Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Denken Triepels besser erschlossen werden. 22

Engel-Janosi, S. 209.

Einleitung

Insgesamt orientiert sich die Darstellung vornehmlich am Schrifttum des Zeitraums, der durch die Lebensdaten Triepels abgesteckt wird. Darüber hinaus wird aber auch das vielfältige Weiterwirken Triepelscher Theoreme in Theorie und Praxis des heutigen Staats-, Verwaltungs- und Völkerrechts beleuchtet.

Erster Teil

Leben 1. Kapitel

Familiäre Herkunft, Kindheit und Schule Carl 1 Heinrich Triepel wurde am 12. Februar 1868 u m 4.45 Uhr als zweites K i n d seiner Eltern Gustav A d o l f Triepel 2 und Mathilde Marie Henriette, geb. Kurz 3 in Leipzig geboren 4 . Leipzig war damals noch eine Stadt mittlerer Größe, die sich aber infolge eines starken wirtschaftlichen Aufschwungs innerhalb kürzester Zeit zur Großstadt entwickelte und 1890 schon u m die 295.000 Einwohner zählte 5 . Das Milieu, in dem Heinrich Triepel aufwuchs, ist mit Recht als weltoffen und gebildet bezeichnet worden 6 . A u c h scheint der Vater infolge seiner langjährigen kaufmännischen Tätigkeit zu einigem Wohlstand gekommen zu sein 7 , so

1 Von seinem ersten Vornamen „Carl" pflegte Triepel, möglicherweise am Vorbild seines Großvaters (Gottfried) Heinrich Kurz (vgl. über ihn unten bei Fn. 26) orientiert, schon früh keinen Gebrauch mehr zu machen (vgl. ζ. B. seinen Matrikeleintrag aus dem Jahre 1886, Universitätsarchiv Freiburg, Matrikel Bd. V I I Nr. 296: „Heinrich Triepel"). Insbesondere veröffentlichte er von Beginn an ausschließlich unter dem Namen „Heinrich Triepel" bzw. unter dem Kürzel „Dr. H. T.". Seinen ersten Vornamen benutzte er im wesentlichen nur noch im Schriftverkehr mit Behörden, etwa in seinem Entlassungsgesuch aus dem Justizdienst vom 7. Mai 1897, SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 45, und zuletzt in dem vermutlich im Rahmen der sog. Entnazifizierung am 14. Januar 1946 ausgefüllten Personalfragebogen des Magistrats der Stadt Berlin, UAH, Nr. 102, Bl. 53. 2 Geb. 15. Juni 1828, gest. 3. Juni 1901, s. Ahnentafel Gustav Triepel, PAG. 3 Geb. 30. April 1842, gest. 4. Januar 1909, s. Ahnentafel Mathilde Kurz, PAG. 4 Auszug aus dem Taufbuch der evangelisch-reformierten Kirche Leipzig 1868 Nr. 21; „Geburts- und Tauf-Zeugnis" vom 28. Juli 1933, BA, N L Triepel Bd. 1, Bl. 1. 5 WeigeU S. 20 f.; Autorenkollektiv, S. 44 f.; Wundt, S. 289 f. 6 Hollerbach, AöR 91 (1966), S. 418. Signifikant ist insofern auch der „Stand" der Taufpaten: Professor, Buchhändler, Schriftgießereibesitzer, Ehefrauen eines Kaufmanns und eines Buchhändlers, s. Auszug aus dem Taufbuch der evangelisch-reformierten Kirche Leipzig 1868 Nr. 21. 7 Heinrich Mitteis sprach in Heinrich Triepels Grabrede, S. 2, PAG, von einer „angesehenen Kaufmannsfamilie" und Georg Ebers in einem Brief an seine Mutter vom 27. November 1885 von einer „wohlhabenden Leipziger Familie", PAG.

1. Kap.: Familiäre Herkunft, Kindheit und Schule

27

daß Triepels Kindheit und Jugend von wirtschaftlichen Sorgen und Nöten verschont blieb. Gustav Triepel, so sollte sich später sein Sohn erinnern 8, hatte eine sorgfältige Erziehung erhalten. Er besaß eine außergewöhnliche Sprachbegabung, die er nach einer Lehrzeit als Kaufmann in Leipzig benutzte, um in ein großes Pariser Exportgeschäft einzutreten und für dieses ausgedehnte Geschäftsreisen (u. a. nach Italien, der Türkei und der Walachei) durchzufuhren. Als ihm ein Augenleiden, das ihn stark am Lesen hinderte, das Verbleiben als Prokurist und Teilhaber der Pariser Firma unmöglich machte, kehrte Gustav Triepel nach Leipzig zurück und gründete dort mit dem in Frankreich erworbenen Vermögen ein Kommissions-, Agentur- und Lotteriegeschäft. In charakterlicher Hinsicht wurde er von seiner Schwiegertochter als „sehr gesellig und überall beliebt" sowie äußerst humorvoll geschildert 9. Der humoreske Zug des Vaters hat sich auf den Sohn übertragen 10. Nach der von seinem Neffen Norbert Ebers 11 verfaßten Familienchronik, gab sich „Onkel Heinrich" im Verwandtenkreis „ausgesprochen behaglich-humorig", was vor allem die anwesenden Kinder zu schätzen wußten 12 . „Einen besonderen Spaß", heißt es dort weiter, „machte es ihm, zusammen mit meinem Vater andere Leute harmlos zu verulken" 13 . Auch als Debattenredner zeigte Triepel nicht selten einen ausgeprägten Sinn für Humor 14 . Der Vater Triepels war als junger Mann ausgesprochen liberal gesinnt15, und zwar auch in nationaler Hinsicht: Er verstand sich als vehementer Verfechter des nationalen Selbstbestimmungsrechts. Anläßlich eines Aufstandes der Polen gegen die russische Vorherrschaft verfaßte er einmal ein glutvolles Gedicht, das

8

Lebenserinnerungen eines deutschen Professors, S. 2 f., BA, N L Triepel Bd. 3. Der maschinengeschriebene Text umfaßt zwölf Seiten und bricht mitten in einem Satz des ersten Kapitels („Familie und Kindheit") ab, als von der Honorarprofessur des Philologen Eckstein die Rede ist. Ein im Text (S. 5) genanntes Sterbedatum deutet auf eine relativ späte Niederschrift hin. Danach zu urteilen, war es Triepel nicht mehr vergönnt, seine Autobiographie zu Ende zu führen. 9 Lebenserinnerungen Marie Triepels vom September 1949, S. 3, PAG. Diese beeindruckend lebendigen Aufzeichnungen wurden von der Witwe auf Bitten Carl Bilfingers hin verfaßt, der sie dann teilweise für eine kleine biographische Skizze verwandt hat, vgl. Bilfingen ZaöRV 1950/51, S. 12 f. 10 Vgl. etwa E. Kaufmann, Der Tag vom 12. Januar 1928; Bilfingen ZaöRV 1950/51, S. 13. 11 Norbert Ebers ist der Sohn seines Jugendfreundes Paul Ebers, dessen Schwester Marie Ebers Triepel heiratete, vgl. unten 2. und 3. Kap. 12 Norbert Ebers, Familienchronik, S. 14, PAG. 13 Norbert Ebers, Familienchronik, S. 14, PAG. 14 Vgl. etwa Triepel, VVDStRL 5 (1929), S. 115, 117. 15 Triepel bezeichnete die politische Einstellung seines Vaters als „liberal", Personalfragebogen vom 14. Januar 1946, UAH, Nr. 102, Bl. 53.

Erster Teil: Leben

28

der deutschen Solidarität mit dem polnischen Volk Ausdruck verleihen sollte, ließ es mit einer Auflage von tausend Stück drucken und in ganz Leipzig verteilen. Im reiferen Lebensalter neigte er allerdings zunehmend konservativen Auffassungen zu 16 . Gustav Triepel war der Sohn Carl Friedrich Triepels, eines Beamten der Stadt Leipzig, der sich aus „dürftigen Verhältnissen" 17 zum Stadtsteuereinnehmer emporgearbeitet hatte. Dessen Stammbaum läßt sich nicht sehr weit in die Vergangenheit zurückverfolgen. Er stammte, ebenso wie seine Ehefrau Johanna Christiane Körner, aus dem nahe Leipzig gelegenen Städtchen Grimma 18 . Deren Ahnenreihe ist bis in das 16. Jahrhundert zurück nachweisbar. Ihre Vorfahren waren meist „Bürger" und Handwerker (Tuchmacher- oder Walkmüllermeister), aber auch Fuhrleute aus Grimma und der näheren Umgebung19. Von den Geschwistern seines Vaters und deren Kinder weiß Heinrich Triepel in der Rückschau nicht allzuviel zu berichten 20. Erwähnenswert erscheint aber doch, daß alle drei Töchter seines Onkels Carl als Kulturschaffende hervortraten. Die eine, Gertrud, die den Romancier Viktor v. Kohlenegg heiratete, war schriftstellerisch tätig. Die älteste der drei Schwestern, Margarete, die unvermählt blieb, war eine kunstgewerbliche Malerin von einigem Talent. Die jüngste, Susanne, hat, auch nach der Heirat mit dem bekannten Berliner Psychologen und Ästhetiker Max Dessoir, viele Triumphe als Konzertsängerin gefeiert. Dessoir beschrieb später in seinen Lebenserinnerungen dieses familiäre Umfeld seiner Gattin und erwähnte auch Triepel, „dessen Ruf als eines goldschwer gelehrten und messerscharf denkenden Juristen schon längst zu mir gedrungen war" 21 . Ferner machte Albert Brendel, Ehemann seiner Tante Emma und vermögender Bankprokurist, wegen seines köstlichen Humors, dem er auch in einer „höchst ergötzlichen" 22 Veröffentlichung die Zügel schießen ließ, einen besonderen Eindruck auf den jungen Triepel. Zu den Verwandten mütterlicherseits hatte er ein engeres Verhältnis. Seine spätere Frau Mathilde, die Mutter Triepels, lernte Gustav Triepel nach der Rückkehr aus Paris im Hause seines Jugendfreundes Bernhard Giesecke ken-

16

Triepel, Lebenserinnerungen eines deutschen Professors, S. 8, BA, N L Triepel Bd.

17

Triepel, Lebenserinnerungen eines deutschen Professors, S. 1, BA, N L Triepel Bd.

18

„Ahnentafel Gustav Triepel", PAG. „Ahnentafel Gustav Triepel", PAG. Triepel, Lebenserinnerungen eines deutschen Professors, S. 10 f., BA, N L Triepel

3. 3.

19 20

Bd. 3. 21 Dessoir, S. 43. 22 Triepel, Lebenserinnerungen eines deutschen Professors, S. 11, BA, N L Triepel Bd. 3.

1. Kap.: Familiäre Herkunft, Kindheit und Schule

29

nen, wo sie sich als Gesellschafterin aufhielt 23. Die beiden heirateten am 20. Juli 1865 in Aarau, der Hauptstadt des schweizerischen Kantons Aargau 24. Triepels Mutter, die von ihrem Sohn als sehr klug, literarisch interessiert und temperamentvoll beschrieben wird 25 , stammte aus Aarau. Sie war die Tochter des schweizerischen Sinologen und Literaturhistorikers (Gottfried) Heinrich Kurz (1805-1873) 26 , der seit 1839 eine Professur an der dortigen Kantonsschule innehatte. Er hatte zunächst in München neben Theologie vor allem orientalische Sprachen studiert, sich an der dortigen Universität im Fach Sinologie habilitiert und Vorlesungen über chinesische Grammatik gehalten. Dann verzog Kurz nach Augsburg, wo er 1832 als Redakteur des Oppositionsblattes „Die Zeit" zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt wurde. Nach Verbüßung der Strafe wanderte er in die Schweiz aus. Heinrich Mittels' Annahme, von seinem Großvater stamme der „Einschlag echt demokratischen, niemals im bloß Formalen verhafteten Geistes in Triepels Rechtsbewußtsein"27, läßt sich daher wohl nicht von der Hand weisen. Nach seiner Berufung zum Kantonsschulprofessor in Aarau wandte sich Kurz der Literaturgeschichte zu und schuf, wie Triepel sich erinnerte, „mit enormem Fleiße und ungeheurer Sachkenntnis des Materials" 28 u. a. eine mehrbändige Geschichte der deutschen Literatur. Daß diese Begabung auf den Enkel überging, dessen Vornamen er als sein Patenkind trug 29 , hielt Triepels Ehefrau Marie 30 durchaus für möglich 31 . Heinrich Kurz heiratete die aus einer angesehenen Aargauer Familie stammende Sophie Barbara Amsler 32 . Deren Vater, Johann Jakob Amsler 33 , war ein vielbeschäftigter Fürsprech mit Wohnsitz auf Schloß Wildenstein in der Nähe von Baden bei Zürich 34 . Von den zahlreichen Geschwistern der Mutter stand Triepel naturgemäß der nur zehn Jahre ältere Hermann Kurz am nächsten. Mit einem weiteren Onkel mütterlicherseits, dem Aarauer Fürsprech Erwin Eduard Heinrich Kurz (1846—

3.

23

Triepel, Lebenserinnerungen eines deutschen Professors, S. 3, BA, N L Triepel Bd.

24

„Ahnentafel Gustav Triepel", PAG. Lebenserinnerungen eines deutschen Professors, S. 10 f., BA, N L Triepel Bd. 3. Über ihn Schumann, S. 421-424; Halder, S. 471^73. Mitteis, Grabrede, S. 2, PAG. Lebenserinnerungen eines deutschen Professors, S. 4, BA, N L Triepel Bd. 3. Auszug aus dem Taufbuch der evangelisch-reformierten Kirche Leipzig 1868 Nr.

25 26 27 28 29

21.

30

Vgl. zu ihr unten 2. Kap. Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 3, PAG. 32 „Ahnentafel Mathilde Kurz", PAG. 33 „Ahnentafel Mathilde Kurz", PAG. 34 Nähere Charakterisierung des „sonderbaren Kauzes" in den Lebenserinnerungen eines deutschen Professors, S. 4 f., BA, N L Triepel Bd. 3. 31

Erster Teil: Leben

30

1901)35 war er ebenfalls sehr vertraut. Erwin Kurz trat auf kantonalem wie eidgenössischem Boden als entschieden radikal-demokratischer Politiker hervor, wobei ihm seine mit Humor und Witz ausgeübte Rednergabe sehr zustatten kam. Nachdem er bereits zahlreiche wichtige Staatsämter innegehabt hatte, bekleidete Kurz 1887/1888 sogar das Amt eines Präsidenten des Schweizerischen Nationalrates. Während der Schulzeit besuchte Triepel des öfteren seine Großmutter in Aarau und erhielt dort Gelegenheit, Einblick in die anwaltliche Praxis seines Onkels zu nehmen. Manchmal nahm dieser ihn auch auf Wagenfahrten zu auswärtigen Terminen mit. Vielleicht, so hat Triepel rückblickend gemutmaßt, waren die damals empfangenen Eindrücke ausschlaggebend für seinen Entschluß, Jurist zu werden 36. Heinrich Triepel wuchs mit den beiden Geschwistern 37 in seinem Geburtshaus an der Ecke des Westplatzes in der Promenadenstraße Nr. 6 (später in Nr. 37 umgewandelt) auf. Die Gegend war damals noch wenig bebaut, so daß es der Familie möglich war, in der Nähe einen Garten zu pachten, der den Kindern als täglicher Spielplatz diente38. Die Erziehung Triepels gestaltete sich nach eigenem Urteil „liebevoll, aber einfach und streng" 39. Seine Mutter achtete darauf, daß Freundschaften nur mit Kindern aus besonders guten Kreisen geknüpft wurden 40 . Er wurde im Bekenntnis der Eltern, dem reformierten Glauben, erzogen. Beide Elternteile waren allerdings keine fleißigen Kirchgänger, sondern eher von „schlichter Frömmigkeit" 41 . Dasselbe läßt sich vom jungen Triepel sagen, bei dem nach eigenem Eingeständnis weder der zweijährige Konfirmandenunterricht noch die Einsegnung selbst oder das Abendmahl einen allzu tiefen Eindruck hinterlassen hatten42. 35

Über ihn Boner,, S. 470 f. Lebenserinnerungen eines deutschen Professors, S. 6, BA, NL Triepel Bd. 3. 37 Das erstgeborene Kind, ein Mädchen (s. Auszug aus dem Taufbuch der evangelisch-reformierten Kirche Leipzig 1868 Nr. 21; BA, NL Triepel Bd. 1, Bl. 1), starb vermutlich bereits im Säuglingsalter. Es wurde von Marie Triepel in ihrer Schilderung der Familie nicht erwähnt, vgl. Lebenserinnerungen, S. 3, PAG. Die beiden übrigen Geschwister waren Hermann Triepel (1871-1935), zuletzt a. o. Professor der Anatomie in Breslau, vgl. Wer ist's?, S. 1622, sowie die wesentlich jüngere, am 21. Juni 1881 geborene Charlotte Triepel. Sie ergriff den Beruf der Verlagsbuchhändlerin und war zuletzt Prokuristin im Verlag von B. G. Teubner in Leipzig (Angaben nach Auskünften Frau Renate v. Gebhardts, der Enkelin Heinrich Triepels; s. auch Personalfragebogen vom 14. Januar 1946, UAH, Nr. 102, Bl. 53). 38 Lebenserinnerungen eines deutschen Professors, S. 1, BA, NL Triepel Bd. 3. 39 Lebenserinnerungen eines deutschen Professors, S. 9, BA, NL Triepel Bd. 3. 40 Lebenserinnerungen eines deutschen Professors, S. 10, BA, NL Triepel Bd. 3. 41 Lebenserinnerungen eines deutschen Professors, S. 9, BA, NL Triepel Bd. 3. 42 Triepel, Lebenserinnerungen eines deutschen Professors, S. 10, BA, NL Triepel Bd. 3; vgl. aber zu Triepels Engagement in seiner Kirchengemeinde unten 6. Kap. IV. 36

1. Kap.: Familiäre Herkunft, Kindheit und Schule

31

Die Eltern bemühten sich, den Kindern frühzeitig intellektuelle und musische Grundkenntnisse und -fertigkeiten zu vermitteln. So unterrichtete die Mutter ihren Sohn noch vor der Einschulung im Lesen und Schreiben. Triepels musikalisch überaus begabter Vater sorgte für erste Klavierübungen auf dem häuslichen Pianino43. Die dadurch geweckte Musikleidenschaft sollte später dazu fuhren, daß Triepel während seiner Studentenzeit in Richard Wagners Oper „Die Meistersinger von Nürnberg" eine Rolle als „Der Mann mit dem Heubündel" übernahm 44. Im Alter von sechs Jahren wurde Heinrich Triepel in die Teichmannsche Privatschule eingeschult. Hierbei handelte es sich um ein vornehmlich von Jungen und Mädchen aus den „sogenannten besseren Kreisen der Leipziger Bürgerschaft" 45 besuchtes Institut 46 . Dort wurden ihm vor dem Übergang zum Gymnasium nach dem vierten Schuljahr Privatstunden in Latein gegeben, die nötig waren, um die unterste Gymnasialklasse, die Sexta, überspringen zu können 47 . So gerüstet, konnte der Zehnjährige zu Ostern 1878 in, wie er rückblikkend mit nicht geringem Stolz vermerkt hat, „eines der besten sächsischen Gymnasien" 48 , dem humanistischen Gymnasium zu St. Thomä (Thomasschule) in Leipzig 49 , überwechseln. Über den Verlauf der dort verbrachten Schulzeit ist wenig bekannt. Die Anregung zum Verfassen patriotisch-pathetischer Gedichte 50 dürfte aber vom Schulunterricht ausgegangen sein. Erwähnenswert ist ferner, daß Triepel schon früh eine erstaunliche Zielstrebigkeit erkennen ließ. So soll der Quintaner auf die Frage eines Lehrers, was er später einmal werden wolle, schlankweg geantwortet haben: „Justizminister" 51 . Schon seit Jahren der Klassenprimus, bestand Triepel im März 1886 das Abitur mit der Leistungsgesamtnote „Vorzüglich (Ib)" 5 2 . Im einzelnen erhielt er 43

Lebenserinnerungen eines deutschen Professors, S. 8, BA, N L Triepel Bd. 3. Mitteilung Frau Renate v. Gebhardts; vgl. zur generationsspezifischen Erfahrung der als unwiderstehlich empfundenen Musik Richard Wagners die eindringliche Schilderung von Anschütz, Leben, S. 33-37. 45 Lebenserinnerungen eines deutschen Professors, S. 1, BA, N L Triepel Bd. 3. 46 Vgl. zu deren Selbstverständnis und geschichtlicher Entwicklung die „Festschrift zu der Feier des 75jährigen Bestehens der Anstalt", Stadtarchiv Leipzig. 47 Lebenserinnerungen eines deutschen Professors, S. 12, BA, N L Triepel Bd. 3. 48 Lebenserinnerungen eines deutschen Professors, S. 12, BA, N L Triepel Bd. 3. 49 Näher zu dieser traditionsreichen Schule Schubert, S. 76 f.; vgl. zu deren Selbstverständnis auch eine Rede des damaligen Rektors Eckstein in Knick, S. 320 f. 50 Ein dem Vater zum Weihnachtsfest 1880 gewidmetes Gedicht des Zwölfjährigen trägt den Titel „Nach der Schlacht bei Leipzig", PAG. 51 Mitteis, Grabrede, S. 2, PAG. Nach seiner späteren Selbsteinschätzung hätte er das durchaus auch werden können (mündlich überliefert von Frau Renate v. Gebhardt). 52 „Reife-Zeugnis" vom 6. März 1886, BA, N L Triepel Bd. 1, Bl. 3; vgl. auch den Brief Georg Ebers' an seine Mutter vom 2. Mai 1886: „der einzige der mit einer 1 das Examen bestand", SBB, N L Ebers, Erg.2,K. 1. 44

Erster Teil: Leben

32

folgende Noten: Deutsch „Vorzüglich (I)", Lateinisch, Griechisch, Englisch, Französisch und Geschichte jeweils „Vorzüglich (Ib)", Religion und Mathematik „Gut (IIa)" sowie Physik „Gut (II)" 5 3 . Noch im hohen Alter konnte er von sich behaupten, „Latein, Französisch u. Englisch für wissenschaftl. Zwecke ebenso gut wie Deutsch" zu beherrschen 54. Obwohl im Reifezeugnis noch vermerkt ist, Triepel gedenke „Jura und Cameralia in Freiburg" zu studieren 55, schrieb er sich an der dortigen Universität nur für Rechtswissenschaften ein 56 . Der Grund hierfür ist nicht verbürgt, aber vielleicht darin zu sehen, daß theoretische und praktische Nationalökonomie seinerzeit Pflichtvorlesungen fur angehende Juristen waren. Außerdem bildete „Nationalökonomie" einen Bestandteil sowohl des schriftlichen wie auch des mündlichen Teils der Ersten juristischen Staatsprüfung in Baden und Sachsen, so daß es nicht unbedingt eines förmlichen Doppelstudiums bedurfte 57.

53

BA, NL Triepel Bd. 1,B1. 3. Personalfragebogen vom 14. Januar 1946, UAH, Nr. 102, Bl. 53. 55 BA, NL Triepel Bd. 1, Bl. 3. 56 Matrikel-Nr. 296, Universitätsarchiv Freiburg, Matrikel Bd. VII. 57 Dietze, S. 87. Ein mögliches Motiv könnte auch darin gelegen haben, daß damals in Freiburg die Wirtschaftswissenschaften der Philosophischen Fakultät zugeordnet waren, vgl. Liefmann-Keil, S. 50, 64 f.; insofern faktisch unzutreffend vom Brocke, S. 11 Fn. 1. 54

2. Kapitel

Studienjahre in Freiburg und Leipzig Als Heinrich Triepel im Sommersemester 1886 die Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau bezog, hatte sie ihren provinziellen Charakter mehr noch als in früheren Jahrzehnten abgestreift. Infolge der Gründung des Deutschen Reiches war auch in der Freiburger Juristenfakultät neues wissenschaftliches Leben erblüht 1. Der um 1880 einsetzende große Zustrom norddeutscher Studenten2 war freilich nicht nur der Attraktivität des Lehrangebots, sondern auch der Schönheit Freiburgs und seiner landschaftlichen Umgebung zu verdanken 3. Im ersten seiner drei an der Alberto-Ludoviciana verbrachten Semester hörte der achtzehnjährige Studienanfänger lediglich „Institutionen" und „Römische Rechtsgeschichte", jeweils „in Verbindung mit exegetischen Übungen" bei Gustav Rümelin (jr.). Das darauffolgende Wintersemester 1886/87 läßt einen intensiveren Vorlesungsbesuch erkennen: „Rechtsphilosophie" bei Richard Sontag, „Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte" bei Karl v. Amira (1848-1930) 4 sowie „Interpretation der Verfassungsurkunde fur das deutsche Reich" bei Heinrich Rosin. Daneben belegte er „Einleitung in die Nationalökonomie" bei Georg Adler sowie „Ueber Bacterien" bei Ludwig Klein 5 . In seinem letzten Freiburger Semester hörte er ausschließlich „Pandekten I " bei Fridolin Eisele6. Der wohl damals schon angesehenste Juraprofessor war Karl v. Amira, der in Freiburg den Grundstein fur sein vornehmlich der nordischen Rechtsgeschichte gewidmetes Lebenswerk gelegt hat.

1

Würtenberger,

2

S. 36.

Im Sommersemester 1886 waren von insgesamt 263 Jurastudenten 221 Nichtbadener, s. Verzeichnis der Behörden usw. der Universität Freiburg, Sommer-Semester 1886, S. 61. 3 Signifikant hierfür ist der starke Anstieg der Studentenzahlen im Sommer (z.B. 1000 im SS 1885) und der Rückgang um 500 im Wintersemester, vgl. Oberschulte, S. 129. 4 Über ihn Puntschart (1932); vgl. zu dessen Freiburger Zeit Thieme, S. 132-136. 5 „Studien- und Sitten-Zeugnis", BA, NL Triepel Bd. 1, Bl. 5. Die Anregung zum Besuch letztgenannter Vorlesung kam sicherlich von Paul Ebers, vgl. unten bei Fn. 7. 6 „Studien- und Sitten-Zeugnis", BA, NL Triepel Bd. 1, Bl. 5; vgl. zu den genauen Bezeichnungen und zum jeweiligen Stundenpensum die Vorlesungsankündigungen der Universität Freiburg Sommer-Halbjahr 1886 bis Sommer-Halbjahr 1887.

3 Gassner

34

Erster Teil: Leben

Ob die drei Semester an der Alberto-Ludoviciana das Rechtsdenken Triepels erheblich geprägt haben, mag bezweifelt werden. Entsprechende Spuren lassen sich in seinen Schriften jedenfalls kaum ausmachen. Das hat seinen Grund: Er genoß, wie Heinrich Mitteis in der Grabrede vermerkt hat, das Studentenleben „in vollen Zügen" 7 . Hierfür unerläßlich war damals die Mitgliedschaft in einer Studentenverbindung. Zusammen mit seinem besten Freund, dem Medizinstudenten Paul Ebers 8, Sohn des seinerzeit berühmten Ägyptologen und Romanschriftstellers Georg Moritz Ebers (1837-1898) 9 , der ihm nach Freiburg gefolgt war 10 , trat er denn auch in das Corps Suevia ein 11 . Obwohl die beiden Freunde, wie es die Corpsstatuten vorschrieben 12, die Vorlesungen regelmäßig besuchten 13 , konnte während der Aktivenzeit von einem ernsthaften Studium wohl kaum die Rede sein. Denn die zeitliche Beanspruchung durch das Verbindungsleben war damals, wie die Erinnerungen eines Corpsbruders belegen, außerordentlich hoch: „Zu träger oder geisttötender Bummelei hatten wir in Freiburg keine Zeit. Täglich zweimaliger Fechtboden, wöchentlich zwei Mensurtage, interne und externe Corps- und gesellschaftliche Verpflichtungen nahmen den Fuchs und Corpsburschen völlig in Anspruch." 14 Die aktiven Corpsstudenten vertraten als Jeunesse dorée des Wilhelminischen Zeitalters" 15 einen elitären Anspruch. Sie waren gleichsam das „Idealbild der Wilhelminischen Ära" 16 . Ihnen eignete eine traditionsorientierte, konservativ-monarchische Gesinnung17. Die im Corps Suevia vermittelten politischen und ethischen Grundwerte sind nicht ohne Einfluß auf den jungen Triepel geblieben. Daß die Freiburger Schwaben ihn im Sommersemester 1887 zum Erstchargierten 18 wählten 19 , mag 7

Mitteis, Grabrede, S. 2, PAG. Er war Mitschüler Triepels auf der Thomasschule, vgl. Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 1, PAG. 9 Näher über ihn Killy, S. 676; Pietschmann, S. 469^73; Richter, S. 249 f. Eine einfühlsame Schilderung der kunstsinnigen Atmosphäre im Hause Ebers findet sich bei Rainer Maria Rilke, S. 90. 10 Beide wohnten in den Sommersemestern 1886 und 1887 in der Belfortstr. 15, im Wintersemester 1886/87 am Münsterplatz 30, s. Verzeichnis der Behörden usw. der Universität Freiburg, Sommer-Semester 1886, S. 29, 57, Winter-Semester 1886/87, S. 26, 48, und Sommer-Semester 1887, S. 28, 53. 11 Brief Georg Ebers' an seine Mutter vom 2. Mai 1886, SBB, NL Ebers, Erg.2,K.l. 12 Brief Georg Ebers' an seine Mutter vom 2. Mai 1886, SBB, N L Ebers, Erg.2,K.l.; allgemein dazu Studier, S. 61. 13 Brief Georg Ebers' an seine Mutter vom 2. Mai 1886, SBB, N L Ebers, Erg.2,K.l. 14 Bauer, S. 197 f.; vgl. hierzu auch Studier, S. 59 f. 15 Studier, S. 71. 16 Studier, S. 310 und passim. 17 Studier, S. 170; speziell zum Corps Suevia in dieser Zeit Bauer, S. 188 f. 18 Vgl. zur Rolle des Erstchargierten als Primus inter pares Studier, S. 170. 8

2. Kap.: Studienjahre in Freiburg und Leipzig

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nicht nur ein Indiz für sein „organisatorisches Talent" 20 , sondern auch dafür sein, wie sehr er sich mit dem corpsstudentischen Leben und seinen Idealen identifizierte. Er war Corpsstudent aus Überzeugung 21. Die Erfahrung des Verbindungslebens hat ihn wesentlich geprägt 22. Den Sommer pflegte Triepel zusammen mit seinem Intimus Paul Ebers in Tutzing am Starnberger See zu verbringen, wo dessen Vater eine herrlich gelegene Villa besaß23. Georg Ebers, ein Mann, in dem der Künstler und der Gelehrte sich die Waage hielten, führte an seinem Sommersitz ein sehr gastfreundliches Haus und erhielt zahlreiche Besuche deutscher und ausländischer Wissenschaftler und Künstler 24 . Weil er es „liebte, selbst an den Rollstuhl gefesselt, heitere Jugend um sich zu haben" 25 , erlaubte er seinen Kindern, die besten Freunde und Freundinnen einzuladen. Bei seinen Besuchen in Tutzing lernte Heinrich Triepel seine spätere Frau Maria Sophia26, genannt Marie, eine jüngere Schwester seines Freundes Paul Ebers, kennen und lieben. Das junge Paar war sich indes - entsprechend den damals herrschenden Vorstellungen - bewußt, daß bis zu einer Verlobung noch viele Jahre strengster Arbeit zu vergehen hatten27. So wandte sich der 19jährige Triepel alsbald nach Leipzig, nahm wieder bei den Eltern Wohnung 28 und inskribierte sich an der dortigen Alma mater am 20. Oktober 188729, um sich nunmehr „ernsthaft in das Rechtsstudium zu vertiefen" 30 . Da er bereits im Mai 1888 für dienstuntauglich erklärt wurde 31 , sollte sein Studium keine Unterbrechung durch das ursprünglich geplante Einjährig-Frei19

Bauer, S. 181. So Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 1, PAG. 21 Norbert Ebers, Familienchronik, S. 15, PAG. 22 Mitteilung Frau Renate v. Gebhardts; vgl. auch unten 6. Kap. IV. 23 Der erste dokumentierte Besuch des „sehr wohlerzogenen und musikalischen jungen Mann[es]" in Tutzing datiert schon vom November 1885, vgl. Brief Georg Ebers* an seine Mutter vom 27. November 1885, PAG. 24 Ebers, S. 10; Corwegh, Xenien 1913, S. 194. 25 Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 1, PAG; vgl. auch Ebers, S. 9. 26 Geb. 4. Februar 1871 in Leipzig, s. BA, N L Triepel Bd. 1, Bl. 16. 27 BA, N L Triepel Bd. 1, Bl. 16. 28 Diese befand sich jetzt in der Rudolphstr. 4. 29 UAL, Rep. I / X V I / V I I C Nr. 50, Bd. 2 lfd. Nr. 479; UAL, Rektor, Matrikel 1886/87, lfd. Nr. 1345; UAL, Studentenkartei. 30 Mitteis, Grabrede, S. 2, PAG. 31 Vgl. den „Ausmusterungs-Schein" vom 15. Mai 1888, BA, NL Triepel Bd. 1 Bl. 6. Triepel wurde vermutlich wegen seiner starken Kurzsichtigkeit ausgemustert, vgl. die Bemerkung über seine „kurzsichtigen Augen" in Marie Triepels Lebenserinnerungen, S. 2, PAG. 20

3*

Erster Teil: Leben

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willige Militärjahr erfahren. Der vom Vater zur Finanzierung des „Einjährigen" verzinslich angelegte ansehnliche Geldbetrag diente hinfort der Aufstockung der dem Studenten, und später dem Referendar, gewährten Wechsel32. Die Universität seiner Heimatstadt war seit der Mitte des sechzehnten Jahrhundert die konservative deutsche Universität par excellence 33. Und auch nach Abschluß allfälliger Reformen durch eine neue Universitätsverfassung im Jahre 183034 genoß die Alma mater Lipsiensis bis in das Jahr 1900 und darüber hinaus den Ruf staatstragender Gesinnung35. Im übrigen verdankte die Leipziger Universität ihre besondere Anziehungskraft nicht zuletzt ihrem traditionellen Selbstverständnis als „Arbeitsuniversität" 36 . Namentlich in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhundert nahm sie einen großen Aufschwung, war zeitweise neben München und Berlin die meistbesuchte Hochschule und erfreute sich eines entsprechenden nationalen und internationalen Ansehens37. Dies galt insbesondere auch fur die juristische Fakultät, die sich vor allem aufgrund der klugen Berufungspolitik 38 während der 20jährigen Amtszeit (18711891) des sächsischen Kultusministers Carl Friedrich v. Gerber, eines vormaligen Leipziger Professors fur Staatsrecht, mit ihren „großen Vier" 3 9 , Windscheid, Sohm, Wach und Binding, zu hoher Blüte entwickelte40. Sie war, in den Worten von Gerhard Anschütz (1867-1948) 41 , der dort unmittelbar vor Triepel zwei Semester studiert hatte, „damals - wie auch noch lange nachher - eine der hervorragendsten und angesehensten im Reich." 42 Ebenso wie Anschütz 43 wußte auch Triepel dieses ausgezeichnete Studienangebot zu nutzen. Sein Lerneifer ist an der im Vergleich zu Freiburg höheren Anzahl belegter Lehrveranstaltungen abzulesen. Im Wintersemester 1887/88 32

Lebenserinnerungen eines deutschen Professors, S. 2, BA, N L Triepel Bd. 3. Friedberg, Universität Leipzig, S. 60. 34 Näher Friedberg, Universität Leipzig, S. 65-67. 35 Czok, S. 215; Rietzschel, FAZ vom 8. März 1990, S. 33. 36 Friedberg, Leipziger Juristenfakultät, S. 111; vgl. auch Kern, Geschichte, S. 65. 37 Czok, S. 221 mit Übersichtsstatistik. 38 Karl Binding wurde 1873 an die Leipziger Juristenfakultät berufen; Bernhard Windscheid kam ebenso wie Adolph Wach 1874 nach Leipzig, Rudolf Sohm folgte 1887, vgl. Czok, S. 197. 39 Smend, Juristenfakultät, S. 118. 40 Triepel selbst sprach von „einer der stolzesten Perioden der Leipziger Fakultät", VVDStRL 2 (1925), S. 2; vgl. auch die zeitgenössische Würdigung von Landsberg, DJZ 1909, Sp. 868-872; vgl. ferner Kern, Geschichte, S. 66. 41 Über ihn Böckenförde, Semper Apertus, S. 167-185; Dreier, ZNR 1998, S. 2 8 ^ 8 . 42 Anschütz, Leben, S. 44; vgl. auch Hellpach, S. 169: „... an blendender Geschlossenheit durfte sich wohl die juristische Fakultät in die erste Reihe stellen. An ihrem Himmel glänzten, höchst selbstbewußt, ... die Fixsterne von Wach und Binding, denen sich aber Sohm getrost an die Seite reihen konnte". 43 Anschütz, Leben, S. 44. 33

2. Kap.: Studienjahre in Freiburg und Leipzig

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hörte er „Pandekten II. Theil (Familien- und Erbrecht) nach dem Lehrbuche von Arndts" (Adolph Schmidt), „Deutsches Privatrecht mit Einschluss des Lehnrechts", Handels-, Wechsel- und Seerecht" (beide Rudolf Sohm), „Deutsches Strafrecht" (Wach), „Völkerrecht" (Emil Friedberg) sowie „Erklärung der Pandektentitel de stipulatione servorum (45, 3) und de castrensi peculio (49, 17)" (Bernhard Windscheid), was eine Belegung in Höhe von insgesamt 26 Stunden je Woche bedeutete. Im folgenden Sommersemester 1888 belegte Triepel „Deutsches Civilprocessrecht" (Adolph Wach), ein „Germanistisches Praktikum (Repetitorium der Hauptlehren des deutschen Privatrechts und Sachsenspiegellectüre)" (Arthur B. Schmidt), „Civilistische Übungen" (Bernhard Windscheid), „Theoretische Nationalökonomik, sowie Finanzwissenschaft" (Wilhelm Roscher), im Wintersemester 1888/89 „Erklärung des Digestentitels Mandati (17, 1)" (Bernhard Windscheid), „Deutsches Reichs- und Landesstaatsrecht", „Gemeines deutsches Strafprocessrecht", „Strafrechts-Praktikum" (alle Karl Binding); „Kirchenrecht mit Einschluss des Eherechts" (Emil Friedberg), „Pandekten-Praktikum" (Oskar Bülow), „Staatsrecht des Königreichs Sachsen" (Karl Viktor Fricker), „Gesammte praktische Nationalökonomik und Wirthschaftspolizei" (Wilhelm Roscher), im Sommersemester 1889 „Königl. sächsisches Privatrecht I. Theil" (Otto Müller), „Königl. sächsisches Privatrecht II. Theil (Recht der Forderungen, Familienrecht und Erbschaftsrecht) unter Berücksichtigung des Entwurfs eines deutschen bürgerlichen Gesetzbuches" (Paul Grützmann), „Konkursrecht und ausserordentliche Processarten" (Oskar Bülow), „Deutsches Verwaltungsrecht" (Karl Viktor Fricker), „Civilistische Übungen" (Bernhard Windscheid), „Exegese von Digestenstellen, verbunden mit schriftlichen Arbeiten" (Johannes Emil Kuntze), „Repetitorium des Civilprocessrechts mit praktischen Übungen" (Friedrich Stein) und schließlich im Wintersemester 1889/90 „Pandekten-Repetitorium mit praktischen und exegetischen Übungen, insbesondere mit Erläuterung ausgewählter Abschnitte aus den Institutionen Justinians" (Otto Müller), „Katholisches und Evangelisches Kirchenrecht mit Einschluss des Eherechts auf der Grundlage seines Lehrbuches des Kirchenrechts (3. Aufl., Leipzig 1889)" (Emil Friedberg), „Deutsches Reichs- und Landesstaatsrecht" (Karl Binding) 44 . Stellt man in Rechnung, daß in Leipzig nach der Beobachtung seines Lehrers Emil Friedberg Vorlesungen nicht bloß belegt, sondern auch gehört wurden 45 und die Fakultät ersichtlich großen Wert auf arbeitsintensive Praktika und Exegetika legte46, so wird deutlich, daß Triepel in seinen sechs Leipziger Semestern 44

Abgangszeugnisse vom 30. September 1889 und 21. Januar 1890, BA, NL Triepel Bd. 1, Bl. 7 und 9; Vorlesungsverzeichnisse der Universität Leipzig Winter-Halbjahr 1887/88 bis Sommer-Halbjahr 1890; Personalverzeichnisse der Universität Leipzig Winter-Semester 1887/88 bis Sommer-Semester 1890. 45 Friedberg, Leipziger Juristenfakultät, S. 111. 46 Friedberg, S. 110 f.

Erster Teil: Leben

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eine tiefgehende juristische und ökonomische Ausbildung erfahren hat. Sie hat ihn zeitlebens ebenso geprägt wie seinen gleichaltrigen Kommilitonen Harry Graf Kessler (1868-1937) 47 , der seine Leipziger Studienzeit im erhalten gebliebenen „Curriculum vitae" als tiefen Einschnitt in seine Entwicklung beschrieb, da er „dort unter den Einfluß von Männern wie dem bahnbrechenden Nationalökonom Roscher und Lujo Brentano, dem geistreichen Rechtslehrer Wach, dem großen Philosophen und Psychologen Wundt und dem Altmeister der Kunstgeschichte Springer" geraten sei 48 . Ebenso wie Graf Kessler 49 mag auch Triepel in den Vorlesungen Adolf Wachs erfahren haben, wie widersprüchlich Recht und Gerechtigkeit sein konnten. Über seine Lehrer sind allerdings, abgesehen von seinem „väterlichen Freunde" 50 und großen Förderer Karl Binding (1841-1920) 51 , dessen Lebensleistung er in der Neuen Deutschen Biographie gewürdigt hat 52 , nur wenige dezidierte Äußerungen erhalten. So gedachte er bei der Eröffnungsansprache zur Leipziger Staatsrechtslehrertagung von 1925 „in Dankbarkeit und Wehmut" 53 der Professoren Wach, Windscheid, Schmidt, Binding, Bülow, Friedberg und Sohm. Besondere Erwähnung war ihm der „scharfsinnige Karl Viktor Fricker" 54 wert. In der Tat mag es Fricker gewesen sein, der Triepel mit seiner Betrachtungsweise, die ansatzweise soziologische, historische und politische Gesichtspunkte mit einbezog55, geprägt und den Keim fur die spätere antipositivistische Stoßrichtung seines Denkens gelegt hat. Denn „als akademischer Lehrer gehörte er zu denjenigen, die vorzugsweise auf die ernsteren und gereiften unter den Studierenden einwirken, auf diese aber um so tiefer und nachhaltiger. ... Es dürfte niemand diese Schule durchlaufen haben, der ihm nicht eine herzliche Zuneigung und eine dankbare Erinnerung bewahrte." 56 Triepel pflegte in seinem ruhigen Arbeitszimmer regelmäßig bis tief in die Nacht zu arbeiten. Das Öl einer Petroleumlampe hätte ihm, wie Marie Triepel in ihren Lebenserinnerungen vermerkt hat, fur sein nächtliches Arbeitspensum nicht gereicht, so daß ihm gleich eine zweite Lampe ins Arbeitszimmer gestellt 47

Über ihn Stemel (1995). Kessler, Bd. 1, S. 324. 49 Kessler, S. 191. 50 Vorwort zu Völkerrecht und Landesrecht, S. VI. Dieses Werk hat Triepel Karl Binding gewidmet. Auch nach dessen Tod im Jahre 1920 bekannte er sich coram publico zu Binding als seines unvergeßlichen Lehrers und Freundes, vgl. Verh. des 32. DJT, 2. Bd., S. 31. 51 Über ihn umfassend Westphalen (1989); vgl. auch Schröder, S. 59-63. 52 „Karl Binding", NDB, Bd. 2, S. 244 f. 53 VVDStRL 2 (1925), S. 2. 54 VVDStRL 2 (1925), S. 2; vgl. über ihn Bücher, ZStW 1908, 193-200. 55 Born, S. 68, 82. 56 Bücher, ZStW 1908, S. 199: 48

2. Kap.: Studienjahre in Freiburg und Leipzig

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werden mußte57. Dementsprechend gut vorbereitet, absolvierte er im Verlauf des Wintersemesters 1889/90 die Erste juristische Staatsprüfung. Der schriftliche Prüfungsteil fand am 12., 13. und 14. November 1889 statt. Den Kandidaten wurden drei Aufgaben mit folgenden Themen gestellt: Digestenexegese „De condictione sine causa" (Α.), „Die Stellvertretung nach geltendem Zivilprozeßrecht" (B.) und aus der „Nationalökonomie: Die wirtschaftliche Begründung des Unternehmergewinnes"(C.) 58. Von den 49 in der Prüfung verbliebenen Kandidaten haben zwei „mit Auszeichnung" (= „I"), sechs mit „sehr gut"(= „II"), 15 mit „gut" (= „III") und 20 ohne Prädikat (= „IV") abgeschnitten. Sechs Kandidaten bestanden die Prüfung nicht. Triepel hat in der ersten Aufgabe eine „I/II", in der zweiten eine „ I I I " und in der dritten eine „II/III" erzielt. Sein Gesamtergebnis nach der mündlichen Prüfung am 11. Januar 1890 (Prüfungsausschuß: Schmidt, Kuntze, Wach, Sohm, Brentano) lautete „sehr gut" 59 .

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Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 1 f., PAG; Bilfingen ZaöRV 1950/51, S. 12. Daß sein umfangreiches wissenschaftliches Lebenswerk ebenfalls nur aufgrund entsagungsvoller Elukubration entstehen konnte, darf wohl vermutet werden. 58 SächsHStA, M.f.V. Nr. 10200/14, Bl. 275, 281. 59 SächsHStA, M.f.V. Nr. 10200/14, Bl. 282; BA, N L Triepel Bd. 1, Bl. 10.

3. Kapitel

Referendariat und erste Lehrtätigkeit Triepel nahm am 1. März 1890 den juristischen Vorbereitungsdienst auf und wurde seinem Wunsch entsprechend zunächst dem Amtsgericht Leipzig zugewiesen1. Damals dauerte das Referendariat in Sachsen vier Jahre2. Da Triepel beim Amtsgericht begonnen hatte, mußte er die ersten beiden Jahre „in ununterbrochener Folge im Dienste bei den Gerichten" verwenden 3. Aufgrund seiner sehr guten Veranlagung, seines Fleißes, seiner guten Leistungen sowie seiner sehr guten Führung 4 wurde er bereits am 13. August 1890 mit der Wahrnehmung einzelner richterlicher Geschäfte beauftragt 5. Die hierdurch entstandene zeitliche Beanspruchung vermochte Triepel jedoch nicht an der Fertigstellung seiner Dissertation über das Interregnum zu hindern. Die Arbeit wurde von Karl Binding betreut, dessen eindrucksvolle Persönlichkeit Triepel schon während des Studiums ganz in ihren Bann gezogen hatte6. Damit erging es ihm nicht anders als vor ihm Gerhard Anschütz und nach ihm Gustav Radbruch (1878-1949) 7 . Anschütz hat in seinen Lebenserinnerungen notiert: „Ich hörte die Vorlesungen des leidenschaftlichen, gleichsam feuersprühenden Mannes mit steigendem Interesse, ja mit Begeisterung - zum ersten Male erfaßt vom Wesen und Wert der Rechtswissenschaft. In diesen Vorlesungen - Strafrecht und Staatsrecht - entstand meine ausgeprägte Neigung zum öffentlichen Recht (im Gegensatz zum Privatrecht)" 8. Radbruch war in seinen drei Leipziger Semestern (1898-1900) außer von Sohm auch von Bin-

1

SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 1 (Vorakte) und Bl. 1 bis 3. § 3 der „Verordnung, den Vorbereitungsdienst zur Erlangung der Fähigkeit zum Richteramte betreffend" vom 17. September 1879, Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen 1879, S. 370. 3 § 4 der „Verordnung, den Vorbereitungsdienst zur Erlangung der Fähigkeit zum Richteramte betreffend" vom 17. September 1879, Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen 1879, S. 370. 4 Vgl. die Beurteilung SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 4 (Vorakte). 5 SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 4 (Vorakte) und Bl. 3 f. 6 Heinrich Mitteis, Grabrede, S. 2, PAG. 7 Über ihn A. Kaufmann, Radbruch, S. 7-88. 8 Anschütz, Leben, S. 44. 2

3. Kap.: Referendariat und erste Lehrtätigkeit

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ding am meisten gefesselt und charakterisierte ihn folgendermaßen: „eine Künstlererscheinung mit schönem, geistvollen Kopf und fliegender Halsbinde, ein lebhaft beredter Mann, ein Vollblutjurist" 9 . Binding war es auch, dem es beinahe gelang, Triepel fur die Strafrechtswissenschaft zu gewinnen10. So ist es kein Zufall, daß Triepels erste Veröffentlichung einem strafrechtlichen Thema galt, nämlich der „bedingten Verurteilung". Der am 30. Juni 1891 in der Beilage zur Münchener Allgemeinen Zeitung erschienene Beitrag war rechtspolitischer Natur und setzte sich mit den Reformvorschlägen der „Modernen Schule" Franz v. Listzs, des Antipoden Karl Bindings 11 , zur Einführung der Freiheitsstrafe auf Bewährung auseinander. Anhand einer rechtsvergleichenden Betrachtung, deren Schwerpunkt die Analyse belgischer und französischer Neuregelungen zur Abschaffung der kurzzeitigen Freiheitsstrafe bildete, hat Triepel versucht, die Mängel dieser Reformen aufzudecken und sich im übrigen besorgt gezeigt, „daß der Segen des Gesetzes keinen Unwürdigen treffe" 12 . Ganz im Sinne der Vergeltungstheorie seines Lehrers konnte er sich nicht dazu verstehen, „in die Loblieder einzustimmen, welche neuerdings der ,bedingten Verurteilung 4 gesungen werden" 13 . Falls aber eine solche Strafrechtsreform verwirklicht werden würde, so möge die Deutschen, wie er - nicht ohne zeitgeistgemäßem nationalistischem Unterton - feststellte, „ein gütiges Geschick" vor der französischen Lösung bewah14

ren . Triepel erkannte aber bald, daß ihm das öffentliche Recht, das von Binding ebenfalls mit größtem Erfolg vertreten wurde 15 , ein größeres Feld für eine der Originalität seines Denkens entsprechende Betätigung geben werde 16. Daß die akademische Laufbahn erstrebenswert sei, scheint für ihn schon frühzeitig festgestanden zu haben. „Er wollte Dozent werden, das war sein ganzes Verlangen, und entsprach auch völlig seiner Veranlagung", hat seine Frau rückblickend vermerkt 17. Triepel mag in dieser Berufsperspektive dadurch bestärkt worden sein, daß er am 2. Juli 1891 unter dem Dekanat Adolph Wachs mit „summa cum laude" promoviert wurde 18 .

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Radbruch, Der innere Weg, S. 45. Heinrich Mitteis, Grabrede, S. 2 f., PAG. 11 Vgl. zum Streit zwischen Moderner und Klassischer Schule eingehend Westphalen, S. 221-325. 12 Triepel, Beilage zur Allgemeinen Zeitung vom 30. Juni 1891, S. 2. 13 Triepel, Beilage zur Allgemeinen Zeitung vom 30. Juni 1891, S. 3. 14 Triepel, Beilage zur Allgemeinen Zeitung vom 30. Juni 1891, S. 3. 15 Vgl. zu Bindings staatsrechtlichen Schriften Westphalen, S. 351-357, 421-431. 16 So Heinrich Mitteis, Grabrede, S. 2, PAG. 17 Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 2, PAG. 18 UAL, Jur. Fak. I 2, Bd. II. 10

Erster Teil: Leben

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Gleichwohl wollte er sich auch in der forensischen Praxis bewähren und seine juristische Ausbildung vollenden, um später zumindest eine Anstellung als Hilfsrichter zu erhalten 19. So setzte er das Referendariat fort und hatte ab 1. Januar 1891 beim Amtsgericht Hohenstein-Ernstthal amtsanwaltschaftliche Aufgaben auf dem Gebiet des Zivilrechts wahrzunehmen 20. Soweit es „der nicht unbedeutende Umfang der hiermit verbundenen Arbeiten" 21 gestattete, wurde er auch in streitigen Zivilsachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit beschäftigt. Von diesem Zeitpunkt an erhielt Triepel erstmals Dienstbezüge, und zwar in Höhe von 100 M monatlich 22 . Im Sommer desselben Jahres verlobte er sich in Tutzing mit Marie Ebers, der Schwester seines Freundes Norbert Ebers 23. Sein Schwiegervater in spe hielt große Stücke auf ihn und traf einmal die Feststellung „Der Heinrich hat sein Kapital im Kopfe" 24 . Triepel war sich seiner Fähigkeiten durchaus bewußt. Denn gleich zu Beginn des Jahres 189225, also nur etwa ein halbes Jahr nach seiner Promotion, bewarb er sich bei der Fakultät um die Venia legendi für Staatsrecht, Völkerrecht und Verwaltungsrecht 26. Am 20. Januar 1892 stellte Fakultät in einem Bericht an das „Königliche Ministerium des Cultus und öffentlichen Unterrichts" fest, daß „gegen die Zulassung des Kandidaten zu den vorgeschriebenen Probeleistungen keinerlei Bedenken" vorlägen 27. Schon drei Tage später erließ das Ministerium die entsprechende Verfügung 28 . Trotz der sich nunmehr abzeichnenden akademischen Laufbahn hat sich Triepel dafür entschieden, den juristischen Vorbereitungsdienst zu Ende zu führen. Mit Wirkung vom 1. März 1892 wurde Triepel dem Landgericht Leipzig zugewiesen, wo er diverse Zivil- und Strafkammern als Ausbildungsstationen zu absolvieren hatte und auch einen Monat zur Staatsanwaltschaft abgeordnet wurde 29 . Seine Leistungen wurden wie folgt beurteilt: „... ist gut veran19

Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 2, PAG. SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 5; auch dort wurde der Referendar hervorragend beurteilt: „gut veranlagt, gewandt und fleißig", ebd. 21 So Triepel in einem Schreiben an das Justizministerium, SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 25. 22 SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 1. 23 Vgl. oben 2. Kap. 24 Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 2, PAG. 25 Das genaue Datum ist aus den Archivalien nicht ersichtlich. 26 SächsHStA, M.f.V. Nr. 10028/23, Bl. 200. 27 SächsHStA, M.f.V. Nr. 10028/23, Bl. 200. 28 SächsHStA, M.f.V. Nr. 10028/23, Bl. 200. 29 Diese Versetzung erfolgte auf Wunsch Triepels, nachdem es ihm nicht gelungen war, zur Fortsetzung des Vorbereitungsdienstes eine Anstellung bei einem Rechtsanwalt zu finden, vgl. SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 12. 20

3. Kap.: Referendariat und erste Lehrtätigkeit

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lagt, fleißig und strebsam, besitzt hübsche Kenntnisse, ist nicht ungewandt und hat ein gesundes Urtheil" 30 . In diese Zeit fällt Triepels zweite Veröffentlichung, die den Titel „JuristenDeutsch" trug und unter dem Signum „Dr. H. T." in der Sonnabendbeilage der Leipziger Zeitung Nr. 169 vom 23. Juli 1892 erschien. Triepel verteidigt dort einerseits das Deutsch der Juristen gegen überzogene Angriffe, wendet sich andererseits aber gegen zu viele Fremdworte und Latinismen und geht unter Anwendung ästhetischer Kategorien mit dem Schwulst des Kanzleistils zu Gericht, wobei ihm offensichtlich die Erfahrungen als Referendar den Blick geschärft haben: „ W i l l man das Deutsch unserer Gesetze erträglich nennen, so muß man das Juristen-Deutsch der Praxis als fürchterlich bezeichnen."31 Für die Übersendung des Zeitungsartikels bedankte sich der zu dieser Zeit schon hochbetagte Rechtsgelehrte Rudolf v. Gneist (1816-1895) 32 mit der Bemerkung, es sei „unter den heutigen Umständen eines der wirksamsten Mittel, wenn man in der Tagespresse eine Blumenlese übelklingender Worte und Sätze zusammenstellt"33. Daß „diese kleine Jugendarbeit damals von keinem Geringeren als Rudolf v. Gneist beifällig begrüßt" wurde, betrachtete Triepel noch mehr als fünfzig Jahre später als eine seiner „freundlichsten Erinnerungen" 34. Ab 1. Oktober 1892 unterbrach Triepel den gerichtlichen Vorbereitungsdienst beim Landgericht Leipzig 35 , um einer Beschäftigung als „Hilfsarbeiter" bei dem Leipziger Rechtsanwalt und Notar Heinrich Erler nachzugehen36. Erler war mit seinen Leistungen so zufrieden, daß er ihm die Kanzleiübernahme anbot 37 . Triepel erlag indes nicht der „Versuchung, plötzlich ganz auf eigenen Füßen zu stehen"38. Diese Entscheidung gegen den Anwaltsberuf wurde wohl durch den raschen Abschluß des Habilitationsverfahren maßgeblich beeinflußt: Am 25. Februar 1893, also kurz nach Vollendung des 25. Lebensjahres, wurde 30 SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 6 (Vorakte) und Bl. 23. Aufschlußreich ist auch die Beurteilung seitens des Amtsgerichts Hohenstein-Ernstthal: „läßt es sich sehr angelegen sein, sich wissenschaftlich fortzubilden", ebd., Bl. 10. 31 Leipziger Zeitung Nr. 169 vom 23. Juli 1892, S. 2729. 32 Über ihn Hahn (1995). 33 Schreiben vom 4. August 1892, PAG. 34 Triepel, Stil des Rechts, S. 134 Fn. 1. 35 SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 6 (Vorakte). Ursprünglich war eine Zuweisung zum Landgericht Leipzig für ein Jahr, also bis 28. Februar 1893, vorgesehen, vgl. ebd., Bl. 14, indes sah sich Triepel aufgrund der großen Nachfrage von anderen Referendaren veranlaßt, die Chance der sofortigen Anstellung bei Rechtsanwalt Erler wahrzunehmen, vgl. seinen Antrag vom 11. Juli 1892, ebd., Bl. 19 f., sowie sein Schreiben vom 7. Januar 1894, ebd., Bl. 25 f. 36 SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 7 (Vorakte). 37 Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 2 PAG; vgl. auch die überaus günstige Beurteilung durch Erler, SächsHStA, Justiz-Ministerium Bl. 7 (Vorakte) und Bl. 30. 38 Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 2, PAG.

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Erster Teil: Leben

ihm von der Leipziger Juristenfakultät die Venia legendi für Staatsrecht, V ö l kerrecht und Verwaltungsrecht erteilt 3 9 . Vermutlich war es dem großen Einfluß Karl Bindings wie auch der Qualität seines Erstlingswerks zu verdanken, daß die Dissertation als eine den statuarischen Erfordernissen für eine Habilitation entsprechende wissenschaftliche Leistung anerkannt wurde. Darüber hinaus dürfte Triepels Entscheidung für die akademische Laufbahn auch v o m Ratschlag seiner Verlobten beeinflußt worden sein. Marie Ebers hatte nämlich erkannt, daß er sich als Rechtsanwalt nicht glücklich fühlen würde, w e i l i h m die Rolle als akademischer Lehrer, in die er nunmehr zu schlüpfen begann, große Freude bereitete 40 . Einem an das Justizministerium gerichteten Schreiben v o m 7. Januar 1894 zufolge war Triepel „seit dem Sommersemester 1893 verpflichtet, regelmäßig Vorlesungen an der Universität zu halten." 4 1 O b w o h l er auch bereits i m Personalverzeichnis für das Sommersemester 1893 genannt wurde 4 2 , geben die V o r lesungsverzeichnisse - w o h l infolge drucktechnisch bedingter Verzögerungen - erst ab Wintersemester 1893/94 Auskunft über die von Triepel abgehaltenen Vorlesungen 4 3 . Es handelte sich hierbei u m „Allgemeines Staatsrecht" (zwei Stunden j e Woche) und „Geschichte des Völkerrechts seit dem Zeitalter der Reformation" (eine Stunde j e Woche) 4 4 . Das Stundendeputat steigerte sich i m

39

BA, N L Triepel, Bd. 1, BL 13. Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 2, PAG. 41 SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 26. Um welche Vorlesungen es sich hierbei handelte, hat sich aufgrund der schlechten Quellenlage (s. o. Fn. 18) nicht eruieren lassen. 42 Personal-Verzeichnis der Universität Leipzig für das Sommer-Semester 1893, S. 8. 43 Bernd-Rüdiger Kern, S. 71, datiert dagegen - ohne Nachweis - den Beginn der akademischen Karriere Triepels auf das Sommersemester 1894. 44 Vorlesungsverzeichnis der Universität Leipzig Winter-Halbjahr 1893/94, S. 7 f. Bis zu seinem Weggang nach Tübingen zum Wintersemester 1900/01 hielt Triepel folgende weitere Vorlesungen und Übungen: im Sommersemester 1894 „Die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Reichsverfassung" und „Völkerrecht", im Wintersemester 1894/95 „Deutsches Reichs- und Landesstaatsrecht" und „Geschichte des Völkerrechts seit dem Zeitalter der Reformation", im Sommersemester 1895 „Sächsisches Staatsrecht", „Erklärung der deutschen Reichsverfassung" und „Völkerrecht", im Wintersemester 1895/96 „Deutsches Reichs- und Landesstaatsrecht" und „Verwaltungsrechtliche Übungen", im Sommersemester 1896 „Die geschichtlichen Grundlagen der heutigen Reichsverfassung", „Sächsisches Staatsrecht" und „Völkerrecht", im Wintersemester 1896/97 „Deutsches Verwaltungsrecht (Verwaltung des Innern)", im Sommersemester 1897 „Sächsisches Staatsrecht" und „Völkerrecht", im Wintersemester 1897/98 „Allgemeines Staatsrecht (zugleich als Einführung in das öffentliche Recht überhaupt)" und „Geschichte des Völkerrechts im 19. Jahrhundert", im Sommersemester 1898 „Sächsisches Staatsrecht" und „Völkerrecht", im Wintersemester 1898/99 „Deutsches Verwaltungsrecht (Verwaltung des Innern)" und „Deutsches Reichs- und Landesstaatsrecht", im Sommersemester 1899 „Allgemeines Staatsrecht (zugleich als Einführung in das öffentliche Recht überhaupt)", „Verfassung und Verwaltung des deutschen Heeres", „Völkerrecht" und „Repetitorium des Staatsrechts", im Winterseme40

3. Kap.: Referendariat und erste Lehrtätigkeit

45

Laufe der Zeit. So las er etwa im Wintersemester 1898/99 neun Stunden pro Woche45. Mit Beginn seiner Lehrtätigkeit erhielt Triepel ab Ostern 1893 sechs Jahre lang eines der flir Dozenten der Rechte gedachten Kleeschen Stipendien in Höhe von 300 M jährlich 46 . Ende Februar 1894 beendete er nach anderthalb Jahren die Beschäftigung bei Rechtsanwalt Erler und bat um Wiedereinstellung in den gerichtlichen Vorbereitungsdienst ab 1. März 189447. Seinen Wunsch nach erneuter Verwendung beim Landgericht Leipzig begründete er in mehrfacher Hinsicht. So wies er darauf hin, daß er sich zur Zweiten juristischen Staatsprüfung zu melden gedenke, ihm aber die Anfertigung der Prüfungsarbeiten erschwert werden würde, wenn er einem Amtsgericht oder der Staatsanwaltschaft zugewiesen sei, wo weit mehr als beim Landgericht auf die Einhaltung bestimmter Bürostunden Wert gelegt werde. Auch wäre dies mit seiner zeitlichen Belastung durch die Dozententätigkeit schwerlich zu vereinbaren. Seinen Ortswunsch rechtfertigte er mit dem Hinweis auf die Krankheit seines Vaters, vor allem aber mit der sonst bestehenden Notwendigkeit, „die mir werthvolle und liebgewordene akademische Thätigkeit aufzugeben" 48. Nachdem seinem Gesuch um Wiedereinstellung in den gerichtlichen Vorbereitungsdienst entsprochen worden war 49 , wurde Triepel antragsgemäß50 zur Zweiten juristischen Staatsprüfung zugelassen51. Schon am 10. März 1894 erhielt er die erste Akte zur Anfertigung eines Zivilurteils unter Einräumung einer Frist von vierzehn Tagen ausgehändigt. Nach deren Ablieferung folgten sukzessive als weitere „Probeschriften" ein Zivilurteil (Frist: acht Tage), ein Strafurteil (Frist: vierzehn Tage), eine staatsanwaltliche Entschließung (Frist: acht Tage) sowie eine „These" 52 . Bei letzterer bemängelte ein Prüfer, daß „der Verfasser in dem Bestreben, dem Gesetzgeber gegenüber den Gedankenleser ster 1899/00 „Deutsches Reichs- und Landesstaatsrecht", „Deutsches Verwaltungsrecht (Verwaltung des Innern)" sowie „Conversatorium über deutsches Staatsrecht (im Anschluß an die Vorlesung)" und schließlich im Sommersemester 1900 „Allgemeines Staatsrecht (zugleich als Einführung in das öffentliche Recht überhaupt)", „Sächsisches Staatsrecht", „Völkerrecht" und „Eherecht der katholischen und der evangelischen Kirche und persönliches Eherecht des bürgerlichen Gesetzbuchs", s. Vorlesungsverzeichnisse der Universität Leipzig Sommer-Halbjahr 1894 bis Sommer-Halbjahr 1900. 45 Vorlesungsverzeichnis der Universität Leipzig Winter-Halbjahr 1898/99, S. 8 f. 46 BA, NL Triepel Bd. 1, Bl. 14. Am 26. Januar 1899 wurde ihm das Stipendium noch einmal ab Ostern 1899 zu gleichen Bedingungen gewährt, vgl. ebd., Bl. 18. 47 SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 25 f. 48 SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 25 f. 49 SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 27 f. 50 Schreiben an das Justizministerium vom 26. Februar 1894, SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 29. 51 SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 31. 52 SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 31-34.

Erster Teil: Leben

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spielen zu wollen, wohl zu weit gegangen"53 sei - ein früher Beleg für Triepels methodischen Impetus! Im übrigen bekundeten die Arbeiten „ausgebreitete Rechtskenntnisse und im allgemeinen gutes, selbständiges, zuweilen wohl etwas zu selbstbewußtes Urtheil." 54 Sie seien „gründlich durchdacht und sorgfältig ausgearbeitet", allerdings sei die „stellenweise hervortretende selbstgefällige Breite der Darstellung ... lästig, aber bei Prüfungsarbeiten doch weniger zu mißbilligen, als wenn es sich um praktische Arbeiten handelte."55 Alle Prüfer votierten für die Zulassung zur mündlichen Prüfung in Dresden, die am 16. Juni 1894 stattfand. Sie verlief nicht zuletzt deshalb tadellos, weil Triepel zufällig nach einer gerade auf der Hinfahrt im Zug memorierten Stelle gefragt wurde und der betreffende Prüfer nur noch schmunzelnd feststellen konnte: „Verbaliter!" 56 . So bestand er schließlich mit dem Prädikat „befriedigend" 57 und erhielt das Recht, den Titel „Assessor" zu fuhren. Im direkten Anschluß hieran wurde er antragsgemäß dem Landgericht Leipzig als Hilfsrichter beigeordnet, womit ab 1. Juli 1894 die Erhöhung der monatlichen Bezüge auf 150 M verbunden war 58 . Am 10. August 1894 heiratete Triepel seine Verlobte Marie Ebers. Die Trauung fand nach evangelischem Ritus in Tutzing statt59. Das frischvermählte Paar zog daraufhin nach Leipzig in eine „nette 5-Zimmerwohnung" 60 , die sich in der Lessingstr. 26 I I befand 61. Die Integration in die berühmte Leipziger Juristenfakultät gestaltete sich nicht nur intra sondern auch extra muros problemlos. Er wurde als Privatdozent, wenn auch nur als solcher, für würdig befunden, mit seiner jungen Gattin im Kreise der „Geheimräte" zu verkehren. Als ehemaliger Leipziger Ägyptologe war der Schwiegervater mit fast allen Juraprofessoren befreundet, so daß Triepel sogar einmal nur als „Schwiegersohn von Georg Ebers" vorgestellt wurde, woraufhin er sich verneigte und mit seinem schlagfertigen Humor antwortete: „Weiter nichts!" 62 Am 2. Februar 1896 wurde die erste Tochter Hertha geboren. Sie sollte sich später einen Namen als Roman- und Jugendbuchautorin sowie als Übersetzerin machen63. Auch deren am 28. November 1921 gebo53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63

SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 35. SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 35. SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 35. Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 2, PAG. SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 35. SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 36. BA, N L Triepel Bd. 1, Bl. 16. Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 2, PAG. Personal-Verzeichnis der Universität Leipzig Winter-Semester 1894/95, S. 8. Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 3, PAG; Bilfingen ZaöRV 1950/51, S. 12. Stüssi, S. 116 f.

3. Kap.: Referendariat und erste Lehrtätigkeit

47

rene Tochter Renate v. Gebhardt ist als Verfasserin von Jugendbüchern und Hörspielen schriftstellerisch hervorgetreten 64. Noch im Jahr der Assessorprüfung veröffentlichte Triepel seine erste völkerrechtliche Abhandlung über „Die neuesten Fortschritte auf dem Gebiete des Kriegsrechts". Er begann aber nun auch zu erkennen, daß die zeitliche Doppelbelastung durch die Lehrtätigkeit an der Universität Leipzig 65 und durch das Amt des Hilfsrichters beim Landgericht 66 es ihm nicht erlauben würde, so produktiv wissenschaftlich zu arbeiten, wie er es sich vorstellte 67. Ein weiteres Fortschreiten in der akademischen Laufbahn sah er unter diesen Umständen als „nahezu ausgeschlossen" an und beantragte schließlich die Entlassung aus dem Justizdienst zum 31. Dezember 1894, weil er nicht glaubte, einen längeren Urlaub zu erhalten 68. Da Triepel „keineswegs" den Wunsch hatte „für immer aus dem Justizdienst auszuscheiden", behielt er sich aber die Wiederbewerbung um eine Verwendung im richterlichen Dienst „vielleicht nach einem Jahr" vor 69 . Mit Schreiben vom 11. Dezember 1895 bemühte sich Triepel denn auch wieder um Einstellung in den Justizdienst70. Seine Bewerbung hatte Erfolg: Ab 1. März 1896 wurde er, wiederum beim Landgericht Leipzig, als Hilfsrichter mit einem Monatsgehalt von 200 M beschäftigt. Des weiteren erhielt er die Erlaubnis, Vorlesungen im erforderlichen Umfang zu halten71. Diese zusätzliche zeitliche Belastung forderte indes sehr bald ihren gesundheitlichen Tribut: Triepel mußte vom 12. Juni bis 1. Juli 1896 wegen von nervöser Überreizung verursachter, sich stetig wiederholender Schwindelanfälle, die ihn arbeitsunfähig machten, um Urlaub bitten 72 . Auch wenn seine Erkrankung nicht lange angehalten hatte, so war es ihm doch, wie er in seinem Entlassungsantrag vom 7. Mai 1897 bemerkte, bis dato nicht gelungen, die frühere Arbeitsfrische wiederzuerlangen 73.

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Stüssi, S. 118. Namentlich hat es viel Arbeit erfordert, die jeweils thematisch neuen Vorlesungen auszuarbeiten, vgl. Marie Triepels Lebenserinnerungen, Bl. 3, PAG. Triepels Stundendeputat umfaßte im Wintersemester 1894/95 sechs Wochenstunden, s. Vorlesungsverzeichnis der Universität Leipzig Winter-Halbjahr 1894/95, S. 8. 66 Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 3, PAG: „täglich kamen die Akten". 67 Schreiben vom 24. November 1894, SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 37. 68 Schreiben vom 24. November 1894, SächsHStA, Justiz-Ministerium , Bl. 37 f. 69 Schreiben vom 24. November 1894, SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 38. 70 SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 39 f. 71 SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 40. Gleichzeitig wurde ihm die „Staatsdienereigenschaft im Sinne des Civilstaatsdienergesetzes vom 7. März 1835" verliehen, s. BA, NL Triepel Bd. 1, Bl. 20. 72 SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 42, 44 f.; vgl. auch SächsHStA, M.f.V. Nr. 10200/3, Bl. 117. 73 SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 45. 65

Erster Teil: Leben

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Seine angegriffene Gesundheit stellte Triepel vor die Entscheidung, eine der beiden von ihm ausgeübten Tätigkeiten aufzugeben. Die Wahl wurde ihm „keineswegs leicht" 74 , da er sich nach einem nochmaligem Ausscheiden aus dem Justizdienst nur noch geringe Chancen zum Wiedereintritt ausrechnete. Den Ausschlag für die Entscheidung gegen das Richteramt gab - neben der starken Neigung zu akademischer Tätigkeit - die ärztliche und auch eigene Beobachtung, daß es „vornehmlich die Arbeit in langen Gerichtssitzungen" war, die ihm schadete75. Seiner Bitte um Entlassung aus dem Justizdienst zum 31. Mai 1897 wurde entsprochen 76. Damit fand Triepels richterliche Laufbahn ein frühes Ende. Gleichwohl griff er später noch oft und gerne auf die in der landgerichtlichen Praxis gewonnenen Erfahrungen zurück 77 . Nunmehr hatte Triepel ausreichend Muße, die bereits begonnenen Vorarbeiten zu seinem ersten großen Werk „Völkerrecht und Landesrecht" zu Ende zu führen 78. Es erschien 1899, in einer Zeit einzigartiger Blüte der deutschen Rechtswissenschaft 79, und machte seinen Autor „mit einem Schlage berühmt" 80 . Triepel beförderte sich mit dieser bahnbrechenden Arbeit in die erste Reihe der deutschen Völkerrechtsgelehrten. So verwundert es nicht, daß der preußische Wissenschaftsorganisator Friedrich Althoff (1839-1908) 81 schon bald nach deren Veröffentlichung auch an ihn als Vortragenden dachte, als er im Rahmen seines Projekts der Gründung „einer durch hervorragende Wissenschaftsstätten bestimmten vornehmen Kolonie, eines deutschen Oxford" 82 in Dahlem den Lehrplan des Orientalischen Seminars nach der Seite des Völkerrechts hin erweitert sehen wollte 83 . Seinem „Völkerrecht und Landesrecht" vor allem dürfte es Triepel auch zu verdanken haben, daß er nach nur sechs Jahren Privatdozentur im Juni 1899 74

SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 45. SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 45. 76 SächsHStA, Justiz-Ministerium, Bl. 46. 77 Mitteis, Grabrede, S. 3, PAG. So beschließt Triepel sein „Völkerrecht und Landesrecht" mit der Frage der Anwendbarkeit völkerrechtlicher Regeln in der forensischen Praxis, vgl. ebd., S. 438-447; vgl. auch unten 9. Kap. I 1. a. E. 78 Vgl. dazu ausführllich unten 8. Kap. I. 79 So mit Recht Voigt, S. 224. 80 Mitteis, Grabrede, S. 3, PAG. 81 Vgl. über ihn sowie allgemein zum „System Althoff* die Beiträge in vom Brocke (1991). 82 Teil eines Aktentitels, GStA PK, Rep. 90 Nr. 452 a; als Faksimile abgedruckt in der Gedenkschrift zur 150. Wiederkehr des Gründungsjahres der Friedrich-WilhelmsUniversität zu Berlin, S. 485; vgl. dazu näher vom Brocke, Kaiserreich, S. 120-122; Laitko, S. 80-84. 83 Vgl. dazu die von Friedrich Schmidt-Ott verfaßte Denkschrift für Kaiser Wilhelm II., in: Gedenkschrift zur 150. Wiederkehr des Gründungsjahres der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, S. 495. 75

3. Kap.: Referendariat und erste Lehrtätigkeit

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zum außerordentlichen Professor 84 an einer Fakultät avancieren konnte, die nach dem aus unmittelbarer Anschauung gewonnenen Urteil Gustav Radbruchs „damals in Deutschland wohl die besten Köpfe zählte" 85 . Noch in Leipzig nahm Triepel am 3. November 1899 die Wahl zum Armenpfleger des Wohnbezirks für die folgenden drei Jahre an 86 . Dieses soziale Ehrenamt gab er indes schon Ende September 1900 wieder ab 87 . Denn mit Schreiben vom 16. August 1900 war er an die Tübinger Eberhard-Karls-Universität auf die durch den Fortgang von Gerhard Anschütz nach Heidelberg freigewordene Professur für allgemeines und deutsches Staatsrecht, Völkerrecht und Einleitung in die Staatswissenschaft berufen worden. Seinem ersten Ruf wollte er sich naturgemäß nicht versagen 88.

84 Die Angabe der Ernennung zum außerordentlichen Professor im Juni 1899 beruht auf dem eigenhändig ausgefüllten Personalbogen Triepels, s. UAT 126/693, Bl. 24. Im Personal-Verzeichnis der Universität Leipzig Winter-Semester 1899/00, S. 8, wurde Triepel noch als „design, a. ο. Prof." geführt. Eine Ernennungsurkunde konnte in den einschlägigen Archivalien (ζ. B. SächsHStA, M.f.V., Nr. 10197/3) nicht nachgewiesen werden. Vermutlich wurde gar keine Urkunde ausgestellt (vgl. die Bemerkung in einem Bericht des akademischen Senats vom 9. Oktober 1900: „worüber er keine Urkunde besitzt", UAT 126/693, Bl. 8). Auf der ersten Seite des Mitte 1900 im Buchhandel erschienenen Vortrags „Wahlrecht und Wahlpflicht" firmiert Triepel als „a. o. Professor der Rechte". 85 86 87 88

Radbruch, Der innere Weg, S. 45. BA, N L Triepel Bd. 1, Bl. 21. BA, N L Triepel Bd. 1,B1. 22. BA, N L Triepel Bd. 1, Bl. 26.

4 Gassner

4. Kapitel

Tübingen 1900-1909 Daß Triepel auf einen Lehrstuhl der staatswissenschaftlichen, und nicht etwa der juristischen Fakultät berufen wurde, mutet prima vista vielleicht befremdlich an, ist aber unschwer zu erklären. Bis 1923, dem Jahr der Vereinigung von juristischer und staatswissenschaftlicher Fakultät zur rechts- und wirtschaftswissenschaflichen Fakultät1, folgte man in Tübingen noch der überkommenen Auffassung von der Stellung des öffentlichen Rechts im Gefuge der einzelnen Wissenschaftdisziplinen. Entsprechend der älteren Lehre von der umfassend verstandenen Politik wurde das Staats- und Verwaltungsrecht als Teil der Polizeiwissenschaft nicht unter den Begriff der Jurisprudenz subsumiert 2, sondern entsprechend den Grundsätzen des Merkantilzeitalters als vorwiegend kameralistische, d. h. ökonomische Disziplin betrachtet3 - eine Sonderung, die ihren organisatorischen Ausdruck darin fand, daß die beiden öffentlich-rechtlichen Lehrstühle der Universität Tübingen in der staatswissenschaftlichen Fakultät beheimatet waren 4. Dieser Ausschluß der Lehrer des öffentlichen Rechts aus ihrem natürlichen Wirkungsfeld, der juristischen Fakultät, war nicht nur nach Triepels Urteil eine „anormale Erscheinung" 5. Er bildete einen im damaligen Reichsgebiet einzigartigen Sonderfall, der zu gewissen Unzulänglichkeiten und Mißständen führte6. Auch Triepels Amtsvorgänger Gerhard Anschütz hat die Zuordnung des Lehrstuhls zur staatswissenschaftlichen Fakultät als „befremdlich" und „keineswegs angenehm" empfunden 7. Zwischen beiden Fakultäten herrschte zudem eine Konkurrenzsituation, deren konkrete Auswirkungen mit ursächlich waren für dessen Weggang nach Heidelberg. Eine unter zahlreichen Kontroversen betraf die Frage des Vorlesungsbesuchs: In einem Bericht der staatswissen-

1

Vgl. näher Born, S. 94-98; Oppermann, JZ 1967, S. 721; £ Conrad, S. 24. So etwa Savigny, S. 13; vgl. hierzu auch Hollerbach, AöR 91 (1966), S. 419 m. w. N. 3 Vgl. zum Ganzen die Monographie von Maier (1980); zusammenfassend Bleek, S. 19 f., 288-290; instruktiv auch Scheuner, S. 516-518. 4 Born, S. 8 und passim; Oppermann, JZ 1967, S. 721; eingehend Bleek, S. 194-229. 5 NiemeyersZ 1923, S. 158. 6 Vgl. die Analyse bei M. v. Rümelin, Universität Tübingen, S. 424. 7 Anschütz, Leben, S. 85. 2

4. Kap.: Tübingen 1900-1909

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schaftlichen Fakultät an den akademischen Senat bezüglich der Wiederbesetzung der staatsrechtlichen Professur vom 6. Juli 1900 wurde ausgeführt, an Vorlesungen über Deutsches Reichs- und Landesstaatsrecht nähmen nur selten württembergische Jurastudenten teil, weil sie im Examen von Mitgliedern der Juristenfakultät geprüft würden, obgleich diese seit langer Zeit kaum öffentlich-rechtliche Vorlesungen gehalten hätten. Der akademische Senat möge daher „Höheren Orts" die Neuregelung anregen, daß die Staatsrechtslehrer der staatswissenschaftlichen Fakultät zu den von der Juristenfakultät abgehaltenen Prüfungen in Zukunft hinzugezogen werden könnten8. Hierauf erklärte die juristische Fakultät reichlich ignorant, daß „bei diesen Prüfungen sich bisher Übelstände und Schwierigkeiten in Ansehung des öffentlichen Rechts nicht ergeben" hätten9. Der damalige Gesetz- bzw. Verordnungsgeber vermied es zunächst, den Schiedsrichter zwischen den rivalisierenden Fakultäten zu spielen, so daß es bei der unbefriedigenden Situation blieb. Dies führte dazu, daß für die staatsrechtlichen Lehrstühle in Tübingen im Regelfall keine ordentlichen Professoren erreichbar waren 10 , sondern vielmehr junge Rechtsgelehrte berufen werden mußten. Freilich bildete für sie das - meist erste - Ordinariat in der Tübinger staatswissenschaftlichen Fakultät nicht selten den Ausgangspunkt für eine glanzvolle Karriere in den rechtswissenschaftlichen Fakultäten des Reichsgebiets11. Prominente Beispiele hierfür sind etwa Gerhard Anschütz sowie Richard Thoma (1874-1957) 12 , der Amtsnachfolger Triepels 13 . Ein weiterer Faktor, der für Lehrstuhlbesetzungen bestimmend war, ist in der mit der Formel „Kaiser und Reich" zu kennzeichnenden Haltung des seit 1891 regierenden württembergischen Königs Wilhelms II. zu sehen. Sein Bekenntnis zur preußischen Führung und der nationalen Einheit sollte sich in der Berufung preußischer oder preußisch orientierter Professoren niederschlagen 14.

8

UAT 126/693, Bl. 1; vgl. hierzu auch die Senatsäußerung gegenüber dem zuständigen Ministerium, ebd., Bl. 4. 9 Schreiben an das Rektoramt vom 13. Juli 1900, UAT 126/693, Bl. 3. 10 Vgl. die wohl realistische Einschätzung der Fakultät UAT 126/693, Bl. 1. 11 So auch Born, S. 82. 12 Über ihn Rath( 1981). 13 Ein ausdrucksvolles fotografisches Dokument hierfür ist die anläßlich der Münsteraner Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer im März 1926 entstandene Gruppenaufnahme der Inhaber dieses Lehrstuhls von 1899-1929 (Anschütz, Triepel, Thoma, Smend, Marschall v. Bieberstein, Pohl); abgedruckt in Tübinger Dokumente, S. 18; Anschütz, Leben, nach S. 66. 14 Müller, Tübinger Blätter 1963, S. 44, 50. Freilich war Tübingen schon seit jeher „gleichzeitig eine Landes- und deutsche Universität", worauf Triepel in seiner Ansprache bei der 450-Jahr-Feier der Universität zu Recht hinwies, UAT 159a/5, N L Rümelin, Umdrucks. 3 f.

4*

Erster Teil: Leben

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Für die Nachfolge von Gerhard Anschütz sah die staatswissenschaftliche Fakultät unter diesen Umständen nur zwei Kandidaten als geeignet an: Triepel und Karl Sartorius. Beide wurden nach detaillierter Abwägung „gleich warm" empfohlen 15. Den Ausschlag gab schließlich das Votum des akademischen Senats vom 19. Juli 190016. Für Triepel hatte sich u. a. Ferdinand v. Martitz (1839-1921) 17 , Anschütz' Vorgänger auf diesem Lehrstuhl, verwendet 18. Zwar meinte man, daß auch Sartorius ' Veröffentlichungen sehr genaue und sorgfältige Untersuchungen enthielten und dieser der ältere und erfahrenere Dozent sei; in Triepels gerade erschienenem Werk „Völkerrecht und Landesrecht" trete aber die größere Begabung hervor 19. Besonders Triepels anschauliche und fesselnde Art der Darstellung sei ein Vorzug, der die Sicherheit gewähre, einen besonders wirksamen Dozenten zu erhalten 20. Seine Lehrbegabung wurde zudem „theils durch auswärtige Kollegen, theils durch hiesige Studierende, welche bei ihm gehört haben, aufs bestimmteste bezeugt."21 Nachdem von Seiten des Ministeriums zu bedenken gegeben worden war, ob nicht auch noch andere Persönlichkeiten, wie ζ. B. der Leipziger Extraordinarius Karl Rieker, hätten in Erwägung gezogen werden sollen 22 , wurde der Kanzler der Universität schließ-

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UAT 126/693, Bl. 1. Bericht des akademischen Senats an das Königliche Ministerium des Kirchen- und Schulwesens, UAT 126/693, Bl. 4. 17 Über ihn Triepel, NiemeyersZ 1923, S. 155-170; Friedrich, NDB 16, S. 309. Triepel pflegte mit Ferdinand v. Martitz bis kurz vor dessen Tod einen regen Schriftverkehr: In der Sammlung Darmstaedter der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz sind 28 Briefe und Postkarten vorhanden. Zwischen beiden entwickelte sich im Lauf der Zeit ein enges Vertrauensverhältnis: „Sie haben mir so oft ein väterliches Wohlwollen gezeigt, daß ich den Muth habe, mit Ihnen über Dinge zu reden, über die ich mit anderen so gerne sprechen würde.", Brief vom 25. Mai 1908, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 23. Triepel legte größten Wert auf das Urteil von Martitz über seine Arbeiten, vgl. Brief an Martitz vom 13. Oktober 1907, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 21 f. 18 Vgl. den internen Bericht des Kanzleramtes vom 29. Mai 1900, UAT 119/207; Brief Triepels an Martitz vom 23. April 1901, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 6. Ferdinand v. Martitz hat auch die Berufung seines Nachfolgers Anschütz beeinflußt, vgl. Anschütz, Leben, S. 63. 19 Der Erinnerung Marie Triepels, Lebenserinnerungen, S. 3, PAG, zufolge gab diese Abhandlung den Ausschlag ftir die Bevorzugung ihres Gatten. Auch Ferdinand v. Martitz hatte gerade diese Schrift günstig beurteilt, vgl. den Brief Triepels an ihn vom 23. April 1901, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 6. Aus einer Scheu, sich persönlich unbekannten Herren „literarisch - sozusagen - aufzudrängen", hatte ihm Triepel die Abhandlung erst nach Zuspruch Karl Bindings dediziert, Brief Triepels an Martitz vom 20. Mai 1899, ebd., Bl. 5. 20 Bericht des akademischen Senats an das Königliche Ministerium des Kirchen- und Schulwesens, UAT 126/693, Bl. 4. 21 Bericht des akademischen Senats an das Königliche Ministerium des Kirchen- und Schulwesens, UAT 126/693, Bl. 1. 22 Schreiben an den Kanzler vom 16. Juli 1900, UAT 119/207. 16

4. Kap.: Tübingen 1900-1909

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lieh doch ermächtigt, Triepel die Übernahme des Lehrstuhls anzubieten, was mit Schreiben vom 7. August 1900 geschah23. Die Konditionen (u. a. 3.800 M Anfangsjahresgehalt sowie Wohngeld in Höhe von 300 M und Übernahme der Umzugskosten24) sagten ihm zu, so daß er mit Schreiben vom 14. August 1900 die Entlassung aus seiner Stellung als Privatdozent der Universität Leipzig beantragte 25. Nun konnte der Umzug nach Tübingen erfolgen, wo Triepel mit seiner Familie am Österberg 2 Vi eine Wohnung fand 26. Am 1. Oktober 1900 trat er in die Fakultät ein 27 und hielt schon am 17. Januar 1901 seine akademische Antrittsrede über „Internationale Schiedsgerichte und die Haager Konferenz von 1899" 28 . Am selben Tag fand das Rigorosum von Wilhelm Külz (1875-1948) 29 statt30. Nachdem Külz eine wissenschaftliche Arbeit über die „Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres" 31 eingereicht hatte und diese eine äußerst günstige Beurteilung fand, wurde er zur mündlichen Doktorprüfung zugelassen, die er dann, ohne je vorher in Tübingen gewesen zu sein32, „cum laude" bestand33. Külz hat das Geschehen in seinen Lebenserinnerungen wie folgt geschildert: „Die Prüfung wurde von der ganzen Fakultät abgenommen; sie ging äußerlich so vor sich, daß die Professoren um einen großen runden Tisch herum saßen und daß man selbst als Festobjekt unter ihnen Platz nahm. Dann folgte eine Aussprache über die jeweils behandelten Gegenstände, wenn es zu einer solchen kam. ... Der Hauptprüfende war ein damals junger Professor der Staatswissenschaften, Dr. Triepel." 34 In den Jahren 1926 und 1927 kamen Triepel in 23

BA, N L Triepel Bd. 1, Bl. 24. Vgl. BA, NL Triepel Bd. 1, Bl. 24; s. auch das Ernennungsdekret vom 16. August 1900, ebd., Bl. 27, sowie das Schreiben vom selben Tag an den akademischen Senat, UAT 126/693, Bl. 5. Die Gesamtbezüge entsprachen damit etwa dem Fünffachen der durchschnittlichen Jahresverdienste von Arbeitnehmern in Industrie, Handel und Verkehr, die im Jahre 1900 bei 784 M lagen, vgl. Hohorst/Kocka/Ritter, S. 107. 25 BA, N L Triepel Bd. 1, Bl. 28. 26 Vorlesungsverzeichnis der Universität Tübingen, Sommer-Halbjahr 1901, S. 24. 27 UAT 126/693, Bl. 6. 28 s. Bericht des akademischen Senats an das Ministerium vom 24. Januar 1901, UAT 126/693, Bl. 19. Der Text dieser Antrittsrede ist - soweit ersichtlich - nicht veröffentlicht worden und war auch in den Archivalien nicht zu ermitteln. 29 Wilhelm Külz war in der Weimarer Republik auch Bürgermeister von Dresden, später Gründer und Vorsitzender der Liberal-Demokratischen Partei (LDP) in der damaligen SBZ, vgl. umfassend über ihn Behrendt (1968). 30 Eberl/Marcon, S. 53. 31 Vgl. zu deren Entstehungsgeschichte und Inhalt Behrendt, S. 25-27. 32 Ein solches Vorgehen war auch in späterer Zeit nicht ungewöhnlich, vgl. Glum, Erlebtes und Erdachtes, S. 214. 33 BA, N L Külz/11 (Lebenserinnerungen). 34 BA, N L Külz/11 (Lebenserinnerungen). 24

Erster Teil: Leben

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seiner Funktion als Universitätsrektor und Wilhelm Külz, damals Reichsminister des Innern, mehrfach aus gesellschaftlichem Anlaß zusammen. Hierbei nutzte Külz einmal die Gelegenheit und fragte Triepel, ob er sich vielleicht noch erinnere, daß er ihn seinerzeit im Doktorexamen geprüft habe: „Er antwortete darauf prompt: ,Ich erinnere mich nicht nur, daß ich Sie, sondern auch was ich Sie geprüft habe.4 Als ich darauf mein Erstaunen äußerte, nannte er mir einige Gegenstände, die er mich geprüft hatte, wobei die Erinnerung auch bei mir kam. Ich fragte ihn, ob diese lebhafte Erinnerung einen besonderen Anlaß hätte, er erwiderte: ,Ja; ich habe damals vor dieser Prüfung viel mehr Angst gehabt als Sie, es war die erste Prüfung, die ich als junger Professor vor der gesamten Fakultät abnehmen mußte, und die Anwesenden haben deswegen viel mehr auf mich als auf Sie aufgepaßt.'" 35 Zweifellos der berühmteste von fünfzehn weiteren Doktoranden 36, die Triepel nachweislich betreut hat, ist der universalistische Ständestaatstheoretiker, Soziologe und Nationalökonom Othmar Spann (1878-1950) 37 , der am 16. Juli 1903 „summa cum laude" zum Doktor scientiae politicae promoviert wurde. Sein Dissertationsthema lautete „Zur Kritik des Gesellschaftsbegriffes der modernen Soziologie" 38 . Spann wählte die Universität Tübingen nicht zuletzt auch deshalb, weil sie eine der ersten im deutschen Sprachraum war, die - seinen besonderen Neigungen entsprechend - ein gesellschafts- bzw. staatswissenschaftliches Doktorat verlieh 39 . Dieser Umstand bildete bei sehr vielen Promovenden das Motiv, an der Tübinger staatswissenschaftlichen Fakultät einen Dissertationsversuch zu unternehmen 40. Um „den allmählich unheimlich gewordenen Andrang der Doktoranden einzudämmen", mußte schließlich die Promotionsordnung verschärft werden 41. 35

BA, N L Külz/11 (Lebenserinnerungen). Eberl/Marcon, S. 53, 63 f., 74, 82 f., 84 f., 86, 88 f., 93, 97, 98, 100 f., 102. 37 Über ihn Pichler (im). 38 Eberl/Marcon, S. 64; Pichler, S. 287. Der Hinweis Pichlers, S. 19, 48, 286, Spann sei „unter dem bekannten Nationalökonomen und Soziologen Albert Schäffle" zum „Dr. rer. pol." (!) promoviert worden, ist unzutreffend. Schäffle nahm allerdings lebhaftes Interesse an ihm und besorgte den Abdruck der Dissertation unter dem Titel „Untersuchungen über den Gesellschaftsbegriff zur Einleitung in die Soziologie" als dreiteilige Folge in der von ihm mit herausgegebenen Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft (ZStW 1903, S. 573-596; 1904, 462-508; 1905, 302-344, 427-460). 39 So Pichler in seinem Schreiben an die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Tübingen vom 1. März 1982, UAT 359. 40 Insofern typisch sind die Beweggründe des Juristen Wilhelm Külz: „Da ich damals schon zur Justiz nur geringe Zuneigung empfand und meine Zukunft in der Verwaltung erhoffte, kam ich nicht auf den juristischen Doktor ab, sondern auf einen ganz eigenartigen Doktor, den Doktor scientiae politicae, den man damals nur an einer Universität, an der Universität Tübingen machen konnte." s. BA, N L Külz/11 (Lebenserinnerungen). 36

41 So Triepel in einem Brief an Martitz vom 4. August 1905, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 10; vgl. auch Born, S. 89.

4. Kap.: Tübingen 1900-1909

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Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch die an der staatswissenschaftlichen Fakultät jahrzehntelang geübte, offenbar nicht als anstößig empfundene Praxis, neu eintretenden Professoren mit juristischer Vorbildung den Ehrendoktor der Staatswissenschaften zu verleihen 42. Dieser Tradition entsprechend wurde auch Triepel am 21. Februar 1901, also kurz nach seinem Eintritt in die Fakultät, zum „Dr. sc. pol. h. c." promoviert 43 . Die staatswissenschaftliche Fakultät besaß zu jener Zeit sieben Lehrstühle. Außer der von Triepel versehenen Professur waren dies der andere öffentlichrechtliche Lehrstuhl (Staatsrecht, Verwaltungsrecht, Kirchenrecht; bis 1905 Ludwig v. Jolly, von 1906 bis 1908 Fritz Fleiner, ab 1908 Karl Sartorius), je zwei volkswirtschaftliche und forstwirtschaftliche Lehrstühle sowie ein 1905 weggefallenes Ordinariat für Landwirtschaftslehre 44. Die Anzahl der in der staatswissenschaftlichen Fakultät immatrikulierten Studenten schwankte zur Zeit des Eintritts Triepels in die Fakultät um etwa 17045. Im Wintersemester 1906/07 sank sie auf 107, wobei sich die Zahl der Jurastudenten entsprechend erhöhte 46. Diese Entwicklung war dem Umstand zu verdanken, daß die württembergischen Kandidaten des Verwaltungs- und Finanzdienstes seit dem Wintersemester 1905/06 die erste juristische Staatsprüfung zu bestehen hatten 47 . Deshalb setzten sich die in der staatswissenschaftlichen Fakultät eingeschriebenen Zuhörer nur noch aus „Kameralisten", also volkswirtschaftlich orientierten Studierenden mit dem obligatorischen Studienabschluß der Promotion, sowie zu einem geringeren Teil aus angehenden Forstbeamten zusammen48, während die Jurastudenten nun auch offiziell öffentliches Recht nur in der staatswissenschaftlichen Fakultät hören konnten - „ein Unikum in der deutschen Universitätsgeschichte ! " 4 9 Diese einzigartige Besonderheit hinderte Triepel indes nicht, sein Vorlesungsprogramm an den anderenorts üblichen Standards auszurichten. So las er im Wintersemester 1900/01 „Allgemeines Staatsrecht" und „Völkerrecht" und hielt „Mündliche und schriftliche Übungen im Reichs- und Landesstaatsrecht" ab. „Deutsches Staatsrecht (Reichs- und Landesstaatsrecht)" 50, „Repetitorium 42 Vgl. allgemein hierzu Eberl/Marcon, S. X X I V . Auch bei Triepels Vorgängern Ferdinand v. Martitz und Gerhard Anschütz verfuhr die Fakultät in dieser Weise, vgl. ebd., S. 566, 575. 43 Eberl/Marcon, S. 576 f. 44 Μ. v. Rümelin, Universität Tübingen, S. 438. 45 Μ. v. Rümelin, Universität Tübingen, S. 438. 46 Μ. v. Rümelin, Universität Tübingen, S. 438. 47 Vgl. zu dieser Reform von 1903 näher Born, S. 72 f.; vgl. auch Triepels Brief an Martitz vom 4. August 1905, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 10. 48 Μ. v. Rümelin, Universität Tübingen, S. 438; Born, S. 73 f., 89. 49 Born, S. 73. 50 Mitschrift, vgl. Quellen- und Literaturverzeichnis, IV. 5.

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Erster Teil: Leben

des deutschen Staatsrechts" und „Übungen im allgemeinen und deutschen Staatsrecht für Vorgerücktere" folgten im Sommersemester 1901, „Einführung in die Rechts- und Staatswissenschaft", „Württembergisches Staatsrecht" 51, „Völkerrecht" und „Übungen im Reichs- und Landesstaatsrecht" im Wintersemester 1901/02, „Deutsches Staatsrecht (Reichs- und Landesstaatsrecht)", „Repetitorium des deutschen Staatsrechts" und „Übungen im allgemeinen und deutschen Staatsrecht für Vorgerücktere" im Sommersemester 1902, „Einfuhrung in die Rechtswissenschaft" 52, „Allgemeines Staatsrecht und Staatslehre", „Völkerrecht" und „Schriftliche und mündliche Übungen im Reichs- und Landesstaatsrecht" im Wintersemester 1902/03 sowie „Deutsches Staatsrecht (Reichs- und Landesstaatsrecht)", „Conversatorium über deutsches Staatsrecht" und „Erklärung ausgewählter Stellen des Corpus Juris Canonici" im Sommersemester 190353. Die letztgenannte Vorlesung ist insofern bemerkenswert, als Triepel ursprünglich nicht verpflichtet war, auch das Kirchenrecht zu vertreten. Mit Verfugung vom 14. Mai 1901 hatte aber das Ministerium des Kirchen- und Schulwesens sein Einverständnis mit einem von der juristischen Fakultät angeregten 54 Vorschlag des akademischen Senats erklärt, wonach die Vertretung des Kirchenrechts bis auf weiteres (u. a.) durch Triepel erfolgen sollte 55 . In der Folge las er allerdings nur noch zweimal „Kirchenrecht" (WS 1903/04 und 1905/06)56. Im übrigen ist besonders hervorzuheben, daß er schon im Sommersemester 1904 dem Thema „Die politischen Parteien" eine einstündige Vorlesung gewidmet hat, die er in den Sommersemestern 1906 und 1908 wiederholte 57. Auch zeigte sich Triepel insofern experimentierfreudig, als er seine im Sommersemester 1907 gehaltene Vorlesung „Deutschland und die Grundfragen seines Verfassungslebens" ausdrücklich „für Studierende aller Fakultäten" geeignet erklärte 58 und so gleichsam einen Ansatz von Studium generale verwirklichte.

51 Triepel hatte sich bei Übernahme der Professur verpflichtet, „nach Bedürfnis auch über württembergisches Staatsrecht zu lesen", BA, NL Triepel Bd. 1, Bl. 27. Wie aus einer Mitschrift, vgl. Quellen- und Literaturverzeichnis, IV. 5., ersichtlich ist, hat er nahezu die Hälfte dieser Vorlesung dem württembergischen Privatrecht gewidmet. 52 Mitschrift, vgl. Quellen- und Literaturverzeichnis, IV. 5. 53 Vorlesungsverzeichnisse der Universität Tübingen, Winterhalbjahr 1900/01 bis Sommerhalbjahr 1903. 54 Schreiben des Rektoramts an die staatswissenschaftliche Fakultät vom 30. April 1901, UAT 126/693, Bl. 16. 55 BA, NL Triepel Bd. 1, Bl. 32. Die förmliche Erstreckung des Lehrauftrags auf Kirchenrecht erfolgte auf Antrag des akademischen Senats durch ministerielle Verfügung vom 15. Juli 1908, s. ebd., Bl. 47. 56 Vorlesungsverzeichnisse der Universität Tübingen, Winterhalbjahr 1903/04 und 1905/06. 57 Vgl. hierzu auch unten 8. Kap. VI. 1. 58 Vorlesungsverzeichnis der Universität Tübingen, Sommerhalbjahr 1907, S. 45.

4. Kap.: Tübingen 1900-1909

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Sein übriges Tübinger Vorlesungs- und Übungsprogramm setzte sich wie folgt zusammen: „Einfuhrung in die Rechtswissenschaft" (WS 04/05, WS 06/07, WS 08/09 59 ), „Allgemeines Staatsrecht und Staatslehre" (WS 04/05, WS 06/07, WS 08/09 60 ), „Deutsches Staatsrecht (Reichs- und Landesstaatsrecht)" (SS 04 61 , SS 05, SS 06, SS 07, SS 08), „Württembergisches Staatsrecht (WS 03/04, WS 05/06, WS 07/08, WS 08/09), „Übungen im deutschen Staatsrecht" bzw. „Staatsrechtliche Übungen" (WS 03/04, WS 04/05, WS 05/06, WS 06/07, WS 07/08, WS 08/09), „Konversatorium im deutschen Staatsrecht" (SS 04, SS 05, SS 06, SS 07, SS 08), „Völkerrecht" (WS 03/04 62 , WS 04/05, WS 06/07), „Eheschließung und Ehetrennung nach kirchlichem und staatlichem Recht" (SS 04) sowie „Deutsche Verfassungsfragen der Gegenwart" (SS 05). 63 Obwohl der Lehrauftrag Triepels erst durch eine Verfugung des Ministeriums des Kirchenund Schulwesens vom 15. Juli 1908 auf Verwaltungsrecht erstreckt wurde 64 , hielt er die erste Vorlesung „Deutsches Verwaltungsrecht" bereits im Wintersemester 1907/08 und eine weitere in seinem letzten Tübinger Semester. Den Wunsch, auch Verwaltungsrecht zu lesen, das bis zu dessen Ableben 1905 die Domäne Ludwig v. Jollys war 65 , hatte er schon 1905 in einem Brief an Ferdinand v. Martitz geäußert 66. Die zeitliche Belastung von dreizehneinhalb Wochenstunden67 im Wintersemester 1908/09 stellte fur Triepel in seinen Tübinger Jahren einen Spitzenwert dar. Im Regelfall hat sich sein Wochenpensum im Bereich zwischen acht und elfeinhalb Stunden bewegt. Neben seinen Vorlesungsverpflichtungen übernahm er - ohne Kürzung seines Stundendeputats - zweimal, vom 1. Mai 1902 bis 30. April 1903 und vom 16. März 1906 bis 15. März 1907, das Dekanat der staatswissenschaftlichen Fakultät68. Daß Triepel schon früh ein Interesse nicht nur für solche Ämter, sondern auch darüber hinaus fur allgemeine Belange der universitären Selbst59

Mitschrift, vgl. Quellen- und Literaturverzeichnis, IV. 5. Mitschrift, vgl. Quellen- und Literaturverzeichnis, IV. 5. 61 Mitschrift, vgl. Quellen- und Literaturverzeichnis, IV. 5. 62 Mitschrift, vgl. Quellen- und Literaturverzeichnis, IV. 5. 63 Vorlesungsverzeichnisse der Universität Tübingen, Winterhalbjahr 1903/04 bis 1908/09. 64 BA, N L Triepel Bd. 1, Bl. 47; UAT 126/693, Bl. 19. 65 Gerhard Anschütz, Leben, S. 65, hat dies lebhaft bedauert. 66 Brief an Martitz vom 4. August 1905, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 12. Seine Hauptarbeit aber, so führte er dort weiter aus, werde „immer dem Staatsrecht und Völkerrecht gehören", ebd., S. 11. 67 „Einfuhrung in die Rechtswissenschaft" (3 Std.), „Deutsches Verwaltungsrecht" (4 Std.), „Allgemeines Staatsrecht und Staatslehre" (3 Std.), „Württembergisches Staatsrecht" (2 Std.), „Staatsrechtliche Übungen" (1,5 Std.), s. Vorlesungsverzeichnis der Universität Tübingen, Winterhalbjahr 1908/09, S. 25-28, 44. 60

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Vorlesungsverzeichnisse der Universität Tübingen, Sommerhalbjahr 1902 und 1906, Winterhalbjahr 1902/03 und 1906/07, jeweils S. 6.

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Verwaltung hegte, zeigt sich auch an einem vom 25. Februar 1904 datierenden Schreiben an Eugen Huber (1849-1923) 69 , mit dem er den Kollegen bat, ihm mitzuteilen, wieviel reichsdeutsche Und wieviel österreichische Ordinarien sich an dessen Berner Hochschule befinden 70 . Ferner kümmerte er sich intensiv um die Wiederbesetzung des im Jahre 1905 infolge des Todes Ludwig v. Jollys frei gewordenen zweiten öffentlich-rechtlichen Lehrstuhls. Hierbei schreckte Triepel auch vor drastischen Charakterisierungen nicht zurück. Beispielsweise bezeichnete er in einem Brief an Ferdinand v. Martitz, bei dem er wegen dieser Angelegenheit Rat suchte, Robert Piloty, den späteren Würzburger Ordinarius, als einen „Faulpelz", den man besser beiseite lassen sollte 71 . Dagegen setzte er sich vor allem für den damaligen Baseler Ordinarius Fritz Fleiner ein, der ihn vor allem wegen seinen jüngeren verwaltungsrechtlichen Abhandlungen zu überzeugen vermochte 72 . Maßgeblich bei Besetzungsfragen waren für Triepel aber nicht nur die wissenschaftlichen Leistungen, sondern stets auch, ob der Betreffende eine „frische Persönlichkeit" hatte, also kein „Langweiler" war 73 . In der Rückschau meinte Triepel bei seiner Rede zur 450-Jahr-Feier der Universität Tübingen im Jahre 1927, er habe „hier vielleicht die entscheidenden, sicher aber die glücklichsten seiner Mannesjahre verbracht" 74 . In seiner 1942 erschienenen Studie „Delegation und Mandat" 75 , deren erster Entwurf schon Anfang 1901 entstanden war 76 , bekannte er, in Tübingen methodisch ein anderer geworden zu sein 77 . In der Tat entfalteten sich hier seine reichen Anlagen zur reifen Meisterschaft, hier empfing er auch maßgebliche Anregungen durch die „Tübinger Schule der Interessenjurisprudenz" 78. Zwischen den 69

Über ihn Schröder, S. 199-203. Schweizerisches Bundesarchiv Bern, NL Huber. 71 Brief vom 4. August 1905, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 13. Daher hat es ihn „sehr deprimiert", daß Robert Piloty 1908 bei seiner Berufung zum Ordinarius in Würzburg den Vorzug vor Gerhard Anschütz und ihm erhalten hatte, obwohl alle drei pari loco von der Fakultät vorgeschlagen worden waren. Er sei zwar gewiß nicht eingebildet, aber ein bißchen mehr Genialität als dem verehrten Herrn Kollegen glaube er sich doch zuschreiben zu dürfen, Brief Triepels an Martitz vom 25. Mai 1908, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 23. 72 SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 14. In einem Brief an Martitz vom 27. Oktober 1905 sprach sich Triepel dafür aus, Fritz Fleiner an erster Stelle in Vorschlag zu bringen, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 17. Fleiner war es denn auch, der den Lehrstuhl übernehmen sollte. 73 Brief an Martitz vom 13. Oktober 1907, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 22. 74 UAT 159a/5, NL Rümelin, S. 5. 75 Vgl. zu ihr unten 8. Kap. VI. 5. 76 Delegation, S. III. 77 Delegation, S. III. 78 So auch Carro , S. 11; Stolleis III, S. 52, 104; dazu näher unten 8. Kap. II. 2. a); vgl. zur „Tübinger Schule" ausführlich Kallfass (1972); Edelmann (1967). 70

4. Kap.: Tübingen 1900-1909

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Hauptvertretern der Interessenjurisprudenz Max v. Rümelin (1861—1931)79 und Philipp Heck (1861-1931) 80 bestand ein Verhältnis fortlaufenden Gedankenaustausches, bei dem beide Teile genommen und gegeben haben81. Wie Rümelin berichtet, entwickelte sich im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts aber nicht nur innerhalb der juristischen Fakultät eine Fakultätsgemeinschaft, „wie man sie sich harmonischer und anregender nicht denken kann", die „nahen Beziehungen erstreckten sich [vielmehr] auch auf die Staatrechtslehrer, die damals zur staatswissenschaftlichen Fakultät gehörten" 82. Und es war kein anderer als Triepel, der in Tübingen auch privatim mit Rümelin und Heck in enger Verbindung stand83. Eine erste intellektuelle Frucht dieser Fühlungnahme ist seine wichtige Abhandlung über „Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche" (erschienen 1907). Sie trägt den vielsagenden, weil antipositivistische Tendenzen signalisierenden Untertitel „Eine staatsrechtliche und politische Studie". Daß er sich zu jener Zeit bereits definitiv als Protagonist einer „publizistischen Interessenjurisprudenz" 84 verstanden hat, kommt auch in der Abhandlung über „Die Kompetenzen des Bundesstaats und die geschriebene Verfassung" zum Ausdruck, die Triepel, wie er scherzhaft zu sagen pflegte, als „Kuckucksei" in die 1908 erschienene Festgabe fur Paul Laband, den anerkannten Altmeister positivistischen Rechtsdenkens, gelegt hatte85. Ferner erscheint es bezeichnend, daß er seine bereits in der Tübinger Zeit geplante86 Studie über „Die Reichsaufsicht" (1917), keinem anderen als Max v. Rümelin gewidmet hat. In Tübingen war es auch, wo Triepel im Jahre 1901 seine Quellensammlung zum Deutschen Reichsstaatsrecht als ersten Band der von ihm geplanten Reihe „Quellensammlungen zum Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht" herausgab. Er wollte damit einem seiner Ansicht nach von Lehrern und Lernenden gleichermaßen empfundenen Mißstand im Unterricht der öffentlichen Fächer abhelfen. Denn auf keinem anderen Rechtsgebiet werde „gegenwärtig den Studierenden das Verständnis und die Verarbeitung der systematischen Vorlesungen

79

Über ihn Elsener, S. 83-99. Über ihn Dubischar, S. 101-119. 81 So ausdrücklich Heck, AcP 134 (1931), S. 264. Allerdings bekannte Max v. Rümelin, Rümelin, S. 191, er sei erst relativ spät, nämlich erst nachdem er u. a. mit „Philipp Heck in Verkehr getreten" sei, zu einer „klaren Einsicht in das Wesen der gesamten Begriffsjurisprudenz" gelangt. 82 Μ. v. Rümelin, Rümelin, S. 186; sachlich unzutreffend Rennert, S. 57 Fn. 81. 83 So Mitteis, Grabrede, S. 5, PAG. Marie Triepel sprach von Max v. Rümelin als einem „unserer ältesten Freunde", Lebenserinnerungen, S. 6, PAG. 80

84

Hollerbach, AöR 91 (1966), S. 432. Mitteis, Tagesspiegel vom 7. Dezember 1946; ders., Grabrede, S. 5, PAG; vgl. dazu unten 8. Kap. IV. 6. 86 Unitarismus, S. III; vgl. zu ihr näher unten 8. Kap. IV. 4. 85

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Erster Teil: Leben

durch den Mangel umfangreicherer Quellenausgaben so sehr erschwert wie im Staats- und Verwaltungsrecht, - um vom Völkerrecht ganz zu schweigen!" 87 Die größte editorische Aufgabe stellte sich Triepel indes mit der Betreuung des Recueil Martens. Er hatte sich hierzu nur „schweren Herzens" entschlossen, wollte sich aber diesem „internationalen Unternehmen nicht versagen." 88 Die Einarbeitung erwies sich als schwierig, da sein Vorgänger, der am 18. Januar 1908 verstorbene Greifswalder Ordinarius Felix Stoerk, keinerlei Notizen oder sonstige Unterlagen hinterlassen hatte89. In der Sorge um bisher entstandene Lücken bat er deshalb neben Ferdinand v. Martitz noch weitere Fachkollegen, ihm etwaige Auffälligkeiten mitzuteilen. Ferner war er schon im Februar des Jahres mit dem Auswärtigen Amt in Verbindung getreten, um sich von dort mit Material versorgen zu lassen90. Darüber hinaus versuchte er, von dort und von der Preußischen Akademie der Wissenschaften Geldmittel fur den Neudruck vergriffener Bände zu erhalten 91. Seine Tätigkeit fur den Recueil Martens eröffnete Triepel mit einem 1910 erschienenen Registerband, dessen vortreffliche Gestaltung seiner Schwester Charlotte zu verdanken ist 92 . Er führte den Recueil unter dem Leitgedanken „möglichster Vollständigkeit" 93 bis zu den letzten, 1944 erschienenen Lieferungen weiter 94 . Der Martens Recueil ist, obgleich der Völkerbund später einen eigenen „Recueil des Traités" begründet hat, für den von ihm erfaßten Zeitraum nach allgemeiner Ansicht „die wichtigste Sammlung geblieben" 95 . Allein schon wegen dieser großartigen editori87 Vorrede zur 1. Auflage der Quellensammlung zum Reichsstaatsrecht. Auf diese Vorrede nahmen Günter Dürig und Walter Rudolf in der 1. Auflage ihrer „Texte zur Deutschen Verfassungsgeschichte" Bezug, weil der von Ihnen als „Tübinger staatsrechtlicher Klassiker" vorgestellte Triepel „prägnant und einfach alles vorweggenommen" habe, „was auch dieser Sammlung voranzustellen wäre", Düng/Rudolf, S. VI. 88 Brief an Martitz vom 25. Mai 1908, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 25 f.; vgl. auch den vom 17./20. Februar 1908 datierenden Verlagsvertrag mit der Dieterichschen Verlagsbuchhandlung, Leipzig, PAG. 89 Vgl. zu den materiellen und formellen Mängeln der Stoerkschen Herausgebertätigkeit Martitz, AöR 40 (1921), S. 46-49. 90 Brief an Martitz vom 25. Mai 1908, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 25 f. 91 Vgl. Brief Triepels an Martitz vom 28. Oktober 1908, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 28. 92 Vgl. die Würdigung bei Martitz, AöR 40 (1921), S. 49 f. 93 Brief an Martitz vom 21. Juli 1914, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 41. In diesem Brief schilderte Triepel ausführlich die Grundsätze, von denen er bei der Herausgabe des Martens Recueil ausging. Der Recueil bildete eines der Hauptthemen im Schriftwechsel zwischen Triepel und Ferdinand v. Martitz; vgl. zur Würdigung der Verdienste Triepels Martitz, AöR 40 (1921), S. 49-51, 58-66. 94 Einen Eindruck von den praktischen Schwierigkeiten, diesem hohen Maßstab zu genügen, vermittelt der Briefwechsel mit Hans Wehberg, BA, N L Wehberg, Bd. 53 fol.

1.

95

Nussbaum, S. 154 f.

4. Kap.: Tübingen 1900-1909

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sehen Leistung genoß und genießt sein Name in der internationalen Völkerrechtswissenschaft und -praxis allenthalben höchstes Ansehen96. Mit zunehmender Reputation und Lehrerfahrung erhöhten sich auch Triepels Einkünfte 97, und zwar auf 4.500 M ab 1. Oktober 190398 und 5.000 M ab 1. Oktober 1906". Darüber hinaus erhielt er in seinen Tübinger Jahren verschiedene Auszeichnungen. So wurde ihm am 26. Oktober 1903 das Lippische Ehrenkreuz 2. Klasse 100 und am 26. Januar 1907 die Denkmünze zur Erinnerung an die endgültige Erledigung der lippischen Thronstreitigkeiten in Anerkennung von Triepels „wissenschaftlichen Verdienste[n] um die Herbeiführung des erstrebten Zieles" 101 verliehen 102 . Eine weitere Auszeichnung, den siamesischen Kronenorden 2. Klasse (Großoffizierskreuz) 103, verdankte er seinem zweiten Tübinger Doktoranden Mom Mai Nopawang, einem Urenkel des siamesischen Königs Rama IV. 1 0 4 , sowie dem Prinzen Dilock Nabharata von Siam, der unter seinem Dekanat promoviert worden war 105 . Auch in persönlicher Hinsicht hat sich Triepel in Tübingen sehr wohl gefühlt 106 . Daß er mit seiner Familie überaus glückliche Jahre in Tübingen verbringen konnte 107 , war nicht zuletzt dem fakultätsübergreifenden kollegialen Zusammenleben jener Zeit, das der Freund Max v. Rümelin fur ein „vorbildli96

So auch Hollerbach, AöR 91 (1966), S. 420 f. Über die Beziehung Triepels zu seinem Einkommen sowie zu Geld im allgemeinen, teilte Frau Renate v. Gebhardt folgende kleine Anekdote mit: Das Professorengehalt pflegte von einem Boten in Form von Goldtalern auf den Tisch des Hauses gezählt zu werden. Bei diesem Anblick meinte einmal die Tochter Hertha: „Viel Geld." Hierauf erwiderte der Vater: „Geborgt!" 98 BA, NL Triepel Bd. 1, Bl. 33. 99 BA, NL Triepel Bd. 1,B1.44. 100 Vgl. die ministerielle Erlaubnis zur Annahme und Anlegung des Ordens vom 3. November 1903, UAT 126/693, Bl. 17. 101 Dies bezieht sich auf die 1903 erschienene Abhandlung „Der Streit um die Thronfolge im Fürstentum Lippe", vgl. unten 8. Kap. I. 4. 102 BA, NL Triepel Bd. 1, Bl. 43; s. auch UAT 126/693, Bl. 18. Die Stiftung dieser Denkmünze erfolgte am 4. November 1905 und wurde generell für „Verdienste um den Sieg des Rechts" verliehen, vgl. Kittel, S. 243. 103 Verliehen am 21. September 1907, s. BA, NL Triepel Bd. 1, Bl. 49 f.; vgl. auch UAT 126/693, Bl. 20. 104 Eberl/Marcon, S. 53. 105 Eberl/Marcon, S. 91. 106 Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 4, PAG; vgl. auch die gleichermaßen wehmütige wie begeisterte Schilderung Tübingens durch Triepel in seiner Rede zur 450-Jahr-Feier, UAT 159a/5, NL Rümelin, Umdrucks. 5 f. 107 So manchen Anlaß zur Sorge dürfte allerdings gegeben haben, daß die am 28. Juli 1902 geborene Irmgard seit ihrer Kindheit an epileptischen Anfällen litt, die damals noch nicht wirksam behandelt werden konnten, Norbert Ebers, Familienchronik, S. 15, PAG. 97

Erster Teil: Leben

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ches" hielt, zu verdanken 108. Seinem geselligen Naturell entsprechend orientierte sich Triepel gerne an dem herrschenden Gemeinschaftsgefühl, führte nicht protzig, sondern eher sparsam und bescheiden - ein offenes Haus und war stets bereit, aus seinem Vorrat vergnüglicher, harmloser Geschichten, die oft im Nichts endeten, zu schöpfen, um sie seinen Gästen genüßlich darzubringen. Die übrigen Mußestunden verbrachte er gelegentlich auf der Tübinger Reitbahn109. Seine wahre Leidenschaft galt indes den Bergen. In den Sommermonaten pflegte er seine Frau und die kleine Tochter Hertha nach Tutzing in das Haus der Schwiegereltern zu bringen, während er selbst Bergtouren machte. Zeitlebens Mitglied des Alpenvereins, kannte er nichts Schöneres als von Gipfeln aus in die Weite zu blicken. Wie Triepel seiner Frau einmal anvertraute, fühlte er sich dann wie ein siegreicher Herrscher 110. Schließlich wuchs in den Tutzinger Sommermonaten auch manche Verbindung zu Künstlern und Gelehrten, wie ζ. B. zu dem Münchner Dichter und Literaturhistoriker Wilhelm v. Hertz (1835-1902) 111 .

108

Μ. v. Rümelin, Rümelin, S. 186. Max von Rümelin, ebd., führt das u. a. auch darauf zurück, daß damals eine große Zahl jüngerer Familien zusammentrafen, die sich enger aneinander schlossen. In ganz ähnlicher Weise sprach Gerhard Anschütz, Leben, S. 65, von „sehr angenehme[n] kollegiale[n] Verhältnisse^]". 109 Auskunft von Frau Renate v. Gebhardt. 110 Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 4, PAG. In den Lebenserinnerungen seiner Frau findet sich auch die hübsche Anekdote, daß es ihn einmal „fast stolz" gemacht hat, als er für einen Bergführer gehalten wurde, weil er nach einem Talabstieg gleich zwei Glas Bier bestellte, um seinen Durst zu löschen, ebd. Eine weiteres anekdotisches Ereignis teilte Frau Renate v. Gebhardt mit: Triepel hatte einmal infolge eines Gletscherbrands eine bläulich-rot verfärbte Nase, worauf ein Nachbarskind, als eine Kiste Wein angeliefert wurde, feststellte: „Daher hat dei' Vater also sei' Schnapsnas'!" 111 Über ihn Güntter, Biographisches Jahrbuch 1905, S. 291-296. Erhalten ist eine Kondolenzkarte von 1902, in der die Eheleute Triepel der Witwe ihr Beileid aussprechen: „Wir trauern aus ganzem Herzen mit Ihnen und so vielen anderen um den allzufrühen Heimgang Ihres Gemahls, den wir als Gelehrten, Dichter und liebenswerten Menschen gleich hoch verehrten.", DLA, A: Hertz: Familie 1/1902.

5. Kapitel

Kiel 1909-1913 Trotz der als glückhaft empfundenen Tübinger Zeit, begann sich bei Triepel langsam die Sehnsucht zu regen, auch äußerlich, nicht nur mit seinen weithin beachteten Veröffentlichungen, Anerkennung zu finden und weiterzukommen, - notfalls über Zwischenstationen - den Anschluß an Preußen zu finden, um sein höchstes Ziel, eine Professur in Berlin, der Stadt Savignys, Fichtes und Hegels, zu erreichen 1. Die Verleihung eines Berliner Ordinariats galt damals als der höchste äußere Erfolg, der einem Hochschullehrer, namentlich einem jüngeren, zuteil werden konnte2. Im übrigen bot der geistige Mittelpunkt Preußens und des Reichs gerade fur Staätsrechtslehrer die Gewähr dafür, nicht allein vom akademischen Establishment, sondern ebenso von der Funktionselite sowie der politischen Prominenz geachtet zu werden 3. Zwar hatte ihm sein großer Förderer, der Berliner Ordinarius Ferdinand v. Martitz, bereits mitgeteilt, er halte ihn fur geeignet, sein Nachfolger zu werden und ihm damit eine große Freude bereitet, aber Triepel war sich darüber im klaren, daß dies möglicherweise noch sehr viele Jahre dauern würde 4. Noch im Mai 1908 war er von Heidelberger Fakultät als Nachfolger von Gerhard Anschütz, der einen Ruf nach Berlin angenommen hatte, hinter Fritz Fleiner und Robert Piloty nur tertio loco piaziert worden 5. Doch rückte wenigstens das Etappenziel der Berufung an eine preußische Universität überraschend in greifbare Nähe: Mit Schreiben vom 29. September 1908 hatte das Preußischen Kultusministerium angefragt, ob Triepel grundsätzlich geneigt sei, einem Ruf an die Kieler Juristenfakultät Folge zu leisten6. Dort 1 Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 4, PAG. Zur Hundertjahrfeier der FriedrichWilhelms-Universität fand Triepel folgende friderizianisch anmutende Widmung: „Wer da fragt, wozu ist mir der Staat nütze, der ist nicht werth, im Staate zu lehren", vgl. Liebmann, S. 320. 2 Anschütz, Leben, S. 104. 3 Deshalb zog etwa auch Carl Schmitt die Tätigkeit an der Berliner Handelshochschule einem sicheren Lehrstuhl an der Bonner Universität vor, vgl. Noack, S. 99 f. 4 Brief Triepels an Martitz vom 25. Mai 1908, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 25. 5 Weisert, Ruperto Carola 85 (1992), S. 107. 6 BA, N L Triepel, Bl. 55; vgl. allgemein zum Kieler Berufungsverfahren Döhring, S. 159-164.

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Erster Teil: Leben

war er auf den ersten Platz der Vorschlagsliste 7 für die Wiederbesetzung des infolge des Ablebens von Adolph Frantz freigewordenen Lehrstuhls für öffentliches Recht, insbesondere für Staats-, Völker- und Kirchenrecht gesetzt worden8. Dieser Lehrstuhl war ein persönliches Ordinariat, um dessen Umwandlung in eine ständige ordentliche Professur sich die Fakultät seit 1906 bemüht hatte9. Den regulären Lehrstuhl hatte noch Albert Hänel (1833-1918) 10 , einer der führenden Staatsrechtler jener Zeit, inne. Schließlich wurde 1908 ein zweites öffentlich-rechtliches Ordinariat geschaffen. Nach Angaben des Universitätshistorikers Erich Döhring war beabsichtigt, diesen Lehrstuhl nur vorübergehend einzurichten, um zunächst den alternden Hänel, zu entlasten und dann mit dessen Emeritierung wegzufallen 11. Dies muß jedoch bezweifelt werden. Hiergegen spricht zumindest das hohe Alter Hänels, dessen baldige Emeritierung absehbar war 12 , so daß sich schon deswegen kein den Ansprüchen genügender Nachfolger für Adolph Frantz hätte finden lassen können. Zudem findet sich in Triepels Berufungsvereinbarung keinerlei Hinweis auf einen entsprechenden Vorbehalt, auf den er sich im übrigen auch kaum eingelassen haben dürfte. Auch sonst lassen die Berufungsverhandlungen keine Besonderheiten erkennen: Als Berufungsgründe wurden Triepels „außerordentlich fruchtbare litterarische Thätigkeit, vornehmlich auf dem Gebiete des Staatsund Völkerrechts" 13 sowie seine hervorragende Befähigung als akademischer Lehrer 14 genannt. Die Christian-Albrechts-Universität Kiel stand im Rang freilich nicht über der Tübinger Eberhardino-Carolina. Außerdem hatte man Triepel verschiedene hochkarätige Angebote gemacht, wenn er sich nur zum Bleiben entschließen sollte. So wurde ihm ζ. B. der Orden, mit dem der persönliche Adel verbunden war 15 , angeboten. Gleichwohl lehnte er den Ruf nach Kiel nicht ab, wie man in

7 Schreiben Albert Hänels an Triepel vom 31. Oktober 1908, BA, N L Triepel Bd. 1, Bl. 56; Döhring, S. 181 f. 8 s. die an Wilhelm II. gerichtete ministerielle Vorlage, GStA PK, I. HA Rep. 89, Nr. 2694, Bl. 25; I. HA Rep. 76 Va Sekt. 9 Tit. IV Nr. 4 Bd. 3, Bl. 65. 9 GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 9 Tit. IV Nr. 4 Bd. 3, Bl. 40 ff. 10 Über ihn Scheyhing, S. 441; umfassend St. Graf Vitzthum (1971) und Friedrich (1971). 11 Döhring, S. 181 mit Fn. 50 (ohne Quellennachweis); ihm folgend Friedrich, Positivismus, S. 30. 12 Die Entpflichtung erfolgte zum 1. April 1911, vgl. Friedrich, Positivismus, S. 30. 13 GStA PK, I. HA Rep. 89, Nr. 2694, Bl. 25 f.; I. HA Rep. 76 Va Sekt. 9 Tit. IV Nr. 4 Bd. 3, Bl. 65. Besonders hervorgehoben wurden seine „Quellensammlung zum Deutschen Reichsstaatsrechte" (1901) und sein 1907 erschienenes „ausgezeichnetes Werk" „Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche", ebd. 14 GStA PK, I. HA Rep. 89, Nr. 2694, Bl. 25 f.; I. HA Rep. 76 Va Sekt. 9 Tit. IV Nr. 4 Bd. 3, Bl. 65. 15 Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 4, PAG.

5. Kap.: Kiel 1909-1913

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seinem persönlichen Umfeld zu glauben geneigt war 16 . Vielmehr reagierte er umgehend auf das ministerielle Schreiben und unternahm eine sechstägige17 Reise, um Berufungsverhandlungen zu fuhren und seine mögliche neue akademische Wirkungsstätte kennenzulernen. Zunächst traf er am 7. Oktober 1908 mit einem Ministerialbeamten in Frankfurt am Main zusammen18, worauf er sich nach Kiel und dann nach Berlin zum zuständigen Ministerium begab19. Schließlich hat Triepel die Berufung nach Kiel zum Sommersemester 1909 angenommen. Diese Entscheidung, die er nach Beratung mit seinem väterlichen Freund Ferdinand v. Martitz getroffen hatte, stand fur ihn allerdings nicht außer allem Zweifel 20 . Albert Hänel begrüßte jedenfalls Triepels Entschluß in einem Brief vom 31. Oktober 1908 mit „besonderer Freude und Genugtuung" 21 . Am 10./12. Dezember 1908 wurde die Berufungsvereinbarung geschlossen22. Triepel übernahm die Verpflichtung, Staats-, Verwaltungs-, Völker- und Kirchenrecht in Vorlesungen und Übungen zu vertreten und bei entsprechendem Bedürfnis auch Vorlesungen zur Einfuhrung in die Rechtswissenschaft zu halten. Sein Gehalt sollte sich auf 7.200 M jährlich, also 2.200 M mehr als zuletzt in Tübingen, belaufen. Hinzu kam ein Wohnungsgeldzuschuß in Höhe von 660 M sowie ein Garantiehonorar an Hörergeldern in Höhe von 6.000 M jährlich, falls er in jedem Semester sechs Stunden privatim lesen sollte 23 . Ferner wurde ihm ein außerordentlicher Betrag von 2.000 M zur Anschaffung öffentlich-rechtlicher Literatur für die Bibliothek des Juristischen Seminars in Aussicht gestellt. Darüber hinaus unterzeichnete Triepel am 12. Dezember 1908 ein „Anerkenntnis", am Referendarexamen mitzuwirken 24 , was denn auch schon im Prüfungsjahr 1909/10 der Fall war 25 .

16

Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 4, PAG. Reisekostenbewilligung vom 24. Dezember 1908, BA, NL Triepel Bd. 1, Bl. 65; GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 9 Tit. IV Nr. 4 Bd. 3, Bl. 67. 18 BA, N L Triepel Bd. 1, Bl. 58. 19 BA, N L Triepel Bd. 1, Bl. 65; I. HA Rep. 76 Va Sekt. 9 Tit. IV Nr. 4 Bd. 3, Bl. 67. 20 „Ich hoffe, daß ich das Richtige gethan habe", schrieb Triepel am 28. Oktober 1908 an Martitz, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 27. 21 BA, N L Triepel Bd. 1, BL 56. 22 GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 9 Tit. IV Nr. 4 Bd. 3, Bl. 61 f. 23 Zu Sinn und Problematik der von dem preußischen Kultusminister Carl H. Becker initiierten Kolleggeldergarantie vgl. Glum, Erlebtes und Erdachtes, S. 314 f. 24 GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 9 Tit. IV Nr. 4 Bd. 3, Bl. 64. Die Heranziehung von Rechtslehrern zur Ersten juristischen Staatsprüfung war in Schleswig-Holstein ebenso wie im übrigen Preußen nicht einheitlich geregelt und oblag dem Prüfungsamt, das dem Oberlandesgericht und nicht der Fakultät zugeordnet war, vgl. Döhring, S. 176. 17

25 s. ζ. B. Personal- und Studierendenverzeichnis der Universität Kiel Sommer-Semester 1909, S. 21.

5 Gassner

Erster Teil: Leben

66

Schließlich erklärte sich Triepel in der Berufungsvereinbarung auch dazu bereit, dem Reichsmarineamt besonders in Fragen des Völkerseerechts zur Verfugung zu stehen und auch Vorlesungen an der Kaiserlichen Marineakademie durchzufuhren. Die Marineakademie war die innerhalb der Kaiserlichen Marine hierarchisch am höchsten stehende Fort- und Weiterbildungsinstitution fur besonders befähigte Seeoffiziere 26. Sie wurde 1872 gegründet und sollte „wie die ganze Friedensarbeit der Marine der Vorbereitung zum Kriege" dienen 27 : „Läuft die Thätigkeit des Offiziers in diesem Endzweck aus, so muß auch seine wissenschaftliche Ausbildung darin gipfeln" 28 . Das Ausbildungsziel der Akademie sollte durch wissenschaftlichen Unterricht, intellektuelle Bildung, sowie Steigerung von Einsicht und Urteilsfähigkeit der Hörer erreicht werden 29. Dementsprechend wurden neben der Unterrichtung technischer und anderer Fächer auch Vorlesungen über „Allgemeines Völker-, Kriegs- und Seerecht" 30 bzw. ab 1910 „Internationales Recht" 31 gehalten. Schon 1872 war bestimmt worden, daß das Lehrpersonal nicht nur aus Offizieren und Beamten der Marine, sondern auch aus Gelehrten gebildet werden kann, „welche geeignet sind und sich bereit erklären, gegen ein angemessenes Honorar die Vorlesungen an der Akademie zu übernehmen." 32 Triepel zeigte sich mit dem angebotenen Vorlesungshonorar in Höhe von 2.000 M jährlich einverstanden. Da dieser Betrag wesentlich höher lag als derjenige anderer dort vortragender Professoren, sollte er hierüber Stillschweigen bewahren 33. Offenbar war dem Reichsmarineamt an Triepels Berufung besonders gelegen. Noch vor seinem tatsächlichen Eintritt in die Kieler Juristenfakultät wurde Triepel gebeten, dem dortigen Dekan eine Aufstellung der Vorlesungen, die er im Sommersemester 1909 zu halten beabsichtigte, zukommen zu lassen. Aufgrund der mit Hänel getroffenen Absprache 34 hatte Triepel vor, nach ministerieller Genehmigung35 „Deutsches Reichs- und Landesstaatsrecht" im Winterse-

26

Vgl. die Übersicht bei Graubohm, S. 116. So Konteradmiral Curt Freiherr v. Maitzahn, Direktor der Marineakademie von 1900 bis 1903, in seiner „Anweisung zur Aufstellung der Lehraufgaben für die Vorträge an der Marine-Akademie", zit. nach Güth, Revolution, S. 107. 28 „Anweisung zur Aufstellung der Lehraufgaben für die Vorträge an der MarineAkademie", zit. nach Güth, Revolution, S. 107. 29 Güth, Admiralstabsausbildung, S. 14 m. N. 30 Güth, Admiralstabsausbildung, S. 14. 31 Güth, Admiralstabsausbildung, S. 14, S. 21 m. N. 32 § 4 der Bestimmungen für die Organisation der Marineakademie vom 5. März 1872, zit. nach Güth, Admiralstabsausbildung, S. 22. 33 Schreiben der Direktion der Marineakademie vom 15. Oktober 1909, BA, NL Triepel, Bd. 2, Bl. 8. 27

34 35

BA, N L Triepel Bd. 1, BL 56. GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 9 Tit. IV Nr. 4 Bd. 3, Bl. 62.

5. Kap.: Kiel 1909-1913

67

mester fünf-, im Sommersemester sechsstündig, „Verwaltungsrecht" im Winter vier-, im Sommer fünfstündig, „Kirchenrecht" im Winter vier-, im Sommer fünfstündig sowie „Völkerrecht" im Winter drei-, im Sommer vierstündig zu lesen. Die endgültige „Bestallung" zum Ordinarius in Kiel durch Wilhelm II. wurde erst am 21. Dezember 1908 vollzogen 36 , was auf Arbeitsüberlastung des zuständigen Ministerialbeamten und auf eine vorübergehende Erkrankung des Kaisers zurückzufuhren war 37 . Nachdem Triepel am 31. Dezember 1908 die erbetene Dienstentlassung auf den 31. März 1909 bewilligt worden war 38 , mußte sich die Familie mit dem als „bitter schwer" empfundenen Abschied von dem „geliebten Städtchen" vertraut machen39. Es folgte der Umzug nach Kiel 40 . Das Einleben fiel der Familie, wie sich Marie Triepel erinnerte, wegen der andersartigen, etwas steifen Atmosphäre zunächst recht schwer, wurde aber doch wesentlich erleichtert durch Ernst Siemerling 41, einen alten Freund der Familie aus der Tübinger Zeit, der nun in Kiel einen Lehrstuhl für Psychiatrie innehatte42. Triepel trat in eine Fakultät ein, die sich aufgrund steigender Studentenzahlen und neuartiger Rechtsentwicklungen am Beginn einer Expansions- und Umbruchphase sah43. Im Sommersemester 1909 waren 445 Jurastudenten immatrikuliert 44 . Der Lehrkörper bestand, ohne Berücksichtigung Triepels, aus fünf Ordinarien, drei Extraordinarien und fünf Privatdozenten 45.

36

Vgl. die reich ornamentierte Urkunde, versehen mit der üblichen Eingangssentenz: „Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen ...", BA, N L Triepel Bd. 1, Bl. 48; s. auch den Entwurf vom 16. Dezember 1908, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 9 Tit. IV Nr. 4 Bd. 3, Bl. 65. 37 Brief des Kultusministeriums vom 10. Dezember 1908, BA, N L Triepel Bd. 1, Bl.

60.

38 Schreiben des Ministeriums des Kirchen- und Schulwesens an den akademischen Senat in Tübingen, UAT 125/693, Bl. 22; BA, NL Triepel Bd. 2, Bl. 1. Die Angaben in Teilen des Schrifttums (z. B. M. Rümelin, Universität Tübingen, S. 438; Döhring, S. 171; Rennert, S. 57 Anm. 81), denen zufolge der Weggang von Tübingen bzw. der Antritt des neuen Amts in Kiel im Jahre 1908 erfolgt ist, sind unrichtig. 39

Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 5, PAG. Eine Wohnung fand die Familie in der Roonstraße Nr. 4, s. Personalverzeichnis der Universität Kiel Sommer-Semester 1909, S. 6. 41 Siemerling war bis 1901 ordentlicher Professor für Gemüts- und Nervenkrankheiten in Tübingen, s. Rümelin, Universität Tübingen, S. 436. 42 Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 5, PAG. 43 Vgl. näher Döhring, S. 165-183; Wohlhaupter, S. 100-103. 44 Personal- und Studierendenverzeichnis der Universität Kiel Winter-Semester 1909/10, S. 86. 45 Personal- und Studierendenverzeichnis der Universität Kiel Sommer-Semester 1909, S. 6 f. 40

5*

Erster Teil: Leben

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Die überragende Gestalt der Kieler Juristenfakultät war zweifelsohne Albert Hänel, der mit seinem antipositivistischen Wissenschaftsprogramm, das eine stärkere Berücksichtigung rechtsphilosophischer und soziologischer Gesichtspunkte vorsah 46, auf das gesamte Kollegium einwirkte. Seinem Bemühen um eine wirklichkeitsverhaftete Auffassung des Staatsrechts war es zu verdanken, daß in Kiel mehr als anderswo das Gefühl für die Abhängigkeit juristischen Denkens vom kulturellen und politischen Untergrund erhalten blieb 47 . Der Einfluß Albert Hänels auf Triepels Werk ist nicht zu verkennen. Es sollte auch vor allem Triepel sein, der Hänels Verdienste um das deutsche Staatsrecht würdigte und auf die teleologisch-politischen Implikationen seines gegen bloße Begriffsscholastik gerichteten Denkens aufmerksam machte48. Auch in das Kieler Juristenkollegium hat sich Triepel schließlich gut eingefügt 49 , herrschten dort doch traditionell ansprechende gesellschaftliche Verhältnisse50. Gleichwohl entwickelte sich zwischen Triepel und seinem Kollegen Moritz Liepmann 51 im September/Oktober 1909 eine unschöne Kontroverse, deren Quelle wohl letztlich auf das Verhalten des damaligen Staatssekretärs im Reichsmarineamt 52 und späteren Großadmirals Alfred v. Tirpitz (1849-1930) 53 , zurückzuführen ist. Triepel fühlte sich durch diese Vorgänge so betroffen, daß er sich veranlaßt sah, gegenüber dem akademischen Senat eine einundzwanzigseitige Erklärung abzugeben54. Was war der Hintergrund dieser Geschehnisse? Offensichtlich war man im Reichsmarineamt mit den von Moritz Liepmann als Nachfolger Theodor Niemeyers seit 190355 im Einverständnis mit der Fakultät und dem Kultusministerium an der Kaiserlichen Marineakademie gehaltenen Vorlesungen über „Internationales Recht" nicht mehr zufrieden und nahm, wie gewöhnlich 56 , Einfluß auf die Berufungsverhandlungen 57, woraufhin die er-

46

Vgl. hierzu vor allem St. Graf Vitzthum, S. 83-120. Döhring, S. 171. 48 Vgl. etwa Reichsaufsicht, S. 4 f.; vgl. zum Verhältnis zwischen Triepel und Albert Hänel St. Graf Vitzthum, S. 14 und passim; Döhring, S. 171 f. 49 Marie Triepel sprach von den „vielen vortrefflichen Freunden, die uns dort zu Freunden geworden waren", Lebenserinnerungen, S. 5, PAG. 50 Lenel, S. 144; R. v. Hippel, S. 132; s. hierzu auch Döhring, S. 190 m. w. N. 51 Über ihn Döhring, S. 169 f. Nach Friedrich Glum, Erlebtes und Erdachtes, S. 85, Kieler Jurastudent im Sommersemester 1913, s. Personal- und Studierendenverzeichnis Sommer-Semester 1913, S. 51, bot die juristische Fakultät „nicht allzuviel mit Ausnahme von Moritz Liepmann, dem jüdischen Strafrechtslehrer und Rechtsphilosophen", den er „sehr anregend fand". 52 Vgl. zum Reichsmarineamt Huber IV, S. 569 f. 53 Über ihn Uhle- Wettler (1998). 54 LAS, Abt. 47 Nr. 1187, Bl. 200-210. 55 Döhring, S. 170; Niemeyer, S. 134. 56 So nahm Tirpitz schon im Jahre 1893 von der Berufung Theodor Niemeyers „freundlich Notiz" und bat ihn bereits nach wenigen Wochen, die zu dieser Zeit unbe47

5. Kap.: Kiel 1909-1913

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wähnte Vereinbarung mit Triepel zustande kam. Sie wurde am 22. September 1909, also kurz vor Beginn des Winterkursus am 3. November 190958, völlig überraschend 59 durch eine Verfügung des Reichsmarineamts in Vollzug gesetzt. Man übertrug Triepel die Abhaltung jener Vorlesungen an der Marineakademie, nachdem Liepmann der Wunsch nach diesem Personalwechsel kurz zuvor mitgeteilt worden war 60 . Dieser fühlte sich durch diese schneidige Vorgehensweise „begreiflicherweise aufs Schwerste gekränkt" 61 , und zwar nicht nur durch das Reichsmarineamt, sondern auch durch Triepel, weil er zumindest dem äußeren Schein nach annehmen mußte, daß dieser ihn von seiner Stelle verdrängt hatte. Bei einer schriftlichen und mündlichen Aussprache vermochte Triepel aber seinen Kollegen zu überzeugen, daß ihm ein solches Verhalten ferngelegen habe62. Er hatte sogar noch der Marineakademie vorgeschlagen, den Lehrstoff zwischen sich und Liepmann aufzuteilen, was dort jedoch abgelehnt wurde 63 . Ein förmliches Ende fand die Angelegenheit, als sich der akademische Senat am 23. November 1909 auf Antrag des Dekans der juristischen Fakultät für unzuständig erklärte 64. Letztlich hatte Staatssekretär Tirpitz damit seinen Willen durchgesetzt und scheute sich im übrigen auch nicht, noch nach Beginn der Vorlesung detaillierte Vorschläge zu deren inhaltlicher Ausgestaltung zu machen. Das Endziel der völkerrechtlichen Vorlesungen sollte seiner Auffassung nach darin bestehen, „den Hörern darzulegen, wie sich ein Seebefehlshaber in praktischen Fällen, im Frieden und im Kriege, auf völkerrechtlichem Gebiete zu verhalten" habe65. Es zeigte sich, daß Tirpitz mit Triepel die setzten Vorlesungen an der Marineakademie zu übernehmen: „Das persönliche Interesse des Admirals Tirpitz hat mich dabei gestützt und mir fortan jedwede materiell und sachliche Hilfe gewährt.", Niemeyer, S. 124. 57 Nicht anders kann der Dank fur das „grosse Entgegenkommen" bei der Berufung Triepels, den Tirpitz dem Kultusminister gegenüber zum Ausdruck brachte, verstanden werden. Darüber hinaus regte Tirpitz an, Liepmann die Entbindung von seiner Lehrtätigkeit durch eine „angemessen erscheinende Auszeichnung" zu versüßen, Schreiben vom 27. August 1909, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 9 Tit. IV Nr. 4 Bd. 3, Bl. 90. 58 BA, N L Triepel Bd. 2, Bl. 8. 59 LAS, Abt. 47 Nr. 1187, Bl. 210. 60 Vgl. die auf Triepels Ersuchen ergangene Darstellung des Hergangs der Ereignisse durch die Direktion der Marineakademie vom 22. November 1909, LAS, Abt. 47 Nr. 1187, Bl. 212. 61 LAS, Abt. 47 Nr. 1187, Bl. 200. 62 LAS, Abt. 47 Nr. 1187, Bl. 200. 63 LAS, Abt. 47 Nr. 1187, BL 212. 64 LAS, Abt. 47 Nr. 1187, Bl. 213. Eine Reaktion auf die Vorgänge bildet möglicherweise die am 4. Januar 1910 zwischen den an der Marineakademie wirkenden sieben Professoren und der Direktion der Marineakademie geschlossene Vereinbarung einer vierteljährlichen Kündigungsfrist der Lehrverträge, s. BA, NL Triepel Bd. 2, Bl. 12. 65 Schreiben der Direktion der Marineakademie (Konteradmiral v. Dambrowski) vom 12. November 1909, BA, N L Triepel Bd. 2, Bl. 9. Namentlich plädierte Tirpitz für „praktische Beispiele aus den neueren Seekriegen (Prisenhofententscheidungen aus dem

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Erster Teil: Leben

richtige Wahl getroffen hatte: Wie der damalige Leiter der Marineakademie, Konteradmiral Hans v. Dambrowski, zu seiner Freude erfuhr, hatte er die Vorlesung schon von sich aus im gewünschten Sinne angelegt66. Triepel, der sich, wie er im Jahre 1911 von sich sagen konnte, „die wissenschaftliche Forschung auf dem Gebiete des Völkerrechts zur Lebensaufgabe gemacht" hatte, gereichte die Anerkennung seiner Lehrtätigkeit an der Marineakademie zur „hohen Befriedigung" 67 . Er empfand Genugtuung darüber, „daß seine Wissenschaft nicht nur für die mit der Rechtsanwendung in Gericht und Verwaltung betraute Juristenwelt oder gar nur fur den recht engen Kreis der völkerrechtlichen Gelehrtenzunft eine Bedeutung hat, daß vielmehr eine gründliche Kenntnis des internationalen Rechts, mindestens seines kriegsrechtlichen Teils auch fur die Praxis des Seekrieges ein Mittel geworden ist, durch das der Kundige sich strategische wie taktische Vorteile schaffen kann" 68 . Diesen praktischen Wert seiner Wissenschaft als „Waffe im weiteren Sinne des Wortes" 69 hat Triepel um so mehr geschätzt, als die Völkerrechtslehrer seinerzeit „bei den juristischen Praktikern keineswegs immer einer gleich günstigen Einschätzung" ihrer Bemühungen begegneten70. Auch habe das Völkerrecht - ganz anders als im Ausland - „noch immer um Gleichberechtigung mit den anderen juristischen Fächern, vor allem im Lehrplane der Hochschulen und in der Ordnung der Prüfungen, zu kämpfen." 71 Vor allem auch wegen der aktuellen Probleme, die an der Marineakademie zur Sprache kamen, empfing Triepel aus der Lehrtätigkeit bei den jungen Marineoffizieren 72 zahlreiche Anregungen 73. So begann er sich in der Kieler Zeit

russisch-japanischen Kriege), Uebungen an der Hand von praktischen Fällen, wie sie dem Seeoffizier im Auslandsdienste und im Kriege gegenübertreten können (Blockade, Blockadeerklärungen, Aufstellung von Ultimaten)...", ebd. 66 Schreiben der Direktion der Marineakademie (Konteradmiral v. Dambrowski) vom 12. November 1909, BA, N L Triepel Bd. 2, Bl. 9. 67 Marine-Rundschau 1911, S. 1217. 68 Marine-Rundschau 1911, S. 1217. 69 Marine-Rundschau 1911, S. 1217. 70 Marine-Rundschau 1911, S. 1217. 71 Marine-Rundschau 1911, S. 1217. 72 Eine kritische Skizze zu Geisteshaltung und Selbstverständnis des Seeoffizierskorps findet sich bei Herwig, S. 59-84. Friedrich Glum, Erlebtes und Erdachtes, S. 90, erfuhr aus unmittelbarer Anschauung: Die Seeoffiziere „brannten darauf, einmal den Engländern gegenüber zu zeigen, was sie konnten." 73 Brief Triepels an Martitz vom 26. Dezember 1912, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 40; Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 5, PAG. Dies war vermutlich nicht zuletzt auf die vorgeschriebene sokratische Lehrmethode zurückzufuhren. Eine Akademie-Vorschrift von 1910 betont: „... es muß ein reger geistiger Verkehr, eine belebende Wechselwirkung zwischen Dozenten und Hörern herrschen", zit. nach Güth, Admiralstabsausbildung, S. 23.

5. Kap.: Kiel 1909-1913

71

verstärkt mit Fragen des See- und Seekriegsrechts zu beschäftigen, was sich in einer Fülle kleinerer Arbeiten niedergeschlagen hat 74 . Unter seinen Schülern befand sich der Kaisersohn Prinz Adalbert von Preußen, der zwar nicht sehr begabt war 75 , den aber Triepel dennoch mochte, sowie der Sohn des Prinzen Heinrich, Waldemar 76 , dem er Privatunterricht zu erteilen hatte. Diese Tätigkeiten brachten Triepel nebst Gattin nicht nur mit den höchsten Kreisen der Admiralität, sondern auch mit dem Kaiserhaus in Berührung 77. Dies hatte freilich nicht immer angenehme Seiten. So war Triepel einmal bei Wilhelm II. zu Tisch geladen, fand aber das dort übliche schnelle Essen äußerst lästig78. Die Anwesenheit an Bord der kaiserlichen Yacht während der Kieler Woche, dem alljährlichen gesellschaftlichen Höhepunkt, dürfte ihm dagegen eher zugesagt haben79. Sonst bot Kiel damals für geistige und künstlerische Interessen nicht allzuviel 80 . Triepels Vorlesungsprogramm an der Universität orientierte sich an den getroffenen Absprachen. So las er in seinem ersten Kieler Semester „Kirchenrecht" (vierstündig), „Staat und Kirche" (einstündig), „Allgemeines Staatsrecht und Staatslehre" (zweistündig) sowie „Verwaltungsrecht" (vierstündig) und im Wintersemester 1909/10 „Deutsches Reichs- und Landesstaatsrecht mit besonderer Berücksichtigung des preußischen Staatsrechts" (fünfstündig), „Seekriegsrecht" (einstündig) und „Öffentlich-rechtliche Übungen" (zweistündig)81. Daß Triepel bei seiner Vorlesungsplanung auf kollidierende Interessen seiner Kollegen Rücksicht zu nehmen pflegte, ist etwa daran erkennbar, daß er Theodor Niemeyer (1857-1959) 82 mit seiner Völkerrechtsvorlesung im Sommersemester 1910 den Vortritt ließ 83 . Dies lag allerdings kaum im Interesse der

74 Die erste derartige Veröffentlichung trug den Titel „Der Widerstand feindlicher Handelsschiffe gegen Aufbringung", ZfV 1914, S. 378-406; vgl. näher oben 9. Kap. IV.

1.

75

So die Erinnerung Frau Renate v. Gebhardts an eine Äußerung ihres Großvaters. Er studierte ab Ostern 1910 drei Semester Rechtswissenschaft in Kiel, s. Personalverzeichnisse der Universität Kiel Sommer-Semester 1910 bis Sommer-Semester 1911, jeweils S. 29. 77 Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 5, PAG. 78 Mitteilung Frau Renate v. Gebhardts. 79 Er war auch begeistertes Mitglied im Kaiserlichen Yacht-Klub, vgl. zu allem die farbige Schilderung von Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 5, PAG. 80 So das Urteil Glums, Erlebtes und Erdachtes, S. 86. Die Erinnerungen Theodor Niemeyers, eines aktiven Protagonisten des Kieler Musik- und Theaterlebens jener Zeit, vermitteln allerdings ein anderes Bild, vgl. Niemeyer, S. 165-173. 81 Vorlesungsverzeichnisse der Universität Kiel Sommerhalbjahr 1909, S. 8, Winterhalbjahr 1909/10, S. 10. 82 Über ihn Hueck (s. Literaturverzeichnis). 83 Briefe vom 2. und 11. November 1909, BA, N L Triepel Bd. 2, Bl. 2 f. 76

72

Erster Teil: Leben

Fakultät wie auch des Reichsmarineamts, die beide eine Intensivierung des völkerrechtlichen Unterrichts wünschten84 und wohl nicht zuletzt auch deshalb die Berufung Triepels gefördert hatten. In diesem und den übrigen Sommersemestern las er „Allgemeines Staatsrecht" (SS 1910, 1911, 1912, 1913), „Deutsches Verwaltungsrecht" (SS 1910, 1911, 1912, 1913), „Kirchenrecht" (SS 1910, 1911, 1912, 1913), „Staat und Kirche" (SS 1910, 1911, 1912, 1913), in den Wintersemestern „Deutsches Reichs- und Landesstaatsrecht mit besonderer Berücksichtigung des preußischen Staatsrechts" (WS 1910/11, 1911/12, 1912/13), „Das parlamentarische Wahlrecht" (WS 1910/11, 1911/12, 1912/13) sowie „Völkerrecht" (WS 1911/12, 1912/13). Außerdem hielt er „Öffentlichrechtliche Übungen" (WS 1910/11), „Staats- und verwaltungsrechtliche Übungen" (WS 1911/12), „Übungen im Staats- und Verwaltungsrecht" (WS 1912/13) und „Völkerrechtliche Übungen" (WS 1911/12) ab 85 . Darüber hinaus war Triepel in vielerlei Funktionen innerhalb der akademischen Selbstverwaltung aktiv, so etwa als Dekan vom 2. Januar 1910 bis 1. Januar 1911, als Mitglied des Akademischen Senats im Sommersemester 1913, der Kommission der Druckschriften für die Universität im Wintersemester 1909/10 sowie der Bibliothekskommission im Wintersemester 1912/13 und Sommersemester 191386. Auch solche administrativen Aufgaben hat Triepel stets engagiert erledigt. So erstaunt es wenig, daß er kurz nach Ablauf seiner Amtszeit als Dekan von „ungewöhnlich starker Arbeitshäufung in den letzten Monaten" sprach 87. Triepel pflegte bei seinen Doktoranden höhere Maßstäbe anzulegen als viele seiner Fakultätskollegen. So äußerte er einmal, daß „man in Dissertationen heutzutage hohe Anforderungen stellen" müsse88. Hierbei hat Triepel auch sehr auf Gleichbehandlung geachtet. So zeigte er sich nicht kompromißbereit, als es darum ging, den Sohn eines preußischen Ministerialdirektors bei einem Promotionsvorhaben großzügiger als üblich zu behandeln89. Nicht zuletzt durch seine völkerrechtlichen Publikationen hat sich Triepel im Laufe der Zeit hohes internationales Ansehen erworben. So verwundert es we-

84 Schreiben des Reichsmarineamts vom 26. März 1908, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 9 Tit. IV Nr. 4 Bd. 3, Bl. 57; vgl. näher Döhring, S. 182. 85 Vorlesungsverzeichnisse der Universität Kiel Sommerhalbjahr 1910 bis Sommerhalbjahr 1913, jeweils S. 8 f. 86 Personal- und Studierendenverzeichnisse der Universität Kiel Wintersemester 1909/10 bis Sommer-Semester 1913. 87 Brief an Martitz vom 26. Januar 1911, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 29. 88 Brief an Martitz vom 28. Oktober 1912, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 37. 89 Brief an Martitz vom 28. Oktober 1912, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 37; vgl. auch die Dokumentation eines gescheiterten Promotionsversuchs aus dem Jahre 1911, LAS, Abt. 47.5 Nr. 3.

5. Kap.: Kiel 1909-1913

73

nig, daß er während der Pariser Session am 23. März 1910 zum „Associé" 90 des angesehenen „Institut de Droit international" gewählt wurde 91 . Das 1873 in Gent gegründete und bis zum heutigen Tag bestehende Institut ist keine ortsfeste Forschungseinrichtung, sondern hat als „Verein mit dem Zweck, die wissenschaftliche Arbeit und das allgemeine Interesse am internationalen Recht zu fördern" stets an wechselnden Orten getagt92. Es war Ferdinand v. Martitz 93 , der Triepel der Mitgliederversammlung zur Kooptation vorgeschlagen hatte94. Triepel sollte jedoch nur an der Oxforder Session von 1913 teilnehmen95. Daß an seine Mitwirkung im Institut „wenigstens für die ersten Jahre" keine übertriebenen Erwartungen geknüpft werden dürften, weil noch anderes unter Dach und Fach gebracht werden müsse, hatte er Martitz schon 1908 mitgeteilt 96 . Auch seien ihm die Reisen zu den Tagungsorten (1911 ζ. B. Madrid) teilweise zu teuer, weil man in Kiel schlecht Ersparnisse bilden könne, die für solche Ausgaben ausreichten 97. Die Teilnahme an der Sitzung von 1912 in Christiania (Oslo) war deshalb nicht möglich, weil er auf Anraten des behandelnden Urologen wegen der Folgen einer „bei diesem Klima erklärliche[n] Erkältung" eine Badekur in Bad Wildungen machen mußte98. Nach zehn Jahren Mitgliedschaft schied Triepel 1920 zusammen mit Martitz und dem Würzburger Kirchen- und Völkerrechtler Christian Meurer freiwillig aus, nachdem das Institut im Mai 1919 auf einer außerordentlichen Sitzung in Paris, zu der die deutschen und österreichischen Mitglieder nicht eingeladen worden waren, eine Resolution gefaßt hatte, mit deren Inhalt, einem einseitigen Tadel Deutschlands wegen der Verletzung der Neutralität Belgien und Luxem90

Beim Institut bestand damals ein Numerus clausus von 50 „Membres" und 50 „Associés", Niemeyer, S. 157. 91 Schreiben des Generalsekretärs des Instituts vom 6. Mai 1910, BA, N L Triepel Bd. 2, Bl. 13; Schreiben Triepels an den Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten vom 27. Mai 1910, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 9 Tit. I V Nr. 4 Bd. 3, Bl. 133. 92 Münch, AVR 1990, S. 76; vgl. auch Stier-Somlo, Völkerrechtsgesellschaften, S.

211.

93 Die Mitgliederversammlung des Instituts hatte Ferdinand v. Martitz 1882 zum „Associé" und 1891 zum „Membre" gewählt, vgl. Triepel, NiemeyersZ 1923, S. 108; Münch, AVR 1990, S. 104. 94 Brief Triepels an Martitz vom 25. Mai 1908, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 25. 95 Nelte, ZfV 1914, S. 307. 96 Brief an Martitz vom25. Mai 1908, SPBK, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 25; vgl. auch Triepels Ausführungen in seinem Brief an Martitz vom 19. März 1911, SPBK, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 33. 97 Brief Triepels an Martitz vom 25. Mai 1908, SPBK, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 25. 98 Brief an Martitz vom 28. Oktober 1912, SPBK, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 37.

74

Erster Teil: Leben

burgs und des humanitären Kriegsrechts 99, er sich unter dem Eindruck des Versailler Diktats nicht einverstanden erklären wollte 100 . Vor allem die französischen und belgischen Institutsmitglieder hatten die Forderung erhoben, die Deutschen nicht eher an der gemeinsamen Arbeit teilnehmen zu lassen, bis sie ein Kriegsschuldbekenntnis abgelegt hätten. Dieses Ansinnen wies selbst der pazifistisch gesinnte Völkerrechtler Walther Schücking (1875-1935) 101 von sich 102 . Daß Triepel das Institut verlassen hat, konnte seinem internationalem Ansehen nicht dauerhaft schaden. Als 1923 die Haager Völkerrechtsakademie ihre Pforten öffnete, wurde ihm dort die Ehre zuteil, als erster Deutscher eine Vorlesung103 halten zu dürfen. Trotz seines aus nationalen Motiven gespeisten Austritts hatte man zuerst an ihn gedacht. Ferner wurde er 1927 in das „Institut international de Droit public" aufgenommen 104. Eine weitere Ehre wurde Triepel in Form der Verleihung des Roten Adlerordens 4. Klasse am 10. August 1911 erwiesen. Im selben Jahr entstand ein Porträtgemälde Triepels 105 , das von seinem Schwager, dem Münchener Maler und Buchillustrator Hermann Ebers (1881-1955) 106 geschaffen wurde. Ein Kunstkritiker fand fur dessen Porträtkunst folgende Worte: „Bei dem Gelehrten Triepel ist der Hauptwert auf das Gesicht und in ihm aufs Auge gelegt. Darum unterstreicht Ebers gleichsam die Lichter der Brillengläser. Die Leichtigkeit in der Beherrschung des Vortrags wird durch die Haltung ausgedrückt, aber eine farbig zurückhaltende Behandlung läßt dies nicht aufdringlich wirken." 107 Das Bild ist leider nicht erhalten: Es verbrannte während des Zweiten Weltkriegs in Berlin 108 . Die schon in seinem Brief vom 31. Oktober 1908 geäußerte Ahnung Hänels, daß es sich bei der Kieler Tätigkeit Triepels nur um ein „Übergangsstadium in größere Verhältnisse" handeln würde 109 , sollte sich schließlich bewahrheiten. 99

Münch, A V R 1990, S. 83, 89. Triepel, NiemeyersZ 1923, S. 168; Wehberg, FW 1938, S. 40. Für Triepel war dies eine Sache des Ehrgefühls, weshalb er es für „einfach skandalös" hielt, daß nicht weitere deutsche Institutsmitglieder austraten, Brief an Martitz vom 15. Juli 1920, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 54. 101 Über ihn Acker (1970); Kohl, S. 230-242. 102 Acker, S. 158. 103 Sie trug den Titel „Les rapports entre le droit interne et le droit international" und ist in RdC 1923, S. 77-118, abgedruckt. 104 Vgl. unten 6. Kap. II. 11. 105 Eine Schwarzweißabbildung findet sich in Xenien 1913, nach S. 256. 106 Über ihn Feilen (1983); vgl. auch DBE, S. 676. 107 Corwegh, Xenien 1919, S. 196. 108 Mitteilung Renate v. Gebhardts. 109 BA, N L Triepel Bd. 1, Bl. 56. 100

5. Kap.: Kiel 1909-1913

75

Mit Verfugung vom 18. März 1913 wurde er an die Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin versetzt 110. Triepel war am Ziel seiner Hoffnungen angelangt 111 .

110

GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 9 Tit. IV Nr. 4 Bd. 3, Bl. 245; I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 10, Bl. 76; s. auch die Abschrift, UAH, Nr. 495, Bl. 228. 111 Vgl. hierzu das Dankschreiben an die Berliner Juristenfakultät vom 26. Dezember 1912, UAH, Nr. 295, Bl. 227.

6. Kapitel

Berlin 1913-1944 I. An der Friedrich-Wilhelms-Universität 7. Fakultät Triepel trat zum 1. Oktober 1913 in eine juristische Fakultät ein, die sich zu jener Zeit gerade anschickte, wieder das größte Ansehen im Deutschen Reich, und zwar noch vor Leipzig und München, zu genießen1. Die Fakultät hatte die Berufung eines weiteren Ordinarius fur die Fächer des öffentlichen Rechts für „dringend geboten" gehalten, nachdem sein Vorgänger Ferdinand v. Martitz durch Erlaß vom 14. November 1912 von der Verpflichtung, auch das Verwaltungsrecht in Vorlesungen und Übungen zu vertreten, mit Wirkung vom Sommersemester 1913 entbunden worden war 2. Zwar wurde das Verwaltungsrecht bereits durch die beiden Professoren Wilhelm Kahl und Gerhard Anschütz vertreten, doch erschien es der Fakultät vor allem „bei der zunehmenden Bedeutung" und „dem wachsenden Umfange des verwaltungsrechtlichen Lehrstoffes ... ein nicht abzuweisendes Bedürfnis, dass das Verwaltungsrecht durch einen neu zu berufenden, fachmännisch bereits bewährten Lehrer vertreten wird." 3 Des weiteren bedachte man das aufgrund seines hohen Alters anstehende Ausscheiden von Martitz, dessen akademische Wirksamkeit neben dem deutschen Staatsrecht auch das allgemeine und vergleichende Staatsrecht sowie das Völkerrecht umfaßte. Ferner wollte die Berliner Fakultät „ihrer bewährten Tradition, eine Pflanzstätte für die Wissenschaft des internationalen Rechts zu sein, auch in Zukunft treu bleibefn]" 4 . Aufgrund dieser Erwägungen hat sich die Fakultät dafür entschieden, Triepel primo loco zu pla1

Dieser Ruf war in den zwanziger Jahren - wohl nicht zuletzt auch dank Triepels Wirken - gefestigt und unbestritten, vgl. z. B. Ule, Studium, S. 20. Vgl. generell zur Entwicklung der Friedrich-Wilhelms-Universität im Kaiserreich vom Bruch, S. 92-112; ferner Spranger, S. 14 f., zur Situation um die Jahrhundertwende. 2 Bericht der juristischen Fakultät an das Ministerium der geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten vom 13. Dezember 1912, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 10, Bl. 51; vgl. auch den Vorentwurf vom 5. Dezember 1912, UAH, Nr. 495, Bl. 221-225. 3 4

GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 10, Bl. 52. GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 10, Bl. 52.

6. Kap.: Berlin 1913-1944

77

zieren 5. Schon 1907 hatte man ihn auf einer Berufungsliste zusammen mit Gerhard Anschütz an gleicher Stelle genannt, „ohne zwischen ihnen einen Rangunterschied zu machen"6. Dieser berufliche Erfolg war nicht zuletzt auch den Bemühungen seines Förderers Ferdinand v. Martitz zu verdanken 7. Als mit ausschlaggebend fur ihre Entscheidung sah die Fakultät die jüngsten Veröffentlichungen Triepels an, die „nicht minder als die früheren" durch Gründlichkeit und geistreiche Art ausgezeichnet seien8. Diesen Argumenten vermochte sich auch der damalige Minister der „geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten" August v. Trott zu Solz nicht zu verschließen und veranlaßte deshalb Triepel kurz vor den Weihnachtsfeiertagen zu einer Reise nach Berlin 9 , wo am 23. Dezember 1912 die Berufungsmodalitäten vereinbart wurden 10 . Neben dem Gehalt in Höhe 7.800 M und dem tarifmäßigen Wohnungsgeldzuschuß von 1.300 M sollte Triepel bis zum Zeitpunkt seiner Emeritierung eine besondere Besoldungszulage von jährlich 1.600 M erhalten. Daneben wurde eine Hörergeldgarantie von 6.000 M jährlich vereinbart, die sich nach dem endgültigen Rückzug von Martitz vom Lehramt auf 10.000 M erhöhen sollte 11 . Triepel konnte damit Gesamtbezüge erwarten, die etwa denen eines Unterstaatssekretärs entsprachen12 und damit den durchschnittlichen Jahresverdienst von gewerblichen Arbeitnehmern 13 um das Zwanzigfache überstiegen. Ferner mußte er sich verpflichten, ggfs. gegen die übliche Vergütung als Prüfer im Referendarexamen tätig zu werden 14.

5 An zweiter und dritter Stelle wurden Heinrich Rosin und Robert Piloty vorgeschlagen, vgl. GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 10, Bl. 53 f. 6 Stellungnahme der juristischen Fakultät vom 30. Dezember 1907, UAH, Nr. 495, Bl. 125. Von Seiten des Ministeriums erhielt dann Anschütz den Vorzug, was Triepel, dem diese Angelegenheit von Wilhelm Kahl mitgeteilt worden war, für „durchaus in der Ordnung hielt", weil dieser „ganz vortrefflich an den Platz" passe, Brief an Martitz vom 25. Mai 1908, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 24. 7 Dankesbrief vom 26. Dezember 1912, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 39 f. 8 Dankesbrief vom 26. Dezember 1912, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 53. Besonders erwähnt wurden die beiden Schriften „Die Kompetenz des Bundesstaats und die geschriebene Verfassung" (1908) und „Staatsdienst und staatlich gebundener Beruf 4 (1911) sowie die zu diesem Zeitpunkt aktuellste Veröffentlichung „Der Seeoffizier und das Studium des Völkerrechts" in der Marine-Rundschau. 9 Sie dauerte vom 22. bis 24. Dezember 1912, s. Reisekostenabrechung vom 3. Januar 1913, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 50. 10 BA, NL Triepel Bd. 2, Bl. 18 f.; GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 10, Bl. 72 f. 11 BA, N L Triepel Bd. 2, Bl. 18 f.; GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 10, Bl. 72 f. 12 Vgl. die Übersicht bei Hohorst/Kocka/Ritter, S. 109. 13 1913 waren das nominal 1.083 M, vgl. Hohorst/Kocka/Ritter, S. 107. 14 GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 10, Bl. 74.

Erster Teil: Leben

78

Die Berufungsverhandlungen zogen sich wider Erwarten bis in den Nachmittag hinein, so daß es Triepel entgegen der ursprünglichen Planung nicht möglich war, seinem Gönner Ferdinand v. Martitz einen Besuch abzustatten, zumal er den Heiligen Abend im Kreise der Familie verbringen wollte 15 . Vor der endgültigen Versetzung Triepels nach Berlin kam es zu einem Konflikt zwischen dem Minister fiir die „geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten" und dem Finanzminister, der bei Ferdinand v. Martitz die Voraussetzungen für eine Emeritierung als nicht gegeben ansah und daher der Mittelfreigabe für eine Ersatzprofessur nicht zustimmen wollte 16 . Demgegenüber wies der Unterrichtsminister daraufhin, daß die Lehrtätigkeit von Martitz ganz unerheblich sei, nur noch einen Teil des öffentlichen Rechts umfasse und die erforderliche Anziehungskraft vermissen lasse. Der bald 74jährige sei auch im Hinblick auf seine Schwerhörigkeit gesundheitlich beeinträchtigt und erfülle die Voraussetzungen für eine Emeritierung. Allerdings hege er den Wunsch, aus Neigung zum lehramtlichen Beruf über das eine oder andere Gebiet weiter zu lesen, was man ihm als einem verdienten Gelehrten von vorzüglichem Ruf nicht verwehren wolle 17 . In seinem Antwortschreiben vom 13. März 1913 lenkte der Finanzminister schließlich ein, allerdings nicht ohne darauf hinzuweisen, daß Martitz auch formlich emeritiert und ihm gleichwohl, dessen Wunsch entsprechend, noch ein - ausgabenneutrales - Recht zur Abhaltung von Vorlesungen eingeräumt werden könnte 18 . Der Lehrtätigkeit Triepels an der Friedrichs-Wilhelms-Universität, der damals größten im Deutschen Reich, standen nun keine fiskalpolitischen Hürden mehr entgegen. Daß die Versetzung nicht schon zum Sommersemester 1913 erfolgte, war einzig der Tatsache zu verdanken, daß Triepel darum bat, noch bis 1. Oktober 1913 sein Kieler Lehramt versehen zu dürfen. Er äußerte diesen Wunsch vor allem deshalb, weil er, obwohl ihm eine vierteljährliche Kündigungsfrist zur Verfügung stand, den von ihm an der Marineakademie gegebenen Kurs, der bis Ende Juni dauerte, nicht mitten im Verlauf abbrechen wollte 19 . Hierfür bat er den damaligen Dekan der Berliner Juristenfakultät Theodor 15

Brief Triepels an Martitz vom 26. Dezember 1912, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 39. 16 Schreiben vom 3. Februar 1913, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 10, Bl. 57. 17 Schreiben vom 20. Februar 1913, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 10, Bl. 58. Nach Triepel, NiemeyersZ 1923, S. 161, hing Ferdinand v. Martitz so sehr am Lehramt, daß er „am liebsten in den Sielen gestorben" wäre. 18 GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 10, Bl. 59. 19 „Ich verdanke der Akademie so viel Kriegsrechtlich anregendes, daß ich nicht vor der Zeit fahnenflüchtig werden mag. Man hat mir in sehr ehrenhafter Weise zu verstehen gegeben, daß man mich dort sehr ungern ziehen läßt, und meine Kapitänleutnants sind mir auch ans Herz gewachsen.", Brief Triepels an Martitz vom 26. Dezember 1912, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 40.

6. Kap.: Berlin 1913-1944

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Kipp um Verständnis 20. Im selben Schreiben brachte er den Dank und die Genugtuung über seine Berufung zum Ausdruck: „Von der Berliner Juristenfakultät in ihre Mitte berufen zu werden, ist eine Auszeichnung, der ich keine andere zur Seite stellen wüßte, und die Aussicht, in engere Arbeits- und Lebensgemeinschaft mit einer Reihe, wissenschaftlich und persönlich von mir so hochverehrten Männern zu leben, erfüllt mich mit stolzer Freude." 21 Gefiel sich die Berliner Universität insgesamt, besonders in der Zeit der Restauration nach 1848, mit einer gewissen Berechtigung darin, als „geistiges Leibregiment des Hauses Hohenzollern" zu gelten22, so kann dieses Attribut für die Juristenfakultät doch nur begrenzt Geltung beanspruchen. Zwar war sie, wie Ernst Heymann mit einem gewissen Recht vermerkt hat, „wie die ganze Universität eine Schöpfung des preußischen Staates, eine seiner edelsten Schöpfungen", und „in ihrer ganzen bisherigen Geschichte ein eigentümliches Spiegelbild der Geschehnisse und Stimmungen des preußischen Staatswesens und seiner führenden Kreise" 23 . Andererseits aber besaß die Fakultät von jeher, seit Friedrich Carl v. Savigny, der dort von 1810 bis 1848 gewirkt hat, einen deutschen, keinen spezifisch preußischen Charakter. Die einzige beherrschende Persönlichkeit von ausgesprochen preußischer Prägung, Rudolf v. Gneist, hatte gerade das preußische Wesen mit dem gesamtdeutschen Liberalismus in Einklang zu bringen versucht 24. Nach dem Urteil ihres Chronisten Rudolf Smend bildete die Fakultät „eine eigentümlich geschlossene menschliche Gemeinschaft" 25. Heinrich Dernburg, der von 1873 bis 1907 in Berlin lehrte 26, gestand sogar einmal, er liebe die Fakultät wie seinen eigenen Familienkreis 27. Auch als Triepel im Herbst 1913 in die Fakultät eintrat, war noch viel von dieser Gesinnung vorhanden 28. Die Geselligkeit im Kollegenkreis beschrieb seine Frau als „eine der anregendsten, die nur denkbar" sind 29 .

20

Schreiben vom 26. Dezember 1912, UAH, Nr. 495, Bl. 226 f. Dem Ministerium war diese Frage ganz gleichgültig, vgl. Brief Triepels an Martitz vom 26. Dezember 1912, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 40. 21 UAH, Nr. 495, Bl. 226 f. 22 So du Bois-Reymond, S. 418 (Rektoratsrede vom 3. August 1870); vgl. hierzu auch die Kritik des an sich durchaus hohenzollerntreuen Universitätshistorikers Max Lenz, S. 34, an dem „Geist, der unsere ... Universität heimsuchte, um fortan jahrelang auf ihr zu lasten." 23 24 25 26 27 28 29

E. Heymann, S. 62. Smend, Juristenfakultät, S. 127. Smend, Juristenfakultät, S. 127. Wesenberg, S. 608. Gierke, DJZ 1907, Sp. 1342. Smend, Juristenfakultät, S. 127. Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 5, PAG.

Erster Teil: Leben

80

2. Lehre

Für Triepel war es zunächst schwierig, das Vertrauen der Studenten zu gewinnen. Als dies aber gelungen war, haben sie, wie Marie Triepel bekundet, „mit hingebender Treue" an ihm gehangen, so daß ihn die Lehrtätigkeit schließlich in vollstem Maße befriedigte 30. Sein Vorlesungsprogramm gestaltete sich im einzelnen wie folgt: „Allgemeine Staatslehre und vergleichendes Staatsrecht" (WS 13/14), „Allgemeines Staatsrecht und Staatslehre" (WS 14/15, WS 15/16, WS 16/17, WS 17/18, WS 18/19, WS 20, WS 20/21, WS 21/22, SS 22, SS 23, SS 24, SS 25, SS 26, SS 27, SS 28, SS 29, SS 30, SS 31, SS 32, SS 33, SS 34), „Erklärung ausgewählter Abschnitte der preußischen Verfassungsurkunde" (WS 13/14), „Ausgewählte Lehren des deutschen Staatsrechts" (SS 14, SS 15, SS 16), „Deutsches Reichsund Landesstaatsrecht (, mit besonderer Berücksichtigung des preußischen Rechts)" (SS 15, SS 16, WS 16/17, WS 17/18, WS 18/19, Zwischensemester Frühjahr 1919, WS 20, WS 20/21, WS 21/22, WS 23/24, WS 24/25, WS 25/26, WS 26/27, WS 27/28, WS 28/29, WS 29/30, WS 30/31, WS 31/32, WS 32/33), „Deutsches Staatsrecht" (WS 33/34, WS 34/35), „Deutsches Verwaltungsrecht (, mit besonderer Berücksichtigung des preußischen Rechts)" (WS 13/14, SS 14, WS 14/15, WS 15/16, WS 16/17, SS 17, SS 18, SS 19, Zwischensemester Herbst 1919, SS 20, SS 21, SS 22, SS 23, SS 24, SS 25, SS 27, SS 28, SS 30, SS 31, SS 32, SS 33, SS 34, SS 35), „Ausgewählte Lehren des Verwaltungsrechts" (SS 17), „Die Organisation der Verwaltung (im Reich und in Preußen") bzw. „(vornehmlich in Preußen)" (SS 18, SS 19, SS 21, SS 22, SS 23, SS 24, SS 25, SS 26, SS 29, SS 32, SS 33, SS 34), „Völkerrecht" (SS 14, SS 16, SS 17, SS 18, SS 19, SS 20, SS 21, WS 22/23, WS 23/24, WS 24/25 31 , WS 25/26, WS 26/27, WS 27/28, WS 28/29, WS 29/30, WS 30/31, WS 31/32, WS 32/33, WS 33/34, WS 34/35) 32 . Neben den für Kriegsteilnehmer gedachten Zwischensemestern erscheint vor allem die weitgehende Kontinuität der Vorlesungsgegenstände über drei Staatsformen hinweg bemerkenswert. Allenfalls die Wandlung des Vorlesungstitels „Deutsches Reichs- und Landesstaatsrecht" in „Deutsches Staatsrecht" signalisiert den Wechsel von einem föderalistischen zu einem zentralistischen Staatsaufbau. Neben den Vorlesungen hatte Triepel noch Übungen abzuhalten: „Staats- und verwaltungsrechtliche Übungen" (SS 14, SS 15, SS 16, SS 20), „(Wissenschaftliche) Übungen im öffentlichen Recht, für Vorgerückte" (WS 14/15, WS 15/16, WS 17/18), „Übungen im öffentlichen Recht (Staats- und Völkerrecht)" (WS 16/17, WS 20, WS 20/21, WS

30

Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 5, PAG. Vgl. Mitschrift, Quellen- und Literaturverzeichnis IV. 5. 32 Verzeichnis der Vorlesungen an der Friedrich-Wilhelms-Universität Winter-Semester 1913/14 bis Winter-Semester 1934/35. 31

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21/22, WS 22/23, WS 23/24, WS 24/25, WS 25/26, WS 26/27, WS 27/28, WS 28/29, WS 29/30, WS 30/31, WS 31/32, WS 33/34, WS 34/35), „Übungen im Staats- und Verwaltungsrecht (, mit schriftlichen Arbeiten)" (SS 17, SS 18, WS 18/19, SS 19, SS 21, SS 22, SS 23, SS 24, SS 25, SS 26, SS 28, SS 29, SS 30, SS 31, SS 32), „Übungen im Verwaltungsrecht, für Anfänger" (SS 35), „Völkerrechtliche Übungen" (WS 18/19)33. Das Maximum an Stundenbelastung, die im Regelfall um die Marke von zehn Semesterwochenstunden schwankte, erreichte Triepel im Wintersemester 1916/17 mit 18 Wochenstunden. Da er sich stets gründlich auf die Lehrveranstaltungen vorbereitet hat, blieb nicht immer Zeit für andere Verpflichtungen 34 . Nach Auffassung seines Fakultätskollegen Rudolf Smend war Triepel in der Juristenfakultät jener Zeit die „geistig und sittlich überragende Figur des Fachs"35. Dieses Urteil hatte er nicht nur seinen herausragenden wissenschaftlichen Leistungen, sondern auch der starken Prägekraft der von ihm abgehaltenen Lehrveranstaltungen zu verdanken. Seine Wirksamkeit als akademischer Lehrer hat bei der studierenden Jugend einen tiefen Eindruck hinterlassen. Daß er ein vorzüglicher Pädagoge war, ist vielfach bezeugt36. Diese starke Wirkung als Lehrer und Erzieher beruhte indes nicht auf „Pathos und Rhetorik, die seine Sprache (mit ganz leicht sächsischem Anklang und in sächsischer Nüchternheit) 37 sorgfältig vermied." 38 Gänzlich frei von Spitzen gegen andere Lehrmeinungen war sein „oft von kernigem, aber niemals in verletzende Ironie ausartendem Humor" gewürzter Vortragsstil 39 aber nicht. So erinnert sich etwa Carl Hermann Ule an eine Völkerrechtsvorlesung im Wintersemester 1927/28, in der ihn Triepel „als wissenschaftliche Persönlichkeit ... nicht überzeugte, sondern durch seine ständige und ... unsachliche Polemik gegen die Wiener Schule, vor allem gegen Alfred Verdroß ... eher abstieß."40

33 Verzeichnis der Vorlesungen an der Friedrich-Wilhelms-Universität Winter-Semester 1913/14 bis Winter-Semester 1934/35. 34 So konnte er etwa Adolf v. Harnack zu dessen 75. Geburtstag nicht persönlich beglückwünschen, vgl. Schreiben vom 6. Mai 1926, SBB, NL Harnack. 35 Smend, Juristenfakultät, S. 123. 36 Norbert Ebers hat dies unmittelbar vor Ort „verschiedentlich von seinen Hörern" erfahren, Familienchronik, S. 14, PAG. Friedrich Glum, Erlebtes und Erdachtes, S. 94, sprach von dem „klaren Vortrag" Triepels, der „zu fesseln wußte". Vgl. auch Leibholz, DeuV 1949, S. 142; Bilfingen ZaöRV 1950/51, S. 13. 37 Theodor Eschenburg, Also, S. 216, meint hingegen - wohl etwas wirklichkeitsnäher - , das „völlig ungehemmte Sächsisch, das Triepel sprach", hätte den Eindruck seiner Vorlesungen gemindert. 38 Smend, Triepel, S. 120. 39 Mitteis, Grabrede, S. 1, PAG. 40 Ule y S. 24; bestätigt durch eine Mitteilung Carl Hermann Ules an den Verfasser. Gewisse Animositäten Triepels gegenüber Alfred Verdross wären allerdings nicht ganz unverständlich. Denn dieser beanspruchte mehrfach, die Kategorien „Monismus" und

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Repräsentativer erscheint indes die Beobachtung Heinrich Mitteis', der von einem hellen Aufleuchten der Augen zu berichten wußte, wenn sich frühere Berliner Rechtsstudenten an „unvergeßliche Kollegstunden" bei Triepel erinnerten 41. Auch Theodor Eschenburg ist voll des Lobes über Triepels Vorlesungen und berichtet, er habe sie im Wintersemester 1929 besucht und dort „noch einmal" das gefunden, was er im Studium gesucht habe42. Für ihn war Triepel schlicht „der beste juristische Lehrer" 43 . Im einzelnen würdigt Eschenburg ihn wie folgt: „Ich habe die vorzügliche dreistündige Vorlesung von Heinrich Triepel über Deutsches Reichs- und Landesstaatsrecht gehört, die zugleich eine höchst anschauliche Einfuhrung in die Verfassungspraxis gab." 44 Triepel sei zwar „kein großer Systematiker" gewesen, habe aber „durch Kompetenz und Form seiner Ausführungen die Aufmerksamkeit der Hörer" gewonnen45. „Er sprach", erinnert sich Eschenburg, „unpathetisch, man könnte sagen: unprofessoral, so daß man ihn für einen versierten Verfassungsjuristen in einem Regierungsamt halten konnte. Dabei verstand er es, uns durch anschauliche Beispiele zum Kern der Probleme zu führen. Ich erinnere mich an eine längere Debatte über die Kompetenzen der Staatsorgane und ihre Grenzen. Dabei spitzte Triepel das Thema zu, indem er uns ein Gedankenexperiment aufgab, das mir ein Leben lang vorbildlich für konkretes verfassungspolitisches Denken geblieben ist. ,Stellen Sie sich vor', sagte er, ,der Reichspräsident, der Reichskanzler sowie sämtliche Mitglieder der Reichsregierung, die Präsidenten des Reichstags, des Bundesrats sowie des Reichsgerichts fahren in einem Sonderzug zur Einweihung eines Reichskriegerdenkmals nach Thüringen. Durch ein Zugunglück kommen alle ums Leben. Wer ernennt die neue Regierung?4 Daran schlossen sich zahlreiche Fragen an, die uns weiter in die Problematik der Staatsorgane hineinzogen. Ich weiß nicht mehr, welches seine endgültige Antwort war, möglicherweise bestand sie in einem Hinweis auf das sogenannte ungeschriebene Verfassungsrecht. Aber er lehrte uns die Verfassung und das Zusammenspiel von Rechten und Institutionen zu verstehen. Noch als ich Triepel gut zehn Jahre später auf einer Einladung traf, konnte ich mich an das Beispiel erinnern, das er uns damals gegeben hatte. Er wunderte sich, daß ich nahezu den Wortlaut zitieren konnte, obwohl ich kein Jurist sei. ,Haben Sie ein so gutes Ge-

„Dualismus" in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt zu haben, vgl. ζ. B. Verdross, S. 39 Fn. 1 und 46, während diese Begriffe schon von Triepel, Völkerrecht, S. 128 f., 131, 133 Fn. 1, geprägt wurden; vgl. zum Ganzen auch Walz, S. 1 Fn. 4 m. w. N. 41 Mitteis, Grabrede, S. 1, PAG. 42 Eschenburg, Also, S. 216. 43 Eschenburg, Also, S. 217. 44 Eschenburg, Universitätsleben, S. 37; vgl. auch ders., Also, S. 216: „ i m vollbesetzten Auditorium maximum". 4 5 Eschenburg, Also, S. 216 f.

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dächtnis?' fragte er. Ich erwiderte: ,Daß ich es noch weiß, verdanke ich Ihrer Fähigkeit zu lehren/" 4 6 Auch Otto Bachof hebt Triepel als beeindruckendste Persönlichkeit seines Berliner Semesters 1933/34 hervor 47 . Seine Kollegs seien nicht ganz leicht gewesen, hätten aber gleichwohl regen Zulauf gehabt48. Bestätigt werden diese Erinnerungen durch eine aus unmittelbarer Anschauung gewonnene Schilderung, die sich in Asche Graf v. Mandelslohs launiger Rede zum 70. Geburtstag Triepels findet 49: „Die Lehrtätigkeit des Geheimrats wird einem jeden, der sie erleben durfte, stets unvergeßlich bleiben. Wenn er mit einem ungeheuer zerfetzten Buch, Quellensammlung zum deutschen Reichsstaatsrecht, in der Hand den Hörsaal betrat, so ertönte in der Regel ein außerordentlich starkes Getrampel, die Art und Weise, in der es bei den Studenten üblich ist, einen beliebten Lehrer zu begrüßen. Diese Ovationen nahmen zum Teil einen solchen akustischen Umfang an, daß der Geheimrat sich veranlaßt sah zu erklären, er habe nicht Geburtstag. ... Das Kolleg des Geheimrats ... war immer was Besonderes. Es wurde dort nicht nur doziert oder trocken gelehrt, es war vielmehr immer ein Feuer, ein Sprühregen von Geist und Witz, unter dem die Wissenschaft dargeboten wurde. Der Kontakt des Geheimrats mit dem Auditorium war immer außerordentlich stark. ... Der Geheimrat verstand es, seine Zuhörerschaft immer zu fesseln und hatte dafür auch seine eigenen Methoden. Hatte er ζ. B. eine wissenschaftliche Kontroverse zwischen den Staatsrechtslehrern X und Y dargestellt, so Schloß er diese Darstellung mit den Worten: ,Für wen von diesen beiden sind nun Sie?4 - und man war sehr stolz, im Wege des Rückrufs den richtigen Namen geraten zu haben. ... Er konnte es sich ... leisten, seine Vorlesungen über die Organisation der preußischen Verwaltung - eine gewiß nicht aufregende, vielleicht eher etwas spröde Materie in der Zeit zwischen 1 - 2 zu halten, zu einer Zeit also, die jeder Student kraft seines natürlichen Rechts als die Zeit des Essens, des Mittagsschlafs oder anderer Beschäftigungen anzusehen pflegt. Trotzdem sind wir auch in diese Vorlesung mit Vergnügen gegangen."50 Triepels Stimme sei, so führte Graf Mandelsloh in seiner Geburtstagslaudatio weiter aus, bis in den entferntesten Winkel des größten Hörsaals gedrungen. Kraft deren außergewöhnlicher Modulationsfähigkeit habe er die Eigenheit besessen, andere Meinungen im Verlauf ih46

Eschenburg,, Also, S. 217. Weber, S. 109, 118. 48 Mündliche Mitteilung Otto Bachofs. 49 „Graf Mandelslohs Rede auf Geheimrat Triepel am 17. 2. 38.", PAG. Asche Graf v. Mandelsloh war Assistent Triepels und zuletzt, bis zu seinem frühen Tod infolge einer zu spät erkannten Blinddarmentzündung, Leiter der Zeitschriftenabteilung im Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, vgl. den Nekrolog in ZaöRV 1938, o. S. 50 Mandelsloh, Geburtstagrede, S. 1 f., PAG. 47

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rer Darstellung „durch kleine Melodien aus Knurrtönen" während Kunstpausen - und nicht etwa mit rauhen Worten - zu kritisieren 51. Eine weitere Besonderheit Triepels habe darin bestanden, bei den Übungsarbeiten der Studenten nicht nur auf ausfuhrliche problemorientierte Erörterungen, sondern auch auf ein vernünftiges Ergebnis Wert zu legen52. In seine Seminare pflegte er ,jedes Jahr nur vierzehn, höchstens fünfzehn Eliteschüler aufzunehmen, darunter immer eine Reihe von Assessoren, auch Regierungsräte oder Rechtsanwälte."53 Daß sie kein Recht auf Zulassung zu diesem intimen Kreis hatte, vermochte die Jurastudentin Eva Scheck, Triepel zufolge „eine bedauernswerte Geisteskranke" 54, nicht einzusehen. Nachdem ihre Aufnahme in das Seminar wegen nur mit „ausreichend" bewerteter Leistungen in den staats- und verwaltungsrechtlichen Übungen abgelehnt worden war, sah sie Triepel plötzlich zu seinem Erstaunen in der zweiten Seminarsitzung am Tisch sitzen. Er veranlaßte sie, sich zu entfernen. Eine Woche später erschien sie wiederum dort und ließ sich wortlos nieder. Nachdem die mehrmalige Aufforderung Triepels, sich zu entfernen, und die Bitte, sich und dem Seminar eine peinliche Szene zu ersparen, nichts gefruchtet hatten, blieb ihm, wollte er seine Autorität nicht aufs Spiel setzen, nichts anderes übrig, als sie durch den Seminardiener aus dem Raum führen zu lassen55. Daraufhin wandte sich Frau Scheck an den Kultusminister und erklärte, sie habe die staats- und verwaltungsrechtlichen Übungen mit „gut" und „fast gut" bestanden. Auch habe Triepel noch nie eine Frau ins Seminar aufgenommen und würde zudem in der Vorlesung nur die Anrede „Meine Herren" gebrauchen 56. Ersteres wies Triepel als unwahr zurück und meinte im übrigen reichlich lakonisch, es habe sich „noch niemals einer seiner weiblichen Zuhörer darüber beschwert", daß er sich die ihm geläufige Form der Anrede nicht habe abgewöhnen können 57 .

51

Mandelsloh, Geburtstagrede, S. 2, PAG. Mandelsloh, Geburtstagrede, S. 3 f., PAG. Die äußerst lehrreiche Vorbesprechung der juristischen Arbeiten im Kreis der Assistenten gehörte „zu den schönsten Erinnerungen" Asche Graf v. Mandelslohs an seine akademische Zeit, Mandelsloh, Geburtstagrede, S. 4, PAG. 53 So Triepel in seinem Schreiben an den Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 15. Dezember 1930, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 12, Bl. 183. 54 Schreiben an den Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 15. Dezember 1930, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 12, Bl. 183. 55 Schreiben an den Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 15. Dezember 1930, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 12, Bl. 183, Bl. 184. 56 Vgl. Schreiben vom 18. November 1930, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 12, Bl. 181. 57 Schreiben an den Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 15. Dezember 1930, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 12, Bl. 184. Eva 52

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Daß Triepel im allgemeinen durchaus um ein verständnisvolles, wohlwollendes Verhältnis zu Studenten bemüht war, zeigt eine Anekdote aus seiner Tätigkeit als Prüfer beim Ersten juristischen Staatsexamens. Als es einmal um Wilhelm v. Humboldt ging, wollte er einem etwas unbedarften Kandidaten auf die Sprünge helfen, indem er diesen daraufhinwies, daß er jeden Morgen daran vorbeigehe. Damit wollte er auf die Denkmäler der Gebrüder Humboldt vor der Berliner Universität anspielen. Allein, es war vergeblich. Am nächsten Tag hieß es unter den Kandidaten nur: „Triepel prüft Denkmäler." 58

3. Berufliche Anerkennung Die herausragenden Leistungen Triepels in Forschung und Lehre fanden auch im Kollegenkreis große Beachtung. So hätte es der berühmte Verwaltungsrechtler Otto Mayer (1846-1924) 59 gerne gesehen, wenn Triepel ab dem Wintersemester 1918/19 sein Nachfolger in Leipzig hätte werden wollen 60 . Er lehnte indes den in Aussicht stehenden Ruf 61 an die sächsische Heimatfakultät ab, nachdem er in Bleibeverhandlungen eine Erhöhung des Gehalts auf 12.000 M 6 2 und eine Honorargarantie von 20.000 M erreicht hatte. Letztere sollte allerdings mit dem Zeitpunkt der Emeritierung oder spätestens bis zum Ende des Etatjahrs, in dessen Verlauf das 70. Lebensjahr vollendet werden würde, wegfallen. Hinzu kam noch eine „besondere Renumeration" von 2.000 M jährlich bis zur Vollendung des 70. Lebensjahres 63. Obwohl die Vereinbarung bereits

Scheck schrieb am 31. Oktober 1931 noch einmal einen wirren Brief an den Kultusminister, in dem sie sich nacheinander von Rudolf Smend, ihrer Hauswirtin, ihrem Potsdamer Reitstall und einem Amtsgericht verfolgt wähnte, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 12, Bl. 357. 58 Mitteilung Frau Renate v. Gebhardts. 59 Über ihn Hueber, Sp. 402-405. 60 Brief Otto Mayers an Triepels Fakultätskollegen Wilhelm Kahl vom 3. August 1918, BA, N L Triepel Bd. 2, Bl. 25-27. 61 So die Formulierung Triepels in einem Schreiben vom 19. September 1932, s. BA, NL Triepel Bd. 2, Bl. 66. Ob tatsächlich ein Ruf ergangen ist, konnte aufgrund der Tatsache, daß das Archiv der Leipziger Juristenfakultät Kriegsverlust ist, nicht ermittelt werden. 62 Das Höchstgehalt eines Berliner Lehrstuhlinhabers betrug damals 9.400 M, also 2.600 M weniger, weswegen die Zustimmung von einem der beiden Finanzminister (hier: Albert Südekum [SPD], vgl. Huber V, S. 1005) erforderlich war, vgl. GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 11, Bl. 172. Später erreichte das Spitzengehalt eines Berliner Ordinarius ohne Zuschläge und Sondervereinbarungen bis zum 1. April 1920 nur noch die Höhe von 7.200 M, vgl. Erlaß des Ministers fur Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 3. Juni 1920, BA, N L Triepel Bd. 2, Bl. 39. 63 Vgl. das von Carl Hermann Becker gezeichnete Schreiben des Kultusministeriums vom 11. Oktober 1918, BA, N L Triepel Bd. 2, Bl. 28. Mit Wirkung vom 1. Oktober 1921 wurde die letztgenannte Vergütung auf 4.000 M erhöht, vgl. Erlaß des Kultusmini-

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am 11. Oktober 1918 durch den damaligen konservativen preußischen Kultusminister Friedrich Schmidt-Ott 64 gebilligt worden war 65 , ließ der Vollzug auf sich warten, so daß sich Triepel am 1. Januar 1919 veranlaßt sah, einen persönlichen Brief an den inzwischen vom Hochschulreferenten zum Staatssekretär avancierten Carl Heinrich Becker (1876—1933)66 zu senden. Er führte dort aus: „Die gegenwärtigen Vorgänge erfüllen mich mit größter Sorge um die Zukunft der Meinigen. Ich kann nicht darauf verzichten, daß die mir gemachten Zusagen erfüllt werden." 67 Anlaß zur Sorge bot für Triepel vermutlich nicht nur die Zahlungsverzögerung als solche, sondern auch die Unsicherheit, ob das seit 12. November 1918 regierende sozialistische Revolutionskabinett68 willens war, die mit der alten Regierung getroffenen Vereinbarungen einzuhalten. Diese Besorgnis hat sich letztlich als unbegründet erwiesen 69. Das Beamten-Diensteinkommensgesetz vom 4. Mai 192070 brachte allerdings eine neue Besoldungsstruktur mit sich. Danach sollte Triepel jährlich ein Grundgehalt von 16.500 M, einen Ortszuschlag von 5.000 M, eine Ausgleichszahlung von 10.750 M sowie eine Kinderbeihilfe von 1.080 M erhalten 71. Hiermit zeigte er sich jedoch nicht einverstanden. Schließlich bewilligte ihm der Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung „im Einverständnis mit dem Herrn Finanzminister" ein Sondergehalt von 24.000 M mit einer Ausgleichszahlung von 14.500 M zu 72 . Die Honorargarantie wurde während der Inflationszeit auf 6.000 M gekürzt, dann aber wieder auf 8.000 M erhöht 73. Vergleicht man die Gesamteinkünfte Triepels mit dem Jahreseinkommen eines Ministers in Höhe von 39.600 RM (193Ο)74 oder eines Facharbeiters bei der steriums vom 5. Januar 1922, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 12, Bl. 26. 64 Huber V, S. 546, 551; vgl. über seine Tätigkeit als Minister Schmidt-Ott, S. 153— 164. 65 BA, N L Triepel Bd. 2, Bl. 28. 66 Über ihn Grimme, S. 711; umfassend Wende (1959). 67 GStA PK, I. HA Rep. 92 Nr. 3287 N L Becker. 68 Näher Huber V, S. 1002-1006. 69 Bescheide des Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Fortbildung 31. Dezember 1918, BA, N L Triepel Bd. 2, Bl. 29 f.; vgl. auch die Ministerialakten vom 31. Dezember 1918, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 11, Bl. 172 f. 70 RGBl. I S. 805. 71 Schreiben des Universitäts-Kuratoriums vom Juli 1920, BA, N L Triepel Bd. 2, Bl. 37. 72 Schreiben Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 29. September 1920, BA, N L Triepel Bd. 2, Bl. 36; vgl. auch Schreiben des Universitäts-Kuratoriums vom 3. Dezember 1920, ebd., Bl. 38. 73 Schreiben an den Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 19. September 1932, BA, N L Triepel Bd. 2, Bl. 66. 74 Grundgehalt, Wohnungsgeldzuschuß, örtlicher Sonderzuschlag und sonstige Zulagen (Besoldungsgruppe Β 2), vgl. die Tabelle bei Witt, S. 647.

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Reichspost (2.541 RM) 7 5 , so wird deutlich, daß sich das Gehalt von Ordinarien, jedenfalls bis zu Beginn der 1930 einsetzenden Sparpolitik, wieder dem Niveau des Kaiserreichs angenähert hatte. Wohl wegen der auch ihn treffenden Sparmaßnahmen trat Triepel 1931 mit dem Ministerium in erneute Verhandlungen, um entsprechend den früheren Vereinbarungen eine Festsetzung der Honorargarantie auf 16.000 R M zu erreichen. Zunächst war ihm diese Erhöhung entgegen der mündlichen Vereinbarung mit dem zuständigen Ministerialdirektor Dr. Richter nur mit der Einschränkung „bis auf weiteres" sowie mit der Bemerkung, sie falle „spätestens" mit dem Zeitpunkt der Emeritierung weg, gewährt worden 76 . Damit war Triepel aus begreiflichen Gründen nicht einverstanden. Er erreichte schließlich die Zusage, daß die Honorargarantie von 16.000 RM erst mit dem Ablauf des Semesters des Ausscheidens oder der Entbindung von den amtlichen Verpflichtungen fortfalle 77 . Damit hatte er die von den Präsidialregierungen zwischen 1930 und 1932 mittels Notverordnungen getroffenen Sparmaßnahmen de facto unterlaufen. Ab Ende 1933 nahm man indes endgültig keine Rücksicht mehr auf wohlerworbene Rechte. In Durchführung des Reichsgesetzes zur Änderung von Vorschriften auf dem Gebiete des allgemeinen Beamten-, des Besoldungsund des Versorgungsrechts vom 30. Juni 193378 wurde der Höchstbetrag der einigen Hochschullehrern zugesicherten besonderen Honorargarantien auf 7.000 R M begrenzt. Verbunden mit einer Kürzung von 22 % und einer Einbehaltung von 2 Vi % blieb Triepel ab Wintersemester 1933/34 nur noch eine Semestergarantie von 2.642,50 R M vor Steuern 79. Ab 1. April 1934 wurden auch die sonstigen Bezüge herabgesetzt sowie die besonders bewilligte jährliche Remuneration von 1.300 R M ganz gestrichen 80, so daß er nun aus der Haupttätigkeit als Ordinarius - bei einem jährlichen Grundgehalt von nunmehr 15.000 RM - vor Steuern lediglich ein Monatseinkommen in Höhe von 1.116,41 R M erhielt 81 . Die Bezüge aus der Nebentätigkeit beim Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht wurden ebenfalls gekürzt 82 .

75 76

Witt, S. 647.

Bescheid des Preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 27. Juli 1927, UAH, Nr. 102, Bl. 25; vgl. auch Triepels Schreiben vom 31. Juli 1931, BA, NL Triepel Bd. 2, Bl. 69. 77 Bescheid des Preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 20. Oktober 1932, BA, NL Triepel Bd. 2, Bl. 67. 78 RGBl. I S. 433. 79 Schreiben des Verwaltungsdirektors der Friedrich-Wilhelms-Universität vom 29. November 1933, BA, NL Triepel Bd. 2, Bl. 72. 80 Schreiben des Kultusministeriums an den Verwaltungsdirektor der Friedrich-Wilhelms-Universität vom 9. Februar 1934, UAH Nr. 102, Bl. 31. 81 Ohne Gehaltskürzung (302,71 RM) und Einbehaltung (36,38 RM) bezog Triepel ein Monatsgehalt in Höhe von 1.455,50 RM (Grundgehalt 1.250 RM, Wohnungsgeldzu-

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4. Ämter in der akademischen Selbstverwaltung In Berlin kam auch Triepels schon in Tübingen und Kiel erprobte Neigung zu organisatorischer Tätigkeit in der akademischen Selbstverwaltung zum Tragen. So war er ab Wintersemester 1916/17 und ab Wintersemester 1928/29 jeweils für zwei Semester Dekan, ab Wintersemester 1930/31 Prodekan der juristischen Fakultät. Darüber hinaus wurde er von seinen Kollegen, unter denen er höchstes Ansehen genoß83, in den Jahren 1918/19 sowie 1923 bis 1925 zum Mitglied des akademischen Senats gewählt 84 . Triepels unbestrittene Autorität in Angelegenheiten der akademischen Verwaltung 85 mag ein wesentlicher Grund für seine Wahl zum Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität für das Amtsjahr 1926/2786 und zum Prorektor im darauffolgenden Jahr gewesen sein. Bei der Wahl zum Rektoramt, das turnusgemäß aus den Reihen der Juristenfakultät zu besetzen war, hatte er sich gegen die Mitbewerber Ernst Heymann und Ulrich Stutz mit großer Mehrheit durchgesetzt87. Das Rektorat, das ihn „in die erste Reihe der Berliner Prominenz" brachte 88, bildete nicht nur für die berufliche Laufbahn Triepels, sondern auch für die Universität selbst einen Höhepunkt89. In weit größerem Umfang als dies seine Vorgänger getan hatten, besuchte er „im Interesse der Universität" gleich in der ersten Woche des Rektorats viele bedeutende staatliche Institutionen. So gab er bei sämtlichen preußischen Ministern, beim Ministerpräsidenten, beim Reichskanzler und mehreren Reichsministern seine Karte ab und schrieb sich beim Reichspräsidenten ein. Als der preußische Ministerpräsident als einziger seine Karte nicht zurücksandte, wandte er sich an den sozialdemokratischen Kultusminister Carl Hermann Becker, weil er nicht glauben wollte, daß „hier

schuß 168 RM, örtlicher Sonderzuschlag 37,50 RM), vgl. Schreiben des Verwaltungsdirektors der Friedrich-Wilhelms-Universität vom 26. Februar 1934, BA, N L Triepel Bd. 2, Bl. 74. Carl Schmitts Grundgehalt von 16.400 RM war damals signifikanterweise das höchste an der Juristenfakultät, vgl. Aktennotiz vom 24. Oktober 1934, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 14, Bl. 311. 82 Witt, S. 648 f. 83 So Mitteis, Grabrede, S. 1, PAG. 84 Vgl. Amtliche Personalverzeichnisse der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Wintersemester 1916/17 bis 1930/31. 85 So Mitteis, Grabrede, S. 1, PAG. 86 Vgl. die Bestätigung der Wahl durch den preußischen Kultusminister, UAH, Nr. 102, Bl. 11. Daß für Triepel diese Wahl höchsten Stellenwert besaß, zeigt ein aufbewahrter Notizzettel, auf dem er sich die Stimmenzahlen der Wahlgänge am 2. August 1926 notierte, PAG. 87

Er erhielt im ersten Wahlgang 60, im zweiten Wahlgang 66 von 79 Stimmen,

PAG. 88 89

Norbert Ebers, Familienchronik, S. 14, PAG. Mitteis, Grabrede, S. 1, PAG.

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eine absichtliche Unterlassung" vorlag 90 . Seiner Bitte um Aufklärung kam Bekker prompt nach und beeilte sich zu versichern, daß die Nichterwiderung von Triepels Besuchskarte „lediglich auf ein Versehen im Büro des Staatsministeriums zurückzuführen" gewesen sei 91 . Als Robert Gragger, Extraordinarius für ungarische Philologie am 10. November 1926 starb, hielt Becker seinem engen Freund 92 die Grabrede. Aus den Dankesworten Triepels für die spätere Zusendung der gedruckten Gedächtnisrede wird eine echte Hochachtung vor Becker sichtbar, die über quasi-dienstliche Höflichkeitsfloskeln hinausgeht. Als er die Rede mit der größten Anteilnahme gelesen habe, sei die Erinnerung an den mündlichen Vortrag in ihm aufgestiegen. Abermals habe er bewundert, „mit wie feiner Einfühlung" Becker das Leben Graggers geschildert habe93. Wiederholt hatte Triepel Gelegenheit, die Universität Berlin bei festlichen Anlässen glanzvoll zu repräsentieren. In die Zeit seines Rektorats fielen auch die Jubiliäen der Universitäten München, Marburg und Tübingen, an denen er teilnahm. Besondere Freude hat es ihm bereitet, „im Gedenken an die vielen glücklichen Jugendjahre" am 25. Juli 192794 im Namen aller deutschen Universitäten eine Grußadresse zur 450-Jahr-Feier der Universität Tübingen in der „altvertrauten Stiftskirche" Tübingen zu sprechen 95. Eine Unterkunft hatte das Ehepaar Triepel bei dem alten Tübinger Freund Max Rümelin, dem damaligen Universitätskanzler, gefunden. Marie Triepel schrieb in ihren Lebenserinnerungen: „Als Auftakt des Festes war abends Beleuchtung der Neckarhalde und der Alleen, etwas ganz besonders Hübsches. Am nächsten Morgen bot der Zug der auswärtigen Rektoren in ihrer Amtstracht ein eindrucksvolles Bild, als diese durch das Städtle zur Kirche zogen96. Voller Dankbarkeit haben die Tübinger den Worten des Rektors gelauscht, der sich noch ganz als zu ihnen gehörig zeigte." 97 Triepel hat sich in der Tat nicht gescheut, aus dem Sachlichen ins Persönliche zu fallen und coram publico zu bekennen „hier vielleicht die entscheidensten, sicher aber die glücklichsten seiner Mannesjahre verbracht" zu haben98. Ferner bezeichnete er die Eberhard-Karls-Universität treffend als die philosophischste unter den deutschen Universitäten, bemerkte aber auch, es gehöre „zur guten Tübinger Überlieferung, dass der Gelehrte hierorts ... mit bei90

Schreiben vom 3. Dezember 1926, GStA PK, I. HA Rep. 92 Nr. 3287 N L Becker. Schreiben vom Dezember 1926 (genaues Datum nicht ersichtlich), GStA PK, I. HA Rep. 92 Nr. 3287 N L Becker. 92 Wende, S. 51, 56. 93 Privatschreiben vom 24. April 1927, GStA PK, I. HA Rep. 92 Nr. 3287 N L Bekker. 94 Diese Datumsangabe verdanke ich Herrn Dr. Helmut Marcon. 95 Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 6, PAG. 96 Eine Fotografie befindet sich im PAG. 97 Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 6, PAG. 98 Redemanuskript, S. 5, UAT 159a/5 (NL Rümelin). 91

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den Füssen fest auf der Erde steht, und dass er Forschung und Lehre in Beziehung setzt zu den lebendigen Kräften in Volk, Staat und Gesellschaft." 99 Insgesamt vermittelt die Grußadresse einen hervorragenden Eindruck sowohl von der rhetorischen Kultur, die damals an den deutschen Universitäten gepflegt wurde, wie auch von dem Talent Triepels als Festredner. Das Rektorat brachte auch die üblichen gesellschaftlichen Verpflichtungen mit sich, denen Triepel dadurch nachkam, daß er die jeweiligen Herren „meist abends im eigenen Hause" empfing 100 . Im übrigen versah er sein Rektorenamt mit bewährter administrativer Umsicht. „Einer seiner Verwaltungsbeamten sagte einmal von ihm: ,Magnifizenz verlangt viel, ist aber immer gerecht, und man arbeitet gern unter ihm. 4 " 1 0 1 Seine organisatorischen Fähigkeiten kamen nicht zuletzt auch den Studierenden zugute. So veranlaßte er beispielsweise, „dass im hinteren Garten der Universität wunderschöne Bänke aufgestellt wurden, auf denen man in den Pausen frühstücken oder sonst seine Mussestunden verbringen konnte." 102 Daß er gerade hierauf besonders stolz war 103 , ist bezeichnend fur Triepels tief empfundene Sorge um das Wohl aller seiner Universitätsbürger. Als er am letzten Tag seiner Amtsführung, dem 15. Oktober 1927, bei der feierlichen Übergabe des Rektorats seinem Nachfolger Eduard Norden nach altem Brauch den Rektormantel um die Schultern legte, prägte er den ebenso berühmten wie eindrucksvollen Satz: „Er ist schwer, aber weil er es ist, kann kein Rektor ihn nach dem Winde hängen." 104 Diese „nicht pathetisch, sondern nüchtern und etwas grimmig" 1 0 5 gesprochene Sentenz enthielt nicht nur ein „Bekenntnis zu Wert und Würde akademischer Tradition und Selbstverwaltung" 106 , sondern war auch ein „seltenes aber richtiges Selbstzeugnis" seiner

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Redemanuskript, S. 3, UAT 159a/5 (NL Rümelin). Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 6, PAG. 101 Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 6, PAG. In seiner Rede zur Rektoratsübergabe vom 15. Oktober 1927 dankte er den Universitätsbeamten und Angestellten für ihre „unverdrossene Arbeitsfreudigkeit" und gab seiner Hoffnung Ausdruck, daß die Bemühungen um die Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage von Erfolg gekrönt werden könnten, Bericht über das Amtsjahr 1926/27, S. 4. 102 Mandelsloh, Geburtstagsrede, S. 5, PAG. 103 Mitteilung Frau Renate v. Gebhardts. 104 Bericht über das Amtsjahr 1926/27, S. 19; vgl. auch Smend, Triepel, S. 119; Bilfingen ZaöRV 1950/51, S. 13; Hollerbach, AöR 91 (1966), S. 419 f.; Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 6 f., PAG; Mitteis, Grabrede, S. 1, PAG; Mandelsloh, Geburtstagsrede, S. 5 f., PAG. Triepels Schwager Hermann Ebers, der Kunstmaler, war bei seiner Rede zugegen und resümierte bewundernd und vielleicht mit ein wenig wehmütigem Neid: „Ein Mann auf der Höhe des Lebens", Norbert Ebers, Familienchronik, S. 14, PAG. 100

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Smend, Triepel, S. 119. Mitteis, Grabrede, S. 1, PAG.

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stets charaktervoll aufrechten Haltung 107 . Dieses Wort hat Asche Graf Mandelsloh, damals Assistent Triepels, bei seiner Laudatio zum 70. Geburtstag Triepels am 17. Februar 1938 108 aufgegriffen und auf seine Weise bestätigt: „Der Geheimrat allerdings, hat seine Mäntel, auch wenn er leichte trug, nie nach dem Winde gedreht, und das macht ihn uns heute noch so besonders verehrungswürdig." 109

5. Literarisches Schaffen In seinem Rektoratsjahr hat Triepel auch die beiden Reden gehalten, die ihn weit über die engerere Fachwelt hinaus bekannt gemacht haben: „Staatsrecht und Politik" 1 1 0 und „Die Staatsverfassung und die politischen Parteien" 111. Besonders die am 3. August 1927 gehaltene Rektoratsrede über die Parteien erregte damals großes Aufsehen und fand starke Verbreitung 112 . Auch Triepels sonstiges literarisches Schaffen gelangte in Berlin zu hoher Blüte. Wie schon zuvor, pflegte er die Monographie, „das formtypologische Signum" seines Werkes, in der großen wie in der kleinen Form 113 . So vollendete er 1917 seine auf jahrzehntelangen Forschungen beruhende „Reichsaufsicht", die nach dem Urteil seines Berliner Fakultätskollegen, Erich Kaufmann (1890-1972) 114 „größte und hervorragendste Monographie zum Bismarckischen Verfassungsrecht" 115. Daß Triepel, wie Alexander Hollerbach vermerkt, die „strenge monographische Kunst meisterhaft und vorbildlich" beherrscht hat 116 , demonstrieren auch die anderen gedankenreichen Arbeiten zu verschiedenen Themen des Staats- und Völkerrechts, die in seiner Berliner Zeit entstanden sind.

107

So zu Recht Smend, Triepel, S. 119. Triepel war sich zwar seiner Bedeutung bewußt, er neigte aber nicht zur selbstgefälligen theatralischen Geste und war durchaus zu Selbstironie fähig. So bemerkte er einmal scherzhaft: „Alle großen Deutschen sind aus Sachsen: Bach, Luther und ich.", Mitteilung Frau Renate v. Gebhardts. 108 Vgl. dazu ausfuhrlich oben 4.; näher zur Ehrung durch die Berliner Juristenfakultät unten 8. a. E. 109 Mandelsloh, Geburtstagsrede, S. 6, PAG. 110 Vgl. näher unten 8. Kap. II. 1., 2. e) und passim. Von dieser Rede zeigte sich etwa Gottfried Traub, der Herausgeber der „Eisemen Blätter", sehr angetan, vgl. das Dankesschreiben Triepels vom 7. März 1927, BA, N L Traub. 1,1 Vgl. näher unten 8. Kap. VI. 1., 2. 112 Eschenburg, Universitätsleben, S. 37. 1,3 Hollerbach, AöR 91 (1966), S. 493. 114 Über ihn Friedrich, Der Staat 1987, S. 231-249; ders., Juristen, S. 693-704; ders., Staatsrechtswissenschaft, S. 348-353 und passim; Zeiger, S. 313-330. 115 E. Kaufmann, DRZ 1947, S. 60. 116 Hollerbach, AöR 91 (1966), S. 493.

Erster Teil: Leben

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6. Schüler und Kollegen Sein bedeutendster Schüler in Berlin (und überhaupt) war Gerhard Leibholz (1901-1982) 117 , wohl der einzige Rechtsgelehrte an einer deutschen Universität der Nachkriegszeit, der sich seinem engsten Schülerkreis zugehörig fühlen durfte 118 . 1925 vollendete Leibholz seine berühmte Dissertation über „Die Gleichheit vor dem Gesetz" 119 , die Triepel angeregt hatte 120 . Schon 1928 folgte - ebenfalls unter der Ägide Triepels 121 - die Habilitation. Die Habilitationsschrift trägt den Titel „Das Wesen der Repräsentation unter besonderer Berücksichtigung des Repräsentativsystems" und entstand als Frucht einer von 1926 bis 1929 währenden Tätigkeit am Kaiser-Wilhelm-Institut fur ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 122 . Leibholz hat für seinen Lehrer stets tiefe Dankbarkeit empfunden. Einmal bezeichnet er Triepel sogar als seinen „älteren Freund" 123 . Als weiterer Schüler Triepels hat Albert Hensel (1895-1933) 124 zu gelten. Er promovierte 1920 mit einer von Triepel betreuten Arbeit über „Staatshoheit und Finanzhoheit im Bundesstaat". In seinem Lebenslauf schrieb Hensel dazu: „Als Hauptarbeitsgebiet wählte ich das öffentliche Recht, teils weil ich gerade hier durch Professor Triepel besonders starke Anregungen empfing, teils weil ich durch meine Tätigkeit an der Reichsbank auf finanzrechtliche Fragen dauernd hingewiesen wurde." 125 In seiner Habilitationsschrift befaßte sich Hensel ebenfalls mit einem finanzverfassungsrechtlichen Thema („Der Finanzausgleich im Bundesstaat in seiner staatsrechtlichen Bedeutung"). Die 1921/22 in Bonn entstandene Arbeit - dorthin hatte ihn Erich Kaufmann als Fakultätsassistent geholt - ist denn auch seinem Lehrer Triepel gewidmet, der ihn im übrigen auch darin bestärkt hatte, die akademische Laufbahn einzuschlagen126. Hensels Schriften behandeln vielfach Themen, die - wie etwa der Gleichheitssatz - Triepel ebenfalls am Herzen lagen 127 , und zeugen damit von dessen prä117 Über ihn Wiegandt (1995); vgl. auch Η H Klein, S. 528-547; Link, S. 117-119; Sirohm, S. 54-86. 118 Leibholz, DeuV 1949, S. 142; Smend, Triepel, S. 120. Gerhard Leibholz wurde schon früh als Triepels Schüler angesehen, vgl. etwa Holstein, AöR 50 (1926), S. 17. 119 Link, S. \ \l\Strohm , S. 57. 120 Wiegandt, S. 20, 100. Zweitgutachter war Viktor Bruns, vgl. ebd., S. 22. 121 Zweitberichterstatter war Rudolf Smend, vgl. Wiegandt, S. 14 Fn. 46. 122 Strohm, S. 58; Leibholz-Bonhoejfer, S. 81. 123 Leibholz, Einleitung, S. XII. 124 Über ihn Kirchhof, S. 781-791; Kruse, StuW 1995, S. 80-86. 125 Kirchhof S. 783; vgl. auch Kruse, StuW 1995, S. 81. 126 Hensel, Finanzausgleich, o. S.; vgl. auch Kirchhof, S. 784; Kruse, StuW 1995, S.

81.

127

Etwa die Bindungen des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz, vgl. nur Hensel, VjschrStUFR 1930, S. 441 ff.

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gendem Einfluß. Grundelemente von Triepels materialem Rechtstaatsdenken und seiner Methode der „publizistischen Wertungsjurisprudenz" sind in fast allen Veröffentlichungen dieses Protagonisten eines rechtsstaatlich gebundenen Steuerrechts erkennbar 128. Dies läßt sich bei Ulrich Scheuner (1903-1981) 129 nicht mit solcher Deutlichkeit feststellen. Scheuner kann deshalb kaum mit vollem Recht als Schüler Triepels im engeren Sinne bezeichnet werden, obwohl er unter ihm und Wilhelm Kahl mit einer Arbeit über die Regierung habilitiert wurde 130 . Andererseits steht außer Frage, daß Scheuner - gerade weil Triepel und Smend ihn als Lehrer prägten - eine wichtige Brückenfunktion zwischen Weimarer und Bonner Staatsrechtslehre ausfüllen konnte, und zwar sowohl in inhaltlicher wie auch in methodischer Hinsicht 131 . Abgesehen vom Grafen Mandelsloh und Viktor Bruns (1884-1943), der schon in Tübingen bei ihm gehört hatte 132 , waren sonst keine weiteren Schüler Triepels zu ermitteln. Von seinen Kollegen am nächsten stand ihm wohl Erich Kaufmann, dessen staatsrechtliches Denken ebenfalls von Albert Hänel nicht unerheblich beeinflußt worden war 133 . Triepel war sich mit ihm in der Ablehnung des Positivismus Labandscher Prägung einig 134 . Er soll Kaufmann „als Gegenstück zu Anschütz" charakterisiert haben135. Umgekehrt hat Kaufmann seinerseits Triepel sehr geschätzt und ihn auch im engeren Kreis „häufig mit großer Hochachtung" zitiert 136 . In ihren partei- und gesellschaftspolitischen Anschauungen standen sich die beiden ebenfalls sehr nahe. Triepel soll Kaufmann einmal als 128

Vgl. zu Hensels „Wertetheorie" unten 8. Kap. II. 2. e). Über ihn Häberle, ZevKR 1981, S. 105-129. 130 Kaiser, AöR 108 (1983), S. 5, 11. Michael Stolleis III, S. 278 Fn. 207, zufolge hat er sich nicht bei Wilhelm Kahl, sondern bei Rudolf Smend habilitiert; ebenso Ehmke, Scheuner, S. 12. 131 Häberle, ZevKR 1981, S. 117. 132 Triepel, ZaöRV 1942, S. 324d, hat es in seinem Nachruf sehr bedauert, daß ihm mit Bruns, der ihm „seit dessen Jugendzeit vertraut" gewesen sei, ein hochbegabter und anhänglicher Schüler im Tode" vorangegangen sei; vgl. auch Stolleis III, S. 63. 133 E. Kaufmann, Vorwort zu den „Gesammelten Schriften", S. XIII; vgl. auch die Widmung „an den verehrten Lehrer Albert Haenel den Meister unserer Wissenschaft den Vorkämpfer fur deutsche Einheit und Freiheit" in der 1919 erschienenen Schrift „Grundfragen der künftigen Reichsverfassung". 129

134 Mitteilung von Karl Josef Partsch; hierzu auch Friedrich, Der Staat 1987, S. 240 f., 248 m. w. N.; ders., Staatsrechtswissenschaft, S. 278 f.; vgl. zu Erich Kaufmanns Einfluß auf Triepel unten 8. Kap. II. 2. e). 135 Undatiertes Schriftstück, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 11, Bl. 71. 136 Schriftliche Mitteilung von Herrn Dr. Erich Pankok, eines Neffen Erich Kaufmanns.

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Erster Teil: Leben

politisch „etwas freikonservativ" bezeichnet haben137. Sie haben auch punktuell eng zusammengearbeitet, so etwa, als es darum ging, den Verfassungsentwurf des Vereins „Recht und Wirtschaft" zu erstellen 138.

7. Politisch-publizistisches

Ränkespiel

Sein Geistesverwandter Erich Kaufmann war es auch, der Anfang 1919 zusammen mit Triepel in einer an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung gerichteten Eingabe der am 17. Dezember 1918 gegründeten pazifistischen „Deutschen Liga für Völkerbund" angegriffen wurde, um die Berufung von Walther Schücking, der zu dieser Zeit in Marburg lehrte, nach Berlin zu fordern 139 . Zur „wissenschaftlichen" Begründung für eine Berufung Schückings, des stellvertretenden Vorsitzenden der Liga 1 4 0 , wird dort unter Anführung inkorrekter Zitate aus Triepels und Kaufmanns jüngeren völkerrechtlichen Schriften ausgeführt: „Diese Persönlichkeiten erscheinen ... bei aller Hochachtung vor ihren wissenschaftlichen Qualitäten durchaus nicht geeignet, für sich allein die akademische Jugend Berlins in den Geist eines neuen Zeitalters der Völkerbeziehungen einzuführen; zum mindesten bedürften sie einer Ergänzung durch einen so absolut anders gerichteten Geist, wie es Schücking ist." 141 Besondere Brisanz erhielt die Eingabe dadurch, daß sie von dem Zentrumspolitiker und damaligen Staatssekretär Matthias Erzberger in seiner Funktion als erster Vorsitzender der „Deutschen Liga für Völkerbund" unterzeichnet worden war. Gegen den Vorwurf „den Geist der Zeit und das wahre Interesse Deutschlands" nicht genügend begriffen zu haben 142 , verwahrte sich Triepel in einem Brief an Erzberger, der inzwischen zum Reichsminister avanciert war, mit aller Entschiedenheit. Er führte dort aus: „Ich enthalte mich einer Aeusserung dar137 Undatiertes Schriftstück, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 11, Bl. 71. 138 Vgl. unten II. 1. a). 139 Schreiben vom 21. Januar 1919, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 11, Bl. 205-213. Dem Biographen Schückings war die im folgenden geschilderte Affare nur einen Satz wert: „Es war nach 1918 nicht möglich gewesen, ihm eine seinen Vorstellungen entsprechende Professur an der Berliner Universität zu verschaffen.", Akker, S. 200. m Acker, S. 149 m. N. 141 Schreiben der „Deutschen Liga für Völkerbund" an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 21. Januar 1919, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 11, Bl. 210. 142 Schreiben der „Deutschen Liga für Völkerbund" an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 21. Januar 1919, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 11, Bl. 209.

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über, ob es geboten war, die wissenschaftlichen Verdienste des Marburger Gelehrten dadurch in helleres Licht zu stellen, dass über zwei Berliner Rechtslehrer ein Urteil abgegeben wurde, das bestimmt und geeignet war, sie in den Augen ihrer vorgesetzten Behörde herabzusetzen. Wohl aber empfinde ich es als ein Gebot der Selbstachtung, Euere Excellenz mit allem Nachdrucke darauf hinzuweisen, daß die Angaben, die die Denkschrift über die literarischen Arbeiten dieser Rechtslehrer enthält, zum grössten Teile der Wahrheit ins Gesicht schlagen."143 Triepels Bitte um Richtigstellung kam Erzberger nur teilweise nach: Er ließ durch einen nur vermeintlich „völlig unbeteiligten Herrn", nämlich den pazifistisch gesinnten Völkerrechtler Hans Wehberg, ein Gutachten erstellen 144 . Wehberg gelangte zu dem Ergebnis, daß die Behauptungen der Eingabe, soweit sie die Lehren von Kaufmann und Triepel kritisiert, „in ihren Einzelheiten nicht aufrecht erhalten werden können. Dagegen sind die Grundauffassungen der beiden Autoren durchaus richtig wiedergegeben." 145 Daraufhin wandte sich Triepel an den Unterstaatssekretär des Kultusministeriums und erklärte, auch in Wehbergs Gutachten sei „nicht eine wahre Behauptung enthalten"; insbesondere habe er in seiner Schrift „Die Freiheit der Meere und der zukünftige Friedensschluß" nicht fur Annexionen plädiert, sondern sei lediglich fur die Gewinnung von Flottenstützpunkten eingetreten, was im übrgen auch die Partei Erzbergers immer verlangt habe 146 . Gleichzeitig gab Triepel in einem Schreiben an Reichsminister Erzberger seinem Erstaunen darüber Ausdruck, daß dieser sich, nachdem die Geschäftstelle der Liga „formale Unkorrektheiten" eingeräumt hatte, trotz eigenhändiger Unterzeichnung der Eingabe nicht zu einem „Wort des eigenen Bedauerns" verstanden habe 147 . Nur zwei Tage später schrieb Erzberger handschriftlich zurück: „Die Deutsche Liga fur Völkerbund hat keine Veranlassung, formale Unkorrektheiten ihrer Geschäftsstelle ihrerseits aufrecht zu erhalten, und schließt sich dem Bedauern, das die Geschäftsstelle erklärt hat, an." 148 Konrad Haenisch, der sozialdemokratische Kultusminister, hat schließlich Anfang Juni 1919 die für Triepel wenig erfreuliche Angelegenheit mit einem 143 Brief an Mathias Erzberger vom 29. März 1919, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 11, Bl. 223 f. 144 Schreiben an das Ministerium für Wissenschaft und Volksbildung vom 22. April 1919 mit Gutachten Hans Wehbergs vom 17. April 1919, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 11, Bl. 241-247. 145 Gutachten Hans Wehbergs vom 17. April 1919, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 11, Bl. 247. 146 Schreiben vom 27. April 1919, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 11, Bl. 253 f. 147 Schreiben vom 27. April 1919, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 11, Bl. 255 f. 148 Schreiben vom 29. April 1919, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 11, Bl. 265.

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Erster Teil: Leben

Schreiben an Erzberger beendet, wobei er sich auf das formale Argument zurückzog, daß „ein wissenschaftliches Bedürfnis für eine Vermehrung der Berliner publizistischen Lehrstühle z. Zt.'nicht" vorliege 149 . Zuvor hatte die zur Stellungnahme aufgeforderte Fakultät unter dem 16. April 1919 gegenüber dem Ministerium geäußert, sie lehne es ab, „Wissenschaft und Lehre zu einem bloßen Mittel für begrenzte Bestrebungen von Partei- und Vereinspolitik zu machen." 150 Außerdem würden von 15 Öffentlichrechtlern an der Berliner Universität sämtliche existierenden Richtungen der wissenschaftlichen Forschung und Lehre erschöpfend vertreten 151. Ein weiterer Versuch, Walther Schücking die erstrebte Professur zu verschaffen, scheiterte im Jahre 1920 trotz der Fürsprache von Sozialdemokratie und linksliberaler Presse 152. Auch später, als es Ersatzbedarf gab, wurde der Berufung Schückings von Seiten der Fakultät widerraten, und zwar „sowohl im Interesse der Fakultät und der Studentenschaft, wie des Ministeriums selbst" 153 . Die Fakultät sah, was sicher nicht ganz unrealistisch war, „unzweifelhaft schwere Zusammenstöße zwischen Schücking und den durchweg völkisch gesinnten Studenten voraus." 154 Auseinandersetzungen gab es auch um den sozialdemokratischen Staatsrechtslehrer Hermann Heller (1891-1933) 155 . Trotz des entschiedenen Widerstands der Fakultät hatte ihn der Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung 1928 zum Extraordinarius für öffentliches Recht berufen 156 - eine politische Ernennung 157. Mitte 1931 hat sich die Fakultät auch gegen die vom Ministerium geplante Ernennung Hellers zum „persönlichen Ordinarius" ausgesprochen 158. Sie begründete dies mit dessen Versagen in der wissenschaftlichen 149 Schreiben vom 3. Juni 1919, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 11, Bl. 263. 150 Schreiben vom 16. April 1919, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. I V Nr. 45 Bd. 11, Bl. 240. 151 Schreiben vom 16. April 1919, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. I V Nr. 45 Bd. 11, Bl. 239. 152 Näher Acker, S. 125 m. w. N. 153 Ministerielle Aktennotiz von 1922, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 12, Bl. 69. 154 Ministerielle Aktennotiz von 1922, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 12, Bl. 69. 155 Über ihn Chr. Müller, S. 767-780. 156 Chr. Müller, S. 770. 157 Schreiben der juristischen Fakultät an den Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 13. Juli 1931, GStA PK, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 13, Bl. 323; vgl. auch Smend, Juristenfakultät, S. 124. 158 Schreiben der juristischen Fakultät an den Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 13. Juli 1931, GStA PK, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 13, Bl. 315-323.

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Arbeit, insbesondere beim Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, und dem hiermit einhergehenden Hervortreten der „Schattenseiten seiner Persönlichkeit" 159 . Ferner sei „von einer Reihe ernster und glaubwürdiger Studenten darüber geklagt worden, dass Heller seinem politischen Agitationsdrange in der Vorlesung in peinlicher Weise die Zügel schiessen lasse", was schon zu sehr unangenehmen Angriffen in der Presse geführt habe 160 . Dieser Sachverhalt verdeutlicht ebenfalls, wie selbstverständlich es zu dem Szenario politischen Ränkespiels in der Reichshauptstadt gehört hat, daß sich Interessengruppen nicht selten auch der Tagespublizistik bedienten, um Einfluß auf die Juristenfakultät zu nehmen 161 . So wurde auch Triepel einmal in der Glosse „Der grüne Tisch" der sozialdemokratischen Berliner Morgenpost wegen seines unter dem 9. Mai 1919 erstatteten Rechtsgutachtens über das „Recht auf den Bezug der preußischen Kronfideikommiß-Rente" angegriffen. Dort hatte er unter Zugrundelegung des Legitimitätsprinzips ausgeführt, die preußische Monarchie habe sich noch nicht in eine Republik umgewandelt, weil der Novemberrevolution als solcher zunächst nur tatsächliche, nicht aber rechtliche Bedeutung zukomme 162 . Der insoweit entscheidende „Vorgang, den man als Legitimation einer illegitimen Staatsgewalt" bezeichne163, sei aber noch nicht vollendet 164 . Die „endgültige Heilung des durch die Revolution verübten Rechtsbruchs" werde „frühestens mit dem Inkrafttreten des von der Landesversammlung zu beschließenden ... Verfassungsgesetzes eintreten können." 165 Da die endgültige preußische Verfassung erst am 30. November 1920 erlassen wurde und am 30. Dezember 1920 in Kraft trat, zog der Journalist der Berliner Morgenpost aus diesen Ausführungen den Schluß, Triepel vertrete die Ansicht, Preußen sei bis zum 29. Dezember 1920 eine Monarchie gewesen: „Eine Republik, die solche Rechtslehrer ungeschoren läßt, verdient, daß sie so verhöhnt wird." 1 6 6 Diese Tonlage war alles andere als untypisch. So veranlaßte die geplante Berufung Erich Kaufmanns nach Berlin die Frankfurter Zeitung zu der 159 Schreiben der juristischen Fakultät an den Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 13. Juli 1931, GStA PK, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 13, BL 316. 160 Schreiben der juristischen Fakultät an den Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 13. Juli 1931, GStA PK, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 13, Bl. 323. 161 Die Besetzung von Lehrstühlen für Öffentliches Recht ging freilich auch anderenorts nicht ohne publizistische Begleitmusik ab, vgl. etwa zum 1930 ergangenen Ruf Hans Kelsens nach Köln Rüthers, S. 63 f. m. N. 162 Kronfideikommiß-Rente, S. 3. 163 Vgl. hierzu auch Interregnum, S. 12; Unitarismus, S. 27. 164 Kronfideikommiß-Rente, S. 4. 165 Kronfideikommiß-Rente, S. 5. 166 Ν. N., Berliner Morgenpost Nr. 87 vom 12. April 1922; ebenso Freymuth, Sozialistische Monatshefte 1922, S. 284 f.

7 Gassner

Erster Teil: Leben

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Frage: „Noch ein rechtsstehender Dozent für öffentliches Recht in Berlin?" 167 Auch das Berliner Tageblatt hielt es für unerträglich, „daß die Studenten an der größten Universität das Staatsrecht der Republik nur bei deutschnationalen Lehrern hören können." 168

8. Vorzeitiger

Abschied vom Lehramt

Mit Beginn des „Dritten Reiches" erreichten die politisch motivierten Eingriffe in den Lehrbetrieb eine neue Qualität. So wurde Martin Wolff (1872— 1953) 169 , eine „Lehrerpersönlichkeit von einzigartiger Leuchtkraft in der Fakultät" 170 Opfer studentischer Pöbeleien171. Am 4. Mai 1933 hatte er nach der Vorlesung einen antisemitischen Sprechchor („Wir wollen deutsche Professoren! Juden raus!") zu erdulden. Später wurde es ihm aufgrund der Störungen unmöglich gemacht, seine Vorlesungen abzuhalten, weshalb er beim Rektor um Schutz nachsuchen mußte 172 . Diejenigen Studenten, die es dennoch wagten, seine Lehrveranstaltungen zu besuchen, mußten damit rechnen, von Fotografen, die auf dem Podium postiert waren, aufgenommen zu werden 173 . Allem Terror und allen Drohungen zum Trotz versuchte der unerschrockene Martin Wolff, seinen Lehrverpflichtungen weiter nachzukommen, bis er schließlich 1935 von Horden in braunen Hemden und schwarzen Uniformen mit Gebrüll aus dem Hörsaal vertrieben wurde 174 . Generell herrschte an der Fakultät ein bedrückendes Klima der Bespitzelung, das die örtlichen Parteigrößen naturgemäß zu fördern trachteten. So wurde etwa der Strafrechtler Eduard Kohlrausch von der NSDAP-Gauleitung Groß-Berlin mit Schreiben vom 10. Januar 1934 aufgrund einer denunziatorischen „Mitteilung" scharf angegriffen. Ihm wurde zur Last gelegt, Ende Februar 1933 (!) in einer Vorlesung über Strafrecht unter großem Beifall der jüdi167

Ν. N., Frankfurter Zeitung Nr. 683 vom 14. September 1927. Ν. N., Berliner Tageblatt Nr. 90 vom 22. Februar 1928. 169 Über ihn Raiser , AcP 1972, S. 489-497; vgl. auch D. Medicus, S. 543-553. 170 Smend, Juristenfakultät, S. 118. 171 Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund (NSDStB) besaß unter den Berliner Studenten eine große Anhängerschaft. Bei den AStA-Wahlen im Januar 1932 erreichte der NSDStB nach einer Rede Hitlers vor 6.000 Studenten bei einer Wahlbeteiligung von 52 % einen Stimmenanteil in Höhe von 64,43 %, vgl. Jahnke, S. 555; Hoffmann/Schlicker, S. 515. 168

172

Schreiben vom 5. Mai 1933, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 14, Bl. 28; vgl. hierzu auch die bei Schottlaender, S. 33, zitierten Presseberichte sowie den Bericht seines Schülers Anselm Glücksmann, ebd., S. 64 f. 173 Ebel, S. 137; Hoffmann/Schlicker, S. 518. 174 Schottlaender, S. 65; Göppingen S. 195 f.; Raiser, AcP 172 (1972), S. 490; D. Medicus, S. 547.

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sehen Hörer geäußert zu haben: „Der Liberalismus wird wiederkommen und muß wiederkommen." 175 Die Entwicklung kulminierte in der staatlich organisierten Vertreibung von Hochschullehrern jüdischer Abstammung und „reaktionärer" Gesinnung, die in der Folge durch politisch und „rassisch" genehmere Professoren ersetzt wurden 176 . Von Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft an wurde die Berliner Juristenfakultät - allerdings zuweilen mehr volens als nolens - „gesäubert". Auch in Berlin entsprach die Begeisterung der Studenten vor 1933 der bereitwilligen Unterstüzung der Professoren nach der Machtübergabe 177. So trat etwa Wenzel Graf v. Gleispach mit Zustimmung der Fakultät die Nachfolge des unter Anwendung von § 5 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 178 aus rassischen Gründen entpflichteten 179 Zivilund Strafprozeßrechtler James Goldschmidt (1874-1940) 180 an 181 . Ebenfalls aus rassischen Gründen haben die neuen Machthaber vor allem in den Jahren 1933 und 1934 aufgrund von § 3 („Beamte nichtarischer Abstammung") und § 6 („zur Vereinfachung der Verwaltung") des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums im Lehrkörper der Juristenfakultät einschneidende Veränderungen durchgesetzt: Arthur Nußbaum (1877—1964)182 wurde in den Ruhestand versetzt (Ministerialerlaß vom 14. September 1933), Julius Flechtheim (1876-1940) 183 , Erich Kaufmann und Max Rheinstein (1899-1977) 184 wurde die Lehrbefugnis, den Rechtsanwälten und Honorarprofessoren Julius Magnus

175 GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 14, Bl. 131. Vgl. hierzu die erbetene, zwischen Furcht und Anpassung schwankende Gegenäußerung Eduard Kohlrauschs vom 14. Januar 1934 (Schreiben an Staatsrat Görlitzer, den stellvertretenden Gauleiter der NSDAP Berlin), GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 14, Bl. 132. 176 Vgl. generell hierzu Ebel, S. 127-138; Göppingen S. 183-218; vgl. auch die Übersichten bei Schottlaender, S. 100 f., 123-131 (verfolgte Berliner Wissenschaftler jüdischer Abstammung [einschl. der jüdisch Verheirateten]), und Göppingen S. 206 f., sowie Limperg, S. 50 f. (vertriebene Mitglieder der Berliner Juristenfakultät). 177 So die generelle Diagnose von Rüthers, S. 25. 178 RGBl. I S. 175; näher zu diesem Gesetz Limperg, S. 44-47; Rüthers, S. 61 f. 179 Die Entpflichtung erfolgte Ende September 1934 nach vorübergehender Versetzung an die Universität Frankfurt a. M. mit Wirkung ab 1. Januar 1936 (Ministerialerlaß vom 12. Juli 1934), vgl. Chronik der Friedrich-Wilhelms-Universität 1932/35, S. 9, 43; näher Sellert, S. 596. 180 Über ihn Sellert, S. 595-613. 181 Schreiben der juristischen Fakultät an den Preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 21. September 1934, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 14, Bl. 259; s. auch Chronik der Friedrich-Wilhelms-Universität 1932/35, S. 18. 182 Über ihn Stiefel/Mecklenburg, S. 62-64. 183 Über ihn A. Heymann (1990); vgl. zum Entzug der Lehrbefugnis ebd., S. 30. 184 Über ihn Stiefel/Mecklenburg, S. 65 f.

7*

100

Erster Teil: Leben

(1857—1944)185 und Max Alsberg (1877-1933) 186 der Lehrauftrag entzogen (Ministerialerlasse vom 4. September 1933, 7. Februar 1934, 28. März 1934 und 5. September 1933) 187 . Julius Magnus, der verdienstvolle Mitherausgeber der Juristischen Wochenschrift 188 , wurde Anfang 1944 in das KZ Theresienstadt eingeliefert, wo er am 15. Mai 1944 den Hungertod erlitt 189 . Max Alsberg, der berühmteste Strafverteidiger der Weimarer Zeit 190 , kam seiner Entbindung vom Lehrauftrag durch Selbstmord im Exil zuvor 191 . Naturgemäß war auch und gerade das Staatsrecht von „Säuberung" und Gleichschaltung betroffen. So wurde etwa mit Ministerialerlaß vom 9. November 1933 Carl Schmitt 192 (1888-1985) 193 berufen, dessen faszinierende Persönlichkeit zahlreiche Studenten sofort in ihren Bann schlug 194 . Einen ebenso lebendigen wie aufschlußreichen Einblick in das fakultätsinterne Geschehen vermittelt der Brief eines Jurastudenten an Walter Jellinek vom 21. Dezember 1933: „Dies Semester steht bei mir ziemlich unter dem Zeichen von Carl Schmitts Staatsrecht, ich bin in sein zwanzigköpfiges Seminar aufgenommen, und ausserdem bin ich in einer Facharbeitsgemeinschaft, in der ich im Januar auch ein Referat zu halten habe, die von einem begeisterten Schmitt-Jünger geleitet wird. Ich werde also ziemlich mit Carl Schmitt angefüllt, der nach seiner Berliner Berufung Smend, der dieses Semester nicht liest (man hört allerdings noch viel so etwas von Integration' bei jeder Gelegenheit durch die Räume schwirren) anscheinend ganz an die Wand gedrängt hat. Auch Triepel hat sich sehr aus der Gegenwart zurückgezogen, er verteidigt in seiner Völkerrechtsvorlesung mit viel Schwung seine im Jahre 1899 aufgestellte Lehre vom Dualismus von Völker- und Landesrecht." 195 Die Fakultät konnte in der Folgezeit zwar teilweise noch ihren hohen wissenschaftlichen Standard halten, mit zunehmender „Säuberung" war dies aber immer weniger gewährleistet. So stand die Berliner Juristenfakultät nicht an, 185

Über ihn Jungfer, NJW 1991, S. 2748-2753; ders., S. 517-530. Über ihn Krach, S. 655-665. 187 Chronik der Friedrich-Wilhelms-Universität 1932/35, S. 35, 38 f. 188 Jungfer, NJW 1991, S. 2749 f.; ders., S. 518-521. 189 Göppinger, NDB 15, S. 675; Jungfer, NJW 1991, S. 2753, ders., S. 529. 190 Krach, S. 663. 191 Gumbel, S. 7; Schottlaender, S. 123; Äsen, S. 3; Krach, S. 662. 192 Chronik der Friedrich-Wilhelms-Universität 1932/35, S. 13; Koenen, S. 449-451. 193 Über ihn Bendersky (1983); Noack (1993); Koenen (1995). 194 Auch im Hause Triepel bildete Carl Schmitt häufig das Gesprächsthema, wenn, wie dies oft der Fall war, Kollegen zu Gast waren, Mitteilung Frau Renate v. Gebhardts. Nach dem höchst spärlichen Briefwechsel (vier Schriftsstücke) in Carl Schmitts Nachlaß (NrwHstA) zu urteilen, stand Triepel mit ihm weder vor noch nach 1933 in engerer Verbindung. 186

195

Brief E. v. Lauensteins an W. Jellinek, BA, NL W. Jellinek Bd. 22.

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101

Herbert Lemmel fur die „rassische Grundlage des Rechts" 196 zu habilitieren, während ein Großteil des wissenschaftlichen Nachwuchses durch die Folgen von nationalsozialistischer Gleichschaltung, Terror und Krieg aus der Kontinuität einer akademischen Laufbahn gerissen wurde. Das Resümee Rudolf Smends, der 1935 wegen seines dauernden Eintretens für seine jüdischen Schüler nach Göttingen zwangsversetzt wurde 197 , war mithin nur allzu berechtigt: „Das war nicht mehr die Fakultät Savignys." 198 Am 11. März 1935 erhielt Triepel vom Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung die Mitteilung, er sei kraft Gesetzes199 wegen „Erreichung der Altersgrenze" 200 mit Ende März 1935 von den amtlichen Verpflichtungen entbunden201. Damit mußte er auch aus dem Justizprüfungsamt beim Kammergericht ausscheiden202. 1933 hatte sich der damals 65jährige, wohl nicht zuletzt aufgrund anfangs gehegter Illusionen über Charakter und Legitimität des neuen Regimes 203 , trotz Erreichens der Altersgrenze noch nicht dazu verstanden, ein Emeritierungsgesuch zu stellen. Im Gegenteil: Er zeigte sich recht „befremdet" 204 über Gerhard 196

As en, S. 114. Die Habilitation erfolgte am 20. Februar 1940. Heiber I, S.231. 198 Smend, Juristenfakultät, S. 126. 199 Gesetz über die Entpflichtung und Versetzung von Hochschullehrern aus Anlaß des Neuaufbaus des deutschen Hochschulwesens vom 21. Januar 1935 (RGBl. I S. 23); vgl. hierzu nur Limperg, S. 47. 200 Schreiben des Reichs- und Preußischen Ministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an den Ministerpräsidenten vom 20. Juni 1935 mit Anlage, GStA PK, I. HA Rep. 90 Nr. 1170, Bl. 219 f. Zusammen mit Triepel wurden auch andere Berliner Professoren, wie etwa sein Amtsnachfolger im Rektoramt Eduard Norden sowie der Historiker Hermann Oncken, entpflichtet, GStA PK, I. HA Rep. 90 Nr. 1170, Bl. 220; vgl. auch Chronik der Friedrich-Wilhelms-Universität 1932/35, S. 9 f.; Heiber II/2, S. 432. 201 BA, N L Triepel Bd. 2, Bl. 78; UAH, Nr. 102, Bl. 33. Mit Schreiben des Verwaltungsdirektors der Friedrich-Wilhelms-Universität vom 1. August 1935 erhielt er „ I m Namen des Reichs" die vom „Führer und Reichskanzler" Adolf Hitler in Berchtesgaden am 23. Juli 1935 unterzeichnete Entpflichtungsurkunde, in der ihm für seine „erfolgreiche akademische Wirksamkeit und die dem Reich geleisteten treuen Dienste" Anerkennung und Dank ausgesprochen wurde, BA, N L Triepel Bd. 2, Bl. 82 f.; s. auch die Abschrift, UAH, Nr. 102, Bl. 36. 197

202 Schreiben des Rektors der Friedrich-Wilhelms-Universität vom 25. Februar 1935, BA, N L Triepel Bd. 2, Bl. 77. Triepel war mit Wirkung vom 1. Januar 1934 zum Mitglied des wieder auf drei Jahre gebildeten Prüfungsamts bestellt worden, vgl. ebd., Bl. 73, 75 f. 203 Vgl. unten III. 3. und 8. Kap. VI. 2. a. E. 204 Richard Thoma zufolge hat er dies Gerhard Anschütz sogar persönlich mitgeteilt, vgl. Brief von Thoma an Anschütz vom 22. Oktober 1933, zit. nach Pauly, Leben, S. XLII. Anschütz hat am Rand dieses Briefs angemerkt: „Triepel tut sich leicht. Er hat immer viel weiter rechts gestanden als ich; es mag ihm leichter fallen, das neuste Staatsrecht zu dozieren als mir", ebd., S. X L I I Fn. 150.

102

Erster Teil: Leben

Anschütz, der diesen Schritt am 31. März 1933 aus fehlender „innerlicher Verbundenheit" mit dem neuen Staatsrecht vollzogen hatte 205 . Mit seiner aufrechten Haltung stand Anschütz unter den deutschen Staatsrechtslehrern allein auf weiter Flur. Selbst überzeugte Demokraten, wie etwa Richard Thoma, kritisierten die Entscheidung von Anschütz und deren Begründung wegen ihrer „unbedachten Rücksichtslosigkeit gegenüber jüngeren (zum Teil noch nicht einmal ruhegehaltsberechtigten) Kollegen" 206 . Ob Triepel auch deshalb von einem solchen Schritt Abstand nahm, um Kollegen nicht - wie Anschütz - indirekt unter Druck zu setzen, mag dahinstehen. Gebot der Stunde war jedenfalls für Thoma, ebenso wie für die meisten gemäßigten Staatsrechtslehrer, ein pragmatisches Arrangement mit den neuen Machthabern. Andere verhielten sich wesentlich opportunistischer und wurden, wenn nicht Mitglied der NSDAP 2 0 7 , so doch wenigstens der Akademie für Deutsches Recht 208 . Solche Anbiederungsversuche kamen für Triepel nicht in Betracht: Zum einen hatte er seine akademische Karriere bereits hinter sich, zum anderen wäre ein irgendwie geartetes opportunistisches Verhalten aber auch mit seinem persönlichen und wissenschaftlichen Ethos schwerlich in Einklang gestanden209. Demnach läßt sich die von Triepel zunächst eingenommene Haltung als eher pragmatisch kennzeichnen. Mit der Zeit mußte er allerdings erkennen, daß der verbrecherische Charakter des NS-Regimes immer deutlicher zutage trat und sich die Gleichschaltungspolitik auch auf seine persönlichen Verhältnisse immer stärker auszuwirken begann. Schon 1934 hatte sich die Regierung allen Vorstellungen aus der Mitte der Fakultät auf Hinausschieben der Altersgrenze Triepels widersetzt. Als Grund hierfür gab man seine Jüdische Versippung" 210 und das mehrfache Eintreten für jüdische Schüler und Kollegen an 211 . So hatte er im April 1933 zugunsten seines damals in Göttingen lehrenden Schülers Gerhard Leibholz

205 206

Anschütz, Leben, S. 329. Brief von Thoma an Anschütz vom 22. Oktober 1933, zit. nach Pauly, Leben, S.

XLII. 207 Der prominenteste Staatsrechtslehrer unter den sog. Märzgefallenen war Carl Schmitt, der am 1. Mai 1933 der NSDAP beitrat, vgl. Koenen, S. 351 f. 208 Vgl. Mitgliederverzeichnis der Akademie für Deutsches Recht, abgedruckt bei Pichinot, S. 156-167; vgl. auch unten III. 3. 209 Vgl. auch unten III. 3. a. E. 2.0 Am 1. April 1935 gab die Leitung der Friedrich-Wilhelms-Universität im Stil einer Erfolgsmeldung bekannt, man habe von 1933 bis zum genannten Termin 234 „nichtarische oder jüdisch versippte" Professoren und Dozenten entlassen, ihre Stellen gestrichen oder ihnen die Lehrbefügnis entzogen, vgl. Die Humboldt-Universität GesternHeute-Morgen, S. 111. 2.1

So Triepel in einem Schreiben an den Universitätskurator vom 28. Dezember 1945, UAH, Nr. 102, Bl. 45, und im Personalfragebogen der Stadt Berlin vom 14. Januar 1946, ebd., Bl. 54; Brief an Hertha v. Gebhardt vom 23. Januar 1946, PAG.

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beim preußischen Wissenschaftsminister interveniert 212. Auch die von ihm mitunterzeichnete Eingabe der Historischen Reichskommission zugunsten eines jüdischen Extraordinarius mag die nationalsozialistischen Machthaber provoziert haben213. Vor dieser infamen antisemitischen Machtpolitik mag Triepel schließlich resigniert haben. Er hat wohl auch gewußt oder zumindest geahnt, daß, wie er später in einem Brief an seine Tochter Hertha v. Gebhardt voller Bitterkeit schrieb, seine „Professur fur Karl Schmitt, also fur einen kolossalen Nazi freigemacht werden mußte" 214 . Vielleicht verlor er aber auch deshalb, weil sich die verbrecherischen Züge des „Dritten Reiches" immer eindeutiger abzeichneten, nach und nach das Interesse, einem solchen Regime weiterhin als Staatsrechtslehrer zur Verfügung zu stehen. Wie dem auch sei, Triepel hat es jedenfalls strikt abgelehnt, bei den Hochschulbehörden den formal zwar möglichen, aber wohl kaum erfolgversprechenden Antrag auf weitere Ausübung seiner Lehrtätigkeit zu stellen 215 . So sah er sich genötigt, im Alter von knapp über 67 Jahren, vor dem „Eindringen der Pöbelherrschaft des Dritten Reiches in die Universität ... in ruhiger Würde" vorzeitig Abschied vom Lehramt zu nehmen 216 . 1938 scharten sich Teile der Fakultät noch einmal um den 70jährigen, um ihm die Geburtstagsglückwünsche darzubringen. Wie Erich Kaufmann berichtet hat, war es „eine ernste und mit schweren Sorgen belastete Feier, bei der 2,2

Wiegandt, S. 34. Näher unten II. 9. Weitere Nachweise für Triepels Eintreten für bedrohte oder verfolgte Schüler und Kollegen konnten in den vorhandenen Archivalien aus verständlichen Gründen nicht ermittelt werden. Immerhin existiert aber ein Schreiben des jüdischen Rechtsphilosophen Felix Holldack von der TH Dresden vom 27. September 1934, in dem er sich „auf Rat eines berühmten Kollegen aus der Berliner Juristenfakultät" wegen der drohenden Entpflichtung aus rassischen Gründen an Walter Jellinek wandte, BA, N L W. Jellinek Bd. 23: „Jener Kollege sagte mir, dass Sie immer noch einen Ausweg wüssten, ob man vielleicht noch wenigstens eine Vorstellung an einer übergeordneten zuständigen Stelle erheben könne." Der Brief wurde aus Untergrainau (Haus Tanneck), also aus der unmittelbaren Nachbarschaft des Triepelschen Refugiums, abgesandt! 213

214

Brief an Hertha v. Gebhardt vom 23. Januar 1946. Vgl. auch Leibholz, Einleitung, S. X I f.; Hollerbach, AöR 91 (1966), S. 420. Aufgrund von § 2 des Gesetzes über die Entpflichtung und Versetzung von Hochschullehrern aus Anlaß des Neuaufbaus des deutschen Hochschulwesens vom 21. Januar 1935 (RGBl. I S. 23) konnten dagegen Triepels Kollegen Ulrich Stutz (geb. am 5. Mai 1868) und Ernst Heymann (geb. am 6. April 1870) ihr Lehramt bis Ende September 1936 (Ministerialerlaß vom 30. April 1936, s. Chronik der Friedrich-Wilhelms-Universität 1936/37, S. 8; Äsen S. 197) bzw. Ende September 1938 (Ministerialerlaß vom 3. November 1937, s. Chronik der Friedrich-Wilhelms-Universität 1937/38, S. 9; Äsen, S. 79) ausüben. Ihren Verlängerungsanträgen standen keine politische Hürden entgegen: Sie waren - anders als Triepel - 1933 Mitglieder der Akademie für Deutsches Recht geworden, s. Chronik der Friedrich-Wilhelms-Universität 1935/36, S. 35; Pichinot, S. 159, 215

166.

2 , 6

Smend,

Triepel, S. 120.

104

Erster Teil: Leben

Dekan und Jubilar in Erinnerung an die vergangenen ruhmreichen Jahre freier Forschung und freier Lehre und in tiefer Bekümmernis um den Verlust dieser Güter ihre Ansprachen mit gedämpfter und tränenerstickter Stimme hielten." 217 Die nationalsozialistische Universitätsleitung ist dagegen nicht davor zurückgeschreckt, anläßlich seines 70. und 75. Geburtstages sowie bei Gelegenheit seines goldenen Doktorjubiläums „die üblichen Höflichkeitsformen unterlassen"218, und wußte es sogar zu verhindern, daß Triepel die gebräuchliche Ehrung mit einer Festschrift von Seiten der Berliner Juristenfakultät zuteil wurde 219 . Immerhin erhielt er von seiner Leipziger Heimatfakultät, die sich offenbar nicht nur räumlich in etwas größerer Distanz zu den Machthabern befand, zum goldenen Doktorjubiliäum am 2. Juli 1941 die Würde eines Doktors der Rechte erneuert. Die Ehrung galt dem „unbeirrten Vorkämpfer fur die Idee des Rechts und die Gerechtigkeit in harter und dunkler Zeit" 2 2 0 .

II. Außeruniversitäre Aktivitäten 1. Verein „Recht und Wirtschaft" Am 26. März 1911 fand in Leipzig die Gründungsversammlung des Vereins „Recht und Wirtschaft" statt 221 . Als Grundlage fur die künftige Vereinstätigkeit wurde der sog. „Aufruf von Jena" angenommen, der schon zuvor veröffentlicht und von zahlreichen namhaften Persönlichkeiten aus dem Rechts- und Wirtschaftsleben unterzeichnet worden war. Den geistigen Hintergrund des „Jenaer Aufrufs" bildete die Diskussion um Freirechtsbewegung und Interessenjurisprudenz 222. Man war sich über die Reformbedürftigkeit von Rechtspflege und Gesetzgebung einig. In dieser Erkenntnis hat der „Jenaer Aufruf 4 alle Juristen zur Zusammenarbeit mit den Führungskräften in Staat und Wirtschaft aufgefordert 223. 217

E. Kaufmann, DRZ 1947, S. 60. Schreiben an den Universitätskurator vom 28. Dezember 1945, UAH, Nr. 102, Bl. 45; vgl. auch Personalfragebogen, ebd., Bl. 54. Wenigstens sprach ihm die Berliner Juristenfakultät zum 75. Geburtstag ihre Glückwünsche aus, vgl. Schreiben des damaligen Dekans vom 15. Februar 1943, UAH, Nr. 529, Bl. 11. Auch Carl Schmitt beglückwünschte ihn, vgl. das Dankschreiben Triepels vom 6. März 1943, NrwHStA, RW26516402. 218

219

Schreiben vom 28. Dezember 1945 an den Universitätskurator, UAH, Nr. 102, Bl.

45. 220

Urkundentext, PAG. Schriftleitung, DJZ 1911, Sp. 327; vgl. zur Vorgeschichte eingehend Fenske, S. 149-152. 222 Fenske, S. 153; Nörr, Wirtschaftsverfassung, S. 431; Wirth, S. 56. 22 3 Börngen, DJZ 1911, Sp. 179-183. 221

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Orientiert an den Reformvorstellungen dieses Aufrufs, sollte der Vereinszweck vor allem darin liegen, „die Rechtsentwicklung und Rechtsanwendung in Justiz und Verwaltung in Anpassung an die Bedürfnisse der Gegenwart zu fordern und alle diejenigen, denen eine gesunde Rechtskultur am Herzen liegt, zu gemeinsamer Arbeit zusammenzufassen" 224. Man wollte die modernen Strömungen auf dem Gebiet der Rechtspflege in „gesunde, praktische Bahnen" leiten, offensichtliche Mängel auf diesen Gebieten beseitigen oder mildern sowie „unberechtigtem Bureaukratismus und Formalismus" entgegenwirken 225. Die Jurisprudenz sollte aus dem Elfenbeinturm der Theorie heraus und mit dem praktischen Leben in Fühlung gebracht werden. Man war bestrebt, einer Krise abzuhelfen, die mit dem Schlagwort der Weltfremdheit der Juristen umschrieben wurde. Besonders die Richterschaft sollte näher an die wirtschaftlichen und sozialen Realitäten herangeführt werden 226 . Ein weiteres Ziel der Vereinsarbeit bestand darin, dem Wirtschaftsleben mit seinen Anforderungen, denen Justiz und Verwaltung nach Ansicht der Vereinsgründer bisher kaum gewachsen waren, durch direkte Kontakte von Juristen und Verwaltungsbeamten mit Führungskräften aus der Privatwirtschaft größere Geltung in Juristenkreisen verschaffen 227. Deshalb erhob der Verein „Recht und Wirtschaft" auch die Zusammenarbeit von Laien und Juristen zu seinem Programm 228. Zudem legte die Vereinigung großen Wert auf einen überparteilichen Charakter. Man wollte ausdrücklich keine Politik betreiben, sondern „im Gegenteil jeder politischen Richtung im Rahmen der Vereinsbestrebungen die Teilnahme an ihm ermöglichen." 229 Für die Ziele dieser Bewegung konnte sich auch Triepel erwärmen, so daß er dem Verein beitrat und sich im Sommer 1914 in den Ausschuß für Verwaltung wählen ließ 230 . Zu dieser Zeit gehörten dem Verein, der mit 120 Mitgliedern gegründet wurde, bereits über 3.400 Personen an, darunter vorwiegend Juristen aus Wissenschaft und Praxis, aber auch zahlreiche Industrielle. Neben Triepel war noch eine stattliche Anzahl weiterer Juraprofessoren Mitglied dieses Vereins geworden, so etwa Erich Kaufmann, Hugo Sinzheimer, Theodor Kipp, Alexander Graf zu Dohna und Hermann Kantorowicz. Nicht wenige der Vereinsmitglieder sollten später in der Weimarer Republik hohe Regierungsämter bekleiden, so etwa Hans Bell (Z), Otto Geßler (DDP), Erich Koch-Weser (DDP), Hans Luther (parteilos), Hugo Preuß (DDP), Eugen Schiffer (DDP)

224 225 226 227 228 229 230

Schriftleitung, DJZ 1911, Sp. 327. Düringer, RuW 1915, S. 113. Nörr, Wirtschaftsverfassung, S. 431. Düringer, RuW 1922, Sp. 5. Düringer, RuW 1919, S. 2. Düringer, RuW 1919, S. 1. Rathenau, RuW 1914, S. 229.

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und Gustav Radbruch (SPD) 231 . Auch die funktionelle Elite der Wirtschaft war im Verein stark repräsentiert, so ζ. B. Carl Dulsberg (Generaldirektor der Bayer AG, später der IG Farben), Wilhélm und Carl Friedrich v. Siemens, Wilhelm Merton (Generaldirektor der Metallgesellschaft) und Robert Faber (Vorsitzender des Vereins Deutscher Zeitungsverleger) 232. Für die praktische Betätigung im Rahmen der Vereinsziele wurden neben ständigen Ausschüssen je nach Bedarf weitere Gremien dieser Art angeregt oder eingesetzt. Vorstand und Vorstandsrat wählten deren Mitglieder nach dem Kriterium ihrer fachlichen Kompetenz und bisherigen Arbeit aus 233 . Der Verein gab, wie Hans Fenske zusammenfassend urteilt, „fruchtbare Anregungen sowohl an Rechtswissenschaft und Rechtspflege wie an Verwaltung, Politik und Wirtschaft. Er war gleichsam ein reich besetztes Expertengremium fur zahlreiche offene rechtspolitische Fragen. Es gelang ihm in erheblichem Maße, das zu verwirklichen, was er sich bei seiner Gründung zum Ziel gesetzt hatte, das zeitgemäße Rechtsverständnis in Deutschland voranzubringen." 234

a) Inhalt des Verfassungsentwurfs Eine der wirkungsreichsten Arbeiten des Vereins entsprang der Tätigkeit des Mitte Dezember 1918 235 gebildeten „Verfassungsausschusses". Unter dem Vorsitz des Ministerialdirektors a. D. Franz Lusensky hatten Erich Kaufmann und Heinrich Triepel unter Mitarbeit des Berliner Fakultätskollegen Theodor Kipp sowie der Verwaltungsjuristen v. Friedberg, Kübler, Lisco, Reinhardt, Schaible und Fritz Rathenau (letzterer als Schriftführer) 236 in kürzester Zeit den Entwurf einer Reichsverfassung ausgearbeitet, der unter dem Titel „Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs" noch vor der ersten Lesung des Regierungsentwurfs in der Nationalversammlung am 28. Februar 1919 veröffentlicht werden konnte. Dem vom 22. Januar 1919 datierenden Vorwort dieser Schrift zufolge, hatten den Beratungen des Verfassungsausschusses Teilentwürfe zugrunde gelegen, die von Kaufmann, Lusensky und Triepel erstellt worden waren 237 . Welcher Teil des Entwurfs von Triepel stammt, ist nicht genau zu ermitteln. Nach den Themenkreisen vorhergehender und nachfolgender Veröf231

Dieses breite Parteienspektrum indiziert, daß es dem Verein gelang, das selbstgesteckte Ziel der Überparteilichkeit tatsächlich zu erreichen. 232 Näher Wirth, S. 8, 60 f. m. w. N. 233 Wirth, S. 61 f. 234 Fenske, S. 163. 235 Die Jahresangabe „1919" bei Wirth, S. 63, ist unzutreffend, vgl. E. Kaufmann, RuW 1919, S. 46; ders., Grundfragen, S. 1. 236 N. N., RuW 1919, S. 32; Entwurf, S. 3 f.; Binding, RuW 1919, S. 61. 237 Entwurf, S. 4; E. Kaufmann, Grundfragen, o. S. (Vorwort).

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fentlichungen 238, die sich allerdings teilweise mit denen Erich Kaufmanns überschnitten239, zu urteilen, könnte Triepels Teilentwurf jedenfalls den ersten und zweiten („Das Reich" [Art. 1 bis Art. 5] und „Die Reichsgewalt" [Art. 6 bis Art. 50]) sowie den achten („Die Gewähr der Verfassung" [Art. 144 bis 148]), möglicherweise auch den dritten Abschnitt („Die Grundrechte des deutschen Volks" [Art. 51 bis 90]) umfaßt haben. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, daß aufgrund der Verschiedenheit der wissenschaftlichen und politischen Überzeugungen der einzelnen Mitglieder des Ausschusses über manche Bestimmungen des Entwurfs, auch solche von erheblicher Bedeutung, keine volle Übereinstimmung zu erzielen war 240 . Triepel wies ausdrücklich darauf hin, daß auch er, ebenso wie die anderen Mitwirkenden, nicht in der Lage sei, „für alle Einzelheiten des Entwurfs einzustehen."241 Der Verfassungsentwurf enthielt in insgesamt neun Abschnitten und 160 Artikeln alle Strukturbestandteile eines neuen freiheitlichen und republikanischen Staatsgebildes. Der Verfassungsausschuß des Vereins „Recht und Wirtschaft" hatte „sich vorbehaltlos auf den Boden der von der Revolution geschaffenen Tatsachen gestellt" und war „bestrebt gewesen, eine auf rein demokratischer Grundlage stehende Verfassung zu entwerfen" 242 . Seinem Selbstverständnis zufolge stand der Verfassungsausschuß in der Tradition der Paulskirchenverfassung. Er übernahm manche Formulierungen und orientierte sich weitgehend an ihrem Aufbau. Allerdings zog der Ausschuß die Grundrechte aus Abschnitt V I in Abschnitt III vor und fügte danach einen zusammenfassenden Abschnitt V I I („Die Gewalten des Reichs") ein. Das Werk der Frankfurter Nationalversammlung kam so unerwartet zu neuen Ehren 243 . Eine wesentliche Rolle bei dieser Grundorientierung dürften Erich Kaufmann und Triepel gespielt haben. Schon deren Lehrer Albert Hänel und Karl Binding hatten während des Kaiserreichs ganz entgegen dem monarchistischen Zeitgeist - eine positive Einstellung gegenüber den staatsrechtlichen Entscheidungen von 1848/49 bekundet244. Triepel zufolge unterlag es „nicht dem geringsten Zweifel, daß die künftige Verfassung Deutschlands nur auf einer demokratischen Grundlage ruhen, und 238 Vgl. namentlich die Ende Februar 1919 abgeschlossene Abhandlung über „Die Entwürfe zur neuen Reichsverfassung", wo sich Triepel, SchmollersJb 1919, S. 467, ausdrücklich auf die grundrechtlichen, die organisatorischen sowie auf die Abschnitte der Verfassungsentwürfe beschränkt, die sich mit der Kompetenzverteilung zwischen Reich und Einzelstaaten beschäftigten. 239

Vgl. nur dessen Schrift „Grundfragen der künftigen Reichsverfassung" (1919). Entwurf, S. 4; E. Kaufmann, Grundfragen, o. S. (Vorwort). 241 SchmollersJb 1919, S. 470 Fn. 2. 242 E. Kaufmann, RuW 1919, S. 46. Ähnliches gilt für die konkurrierenden Verfassungskonzepte, vgl. Fenske, AöR 121 (1996), S. 33. 243 Fenske, AöR 121 (1996), S. 53. 2 4 4 Kühne, S. 134; vgl. auch ebd., S. 125 m. w. N. 240

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daß sie ... vorerst keine andere als die republikanische Staatsform schaffen kann. Ebenso unzweifelhaft ist ..., daß das Deutsche Reich nach wie vor als Bundesstaat eingerichtet werden muß." 245 Leitgedanke war gleichermaßen die Schaffung eines starken, nach innen und außen aktionsfähigen Reichs, das den „großen sozial- und finanzpolitischen Aufgaben der Zukunft gewachsen ist" 2 4 6 . Darüber, daß die Realisierung dieser Leitideen einen „starken Unitarismus" notwendig bedingte, war sich der Ausschuß völlig im klaren. Denn die Gedanken der politischen Einheit und Freiheit seien nicht nur in der deutschen Verfassungsgeschichte zusammengewachsen, sondern gehörten auch sachlich eng zusammen247. Man plädierte daher dafür, den Reichstag, als das Organ, in dem die nationale Einheit der Volksgesamtheit seinen sichtbarsten Ausdruck finde, in den Mittelpunkt der neuen staatsrechtlichen Konstruktion zu stellen 248 . Aus der doppelten Erwägung der Notwendigkeit einer Stärkung des unitarischen Reichstags und der Gefährlichkeit eines auf parlamentarisierten Einzelstaaten aufgebauten Bundesrats bekannte sich der Verfassungsausschuß nach dem Modell der Paulskirchenverfassung von 1849 zur Ausschaltung der einzelnen Länderregierungen aus der Organisation der Reichsregierung und zum Aufbau des Reichstags auf zwei Kammern, dem „Volkshaus" und dem „Staatenhaus" (Art. 112). Die Mitglieder des „Staatenhauses" sollten von den Landtagen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden (Art. 115). Der Gedanke des „Staatenhauses" als einer parlamentarischer Kammer wurde in dem Entwurf mit aller Konsequenz durchgeführt. So bedurfte es nach dem vorgesehenen Art. 129 zum Zustandekommen eines Reichsgesetzes übereinstimmender Beschlüsse beider Häuser. Zusätzlich sollte jeder Gliedstaat das Initiativrecht besitzen (Art. 103 Abs. 2). Darüber hinaus wollte die Mehrheit des Verfassungsausschusses bei gewöhnlichen Gesetzen dem einzelnen Staat kein Einspruchsrecht geben. Bei Verfassungsänderungen war allerdings sowohl ein Vorschlags· als auch ein Einspruchsrecht vorgesehen (Art. 148) 249 . Das Reich sollte prinzipiell auf Gesetzgebung und Beaufsichtigung (vgl. Art. 12) beschränkt werden, die eigentliche Vollziehung der Gesetze hingegen primär Aufgabe der Einzelstaaten und ihrer Verwaltung sein. Was die Reichskompetenzen anbelangt, wurden detaillierte Regelungen vorgeschlagen, die alle wesentlichen Materien der Gesetzgebungskompetenz des Reiches unterstellten (vgl. Art. 25 ff). So sollten etwa einzelne Steuern und Abgaben durch einfaches Reichsgesetz dem Reich vorbehalten werden können (Art. 26). Zudem nahm man wegen der erschwerten Möglichkeit von Verfassungsänderungen (Art. 148) zugunsten des Reiches einige allgemeine Rechtssätze in den Entwurf 245 246 247 248 249

SchmollersJb E. Kaufmann, E. Kaufmann, E. Kaufmann, E. Kaufmann,

1919, S. 477. RuW 1919, S. 46. RuW 1919, S. 46. RuW 1919, S. 47. RuW 1919, S. 48.

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auf, die der Verfassung eine gewisse Elastizität und Praktikabilität sichern sollten (vgl. neben der sweeping clause des Art. 5 0 2 5 0 vor allem die Art. 6 Abs. 2, 9 Abs. 2, 10 und 11) 2 5 1 . Ferner sollte die für das Zustandekommen eines Gesetzes erforderliche Zustimmung des Staatenhauses durch eine Volksabstimmung ersetzt werden können (Art. 130 Abs. 1). Rechtsschutzmöglichkeiten der Länder gegen die Reichsgewalt waren in den Art. 108 und 139 Nr. 3 vorgesehen. In seiner recht deutlichen einheitsstaatlichen Orientierung ähnelte der Entw u r f des Vereins „Recht und Wirtschaft" dem ersten Preußschen Entwurf. A l lerdings war dieser - in den Worten Triepels - „unitarisch angelegt bis ins Extrem", was sich etwa in der Kompetenzverteilung zwischen Reich und Gliedstaaten zeige 2 5 2 . Solche und andere Extremlösungen suchte der E n t w u r f generell zu vermeiden. Dies w i r d etwa deutlich bei den Regelungen über die Stellung des Reichspräsidenten. Die Verfasser entschieden sich fiir ein M i x t u m compositum aus dem französischen, englischen und amerikanischen Verfassungsmodell 2 5 3 . Vorgesehen war u. a. die unmittelbare Wahl des Reichspräsidenten durch das V o l k (Art. 96), die Befugnis, das Volkshaus aufzulösen, um Plebiszite in aktuellen Einzelfragen zu ermöglichen (vgl. Art. 102, 129 Abs. 3, 99 Abs. 3) sowie ein Beanstandungsrecht gegenüber Gesetzentwürfen des „Volkshauses" (Art. 129 Abs. 2 ) 2 5 4 . Daß der Reichspräsident eine so starke Stellung i m Staatsgefuge erhalten sollte, hat Triepel wie folgt begründet: „ W i l l man den Präsidenten zu mehr machen als zu einem repräsentativen Dekorationsstück, so muß man ihm zum mindesten das Recht geben, Gesetzesbeschlüsse des Parlaments zu beanstanden, und muß diese Beanstandung von dem Erfordernisse der ministeriellen Gegenzeichnung befreien. Unter allen Umständen muß aber dem Reichspräsidenten die Auflösung des Reichstags ohne ministerielle Kontrasignatur ermöglicht werden." 2 5 5

250

Eine ähnliche Klausel hatte schon § 62 Paulskirchenverfassung enthalten. An dem Preußschen „Entwurf II" (Deutscher Reichsanzeiger Nr. 15, Erste Beilage, vom 20. Januar 1919; abgedruckt bei Triepel, Quellensammlung, 5. Aufl., S. 10-15 [Nr. 10]) und dem Regierungsentwurf („Entwurf IV"; Verh. d. NatVers., Bd. 335, Drs. Nr. 59, S. 48; abgedruckt ebd., S. 27-31 [Nr. 14]) kritisierte Triepel, SchmollersJb 1919, S. 502, gerade den starken „Mangel an Elastizität". 252 SchmollersJb 1919, S. 486. 253 Wenn Trippe , S. 46, meint, in diesem Entwurf hätte der Präsident als Ersatzkaiser fungieren sollen, so verkennt er, daß die Präsidialdemokratie eine traditionelle Staatsform westlicher Staaten ist. 254 Der Preußsche Entwurf beruhte in der Frage der Stellung und der Aufgaben des Reichspräsidenten auf sehr ähnlichen Grundlagen, vgl. Triepel, SchmollersJb 1919, S. 513; E. Kaufmann, Grundfragen, S. 23. 255 Triepel, SchmollersJb 1919, S. 519. 251

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Des weiteren enthielt der Entwurf als dritten Abschnitt einen 40 Artikel umfassenden Katalog von Grund- und Freiheitsrechten, die in bewußter Anlehnung an das amerikanische Vorbild und die Paulskirchenverfassung 256 „Richtschnur und Schranke fur die Verfassung, die Gesetzgebung und die Verwaltung im Reiche und in den Einzelstaaten bilden" sollten (Art. 51). Man wollte „keine nichtssagenden allgemeinen Redensarten und Verheißungen machen, sondern dem großen Gedanken der Grenzen der Staatsgewalt, der Freiheit einer persönlichen Sphäre vom Staate einen juristischen Ausdruck geben." 257 Besondere Erwähnung verdient, daß den fremdsprachlichen Volksteilen Deutschlands Minimalrechte für ihre eigene Kulturentwicklung gewährleistet werden sollten (Art. 79). Den Schutz der Grundrechte wollte man nicht nur mittelbar über die Aufsichtsgewalt des Reiches über die Einzelstaaten garantiert sehen. Vielmehr traten die Verfasser dafür ein, daß alle Gerichte berechtigt und verpflichtet sein sollten, die Verfassungsmäßigkeit der von ihnen anzuwendenden Gesetze zu prüfen (Art. 147). Triepel hat dieses Anliegen (auch) rechtsvergleichend untermauert: „Die Bürger der Vereinigten Staaten betrachten das richterliche Prüfungsrecht als ein Palladium ihrer Freiheit. Die Deutschen werden gut daran tun, nach einem gleichen Schutzmittel zu rufen." 258 Gerade mit Blick auf rechtsschutzbewehrte Grundrechtsgarantien kann die Leistung der Verfasser dieses Entwurfs nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie ist vor allem vor dem Hintergrund bemerkenswert, daß Hugo Preuß (1860— 1925) 259 , der damals als der am weitesten links orientierte deutsche Staatsrechtslehrer galt 260 , der Aufnahme eines umfassenden Grundrechtskatalogs in die Verfassung widersprach, indem er auf die Gefahr hinwies, daß nach den Erfahrungen von 1848/49 im endlosen Gerede über den individuellen Freiheitsschutz die Zeit für die lebenswichtige Herstellung und Wahrung der nationalen Einheit vertan werden würde. Offensichtlich mehr notgedrungen als freiwillig meinte er unter allgemeiner Zustimmung der Teilnehmer der Sachverständi256

E. Kaufmann, Grundfragen, S. 40; Kühne, S. 133. E. Kaufmann, RuW 1919, S. 49. 258 So Triepel, SchmollersJb 1919, S. 484, in seiner Ende Februar 1919 unter ausdrücklichem Hinweis auf Art. 147 geübten Kritik an den vorliegenden amtlichen Verfassungsentwürfen. 259 Über ihn Gillessen (1955); Schefold, Preuß, S. 429-453. 260 W. Jellinek, S. 127. Hugo Preuß war von dem damaligen Vorsitzenden des Rats der Volksbeauftragten Friedrich Ebert am 14. (so Apelt, Geschichte, S. 56; Wirth, S. 106) oder 15. (so W. Jellinek, S. 127; Gillessen, S. 116) November 1918 zum Staatssekretär des Innern berufen und mit der Vorbereitung eines Entwurfs einer Reichsverfassung für die Deutsche Nationalversammlung beauftragt worden, vgl. Anschütz, Verfassung, S. 15-17; Eyck, S. 79-82, 93-108; Heuss, S. 241 f. Am 3. Dezember 1918 trug Preuß den ersten Verfassungsvorschlag dem Rat der Volksbeauftragten vor, der ihn billigend zur Kenntnis nahm, vgl. Huber V, S. 1178. 257

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genkonferenz zur Vorbesprechung der Verfassungsfrage 261, daß die Aufnahme einzelner grundrechtlicher Bestimmungen dennoch kaum zu vermeiden sein würde 262 . Freilich kann es kaum überraschen, daß sich gerade eher liberal-konservativ Gesinnte so vehement fur die Verankerung von Grundrechten in der Verfassung einsetzten263. Gleichsam prototypisch für diese grundrechtsfreundliche und damit zwangsläufig auch demokratiekritische - Haltung sind die Überlegungen Triepels aus der von ihm so empfundenen „wilden Zeit" des Februar 1919 264 : „Wie die Geschichte lehrt, vermag demokratischer Absolutismus entsetzlicher zu sein als monarchischer Despotismus."265 Deshalb sei es eine besondere Aufgabe, in der künftigen Verfassung Gegengewichte gegen diese Gefahr zu schaffen, was - wie Triepel klar erkannt hat - um so notwendiger sein werde, „als die sozialistische Gedankenwelt, die im künftigen Staate im großen Umfange zur Verwirklichung kommen wird, einer starken Ausdehnung der staatlichen Gewalt geneigt ist. Mehr als früher wird deshalb das Bedürfnis bestehen, die Freiheit des Bürgers vom Staate zu betonen." 266 Am 26. Mai 1919 trat der Verfassungsausschuß des Vereins nochmals zusammen, um zu der Frage Stellung zu nehmen, ob der Rätegedanke in den ausgearbeiteten Entwurf nachträglich aufgenommen werden könnte, und zwar nicht nur, wie es Art. 34 a des der Nationalversammlung vorgelegten Entwurfs vorsah, im wirtschaftlichen 267 , sondern auch im politisch-parlamentarischen Sinn. Der Ausschuß gelangte jedoch infolge der Schwierigkeit der Frage und der fehlenden Übereinstimmung der politischen Anschauungen seiner Mitglieder zu keinem abschließenden Ergebnis. Nachdem dann die Nationalversammlung in der abschließenden dritten Beratung am 29. Juli 1919 das politische Rätesystem verworfen hatte, nahm der Ausschuß davon Abstand, seine Beratungen fortzusetzen 268.

261

Hugo Preuß richtete mit Zustimmung des Reichspräsidenten Friedrich Ebert einen kleinen Beirat ein, der vom 9. bis 12. Dezember im Reichsamt des Innern tagte, vgl. Gillessen, S. 117-125; W. Jellinek, JöR 1920, S. 46; Mauersberg, S. 60 f.; Friedrich, Staatsrechtswissenschaft, S. 322; vgl. auch unten b). Neben Preuß war Max Weber Spiritus rector der sog. Dezemberbesprechung. Nach deren Ende meinte Weber in einem Brief an seine Frau vom 13. Dezember 1918 zufrieden: „So die Reichsverfassung ist im Prinzip - fertig, sehr ähnlich meinen Vorschlägen.", Marianne Weber, S. 651. 262 Gillessen, S. 121 \ Mauersberg, S. 69. 263 Vgl. auch unten b). 264 SchmollersJb 1919, S. 520. 265 SchmollersJb 1919, S. 478. 266 SchmollersJb 1919, S. 478. 267 Vgl. zur Entstehungsgeschichte des Räte-Artikels (Art. 165 WRV) Huber V, S. 1202 f. m. w. N.; Apelt, Geschichte, S. 86, 109 f. 268 Vgl. zum Ganzen Rathenau, RuW 1919, S. 141 f.

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Der Verfassungsentwurf des Vereins „Recht und Wirtschaft" wurde von der zeitgenössischen Staatsrechtsrechtslehre überwiegend positiv bewertet. So hat ihn etwa Friedrich Giese als vortreffliche Arbeit qualifiziert 269 . In der Tat war er konsequenter und konsistenter als das Werk der Weimarer Nationalversammlung, wiewohl zahlreiche Parallelen nicht zu übersehen sind 270 . Karl Binding zufolge stand der Entwurf insgesamt hoch über dem von Hugo Preuß 271. Wäre die in einem „Staatenhaus" institutionalisierte Mitwirkung der Gliedstaaten bei der Gesetzgebung nicht in dem Entwurf vorgesehen gewesen272, so hätte er der Nationalversammlung empfohlen, ihn en bloc anzunehmen. Denn sie würde, „damit eine ebenso große, wie kluge, wie patriotische Tat tun." 273 Aus heutiger Sicht muß das Urteil freilich kritischer ausfallen. Allerdings kann der Entwurf schwerlich als „unpolitisch" gelten 274 . Auch dessen Einstufung als „eindeutig konservativ" 275 erscheint fragwürdig, falls man diesem verwaschenen Epitheton im hier vorliegenden Kontext überhaupt irgendeine Aussagekraft beimessen will. Denn ohne Abstriche konserviert werden mit Blick auf die Reichsverfassung von 1871 eigentlich nur die Standesvorrechte (vorbehaltlich späterer Gesetzesvorschriften) 276. Daß Richtschnur des Entwurfs die maximale Kontinuität zum alten Reich gewesen sei 277 , ist deshalb eine allzu plakative und damit inadäquate Beurteilung. Je nach verfassungspolitischem Standpunkt mag man auch kritisieren, daß die sozialen Forderungen der Revolution nicht verarbeitet wurden 278 . Triepel selbst hat diese Problematik freilich durchaus erkannt und war sich auch darüber im klaren, daß sich das Bürgertum in den Verfassungsberatungen „ge-

269

Giese, S. 48.

270

Fenske, S. 159 f. 271 Binding, RuW 1919, S. 61. Ein signifikanter Unterschied des Preußschen Entwurfs war, daß er die Zerschlagung Preußens vorsah, was nach Ansicht von Erich Kaufmann, Grundfragen, S. 14, nicht nur die verwaltungsmäßige, sondern auch „die geistige Ver-thüringerung des deutschen Volkes" zur Folge gehabt hätte. 272 Karl Binding, RuW 1919, S. 63, war der Ansicht, die Einrichtung eines Staatenhauses widerspreche Artikel 91 des Entwurfs, wonach alle Gewalten des Deutschen Reichs im deutschen Volke ruhen. Hierdurch würden die Gliedstaaten die Kompetenz erlangen, „dem Willen des ganzen deutschen Volkes ein Schnippchen zu schlagen". Diese Gefahr bestünde bei einer angemessenen Repräsentation von Gemeinden, Wirtschafts- und Wissenschaftsverbänden, kirchlichen Organisationen usw. in einem „Staaten- und Ständehaus" nicht, Binding , RuW 1919, S. 64. 273

Binding, RuW 1919, S. 65; vgl. auch Fenske, AöR 121 (1996), S. 53 mit Fn. 78. So aber Töpner, S. 216. Thomas Wirth, S. 108 f., enthält sich jeglicher Einschätzung des Entwurfs. 275 Trippe, S. 47. 276 Artikel 157 des Entwurfs. 277 Trippe, S. 47. 278 So etwa Trippe, S. 46 f. 274

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sunden, sozialen Fortschritten nicht widersetzen" dürfe, um Schlimmeres zu verhüten 279. Offenbar wollte sich der Verfassungsausschuß aber in dieser Hinsicht aus grundsätzlichen oder taktischen Erwägungen bewußt zurückhalten. Wie dem auch sei, festzuhalten bleibt jedenfalls, daß der Entwurf des Vereins „Recht und Wirtschaft" die besten rechtsstaatlichen Traditionen der deutschen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts aufgenommen hat und schon deshalb - besonders, was den (Grund-)Rechtsschutz des Einzelnen vor den Zumutungen der Massendemokratie anbelangt - dem Preußschen Entwurf weit überlegen war.

b) Bedeutung des Verfassungsentwurfs Wenn auch die amtlichen Vorarbeiten unter der Ägide von Hugo Preuß und Max Weber 280 maßgeblich für den Aufbau und Inhalt der neuen Reichsverfassung waren, so muß doch konstatiert werden, daß „nach Mitteilung eines Regierungsvertreters im Verfassungsausschusse" der Entwurf des Vereins „Recht und Wirtschaft" als einziger von den der Nationalversammlung vorliegenden zahlreichen Privatentwürfen 281, auf die Verfassungsberatungen wesentlich eingewirkt hat 282 . Ein gewisser Einfluß ist namentlich bei der Regelung des Verhältnisses von Reich und Gliedstaaten und, mehr noch, bei der Beratung der Grundrechte und der damit zusammenhängenden Frage des richterlichen Prüfungsrechts festzustellen 283. Obwohl der Entwurf erst Ende Januar 1919 veröffentlicht wurde, hat er aber schon in der sog. Dezemberbesprechung 284 eine nicht unbedeutende Rolle gespielt 285 . Diese Ausnahmestellung des Verfassungsentwurfs des Vereins „Recht und Wirtschaft" war im wesentlichen der herausragenden Rolle zu verdanken, die der vormalige badische Justizminister Adelbert Düringer (1855-1924) 286 als Erster Vorsitzender dieses Vereins bei dem Ringen um die Gestalt der künftigen Reichsverfassung gespielt hat. Ihm kommt insbesondere das Verdienst zu, bei der Ausformulierung des Grundrechtsteils der Verfassung entscheidend 279

Daheim 1918/19, S. 10; vgl. auch Kühne, S. 137. Vgl. hierzu Triepel, SchmollersJb 1919, S. 57 f. 281 Ein vollständiges Verzeichnis der zahlreichen privaten Entwürfe findet sich bei W; Jellinek, JöR 1920, S. 123. 282 W. Jellinek, JöR 1920, S. 48; vgl. auch Anschütz, Verfassung, S. 131; Giese, S. 47; Glum, Regierungssystem, S. 156; Huber V, S. 1178; undeutlich dagegen Töpner, S. 215 f. 283 Wirth, S. 63 Fn. 252, S. 126; Kühne, S. 134. 284 Vgl. oben a). 285 Mauersberg, S. 61 Fn. 147; a. A. Fenske, AöR 121 (1996), S. 26. 286 Über ihn umfassend Wirth (1989). 280

8 Gassner

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mitgewirkt zu haben287. Seit der ersten Lesung des Verfassungsentwurfs in der Nationalversammlung hat Düringer, den Triepel einmal einen „hervorragenden Juristen" nannte 288 , die Beratungen lückenlos begleitet. Er war fur die Deutschnationalen289 als Exponent ihres gemäßigten Flügels 290 Mitglied im Verfassungsausschuß der Nationalversammlung. An diesen „Achten Ausschuß überwies das Plenum am Ende der ersten Lesung den Regierungsentwurf 291. Darüber hinaus gehörte Düringer als einziger DNVP-Abgeordneter dem Unterausschuß für Grundrechte an 292 . Da der Vereinsvorsitzende Düringer an der Sitzungen des Verfassungsausschusses vor der Veröffentlichung des „Entwurfs einer Verfassung des Deutschen Reichs" aus Zeitmangel nicht regelmäßig hatte teilnehmen können 293 und sich vor 1919 auch nur am Rande mit staatsrechtlichen Fragen befaßt hatte, erscheint die Ansicht seines Biographen unzutreffend, er habe den geistigen Vätern des Entwurfs, also vor allem Kaufmann und Triepel, Anregungen gegeben 294 . Umgekehrt muß man aus den genannten Gründen eher davon ausgehen, daß Düringer zumindest einzelne Vorschläge des Entwurfs aufgegriffen hat, um sie in die verfassungspolitische Debatte einzubringen. Eindeutig belegbar ist dies etwa für die wichtige Frage der Grundrechtsbindung staatlichen Handelns 295 . Den ersten Schwerpunkt des Wirkens Adelbert Düringers bildete die Auseinandersetzung um eine unitarische oder föderalistische Ausgestaltung der Republik. Bei der ersten Lesung des vom Staatenausschuß296 umgearbeiteten Regierungsentwurfs („Entwurf IV") in der Nationalversammlung am 21. Februar 1919 wandte sich Düringer u. a. gegen die nach seiner Überzeugung in diesem Entwurf steckende Gefahr partikularistischer Tendenzen, sprach sich aber andererseits gegen die nach seiner Ansicht übertrieben unitaristischen Vorstellungen Hugo Preuß' aus, die ζ. B. die Zerschlagung Preußens vorsahen 297. Auch in den Beratungen des Verfassungsausschusses, dessen Arbeit auf die endgültige 287

Trippe , S. 75. Goldbilanzen-Verordnung, S. 34. 289 Vgl. zur Mitarbeit der DNVP an der Reichsverfassung Trippe , S. 70-78. 290 Trippe, S. 69. 291 Vgl. zu den Beratungen des Verfassungsausschusses Apelt, Geschichte, S. 86121; Huber V, S. 1190 f. 292 Vgl. zum Anteil Adelbert Düringers am Zustandekommen der Weimarer Reichsverfassung ausfuhrlich Wirth, S. 97-159. 293 Wirth, S. 63 Fn. 250. 294 So - ohne Nachweis - Wirth, S. 151. 295 Berichte und Protokolle des Achten Ausschusses, 41. Sitzung vom 31. März 1919, S. 182; vgl. auch Trippe , S. 159 f. 296 Vgl. zu ihm Huber V, S. 1182. 297 Düringer, Verh. d. NatVers., Bd. 326, S. 471 f. 288

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Ausgestaltung der Verfassung einen wesentlichen Einfluß hatte 298 , vertrat Düringer einen Mittelweg zwischen Partikularismus und Unitarismus 299 . Damit lag er im wesentlichen auf der vom Entwurf des Vereins „Recht und Wirtschaft" vorgezeichneten Linie (vgl. etwa Art. 1 [keine Auflösung Preußens] oder Art. 13 S. 2 [Aufhebung der Reservatrechte]). Triepel hat die Beratungen des Verfassungsausschusses, der vom 4. März bis 2. Juni in erster, vom 3. bis 18. Juni 1919 in zweiter Lesung tagte, kritisch begleitet und vor allem moniert, daß beinahe in jeder wichtigen Sitzung wohlbegründete Bedenken der wenigen staatsrechtlichen Sachverständigen, die in den Ausschuß gewählt worden seien, durch eine von Parteirücksichten diktierte Abstimmung rücksichtslos beiseite geschoben würden. Zu unmittelbarer Einflußnahme über die Tagespresse fühlte er sich gedrängt, als sich der Ausschuß den „Schildbürgerstreich" 300 leistete, die ursprüngliche, im „Entwurf I V " enthaltene traditionelle Einteilung der Gesetzgebungskompetenzen in ausschließliche und konkurrierende aufzugeben, und statt dessen in der achten Sitzung am 17. März 1919 aufgrund eines Änderungsantrags des DDP-Vertreters Erich Koch-Weser eine Dreiteilung in Gesetzgebungsmaterien beschloß301, und zwar in Bereiche, die der Gesetzgebung des Reiches unterliegen müssen (= ausschließliche Gesetzgebung), in Bereiche, die in die Zuständigkeit des Reiches fallen, ohne daß dessen Gesetze die Gesamtmaterie umfassend regeln können (= konkurrierende Gesetzgebung) und in Bereiche, für die das Reich nur einheitliche Grundsätze aufstellen solle 302. Falls diese Zuständigkeitsregelung wirklich geltendes Recht werden sollte, so würde sie, polemisiert Triepel in seinem Zeitungsartikel, „unsere Reichsverfassung, gerade herausgesagt, in der ärgsten Weise verunstalten" 303. Die Verunstaltung besteht für ihn vor allem in der Unklarheit der vorgeschlagenen Formulierungen. So prognostiziert er, daß darüber, wo die Grenze zwischen der zweiten und dritten Gruppe zu ziehen ist, in Zukunft des Streites kein Ende sein werde. Die gewählte Formulierung „Grundsätze" könne einen künftigen Reichsgesetzgeber, ζ. B. nicht daran hindern, „das Schulwesen in so umfassenden »Grundsätzen4 zu regeln, daß für die Landesgesetzgebung kein Spielraum mehr übrig bleibt." 304 Ebendies, nämlich die Reduzierung der Länder auf Selbstverwaltungseinheiten größeren Ausmaßes, war das uneingestandene Ziel Erich Koch-Wesers 305. Auch mit seinem

298 299 300 301 302 303 304 305

8*

Anschütz, Verfassung, S. 27; Apelt, Geschichte, S. 119; Huber V, S. 1190 f. Näher Wirth, S. 109-111. Triepel, Der Tag vom 4. April 1919. Verh. d. NatVers., Bd. 336, S. 59 f. Art. 9 bis 9 c, Verh. d. NatVers., Bd. 336, S. 50-52. Triepel, Der Tag vom 4. April 1919. Triepel, Der Tag vom 4. April 1919. Papke, S. 50.

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Erster Teil: Leben

wichtigsten Bedenken trifft Triepel ins Schwarze. Seiner Ansicht nach ist nämlich vor allem auch der vom Verfassungsausschuß konstruierte Gegensatz von „Sollgesetzgebung" und „Kanngesetzgebung" unklar und widerspricht einfachsten Gesetzen der Logik: „Was das Reich nach der Verfassung soll, das kann es auch, und von dem, was es auf dem Gebiete der Gesetzgebung tun kann, soll es ganz gewiß ... vieles, wenn nicht das meiste bald, anderes jedenfalls später leisten." 306 Da er nicht wollte, daß das „Grundgesetz unseres Reiches durch Bestimmungen verunziert" werden würde, die „zum Gespötte des In- und Auslandes" werden müßten, gibt er seiner Hoffnung Ausdruck, „daß der Verfassungsausschuß in der zweiten Lesung ... selbst den Unsinn wieder in Sinn verwandeln" werden würde 307 . Die - nicht nur - nach Ansicht des Ausschußmitglieds Düringer „zutreffende Kritik" 3 0 8 Kritik Triepels vermochte den Verfassungsauschuß in der Tat teilweise zu überzeugen. Hingegen lief die prompte publizistische Gegenwehr Koch-Wesers insoweit ins Leere, als er die offensichtlich mißglückten Formulierungen seines Antrags verteidigte 309 . Mit seinem Vorschlag, eine an Grundsätzen orientierte dritte Kategorie der Reichskompetenz in der Gesetzgebung einzuführen, konnte er sich allerdings durchsetzen (vgl. Art. 9, 10 WRV). Adelbert Düringer orientierte sich bei seinen Beiträgen im Verfassungsausschuß der Nationalversammlung nicht nur in der Frage des Verhältnisses des Reichs zu den Gliedstaaten an dem Verfassungsentwurf des Vereins „Recht und Wirtschaft", sondern auch in der Funktion der Grundrechte. Deren Aufgabe im zu schaffenden neuen Staatswesen sah er in Art. 51 S. 2 des Entwurfs zutreffend formuliert: „Sie bilden Richtschnur und Schranke fur die Verfassung, die Gesetzgebung und die Verwaltung im Reich und in den Bundesstaaten." Während Friedrich Naumann, Mitberichterstatter im Ausschuß, einen „Versuch volksverständlicher Grundrechte" 310 vorlegte, durch deren Ausgestaltung vorrangig das Bekenntnis zu einem „sozialen Volksstaat" zum Ausdruck gelangen sollte 311 , betonte Düringer sein klassisches Verständnis der Grundrechte als „Rechte des Individuums gegenüber dem Staat", als „Rechte des Staatsbürgers gegenüber der Omnipotenz der Staatsgewalt", und sprach ihnen ausdrücklich direkte praktische Bedeutung zu 3 1 2 . In der Folge votierte der 306

Papke, S. 50. Papke, S. 50. 308 Düringer, RuW, 1919, S. 120. Auch Willibali Apelt, Geschichte, S. 91, bezeichnet die von Erich Koch-Weser vorgeschlagene Fassung als „unbrauchbar". 309 Koch, Der Tag vom 11. April 1919. Dies verschweigt Erich Koch-Wesers Biograph Gerhard Papke, S. 47-50, in seiner ansonsten sehr informativen Darstellung. 310 Verh. d. NatVers., Bd. 336, S. 171. 3,1 Verh. d. NatVers., Bd. 336, S. 176-181; näher hierzu Huber V, S. 1197-1199; umfassend ders., Friedrich Naumanns Weimarer Grundrechtsentwurf (1978). 312 Düringer, Verh. d. NatVers., Bd. 336, S. 181; vgl. näher Wirth, S. 127. 307

6. Kap.: Berlin 1913-1944

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Verfassungsausschuß dafür, Naumanns „nur sozialpädagogisch gemeinten Katalog" 313 zu einem System konkreter Grundrechtsgewährleistungen umzuarbeiten 314 . Im Sinne Düringers sollten die Grundrechte primär den negativen Freiheitsraum des Einzelnen gegenüber dem Staat gewährleisten, und nicht lediglich, wie Naumann es wollte, ein Bekenntnis zu den Errungenschaften der Revolution umschreiben 315. Ebenso hielt es Triepel - wie etwa auch Gerhard Anschütz 316 - angesichts der Einführung der parlamentarischen Demokratie „für dringend geboten, daß die Freiheitsrechte der Bürger in der Reichsverfassung genau und umfassend festgestellt werden und hierdurch einen Schutz nicht nur gegenüber der Exekutive, sondern vor allem gegenüber der Gesetzgebung des Reichs und der Einzelstaaten empfangen." 317. Diese Forderung reflektiert den klassischen demokratiekritischen Soupçon freiheitlich-konservativen Denkens, wie er schon bei Edmund Burke und Alexis de Tocqueville entwickelt wird und später etwa bei Jacob Burckhardt gegenwärtig ist. Ihm zufolge ist die Demokratie „eine aus tausend verschiedenen Quellen zusammengeströmte, nach Schichten ihrer Bekenner höchst verschiedene Weltanschauung, welche aber in einem konsequent ist: insofern ihr nämlich die Macht des Staates über den einzelnen nie groß genug sein kann, so daß sie die Grenzen zwischen Staat und Gesellschaft verwischt" 318 . Die Grundrechtsproblematik wurde in einem eher informellen Unterausschuß weiterberaten 319. Auch dort diente der Entwurf des Vereins „Recht und Wirtschaft" als Diskussionsgrundlage. So war etwa ein Antrag Düringers zur Regelung des öffentlichen Dienstes teilidentisch mit Art. 87 des Entwurfs 320 . Im übrigen bestand seine Aufgabe nach eigenem Bekunden darin, dafür zu sorgen, daß die Formulierung der Grundrechte frei von „Unrichtigkeiten" blieb und keine uneinlösbaren Versprechungen aufgestellt würden 321 . Schließlich 313 314

186.

So Thoma, Juristische Bedeutung, S. 12. Verh. d. NatVers., Bd. 336, S. 185; Katzenstein, Verh. d. NatVers., Bd. 336, S.

315 Kahl, Verh. d. NatVers., Bd. 336, S. 185; Huber V, S. 1198 f.; Wirth, S. 128 m. w. N. 316 Auch Gerhard Anschütz war zu der sog. Dezemberkonferenz, vgl. oben a), geladen worden und hatte eine Denkschrift vorgelegt, die nach eigenem Urteil „von liberalen, individualistischen Anschauungen beherrscht" war und nachdrücklich „für die Aufnahme von Grund- und Freiheitsrechten in die Verfassung" eintrat, vgl. Anschütz, Leben, S. 240. 317 Triepel, SchmollersJb 1919, S. 469 f.; vgl. auch oben a). 318 Burckhardt, S. 197. 319 Wirth, S. 130-137. 320 Wirth, S. 133 Fn. 206. 321 Berichte und Protokolle des Achten Ausschusses, 41. Sitzung vom 17. Juni 1919, S. 509; näher Trippe, S. 75.

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Erster Teil: Leben

gelangte der Entwurf des Verfassungsausschusses am 2. Juli 1919 mit dem selbständigen Grundrechtsteil von 56 Artikeln zur zweiten Lesung in das Plenum 322 . Ähnlich wie im Verfassungsentwurf des Vereins „Recht und Wirtschaft" (vgl. Art. 51), von dem sich Düringer, wie oben schon erwähnt, gerade in diesem Punkt inspirieren ließ 323 , war zu Beginn des die Grundrechte betreffenden Abschnitts als Art. 107 folgende Einleitungsvorschrift vorgesehen: „Die Grundrechte und Grundpflichten bilden Richtschnur und Schranken für die Gesetzgebung, die Verwaltung und die Rechtspflege im Reiche und den Ländern." Anläßlich der Erläuterung dieses Einleitungsartikels durch Adelbert Düringer entzündete sich eine heftige Diskussion darüber, ob die Aufnahme von Grundrechten in dieser Form überhaupt wünschenswert sei 324 . Es ist nicht ohne geschichtliche Ironie, daß gerade entschiedene Linksliberale, wie Friedrich Naumann, Walther Schücking, Friedrich Payer und Hugo Preuß den Wert der klassischen Grundrechte eher gering schätzten325. So beantwortete Preuß die Frage, ob die Regierung oder er als Vertreter der Regierung sich in bezug auf Art. 107 zu dem eingebrachten Entwurf bekenne, „mit einem lauten und vernehmlichen Nein!" 3 2 6 Nachdem sich - naturgemäß - auch die Mehrheitssozialdemokratie für den Verzicht auf Art. 107 eingesetzt hatte, wurde schließlich der Antrag auf dessen Streichung allseitig unterstützt 327. Damit war aus Sicht der Mehrheit das Haupthindernis fur die Akzeptanz des vorgeschlagenen Grundrechtskatalogs beseitigt. Mit dem Verzicht, die Grundrechtsverbürgungen der Verfassung ausdrücklich für verbindlich zu erklären, nahm man bewußt Nachteile für den Individualrechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt in Kauf. Nicht zuletzt aus diesem Grund schwelte dieses Problem aber weiter. Die virulente Frage nach Geltungskraft und Reichweite der Grundrechte sollte die Staatsrechtslehre noch bis in die Weimarer Spätzeit beschäftigen" 8 . Dasselbe läßt sich von dem damit verbundenen Problem des richterlichen Prüfungsrechts sagen. Der Verfassungsausschuß verzichtete nämlich nach einer längeren, eingehenden Debatte wegen unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten auf eine ausdrückliche Regelung der Frage, ob jedem Richter eine 322 Abgedruckt als „Entwurf V " bei Triepel, Quellensammlung, 5. Aufl., S. 38-44 (Nr. 22). 323 Berichte und Protokolle des Achten Ausschusses, 41. Sitzung vom 31. März 1919, S. 182; vgl. auch Trippe , S. 159 f. 324 Vgl. hierzu und zum Folgenden die Darstellung von Düringer, RuW 1919, S. 168. 325 Kühne, S. 141. 326 Verh. d. NatVers., Bd. 328, S. 1502 (A). 327 Wirth, S. 139, 152; Trippe , S. 160. 328 Vgl. zum Ganzen unten 8. Kap. V. 2. a). Hellsichtig hatte schon Adelbert Düringer, RuW 1919, S. 168, erkannt, daß der Grundrechtsteil der Verfassung Anlaß zu Zweifeln und Meinungsverschiedenheiten geben würde.

6. Kap.: Berlin 1913-1944

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Normenverwerfungskompetenz wegen Verfassungswidrigkeit des im konkreten Fall anzuwendenden Gesetzes zustehen sollte. Innenminister Preuß war vehement fur die Anerkennung des richterlichen Prüfungsrechts eingetreten 329 und hierin von Düringer auch nachdrücklich unterstützt worden. Ein solches Recht abzulehnen, war für ihn gleichbedeutend mit einem Angriff „auf die Stellung, Freiheit und Unabhängigkeit der Richter" 330 . Auch der im wesentlichen von Kaufmann, Lusensky und Triepel geprägte Entwurf des Vereins „Recht und Wirtschaft" sah in seinem Art. 147 ausdrücklich ein richterliches Prüfungsrecht vor, während sich die Weimarer Verfassung darauf beschränkte, die Bindung des Richters an das Gesetz und Verfassung zu postulieren (Art. 102). Diese Enthaltsamkeit des Verfassungsgebers hatte zur Folge, daß die Aufgabe, Ausmaß und Inhalt der richterlichen Inzidentkontrolle näher zu bestimmen, Rechtsprechung und Wissenschaft überlassen blieb 331 .

2. Staatswissenschaftliche

Gesellschaft

1915 wurde Triepel in die Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin aufgenommen 332, was nur kraft einstimmigen Beschlusses der (maximal) 36 3 3 3 Mitglieder möglich war 334 . Oft konnte nur ein kleiner Teil der Neuaufnahmeanträge berücksichtigt werden, auch wenn an der Würdigkeit der übrigen Namensvorschläge kaum Zweifel bestanden335. Dieser Umstand führt nicht nur das damals von Triepel erreichte wissenschaftliche Ansehen deutlich vor Augen, sondern ist auch geeignet, den Rang dieser Gesellschaft zu unterstreichen. Die Initiative zur Gründung der Staatswissenschaftlichen Gesellschaft im Jahre 1883 war hauptsächlich von Gustav v. Schmoller ausgegangen336. In § 1 ihrer Statuten bezeichnete die Gesellschaft als ihren Zweck, „einen kleinen Kreis staatswissenschaftlich Gebildeter zu regelmäßigem Gedankenaustausch zu versammeln." 337 Damit bot sie, ähnlich wie die bedeutende Mittwochs-Ge-

329 330 331 332

Verh. d. NatVers., Bd. 336, S. 483 f. Düringer, RuW 1919, S. 485; vgl. zum Ganzen Wirth, S. 143-145. Vgl. dazu im einzelnen unten 8. Kap. V. 3 a). Hundert Jahre Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin, S. 173; Fischer, S.

76. 333 Vom 30. Dezember 1889 bis 24. Mai 1962 hielt die Gesellschaft trotz wiederholter Schwierigkeiten an der Begrenzung auf 36 Mitglieder fest, vgl. vom Bruch, Staatswissenschaftliche Gesellschaft, S. 40 f. 334 Vgl. § 6 der Statuten von 1883, Hundert Jahre Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin, S. 124. 335 Vom Bruch, Staatswissenschaftliche Gesellschaft, S. 41. 336 Vom Bruch, Staatswissenschaftliche Gesellschaft, S. 37. 337 Hundert Jahre Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin, S. 123.

120

Erster Teil: Leben

sellschaft 338, für politisch interessierte Universitätslehrer ein Terrain, um mit Vertretern der funktionellen Elite in Kontakt zu kommen, gewährte zum anderen leitenden Staatsbeamten einen institutionellen Rahmen für vertraulich-unbefangene Erörterungen poltitisch-administrativer Probleme wie auch weit außerhalb des Tagesgeschäfts liegender Fragen allgemeinerer Art 3 3 9 . Mitglieder der Staatswissenschaftlichen Gesellschaft waren in der Weimarer Zeit so angesehene Ordinarien, wie Hans Delbrück, Wilhelm Kahl, Erich Kaufmann, Friedrich Meinecke, Max Sering, Rudolf Smend, Hermann Schumacher, Werner Sombart, Eduard Spranger oder Ernst Troeltsch. Man kam regelmäßig alle vier Wochen zusammen, wobei jeweils ein Mitglied einen wissenschaftlichen Vortrag zu einem bestimmten Thema hielt. Zumeist griffen die Referenten wichtige wirtschaftliche, soziale, rechtliche, politische, aber auch kulturelle Fragen der Zeit von allgemeinem Interesse auf. Dies gilt auch für die insgesamt sechs Vorträge, die Triepel dort im Laufe von über 20 Jahren gehalten hat. Im einzelnen referierte er am 31. Januar 1916 über „Die Freiheit der Meere" 340 und am 31. Januar 1919 über „Grundfragen der künftigen Reichsverfassung" 341; am 24. Juni 1921 trug er „Glossen zur neuen preußischen Verfassung" 342 vor; am 27. Juni 1924 berichtete er über „Die neueste Entwicklung der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit" 343 und am 22. März 1929 über „Verfassungsänderungen" 344. Die weiteren Vortragsthemen lauteten „Über Hegemonie" 345 (27. Januar 1933) und „Auswärtige Politik der Unverantwortlichen" 346 (26. November 1937). Die Sitzungsprotokolle der Staatswissenschaftlichen Gesellschaft geben den Inhalt der Vorträge leider nicht wieder 347 , so daß über deren konkreten Aussagegehalt, soweit sie nicht später veröffentlicht wurden, nur spekuliert werden kann. So läßt sich heute nicht mehr sagen, ob das letztgenannte Thema etwa mit England zu tun hatte, ob es sich eher auf eine Kritik an der Außenpolitik des „Dritten Reiches" bezog 348 oder aber nur eine Vorstudie zu dem 1939 erschienenen Aufsatz über „Die auswärtige Politik der Privatpersonen" 349 war.

338 339 340 341 342 343 344 345 346 347 348 349

Vgl. zu ihr Schotter, S. 9-47. Vom Bruch, Staatswissenschaftliche Gesellschaft, S. 36. Hundert Jahre Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin, S. 141. Hundert Jahre Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin, S. 142. Hundert Jahre Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin, S. 143. Hundert Jahre Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin, S. 144. Hundert Jahre Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin, S. 145. Hundert Jahre Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin, S. 147. Hundert Jahre Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin, S. 148. Vom Bruch, Staatswissenschaftliche Gesellschaft, S. 13; Fischer, S. 83 Fischer, S. 76. ZaöRV 1939, S. 1-30; vgl. hierzu unten 9. Kap. II. 5.

6. Kap.: Berlin 1913-1944

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Als Triepel drei Tage vor der Machtübertragung an Hitler über „Hegemonie" sprach, war dies wohl weniger Prophetie 350 als die Formulierung der Grundgedanken zu seinem 1938 veröffentlichten gleichnamigen Werk 351 . Über die Atmosphäre bei den Vorträgen und den anschließenden Diskussionen und Gesprächen in der Staatswissenschaftlichen Gesellschaft ist wenig bekannt. Sie dürfte aber wohl kaum anders gewesen sein als bei der MittwochsGesellschaft, über die Friedrich Meinecke, Mitglied beider Gesellschaften, in seinen Erinnerungen vermerkt hat, daß „ein feiner und vornehmer Ton und eine Aufgeschlossenheit fur das, was die anderen geistig zu geben hatten" geherrscht habe 352 . Er habe dort eine „Mischung von akademischer und gouvernementaler Luft" geatmet353. Die Staatswissenschaftliche Gesellschaft entging mehr oder weniger zufällig der nationalsozialistischen Gleichschaltung354. Obwohl sie mehrere Männer des Widerstands zu ihren Mitgliedern zählte, konnte sie bis zum 10. März 1945 tagen 355 . In Zusammenhang mit dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 verloren der Staatsminister und preußische Finanzminister Johannes Popitz, Rechtsanwalt Klaus Bonhoeffer, General Otto Lindemann und der Hochschullehrer Albrecht Haushofer ihr Leben. Bereits 1940 wurde Martin Gauger, ein Mitarbeiter von Hanns Lilje, des späteren evangelischen Landesbischofs von Hannover, im KZ Buchenwald zu Tode gehetzt. Er hatte am 29. März seines Todesjahres vor der Gesellschaft einen Vortrag über „Wandlungen im Verwaltungsrecht" gehalten, in dem er die Verlogenheit der Nazimethoden geißelte356.

3. Deutsche Gesellschaft für Völkerrecht Theodor Niemeyer, Triepels vormaliger Kieler Kollege, hat Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts maßgebliche Beiträge zur Organisation und Institutionalisierung der deutschen Völkerrechtswissenschaft geleistet. Er baute das erste große internationalrechtliche Forschungsinstitut in Kiel auf und gründete 350

Diese Möglichkeit zieht Wolfram Fischer, S. 77, in Betracht. Vgl. dazu eingehend unten 8. Kap. IV. 5. 352 Meinecke, 1901-1919, S. 163. 353 Meinecke, 1901-1919, S. 163; vgl. näher vom Bruch, Staatswissenschaftliche Gesellschaft, S. 64-66; Fischer, S. 83. 354 Vgl. die episodische Schilderung des langjährigen Sekretärs der Gesellschaft Otto de la Cheval Ieri e in einem an Eduard Spranger gerichteten Brief vom 28. September 1961, abgedruckt in Hundert Jahre Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin, S. 101 f. 355 Hundert Jahre Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin, S. 150. 356 Brief Otto de la Chevalleries an Eduard Spranger vom 28. September 1961, abgedruckt in: Hundert Jahre Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin, S. 103. 351

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Erster Teil: Leben

die deutsche Sektion der „International Law Association". Niemeyer gilt auch als Gründungsinitiator der „Deutschen Gesellschaft fur Völkerrecht" 357 . Doch auch Triepel hatte an der Gründung dieses Völkerrechtsverbands einen gewissen Anteil. Im Frühjahr oder Spätwinter 1916 erörterte er diese Frage in seiner Berliner Wohnung mit Niemeyer 358 . Die Gründung eines solchen wissenschaftlichen Forums war schon seit vielen Jahren von mehreren Völkerrechtlern gefordert worden 359 . Auch Triepel begrüßte lebhaft den Gedanken, in Deutschland eine Vereinigung zu schaffen, die es sich zur Aufgabe machen würde, „an der wissenschaftlichen und praktischen Fortbildung des Völkerrechts fördernd teilzunehmen." 360 Niemeyer hatte zugesagt, sich wegen der Angelegenheit wieder mit Triepel in Verbindung zu setzen, was er aber erst Mitte Januar tat 361 . Schon am 6. Januar 1917 hatte jedoch die Gründungsversammlung stattgefunden 362, zu der Triepel nicht eingeladen worden war. Erst am 3. oder 4. Januar erfuhr er über Dritte von dieser Sitzung. In der Meinung, ein Versehen liege vor, bat Triepel die Ehefrau von Martitz telefonisch darum, Niemeyer mitzuteilen, daß er sich über die Nichteinladung sehr gewundert habe. Eine Verlegenheitseinladung in letzter Stunde solle jedoch unterbleiben, zumal er an diesem Tag bereits einen Konferenztermin mit Erich Kaufmann habe 363 . Zunächst hörte Triepel nichts mehr von der Angelegenheit. Schließlich erhielt er am 14. März 1917 ein Schreiben, mit dem er zum Beitritt zur Gesellschaft für Völkerrecht aufgefordert wurde. Diesem Schreiben lag u. a. eine Ladung zur Vollversammlung am 24. März 1917 sowie ein Statutenentwurf bei, für den Änderungsvorschläge bis zum 15. (!) d. M. gemacht werden konnten. Triepel war freilich nicht entgan357

Hueck(s. Literaturverzeichnis); Stier-Somlo, Völkerrechtsgesellschaften, S. 211. Brief Triepels an Martitz vom 23. März 1917, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 49. 359 Strupp, SchweizJZ 1916/17, S. 327. 360 Brief Triepels an Niemeyer vom 20. März 1917 (Abschrift), SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 57. 361 Brief Triepels an Martitz vom 23. März 1917, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 49. 362 Warum in § 1 der Nachkriegssatzung der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht der 24. März 1917 als Gründungstag genannt wird, ist nicht recht verständlich, ging man doch von Beginn an vom 6. Januar 1917 aus: „Die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht ist am 6. Januar 1917 in Berlin vollzogen, und zwar durch eine Anzahl von wissenschaftlichen und praktischen Vertretern des Völkerrechts, welche als Mitarbeiter des in Kiel im Lauf des Krieges entstandenen ,Kriegsarchivs des Völkerrechts4 zusammengetreten waren.", Ν. N., Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 1, 1918, S. 9; ebenso auch Scheuner, Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 1, 1957, S. 67: „Die Gründung vollzog sich am 6. Januar 1917 in Berlin." 363 Brief Triepels an Martitz vom 23. März 1917, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 50. 358

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gen, daß sich Niemeyer schon als „Rector perpetuus" hatte bestätigen lassen364. Er hielt dessen ganzes Vorgehen fur so anstößig, daß er nicht umhin konnte, die ihm angetragene Mitgliedschaft in die Gesellschaft für Völkerrecht abzulehnen, obwohl ihm sein „hochverehrter Gönner" Ferdinand v. Martitz, wie er vermutete, wegen dieses Schrittes böse sein würde; denn er gehörte zu denjenigen, die ihn zur Aufnahme in die Gesellschaft vorgeschlagen hatten 365 . In einem Schreiben an Niemeyer vom 29. März 1917, dessen Abschrift er auch an Martitz sandte, bat Triepel, von seiner Aufnahme in die Gesellschaft abzusehen und legte im einzelnen die Gründe dar, die ihn zu dieser Haltung bewogen hatten. So vermißte er in der Satzung jede Andeutung, daß sich die Tätigkeit der Gesellschaft in eine Richtung bewegen würde, die „von einer deutschen Vereinigung für Völkerrecht eingeschlagen werden sollte." 366 Zielsetzung einer solchen Vereinigung müsse sein, „ausschließlich das deutsche Interesse zum Maßstabe ihrer Vorschläge und ihrer Beurteilung fremder Vorschläge zu nehmen." 367 Allein diese fehlende offene Parteinahme in der Weltkriegssituation hielt Triepel jedoch nicht davon ab, Mitglied der Gesellschaft zu werden. Denn entscheidend sei, wie er betonte, der Geist, in dem die Arbeit geleistet würde, und nicht der Wortlaut einer Vereinssatzung. Vielmehr hielt er es für ausschlaggebend, daß die Vereinigung aus so verschiedenartigen Elementen zusammengesetzt sei 368 , daß „weder ein ersprießliches Zusammenarbeiten fachmännischer Kräfte gewährleistet, noch den Beschlüssen der Gesellschaft die ihr gebührende Autorität gesichert sein" würde 369 . In der Tat fanden sich in der „Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht" nicht nur Völkerrechtswissenschaftler aller Richtungen, sondern auch Diplomaten, Kaufleute, Ban-

364 So die Darstellung Triepels in einem Brief an Ferdinand v. Martitz vom 29. März 1917, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 47. Theodor Niemeyer wurde denn auch am 24. März 1917 von der Vollversammlung satzungsgemäß für drei Jahre zum Vorsitzenden der Gesellschaft gewählt, vgl. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 3, 1922, S. 6. Aus der Sicht eines unmittelbar Beteiligten stellte sich der Sachverhalt so dar, daß das „Kulturwerk" der Gründung der Gesellschaft nur „dank der rastlosen Energie" Niemeyers zum Ziel geführt werden konnte, Strupp, SchwJZ 1916/17, S. 327. 365 Brief an Martitz vom 29. März 1917, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 46 f. 366 Brief Triepels an Niemeyer vom 20. März 1917, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 57 f. 367 Brief Triepels an Niemeyer vom 20. März 1917, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 57. Das hiervon teilweise abweichende Selbstverständnis der Gesellschaft schildert Karl Strupp, SchweizJZ 1916/17, S. 328 f. 368 In dem Brief an Ferdinand v. Martitz vom 29. März 1917 sprach Triepel deutlicher von einer „zusammengewürfelten Gesellschaft", SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 47. 369 Brief Triepels an Niemeyer vom 20. März 1917, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 58.

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Erster Teil: Leben

kiers, Industrielle und Politiker zusammen370. Ferner sah Triepel in dem von der Gründungsversammlung vorgesehenen Verzicht auf Mitgliederbeiträge die Gefahr inhaltlicher Einflußnahme auf die Tätigkeit der Gesellschaft von Seiten der Geldgeber 371. Auch hielt er es „wohl in der Geschichte aller Vereine ohne Beispiel", daß laut Satzung die Wahl des Vorstands nicht geheim, sondern durch Stimmzettel mit Namensunterschrift erfolgen sollte 372 . Schließlich brachte er ganz offen seine persönliche Kränkung zum Ausdruck, daß Niemeyer ihm - besonders nach den vorangegangenen „eingehenden Besprechungen" - nicht wie anderen Völkerrechtslehrern die Gelegenheit gegeben hatte, bei der Gründung der Gesellschaft in irgendeiner Form mitzuwirken 373 . Im Laufe der Zeit verflog jedoch Triepels Ärger, so daß er sich unter Zurückstellung der früher geäußerten Bedenken schließlich doch bereit fand, Mitglied zu werden. Schon auf der Berliner Versammlung der Gesellschaft am 29. Oktober 1921 trat er der dort eingesetzten Kommission „Nationalitätenrecht" bei 374 . Des weiteren war er später in den Kommissionen „Nachwuchs" und „Minderheitenschutz" tätig 375 . Daneben hat sich Triepel seit dem 13. März 1923 an den Leitungsaufgaben im „Rat" der Gesellschaft beteiligt 376 . Er beschäftigte sich dort vor allem mit Satzungsfragen. So verwandte er sich einmal dafür, in die Satzung die Bestimmung, wonach „zweimaliges Fehlen ohne triftige Begründung" zum Erlöschen der Mitgliedschaft führt, wieder aufzunehmen, konnte sich aber mit diesem Vorschlag bei den Mitgliedern des Rates nicht durchsetzen 377.

370

Vgl. das Mitgliederverzeichnis in den Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 1, 1918, S. 3-8, sowie die Anwesenheitsliste in den Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 2, 1918, S. 2-4. 371 Nachdem diese Regelung bereits auf der Vollversammlung vom 24. März 1917 beseitigt worden war, vgl. Ν. N., Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 1, 1918, S. 9, führte die Mitgliederversammlung vom 29. Oktober 1921 die Beitragspflicht ein, s. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 3, 1922, S. 6, 10. 372 Brief Triepels an Niemeyer vom 20. März 1917, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 58. 373 Brief Triepels an Niemeyer vom 20. März 1917, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Bl. 58. 374 Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 3, 1922, S. 10, 171. 375 Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 8, 1927, S. 114 f., 131. 376 Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 4, 1924, S. 81. Noch an dem Tag seiner Wahl zum Mitglied des Rates, wurde Triepel zum Mitglied einer Redaktionskommission ernannt, die eine Resolution gegen die seit dem 10. Januar bestehende Ruhrgebietsbesetzung durch französisch-belgische Truppen zur Vorlage an die Mitgliederversammlung entwerfen sollte, vgl. ebd. 3 Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft , 1 9 2 , S. .

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Triepel setzte sich aber nicht nur mit - ihm stets am Herzen liegenden - Satzungsfragen auseinander, sondern trug auch, allerdings nur in geringem Umfang, zur inhaltlichen Arbeit der Gesellschaft bei. So äußerte er nach einem auf der Leipziger Jahresversammlung im Jahre 1923 von Rudolf Laun gehaltenen Referat über „Die Volkszugehörigkeit und die völkerrechtliche Vertretung der nationalen Minderheiten" 378 seinen Zweifel daran, ob die Forderung von Minoritäten nach einer kulturellen Selbstbetätigung bereits soweit ein allgemeines Menschheitsideal sei, daß sich zu dessen Schutz ein universelles Völkerrecht schaffen ließe, das ein Interventionsrecht bei Verletzung von Minderheiteninteressen gewährt. Besonders problematisch sei hierbei, welche Staaten bei solchen Streitigkeiten aktivlegitimiert sein sollten, und wer Objekt des Schutzes sein könne. Auch die Frage, was eine nationale Minderheit sei, bedürfe noch der Klärung 379 . Auf der fünften Jahresversammlung der Gesellschaft in Würzburg (11. bis 14. Juni 1924) wandte sich Triepel gegen die Ausführungen des Referenten Robert Piloty über „Das Völkerrecht der Staatsangehörigkeit" 380. Er bezweifelte zunächst, ob es, wovon Piloty ausgegangen war, zur Entscheidung der aufgeworfenen Fragen erforderlich sei, den Staat als „Produkt" des Völkerrechts zu bezeichnen. Das völkerrechtliche Problem der Staatsangehörigkeit könne auch von einem anderem Standpunkt gelöst werden. Im Kern gehe es um die Frage, ob es völkerrechtlich allgemein anerkannte Grundsätze über die Zulässigkeit von Ein- und Ausbürgerungen gebe oder ob die von der herrschenden Meinung behauptete Freiheit der Indigenatsgesetzgebung unbeschränkt bestehe. Triepel Schloß sich der damaligen Mindermeinung an und meinte, der Staat dürfe nicht willkürlich Anknüpfungspunkte für den Erwerb der Staatsangehörigkeit bestimmen381. Insbesondere könne er „nicht ein Indigenatsgesetz, das das bei ihm bisher bestehende jus soli mit dem jus sanguinis vertauscht oder umgekehrt, mit rückwirkender Kraft ausstellen und dadurch Massen-Aus- und Einbürgerungen von ungeheurer Ausdehnung herbeiführen, wobei mit einem Schlage großen Mengen von Ausländern eine zweite Staatsangehörigkeit aufgedrängt, große Mengen von Inländern zur Staatenlosigkeit verurteilt würden." 382 In diesem Zusammenhang sprach sich Triepel strikt gegen das „überalterte" Prinzip des jus soli aus, das Ausdruck der Auffassung vom Untertanen als „Annex zum Grunde und Boden des Staates" sei 383 . Sein

378

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 4, 1924, S. 13-51. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 4, 1924, S. 51. 380 Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 5, 1924, S. 5-17. 381 Vgl. näher unten 9. Kap. II. 2. 382 Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 5, 1924, S. 18 f.; vgl. auch unten 9. Kap. II. 2. 383 Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 5, 1924, S. 27. 379

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Erster Teil: Leben

Antrag, für die Abfassung eines entsprechenden Konventionsentwurfs eine „Staatsangehörigkeitskommission" zu bilden, hat die Mitgliederversammlung denn auch gebilligt 384 . Auf der sechsten Jahresversammlung der Gesellschaft 1926 in Stuttgart ist Triepel wiederum zum Mitglied des Rates gewählt worden 385 . Am Abend zuvor hatte August Hegler, der damalige Rektor der Universität Tübingen und Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät, anläßlich der Begrüßungsfeier der Stadt Stuttgart in der „Villa Berg" über die besonders engen Beziehungen der Universität zum Völkerrecht gesprochen, indem er auf die früheren Tübinger Professoren Robert v. Mohl (1799-1875) 386 , Karl Georg v. Wächter, Ferdinand v. Martitz und auch Triepel hinwies 387 . Abgesehen von den erwähnten Diskussionsbeiträgen auf den Jahresversammlungen in Leipzig (1923) und Würzburg (1924) hat sich Triepel, jedenfalls soweit dies den veröffentlichten Materialien zu entnehmen ist, nicht an der inhaltlichen Arbeit der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht beteiligt. Zwar sollte er einmal auf Vorschlag von Erich Kaufmann ein Referat mit dem Titel „Stand des Studiums des Völkerrechts und des internationalen Privatrechts an den deutschen Hochschulen" übernehmen, das als Beratungsgegenstand für den ersten Tag der Jahresversammlung des Jahres 1928 in Königsberg vorgesehen war. Die Wahl einer „Stadt des Ostens" durch den Rat fand jedoch gegen den erklärten Willen des Vorsitzenden Niemeyer statt, der, nachdem er sich bei der Abstimmung nicht durchsetzen konnte, erklärte, er sei den Schwierigkeiten der Vorbereitung einer Jahresversammlung in Königsberg „persönlich nicht gewachsen" 388 . A u f dessen Vorschlag hin übernahm es Erich Kaufmann, das Erforderliche zu veranlassen, allerdings unter der Voraussetzung, daß der Vorsitzende ihm „nach Möglichkeit" beistehe389. Diese Möglichkeit schien nicht bestanden zu haben, so daß die nächste Jahresversammlung der Gesellschaft erst 1929 in Köln stattfinden konnte. Für diese Tagung waren jedoch andere Beratungsgegenstände vorgeschlagen worden waren. Auch als man sich Anfang 1930 unter der Führung des neuen Vorsitzenden Walter Simons schließlich doch entschlossen hatte, eine Jahresversammlung in Königsberg abzuhalten, 384

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 5, 1924, S. 51 f. Die 15 anderen Ratsmitglieder waren zu dieser Zeit v. Bülow, van Calker, Eickhoff, Fleischmann, v. Frank, W. Jellinek, E. Kaufmann, Laun, Magnus, Neumeyer, Pereis, Schramm, Strupp, Thoma und Zorn, s. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 6, 1925, S. 95. Die Mitgliederversammlung vom 25. Mai 1929 wählte Triepel wieder, und zwar einstimmig, zum Ratsmitglied, s. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 9, 1929, S. 114. 385

386 387 388 389

Über ihn Schweden NJW 1988, S. 1518-1525. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 6, 1925, S. 98. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 8, 1927, S. 136. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 8, 1927, S. 137.

6. Kap.: Berlin 1913-1944

127

zog der Vorstand andere Themen vor 3 9 0 . So erhielt Triepel keine Gelegenheit mehr, über den Stand des Studiums von Völkerrecht und Internationalem Privatrecht zu referieren. Triepel blieb der Deutschen Gesellschaft fur Völkerrecht bis zu ihrer Liquidation und Auflösung im Frühjahr 1934 391 als Mitglied des Rates 392 verbunden.

4. Deutscher Juristentag A u f der ersten Nachkriegstagung im Jahre 1921 in Bamberg wurde Triepel als Mitglied in die Ständige Deputation des Deutschen Juristentags aufgenommen. Er hielt ein Referat über die Frage „Empfiehlt es sich, in die Reichsverfassung neue Vorschriften über die Grenzen zwischen Gesetz und Rechtsverordnung aufzunehmen?" 393 . Bis zur Bamberger Tagung von 1921 hatte das Staats- und Verfassungsrecht auf den Juristentagen kaum Beachtung gefunden. Zuvor war nur in den Jahren 1862 und 1863 auf dem 3. und 4. Deutschen Juristentag über die Frage der Prüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit debattiert worden 394 . Ein spezifisch staatsrechtliches Thema im engeren Sinne bildete nur einmal, auf dem 19. Deutschen Juristentag 1888, den Verhandlungsgegenstand 395. Der Juristentag hatte es im übrigen bewußt vermieden, sich unmittelbar mit öffentlichrechtlichen Fragen zu befassen, da man „die Besorgniß hegte und aussprach, daß der Juristentag sonst in seinem eigenen Kreise sehr heftige, schwer zu überwindende Gegensätze wachrufen und außerhalb seines Kreises noch weit gefährlichere Gegensätze antreffen würde, die vielleicht alle seine Interessen gefährden könnten" 396 . Selbst die doch praxisnähere Materie des Verwaltungsrechts hatte man nur ausnahmsweise gestreift, wenn es der Zusammenhang mit dem erörterten Ge390

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft fur Völkerrecht, Heft 10, 1930, S. 201, 205, 208. 391 Vgl. hierzu Scheuner, Berichte der Deutschen Gesellschaft ftir Völkerrecht, Heft 1, 1957, S. 70; Mosler, Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 31, 1990, S. 11 m. w. N. 392 Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft fur Völkerrecht, Heft 12, 1932, S. XIV. 393 Verh. des 32. DJT, S. 11-35, 54-56 (Leitsätze). 394 Vgl. die Übersicht bei Olsen, S. 71-73. 395 Hollerbach, AöR 91 (1966), S. 422 Fn. 22. Damals äußerten sich Max von Seydel und Georg Jellinek gutachtlich zu folgender Frage: „Empfiehlt es sich, die Prüfung der Wahlen fur gesetzgebende Körperschaften als eine richterliche Thätigkeit anzuerkennen und deshalb der Rechtsprechung eines Wahlprüfiingsgerichtshofes zu unterstellen?", Verh. des 19. DJT, Bd. 1, S. 130-156 und Bd. 2, S. 121-134. 3 9 6

Thomsen,

S. 7.

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Erster Teil: Leben

genstand erforderte. Das auf dem Berliner Juristentag im Jahre 1902 behandelte Thema der Rechtskraft verwaltungsbehördlicher Entscheidungen397 war außerhalb der Statuten gestanden. Erst spät, auf dem 28. Deutschen Juristentag 1906 in Kiel, hatte man einen - vorsichtigen - Schritt vorwärts gewagt und einstimmig beschlossen, das Aufgabengebiet um das „Innere Verwaltungsrecht" zu erweitern 398 . Es sollte dann noch weitere 15 Jahre dauern, bis auf der Bamberger Tagung 1921 schließlich auch das Verfassungsrecht in den Themenkreis der Beratungen einbezogen wurde 399 , was einer von Wilhelm Kahl, dem damaligen Präsidenten des Juristentags, unterstützten Initiative Triepels zu verdanken sein dürfte 400 . Sein Berliner Fakultätskollege Kahl gab in der Eröffnungsansprache eine Begründung für die stärkere Berücksichtigung des öffentlichen Rechts, der sich Triepel voll und ganz anschloß401: „Nur schüchtern hat der deutsche Juristentag bisher das öffentliche Recht im engeren Sinne betreten. Die Schranken, die er sich hierin gezogen hatte, sind durch die Wucht der Ereignisse gefallen. Noch weniger als vorher lassen sich die scharfen Grenzlinien zwischen privatem und öffentlichem Rechte aufrecht erhalten." 402 Auch in der Folgezeit nahm Triepel maßgeblichen Einfluß auf die inhaltliche Gestaltung der Juristentage. Schon auf dem 33. Deutschen Juristentag im September 1924 in Heidelberg war er neben Professor Graf zu Dohna Berichterstatter zu dem Thema „Zulässigkeit und Form von Verfassungsänderungen ohne Änderungen der Verfassungsurkunde" 403. Ursprünglich hatte Adelbert Düringer das Referat halten sollen. Dessen Ableben am 3. September 1924 vereitelte jedoch dieses Vorhaben. Düringer konnte nur noch die - u. a. die virulente Frage richterlicher Inzidentkontrolle betreffenden - Leitsätze selbst ausarbeiten 404. In Vorausahnung seines nahen Endes war von ihm noch rechtzeitig der Wunsch geäußert worden, Triepel möge statt seiner die Thesen vor dem Juristentag verteidigen. Aus ihrem Zusammenwirken beim Verein „Recht und Wirtschaft" 405 hatte er die Überzeugung gewonnen, Triepel stünde seinen Anschauungen wenigstens in den Grundzügen nahe 406 . Auch dürfte Düringer be-

397

Schultzenstein, Verh. des 26. DJT, Bd. 1, S. 86-124; Bernatzik, Verh. des 26. DJT, Bd. 2, S. 32-53. 398 Verh. des 28. DJT, Bd. 3, S. 576-578. 399 Vgl. zum Ganzen H. Conrad, S. 6 f., 9; Mallmann, DRZ 1949, S. 385 f. 400 So Hollerbach, AöR 91 (1966), S. 422. 401 Verh. des 32. DJT, S. 11 f. 402 Verh. des 32. DJT, S. 2 f. 403 Verh. des 33. DJT, S. 45-65. 404 Verh. des 33. DJT, S. 94. 405 Vgl. dazu oben 1. 406 Vgl. den Bericht Triepels, Verh. des 33. DJT, S. 46.

6. Kap.: Berlin 1913-1944

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kannt gewesen sein, daß Triepel schon Anfang 1919 das richterliche Prüfungsrecht als ein Palladium der Freiheit der Bürger 407 und wenig später als den wichtigsten Schutz der bürgerlichen Freiheit gegenüber einem machthungrigen Parlament bezeichnet hatte 408 . Zudem hatte sich Triepel schon auf der Bamberger Tagung von 1921 für eine richterliche Überprüfung von Ermessensüberschreitungen des Gesetzgebers bei Verordnungsermächtigungen ausgesprochen 409 . Er wollte „den Gesetzgeber in den Schranken gefesselt erhalten, in die ihn ... das geltende Verfassungsrecht gebannt hat." 410 Die Gerichte hätten deshalb „das Recht und die Pflicht" zu prüfen, ob die Verleihung von Verordnungsrechten durch die Legislative „auf das mit der Verfassung verträgliche und auf das unumgänglich notwendige Maß' beschränkt worden sei 411 . Diese Erklärungen Triepels zur richterlichen Normenkontrolle waren also keineswegs, wie Helge Wendenburg meint, „so unscharf gehalten, daß man ihnen nicht entnehmen kann, ob sie sich nur auf Verordnungen oder auch auf Gesetze erstrecken kann." 412 Triepel differenzierte vielmehr auch in seinem Ausschußbericht vor der Plenarversammlung klar zwischen beiden Prüfungsgegenständen und machte deutlich, für ihn sei „die Hauptsache ... aber nicht die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Verordnungen, sondern die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit solcher Gesetze, die ein Verordnungsrecht begründen, und ... daß über diese Frage der Richter schon nach jetzigem Rechte zu befinden habe." 413 Da die öffentlich-rechtliche Abteilung des Bamberger Juristentags Triepel zu dessen großen Freude in dieser Frage einstimmig gefolgt war 414 , was er sich später „ein wenig als Verdienst" angerechnet hat 415 , konnte er gegenüber einigen 1924 auf der Heidelberger Tagung anwesenden Gegnern des richterlichen Prüfungsrechts mit gutem Recht auf „so etwas wie eine res judicata" verweisen 416 . Obwohl ihm bewußt war, „in ein Wespennest" zu greifen, wenn er sich zum Anwalt der Thesen Düringers machte 417 , trat Triepel nachdrücklich für die Anerkennung des richterlichen Prüfungsrechts ein. Den Leitsatz Nr. 3 Düringers („Die Gerichte sind berechtigt und verpflichtet, die Verfassungsmäßigkeit 407

Triepel, SchmollersJb 1919, S. 70; vgl. auch Art. 147 des von Triepel Ende 1918 mit verfaßten „Entwurfs einer Verfassung des Deutschen Reichs". 408 Triepel, AöR 39 (1920), S. 537; vgl. näher unten 8. Kap. V. 2. a). 409 Verh. des 32. DJT, S. 25 f., 56; vgl. näher unten 8. Kap. V. 4. a). 4,0 Verh. des 32. DJT, S. 27; vgl. auch ebd., S. 306. 411 Verh. des 32. DJT, S. 25 f., 56. Die Annahme von Helge Wendenburg, S. 69, dieser Leitsatz sei nicht von Triepels Vortrag gedeckt gewesen, entbehrt jeder Grundlage. 412

413

Wendenburg, S. 69.

Verh. des 32. DJT, S. 306. 414 Verh. des 32. DJT, S. 306. 4.5 Verh. des 33. DJT, S. 59. 4.6 Verh. des 33. DJT, S. 59. 417 Verh. des 33. DJT, S. 59. 9 Gassner

Erster Teil: Leben

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der Gesetze selbständig nachzuprüfen." 418) stellte er aber unter den ergänzenden Vorbehalt, daß die endgültige Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen einem besonderen Senat des Staatsgerichtshofs obliegen solle 419 . Trotz dieser maßvollen und sachadäquaten Lösung wurde in der Diskussion des Referats teilweise argumentiert, die ganze Frage sei „weder politisch noch juristisch reif' 4 2 0 und dürfe im übrigen nicht zum Gegenstand der Beschlußfassung gemacht werden, weil sie nicht vom Beratungsthema umfaßt werde 421 . Da Triepel der Anregung, den von Düringer übernommenen Leitsatz 3 zurückzuziehen, „aus Pietätsgründen" nicht folgen wollte, sprach sich die Mehrheit dafür aus, die Frage des richterlichen Prüfungsrechts abzusetzen422. Immerhin wurde dann aber beim Kölner Juristentag (1926) folgender Beratungsgegenstand auf die Tagesordnung genommen: „Empfiehlt es sich, die Zuständigkeit des Staatsgerichtshofs auf andere als die im Art. 19, Abs. 1 RVerf. bezeichneten Verfassungsstreitigkeiten auszudehnen?"423. Dort und auch auf der folgenden Tagung in Salzburg (1928) hat Triepel in der Abteilung fur öffentliches Recht den Vorsitz geführt 424 . Sein fruchtbares Wirken 425 , fand schließlich auch eine hohe äußere Anerkennung, als er auf dem Lübecker Juristentag von 1931 zum Vorsitzenden der Ständigen Deputation 426 gewählt wurde 427 . Insgesamt läßt sich somit feststellen, das Triepel die Juristentage dieser Zeit inhaltlich, jedenfalls mit Blick auf das Staatsrecht, aber auch personell-organisatorisch entscheidend geprägt hat 428 . Als der Juristentag vor den ihm durch den Nationalsozialismus drohenden Gefahren stand, hatte Triepel noch das Amts des Vorsitzenden der Ständigen 418

Verh. des 33. DJT, S. 45. Verh. des 33. DJT, S. 60. 420 Verh. des 33. DJT, S. 65. 421 So Anschütz, Verh. des 33. DJT, S. 66. 422 Verh. des 33. DJT, S. 66; vgl. dazu näher Wendenburg,, S. 70-72. 423 Verh. des 34. DJT, 2. Bd., S. 193-288; vgl. dazu näher Wendenburg,, S. 72-74. 424 In Köln wurde er auf Vorschlag von Gerhard Anschütz gewählt, vgl. Verh. des 34. DJT, 2. Bd., S. 69. Vgl. zur Tagung in Salzburg Verh. des 35. DJT, 2. Bd., S. 310. Wenn ihm der Ton der Berichterstattung oder Diskussion zu schneidig oder zu politisch wurde, scheute sich Triepel nicht, die Zensur „zu temperamentvoll" zu erteilen, oder die Empfehlung auszusprechen, man möge „scharfe Ausdrücke lieber vermeiden", Verh. des 34. DJT, 2. Bd., S. 263. 425 So ausdrücklich Koenen, S. 496. 426 Die Ständige Deputation hatte vor allem die Aufgabe, die jeweiligen Juristentage vorzubereiten und die „Verhandlungen des Deutschen Juristentages" zu veröffentlichen, 419

vgl. Göppingen S. 130. 427 428

Verh. des 36. DJT, 2. Bd., 805. Ebenso Koenen, S. 496.

6. Kap.: Berlin 1913-1944

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Deputation inne. Die von ihm stets geförderte innere Homogenität dieses Leitungsorgans 429 mußte sich nun bewähren. Aufgrund der im Frühjahr 1933 eingetretenen politischen Lage sah sich Triepel zum sofortigen Handeln gezwungen. Er beauftragte deshalb den stellvertretenden Vorsitzenden der Ständigen Deputation, den Berliner Rechtsanwalt Dr. Ernst Wolff (1857-1959) 430 , die ursprünglich für den 11. Juni 1933 anberaumte Sitzung der Deputation auf den 29. April vorzuverlegen 431. Dort wurde nahezu einstimmig - nur der Münchener Oberlandesgerichtspräsident i. R. und Staatsrat Dr. Karl Meyer wollte sich der Mehrheitsmeinung nicht anschließen, sondern den Deutschen Juristentag im „Geist der neuen Zeit" fortführen 432 - folgender schicksalsschwerer Entschluß gefaßt: „Die Ständige Deputation des Deutschen Juristentages erachtet es nicht für angezeigt, inmitten einer noch völlig im Fluß befindlichen, grundlegenden Umgestaltung des deutschen Staats- und Rechtslebens einen juristischen Kongreß rein wissenschaftlichen Charakters abzuhalten. Sie hat deshalb beschlossen, den Deutschen Juristentag, der für September d. Js. in München in Aussicht gestellt war, zu vertagen." 433 Des weiteren lehnte es die Deputation - wiederum mit Ausnahme Meyers - ab, geschlossen ihren Rücktritt zu erklären. Abschließend hielt Triepel eine „Abschiedsrede, deren Würde und Takt" die letztmals versammelten Deputationsmitglieder, unter ihnen Gerhard Anschütz, „tief bewegte[n]" 434 . Begleitet von dem mutigen Wort des Deputationsmitglieds Graf zu Dohna „lieber in Ehren untergehen als in Schande weiterbestehen" hatte der Deutsche Juristentag damit de facto sein Ende gefunden 435. Diese Entwicklung kam dem 1928 gegründeten Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen (BNSDJ) 436 insofern nicht ungelegen, als er nun in der Lage war, die „Firma" des „Juristentags" zu übernehmen und für seine Zwecke zu verwenden. Die geplante vierte Reichstagung des BNSDJ in Leipzig sollte zu einem „Juristentag" neuen Stils ausgebaut werden, der mit den früheren Zielen und Aufgaben nichts mehr gemein hatte 437 . Dieser gänzlich andersgeartete „Juristentag" fand vom 30. September bis 2. Oktober 1933 statt und bekundete offen seine „Verbundenheit mit dem Ideengut der nationalsozialisti-

429 430 431

Vgl. zu der dortigen quasifamiliären Atmosphäre E. Wolff Über ihn Maier-Reimer, S. 643-665. H. Conrad, S. 10.

432

Vgl. näher Göppingen S. 131; Koenen, S. 498 Fn. 231; Rapp, S. 172 Fn. 529.

433

DJZ 1933, Sp. 678; H. Conrad, S. 11. E. Wolff, SJZ 1950, Sp. 818. E. Wolff, SJZ 1950, Sp. 820; Landau, ZNR 1994, S. 373.

434 435

436

Vgl. zum BNDSJ Göppinger, S. 126 f.; Sunnus, S. 21^0 und passim.

437

Mallmann, DRZ 1949, S. 385; Koenen, S. 494 f., Landau, ZNR 1994, S. 374, jew.

m. w. N. *

SJZ 1950, Sp. 819 f.

12

Erster Teil: Leben

sehen Rechtsauffassung" 438. Er war, so die Selbstdarstellung des BNSDJ, „eingerahmt von gewaltigen Kundgebungen, die ihren Abschluß mit der bedeutenden Rede des Reichskanzlers Adolf Hitler fanden. Damit war der Juristentag 1933 allein schon ein gewaltiges Erleben und zeigte als Veranstaltung von größtem Ausmaß gleichzeitig die innige Anteilnahme des gesamten Juristenstandes an den Fragen der kommenden Rechtsreformen und die schicksalhafte Verbundenheit mit der nach Klarheit und Wahrheit ringenden Volksseele." 439 Triepels Antipode Carl Schmitt nutzte dieses Forum von mehr als 12.000 Juristen des In- und Auslands, um sich als führender Staatsrechtler des neuen Regimes in Szene zu setzen440. In einem Rundschreiben vom 16. Oktober 1933 kritisierte Triepel denn auch die fehlende Wissenschaftlichkeit der Leipziger Tagung, indem er hervorhob, sie habe sich von den bisherigen Juristentagen dadurch unterschieden, daß bis dahin ausschließlich „rein wissenschaftliche" Ziele verfolgt worden seien441. Die Gegenkritik des BNSDJ war ebenso platt wie entlarvend: „Darüber braucht mit den Vertretern des alten Systems nicht gerechtet zu werden, da jeder Teilnehmer des größten Juristentags aller Zeiten und Länder das Gegenteil gefühlt und erlebt hat" 442 . Die nationalsozialistischen Juristen konnten sich diese arrogante Haltung erlauben, weil Sie sich als „Vertreter des neuen Systems" gerade auch nach dem großen Erfolg ihrer Veranstaltung sicher und unanfechtbar wähnten. Ungeachtet dieser faits accomplis widersetzte sich Triepel in seiner Funktion als Deputationsvorsitzender mit aller Energie über Jahre hinweg dem Verlangen des - 1936 in „Nationalsozialistischer Rechtswahrerbund" umbenannten BNDSJ 443 nach förmlicher Auflösung des Deutschen Juristentags 444. So wurde der Deutsche Juristentag erst durch die §§ 10, 1 des Gesetzes über Beamtenvereinigungen vom 27. Mai 1937 445 mit Wirkung ab 1. Juli 1937 ipso jure aufgelöst. Bei den Erörterungen im Geschäftsführenden Ausschuß der Ständigen Deputation hegte man den begründeten Verdacht, § 10 dieses Gesetzes sei gerade 438 Deutscher Juristentag 1933, S. 3. Daraufhin teilte die Ständige Deputation in einem mutigen Rundschreiben mit, sie habe beschlossen, vorläufig keine Mitgliederbeiträge auszuschreiben, vgl. H. Conrad, S. 11. 439 Deutscher Juristentag 1933, S. 3. 440 Deutscher Juristentag 1933, S. 495 f. 441 Deutscher Juristentag 1933, S. 3 f. 442 Deutscher Juristentag 1933, S. 3 f.; vgl. auch Rapp, S. 172 f.; Koenen, S. 497 Fn. 230 m. N. 443 Dies geschah nicht zuletzt auf Betreiben Carl Schmitts, vgl. Koenen, S. 690. 444 Lebenslauf, UAH, Nr. 102, Bl. 55; s. näher unten III. m. w. N. 445 RGBl. I S. 597. Das Gesetz trug in Vertretung des Reichsjustizministers die Unterschrift von Dr. Schlegelberger, der seit 1928 Mitglied der Ständigen Deputation war,

vgl. Göppingen S. 132.

6. Kap.: Berlin 1913-1944

1

auf den Deutschen Juristentag gemünzt. Denn der von Reichsjustizkommissar Hans Frank geführte BNDJ 4 4 6 , die Vorgängerorganisation des NS-Rechtswahrerbunds, hatte schon jahrelang leidenschaftliches Interesse an der Auflösung des Juristentags gezeigt. Deshalb war sich die Ständige Deputation im klaren darüber, daß eine im Gesetz formal für Zweifelsfälle als Rechtsschutzverfahren vorgesehene Anrufung des Reichsjustizministers keinen Erfolg haben würde und allenfalls als Provokation aufgefaßt werden könnte. Da auch der ordentliche Rechtsweg ausgeschlossen war, konnte die Einziehung des Vereinsvermögens und dessen Übernahme durch den Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund nicht verhindert werden 447 . Erich Kaufmann hat das Bemühen Triepels um den Fortbestand des Deutschen Juristentags im Rückblick wie folgt gewürdigt: Er habe „mutig das Banner dieser auf freier Forschung und freier Diskussion beruhenden Einrichtung hochgehalten, als eine neue Einrichtung, die beide Prinzipien verwarf, vom Dritten Reiche ins Leben gerufen worden war. Das ist ihm von den damaligen Machthabern nie vergeben worden: 1935 wurde er vorzeitig emeritiert; man versagte dem aufrechten Manne eine weitere Lehrtätigkeit." 448

5. Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer a) Gründung Noch größere Verdienste als um den Deutschen Juristentag hat sich Triepel um eine weitere zentrale Institution des heutigen Rechtslebens in Deutschland erworben: Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer verdankt ihm ihre Gründung. Schon auf dem Bamberger Juristentag von 1921 449 , wo eine größere Anzahl von Lehrern des Staatsrechts zugegen war, hatte man sich darauf verständigt, „in regelmäßigen Zwischenräumen Zusammenkünfte von deutschen Staatsrechtslehrern zu veranstalten, wenn möglich einen Bund deutscher Staatsrechtslehrer zu gründen, der die Aufgabe haben sollte, durch Gedankenaustausch wissenschaftliche und gesetzgebungspolitische Fragen des öffentlichen Rechts zu klären, unter Umständen auch zu solchen Fragen Stellung zu nehmen und über die zweckmäßige Behandlung des öffentlichen Rechts im akademi-

446 Diese Organisation wurde von Hans Frank benutzt, um „mit massiven Drohungen und bewußter Irreführung" alle Juristen hierin zusammenzufassen und sonstige Juristenorganisationen zu zerschlagen, Göppinger, S. 112. 447 448

449

H. Conrad, S. 11 f. Kaufmann, DRZ 1947, S. 60 f.

Vgl. zu ihm oben 4.

134

Erster Teil: Leben

sehen Unterricht und in den Prüfungen Rats zu pflegen." 450 Die Initiative zur Gründung einer solchen Staatsrechtslehrervereinigung ging unstreitig von Triepel aus 451 . Ob und inwiefern an ihr schon zu diesem Zeitpunkt oder später auch sein Berliner Fakultätskollege Rudolf Smend oder Willibalt Apelt beteiligt waren, läßt sich dagegen nicht eindeutig belegen 452 . Dasselbe gilt auch für die Frage, ob Triepels Gründungsinitiative als Reaktion auf Bemühungen des sozialdemokratisch gesinnten Staatsrechtlers Fritz Stier-Somlo, eine „Republikanische Staatsrechtslehrervereinigung" zu bilden, verstanden werden kann 453 . Michael Stolleis leitet hieraus jedenfalls ab, die Gründung der Vereinigung sei „nicht ganz freiwillig" gewesen 454 . Eine solche Folgerung setzt freilich die Prämisse voraus, es hätte im wohlverstandenen Interesse der mehrheitlich „vernunftrepublikanisch" und konservativ orientierten Staatsrechtslehrer gelegen, keinen eigenen Richtungsverband zu gründen. Ebendies ist aber in jener politisch so spannungsgeladenen Zeit bei einem auch und gerade in persönlicher Hinsicht so von der Nähe zur Politik geprägten Fach alles andere als selbstverständlich. Das Unterfangen Triepels, die verschiedenen Strömungen der Staatsrechtslehre in einem Verband zusammenzufassen, um ein Forum wissenschaftlicher Diskussion zu schaffen, erscheint deshalb um so verdienstvoller. Jedenfalls hat Triepel den wissenschaftspolitischen Nutzen einer solchen organisatorischen Plattform intuitiv erfaßt. Für diese Aufgabe war er aber auch wie kein anderer prädestiniert: Er genoß nicht nur eine außerordentliche Reputation als Wissenschaftler, sondern repräsentierte auch in politischer Hinsicht die Mehrheitsströmung der deutschen Staatsrechtslehre 455. Aus diesen Gründen, vielleicht aber auch wegen seines mehrfach bewiesenen Organisationstalents, hat man ihn gebeten, die Vorbereitung einer ersten Zusammenkunft in die Hand zu nehmen. A u f der vom 21. bis 24. April 1922 abgehaltenen Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht in Hamburg 456 , wo wie450

So Triepel in einem privaten Rundbrief vom 22. Juni 1922, BA, NL W. Jellinek

Bd. 18. 451

Vgl. nur März, S. 118; Stolleis, KritV 1997, S. 340; ders. III, S. 186. Michael Stolleis, KritV 1997, S. 340, vermutet, die Gründungsinitiative sei „wohl auch" von Rudolf Smend ausgegangen. Günter Dürig, AöR 82 (1957), S. 159, ein Schüler Willibalt Apelts, hat gemeint, die Vereinigung sei „weitgehend auf seine [seil. Apelts, d. Verf.] und Heinrich Triepels Initiative" zurückgegangen. In Apelts Autobiographie findet sich an der einschlägigen Stelle hiervon allerdings kein Wort, vgl. Apelt, Jurist, S. 119 f.; vgl. auch Stolleis, KritV 1997, S. 340 mit Fn. 3; ders. III, S. 186 Fn. 179.Triepel selbst sprach in der ihm eigenen Bescheidenheit davon, er habe die Vereinigung „in Verbindung mit einer Reihe anderer Fachgenossen ins Leben" gerufen, Schreiben an Koellreutter vom 18. April 1933, Verlagsarchiv J. C. B. Mohr. 453 So Stolleis, KritV 1997, S. 340. 454 Stolleis, KritV 1997, S. 340. 455 Zutreffend Stolleis, KritV 1997, S. 340 f.; ders. III, S. 186. 452

456

1922.

Vgl. hierzu die Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 3,

6. Kap.: Berlin 1913-1944

1

derum eine Reihe von Staatsrechtslehrern anwesend war 457 , sprach Triepel mit der Mehrzahl der Kollegen die Angelegenheit noch einmal durch. Daß auch hier seine Anregung „auf sehr fruchtbaren Boden" 458 fiel, war alles andere als zufällig 459 . Allenthalben bestand ein dringliches Bedürfnis, der wissenschaftlichen Diskussion einen stabilen organisatorischen Rahmen zu geben. Allein schon die neue Verfassungslage in Reich und Ländern ließ es als sinnvoll erscheinen, sich mit den Fachkollegen auszutauschen, um sich der eigenen Positionen zu vergewissern oder sie zu revidieren. Hinzu kam, daß die merkliche Politisierung innerhalb der eigenen Reihen sowie der noch nicht offen ausgetragene Methodenstreit den internen Diskussionsbedarf verstärkte. Schließlich hat es den in Hamburg angesprochenen Staatsrechtslehrern sicher auch eingeleuchtet, daß es sinnvoll sein könnte, den zeitlos virulenten Fragen der Ausbildung und Prüfungspraxis ein Forum zu schaffen. Nachdem Triepel so viel Zuspruch erfahren hatte, schlug er in einem Rundschreiben vom 22. Juni 1922 in Gemeinschaft mit seinen Berliner Kollegen Wilhelm Kahl, Rudolf Smend, Viktor Bruns und Conrad Bornhak vor, die erste Versammlung der deutschen Staatsrechtslehrer im Laufe des Oktobers 1922 in Berlin abzuhalten. Zu einer genauen Terminierung sah man sich „bei der Unsicherheit der politischen Lage" außerstande. Die Einladung erging „an alle reichsdeutschen Professoren und Privatdozenten, die sich in wissenschaftlicher Forschung und Universitätslehrtätigkeit dem Staatsrechte gewidmet haben." 460 Die Frage der Ausdehnung dieses Kreises, namentlich der Einbeziehung der österreichischen Staatsrechtslehrer, sollte wegen der insofern bestehenden Meinungsunterschiede der „Gründungsverhandlung" vorbehalten bleiben. Wie in dem Rundschreiben weiter ausgeführt wird, war des weiteren vorgesehen, die künftigen Versammlungen „in einer später zu bestimmenden Reihenfolge in den anderen Universitätsstädten, gelegentlich vielleicht auch auf neutralem Boden" abzuhalten461. Alles Nähere sei auf der „Gründungsverhandlung" zu besprechen 462. Nur über eines scheine „schon jetzt allseitiges Einverständnis zu herrschen: daß keine Versammlung ohne eine wissenschaftliche Aussprache verlaufen" dürfe 463 .

457

Insgesamt waren etwa 70 Mitglieder der Gesellschaft anwesend, vgl. Ν. N., NiemeyersZ 1923, S. 275. 458 Triepel, Rundbrief vom 22. Juni 1922, BA, NL W. Jellinek Bd. 18. 459 Vgl. auch Stolleis, KritV 1997, S. 341. 460 Triepel, Rundbrief vom 22. Juni 1922, BA, NL W. Jellinek Bd. 18. 461 Triepel, Rundbrief vom 22. Juni 1922, BA, NL W. Jellinek Bd. 18. 462 Folgende Tagesordnung wurde vorgeschlagen: „1) Feststellung der Organisation des Bundes der Staatsrechtslehrer, 2) Die Stellung des Staatsrechts in der Unterrichtsund Prüfungsordnung, 3) Vortrag und Aussprache des richterlichen Prüfungsrechtes.", Triepel, Rundbrief vom 22. Juni 1922, BA, NL W. Jellinek Bd. 18. 463 Triepel, Rundbrief vom 22. Juni 1922, BA, NL W. Jellinek Bd. 18.

Erster Teil: Leben

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Triepels Initiative war damit der entscheidende Schritt zu einem Zusammenschluß, der, wie er hoffte, „den Boden fur eine in den Nöten der Gegenwart dringend erwünschte und trotz vielfacher Gegensätze in wissenschaftlicher Methode und politischer Anschauung mögliche Arbeitsgemeinschaft bieten" sollte 464 . Nachdem das Rundschreiben vom Juni 1922 bei der großen Mehrheit der zur Äußerung aufgeforderten Staatsrechtslehrer freundliche Zustimmung gefunden hatte, versandte Triepel unter dem 13. September 1922 an alle deutschen Kollegen die Einladung zur Gründungsversammlung am 13. und 14. Oktober 1922 in Berlin 4 6 5 . Von 67 Eingeladenen hatten sich „trotz der Ungunst der Verhältnisse" 466 42 eingefunden 467 . Trotz Einladung nicht erschienen war der eher liberal gesinnte Göttinger Ordinarius Julius Hatschek (1872-1926) 468 , der sich gegen die Initiative Triepels gewandt hatte und es auch später ablehnte, Mitglied der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer zu werden 469 . Auch einige politsch besonders Engagierte, wie der Pazifist Walter Schücking, der Mittelstandspolitiker Johann Viktor Bredt und der erzkonservative Axel Freiherr von Freytagh-Loringhoven traten nicht bei 4 7 0 . Abgesehen von Fritz Poetzsch-Heffter, der seit 1932 in Kiel lehrte 471 , schlossen sich im Laufe der Zeit aber alle deutschen Staatsrechtslehrer der Vereinigung an 472 . Alle in Berlin anwesenden Tagungsteilnehmer erklärten ihren Beitritt, nachdem der von Triepel verfaßte 473 Satzungsentwurf 474 entsprechend dem ersten 464

AöR 39(1922), S. 349. BA, NL W. Jellinek Bd. 60; vgl. auch Apelt, Jurist, S. 119. 466 Triepel, AöR 39 (1922), S. 349. 467 Vgl. K. Hesse, AöR 97 (1972), S. 345; Friedrich, Staatsrechtswissenschaft, S. 331. Erschienen waren Anschütz, Apelt, Bornhak, Bruns, Bühler, Dyroff, Fleischmann, Fürstenau, Helfritz, Genzmer, Giese, Gmelin, Heller, Hensel, Holstein, Jacobi, Jellinek, Jerusalem, E. Kaufmann, v. Koehler, Koellreutter, Kraus, Lassar, Laun, Lukas, Frhr. Marschall von Bieberstein, Mirbt, Nawiasky, Neuwiem, Pereis, Preuss, Rieker, Sartorius, R. Schmidt, C. Schmitt, Schoenborn, Smend, Stier-Somlo, Tatarin-Tarnheyden, Thoma, Wenzel, Wolgast; s. die Aufzählung bei Triepel, AöR 43 (1922), S. 349; vgl. auch Stolleis III, S. 187 Fn. 187. 468 Über ihn Sattler, S. 365-384. 469 Schriftliche Mitteilungen Reinhard Mußgnugs und Andreas Sattlers; vgl. auch Thoma, VVDStRL 4 (1928), S. 5; K. Hesse, AöR 97 (1972), S. 345; Scheuner, AöR 97 (1972), S. 351 Fn. 4. 470 Stolleis, KritV 1997, S. 342; ders. III, S. 188 Fn. 188. 471 Stolleis, KritV 1997, S. 342; ders. III, S. 188 Fn. 188. 472 Scheuner, AöR 97 (1972), S. 351. 473 So auch K. Hesse, AöR 97 (1972), S. 345; Stolleis, KritV 1997, S. 341; ders. III, S. 187. Die Urheberschaft Triepels ist nicht nur wegen seiner Rolle als Spiritus rector zu vermuten; auch die - zumindest prima vista feststellbare - Identität der Schrifttypenbilder von Satzungsentwurf und Einladungsrundschreiben nährt diese Annahme. 474 „Entwurf zu einer Satzung", s. BA, NL W. Jellinek Bd. 60. 465

6. Kap.: Berlin 1913-1944

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Tagesordnungspunkt beraten und festgestellt sowie der Gründungsbeschluß gefaßt worden war. Der Entwurf wurde ohne wesentliche Änderungen verabschiedet. Zustimmung fand namentlich die im Vorfeld noch umstritten gewesene Frage der Abgrenzung des hinzuzuziehenden Personenkreises. Der Vorschlag Triepels, als deutsche Universitäten auch diejenigen Österreichs und die deutsche Universität zu Prag zu betrachten (§ 2 Abs. 3) wurde akzeptiert 475. Darüber hinaus ermöglichte man die Aufnahme der Staatsrechtslehrer an deutsch-schweizerischen Universitäten (§ 2 Abs. 4) 4 7 6 . Auch hier herrschte mithin, so Gerhard Anschütz im Rückblick, „wie beim Juristentag, der großdeutsche Gedanke"477. § 1 des Statuts entsprach im Kern der informellen Absprache auf dem Bamberger Juristentag und hat deshalb im Gegensatz zu § 2 von Anfang an den ungeteilten Beifall aller Mitglieder gefunden. Danach stellt sich die Vereinigung der Staatsrechtslehrer eine dreifache Aufgabe, und zwar (1.) wissenschaftliche und Gesetzgebungsfragen aus dem Gebiet des öffentlichen Rechts durch Aussprache in Versammlungen der Mitglieder zu klären, (2.) auf die ausreichende Berücksichtigung des öffentlichen Rechts im Hochschulunterricht und bei staatlichen und akademischen Prüfungen hinzuwirken sowie (3.) in wichtigen Fällen zu Fragen des öffentlichen Rechts durch Eingaben an Regierungen und Volksvertretungen oder durch öffentliche Kundgebungen Stellung zu nehmen. Triepel zufolge kommt in dieser Regelung zum Ausdruck, daß die „Vereinigung weder eine Standesvertretung ... noch ein politischer Verein sein will. Ihr Grundcharakter ist der eines akademisch-wissenschaftlichen Verbandes." 478 An diesem Selbstverständnis der Vereinigung hat sich bis heute nichts geändert 479. Daß Stellungnahmen zu brennenden Fragen des öffentlichen Lebens trotz des Charakters der Vereinigung als wissenschaftlicher Fachgesellschaft nicht ausgeschlossen werden, ist Triepel zufolge nicht zuletzt deshalb gerechtfertigt, weil sich Staatsrecht und Politik nicht völlig voneinander trennen lassen. Ebensowenig könnten staatsrechtliche Fragen nur selten gelöst werden, „ohne daß die letzte Entscheidung von politischen Werturteilen bestimmt" sei 480 . Mit diesem Bekenntnis zu einem klar antipositivistischen Wissenschaftsprogramm klingt schon eines der Leitmotive an, die die Staatsrechtslehrertagungen in der 475 BA, NL W. Jellinek Bd. 60; Satzung, VVDStRL 1 (1924), S. 145, AöR 43 (1922), S. 352; vgl. auch Triepel, AöR 43 (1922), S. 350. 476 Satzung, VVDStRL 1 (1924), S. 145, AöR 43 (1922), S. 352; vgl. Triepel, AöR 43 (1922), S. 350; ferner K. Hesse, AöR 97 (1972), S. 346; Scheuner, AöR 97 (1972), S. 351. 477 Anschütz, Leben, S. 295. 478 AöR 43 (1922), S. 349 f. 479 Vgl. Hans Peter Ipsen, VVDStRL 52 (1993), S. 8, der sich insofern ausdrücklich auf Triepel beruft. 480 AöR 43 (1922), S. 350.

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Erster Teil: Leben

Weimarer Zeit prägen sollte. Natürlich war sich Triepel darüber im klaren, daß die Auseinandersetzung mit dem überlieferten Positivismus Gerber-Labandscher Prägung und dem Neopositivismus der Wiener Schule auch einiges an Zündstoff barg. Er legte deshalb Wert darauf, die Protagonisten auf sein Ideal eines zwar offenen, aber doch fairen Wissenschaftsdiskurses „unter Fernhaltung aller parteipolitischen Gesichtspunkte" festzulegen 481. Daß ein solches Unterfangen keinesfalls unrealistisch war, wurde nach Auffassung Triepels bereits durch die „musterhaft objektive Form" 4 8 2 bewiesen, in der sich am zweiten Tagungstag der Vortrag Richard Thomas über das richterliche Prüfungsrecht 483 , eines der umstrittensten Probleme der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik 484 , und die anschließende lebhafte, auch Methodenfragen einbeziehende Debatte bewegten. Dies galt naturgemäß um so mehr für die schon tags zuvor behandelte Frage der Stellung des Staatsrechts in der Unterrichts- und Prüfungsordnung, wo man sich trotz aller Meinungsverschiedenheiten im Detail in dem Wunsch einig war, daß dem öffentlichen Recht in der Lehre und im Staatsexamen der ihm gebührende Platz einzuräumen sei 485 . Vor der Beratung dieser beiden Themen war Triepel zum Vorstandsvorsitzenden, Gerhard Anschütz zum stellvertretenden Vorsitzenden und Fritz StierSomlo zum Schriftführer der Vereinigung gewählt worden 486 . Der „ i n jeder Beziehung harmonische Verlauf' 4 8 7 der Beratungen wurde am Abend des ersten Tagungstags durch ein geselliges Beisammensein in der Deutschen Gesellschaft 1914 gefordert 488 . Zum erfolgreichen Gelingen der Berliner Gründungstagung trug sicher auch das intensive Bemühen Triepels um eine ansprechende Atmosphäre bei. So ließ es sich das Ehepaar Triepel zum Ausklang der Tagung nicht nehmen, die Versammlungsteilnehmer für den späten Nachmittag des 14. Oktober 1922 „zu einer Tasse Tee" in die Wohnung zu bitten 489 . Hieraus erhellt, daß Triepel schon frühzeitig die integrierende Funktion solcher nicht nur fachlich, sondern auch persönlich geprägter Zusammenkünfte erkannt hatte. Er ging davon aus, daß der einzelne Fachkollege über das Kennenlernen der Menschen, die sich hinter möglichen wissenschaftlichen Gegenpositionen verbargen, zu deren besserem Verständnis oder gerechterer Beurteilung zu gelangen

481 482 483 484 485 486

140. 487 488 489

AöR 43 (1922), S. 350. AöR 43 (1922), S. 350. Abgedruckt in AöR 43 (1922), S. 267-286. Vgl. unten 8. Kap. V. 3. a). Triepel, AöR 43 (1922), S. 351. Κ . Hesse, AöR 97 (1972), S. 345; Mitgliederverzeichnis, VVDStRL 1 (1924), S. Triepel, AöR 43 (1922), S. 351. Einladungsschreiben vom 13. September 1913, BA, NL W. Jellinek Bd. 60. Einladungsschreiben vom 13. September 1913, BA, NL W. Jellinek Bd. 60.

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vermag. Kurzum: Es war ihm um die „versachlichende Wirkung dieser Verbindung" 4 9 0 zu tun. Seine 1922 geäußerte zuversichtliche Hoffnung, daß auch die „künftigen Tagungen der Vereinigung von dem gleichen Geiste ... kollegialer Eintracht beseelt sein" möchten 491 , wurde im Grunde nicht enttäuscht 492 . Zwar haben sich die inhaltlichen Divergenzen mit der Zeit verschärft und die Fronten verhärtet, so daß zuletzt die Einheit dieser Wissenschaftsgemeinschaft auf dem Spiel stand 493 . Aber gerade deshalb ist zu Recht gesagt worden, Triepel habe die deutschen Staatsrechtslehrer durch die Gründung der Vereinigung und seinen nimmermüden Integrationswillen in ihrer Gesamtheit vor einer ihre fachliche Autorität und Glaubwürdigkeit zerstörenden Fragmentierung in verschiedene, miteinander zerstrittene weltanschaulich-politische Lager bewahrt 494 . Hätte es diese geistige Genossenschaft 495 nicht gegeben, wäre, wie Rudolf Smend einmal zu Recht bemerkt hat, unser Bild von der Entwicklung und politischen Rolle der deutschen Staatsrechtswissenschaft wesentlich anders und nicht erfreulicher 496 .

b) Entwicklung A u f der folgenden Tagung in Jena, die wegen des Krisen- und Inflationsjahrs 1923 erst im April 1924 stattfand, waren mehr als 40 Mitglieder erschienen 497 . Triepel rief bei seiner programmatischen Eröffnungsansprache in Erinnerung, daß Fichte und Hegel in Jena gewirkt hatte und beschwor pathetisch den genius loci: Jdeen sind [es], die den Gang der Geschichte und die Schicksale der Menschen bestimmen." 498 Mit dieser abstrakten Standortbestimmung ließ er es aber nicht bewenden, sondern brachte auch das Unbehagen der Zunft über die aktuelle Entwicklung des politischen Lebens zum Ausdruck. Manches habe sich seit der Gründungstagung von 1922 zugetragen, „was den Glauben an die bezwingende Macht sittlicher Ideen, vor allem den Glauben an die

490

Κ . Hesse, AöR 97 (1972), S. 348. AöR 43 (1922), S.351. 492 Hensel, AöR 52 (1927), S. 97 f.; Richter, AöR 53 (1928), S. 442; H. Gerber, AöR 56(1929), S. 254. 491

m

März,

494

S. 131.

Smend, Juristenfakultät, S. 123 f.; Κ Hesse, AöR 97 (1972), S. 348; Scheuner, AöR 97 (1972), S. 351; Ipsen, VVDStRL 52 (1993), S. 8 f. 495 Holstein, AöR 50 (1926), S. 38. 496 So Rudolf Smend, Triepel, S. 118 Fn. 33, mit Blick auf Kurt Sontheimers Darstellung in seinem Werk über „Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik". 497 Lassar, DJZ 1924, Sp. 371; Stier-Somlo, AöR 46 (1924), S. 89. 498 VVDStRL 1 (1924), S. 8.

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Erster Teil: Leben

Rechtsidee, ins Wanken bringen könnte." 499 Es scheine, so Triepel weiter, als ob die kriegsbedingte „Rechtsverwilderung", wie das Anschlußverbot Österreichs im Versailler Vertrag oder die Rheinlandbesetzung, zu einer chronischen Krankheit werden wollte 5 0 0 . Seine Kritik am Gesetz- und Normgeber ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Und es ist schlimm, daß sich diese Verfallserscheinung auch an hohen Stellen zeigt, die in der Beobachtung von Verfassung und Gesetz dem Volke ein Vorbild sein sollten. ... Und was am schlimmsten ist, auch die Träger unserer Gesetzgebungs- und Verordnungsgewalt lassen sich nicht immer führen von dem, was der Leitstern der Gesetzgebung sein sollte: von willkürfreier, nur auf sachliche Erwägungen gestützter Gerechtigkeit." 501 Triepel machte mit diesen ,,tiefe[n], bis an den Kern des deutschen Schicksals gehende[n] Gedanken" 502 deutlich, daß sich die normative Basis der Staatsrechtslehre ohne politische Konnotation nur unzureichend erfassen ließ. Ebendies haben die in Jena zum Thema „Der deutsche Föderalismus in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft" gehaltenen Referate von Gerhard Anschütz und Carl Bilfinger gezeigt 503 . Auch die Behandlung des zweiten Beratungsgegenstands, der „Dikatur des Reichspräsidenten", durch Erwin Jacobi und Carl Schmitt 504 war pointiert rechtspolitisch ausgerichtet und signalisierte darüber hinaus eine deutliche Abkehr vom positivistischen Normdenken 505 . Danach trat die Vereinigung in der Weimarer Zeit noch sechsmal zusammen, darunter einmal, 1928, in Wien. Die Zahl der Mitglieder bewegte sich um 80 bis 90 Staatsrechtslehrer; bei den Tagungen waren meistens 40 bis 50 anwesend 506 . Der Vereinigung gelang es, die erste von den Zeitläuften diktierte Aufgabe, nämlich die wissenschaftliche Aufarbeitung und Durchdringung einer neuen Staatsverfassung, in vollem Maße zu erfüllen. Sie hat nahezu alle wichtigen Fragen des öffentlichen Rechts, die damals nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die öffentliche Meinung in der noch jungen demokratischen Republik beschäftigten, in Referaten und Debatten gründlich erörtert. A u f diese Weise hat die Vereinigung in einer ganzen Reihe von Gegenständen nicht nur 499

VVDStRL 1 (1924), S. 9; vgl. zur Bedeutung der „Rechtsidee" in Triepels Denken unten 8. Kap. II. 2 d) a. E., e). 500 VVDStRL 1 (1924), S. 9. 501 VVDStRL 1 (1924), S. 9 f. 502 Stier-Somlo, AöR 46 (1924), S. 90. 503 So mit Recht Stolleis, KritV 1997, S. 342. 504 Carl Schmitt hatte sich nach plötzlicher Verhinderung des ursprünglich für den zweiten Tag vorgesehehen Referenten auf eindringliche Bitte Triepels hin kurzfristig bereit erklärt, einen Vortrag über dieses Thema zu halten, vgl. Schreiben an C. Schmitt vom 3. Februar 1923, NrwHStA, NL C. Schmitt, RW 265-16399. 505 Vgl. näher März, S. 119 f. 506 März, S. 118 Fn. 118; Stolleis, KritV 1997, S. 342.

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der Rechtslehre grundlegende Übersichten angeboten und neue Einsichten verschafft, sondern auch wertvolle Beiträge zur Gestaltung der Verfassungswirklichkeit geleistet. Freilich konnte sie die methodologischen Gegensätze nicht auflösen, doch gebührt ihr das Verdienst, diese klar offengelegt und so für den Methodenstreit jener Jahre wichtige Denkanstöße gegeben zu haben507. Nachdem sich die Vereinigung einen festen Platz im deutschen Rechtsleben gesichert hatte, legte Triepel auf der Münsteraner Tagung (1926) den Vorsitz nieder. Zu seinem Nachfolger im Amt des Ersten Vorsitzenden wurde sein Berliner Fachkollege Richard Thoma gewählt 508 . Auch die beiden anderen Vorstandskollegen traten ihr Amt ab. Der Wechsel war ohne programmatische Bedeutung. Er sollte lediglich dem schon lange geäußerten Wunsch des Gründungsvorstands nach Arbeitsentlastung dienen 509 . Trotz des Rückzugs von der organisatorischen Tätigkeit für die Vereinigung blieb Triepel neben Anschütz, W. Jellinek, Kelsen und Thoma einer der aktivsten Diskussionsteilnehmer und lieferte bis zur letzten Tagung von 1931 zahlreiche Redebeiträge 510. Des weiteren hielt Triepel auf der fünften Tagung im Jahre 1928 noch ein Referat über „Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit" 511.

c) Auflösung Wie Gerhard Leibholz 1961 rückblickend ausgeführt hat, war es auch seinem Lehrer Triepel zu verdanken, daß sich die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer der nationalsozialistischen Gleichschaltung erfolgreich zu widersetzen vermochte 512 . In der Tat hat Triepel hier, ebenso wie auch in den erwähnten anderen Fällen 513 , eine mutige und aufrechte Haltung gegenüber den Zwangsmaßnahmen des NS-Regimes und seiner Helfershelfer bewiesen. Dies wird besonders deutlich in seiner Opposition gegen die Machenschaften von Otto Koellreutter (1883-1972) 514 , eines überzeugten Nationalsozialisten 515 . Schon im Februar 1933 hatte Koellreutter in seiner Funktion als Vor507 Vgl. das Resümee Scheuners, AöR 97 (1972), S. 351; ferner Apelt, Jurist, S. 120, 299; zum Methodenstreit näher unten 8. Kap. II. 2. d), e). 508 VVDStRL 3 (1927), S. 134. 509 Hensel, AöR 52 (1927), S. 97. 510 Scheuner, AöR 97 (1972), S. 355. 5.1 VVDStRL 5 (1929), S. 2-29. 5.2 So Leibholz, Einleitung, S. XI. 513 Ein herausragendes Beispiel ist Triepels Eintreten für den DJT, vgl. oben 4. a. E., unten III. 3. 514 Über ihn J. Schmidt (1995). 515 Otto Koellreutter hat - als erster unter den Staatsrechtslehrern - schon im Juli 1932 einen Wahlaufruf zugunsten der NSDAP unterzeichnet, vgl. J. Schmidt, S. 13 f.

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Erster Teil: Leben

standsmitglied und Schriftführer der Staatsrechtslehrervereinigung noch vorhandene „Restgelder" auf einem Sonderkonto deponiert 516 und veranlaßt, daß der Vorstand der Vereinigung, dem noch Hans Kelsen und Otto Sartorius angehörten, Ende März 1933 zurücktrat 517 . Carl Schmitt und Carl Bilfinger suchten Koellreutter, der sich ebenso wie Sartorius bereit erklärt hatte, die Abwicklung der Geschäfte vorzunehmen 518 , am 12. April 1933 in Jena auf, um über den Austritt aus der Vereinigung oder deren Selbstauflösung zu sprechen 519 . Tags darauf schrieb dieser an Triepel 520 und den bisherigen Ersten Vorsitzenden Carl Sartorius, um sie darüber zu unterrichten, daß man sich einig geworden sei, der Vereinigung derzeit ein Ende zu setzen 521 . Hiergegen protestierte Triepel mit aller Entschiedenheit in seinem - auch an Sartorius übermittelten - Antwortschreiben 522 . Er nehme sich die Freiheit, „zu erwidern, daß ich weder Ihr Urteil über den Charakter unserer Vereinigung, noch Ihren Schritt fur richtig halte, dass ich diesem im Gegenteil kein Verständnis entgegenbringen kann." 5 2 3 Anders als Koellreutter meine, sei die Vereinigung nicht „liberalistisch" gewesen. Weder sei er selbst „Liberalist", noch seien die Tagungen einseitig gewesen, vielmehr habe man in offener Diskussion nach der Wahrheit geforscht. Dies müsse doch, gab er in empfängerorientierter Diktion zu bedenken, wohl auch „ i m Rahmen des nationalsozialistischen Rechtsstaats" möglich sein. Auch der neue Staat werde hoffentlich „Rechtsstaat sein und eine Verfassung haben" 524 . Triepel beschwor Koellreutter geradezu, die Vereinigung nicht zu zerstören und auch die regimekritischen Mitglieder in ihr zu halten 525 . Im übrigen hoffe er, daß „Ihr Beispiel weder bei Ihren politischen Freunden, noch bei Gegnern Ihrer Anschauung Nachfolge findet." 526

516

517

Koenen, S. 500.

Schreiben vom 21. April 1933, Verlagsarchiv J. C. B. Mohr; zit. bei Stolleis, KritV 1997, S. 343; vgl. auch ders. III, S. 311 f. 5,8 Rundschreiben von Carl Sartorius vom 31. März 1938, BA, NL W. Jellinek; abgedruckt bei K. Hesse, AöR 99 (1974), S. 312 f.; Stolleis, KritV 1997, S. 345. 519 Tagebucheintragung Carl Schmitts vom 12. April 1933; zit. bei Noack, S. 176 f. 520 Bemerkenswert erscheint, daß Otto Koellreutter selbst in dieser spannungsgeladenen Situation noch bereit ist, dem Rang Triepels als Gründungsinitiator der Vereinigung Rechnung zu tragen. 521 Stolleis, KritV 1997, S. 343 f.; ders. III, S. 312. 522 Schreiben an Koellreutter vom 18. April 1933, Verlagsarchiv J. C. B. Mohr; zit. bei Stolleis, KritV 1997, S. 344; vgl. auch ders. III, S. 312. 523 Schreiben an Koellreutter vom 18. April 1933, Verlagsarchiv J. C. B. Mohr; zit. bei Stolleis, KritV 1997, S. 344; vgl. auch ders. III, S. 312. 524 Schreiben an Koellreutter vom 18. April 1933, Verlagsarchiv J. C. B. Mohr; zit. bei Stolleis, KritV 1997, S. 344; vgl. auch ders. III, S. 312. 525 Stolleis, KritV 1997, S. 344; ders. III, S. 312. 526 Schreiben an Koellreutter vom 18. April 1933, Verlagsarchiv J. C. B. Mohr; zit. bei Stolleis, KritV 1997, S. 344; vgl. auch ders. III, S. 312.

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Doch seine - wohl ohnehin nur vagen - Hoffnungen wurden mit Koellreutters Antwortbrief vom 19. April 1933 enttäuscht527. Nun war Triepel endgültig klar geworden, was die Stunde geschlagen hatte. Er antwortete Koellreutter am 21. April in eisigem Ton, dessen Schreiben habe ihm „in dankenswerter Weise weiter bestätigt, was ich bisher nur vermuten konnte. Ich sehe jetzt deutlich, wohin die Reise geht, und möchte Ihnen nur sofort sagen, daß ich nicht gesonnen bin, sie mitzumachen" 528 . Selbst der überzeugte Integrator Triepel mußte also erkennen, daß es illusionär war, ein gemeinsames wissenschaftliches Forum mit den Parteigängern des NS-Regimes und ihren Sympathisanten aufrechtzuerhalten, zumal schon einige namhafte Mitglieder, wie ζ. B. Gerhard Anschütz, schon ausgetreten sowie alle jüdischen Mitglieder „beurlaubt" waren 529 . Triepels ebenso mutige wie klare Worte hatten es somit nicht vermocht, die faktische Agonie der Vereinigung zu verhindern 530. Auf ihr weiteres Schicksal im „Dritten Reich" übten Carl Schmitt und Otto Koellreutter maßgeblichen Einfluß aus. Anfang 1934 war Schmitt über den BNDSJ, den er sich schon als eine Art Hausmacht ausgebaut hatte 531 , an Koellreutter herangetreten, um die Übernahme der Vereinigung zu bewirken, was dieser schon zu diesem Zeitpunkt offenbar mit dem Hinweis abgelehnt hatte, daß er die „Verhältnisse der Staatsrechtslehrervereinigung" bereits Geheimrat Wilhelm Kisch, dem stellvertretenden Präsidenten der Akademie für Deutsches Recht, dargelegt habe und deshalb keine Veranlassung zu einer Auskunft bestünde532. Koellreutter hat Schmitt, den er für einen Opportunisten hielt, seinen raschen Aufstieg zum „Kronjuristen" geneidet und aus gutem Grund befurchtet, daß sich der BNSDJ der Staatsrechtslehrervereinigung bemächtigen könnte 533 . Er drängte deshalb Wilhelm Kisch die Übernahme der Vereinigung zu 527

Stolleis, KritV 1997, S. 344; ders. III, S. 312.

528

Brief an Koellreutter vom 21. April 1933, Anlage zum Schreiben Koellreutters an Siebeck vom 25. April 1933, Verlagsarchiv J. C. B. Mohr; zit. bei Stolleis, KritV 1997, S. 344; vgl. auch ders. III, S. 312. 529 Näher Stolleis, KritV 1997, S. 343. 530 Insofern ist die soeben zitierte Einschätzung von Gerhard Leibholz, Einleitung, S. XI, Triepels Eintreten gegen die „Gleichschaltung" der Vereinigung sei „erfolgreich" gewesen, freilich etwas euphemisch. Sie trifft nur insofern zu, als die Vereinigung nicht in dem - formalen - Sinn „gleichgeschaltet" worden ist, daß sie in den nationalsozialistischen Staat zwangsintegriert wurde und ihre Tätigkeit unter demselben Namen, aber von Parteigenossen beherrscht, weiter fortgesetzt hat. 531

Koenen, S. 499.

532

Schreiben der Reichsgeschäftsstelle des BNSDJ an Geheimrat Kisch vom 27. Januar 1934, BA, AfDR, R 61 Nr. 104 Bl. 131. 533 Vgl. zum Machtkampf zwischen Carl Schmitt und Otto Koellreuter Bendersky, S. 222-224; Koenen, S. 501, 555 f.; J. Schmidt, S. 83-86; Stolleis, KritV, 1997, S. 344 f.; ders. III, S. 313; Rüthers, S. 82 f.; Ule, VerwArch 1990, S. 5 Fn. 25.

Erster Teil: Leben

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forcieren, und bat um die Erlaubnis, die verbliebenen „Restgelder" schon vorweg auf das Konto der Akademie überweisen zu dürfen, was dann auch geschah 534 . Indes blieb der Streit trotz aller Vorkehrungen und Bemühungen beider Seiten für die nächsten drei Jahre unentschieden. Mit dem 1937 erlassenen Gesetz über die Auflösung der früheren „Beamtenvereinigungen" 535 und der darin vorgesehenen Übertragung des Vermögens auf den NS-Rechtswahrerbund schien zwar Schmitt obsiegt zu haben. Dieser hatte aber inzwischen seine privilegierte Stellung durch Intrigen Koellreutters und anderer verloren 536 , was dazu beigetragen haben mag, daß das Gesetz über Beamtenvereinigungen offenbar nicht auf die Staatsrechtslehrervereinigung angewandt wurde 537 . Anders wäre auch schwer erklärlich, daß Carl Sartorius, der mit der Abwicklung der Geschäfte beauftragt war, durch Rundschreiben vom 31. März 1938 538 die Selbstauflösung der Vereinigung verkündet hat, ohne jenes Gesetz überhaupt zu erwähnen 539 . Sartorius hat dann schließlich noch die Überweisung des Barvermögens der Vereinigung an die Akademie für Deutsches Recht verfügt und Koellreutter ermächtigt, die noch in seinem Besitz befindlichen Akten zu vernichten 540 . Die von Sartorius gegebene „Begründung" für die Selbstauflösung, nun sei „die Möglichkeit gegeben, die wertvolle wissenschaftliche Arbeit der früheren Vereinigung im Rahmen der Akademie für deutsches Recht aufzunehmen" 541 , muß Triepel wie Hohn in den Ohren geklungen haben. Fast überflüssig zu erwähnen, daß er sich stets geweigert hat, der Akademie beizutreten 542 .

534

Brief Koellreutters an Kisch vom 12. Juli 1934, BA, AfDR, R 61 Nr. 104, Bl. 58; Koenen, S. 556. 535 Vgl. dazu oben 4. in bezug auf den DJT. 536 Vgl. zur „Kaltstellung" Carl Schmitts ausführlich Koenen, S. 652-764. 537 Stolleis, KritV 1997, S. 344 f.; ders. III, S. 313. Vom Vollzug dieses Gesetzes geht offensichtlich Andreas Koenen, S. 500 Fn. 243 und S. 557, aus, ohne dies allerdings zu belegen. 538 BA, NL W. Jellinek; abgedruckt bei Κ Hesse, AöR 99 (1974), S. 312 f.; Stolleis, KritV 1997, S. 345; vgl. auch ders. III, S. 313 f. 539 Stolleis, KritV 1997, S. 345; ders. III, S. 313. 540 Rundschreiben vom 31. März 1938, BA, NL W. Jellinek; abgedruckt bei K. Hesse, AöR 99 (1974), S. 312 f.; Stolleis, KritV 1997, S. 345; vgl. auch ders. III, S. 313 f. Von der „befremdlichen Ermächtigung", die Akten der Vereinigung zu vernichten, soll später die Haushälterin Otto Koellreutters ohne dessen Einwilligung Gebrauch gemacht haben, vgl. Stolleis, KritV 1997, S. 345; ders. III, S. 314. 541 Rundschreiben vom 31. März 1938, BA, NL W. Jellinek; abgedruckt bei K. Hesse, AöR 99 (1974), S. 312 f.; Stolleis, KritV 1997, S. 345; vgl. auch ders. III, S. 313 f. 542 Im Personalfragebogen des Magistrats der Stadt Berlin vom 14. Januar 1946, UAH Nr. 102, Bl. 54, hat Triepel ergänzend vermerkt: „Habe den Beitritt ständig verweigert"; vgl. näher unten III. 3.

6. Kap.: Berlin 1913-1944

6. Rechtsschutzgemeinschaft

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der deutschen Fakultäten

Dieselbe aufrechte Haltung wie bei der Auflösung der Staatsrechtslehrervereinigung und des DJT 5 4 3 zeigte Triepel auch auf der Sitzung der „Rechtsschutzgemeinschaft der deutschen Fakultäten" am 7. März 1933. Diese Organisation war aus einem von allen deutschen Juristenfakultäten unterstützten Protest hervorgegangen, der Ende 1931 an das Reichsministerium des Inneren gerichtet und gleichzeitig über die Presse öffentlich bekannt gemacht worden war 5 4 4 . In ihm war darauf hingewiesen worden, daß die Landesregierungen in ihren Haushaltsnotverordnungen vom Herbst 1931 545 nicht nur vielfach die ihnen in der sog. Dietramszeller Verordnung vom 24. August 1931 546 erteilte Ermächtigung erheblich überschritten, sondern auch in einer Reihe von Fällen gegen klare Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung verstoßen hätten. Gegen diese Kompetenzausweitung vorzugehen, fühlten sich die Juristenfakultäten „ i n der Überzeugung berufen, daß es ihres Amtes sei, gegen das Sinken der Achtung vor der Unverbrüchlichkeit des Rechtes anzukämpfen" 547 . Falls nicht der Gedanke des Rechtsstaats in Deutschland zu einer völligen Fiktion verblassen solle, bedürfe die Notverordnungspraxis unter allen Umständen einer erheblichen Einschränkung und Zurückfuhrung auf ihre eigentlichen, in Art. 48 WRV abgegrenzten Aufgaben 548 . Diese Eingabe verdeutlicht, daß sich die Fakultäten damals immer stärker als Hüter des Rechts verstanden, die dafür Sorge zu tragen hatten, daß die Anwendung der Gesetze dem Recht entsprach und das Recht nicht durch den Staat selbst ausgehöhlt wurde 549 . Von der Berliner Fakultät, insbesondere von dem seinerzeitigen Dekan James Goldschmidt, wurde daraufhin angeregt, diesen nicht ohne Widerhall gebliebenen punktuellen Zusammenschluß zu einer ständigen Organisation zu verfestigen. Da die Berliner Fakultät glaubte, sich einige Zurückhaltung auferlegen zu müssen, wurde die Leipziger Juristenfakultät unter ihrem Dekan Willibalt Apelt gebeten, die Angelegenheit in die Hände zu nehmen. Apelt lud sodann die Vertreter der Fakultäten zu einer Gründungsversammlung am 11. Juni 1932 nach Leipzig ein. Der satzungsgemäße Zweck der Rechtsschutzgemeinschaft sollte sein: „1.) sich da einzusetzen, wo immer im öffentlichen Leben durch Gesetzgeber oder Behörden, durch Interessentenverbände oder Parteien 543

Vgl. oben 4. a. E. und unten III. 3. Eingabe der Deutschen Juristischen Fakultäten an den Herrn Reichsminister des Innern, DJZ 1931, Sp. 1559 f. 545 Eine Übersicht findet sich bei Huber VII, S. 865. 546 Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung der Haushalte von Ländern und Gemeinden (RGBl. I S. 453); vgl. dazu Huber VII, S. 863-865. 547 Apelt, Jurist, S. 208. 548 Apelt, DJZ 1932, Sp. 1932; vgl. auch Knemeyer, S. 42. 544

549

Knemeyer, S. 42.

10 Gassner

Erster Teil: Leben

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der Rechtsgedanke bedroht oder erschüttert wird; 2.) die Freiheit der Lehre und Forschung der deutschen Hochschulen und ihrer Mitglieder gegenüber staatlichen Eingriffen oder parteipolitischen Angriffen zu wahren." 550 Alle Juristenfakultäten, bis auf die Heidelberger, die sich ihre Entscheidung vorbehielt, stimmten der Gründung per 1. Juli 1932 zu. Gerhard Anschütz, der Vertreter der Heidelberger Fakultät, befürchtete deren Zurücksetzung, weil in der Satzung vorgesehen war, daß in dem siebenköpfigen Führungsorgan der Gemeinschaft nur die großen Fakultäten Berlin, Leipzig und München ständig vertreten sein sollten, während die übrigen Fakultäten die restlichen vier Sitze abwechselnd besetzen sollten. Gründungskoordinator Willibalt Apelt hoffte, diese Schwierigkeiten auf einer zum 7. März 1933 nach Berlin einberufenen Sitzung überwinden zu können. Bei den Beratungen wurde indes, wie Apelt in seinen Lebenserinnerungen festhielt, sehr bald offenbar, „daß der deutsche Rechtsstaat, falls er von der neuen Regierung bedroht werden würde, von den Juristenfakultäten nicht mehr viel zu erwarten haben würde." 551 Von allen Seiten sei zu Vorsicht und Zurückhaltung gemahnt worden, besonders eindringlich von dem Berliner Rechtshistoriker Heymann. Es sei „eigentlich nur noch Triepel [gewesen], der den Mut aufbrachte, meiner Forderung, die bei der Gründung der Rechtsschutzgemeinschaft als dringend notwendig erkannten Bestrebungen fortzusetzen und die Organisation dazu auch unter den veränderten politischen Verhältnissen aufrechtzuerhalten, mit klaren und eindeutigen Worten zuzustimmen." 552

7. Institut für ausländisches öffentliches

Recht und Völkerrecht

Bei den Bemühungen, wie in Kiel 5 5 3 auch in Berlin ein völkerrechtliches Institut zu gründen, wirkten interessierte Kreise der Wirtschaft, der Diplomatie und der Wissenschaft zusammen. Von Seiten der Rechtswissenschaft waren hieran vor allem der Rechtshistoriker Josef Partsch sowie Triepel beteiligt 554 , der dann auch an der Gründungsversammlung des Vereins, der Keimzelle des heutigen Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, teilnahm 555 . Hauptinitiatoren des Vereins waren Triepels Schüler Viktor Bruns, der damalige Referent des preußischen Kultusministers C. H.

550

Apelt, DJZ 1932, Sp. 977.

551

Apelt, Jurist, S. 209. Apelt, Jurist, S. 209 f. Vgl. oben 3.

552 553 554

555

Stolleis III, S. 89.

Sie fand am 19. Dezember 1924 statt, s. MPG, I. Abt., Rep 1A, Nr. 2346, Bl. 1 f.; vgl. auch Mosler, Heidelberger Jahrbücher 1976, S. 59 Fn. 19.

6. Kap.: Berlin 1913-1944

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Becker 556 , sowie Friedrich Glum, der Direktor der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 557. Anlaß der Vereinsgründung war ein zeitgeschichtliches Bedürfnis. Der Stand der Völkerrechtswissenschaft entsprach in keiner Weise der gesteigerten Bedeutung völkerrechtlicher Normen. So sah sich das Deutsche Reich im Gefolge des Versailler Vertrags in eine Reihe völkerrechtlicher Auseinandersetzungen verwickelt, zu deren Bewältigung keine ausreichend insitutionelle Grundlage vorhanden war. Aktuell sichtbar wurde dieses Manko, als die Locarno-Verträge, die den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund einleiten sollten, vor der Tür standen558. Wohl wegen dieser praktisch-politischen Bedeutung des Völkerrechts trat das ursprüngliche Anliegen Glums, die ebenfalls im argen liegende Kenntnis des öffentlichen Rechts fremder Staaten besonders zu fördern 559, mit der Zeit in den Hintergrund 560 . Ein besonderer Verein war deshalb gegründet worden, weil die Initiatoren Bruns und Glum Zweifel hatten, ob es angängig sei, das projektierte Institut als Kaiser-Wilhelm-Institut zu bezeichnen; vor allem aber wäre dies dem Prälaten Schreiber, einem Zentrumsabgeordneten, nicht recht gewesen, der das Institut unter seine Fittiche zu nehmen beabsichtigte561. Ebenfalls aus Gründen der Opportunität attachierte man auf Bruns' Betreiben Professoren, von denen anderenfalls möglicherweise Kritik oder Opposition zu erwarten gewesen wäre, an das Institut 562 . Neben Triepel 563 wurden so auch Erich Kaufmann und Rudolf 556

Über ihn Triepel, ZaöRV 1942, S. 324a-324d; vgl. auch oben 6. a. E. Vom Brocke, Weimarer Republik, S. 300; Glum, Erlebtes und Erdachtes, S. 327. Ulrich Scheuner, MPG Berichte und Mitteilungen 2/75, S. 28, nennt nur Viktor Bruns als Institutsgründer. Vgl. zur Entstehungsgeschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft eingehend vom Brocke, Kaiserreich, S. 26-142; ders., Institute, S. 1-3; Burchardt, S. 17-52; Schmidt-Ott, S. 115-130. 558 Vgl. näher Scheuner, MPG Berichte und Mitteilungen 2/75, S. 25-28; Mosler, Heidelberger Jahrbücher 1976, S. 62-64; Bruns, S. 285 f.; Schmid, S. 119 f. 559 Schon 1922 hatte Friedrich Glum den Plan verfolgt, in der Zeitschrift „Recht und Wirtschaft" regelmäßig Berichte über Entwicklungen des ausländischen Rechts zu veröffentlichen, vgl. vom Brocke, Weimarer Republik, S. 300. 560 Glum, Erlebtes und Erdachtes, S. 327; vom Brocke, Weimarer Republik, S. 303. 561 Glum, Erlebtes und Erdachtes, S. 328. Dem Kuratorium des Vereins sollten aber auch Vertreter der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft angehören, ebd. 562 Die meisten Mitarbeiter - unter ihnen war auch der junge Carlo Schmid - suchte und fand der Schwabe Bruns aber „in Württemberg unter den Examensbesten der letzten Jahre, denn er war fest davon überzeugt, daß einer, der die württembergischen Examina unter den ersten drei bestanden habe, in der Lage sei, sich in jedes Rechtsgebiet einzuarbeiten", Schmid , S. 121; vgl. auch P. Weber, S. 60. 563 Am 29. Januar 1926 schloß Triepel mit dem Kuratorium des Vereins „Institut fur ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht e.V." einen Vertrag, der seine Berufung zum Wissenschaftlichen Berater rückwirkend ab 1. April 1925 gegen eine Entschädigung von 3.000 RM vorsah, s. BA, NL Triepel Bd. 2, Bl. 46; MPG, Personalakte. 557

10*

18

Erster Teil: Leben

Smend zu Wissenschaftlichen Beratern bzw. (seit 1937) zu Wissenschaftlichen Mitgliedern 564 ernannt 565 . Sie alle waren cum grano salis Wegbereiter einer antipositivistischen materialen Staatsrechtslehre und prägten das rechtspolitische Denken insbesondere der jüngeren Institutsmitarbeiter. Ein prominentes Beispiel hierfür ist Carlo Schmid (1896—1979)566, dessen staatspolitisches Denken dort entscheidend beeinflußt wurde 567 . Zusammen mit Schmid arbeiteten am Institut etwa auch Gerhard Leibholz sowie der heute als „Vater der politischen Wissenschaft in Deutschland" geltende Hermann Heller, den Bruns 1926 nach Berlin berief 568 . In der Zeit des „Dritten Reiches" nahm Bruns, der nicht Mitglied der NSDAP war 5 6 9 , als Wissenschaftlichen Berater Carl Schmitt 570 und als Wissenschaftliches Mitglied Friedrich Berber, damals SS-Oberführer und Mitglied des Stabes Ribbentrop 571 , auf. Diesem nur vordergründig als Opportunismus abzuqualifizierenden Verhalten von Viktor Bruns und seinem Stellvertreter Ernst Schmitz 572 war es zu verdanken, daß viele Regimegegner im Institut Zuflucht fanden und sich dort relativ frei wissenschaftlich betätigen konnten 573 . So verwundert es auch nicht, daß das Institut durch Beratungen und Gutachten Berthold Schenk Graf v. Stauffenberg 574 , den älteren Bruder des Attentäters Claus 575 , der im Oberkommando der Kriegsmarine völkerrechtliche Fragen zu bearbeiten hatte, sowie Helmuth James Graf v. Moltke 5 7 6 , der die entsprechen-

564

Die Umbenennung wurde von Friedrich Glum angeregt und vom Senat der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft am 21. Juni 1937 in Form einer Satzungsänderung beschlossen, vgl. MPG, Senatsprotokoll, Bl. 3 f. 565 Glum, Erlebtes und Erdachtes, S. 328 f.; Mosler, Heidelberger Jahrbücher 1976, S. 68; vom Brocke, Weimarer Republik, S. 303. 566 Über ihn P. Weber (1996). 567 568 569

570

P. Weber, S. 60. Chr. Müller, S. 770. Berber, S. 75.

Näher dazu Koenen, S. 503. Vgl. näher die Darstellung Friedrich Berbers in seinen Lebenserinnerungen, S. 68-71, wonach er Pressionen der NS-Machthaber und ihrer Helfershelfer ausgesetzt gewesen sei (u. a. habe Carl Schmitt seine Berufung an die Universität Hamburg hintertrieben). 572 Über ihn Triepel, ZaöRV 1942, o. S. 57 3 Mosler, Heidelberger Jahrbücher 1976, S. 69; Berber, S. 75. Bezeichnenderweise war dort nach Auskunft Herrn Dr. Helmut Strebeis, des Nachfolgers von Asche Graf Mandelsloh als Redakteur der ZaöRV, der sog. Hitlergruß absolut unüblich. 574 Über ihn Sirebel, ZaöRV 1950/51, S. 14-16; W. Graf Vitzthum, Stauffenberg, S. 1-41. 575 Über ihn und seine Brüder Hoffmann (1992). 576 Vgl. zu dessen Beziehungen zum Institut Ruhm v. Oppen, S. 35-37; van Roon, Neuordnung, S. 68-73; Völkerrecht, S. 21 f.; Moltke/Balfour/Frisby, S. 95; vgl. zu Moltkes Rolle als Völkerrechtler im OKW und im Institut detailliert Wengler, FW 1948, S. 297-305; van Roon, VfZ 1970, S. 12-61. 571

6. Kap.: Berlin 1913-1944

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de Tätigkeit im Oberkommando der Wehrmacht ausüben mußte, bei ihren Bemühungen unterstützt hat, „aus den vorhandenen Normen des Kriegsführungsrechts im Interesse der Menschlichkeit und Verhütung unnötiger Leiden alles Erreichbare herauszuholen" 577. Moltke wiederum hat mit Hans von Dohnanyi, einem Schwager Dietrich Bonhoeffers, schon seit 1939/40, noch vor der Konstituierung des Kreisauer Kreises, eng zusammengearbeitet 578. Mit Berthold Graf Stauffenberg, wurde kurz vor dem Umsturzversuch die - unentdeckt gebliebene - Abrede getroffen, daß das Institut der neuen Reichsregierung zur Verfügung stehen werde. Als die Nachricht vom Scheitern des Attentats eintraf, war bereits mit der Überprüfung der völkerrechtlichen Verträge des Deutschen Reiches im Hinblick auf die zukünftige Lage begonnen worden 579 . Eine unmittelbare Verbindung Triepels mit jenen tragischen Ereignissen ist nicht nachweisbar. Nach eigenem Bekunden hat er - damals schon in den Siebzigern stehend - nie aktiven Widerstand geleistet580. Dies bedeutet aber nicht, daß Triepel keine persönlichen Verbindungen mit den Männern des 20. Juli gehabt hätte. Ein engerer privater Kontakt bestand etwa mit Dietrich Bonhoeffer 581 . So führte ihn eine offizielle Aufgabe mit dem jungen Völkerrechtler Berthold Schenk Graf Stauffenberg zusammen: Beide waren sie Mitglieder zweier Fachausschüsse, die dem Kriegsministerium bzw. dem OKW angegliedert waren und neue see- und luftkriegsrechtliche Regeln erarbeiten sollten 582 . Die dort entstandenen klaren und fairen Regeln für den Seehandelskrieg waren getragen von der beiden Völkerrechtlern gemeinsamen Überzeugung, Kriegführung könne und müsse durch Recht gebändigt werden 583 . Die neu geschaffenen Regelwerke haben dann in der Tat geholfen, die Eingriffe in den friedlichen Seehandel zu begrenzen 584. Im übrigen waren die Beziehungen zwischen Triepel und den anderen Wissenschaftlichen Mitgliedern auf Institutsebene wohl eher informeller Natur. Triepel fungierte zwar von Anfang an als Mitherausgeber der institutseigenen „Zeitschrift für ausländisches Recht und Völkerrecht", in der auch Moltke publizierte und deren Mitherausgeber Berthold Graf Stauffenberg 1935 wurde. Doch war es der stellvertretende Institutsdirektor Ernst Schmitz, der die prakti-

57 7

Wengler, FW 1948, S. 298. Sowohl Moltke als auch Stauffenberg wurden Opfer der auf den Attentatsversuch vom 20. Juli 1944 folgenden Terrormaßnahmen. 57 8

57 9

Moltke/Balfour/Frisby,

S. 191 f.; Strohm, S. 343.

Makarov, FW 1947, S. 363 f.; Mosler,, Heidelberger Jahrbücher 1976, S. 69. 580 Personalfragebogen, UAH Nr. 102, Bl. 54. 581 Vgl. unten IV. 582 Vgl. hierzu und zum folgenden Hoffmann, S. 154 f.; W. Graf Vitzthum, Stauffenberg, S. 15 f. 583 Vgl. zu Triepels Haltung näher unten 9. Kap. III., IV. 1. a. E. 584 W. Graf Vitzthum, Stauffenberg, S. 16.

Erster Teil: Leben

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sehe Editionsarbeit leistete sowie den Verkehr mit den Autoren pflegte 585 . Hingegen gab es keine gemeinsamen Sitzungen der Institutsangehörigen 586 . Die hervorragend ausgestattete Bibliothek 5 8 7 mag ein Grund dafür gewesen sein, daß Triepel, der bis zu seinem Tod 1946 Wissenschaftliches Mitglied des Instituts blieb 5 8 8 , in den Jahren nach seinem vorzeitigen Abschied vom Lehramt fast täglich 589 , später nur noch gelegentlich 590 , in das frühere „Königliche Stadtschloß" fuhr, wo das Institut untergebracht war. Dort herrschte eine ausgezeichnete Arbeitsatmosphäre, was „sicherlich eine Auswirkung der ausgleichenden, auch dem heiteren Lebensgenuß zuneigenden Persönlichkeit von Bruns" 5 9 1 war. In den Zerklüftungen des Schlosses hatte Triepel einen Arbeitsraum in der abgelegenen Amerika-Abteilung 592 . Dort an seiner großen Monographie über „Die Hegemonie" zu arbeiten, war ihm eine besondere Freude. Er hat immer mit größter Dankbarkeit daran zurückgedacht 593 . In dem Vorwort zur „Hegemonie" sprach er der Institutsbibliothek und ihren Mitarbeitern ausdrücklich seinen besonderen Dank aus: „Ohne die Schätze dieser ausgezeichnet geleiteten Bücherei und ohne die unermüdliche Hilfsbereitschaft ihrer Beamtinnen in der Herbeischaffung weiterer Literatur hätte ich vermutlich meinem Werke nicht die Materialfülle geben können, die ich für erforderlich hielt." 5 9 4 Dem Hilfspersonal und auch den jüngeren Wissenschaftlern erschien Triepel damals, „obwohl kaum mittelgroß und eher zerbrechlich wirkend", als „eine eindrucksvolle Gelehrtenerscheinung, die eine reiche Fülle von Wissen und Erfahrung ausstrahlte" 595 . Ulrich Scheuner zufolge stellte er „den Jüngeren das Vorbild eines großen Gelehrten vor Augen, unerbittlich in seinen Anforderungen, auch an sich selbst, eindrucksvoll, als er in den Jahren nach seinem vorzeitigen Abgang vom Lehramt im Institut an seinem großen Werk über die ,Hegemonie4 arbeitete." 596

585

Schriftliche Mitteilung Herrn Dr. Helmut Strebeis. Schriftliche Mitteilung Herrn Dr. Helmut Strebeis. 587 Friedrich Glum, Erlebtes und Erdachtes, S. 328, sprach von „der zweitbesten völkerrechtlichen Bibliothek neben der der Haager Cour". 586

588

589

Bergemann, S. 251.

Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 7, PAG. Schriftliche Mitteilung Herrn Dr. Helmut Strebeis. 591 Scheuner, MPG, Berichte und Mitteilungen 1975, S. 28. 592 Schriftliche Mitteilung Herrn Dr. Helmut Strebeis. 593 Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 7, PAG. 594 Triepel, Hegemonie, S. XIII. Wie Frau Renate v. Gebhardt mitteilte, war seine Hauptbezugsperson in der Bibliothek die von ihm hoch geschätzte Cornelie Bruns, Viktor Bruns' Schwester. Vgl. zum Werk unten 8. Kap. IV. 5. 595 Schriftliche Mitteilung Herrn Dr. Helmut Strebeis. 596 MPG Berichte und Mitteilungen 2/75, S. 29. 590

6. Kap.: Berlin 1913-1944

8. Verfassungsausschuß

1

der Länderkonferenz

Die Länderkonferenz von 1928 und der von ihr eingesetzte Verfassungsausschuß 597 war der ernsthafteste der zahlreichen Versuche zur Funktional- und Territorialreform 598 . A u f seiten des Reichs hatte man damals schon wegen des ständig steigenden Haushaltsdefizits eine Reform für immer dringlicher gehalten. Beratungen aller Entscheidungsträger auf Reichs- und Länderebene waren unumgänglich geworden. Diesem Ziel sollte die Länderkonferenz dienen, die von dem damaligen Reichskanzler Wilhelm Marx (Z) für Mitte Januar 1928 einberufen worden war 5 9 9 . Als es dort um mögliche Veränderungen im Verhältnis zwischen Reich und Ländern ging, sind föderalistische und unitarische Vorstellungen teilweise hart aufeinandergeprallt 600. Dementsprechend stellten die Konferenzteilnehmer am Ende der Tagung in einer Entschließung fest, daß die Beziehungen zwischen Reich und Ländern „einer grundlegenden Reform" bedürften, es aber noch strittig sei, ob im unitarischen oder föderalistischen Sinne vorgegangen werden müsse 601 . A u f Anregung des Hamburger Ersten Bürgermeisters Carl Wilhelm Petersen (DDP) 6 0 2 einigte man sich dann aber doch immerhin darauf, zur „Lösung des Gesamtproblems" einen Verfassungsausschuß einzurichten. Dieser Ausschuß sollte „zu gleichen Teilen von der Reichsregierung und den Länderregierungen" besetzt werden. Zum Ausschußvorsitzenden wurde der Reichskanzler bestimmt 603 . Bevor es zu diesem konstituierenden Beschluß kam, hatte sich die Reichsregierung darauf festlegen müssen, nach Möglichkeit „sachverständige Persönlichkeiten" in den Ausschuß zu entsenden, die unbeeinflußt von Weisungen des Reichskabinetts stimmen könnten. Den Ländern blieb es hingegen selbst überlassen, ihre Vertreter in irgendeiner Art und Weise zu binden 604 . Außer 18 Ministern, Staats- und Ministerpräsidenten und hohen Verwaltungsbeamten gehörten dem Verfassungsausschuß der Länderkonferenz auch zwei Staatsrechtslehrer als Mitglieder an, nämlich Triepel und der Heidelberger Ordinarius 597

Vgl. hierzu Apelt, Geschichte, S. 395 f.; Biewer, S. 117-129; Braun, S. 214 f.; Brecht, Kraft des Geistes, S. 62 f., 71-92, 409-414; Frotscher, S. 135-137; F. A. Medicus, S. 3-9; Schulz, S. 564-606. 598 Vgl. zu den Reichsreformbestrebungen umfassend Biewer (1979); instruktiv zu deren Antriebskräften Frotscher, S. 130-133. 599 Vgl. zur Vorgeschichte der Länderkonferenz Biewer, S. 117 f.; Schulz, S. 564576. 600 Länderkonferenz, S. 2 ^ 8 . 601 Länderkonferenz, S. 83. 602 Länderkonferenz, S. 12. 603 Länderkonferenz, S. 83. 604

F. A. Medicus,

S.Ii.

Erster Teil: Leben

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Gerhard Anschütz 605 , die beide von der Reichsregierung als unabhängige Sachverständige in den Ausschuß berufen wurden 606 . Der Verfassungsausschuß konstituierte sich am 4. Mai 1928 unter dem Vorsitz von Vizekanzler Oskar Hergt (DNVP). Umstritten war, ob zur weiteren Bearbeitung des Fragenkomplexes Unterausschüsse eingesetzt werden sollten. In der Debatte hierüber erkannte man, daß „das Vorliegen möglichst erschöpfenden Materials unentbehrlich" sei, „das die in der Praxis bestehenden Unzuträglichkeiten im einzelnen" darlegen „und die Beurteilung der Gründe hierfür möglich" machen solle 607 . Hierin lag auch der Grund, warum Triepel die Mitarbeit der dem Ausschuß angehörenden Wissenschaftler als verfrüht bezeichnet hat: Der Wissenschaftler „brauche zunächst eine Belehrung vom Ausschuß, der Ausschuß viel weniger von ihm. Wenn ihm etwa ein Referat, nicht nur ein Korreferat gegeben werde, so würde er das für verfehlt halten, denn er würde den Korreferenten oder andere Herren dauernd bitten müssen, ihm das sachliche Material zu liefern, dessen er bedürfe." 608 Mit demselben Blick für die Erfordernisse der Praxis sprach sich Triepel des weiteren dafür aus, die konkreten Einzelfragen anzugehen, anstatt in eine „allgemeine staatstheoretische und verfassungstheoretische Auseinandersetzung" einzutreten 609. Gerhard Anschütz unterstützte diese Ansicht und erbat die Vorlage von Unterlagen, um klären zu können, wo die konkreten Reibungen und Unzuträglichkeiten zwischen Reich und Ländern lägen. So beschloß man auf dessen Antrag hin, zunächst Material über die Gravamina und andere Beratungsunterlagen zu beschaffen 610. Das daraufhin dem Ausschuß im Laufe des Sommers und Herbstes 1928 unterbreitete Material, die „Beratungsunterlagen 1928", setzte sich aus insgesamt 26 selbständigen Untersuchungen zusammen, wobei insbesondere eines der drei Referate des preußischen Ministerialdirektors Arnold Brecht mit dem Titel „Vorschläge für die Verfassungsreform" für die Arbeiten des Verfassungsausschusses richtunggebend werden sollte 611 . Die sodann anberaumte zweite Sitzung des Verfassungsausschusses (22. bis 24. Oktober 1928) wurde von dem neuen Reichskanzler Hermann Müller (SPD) geleitet. Als sich gleich am ersten Tag der Hamburger Erste Bürgermeister Petersen und der bayerische Ministerpräsident Held eine harte Auseinandersetzung lieferten, machte Triepel auf das Erfordernis aufmerksam, daß die 605 606 607

Vgl. dessen autobiographische Notizen in Anschütz, Leben, S. 296-301. F. A. Medicus, S. 10-13. F. A. Medicus, S. 14 f.

608

Niederschrift über die Sitzung vom 4. Mai 1928, S. 12. Niederschrift über die Sitzung vom 4. Mai 1928, S. 11. 610 Niederschrift über die Sitzung vom 4. Mai 1928, S. 16; F. A. Medicus, S. 15; vgl. auch Brecht, Kraft des Geistes, S. 63. 609

611

So F A. Medicus, S. 19.

6. Kap.: Berlin 1913-1944

1

Mitglieder, wenn der Ausschuß in seiner Arbeit weiterkommen wolle, „ganz objektiv und ohne jede Rücksicht auf irgend jemanden" außerhalb des Versammlungsorts festzustellen hätten, was das Beste für das Vaterland sei 612 . In inhaltlicher Hinsicht wandte sich Triepel gegen die seines Erachtens mangelnde Klarheit der vorgelegten Materialien, insbesondere des Brechtschen Entwurfs. Schließlich gehe es letzten Endes um eine Verfassungsreform, und eine Verfassung sei „nicht nur für die Kommentatoren da, sondern für das Volk" 6 1 3 . Zum preußisch-deutschen Problem, „die wichtigste unter einer Reihe staatsrechtlicher Fragen" 614 , äußerte sich Triepel, indem er zunächst Ausführungen zu der damit zusammenhängenden und von verschiedenen Vorrednern aufgegriffenen Frage der Auftragsverwaltung machte. Diese könne für die Länder durchaus insofern ein „Danaer-Geschenk werden, als allein schon die Existenz der Einrichtung einen Anreiz zu einer weiteren Ausbildung der unmittelbaren Reichsverwaltung bieten" könne 615 . Ferner wandte er sich im Anschluß an den bayerischen Ministerpräsidenten gegen die Bezeichnung der Länder als „Mittelinstanzen" oder „Zwischenglieder", weil solche Ausdrücke nicht in die Konstruktion des Reichs paßten616. In diesem Zusammenhang stellte er klar, daß die Annahme eines scharfen Gegensatzes zwischen Gesetzgebung und Verwaltung verfehlt sei: „Verwaltung ohne irgendein Recht zu allgemeinen Verwaltungsanordnungen, ohne irgendeine regulative Gewalt, das ist nichts anderes als ausführende Knechtschaft." 617 Schließlich lehnte Triepel einen „homogenen Föderalismus", wie er durch die Erhebung der preußischen Provinzen zu Ländern hätte entstehen können, mit Entschiedenheit ab: „Ein Föderalismus in dem Sinne, daß in Deutschland eine Reihe an Größe und vielleicht auch wirtschaftlicher Bedeutung ungefähr gleicher Mittelstaaten nebeneinander bestehen - ich glaube das würde der Anfang vom Ende sein." 618 Auf der Grundlage seiner These, daß die Wiederherstellung der preußischen Hegemonie „kein Unglück, sondern ein Glück für Deutschland sein würde" 619 , trat Triepel - insofern immer noch strikt bismarckisch - für eine „Konzentration der Reichsgewalt durch eine organisatorische Verbindung zwischen Reich und Preußen" und damit für eine „preußische Führung im Reiche" ein, die allerdings verbunden mit Kompetenzgarantien für die anderen Länder sein sollte 620 . Er zeigte

6,2 613 614 615 616 6.7 6.8 619 620

Stenographische Niederschrift, S. 30. Stenographische Niederschrift, S. 30. Stenographische Niederschrift, S. 31. Stenographische Niederschrift, S. 31. Stenographische Niederschrift, S. 31. Stenographische Niederschrift, S. 32. Stenographische Niederschrift, S. 32. Stenographische Niederschrift, S. 33. Stenographische Niederschrift, S. 33.

Erster Teil: Leben

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sich überzeugt, „daß auf solcher Grundlage das Gebäude einer Einigung aufgerichtet werden könnte." 621 Auch die anderen Debattenbeiträge des ersten Sitzungstags trugen vielfach grundsätzlichen Charakter, so daß die Beratungen des Verfassungsausschusses sich ins Uferlose zu verlieren drohten 622 . Deshalb intervenierte das Reichskabinett noch am selben Tag 623 . Infolgedessen wurden schließlich zwei Unterausschüsse eingesetzt, von denen einer die Frage der territorialen Neugliederung des Reiches, der andere das Problem der Abgrenzung der Zuständigkeiten von Reich und Ländern behandeln sollte. Die beiden Unterausschüsse setzten sich aus je zwei Mitgliedern des Reichskabinetts, sechs Vertretern der Länder und drei von seiten des Reichs bestimmten nichtbeamteten Sachverständigen zusammen. Triepel wurde von der Reichsregierung - gegen seinen ausdrücklichen Wunsch 624 - für den Ersten Unterausschuß (Gliederung) als einer der drei nichtbeamteten Sachverständigen benannt625. Die Unterausschüsse tagten zum ersten Mal am 10. November 1928, wobei „die der Bearbeitung durch den Ersten Ausschuß zugewiesenen Gliederungsfragen" zurückgestellt wurden, weil sie größtenteils von der Bearbeitung der durch den Zweiten Unterausschuß zu behandelnden Problemkomplexen abhingen 626 . Hinzu kam, daß man solche Fragen, wie Gerhard Anschütz rückblickend vermerkt hat, „als ein heißes Eisen ansah, das man ungern anfaßte" 627. Deshalb ist der Erste Unterausschuß nie tätig geworden. Demgegenüber einigte man sich darauf, daß der Zweite Unterausschuß praktische Vorschläge zu folgenden Themen ausarbeiten sollte: „Die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Reich und Ländern" (sog. Zuständigkeitsreferat) und „Die Organisation der Länder (Landtage, Landesspitzen, Regierungen) unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen Preußen und dem Reich, und dem Einfluß der Länder auf das Reich (Reichsrat)" 628 (sog. Organisationsreferat). Das ursprünglich ebenfalls vorgesehene Thema „Finanzielle Auseinandersetzung zwischen Reich und Ländern" hat man dagegen zurückgestellt 629.

621

Stenographische Niederschrift, S. 33. F. A. Medicus, S. 23-25; Schulz, S. 591 f.; Verfassungsausschuß, Beratungsunterlagen 1928, S. 5 f. 623 Abdruck der Erklärung der Reichsregierung in Stenographische Niederschrift, S. 47 f. 624 Stenographische Niederschrift, S. 64. 625 Stenographische Niederschrift, S. 88; Verfassungsausschuß, Verh. vom 5. und 6. Juli 1929, S. 3; Brecht, Kraft des Geistes, S. 63. 622

626

627 628 629

F. A. Medicus y S. 28.

Anschütz, Leben, S. 298. Verfassungsausschuß, Verh. vom 5. und 6. Juli 1929, S. 4. F. A. Medicus, S. 30, 37.

6. Kap.: Berlin 1913-1944

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An der Erstellung der einzelnen Gemeinschaftsgutachten war Triepel nicht beteiligt. Eine Schlüsselstellung hierbei nahm dagegen Ministerialdirektor Arnold Brecht ein, der sowohl am Organisations-, wie auch am Zuständigkeitsreferat mitgewirkt hatte 630 . Das Schwergewicht der Vorschläge der Verfasser des Organisationsreferats Arnold Brecht (Preußen), Fritz Poetzsch-Heffter (Sachsen), Eugen Bolz (Württemberg) und Carl-Wilhelm Petersen (Hamburg) lag in der Regelung des Verhältnisses zwischen dem Reich und Preußen. Die Referenten suchten eine Lösung, bei der die Nachteile des damaligen Status quo, d. h. des Nebeneinanders einer Regierung für das ganze Reichsgebiet und einer Regierung für zwei Drittel des Reichsgebiets, vermieden werden könnten. Sie schlugen vor, die preußische Zentralregierung mit den Reichsministerien zu verschmelzen und die preußischen Provinzen „vorbehaltlich territorialer Änderungen" in eine Art reichsunmittelbare Länder zu verwandeln, „deren Verfassung für sie gemeinschaftlich durch zentrale Gesetzgebung festgesetzt" würde 631 . Diese „Länder neuer Art" sollten neben ihren Landesbehörden, den bisherigen Provinzialbehörden, eine allgemeine Reichsverwaltung nach Art der bisherigen preußischen Staatsverwaltung besitzen, die der Reichsregierung unterstehen würde. Art. 17 WRV, der u. a. die innere Verfassung der Länder regelte, wollte man so modifizieren, daß die Bestellung der Landesregierung auf Zeit, längstens aber für die Dauer einer Legislaturperiode, ermöglicht werden sollte. Als Muster für die Verfassung der „neuen Länder" wurde die bestehende preußische Provinzialverfassung (Landeshauptmann, Landtag, Landesausschuß) vorgeschlagen. Des weiteren strebte man an, die unmittelbare Reichsverwaltung in den Ländern in ein festes Verhältnis zu deren Regierungen zu bringen. Zu diesem Zweck, aber auch zur Verwaltungsvereinfachung, sollten die Reichsbehörden in der Spitze zusammengefaßt werden. Man schlug ferner vor, daß die preußischen Ministerien in den Ressorts des Reiches aufgehen, sofern ihre Aufgaben nicht den Landesregierungen übertragen würden. Auch der Preußische Landtag sollte mit dem Reichstag vereint werden. Am Reichsrat hielt man fest, und zwar sollte jedes Land mit der Stimmenzahl vertreten sein, die ihm nach Art. 61 Abs. 1 WRV zustünde632. Bei den Beratungen des Zweiten Unterausschusses über das Organisationsreferat leistete Triepel nur beim dritten Zusammentreten der Unterausschüsse am 18. und 19. November 1929 Diskussionsbeiträge von Belang. Er äußerte sich zum „Kernpunkt der ganzen Frage ...: nämlich die Art, wie die zukünftige Stellung der sogenannten neuen Länder geregelt werden soll." 633 Triepel trat

630

Brecht, Kraft des Geistes, S. 73; Biewer, S. 126. Verfassungsausschuß, Verh. vom 20. Juni 1930, S. 51. 632 Vgl. näher F. A. Medicus, S. 30-34; Verfassungsausschuß, Verh. vom 20. Juni 1930, S. 51-57. 633 Verfassungsausschuß, Verh. vom 18. und 19. November 1929, S. 41. 631

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Erster Teil: Leben

Bestrebungen der bayerischen Vertreter entgegen, die dahin zielten, den „neuen Ländern" annähernd dieselbe Stellung zu verschaffen wie den „alten Ländern". Dies würde statt einer Konzentration von Reichs- und preußischer Staatsgewalt deren Zerfaserung zur Folge haben. Wenn es wirklich eine „differenzierte Gesamtlösung" 634 sein solle, müsse der Provinzcharakter der „neuen Länder" unterstrichen und betont werden 635 . Des weiteren unterstützte Triepel die aus der Mitte des Ausschusses hervorgegangene Anregung, nicht nur zuzulassen, sondern zwingend vorzuschreiben, daß in allen Ländern die Regierungen auf Zeit bestellt werden. Dieser Vorschlag wurde mit fünf gegen sechs Stimmen abgelehnt 636 . Ein weiterer Diskussionsbeitrag Triepels bezog sich auf die im Unterausschuß stark umstrittene Stellung des Reichsrats. Er wandte sich gegen den Sondervorschlag Arnold Brechts, zur Erhaltung eines zentralen Einflusses im Reichsrat ein Drittel der Stimmen, die nach der vorgeschlagenen Konzeption auf die Gesamtheit der „neuen Länder" fallen sollten, der Reichsregierung zu übertragen. Triepel plädierte nicht etwa gegen den Vorschlag, „weil er aus der Konstruktion" herausfiel. Für ihn war vielmehr entscheidend, daß man in diesem Fall „auf einem Umweg den Willen des Reichstags in die Abstimmung des Reichsrats einschmuggeln und damit die Selbständigkeit der Beschlüsse des Reichsrats durchaus verfälschen" würde 637 . Der Sondervorschlag Brechts wurde denn auch abgelehnt638, wie das Organisationsreferat überhaupt in den wesentlichen Punkten unverändert verabschiedet wurde 639 . Das Zuständigkeitsreferat wurde auf der im Organisationsreferat „entworfenen organischen Grundlage erstattet" 640. Die Verfasser Koch-Weser (Reich), Brecht (Preußen), Remmele (Baden) und Horion (Rheinland) sprachen sich für drei Typen des Verwaltungsvollzugs aus, und zwar (1.) unmittelbare Reichsverwaltung, (2.) Reichsauftragsverwaltung und (3.) selbständige Landesverwaltung 641 . Zur ersten Gruppe zählten sie: Auswärtige Angelegenheiten, Heer, Marine, Post, Eisenbahn, Münzwesen, Reichsfinanzen, Reichsvermögen und die im Gesamtinteresse erforderlichen zentralen Einrichtungen der Arbeitsverwaltung und der Wohlfahrtspflege. Als wohl wichtigste Änderung der Reichszuständigkeit war vorgesehen, die Justizverwaltung auf das Reich zu übertra634 Nr. 2 des Ausschußbeschlusses vom 24. Oktober 1928, Stenographische Niederschrift, S. 87; vgl. auch Verfassungsausschuß, Verh. vom 18. und 19. November 1929, S. 15. 635 Verfassungsausschuß, Verh. vom 18. und 19. November 1929, S. 41 f. 636 Verfassungsausschuß, Verh. vom 18. und 19. November 1929, S. 67. 637 Verfassungsausschuß, Verh. vom 18. und 19. November 1929, S. 74. 638 Verfassungsausschuß, Verh. vom 18. und 19. November 1929, S. 75. 639 Vgl. die Synopse in Verfassungsausschuß, Verh. vom 20. Juni 1930, S. 51-57; F.

A. Medicus, S. 45, 50. 640 641

Verfassungsausschuß, Abgrenzung der Zuständigkeit, S. 3. Verfassungsausschuß, Abgrenzung der Zuständigkeit, S. 10-18.

6. Kap.: Berlin 1913-1944

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gen 642 . Folgende Tätigkeitsgebiete sollten nur in den „Ländern alter Art" (Bayern, Sachsen, Württemberg und Baden) in landeseigener Verwaltung bleiben, sonst aber in den „neuen Ländern" reichsunmittelbar verwaltet werden: Polizei, Gewerbeaufsicht (soweit keine auftragsweise Übertragung durch das Reich geschieht), Aufsicht über die Gemeinden und die berufsständische Verwaltung sowie Kirchen-, Wissenschafts- und innere Schulangelegenheiten. Darüber hinaus sollte in den genannten vier außerpreußischen Ländern die Kriminal-, Fremden- und Luftverkehrspolizei sowie die Gewerbeaufsicht in Auftragsverwaltung (zweite Gruppe) umgewandelt werden, um auf diese Weise ein einheitliches Weisungsrecht des Reichs zu ermöglichen 643 . Wäre dadurch die Reichzuständigkeit ausgedehnt worden, so hätte der weiter vorgebrachte Vorschlag, auch den Bereich der bisherigen Arbeitsverwaltung, der Sozialversicherung und der Versorgungsverwaltung in Form der Auftragsverwaltung zu organisieren 644, das Betätigungsfeld der Länder erweitert. Als diese Fragen im zweiten Unterausschuß erörtert wurden, machte Triepel, der dort nur mit beratender Stimme teilnehmen konnte, zum ersten Mal von seinem Rederecht Gebrauch. Ihm schien der behandelte Gegenstand von so fundamentaler Bedeutung zu sein, daß er sich verpflichtet fühlte, das Wort zu ergreifen 645. Er bezeichnete sich als „Gegner der Auftragsverwaltung, wenn sie in so ausgedehntem Umfange, wie es den Anschein hat, als neues Institut in unser Verfassungsrecht eingeführt werden soll." 646 Unter Bezugnahme auf seinen Vorredner legte er zunächst seine auf systematischen Erwägungen beruhende Interpretation des Art. 15 Abs. 2 WRV dar und führte aus, dessen „allgemeine Anweisungen" seien nichts anderes als Aufsichtsanweisungen. Es handele „sich nicht um ein Ausführungsverordnungsrecht oder um das Recht, Verordnungen in Auftragsangelegenheiten zu erlassen oder besondere Aufträge zu erteilen." 647 Mit Blick auf die Auftragsverwaltung als solche Schloß sich Triepel voll und ganz der Argumentation von Staatssekretär Busch an. Dieser hatte ausgeführt, die Übertragung regimineller Zuständigkeiten durch Auftrag des Staates an andere könne niemals einen völligen Ersatz für die Ausübung durch eigene Beamte bieten. Namentlich bei besonders wichtigen Angelegenheiten gelange entweder der Staatswille nicht zur vollen Wirksamkeit, oder es komme zu Konflikten mit der beauftragten Instanz. Grundsätzlich sei es besser, scharfe Kompetenzabgrenzungen zu haben. Vor allem aber im Verhältnis zu den alten Län642

F. A. Medicus, S. 35.

643

Verfassungsausschuß, Verfassungsausschuß, Verfassungsausschuß, Verfassungsausschuß, Verfassungsausschuß,

644 645 646 647

Abgrenzung der Zuständigkeit, S. 12, 14. Abgrenzung der Zuständigkeit, S. 18, 20. Verh. vom 5. und 6. Juli 1929, S. 67 f. Verh. vom 5. und 6. Juli 1929, S. 68. Verh. vom 5. und 6. Juli 1929, S. 68.

158

Erster Teil: Leben

dem würde das Reich, wenn man auf Weisungsrecht und Disziplinargewalt verzichte, vollkommen von dem guten Willen des Mandatars abhängig sein 648 . Als Beispiel nannte Triepel polizeiwidrige Ausdünstungen einer Gasanstalt oder eines Schlachthofs. Sei eine solche Einrichtung - wie regelmäßig - unter tätiger Mitwirkung des Bürgermeisters entstanden, so führe dies in Preußen wegen der Funktion des städtischen Bürgermeisters als allgemeiner Polizeibehörde erfahrungsgemäß oft zu bedenklichen Erscheinungen. Um so größer seien die Schwierigkeiten auf Landesebene. Auch in den „neuen Ländern" drohe die Gefahr der Politisierung. In den „alten Ländern" sei die Politisierung der Auftragsverwaltung von vornherein gegeben. Denn dort könne der zuständige Landesminister in die Zwickmühle geraten, sich vor dem Parlament dafür verantworten zu müssen, was er in der Auftragsverwaltung getan habe, während er andererseits Gefahr laufe, aus einer Stellung abberufen zu werden, die ihm manche Vorteile gewähre. Zwar sei in Einzelfällen eine Auftragsverwaltung zwischen Reich und Ländern möglich, es unterliege aber im übrigen sehr schweren Bedenken, sie in dem vorgeschlagenen großen Umfang in die Reichsverfassung einzufügen. Zudem neige er der Ansicht zu, Art. 14 WRV lasse nicht zu, die Auftragsverwaltung durch einfaches Gesetz in Einzelfällen einzuführen; vielmehr sei eine Verfassungsänderung erforderlich 649 . Die folgende Diskussion im Unterausschuß zeitigte zugunsten der „alten Länder" das Ergebnis, daß die vorgesehene Umwandlung der Kriminal-, Fremden», und Luftverkehrspolizei, der Gewerbeaufsicht und der Reichswasserstraßen in Reichsauftragsverwaltung verworfen wurde 650 . Eine Mehrheit sprach sich entsprechend der Vorlage dafür aus, für den Bereich des Reichsvermögens, der Reichsbauverwaltung, der Reichswasserstraßenverwaltung und der Verwaltungspolizei eine reichsnunmittelbare Verwaltung vorzusehen, wobei die beiden letztgenannten Gebiete in den „Ländern alter Art" wiederum landeseigen bleiben sollten. Das weite Gebiet der Wohlfahrtspflege (Gesundheits-, Jugend- und Wohnungsfursorge), die Landesfinanzen, die landwirtschaftliche Verwaltung, die Denkmalpflege und die überörtliche Landesplanung wollte man der Verwaltungskompetenz der Länder als „selbständige Landesverwaltung" (dritte Gruppe) zuordnen 651. Ferner sollten Gesetzgebungszuständigkeiten den Ländern mit Ausnahme von Bayern, Sachsen, Württemberg und Baden nur insoweit zustehen, als sie ihnen vom Reich ausdrücklich überlassen werden würden 652 . Das Zuständigkeitsreferat wurde schließlich - abgesehen von den 648

Verfassungsausschuß, Verh. vom 5. und 6. Juli 1929, S. 28 f. Verfassungsausschuß, Verh. vom 5. und 6. Juli 1929, S. 68 f. 650 Verfassungsausschuß, Verh. vom 5. und 6. Juli 1929, S. 73; vgl. auch die Synopse in Verfassungsausschuß, Abgrenzung der Zuständigkeit, S. 14 f. 651 Verfassungsausschuß, Abgrenzung der Zuständigkeit, S. 16, 18. 652 Verfassungsausschuß, Abgrenzung der Zuständigkeit, S. 20, 22; F. A. Medicus, S. 649

36.

6. Kap.: Berlin 1913-1944

19

oben erwähnten Modifikationen - mit wenigen, meist nicht grundlegenden Änderungen gegen die bayerischen Stimmen im Unterausschuß angenommen653. Die beiden Beschlüsse des Unterausschusses über die Zuständigkeitsabgrenzung und die Organisationsfragen wurden am 21. Juni 1930 dem Verfassungsausschuß zur Entgegennahme vorgelegt. Die Verhandlungen des Gesamtausschusses wurden dadurch vereinfacht, daß zu den Beratungen des zweiten Unterausschusses - einer Anregung Triepels folgend 654 - regelmäßig die Mitglieder und Sachverständigen beider Unterausschüsse hinzugezogen worden waren 655 . Zunächst erörterte man das Zuständigkeitsgutachten. Die Vertreter der „alten Länder" kämpften hartnäckig für eine möglichst effektive Art der verfassungsmäßigen Sicherung der ihnen verbliebenen Verwaltungszuständigkeiten. Triepel fiel es zwar „außerordentlich schwer, für irgend etwas zu stimmen, was an die ehemaligen Reservatrechte der Bismarckschen Reichsverfassung erinnert" 656 . Gleichwohl erkannte er den Wunsch der süddeutschen Länder nach Bestandsgarantien an. Alles andere sei angesichts der „so ungeheure[n] Zusammenballung staatlicher Macht" in Norddeutschland, wie sie durch die Vereinigung von Preußen mit dem Reich geschehen sollte, „im höchsten Grade gefährlich" 657 . Der Vorschlag des Unterausschusses658 erschien ihm insoweit nicht ausreichend: „Eine wirkliche Garantie erhalten die alten Länder nur dann, wenn sie auch gegen Reichstagsmajoritäten geschützt sind." 659 Die Änderungsanträge wurden jedoch abgelehnt660. Des weiteren äußerte sich Triepel zu einem Antrag, bei dem es um die Modifikation der vom Unterausschuß vorgeschlagenen Ergänzung von Art. 10 WRV ging 661 . Er hielt sich für verpflichtet darauf hinzuweisen, daß dieser Antrag eine Selbstverständlichkeit enthalte. Denn die Zuständigkeit des Reichs sei in den entsprechenden Materien schon kraft des in der Wissenschaft allgemein anerkannten Grundsatzes der Konnexität der Aufgaben gegeben662. Gleichwohl wurde der Antrag angenommen663. Mehr Erfolg hatte Triepel dagegen mit seinen Einwänden gegen Vorschläge, den Staatsgerichtshof zum Richter darüber zu machen, ob sich der Reichsgesetzgeber bei der Ausübung seiner Rahmenkompetenz (vgl. Art. 10 WRV) an 653

F. A. Medicus, S. 3 8 ^ 0 .

654

Stenographische Niederschrift, S. 89.

655

F. A. Medicus, S. 52.

656

Verfassungsausschuß, Verh. vom 21. Juni 1930, S. 24. Verfassungsausschuß, Verh. vom 21. Juni 1930, S. 24. 658 Verfassungsausschuß, Abgrenzung der Zuständigkeit, S. 19. 659 Verfassungsausschuß, Verh. vom 21. Juni 1930, S. 25. 660 Verfassungsausschuß, Verh. vom 21. Juni 1930, S. 30. 661 Verfassungsausschuß, Verh. vom 21. Juni 1930, S. 37; Verfassungsausschuß, Abgrenzung der Zuständigkeit, S. 23. 662 Verfassungsausschuß, Verh. vom 21. Juni 1930, S. 37. 663 Verfassungsausschuß, Verh. vom 21. Juni 1930, S. 38. 657

Erster Teil: Leben

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die dort festgelegten Vorgaben hält. Denn für das Ansehen des Staatsgerichtshofs sei es nicht zuträglich, wenn man ihn mehr als notwendig zur Entscheidung von Fragen zwinge, „die nach Gesichtspunkten politischer Wertung entschieden werden" müßten 664 . Im Ergebnis wurden die beiden Gutachen des Unterausschusses in der Schlußabstimmung des Verfassungsausschuß nach nur geringfügigen Änderungen mit 15 gegen drei Stimmen bei zwei Enthaltungen angenommen665. Triepel stimmte den Beschlüssen - wie auch Anschütz - ebenfalls zu 666 . Die Reformvorschläge des Verfassungsausschusses der Länderkonferenz waren in ihrem Charakter als „differenzierte Gesamtlösung" oder „differenzierende Endlösung" ein Kompromiß aus sehr heterogenen Vorstellungen und Zielen, denn die süddeutschen Staaten durften in keine „sezessionistische Stimmung hineingetrieben werden." 667 Die „differenzierende Endlösung" orientierte sich auch insoweit am politisch Machbaren, als die starke und leistungsfähige preußische Zentralverwaltung erhalten bleiben sollte, was Vorbehalten Preußens gegen eine Reichsreform den Wind aus den Segeln nahm. Letztlich war sie ein Testversuch von historischer Bedeutung, dem sich das Reich und die größeren Länder gemeinsam unterzogen. Zweck und Zukunft des Reformprogramms blieben jedoch im Ungewissen668. Nachdem der Verfassungsausschuß der Länderkonferenz seine Arbeit erledigt hatte, erstellten die Ministerialdirektoren Fritz Poetzsch-Heffter (Sachsen) und Arnold Brecht (Preußen) auf Basis der gefaßten Beschlüsse in Privatarbeit, aber mit dem Einverständnis des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun (SPD) Gesetzesvorentwürfe 669, die allerdings nicht unwesentlich voneinander abwichen 670 . Im Sommer 1931 entstand auch ein Entwurf des Reichsministeriums des Innern. Er zerfiel in zwei Teile und enthielt drei oder vier Punkte oder Lücken, von denen Brecht in einem Schreiben an Staatssekretär Zweigert vom Reichsinnenministerium 671 voraussagen konnte, daß sie, wenn das Reichskabinett es dabei belasse, im Reichsrat noch zu Gegenanträgen oder ergänzenden Anträgen von preußischer Seite fuhren würden 672 . Brecht warb in diesem 664 Verfassungsausschuß, Verh. vom 21. Juni 1930, S. 23; vgl. allgemein zu Triepels Vorstellungen von den Aufgaben einer Staatsgerichtsbarkeit unten 8. Kap. V. 3. b). 665 F. A. Medicus, S. 55. Abdruck der Beschlüsse in Verfassungsausschuß, Verh. vom 21. Juni 1930, S. 58-63; Brecht, Föderalismus, S. 261-274. 666 Brecht, Kraft des Geistes, S. 79 f.; Anschütz, Leben, S. 299. 667 Brecht, Kraft des Geistes, S. 59; ähnlich auch Apelt, Geschichte, S. 401. 668 Näher Schulz, S. 600-602. 669

Schulz, S. 80 f.; Braun, S. 360.

670

So Schulz, S. 602; a. A. ohne Begründung Biewer, S. 128. Schreiben vom 3. Juni 1931, abgedruckt in Brecht, Kraft des Geistes, S. 410-414. Brecht, Kraft des Geistes, S. 81, 92 f.

671 67 2

6. Kap.: Berlin 1913-1944

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Schreiben u. a. für die Ergänzung des Regierungsentwurfs um seinen schon im Unterausschuß gescheiterten Antrag, ein Drittel der Stimmen der neuen Länder im Reichsrat auf die Reichsregierung zu übertragen. Um seinen Vorschlag argumentativ zu untermauern, führte er aus, auch Triepel habe als einer der drei im Verfassungsausschuß vertretenen Staatsrechtslehrer erklärt, „keine staatsrechtlichen Bedenken gegen den Antrag" zu hegen. Triepel habe schließlich im Verfassungsausschuß für seinen Antrag gestimmt 673 . In dem Schreiben votierte Brecht des weiteren für die Vereinheitlichung der Justiz im ganzen Reichsgebiet, die zwar im Unterausschuß angenommen, im Gesamtausschuß aber mit zehn gegen sieben Stimmen bei zwei Enthaltungen abgelehnt wurde 674 . Dies sei nur dadurch geschehen, daß eine Reihe von Abstimmenden gegen ihre Überzeugung stimmten, was insbesondere „für die Professoren Triepel und Anschütz gelte, die sich wiederholt als Anhänger der Vereinheitlichung bekannt" hätten 675 . Zur strittigen „Verreichlichung der Justiz" findet sich indes in den Protokollen keine Äußerung Triepels. Aber es ist durchaus denkbar, daß sich Triepel den taktischen Überlegungen von Anschütz angeschlossen hat. Dieser hatte sich gegen seine Überzeugung der Stimme enthalten, um die Zustimmung des badischen und anderer Vertreter süddeutscher Länder zur Gesamtheit der Beschlüsse zu erleichtern 676 . Wie dem auch sei, jedenfalls hatte auch der Regierungsentwurf infolge der krisenhaften Entwicklungen in der Endphase der Weimarer Republik keine Chance, sich im politischen Prozeß durchzusetzen 677. Im einzelnen beruhten die Gründe dieses Mißerfolgs, wie Anschütz rückblickend vermerkt hat, in erster Linie auf der mangelnden Tatkraft der damaligen Reichsregierung, aber auch auf der widerstrebenden Haltung der Länder 678 . Ob mit der Verwirklichung der vorgeschlagenen Gesetzentwürfe der Dualismus zwischen Preußen und dem Reich „auf einem gangbaren Weg beseitigt worden" wäre 679 oder deren Realisierung vielmehr „ein staatsrechtliches Monstrum" mit Staatsbürgern verschiedener Klassen geschaffen hätte 680 , mag dahinstehen. Eine Bewährungschance in der politischen Praxis haben die Vorschläge nie erhalten, so daß deren Bewertung letztlich spekulativ bleiben muß. Auch der von Arnold Brecht gleichsam in letzter Minute ausgearbeitete Gesetzentwurf 681 , der wiederum an den 67 3 674 67 5 676

Brecht, Kraft des Geistes, S. 413. Verfassungsausschuß, Verh. vom 21. Juni 1930, S. 11. Brecht, Kraft des Geistes, S. 414. Verfassungausschuß, Verh. vom 21. Juni 1930, S. 11.

677

Vgl. nur Stolleis III, S. 123 f.

67 8

Anschütz, Leben, S. 301.

679

So Biewer, S. 127.

680

So Apelt, Geschichte, S. 402. Abgedruckt bei Brecht, Föderalismus, S. 275-279; ders., Kraft des Geistes, S. 95-

681

98. 11 Gassner

Erster Teil: Leben

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Vorarbeiten des Verfassungsausschusses angeknüpft hatte, war zum Scheitern verurteilt, als sich Kurt v. Schleicher nicht mehr als Reichskanzler halten konnte und von Adolf Hitler abgelöst wurde 682 .

9. Historische Reichskommission Am 17. Juli 1920 wurde durch Erlaß des Reichspräsidenten 683 die „Historische Kommission für das Reichsarchiv" ins Leben gerufen. Sie sollte „das Reichsarchiv in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit beraten, seine Verbindung mit der Wissenschaft herstellen und über die Unabhängigkeit seiner Forschungen wachen." 684 Ihre Bildung war vor allem deshalb für notwendig erachtet worden, weil sich Innenministerium und Auswärtiges Amt gegen die Vorherrschaft der Reichswehr im Archiv gewandt hatten685. Der Reichsinnenminister ernannte folgende Personen zu Kommissionsmitgliedern 686: Reichskanzler a. D. v. Bethmann-Hollweg, Generalmajor a. D. v. Borries, General der Infanterie z. D. Freiherr v. Freytag-Loringhoven, Staatssekretär Lewald, Oberst v. Mertz als Präsident des Reichsarchivs, und die Universitätsprofessoren Hans Delbrück, Walter Goetz, Paul Kehr (zugleich Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive), Erich Mareks, Friedrich Meinecke, Hermann Oncken, Hermann Schumacher, Georg Schreiber und Alois Schulte sowie Erich Brandenburg und Gustav Mayer (1871—1948)687. 1931 wurde Triepel als einziger Jurist in die Historische Reichskommission berufen 688. Auch in dieser Funktion hat sich Triepel für Kollegen eingesetzt, die nach der Machtübergabe an Hitler von „Säuberungsmaßnahmen" betroffen waren, gleichviel, ob sie ihm politisch und wissenschaftlich nahestanden oder nicht. Im konkreten Fall ging es um das linksliberal gesinnte 61jährige Kommissionsmitglied Gustav Mayer, Extraordinarius für die Geschichte der politischen Parteien an der Berliner Universität. Mayer war ein bedeutender Historiker der Arbeiterbewegung und hatte sich als Biograph Friedrich Engels' sowie als Herausgeber des Nachlasses von Ferdinand Lassalle einen Namen gemacht. Mit Ministerialerlaß vom 3. September 1933 wurde gemäß § 3 des sog. Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums aus rassischen Gründen

682

Brecht hatte fur den 28. Januar 1933 noch eine Unterredung mit dem Kanzler vereinbart, vgl. Brecht, Kraft des Geistes, S. 98. 683 Abgedruckt bei Demeter, S. 50. 684

Demeter, S. 50.

685

Herrmann, FAZ vom 31. Juli 1991, S. Ν 3.

686

Demeter, S. 14.

687

Über ihn Stuchtay, FAZ vom 21. Februar 1998, Beilage, S. II. Ν. N., Tübinger Chronik vom 13. Februar 1933.

688

6. Kap.: Berlin 1913-1944

1

Mayers Entlassung aus dem Beamtenverhältnis verfugt 689 . Da Mayer erst eine kurze Dienstzeit zurückgelegt hatte und eine Familie unterhalten mußte, traf ihn diese Maßnahme besonders hart. Als sie von der Entlassung erfuhren, haben in Berlin und Umgebung wohnhafte Mitglieder der Historischen Reichskommission, unter ihnen neben Meinecke, Oncken und Härtung auch Triepel, eine vom 23. Juni 1933 datierende Eingabe an den zuständigen Minister 690 gesandt, in der sie sich für Gustav Mayer einsetzten, indem sie u. a. auf dessen „wissenschaftliche Qualitäten" und „warme nationale Gesinnung" verwiesen 691. Die Unterzeichner sprachen sich zwar nicht für die Rücknahme der Entlassung aus, sondern traten lediglich für einen Härteausgleich bei der Bemessung der Pensionshöhe ein 692 . Dies geschah aber wohl weniger aus opportunistischen denn aus taktischen Überlegungen. Jedenfalls ist diese Eingabe insofern besonders bemerkenswert, als sie eine der wenigen offiziösen Interventionen zugunsten verfolgter jüdischer Wissenschaftler war 693 .

10. Herausgebertätigkeit Mit zunehmender wissenschaftlicher Reputation wurde Triepel die Mitherausgeberschaft führender Fachzeitschriften angetragen. 1919 trat er beim AöR, der damals angesehensten öffentlich-rechtlichen Zeitschrift, auf Vorschlag Otto Mayers die Nachfolge Paul Labands an 694 . 1927 wurde Triepel in das Herausgebergremium des JdÖR aufgenommen. 1928 wurde er Mitherausgeber der DJZ. Bei der 1929 erstmals erschienenen ZaöRV gehörte Triepel zu den Gründungsvätern 695. Die Stellung als Mitherausgeber konnte er beim JdöR bis 1938, bei der ZaöRV, dem Organ des Berliner Kaiser-Wilhelm-Instituts, erheblich länger, nämlich bis 1944, halten. Das „getreuliche Ausharren des alten emeritierten Triepel" 696 bei der ZaöRV verwundert nur auf den ersten Blick. Denn diese Zeitschrift hat auch nach 1933 trotz der Verdrängung ihrer Mitherausgeber Erich Kaufmann, Rudolf Smend und Ludwig Kaas im wesentlichen ihr

689

Chronik der Friedrich-Wilhelms-Universität 1932/1935, S. 38. Abgedruckt bei Schottlaender, S. 92. 691 Eingabe vom 23. Juni 1933, s. Schottlaender, S. 92. 692 Eingabe vom 23. Juni 1933, s. Schottlaender, S. 92. 693 Vgl. die Dokumentation in Schottlaender, S. 85-97. 694 Schreiben Triepels an den Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom 30. Dezember 1933, SBB, MA NL 2, Bd. 41, Bl. 254. 695 Hueck (s. Literaturverzeichnis). 690

696

ll 1

Stolleis III, S. 394.

1

Erster Teil: Leben

wissenschaftliches Niveau halten können, ohne ein allzu enges Bündnis mit den neuen Herren schmieden zu müssen697. Keinen solchen institutionell vermittelten Schutz genossen die beiden unabhängigen Fachzeitschriften AöR und DJZ. Da sie zudem für den staatsrechtlichen Diskurs von zentraler Bedeutung waren, hat sich bei ihnen die machtpolitische Zäsur von 1933 auf die Zusammensetzung der Herausgeber stärker ausgewirkt als bei der ZaöRV. Allerdings waren auch solche unabhängigen wissenschaftlichen Zeitschriften in der Frühphase des NS-Regimes weniger dem Zugriff der nationalsozialistischen Schrifttumspolitik als den Intrigen der Partei- und Gesinnungsgenossen in den eigenen Reihen ausgesetzt698. Bei beiden Organen sind daher Vorgänge zu beobachten, die sich eher als quasi-autonome „Selbstgleichschaltung" denn als - von oben erwirkte - „Gleichschaltung" qualifizieren lassen699. So hatte sich bei der DJZ der Geheime Justizrat Wildhagen, der älteste der im Kopf der Zeitschrift als „Mitwirkende" bezeichneten Mitherausgeber, schon im August 1933 mit dem dringenden Anliegen an Otto Liebmann, den Gründungsherausgeber der Zeitschrift gewandt, die Personalstruktur im Zeichen der „neuen Ideenwelt" so zu verändern, daß sie auch weiterhin den „ersten Platz als führendes Organ im deutschen Rechtsleben" einnehmen könne 700 . Konkret schlug er vor, „dass die gegenwärtigen Mitherausgeber, ohne Ansehen von Person, Abkunft und politischer Gesinnung sämtlich zurücktreten" 701 . Daraufhin bat Liebmann die Mitherausgeber zunächst „um beschleunigte Stellungnahme" und legte ihnen nahe, diesen Vorschlag unter dem Gesichtspunkt des „starken rechtspolitischen Einschlags" der Zeitschrift zu akzeptieren 702. Triepel vermochte sich diesem Ansinnen nicht zu entziehen, vielleicht auch, weil er um die langjährigen engen Kontakte zwischen Carl Schmitt und Liebmann wußte 703 , und schied - ebenso wie die anderen Mitherausgeber - aus. Hans Frank, „Reichsfuhrer der Deutschen Rechtsfront" sorgte schließlich dafür, daß Schmitt im Mai 1934 Herausgeber der DJZ wurde 704 , nachdem ihn schon Liebmann 697

Vgl. auch Stolleis III, S. 393 f. Vgl. zum Folgenden ausfuhrlich L. Becker (i. E.); ferner schon Stolleis/Schmitt, Quaderni Fiorentini 13 (1984), S. 757 f. 699 Anders noch Heine, S. 274. 700 Brief Wildhagens an Liebmann vom 31. August 1933, NrwHStA, NL C. Schmitt, RW 265-17990; teilweise zit. bei Koenen, S. 542. 701 Brief Wildhagens an Liebmann vom 31. August 1933, NrwHStA, NL C. Schmitt, RW 265-17990; teilweise zit. bei Koenen, S. 542. 702 Schreiben Liebmanns an die Mitherausgeber vom 2. September 1933, NrwHStA, NL C. Schmitt, RW 265-8748. 703 Schreiben Liebmanns an die Mitherausgeber vom 2. September 1933, NrwHStA, NL C. Schmitt, RW 265-8748; vgl näher Koenen, S. 140, 206-208, 543. 698

704

Koenen, S. 541.

6. Kap.: Berlin 1913-1944

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selbst nach „freundschaftlicher" Absprache mit dessen Freund und Förderer Johannes Popitz, ebenfalls Mitherausgeber der DJZ, angeboten hatte, „in den Kreis der Mitherausgeber eintreten zu wollen" 705 . Eine ähnliche Form der „Selbstgleichschaltung" vollzog sich beim AöR, der angesehensten Zeitschrift des Fachs 706 . Oscar Siebeck, der Verlagsinhaber, hielt es zunächst nicht fur erforderlich, Änderungen im Herausgebergremium vorzunehmen. Schließlich hatte die Zeitschrift ihre zeitgemäße nationale Haltung mit einem von Triepel auf Anregung des Mitherausgebers Johannes Heckel verfaßten Grußwort an die neue Regierung 707 nachdrücklich unter Beweis gestellt 708 . Solche Ergebenheitsadressen der Fachzeitschriften waren seinerzeit alles andere als unüblich 709 . Mit ebenso naiv wie schwülstig klingendem Pathos hatte Triepel „im Namen der Schriftleitung" formuliert: „Als deutsche Männer sind sie [seil, die Herausgeber, d. Verf.] durchdrungen von dem festen Glauben an die unzerstörbaren Kräfte der deutschen Nation und leben der frohen Zuversicht, daß das Reich der Zukunft den altüberlieferten Schatz deutscher Rechtsgedanken als treuer Hüter bewahren und ihn, den Erfordernissen der Zeit entsprechend, mehren werde zum Heile des Vaterlandes." 710 Der Inhalt des AöRGrußworts ist insofern typisch, als es von den anfänglichen Hoffnungen zeugt, die Triepel, wie viele andere nationalkonservativ Denkende auch, in Hitlers Koalitionskabinett gesetzt hatte. Der Text dürfte aber schwerlich als Beleg fur eine nationalsozialistische Gesinnung zu interpretieren sein, zumal Triepel hierin auch die Tradition einer unabhängigen Staatsrechtswissenschaft betont: „Eine neue Zeit... darf doch nicht achtlos beiseiteschieben, was von überkommenem Gedankengute brauchbar ist zur Einfügung in den geistigen Neubau der Zukunft." 711 Zudem sah Triepel die aktuelle Aufgabe der Staatsrechtslehre darin, „eine im Werden begriffene verfassungsrechtliche Neubildung" nicht nur „verstehend und helfend", sondern auch „warnend" zu begleiten712 . Dem „Parteigenossen" und Mitherausgeber Otto Koellreutter, der den Text erst in der Druckfassung zu lesen bekam, ging denn auch die seiner Ansicht nach halbherzige Haltung Triepels nicht weit genug. Er wandte sich deshalb empört an den Verleger und kritisierte die Veröffentlichung heftig 713 . Siebeck 705 Schreiben Liebmanns an C. Schmitt vom 11. September 1933, NrwHStA, NL C. Schmitt, RW 265-8758; näher Koenen, S. 543. 706 Dazu eingehend L. Becker (i. E.); vgl. auch Stolleis III, S. 301 m. w. N. 707 AöR 63 (1934), S. 1 f. 708

709

710

Stolleis III, S. 301. Rüthers/Schmitt, JZ 1988, S. 370 f.

AöR 63 (1934), S. 2. AöR 63 (1934), S. 2; vgl. auch Stolleis III, S. 302. 7.2 AöR 63 (1934), S. 1. 713 Schreiben an Siebeck vom 20. April 1933, Verlagsarchiv J. C. B. Mohr; Stolleis III, S. 302. 7.1

Erster Teil: Leben

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war jedoch von der Grußadresse so begeistert, daß er sogar die Erscheinungsfolge des AöR änderte und die Ausgabe von Heft 1 des Jahrgangs 1934 vorzog, um die „würdigen Worte für alle Zeiten an die Spitze eines Bandes" zu setzen 714 . Doch Koellreutter ließ nicht locker. Im Mai 1933 forderte er unter Hinweis auf arische Prinzipien Siebeck auf, den Mitherausgeber Albrecht Mendelssohn Bartholdy (1874-1936) 715 zu entlassen716. Außerdem teilten Carl Bilfinger und Ernst Forsthoff unter Berufung auf Ihre Mitgliedschaft in der NSDAP dem geschäftsführenden Herausgeber Johannes Heckel mit, ihre bereits zugesagten Manuskripte erst abliefern zu wollen, nachdem Mendelssohn ausgeschieden sei 717 . Als dieser über Dritte von seiner bevorstehenden Ablösung erfuhr, ließ er Siebeck in einem von Triepel übermittelten Schreiben wissen, er wolle mit Zeitschrift und Verlag nichts mehr zu tun haben, und trat im Juli 1933 als Herausgeber zurück 718 . Mendelssohn wollte schon einmal 1926 wegen einer von ihm als nachteilig empfundenen Änderung des Titelblatts ausscheiden, nahm aber hiervon Abstand, nachdem er von Triepel eindringlich gebeten worden war, im Herausgebergremium zu verbleiben. In einem Schreiben an Mendelssohn hob Triepel damals vor allem die Notwendigkeit hervor, die Neutralität des AöR zu bewahren: „Gerade in der Gegenwart" könnte „Ihr Ausscheiden auch politisch in einem falschen Sinne gedeutet werden ..., so etwa, als ob in politischer Beziehung das Archiv einen Frontwechsel vornehmen wollte. Ich habe mich immer bemüht, ... das Archiv in seiner politischen Haltung so neutral wie möglich zu halten, und dass Ihr Name auf dem Titelblatt mit Männern anderer Richtung verbunden war, gab davon Zeugnis." 719 Dementsprechend ungehalten reagierte Triepel auf die jetzige Situation. Zwar wollte er sich „nach reiflicher Überlegung ... vorläufig wenigstens nicht zurückziehen" 720 . Dem lag die Befürchtung zugrunde, daß das Archiv dann, wenn Heckel, der sich mit ihm solidarisch erklärt hatte, und er ausscheiden 714 7,5 716

Schreiben an Heckel vom 18. April 1933, Verlagsarchiv J. C. B. Mohr. Über ihn Landau, S. 183 m. w. N. Schreiben an Siebeck vom 15. Mai 1933, Verlagsarchiv J. C. B. Mohr; vgl. auch

Stolleis III, S. 302 Fn. 360. 717

Schreiben Bilfingers vom 10. Juli 1933 und Forsthoffs vom 14. Juli 1933, Verlagsarchiv J. C. B. Mohr; vgl. auch Stolleis III, S. 302 Fn. 361; Schreiben Triepels an Mendelssohn Bartholdy vom 18. Juli 1933, SBB, MA NL 2, Bd. 41, Bl. 149. 718 Vgl. Schreiben Triepels an Siebeck vom 22. Juli 1933, Verlagsarchiv J. C. B. Mohr. 719 Schreiben Triepels an Mendelssohn Bartholdy vom 19. Dezember 1926, SBB, MANL 2, Bd. 33, Bl. 140. 720 Schreiben Triepels an Mendelssohn Bartholdy vom 18. Juli 1933, SBB, MA NL 2, Bd. 41, Bl. 149.

6. Kap.: Berlin 1913-1944

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würden, „ohne jeden Zweifel auf absehbare Zeit, vielleicht auf immer, in eine ganz einseitige Richtung gedrängt werden" würde 721 . Doch äußerte Triepel sein Mißfallen über die Behandlung Mendelssohn Bartholdys und warnte seinen Verleger unmißverständlich vor weiteren opportunistischen Zugeständnissen: „Ich fürchte, dass die Konzession, die Sie machen zu müssen glauben, der erste Schritt auf einer abschüssigen Bahn sein wird. Es werden noch andere Zumutungen kommen, die dann freilich die Mehrzahl der Herausgeber nicht mehr wird mitmachen können." 722 Vielleicht hoffte Triepel tatsächlich, der Fahrt auf der „abschüssigen Bahn" noch durch ein Mehrheitsvotum der verbliebenen Mitherausgeber Einhalt zu gebieten. Doch im Grunde mußte ihm bewußt sein, daß Koellreutter und seinen „Parteigenossen" die Zukunft gehörte, zumal sich Verleger Siebeck naturgemäß auch an wirtschaftlichen Maßstäben zu orientieren hatte. Das Ausscheiden Mendelssohn Bartholdys hatte gerade in dieser Hinsicht wenig bewirkt. Auch in der Zeit danach blieb die AöR ein Publikationsorgan, das wegen ihrer fuhrenden Rolle während der Weimarer Zeit von den Protagonisten nationalsozialistischer Theoreme wenig geschätzt wurde. In den Augen Koellreutters und Siebecks bildete vor allem Triepel nach seiner offenen Kritik am Juristentag neuer Prägung 723 eine ernste Gefahr für das Ansehen und den weiteren Bestand der Zeitschrift. Deshalb bestellte Siebeck unter Umgehung Triepels bei Hans Gerber einen positiven Bericht über die vom BNDSJ organisierte Leipziger Tagung des Juristentags 724, um seinen Rücktritt als Mitherausgeber zu provozieren. Triepel empfand diesen Eingriff in seine Rechte als Herausgeber als „ganz schwere Kränkung" 725 , woraufhin Siebeck ihm miteilte, Gerber habe seinen Beitrag zurückgezogen 726. Doch wußte Triepel die Zeichen richtig zu deuten und zog sich wenig später, nachdem ihm Heckel seinen Entschluß mitgeteilt hatte, die Redaktion des AöR niederzulegen, „mit aufrichtigem Bedauern" zur Jahreswende 1933/34 aus dem Kreis der Herausgeber zurück 727 .

721 Schreiben Triepels an Mendelssohn Bartholdy vom 18. Juli 1933, SBB, MA NL 2, Bd. 41, Bl. 149. 722 Schreiben Triepels an Siebeck vom 22. Juli 1933, Verlagsarchiv J. C. B. Mohr. 723 Vgl. oben 4. a. E. 724 Schreiben Siebecks an Heckel vom 14. November 1933, Verlagsarchiv J. C. B. Mohr. 725 Schreiben Triepels an Siebeck vom 14. Dezember 1933, Verlagsarchiv J. C. B. Mohr. 726 Schreiben Siebecks an Triepel vom 23. Dezember 1933, Verlagsarchiv J. C. B. Mohr. 727 Schreiben Triepels an den Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) vom 30. Dezember 1933, SBB, MA NL 2, Bd. 41, Bl. 254; vgl. auch Stolleis III, S. 289, 302 Fn. 361.

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Erster Teil: Leben

11. Institut international de Droit public Am 26. Juni 1927 fand an der juristischen Fakultät in Paris die konstituierende Sitzung des „Institut international de Droit public" statt. Zu dessen Gründern gehörten u. a. Joseph Berthélémy (Paris), Fritz Fleiner (Zürich), Maurice Hauriou (Toulouse), Gaston Jèze (Paris), Hans Kelsen (Wien), Josef Redlich (Wien), Walther Schücking (Kiel) und Fritz Stier-Somlo (Köln) 728 . Nach § 1 der Statuten sollte es Aufgabe des Instituts sein, die „wissenschaftliche Arbeit auf dem Gebiete des öffentlichen Rechtes und der Staatswissenschaften, die theoretische Prüfung verschiedener Probleme des öffentlichen Rechtes - des Verfassungs-, Verwaltungs- und Völkerrechtes in ihren Beziehungen zum Staatsrecht - , die Ausarbeitung von Methoden, die Aufstellung allgemeiner Grundsätze, der Vergleich und die Begutachtung verschiedener rationeller Theorien, um im Wege juristischer Grundsätze in freien Staaten die Entwicklung von Freiheitsrechten zu fördern." 729 Nach der Annahme des Statuts wählte die Versammlung 19 ordentliche Mitglieder (membres titulaires) und 14 außerordentliche Mitglieder (membres associés ). Unter den ordentlichen Mitgliedern befanden sich neben Roscoe Pound (Harvard) und anderen hochrangigen ausländischen Rechtsgelehrten auch die deutschen Professoren Erich Kaufmann, Rudolf Laun, Richard Thoma, Rudolf Smend und Heinrich Triepel 730 . Damit war Triepel sieben Jahre nach dem Verlassen des „Institut de Droit international" 731 wieder Mitglied einer internationalen wissenschaftliche Vereinigung geworden. Er genoß so großes Vertrauen von Seiten des Vorstands, dem u. a. Fritz Fleiner und Hans Kelsen angehörten, daß er zum Mitglied von nicht weniger als fünf der insgesamt sieben eingesetzten Kommissionen bestimmt wurde 732 . Wie aus den Tagungsberichten hervorgeht, hat sich Triepel indes wohl wegen seiner hohen Arbeitsbelastung - nicht wesentlich an der Institutsarbeit beteiligt.

12. Sonstige außeruniversitäre

Aktivitäten

Triepel hat im Nebenamt auch richterliche Aufgaben wahrgenommen. 1921 wurde er zum Mitglied des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich in seiner 728

Ν. N., ZöR 1928, S. 321. Allerdings war kein deutschsprachiger Rechtsgelehrter anwesend, vgl. N. N., ZöR 1928, S. 322. 729 Ν. N., ZöR 1928, S. 324. 730 Ν. N., ZöR 1928, S. 321. 731 Vgl. oben 5. Kap. a. E. 732 Ν. N., ZöR 1928, S. 323. Die Versammlung hatte beschlossen, den Vorstand mit der provisorischen Zusammensetzung der Kommissionen zu beauftragen, s. Ν. N., ZöR 1928, S. 323.

6. Kap.: Berlin 1913-1944

19

Zusammensetzung als Gericht zur Entscheidung über Anklagen des Reichstags gegen den Reichspräsidenten, den Reichskanzler und die Reichsminister wegen schuldhafter Verfehlung der Reichsverfassung gewählt. Da eine solche Anklage aber nie erhoben worden ist, trat der Staatsgerichtshof weder in jener Formation zusammen733, noch kam er in die Lage, das ihm übertragene richterliche Amt auszuüben734. Seit 1928 war Triepel deutsches Mitglied des nach Art. 13 des deutsch-niederländischen Vertrags vom 20. Mai 1928 gebildeten bilateralen Ständigen Vergleichsrats 735. Auch in dieser Eigenschaft ist ihm nie Gelegenheit geboten worden, richterlich tätig zu werden 736 . Nicht zu eruieren war hingegen, inwieweit Triepel sich in praxi der „Hauptstelle zur Verteidigung Deutscher vor feindlichen Gerichten" zur Verfugung gestellt hat 737 . Ferner verdient Erwähnung, daß Triepel 1936 die ihm angetragene Ehrenmitgliedschaft der im Juni 1933 gegründeten „Deutschen Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissenschaften" annahm738. Dies war aber die einzige regimenahe Organisation, der er sich wohl eher nolens als volens anschloß, um seine Familie nicht zu gefährden. Daneben hat Triepel in verschiedenen Institutionen zahlreiche Vorträge gehalten. Zu nennen ist hier etwa der Festvortrag über die „Internationale Regelung der Staatsangehörigkeit" anläßlich der 16. Hauptversammlung der KaiserWilhelm-Gesellschaft am 12. Juni 1928 in der Aula der Universität München 739 . Darüber hinaus hat er bei der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 8. November 1919 bzw. 10. Mai 1924 über die Themen „Der Weg der Gesetzgebung nach der neuen Reichsverfassung" 740 und „Der Föderalismus und die Revision der Weimarer Reichs Verfassung" 741 referiert. Die 1859 gegründete Gesellschaft 742 war neben dem Deutschen Juristentag, der aus ihren Reihen angeregt worden war, das bedeutendste nationale Forum der Rechtswissenschaft

733

Anschütz, Leben, S. 284. Lebenslauf, PAG. 735 Vgl. zum letztgenannten Amt die Angabe Triepels im Fragebogen vom 25. November 1936, UAH, Nr. 102, Bl. 76. Die Bestellung erfolgte mit Schreiben des damaligen Außenministers Gustav Stresemann vom 10. Januar 1928, BA, NL Triepel Bd. 2, Bl. 51. 736 Lebenslauf, PAG. 737 Dankesschreiben vom 20. April 1920, BA, NL Triepel Bd. 2, Bl. 34. 738 Schreiben vom 9. September 1936, BA, NL Triepel Bd. 2, Bl. 85; Fragebogen vom 25. November 1936, UAH, Nr. 102, Bl. 76. 739 vom Brocke, Kaiserreich, S. 161; Henning/Kazemi, S. 58. Der Vortrag wurde veröffentlicht in ZaöRV 1929, S. 185-199. 740 Fijal, S. 125, 189; abgedruckt in AöR 39 (1920), S. 456-546. 741 Fijal, S. 126, 193; Finkelnburg, S. 36; in einer erweiterten Fassung abgedruckt in ZfP 1925, S. 193-230. 734

742

Fijal, S. 13 f.; Finkelnburg, S. 34.

Erster Teil: Leben

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und -praxis 743 . Gleichwohl hat Triepel die Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin, deren Mitglied er war, für seine in der Hauptstadt gehaltenen Vorträge bevorzugt 744 .

I I I . Homo politicus Triepel hat sich zwar nie aktiv politisch betätigt 745 , besaß aber gleichsam schon von Berufs wegen eine politische Grundüberzeugung. Nach eigenem Bekunden ist er „immer ein christlicher Konservativer gewesen"746. Daß Triepel „sein Leben lang geradlinig konservativ-rechts" war, hat auch Norbert Ebers in seiner Familienchronik vermerkt 747 .

1. Kaiserreich Vor dem Ersten Weltkrieg sah Triepel seinen christlich geprägten Konservativismus in der Naumannschen Bewegung repräsentiert 748. Mit dieser politischen Richtung kam er in seiner beruflichen Laufbahn vor 1914 zweimal in engere Berührung. Friedrich Naumann hatte im November 1896 in Erfurt zusammen mit über 100 Gesinnungsgenossen den Nationalsozialen Verein gegründet 749 . Vorstandsmitglied und Mitbegründer war Rudolf Sohm, einer seiner Leipziger Lehrer und späteren Fakultätskollegen, der damals nicht ohne Erfolg öffentlich für seine politischen Überzeugungen warb 750 . Auch der Umstand, daß die Tübinger staatswissenschaftliche Fakultät, der Triepel neun Jahre angehört hat, mit den Professoren der Nationalökonomie Albert Schäffle, Gustav Friedrich v. Schönberg und Friedrich Julius v. Neumann ein Zentrum des sog. Kathedersozialismus 751, der in enger geistiger Verwandtschaft mit der national-

743

Fijaly S. 173 und passim. Vgl. oben 2. 745 So die Selbsteinschätzung in einem vermutlich im Rahmen der sog. Entnazifizierung erstellten Lebenslauf, UAH, Nr. 102, Bl. 55. 746 Schreiben Triepels an Koellreutter vom 18. April 1933, Verlagsarchiv J. C. B. Mohr. 747 So Norbert Ebers, Familienchronik, PAG. 748 Lebenslauf, UAH, Nr. 102, Bl. 55; Schreiben Triepels an Koellreutter vom 18. April 1933, Verlagsarchiv J. C. B. Mohr. 749 Vgl. zur Gründungsversammlung umfassend Düding, S. 47-62. 75 0 Behrendt, S. 21 f. Rudolf Sohm war bei seinem Bemühen erfolgreich, den Nationalsozialen Verein von dem ursprünglich eingeschlagenen Linkskurs abzudrängen, vgl. Düding, S. 49-59, 85-101 und passim. 744

6. Kap.: Berlin 1913-1944

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sozialen Konzeption Naumanns stand 752 , gewesen ist 7 5 3 , mag nicht ohne Einfluß auf sein politisches Denken geblieben sein. Triepels anfängliche Sympathien für die Naumannsche Bewegung haben sich jedoch nicht gegenüber seinen Neigungen zu einem gouvernemental getönten Konservativismus durchsetzen können. So erwähnt er schon in seiner 1907 erschienenen Studie „Unitarismus und Föderalismus" etwas distanziert, wenn auch noch ohne weitere ausdrückliche Wertung, daß „der Gedanke eines demokratischen Cäsarismus, wie er ζ. B. durch Friedrich Naumanns ,Demokratie und Kaisertum 4 hindurchschimmert, bei den radikalen Gruppen des Liberalismus zu einer mit Liebe gepflegten Vorstellung geworden ist." 7 5 4 Die Hinwendung Naumanns zum Konzept eines Volkskaisertums wollte Triepel, wie er später klargestellt hat, gerade wegen dessen plebiszitär-demokratischer Legitimationsbasis nicht nachvollziehen 755 . Sein damaliges Votum für eine starke Reichsspitze hat Triepel denn auch nicht auf solche Überlegungen gestützt, sondern anhand national geprägter Topoi zu begründen versucht 756 . Hiermit steht in Einklang, daß Triepel bis 1918 Mitglied der Deutschen Reichspartei war 7 5 7 , die er einmal selbst als den ,,linke[n] Flügel der Konservativen" bezeichnet hat 758 . „Deutsche Reichspartei" nannten sich die Freikonservativen nach der Reichsgründung auf der Reichsebene, was den nationalunitaristischen Grundzug der Partei gut zum Ausdruck brachte 759 . Die Freikonservativen waren eine betont gouvernementale, kanzlerorientierte Partei, deren Anhänger sich aber gleichwohl in besonderem Maße durch Unabhängigkeit ihres Denkens auszeichneten. So haben sich etwa Hans Delbrück, Max Weber und Constantin Frantz zu freikonservativen Positionen bekannt. Dieser „Kopflastigkeit" entsprach in organisatorischer Hinsicht der fast vollständig fehlende Unterbau der Partei, weshalb sie mit Recht als „Personalpartei" charakterisiert 751 Ein bekannter Kathedersozialist war Lujo Brentano, der Triepel im Referendarexamen prüfte (vgl. oben 2. Kap. a. E.); vgl. zum politischen Selbstverständnis der Kathedersozialisten Brentano, S. 79. 752 Vgl. zur Verbindung der Kathedersozialisten mit Friedrich Naumann Heuss, Naumann, S. 141, 156; s. hierzu auch Töpner, S. 19; Döring, S. 15 f. m. w. N. Weitere personelle Querverbindungen gab es z. B. in Form der Freundschaft zwischen Lujo Brentano und RudolfSohm, vgl. Brentano, S. 208 f.; näher Düding, S. 115. 75 3 Born, S. 63 und passim. 754 Unitarismus, S. 93. 755 Schreiben Triepels an Koellreutter vom 18. April 1933, Verlagsarchiv J. C. B. Mohr. 756 Vgl. unten 8. Kap. IV. 1 a. E. 757 Personalbogen von Ende 1934 oder Anfang 1935, UAH, Nr. 102, Bl. 1 f. 758 Unitarismus, S. 99. 75 9 Triepel, Unitarismus, S. 99, hebt hervor, daß die DRP als einzige konservative Partei lange Zeit unitarisch gewesen sei, in den letzten Jahren aber „auch hier eine föderalistische Strömung zu größerer Geltung gekommen sei."

12

Erster Teil: Leben

wurde 760 . Die Deutsche Reichspartei war tendenziell prokapitalistisch ausgerichtet, im übrigen aber ständig bemüht, die in ihr vertretenen agrarischen und industriellen Interessen auszugleichen, und ließ sich insofern nie einseitig instrumentalisieren. Gerade auch das sozialkonservative Moment war bei den Freikonservativen stark entwickelt 761 . Trotz seiner Parteimitgliedschaft war Triepel aber ebenso wie die Mehrzahl der Professoren des Bismarckreiches - jedenfalls bis 1914 - der Meinung, daß sich Gelehrte nicht unmittelbar politisch engagieren oder gar aktive Parteipolitik betreiben sollten. Man betrachtete sich vielmehr als über den Parteien stehend und nur dem Gesamtwohl der Nation verpflichtet 762 . Diese quietistische Haltung brachte der Historiker und Publizist Hans Delbrück in seiner Ende 1913 ausgelieferten programmatischen Broschüre „Regierung und Volkswille" apodiktisch zum Ausdruck: „Unsere Regierung rühmt sich über den Parteien zu stehen. Auch die Wissenschaft steht über den Parteien" 763 . Exemplarisch war auch die Ansicht, die Universität sei jenseits aller „Verwirrung durch Parteisucht und Parteihaß" lediglich dazu berufen, „das Handeln der Macht an der Idee zu messen"764. Jene äußerlich „unpolitische" Haltung bedeutete also nicht, daß der geistige Führungsanspruch gegenüber der Nation ganz aufgegeben wurde: „... was die Wissenschaft sagt, ist in Deutschland immer sehr beachtet worden und es möchte ratsam sein, daß man das fürderhin wohl in Obacht nehme." 765 Was sich vor allem ab 1871 gegenüber früheren Zeiten mit dem sog. Professorenparlament 1848/49 in der Frankfurter Paulskirche als Höhepunkt gewandelt hatte, war nicht der Inhalt, sondern die Form politischer Betätigung: „Rückzug aus den Parlamenten gewiß, aber nicht Rückzug aus der Politik!" 7 6 6 Besonders in Zeiten der Unsicherheit und der Krise glaubte der deutsche Professor weiterhin an seine Berufung zum politischen Mentor 767 . Diese Grundüberzeugung sollte sich mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs aktualisieren. 76 0

Nipperdey, Organisation, S. 241 Fn. 1. Huber IV, S. 37-40; Striesow, S. 16-18; Hertzman, S. 18 f.; Liebe, S. 16; Nipperdey, Geschichte, S. 337; Ritter, S. 80-84. 762 Vgl. zu den Ursachen dieser politischen Zurückhaltung Κ Schwabe, S. 10-14 und passim; Töpner, S. 17-19; Böhme, S. 4 f.; plakativ-polemisch Bleuel, S. 28-34 und passim. Die Annahme Klaus Schwabes, S. 11, dieser Prozeß stünde mit dem Vordringen positivistischer Tendenzen in den Geisteswissenschaften in Zusammenhang, formulierte schon Triepel - freilich beschränkt auf die Staatsrechtslehre - in seiner Rektoratsrede über „Staatsrecht und Politik" von 1926, S. 16: „Allein ich glaube nicht fehlzugreifen, wenn ich die parlamentarische Enthaltsamkeit der neueren Publizistenschule auch mit ihrer inneren Einstellung zum Politischen als solchem in Verbindung bringe." 76 1

76 3 76 4 165

Delbrück,, S. V. Paulsen, S. 332. Delbrück, S. V.

766

So vom Brocke, Professoren, S. 68.

76 7

Töpner, 18 f.; Böhme, S. 6 f.

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Viele Professoren fühlten sich aus diesem Anlaß wieder berufen, das politische Geschehen mit publizistischen Mitteln zu deuten 768 . Wie die übergroße Mehrheit seiner Kollegen gab auch Triepel damals die traditionelle Indifferenz gegenüber Äußerungen zur praktischen Politik auf. Weite Teile der intellektuellen und kulturellen Elite des Kaiserreichs, so zum Beispiel auch Thomas Mann 7 6 9 , erfuhren, vom nationalistischen Taumel erfaßt, einen plötzlichen Politisierungsschub. Ein neuer Geist wurde geboren, „der Geist der stärksten Zusammenfassung aller wirtschaftlichen und aller staatlichen Kräfte zu einem neuen Ganzen ... . Der neue deutsche Staat! Die Ideen von 1914!" 770 Die antiwestlichen und antiparlamentarischen „Ideen von 1914" 771 erhielten durch den germanophilen schwedischen Geopolitiker und Staatsrechtslehrer Rudolf Kjellén ihre Salbung als „weltgeschichtliche Perspektive" 772 und wurden den „Ideen von 1789" entgegengesetzt773. In diesem erregten politischen Klima des August 1914, versäumte es kaum ein Mitglied der Gelehrten-aristokratie, über die historische Auseinandersetzung zwischen „Händlern und Helden" 774 nachzudenken oder sogar „das übervolle Herz in Kriegsaufsätzen und Broschüren zu entladen" 775 . An dieser Kriegspublizistk im engeren Sinne hat sich Triepel, als eher der nüchternen Analyse verpflichteter Jurist 776 , nicht beteiligt. Wie Rudolf Smend

768 Vgl. hierzu generell Κ Schwabe, S. 21-45; Bleuel, S. 74-76; Eschenburg, Universitätsleben, S. 27-29; Töpner, S. 20 f. 769 Vgl. zu dessen Publikationen in den Jahren 1914/1915 Sontheimer, Thomas Mann, S. 19-24; Fechner, S. 36-41 und passim; Koester, S. 249-258. 77 0 Plenge, S. 187 f. 771 Eine instruktive Analyse findet sich bei Lübbe, S. 173-238; vgl. auch Bleuel, S. 77-84. 772 „Die Ideen von 1914: eine weltgeschichtliche Perspektive" lautet der Titel der in Deutschland damals weitverbreiteten Flugschrift Rudolf Kjelléns. 773 Näher Ringer, S. 169-177; Döring, 21 f.; Mommsen, Eliten, S. 3. 774 Es war der Nationalökonom und Sozialwissenschaftler Werner Sombart, der diesen Topos in seinem 1915 unter diesem Titel erschienenen Buch prägte; vgl. zu dessen Inhalt und Rezeption Lenger, S. 246-251. 77 5 Meinecke, Reform des preußischen Wahlrechts, S. 172. Exemplarisch für die damalige Stimmung ist auch die zeitgenössische Schilderung in den Memoiren von Friedrich Glum, Erlebtes und Erdachtes, S. 125 f.; vgl. näher Κ Schwabe, HZ 1961, S. 603607 m. w. N. 776 Die Protagonisten der Kriegspublizistik waren in der Mehrzahl Historiker, Nationalökonomen, Philosophen und Theologen (vgl. die Tabelle bei Κ Schwabe, S. 290). Wie Klaus Schwabe, S. 187, mit Recht bemerkt, war die Rechtswissenschaft schon von ihrem methodischen Ansatz her eher zur Bildung eines sachgerechten Urteils geeignet, wenn auch das Urteil manches Juristen darunter litt, daß „es in dubio pro patria ausfiel", K. Schwabe, HZ 1961, S. 633. Auch gab es manche Ausnahme von diesem Grundsatz, so z. B. Otto v. Gierke , S. 77-101, vgl. Ungern-Sternberg, S. 85 f., oder Rudolf Smend mit seinem Tübinger Vortrag über „Krieg und Kultur" (1915).

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mit Recht bemerkt hat, ist dies „bezeichnend für die juristische Zucht und Grundhaltung seines Wesens" 777 . Gleichwohl ist auch in Triepels Veröffentlichungen aus jener Zeit 7 7 8 eine - allerdings immer wohlbegründete - antiangloamerikanische Polemik zu entdecken, die zuweilen freilich auch vor drastischen Charakterisierungen nicht zurückschreckte. So fabulierte Triepel etwa vom „beutelüsternen Angelsachsentum" 779 . Damit bewegte er sich aber durchaus noch im juste milieu der damaligen deutschen Völkerrechtslehre 780 . Dem erhitzten Klima allgemeiner geistiger Mobilmachung vermochte sich Triepel ebensowenig wie viele seiner Kollegen zu entziehen. So hat er die sog. „Intellektuelleneingabe" vom 20. Juni 1915 781 unterstützt. Sie wurde von dem Berliner Theologen Reinhold Seeberg vorbereitet und im wesentlichen von dem alldeutschen Literaten Andreas Gildemeister entworfen 782 . Dieser Entwurf war kaum mehr als eine Paraphrase der Kriegszielschrift 783 , die schon im September 1914 von Heinrich Claß, dem Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes 784 , verfaßt worden war. Das Anliegen der Intellektuelleneingabe bestand darin, die alldeutschen Kriegsziele in ein auch das geistige Deutschland ansprechendes Programm zu gießen. Mit ihr sollte vor allem die Professorenschaft, aber auch breitere Teile der Öffentlichkeit für eine entschieden annexionistische Kriegführung gewonnen werden. Die Intellektuelleneingabe bekräftigte den damals weitverbreiteten Glauben an den Verteidigungscharakter des Krieges 785 . Von den Feinden, hieß es dort, seien Pläne entworfen worden, die „bis zur Vernichtung des deutschen Reiches gingen." 786 Daraufhin hätten wir Deutschen „uns erhoben in dem Bewußtsein, nicht nur unser äußeres, sondern vor allem auch unser inneres, geistiges und sittliches Leben, Deutschland und Europas Kultur verteidigen zu müssen gegen die Barbarenflut aus dem Osten und die Rache- und Herrschaftsgelüste aus dem Westen." 787 Man wolle zwar nicht 77 7

Smend, Triepel, S. 113. Vgl. zu den kriegsvölkerrechtlichen Publikationen unten 9. Kap. III., IV. 1. 779 Daheim 1918/19, S. 9. 780 Stolleis III, S. 63; Vgl. zum gerade in Krisenzeiten virulenten Problem der national verengten Sicht-weise in der Völkerrechtswissenschaft v. Münch, ArchVR 1961/62, S. 4-26. 781 Abgedruckt als „Seeberg-Adresse" bei Böhme, S. 125-135. 782 Κ Schwabe, VfZG 1966, S. 124 f. 783 Krück, S. 76 f.; vgl. zum deutschen Kriegszielstreit die instruktive Darstellung bei Huber V, S. 217-244. 784 Vgl. zum Entstehen und den Bestrebungen des 1890 gegründeten Alldeutschen Verbandes Krück, S. 7-65. 785 Vgl. hierzu Triepels symptomatische Formulierung, Das neue Deutschland 1913/14, S. 600: „Wir Deutsche sind mit reinen Händen in einen uns aufgedrungenen Kampf gezogen." 778

786 787

Böhme, S. 125. Böhme, S. 125.

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die „Weltherrschaft, aber volle, der Größe unserer kulturellen, wirtschaftlichen und kriegerischen Kraft entsprechende Weltgeltung" 788 . Des weiteren wurden in der Intellektuelleneingabe auch umfangreiche Annexionen in Ost- und Westeuropa sowie der Neuaufbau des afrikanischen Kolonialreichs gefordert. Auch verlangte man, England im Falle eines Sieges hohe Kriegsentschädigungen aufzuerlegen. Denn: „Der Geldbeutel ist der empfindlichste Teil dieser Krämernation." 789 Unter den 1347 Unterzeichnern befanden sich neben Triepel noch 351 weitere, teils weltberühmte Hochschullehrer 790. Triepel hatte sich damit auf die Seite der zahlenmäßig überlegenen Gruppe der „Annexionisten" geschlagen. Ihnen standen die „Gemäßigten" 791 gegenüber. In der von dieser Gruppe unter Führung des „konservativen Sozialdemokraten" 792 Hans Delbrück, eines Berliner Historikers, organisierten sog. Gegeneingabe793, zu deren Unterzeichnung sich 70 Hochschullehrer bereit fanden, wurden zwar bescheidenere Kriegsziele verlangt, ohne jedoch auf Forderungen nach maritim-kolonialer Expansion und (weiteren) Annexionen im Osten zu verzichten 794. Das öffentliche Engagement Triepels für die „Annexionisten" verwundert insofern nicht, als er sich gleich zu Kriegsbeginn dem Kriegsmarineamt zur Mitarbeit in Fragen des Seerechts und des Kriegsrechts freiwillig zur Verfugung gestellt hatte 795 . Die erste Arbeitsprobe lieferte er mit einer gutachtlichen Stellungnahme ab, die er zusammen mit dem eher gemäßigten Berliner Volkswirt Max Sering 796 verfaßt hat 797 . Das erkenntnisleitende Interesse beider Verfasser war eindeutig. Es ging ihnen darum, „daß alle verfugbaren Mittel in Anwendung gebracht werden, um den völkerrechtswidrigen Plan einer Aushungerung des deutschen Volkes im Wege der Vergeltung zunichte zu ma788 789

Böhme, S. 126. Böhme, S. 133.

790

Darunter waren mehrere Staatsrechtslehrer, wie Otto v. Gierke, Ferdinand v. Martitz, Wilhelm v. Calker, Conrad Bornhak, Kurt Pereis und Richard Schmidt, sowie sonstige Rechtsgelehrte wie Rudolf Stammler, Ernst Zitelmann und Karl v. Amira, s. Κ. Schwabe, S. 70; Huber W, S. 231; Döring, S. 261-270. 791

So die Klassifizierung K. Schwabes, S. 74. So die Selbstcharakterisierung Delbrücks, vgl. K. Schwabe, S. 13 mit Fn. 31. 793 Verfasser war Theodor Wolff, der Herausgeber des linksliberalen Berliner Tagblatts. Abgedruckt wurde die „Gegeneingabe" erst im PrJb 169 (1917), S. 306 f.; zunächst erschien sie nur als Flugblatt mit Kommentar, vgl. K. Schwabe VfZG 1966, S. 131 m. N. 794 Vgl. zur Gegeneingabe im einzelnen K. Schwabe, VfZG 1966, S. 128-133; Döring, S. 24-28. 795 Dankesschreiben von Großadmiral v. Tirpitz vom 15. August 1914, PAG. 796 Vgl. zu dessen Haltung in der Kriegszielfrage K. Schwabe, S. 79. 797 „Denkschrift über die Durchbrechung der Handelssperre gegen Deutschland", abgedruckt bei Spindler, S. 236-242. 792

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chen." 798 Sering vertrat in seinem Begleitschreiben vom 26. Januar 1915 die Ansicht, daß England bei einer wirksamen Blockade „innerhalb weniger Wochen" zur Nachgiebigkeit gezwungen werden könnte 799 . Luftangriffe würden die Wirkung einer solchen Blockade nur noch steigern 800 . Daß völkerrechtliche Bedenken gegen dieses Vorgehen nicht bestünden, glaubte Triepel versichern zu können: Es sei „völlig unbestritten", daß England mit seiner eigenen Sperre für Lebens- und Futtermittel gegen das Völkerrecht verstoßen und damit selbst neue Normen geschaffen habe, die einen deutschen Gegenschlag, etwa durch einen Luftangriff auf Häfen, zur Genüge rechtfertigten. Deshalb seien auch von Seiten der Neutralen keine Schwierigkeiten zu erwarten. Denn hätten diese sich einmal zur stillschweigenden Duldung der englischen Blockade bequemt, könnten sie billigerweise auch keine Einwände gegen entsprechende deutsche Gegenmaßnahmen erheben 801 . Humanitäre Bedenken ließ Triepel nicht gelten: Sie müßten „wegen der vielleicht unvermeidlichen Härten bei der Zerstörung der Blockadebrecher ... zurücktreten in dem Gedanken an die Schwere und Grausamkeit der Opfer, die England unseren eigenen Volksgenossen zuzufügen willens ist." 8 0 2 Nachdem Triepel der Marineleitung solchermaßen die völkerrechtliche Unbedenklichkeit des U-Boot-Krieges bescheinigt hatte, kam er etwas später in der Frage der Torpedierung des britischen Hilfskreuzers Lusitania am 7. Mai 1915 803 zum gleichen Ergebnis 804 . Wenngleich angesichts solcher gewiß nicht immer rein wissenschaftlichen Äußerungen auch bei Triepel die Völkerrechtswissenschaft zur Magd der Politik zu verkommen drohte, so hat er sich doch in seinen Publikationen - anders als etwa sein Lehrer Karl Binding 8 0 5 - niemals 798 Anschreiben vom 26. Januar 1915 zur beigelegten Denkschrift, mitunterzeichnet von den Berliner Professoren Ulrich v. Wilamowitz-Möllendorf, Wilhelm Kahl, Otto v. Gierke, Schiemann, Adolf v. Harnack und Gustav v. Schmoller, s. Spindler, S. 235. 799 800

Spindler, S. 234. Sering/Triepel, S. 238.

801

Sering/Triepel,

802

Sering/Triepel,

803

S. 240-242. S. 242.

Bei der Versenkung der Lusitania fanden 197 amerikanische Staatsbürger den Tod. Wie inzwischen zweifelsfrei feststeht, war die Lusitania entgegen den damaligen Behauptungen der amerikanischen Regierung mit Munition und anderem Kriegsmaterial beladen, führte also Konterbande an Bord, vgl. Bailey , American Historical Review 1935/36, S. 61 f.; Simpson, S. 112 f., 302. 804 z f y 19165 s 231-236. Triepels Beurteilung teilten alle 20 anderen zum Lusitania-Fall befragten Gelehrten, vgl. die Stellungnahmen in ZfV 1916, S. 147-237. Das Gutachten Triepels dürfte zu den von v. Münch, ArchVR 1960/61, S. 28, apostrophierten „Ausnahmen" gehören, in denen nicht nur nationale Erregung und Leidenschaft, sondern - zumindest auch - der Versuch einer Deduktion lege artis zum Ausdruck kam. 805 „Was aber die Lusitania anlangt, so war es nicht nur unser bestes Recht, sondern unsere heilige Pflicht, sie zu torpedieren, wenn uns dies irgend gelingen konnte", ZfV 1916, S. 152; vgl. zu Bindings Weltkriegspublizistik Westphalen, S. 461-472.

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zu unmittelbar-politischen Apologien hinreißen lassen806. Dies hätte seinem Wissenschaftsethos 807 zu sehr widersprochen. Andererseits machte er aus seiner entschieden nationalen und antipazifistischen Haltung kein Hehl. So führte er in einem am 11. März 1916 in der Gehe-Stiftung zu Dresden gehaltenen Vortrag aus: „Die Ziele der Friedensbewegung beruhen auf einer von der meinigen verschiedenen Weltanschauung, auf einer in meinen Augen falschen und fur die soziale Entwicklung gefährlichen Bewertung des Einzellebens und Einzelglücks im Verhältnisse zu Leben und Glück des Staates, und über solchen Gegensatz der Auffassung führt keine Brücke der Verständigung. Der Pazifismus leidet ferner an einer bedenklichen Verkennung der Leistungsfähigkeit des Rechtlich-Organisatorischen im zwischenstaatlichen Leben." 808 Triepels Sympathien gehörten auch während des weiteren Kriegsverlaufs den „Annexionisten" und den weitgehend gruppenidentischen „Orthodoxen" 809 . So unterzeichnete er im Juli 1917 die Entschließung der Berliner Professorenkundgebung für eine Verschiebung der preußischen Wahlreform nach dem Kriege 810 . Diese Entschließung war eine Reaktion auf den wenige Tage zuvor ergangenen Appell an Regierung und Abgeordnetenhaus Preußens für das allgemeine, direkte, geheime und gleiche Stimmrecht, mittels dessen Einführung man glaubte, einer befürchteten revolutionären Unruhe des gerade dem „Kohlrübenwinter" entronnenen Volkes begegnen zu können 811 . Spiegelbildlich offenbarte sich in diesen Koalitionen die Fortdauer des Zerwürfnisses, das im ersten Kriegsjahr über der Kriegszielfrage unter den Gelehrtenpolitikern aufgebrochen war. Besonders in den beiden letzten Kriegsjahren beherrschte die Frage, ob und inwieweit die Kriegszielproblematik mit der Durchführung innerer Reformen zu verknüpfen ist, immer mehr die öffentliche Meinung und ließ den Streit zwischen beiden Lagern unversöhnlich erscheinen 812.

806 Vielmehr verstand er sich beispielsweise - im Gegensatz zu anderen Autoren - zu einem Wort des Bedauerns mit Blick auf die amerikanischen Opfer der Lusitania-Versenkung, vgl. ZfV 1916, S. 231. 807 Vgl. hierzu unten 3. a. E. 808 Zukunft des Völkerrechts, S. 15. 809 Der amerikanische Historiker Fritz K. Ringer unterscheidet zwischen „Orthodoxen" und „Modernisten" innerhalb der deutschen Professorenschaft von 1890—1933. Damit markiert er zwei entgegengesetzte Reaktionsweisen der Civitas academica gegenüber der heraufkommenden modernen Industriegesellschaft, vgl. Ringer, S. 121 f. und passim; ähnlich Döring, S. 13 f. 810 „Kundgebung konservativer Hochschullehrer für eine Demokratisierung nach dem Kriege", abgedruckt bei Schulthess 1917,1, S. 679. 811 Text des „Aufrufs zur Wahlrechtsreform" und Unterzeichnerliste in PJb 169 (1917), S. 156. Der Aufruf wurde von dem sog. Mittwochabend um Hans Delbrück und Friedrich Meinecke initiert, vgl. Döring, S. 43-46; Töpner y S. 114 f.; K. Schwabe, S. 157 f. 812 Vgl. hierzu eingehend K. Schwabe, S. 125-165. 12 Gassner

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Auch Triepel bezog noch zweimal während des Krieges öffentlich Stellung, und zwar in der Auseinandersetzung um die Alternativen „Siegfrieden" oder „Verständigungsfrieden". Nachdem der Reichstag am 19. Juli 1917 mehrheitlich eine Friedensresolution angenommen hatte, die sich zu einem „Verständigungsfrieden" unter wechselseitigem Verzicht auf „erzwungene Gebietserwerbungen" und auf „politische, wirtschaftliche oder finanzielle Vergewaltigungen" bekannte813, fühlten sich die „orthodoxen" Hochschullehrer zu neuerlichen Kundgebungen veranlaßt. 1.100 weitere Professoren und Dozenten, also nahezu ein Drittel der deutschen Hochschullehrer 814, stimmte - wie auch Triepel - der Petition gegen die Friedensresolution des Reichstags815 zu 816 . Die Unterzeichner bestritten dem vor Kriegsbeginn gewählten und über seine Legislaturperiode hinaus tagenden Reichstag das Recht, „den Volkswillen in unzweifelhafter Weise zum Ausdruck zu bringen" 817 . Daß Triepel noch im Frühjahr/Sommer 1918 - zumindest im Verhältnis zu Polen - für einen „Siegfrieden" eintrat, wie er von der Obersten Heeresleitung, die sich insofern teilweise im Gegensatz zur Reichsleitung befand 818 , verfochten wurde, wird in zwei Arbeiten deutlich, für die ihm Generalquartiermeister Ludendorff seinen ergebenen Dank aussprach 819. Hierbei handelt es sich um die „Denkschrift über die Gestaltung unserer Ostgrenze" 820, wo er den Plan der Obersten Heeresleitung unter Generalfeldmarschall Hindenburg unterstützte, die deutsche Ostgrenze aus Sicherheitsgründen bis zu einer militärisch haltbaren Linie zu verschieben und dieses Gebiet einzudeutschen821, sowie um ein Gutachten über die ehemaligen russischen Staatsländereien und Donationsgüter, deren Enteignung gegen Entschädigung er bei der Schaffung eines polnischen Grenzstreifens für rechtlich zulässig hielt 822 .

813

Vgl. zu Inhalt, Bedeutung und Verabschiedung der Friedensresolution Huber V, S. 316-321. 814

815

Döring, S. 52.

Die „Erklärung gegen die Reichstagsmehrheit" ist abgedruckt bei Schulthess 1917,1, S. 842 f., vgl. näher dazu Döring, S. 46 Fn. 117. 816 Döring, S. 261,269. 817 Schulthess 1917,1, S. 843. 8.8 Baumgart, S. 60-63, 90-92 und passim. 8.9 Dankschreiben vom 11. April und 22. Juli 1918, PAG. 820 Diese Denkschrift muß nach Mitteilung des Militärarchivs (Bundesarchiv) und des Archivs des Auswärtigen Amtes ebenso wie das nachfolgend genannte Gutachten als verloren gelten. 821 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Weltkrieg Az. 20 c Bd. 36, Bl. 6, 9; abgedruckt auch bei Hubatsch, S. 174, 178. 822 Vgl. die Inhaltsangabe in einem Schreiben Ludendorffs an den Stellvertreter des Reichskanzlers v. Payer vom 15. August 1918, in dem er die in einer Besprechung zwischen Regierungspitze und Oberster Heeresleitung am 9. August 1918 geäußerte Fehlvorstellung des Unterstaatssekretärs im Reichsamt des Innern Lewald, wonach Triepel

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Als der „Siegfrieden" im Herbst 1918 in immer weitere Ferne gerückt war, verstärkte sich der Ruf nach dem Zusammengehen aller Deutschen in der Stunde höchster Gefahr. In ungewohnter Einmütigkeit billigte die gesamte Berliner Professorenschaft einen Aufruf an das deutsche Volk, den der Religionsphilosoph Ernst Troeltsch verfaßt hatte 823 . Ihr Appell forderte dazu auf, eine geschlossene innere Einheit zu bilden und die Regierung des Prinzen Max von Baden zu unterstützen, „damit uns Vaterland, Kaiser und Reich, unversehrt erhalten bleibe" 824 . Es gehe um das Bestehen, die Freiheit und die Ehre des deutschen Volkes. Nach einem ,,tapfere[n] Wort" im jüngsten Aufruf der Sozialdemokratie werde sich das deutsche Volk mit einem Frieden der „Vergewaltigung, der Demütigung und der Verletzung seiner Lebensinteressen ... nie und nimmermehr abfinden." 825 Diese Haltung des Berliner Kollegiums vermittelt einen anschaulichen Eindruck von der Bereitschaft der deutschen Universitäten, sich in den Dienst der parlamentarisch-demokratischen Neuordnung zu stellen 826 .

2. Weimarer Republik Der Vertrauensvorschuß gegenüber der sich abzeichnenden neuen Staatsform sollte indes bald darauf mit Ausbruch der Revolution am 9. November 1918 fast völlig aufgebraucht werden. Die übergroße Mehrzahl der Berliner Hochschullehrer sah mit geballter Faust und Tränen in den Augen das Kaiserreich in Trümmer gehen 827 . Man gedachte jedoch nicht, sich schicksalsergeben auf Trauerarbeit zu beschränken: Schon vor der Wahl der Nationalversammlung am 19. Januar 1919 war durch die DNVP ein berufsständischer „Reichsausschuß deutschnationaler Hochschullehrer" mit dem Berliner Germanisten Gustav Roethe als erstem Vorsitzenden gegründet worden 828 . Dieser Ausschuß die Donationsgüter als Staatsbesitz betrachtet habe, zu korrigieren trachtete, vgl. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Weltkrieg Az. 20 c geheim Bd. 25, Bl. 126, 138. 823 „Gegen einen Frieden der Vergewaltigung!", Berliner Tageblatt Nr. 538 vom 21. Oktober 1918. 824 „Gegen einen Frieden der Vergewaltigung!", Berliner Tageblatt Nr. 538 vom 21. Oktober 1918. 825 „Gegen einen Frieden der Vergewaltigung!", Berliner Tageblatt Nr. 538 vom 21. Oktober 1918. 826 So zu Recht Döring, S. 58 f.; vgl. auch K. Schwabe, S. 171. 827 So das Resümee Töpners, S. 63. Allerdings stimmte die Berliner Dozentenversammlung noch im November 1919 mit knapper Mehrheit fur eine Loyalitätserklärung zur Regierung der sozialistischen Volksbeauftragten, wobei die jüngere Generation der Habilitierten den Ausschlag gab, vgl. Döring, S. 59 m. N. 828 Graef, S. 19; Liebe, S. 18; Lubarsch, S. 536-539; Töpner, S. 68 f.. Nach Gustav Roethes Tod im Jahre 1926 übernahm der bisherige Stellvertreter, der Berliner Pathologe Otto Lubarsch, den Vorsitz, vgl. Lubarsch, S. 538. *

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veröffentlichte Mitte Januar 1919 einen auch von Triepel unterzeichneten „Aufruf deutscher Hochschullehrer" 829 zur Wahl der DNVP, deren Mitglied er zu jener Zeit vermutlich schon geworden war 8 3 0 . Wegen der in diesen Kreisen weitverbreiteten Antipathie gegenüber Parteipolitik fand dieser Wahlaufruf erstaunlich große Beachtung und guten Widerhall 831 . Der DNVP war es offenbar gelungen, den Soupçon, Nachfolgeorganisation der großagrarisch orientierten und oft antiintellektuell eingestellten Deutschkonservativen zu sein, zu zerstreuen und sich als wahre, alle sozialen Schichten umfassende Volkspartei darzustellen. Der Aufruf enthielt neben einem damals bei allen Parteien üblichen Bekenntnis zum „Volksstaat" die gängigen Standardtopoi der „nationalen Opposition". So hat man ganz im Sinne der sog. Dolchstoßlegende der „revolutionären Sozialdemokratie" die Schuld an der Niederlage zugewiesen. Des weiteren distanzierte sich der Wahlaufruf von der „international gerichteten" DDP, die „nach französischem Muster unter der Alleinherrschaft der Demagogen den Mammonismus auf den Thron" gesetzt habe 8 3 2 . Die in dem Wahlaufruf ebenfalls enthaltenen antisemitischen Anspielungen 833 bedeuten allerdings nicht, daß Triepel als Antisemit klassifiziert werden kann. Zwar waren antijüdische Affekte damals gerade auch an den Hochschulen weitverbreitet 834 , aber schon aufgrund seiner persönlichen Bindungen war Triepel, anders als mancher politisch gemäßigtere Kollege 8 3 5 , gegen antisemitische Vorurteile gefeit. Seine Ehefrau und sein bester Freund, deren Bruder Paul Ebers, waren jüdischer Abstammung 836 . Dasselbe gilt für seine beiden Schüler Gerhard Leibholz 8 3 7 und Albert Hensel 838 sowie für Erich Kaufmann,

829 DAZ vom 14. Januar 1919; Deutsche Zeitung Nr. 16 vom 15. Januar 1919; vgl. hierzu auch Striesow, S. 50. 830 Die Mitgliedschaft Triepels ist nicht nachweisbar, vgl. Hollerbach, AöR 91 (1966), S. 420 Fn. 15a. Aus dem selbstverfaßten Lebenslauf Triepels kann indes entnommen werden, daß er sich „nach dem Kriege" der DNVP angeschlossen hat, UAH Nr. 102, Bl. 55; vgl. auch Personalbogen, UAH, Nr. 102, Bl. 1 f. Auch Rudolf Smend wurde zu dieser Zeit Mitglied der DNVP und unterstützte als Mitglied des „Reichsausschusses deutschnationaler Hochschullehrer" entsprechende Wahlaufrufe, vgl. Leibholz, Smend, S. 18; Döring, S. 261, 268. 831

Graefi S. 18.

832

DAZ vom 14. Januar 1919; Deutsche Zeitung Nr. 16 vom 15. Januar 1919. Vgl. zum Streit um die „Judenfrage" in der DNVP umfassend Striesow, S. 102— 162, 282-334; Hertzman, S. 121-164. 834 Bleuel, S. 119-124; Kreuzberger, S. 91-94. 835 Selbst Gerhard Anschütz, der untadelige Überzeugungsrepublikaner, ist hiervon nicht ganz frei, vgl. Pauly, Anschütz, S. XIII f. 836 Sein Schwiegervater Georg Ebers war getaufter Jude, vgl. Pietschmann, S. 469. 833

837

Leibholz-Bonhoeffer,

838

Kirchhof,;

S. 74.

S. 783; Kruse, StuW 1995, S. 82.

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dessen Berufung nach Berlin er befürwortet hatte 839 . Schließlich trat Triepel im „Dritten Reich" auch für verfolgte jüdische Wissenschaftler öffentlich ein 840 . Hiervon abgesehen, teilte er weitgehend die Auffassungen des nationalkonservativen Lagers, das im übrigen eine bemerkenswerte geistige und personelle Kontinuität aufwies: Etwa zwei Drittel der Unterzeichner des Wahlappells für die DNVP, so auch Triepel, hatten schon die während des Krieges ergangenen alldeutsch-annexionistischen Aufrufe unterstützt 841. Der gleiche Personenkreis signierte wenig später auch einen Hochschullehreraufruf zur preußischen Kommunalwahl 842 . Das war allerdings das letzte Mal, daß Triepel durch Unterstützung solcher Appelle an die Öffentlichkeit trat. Die für den deutschnationalen Hochschullehrerausschuß durchgeführte Unterschriftensammlung des Berliner Historikers Eduard Meyer für einen Aufruf gegen die Auslieferung des Kaisers vom Juli 1919 hatte bei ihm keinen Erfolg. Dieser „Erklärung deutscher Hochschullehrer zur Auslieferungsfrage" 843, die im Ton nationalistischer Demagogie gehalten war, blieb Triepels öffentliche Zustimmung ebenso versagt 844 wie einem Aufruf von Hochschullehrern für die DNVP anläßlich der Dezemberwahlen 1924 845 , obwohl er zu dieser Zeit noch Parteimitglied war. Dieses Verhalten offenbart eine zumindest graduelle Abkehr Triepels von deutschnationalen Ideologemen, die denn auch schließlich dazu geführt hat, daß er die DNVP Ende 1929 oder Anfang 1930 846 verließ, weil er „der radika-

839 840 841

GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 11, Bl. 69-71. Vgl. oben II. 9. a. E. Döring, S. 61.

842

„Aufruf!", s. Deutsche Tageszeitung Nr. 95 vom 21. Februar 1919. Tägliche Rundschau Nr. 336 vom 13. Juli 1919. Der Aufruf „Für Ehre, Wahrheit und Recht" wurde von Eduard Meyer unter Benennung sämtlicher Unterzeichner (u. a. Triepels Fakultätskollegen Ferdinand v. Martitz und Conrad Bornhak) auch als Broschüre herausgegeben, vgl. näher Döring, S. 63 f. 844 Allerdings regte er gegenüber Ferdinand v. Martitz und Wilhelm Kahl ebenfalls eine öffentliche Erklärung zur Auslieferungsfrage an, vgl. Schreiben vom 24. Januar 1919 an Martitz, SBB, Sammlung Darmstaedter 2 h 1899 (32), Β. 52; vgl. zum Wortlaut dieser - soweit ersichtlich - unveröffentlicht gebliebenen Erklärung vom 4. Februar 1919, NL W. Jellinek, Bd. 18. Des weiteren versuchte Triepel, DeuPol 1919, S. 299305, die rechtliche Unzulässigkeit der Auslieferung Wilhelms II. an die Siegermächte nachzuweisen. 845 „Ein Aufruf deutscher Wissenschaftler. Wählt deutschnational!", Deutsche Tageszeitung Nr. 574 vom 6. Dezember 1924; vgl. auch die tabellarische Dokumentation bei 843

Döring, S. 261, 269. 846

Die genaue Datierung ist unklar: In dem Personalbogen von Ende 1934 oder Anfang 1935 gab Triepel an, „bis 1929" Mitglied der DNVP gewesen zu sein, UAH, Nr. 102, Bl. 1 f., während er in dem Personalfragebogen vom 14. Januar 1946 erklärt hat, 1930 aus der DNVP ausgetreten zu sein, vgl. UAH, Nr. 102, Bl. 54. Überwiegend wird der Parteiaustritt Triepels auf das Jahr 1930 datiert, vgl. Friedrich, AöR 112 (1987), S.

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len Richtung Hugenbergs nicht Folge leisten mochte" 847 . Seine Sympathien galten vielmehr dem Dissidenten Gottfried Treviranus 848 , der sich Anfang Dezember 1929, ausgelöst durch einen innerparteilichen Streit um das vom „Stahlhelm" und der NSDAP unterstützte Volksbegehren gegen den „YoungPlan", zusammen mit weiteren elf DNVP-Abgeordneten von seiner Partei getrennt hatte. Wenige Wochen später hatten diese, mit nur wenigen Ausnahmen, die Volkskonservative Vereinigung (VKV) gegründet 849. Dem Groß-Berliner Arbeitskreis der V K V ließ Triepel seine Zustimmung zu Treviranus' programmatischer Rede im Preußischen Herrenhaus vom 28. Januar 1930 zugehen850. In dieser Rede sprach sich Treviranus, wie auch die übrigen Redner, für eine Erneuerung des Parteiwesens aus, stellte sich jedoch - im Gegensatz zu dem damaligen DNVP-Vorsitzenden Hugenberg - ausdrücklich auf den Boden der geltenden Verfassung 851. Die V K V befand sich somit nicht mehr in dem „verhängnisvolle[n] Dilemma" 852 der DNVP, die programmatisch und personell stets zwischen prinzipieller Opposition und aktiver Mitarbeit im Staat geschwankt hatte 853 . Kennzeichnend für die Volkskonservativen war hingegen ein

16; Hollerbach AöR 91 (1966), S. 420 Fn. 15a; Leibholz, Smend, S. 18, Schefold, Geisteswissenschaften, S. 575. 847 Lebenslauf, UAH, Nr. 102, Bl. 55. Reinhard Mußgnug hat mir freundlicherweise diese Angaben bestätigt und darüber hinaus mitgeteilt, daß auch Rudolf Smend aus Protest gegen Hugenbergs systemoppositionelle Linie aus der DNVP ausgeschieden war; vgl. hierzu auch Hollerbach AöR 91 (1966), S. 420 Fn. 15a; Friedrich, AöR 112 (1987), S. 16; ders., Staatsrechtswissenschaft, S. 325 mit Fn. 63; Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, S. 38 Fn. 27. 848 Vgl. zu dessen Parteiaustritt und dem vorausgegangenen innerparteilichen Konflikt Jonas, S. 33-60; s. auch Huber VI, S. 165-167, 171-173. 849 Vgl. zu dieser „volkskonservativen Sezession" und den Bestrebungen zur Gründung einer neuen jungkonservativen Mittelpartei Ishida, S. 120-122, 133-135; Jonas, S. 33-36; Roeske, S. 423-*30. 850 Hollerbach, AöR 91 (1966), S. 420 Fn. 15a. 851 Jonas, S. 59. In einer etwas später gehaltenen Rede stellte Treviranus die DNVP vor die Alternative, ob sie in Zukunft noch einen konservativen oder ob sie einen nationalsozialistischen Weg gehen wolle, ebd. m. N. 852

853

Ishida, S. 115.

So schon S. Neumann, S. 61; vgl. näher zu dem Widerstreit zwischen „grundsätzlicher Opposition" und „positiver Mitarbeit" in der DNVP Ishida, S. 114-116; Jonas, S. 23-32. Wie Ernst Rudolf Huber VI, S. 159, etwas beschönigend ausführt, war das im Programm der DNVP enthaltene Bekenntnis zur Monarchie lediglich eine „Traditionsformel ohne Gehalt"; insbesondere habe hierdurch nicht die Geltungskraft der republikanischen Verfassung angetastet werden sollen. Dagegen meint etwa Friedrich Frhr. Hiller von Gaertringen, S. 543 f., die Deutschnationalen hätten „im vorherrschenden Urteil der Zeitgenossen seit 1918 ... die Grundlagen des Weimarer Parteienstaates unterwühlt" und seien für die „Befreiung" vom Weimarer „System" eingetreten. Im einzelnen muß wohl, besonders mit Blick auf die Verfassungspolitik der DNVP, zwischen verschiedenen Strömungen innerhalb der Partei differenziert werden, vgl. Trippe, S. 197-201 und passim.

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Treueverhältnis zu Brüning, das über dessen Sturz hinaus währte. Ihre Zielsetzung „Mehr Macht dem Reichspräsidenten" ging einher mit einer entschiedenen Abgrenzung gegen Hitler und Hugenberg. Volkskonservative Impulse gingen später auch in den deutschen Widerstand gegen Hitler ein 854 . Da Triepel zeitgleich mit seinem ebenso bekannten Kollegen Rudolf Smend aus der DNVP ausgetreten war und für die Volkskonservativen votiert hatte, erregte dies einiges Aufsehen 855 . Mit seiner Entscheidung gegen die DNVP Hugenbergscher Prägung vollzog Triepel auch äußerlich den Schritt hin zu einer gemäßigteren Haltung, die der Historiker Friedrich Meinecke, der derselben Generation angehörte, gleichsam prototypisch verkörpert hat. Meinecke ist ein eindrucksvoller Zeuge dafür, wie tragisch schwer der Prozeß der Ablösung von kraft Biographie und Herkunft tief eingewurzelten monarchistischen Denktraditionen fallen mußte 856 . Schon im Januar 1919 brachte er jene Haltung zum Ausdruck, die einem zahlenmäßig nicht sehr großen, aber doch beachtenswerten Teil des geistigen Deutschland forthin eignen sollte 857 : „Ich bleibe, der Vergangenheit zugewandt Herzensmonarchist und werde, der Zukunft zugewandt, Vernunftrepublikaner." 858 Triepel wollte damit sagen, daß er und seine Geistesverwandten, wie etwa Ernst Troeltsch, Friedrich Thimme, Alfred v. Harnack, mit Abstrichen auch Hans Delbrück, Republikaner mehr aus verstandesmäßiger Entscheidung, denn aus leidenschaftlicher Überzeugung waren 859 . Zu der Zeit als Meinecke dieses politische Bekenntnis formulierte, traf Triepel mit seiner Mitarbeit im Verfassungsausschuß des Vereins „Recht und Wirtschaft" 860 de facto dieselbe Entscheidung. Denn dieser Ausschuß stellte sich mit seinem Verfassungsentwurf „vorbehaltlos auf den Boden der von der Revolution geschaffenen Tatsachen" und war bestrebt „eine auf rein demokratischer Grundlage stehende Verfassung zu entwerfen." 861 Triepel hielt zwar im Grunde nichts von solchen eher formelhaften Bekenntnissen, ließ aber doch keinen Zweifel daran, daß aufgrund der durch die allgemeinen Bedingungen 854

Vgl. ausführlich Jonas, S. 146-167. So rückblickend Leibholz, Smend, S. 18. 856 Vgl. dazu eingehend Meineke (1995). 857 Paradigmatisch hierfür ist die - allerdings umstrittene - intellektuelle Metamorphose Thomas Manns, vgl. Gay, S. 35, 163-165; Sontheimer, Thomas Mann, S. 53-72. Eine instrukive Zusammenfassung des Meinungsstreits findet sich bei Frank Fechner, S. 291-297. 858 Meinecke, Selbstkritik, S. 256; ders., Universitäten, S. 407, 412; vgl. zur Kategorie „Vernunftrepublikaner" und deren Erkenntniswert Gay, S. 44-50. 859 Hierzu näher Döring, S. 152-158; Ringer, S. 187-196; Töpner, S. 110-141; vgl. speziell zu dem Publizisten und Historiker Friedrich Thimme Anneliese Thimme, S. 1562, die für ihren Vater, der wie Triepel 1868 geboren wurde, die Bezeichnung „Vernunftrepublikaner" „wohl am ehesten" für angebracht hält, ebd., S. 56. 860 Vgl. oben II. l.a). 855

861

E. Kaufmann, RuW 1919, S. 46.

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geschaffenen politischen Lage die künftige Verfassung Deutschlands nur auf demokratischer, republikanischer und bundesstaatlicher Grundlage beruhen könne 862 . Von einem antidemokratischen Staatsverständnis Triepels kann daher zumindest seit diesem Zeitpunkt nicht (mehr) die Rede sein 863 . Man muß ihn vielmehr zu den „Vernunftrepublikanern" unter den Staatsrechtslehrern rechnen, die der parlamentarischen Demokratie offen gegenüberstanden 864. Für eine Geisteshaltung Triepels, die nicht nur im akademischen Unterricht „loyal" gegenüber der Verfassung 865 , sondern auch in ihrer parteipolitischen Dimension nicht „restaurativ" oder „reaktionär" war, streitet auch die Tatsache, daß Triepel von den Freikonservativen zur DNVP stieß. Führende ehemalige Freikonservative, die teilweise die Einfuhrung des gleichen Wahlrechts in Preußen unterstützt hatten 866 , wirkten maßgeblich am Gründungsaufruf der DNVP vom 24. November 1918 mit 8 6 7 . Ihrem Einfluß war es mit zu verdanken, daß der Aufruf weder gegenrevolutionäre Appelle noch die Forderung nach Wiedereinführung der Monarchie enthielt 868 . Die Freikonservativen bildeten den Kern einer Gruppe von gemäßigten Konservativen in der DNVP, die - wie etwa Adelbert Düringer - bereit waren, ihre politischen und administrativen Erfahrungen aus dem Kaiserreich in den Dienst der neuen Staatsordnung zu stellen, aber nach und nach durch radikalere Strömungen verdrängt wurden 869 . Triepels „Vernunftrepublikanismus" waren jedoch Grenzen gezogen. So konnte er sich selbst nach seinem DNVP-Austritt nicht, wie ζ. B. Gerhard Anschütz und Richard Thoma, zu einem öffentlichen Bekenntnis zur Weimarer Republik in Form von Professorenaufrufen durchringen 870 . Er war eben kein „Überzeugungsrepublikaner" im Sinne einer bewußten, aus innerer Überzeugung getroffenen Entscheidung für die Weimarer Staatsverfassung.

862

SchmollersJb 1919, S. 63. So aber undifferenziert Kohl, S. 346; vgl. zu den Wandlungen in Triepels Staatsideal auch unten 8. Kap. VI. 3. 864 So ausdrücklich Michael Stolleis, Leviathan, S. 130, der ihn insofern in eine Reihe mit Richard Thoma und Gerhard Anschütz stellt; vgl. auch ders. III, S. 81. 865 Eschenburg, Universitätsleben, S. 37. 866 Näher Huber V, S. 487. 867 Abgedruckt bei Liebe, S. 107 f. Die Namen der Unterzeichner sind bei Walther Graef, S. 17 f., aufgeführt. Es waren u. a. je acht Abgeordnete der Freikonservativen (darunter der Staatsrechtslehrer Johann Viktor Bredt) und der Deutschkonservativen, zwei Abgeordnete der Christlichsozialen Partei und ein Abgeordneter der Deutschen Reformpartei, vgl. auch Liebe, S. 8 f.; Huber V, S. 958. 868 Näher Liebe, S. 11; Huber V, S. 958 f. 869 Wirth, S. 161 f.; Liebe, S. 12-15; Trippe, S. 200 und passim. 870 Vgl. die Tabelle bei Döring, S. 256-260, die eine bemerkenswerte personelle Kontinuität zwischen den „Gemäßigten" des Ersten Weltkrieges und den erklärten Freunden der Weimarer Republik erkennen läßt. 863

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Triepels Haltung, die für die 1860er Generation keineswegs untypisch ist, läßt sich auch entwicklungspsychologisch erklären. Nach neueren Erkenntnissen der Sozialisationsforschung hat sich im Leben eines Menschen die weltanschauliche und politische Grundorientierung im Regelfall bis etwa zum 25. Lebensjahr herausgebildet. M i t fortschreitendem Alter werden die in dieser Prägephase erworbenen Einstellungen konsolidiert. Dabei ist dieses als „Alterspersistenz" bezeichnete Phänomen um so stärker zu beobachten, je höher der Bildungsgrad der betreffenden Person ist 8 7 1 . Geht man hiervon aus, waren der Bereitschaft Triepels, seine monarchistisch geprägte Grundhaltung demokratisch zu läutern, also schon entwicklungspsychologische Grenzen gesetzt. Schließlich hatte er bei Ende des Ersten Weltkriegs schon das sechste Lebensjahrzehnt erreicht. Darüber hinaus waren auch die instabilen politischen Verhältnisse jener Zeit nicht dazu angetan, Triepels kritische Haltung gegenüber der modernen Parteiendemokratie aufzuweichen. Daher konnte für ihn die konstitutionelle Monarchie mit ihrer starken, integrierenden Exekutive und ihren rechtsstaatlichen Gewährleistungen in einem um so helleren Licht erscheinen, zumal sie über lange Zeit mit einer Phase des nationalen Aufstiegs verbunden war. Triepels „Herzensmonarchismus" offenbarte sich auch in Einzelfragen. Signifikant für eine gewisse Reservatio mentalis gegenüber der republikanischen Staatsform war etwa das in der Diskussion mit der Tochter Hertha über den Flaggenstreit 872 geäußerte Votum für „Schwarz-Weiß-Rot" 873 . Seine Ablehnung von „Schwarz-Rot-Gold" als Symbol der Republik und republikanischer Gesinnung entsprach freilich durchaus der damaligen - auch ex officio kundgegebenen 874 - Mehrheitsmeinung an der Friedrich-Wilhelms-Universität 875 . Auch in den Vorlesungen vermochte Triepel jenen inneren Vorbehalt nicht völlig zu verbergen. Er hatte zweifelsohne Mühe, die Republik innerlich anzunehmen 876 . 871

Pawelka, S. 93-107; vgl. auch Fogt, S. 68-79. Der Weimarer Flaggenkompromiß in Art. 3 WRV war Ausdruck für die fehlende Grundübereinstimmung in Grundfragen der Nation und deshalb Anlaß endlosen Zwists, vgl. dazu nur Frotscher/Pieroth, S. 287-290 Rn. 531-534; Gusy, Reichsverfassung, S. 87-89; Huber V, S. 1192;ders. VII, S. 581-585,615-618. 873 Mitteilung Renate v. Gebhardts. 874 Vgl. z. B. die Ode auf die Kaiserfahne bei der universitären Reichsgründungsfeier 1925: „,Schwarz und streng scheine der ewige Wille, der unseren Willen verpflichtet in Ihr Leben! Weiß und rein bleibe Herz und Gewissen in Erfüllung der Pflicht! Rot und freudig strahle der Sinn zum Idealen in Ihnen! Kommilitonen, machen Sie Ehre den Farben des alten Deutschen Reiches, das vor 54 Jahren gegründet wurde!", Seeberg, S. 14. 875 An den deutschen Hochschulen jener Zeit „überwog mehr oder minder - um es mit einem Schlagwort zu sagen - der schwarz-weiß-rote Geist", Eschenburg, Universitätsleben, S. 46. 876 So mit Recht Stolleis, Staatsrechtslehre und Politik, S. 2. 872

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Die generelle Unzufriedenheit mit den Verhältnissen der Weimarer Republik verhinderte Triepels Entwicklung zum „Überzeugungsrepublikaner". Theodor Eschenburg bemerkt aus eigener Anschauung treffend über ihn: „Triepel war in seiner Vorlesung loyal. Er übte Kritik an der Verfassung, aber mied feindselige Bemerkungen. So vorzüglich seine Einfuhrung in verfassungspolitisches Denken war, so sehr es ihm gelungen ist, die Studenten zum Umgang mit dem Verfassungsinstrument anzuleiten, ihnen die Verfassungsfremdheit zu nehmen, so spürte man doch sehr deutlich seine innere Ablehnung. Er erklärte nicht die Entstehung und Bedeutung der Verfassung vom Historisch-politischen und vom Gesellschaftlichen her, sondern beschränkte sich auf formale Hinweise" 877 . Zu bedenken ist hierbei allerdings, daß damals selbst bei angesehenen Zivilrechtslehrern der Berliner Universität gelegentlich „eine bissige Bemerkung gegen die bestehende Staatsordnung, die wirkte und nicht so leicht vergessen wurde", zu hören war 878 .

3. „Drittes Reich" War die innere Distanz zur Weimarer Republik unter Hochschullehrern alles andere als ungewöhnlich, so verwundert es nicht, daß die Machtübergabe Anfang 1933 - zunächst - auch in diesen Kreisen vielfach auf Zustimmung stieß. Die großen sozialen und nationalen Probleme der Weimarer Republik erschienen nur lösbar durch einen politischen Neubeginn, den nach Lage der Dinge im März 1933 nur eine Regierung Hitler leisten konnte, während alle anderen politischen Optionen als verbraucht angesehen wurden. Das Ermächtigungsgesetz, das die Reichsregierung zum Gesetzgeber promovierte, wurde denn auch von einem breiten Mitte-Rechts-Konsens getragen: nicht nur NSDAP und DNVP, sondern auch Bayerische Volkspartei, Zentrum und die fünf Abgeordneten der Deutschen Staatspartei, unter ihnen Theodor Heuss, hatten ihm zugestimmt 879 . Auch Triepel hielt diese Radikalkur offenbar für unvermeidbar und bezeichnete in einem kurz nach Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes erschienenen Zeitungsartikel die „nationale Revolution" als legitim, weil er in ihr die berechtigte „Auflehnung der deutschen Seele" gegen das Diktat von Versailles und überhaupt gegen „alles Undeutsche" sah 880 . In Anknüpfung an seine Parteienrede von 1927 881 erklärte er auch das „Mißgebilde des Parteienstaats" für erledigt und glaubte, „des fröhlichen Glaubens" leben zu können, daß ihm „ein gnädiges Geschick noch vergönnen" werde, was er „damals nur als schönen 877 878 879 880 881

Eschenburg, Universitätsleben, S. 37. Eschenburg, Universitätsleben, S. 38. Vgl. zur Lage im Frühjahr 1933 eindringlich Quaritsch, 95 f. DAZ vom 2. April 1933. Vgl. unten 8. Kap. VI. 1.

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Traum zu deuten wagte." 882 Zur offenen Apologie des Führerstaates, wie etwa Carl Schmitt 883 , verstand er sich jedoch nicht. Genausowenig machte er sich anders als nicht wenige Fachkollegen - in irgendeinem Punkt zum Protagonisten der nationalsozialistischen Staatsauffassung 884. Die seinerzeit im staatsrechtlichen Schrifttum verbreitete Hypostasierung des Führergedankens und der Volksgemeinschaft als Grundlagen der Staatsorganisation sucht man bei Triepel vergebens. Die Trennlinie zwischen volkskonservativem und nationalsozialistischem Staatsdenken ist bei ihm doch recht klar gezogen, wobei er allerdings wohl im Stillen gehofft hat, die häßlichen Nebenerscheinungen der Machtübergabe an Hitler seien nur Einzelfälle, so daß auf längere Sicht mit einer maßvolleren Politik gerechnet werden könne. Die von ihm mit vielen Zeitgenossen geteilten Hoffnungen auf einen Ausweg aus der permanenten Krise des Weimarer Parteienstaates sollten sich indes sehr bald als trügerisch erweisen, so daß die anfänglich vorhandene Sympathie mit den neuen Machthabern nach kürzester Zeit erschöpft war 8 8 5 . Zwar leistete Triepel keinen aktiven Widerstand, machte aber als moralisch integere Persönlichkeit schon früh aus seiner genuin antinationalsozialistischen Gesinnung kein Hehl und wandte sich öffentlich mehrfach gegen die Abwertung des Rechtsstaats als eines angeblich nur formalen Gesetzesstaates886. Auch im Jahre 1933 hat er der Versuchung widerstanden, den Rechtsstaatsbegriff im nationalsozialistischen Sinn umzuinterpretieren. Denn für ihn, so Gerhard Leibholz im Rückblick, waren „Recht und Wahrheit nicht, wie der Nationalsozialismus es wahr haben wollte, einfach Produkte eines liberalen Zeitalters, sondern absolute Werte, die wohl zeitweise durch einen politischen Machthaber geschändet werden können, aber doch immer wieder die Kraft besitzen, in ihrer Unverbrüchlichkeit sich durchzusetzen." 887 Dementsprechend war Triepel nie Mitglied der NSDAP, deren Gliederungen oder angeschlossener Verbände 888 . Aus seiner Distanz zum NS-Staat 889 machte 882

DAZ vom 2. April 1933. Vgl. etwa den am 1. April 1933 in der DJZ 1933, Sp. 455-458, zum selben Thema erschienenen Aufsatz Carl Schmitts und dessen mehr als 40 (!) Veröffentlichungen bis Dezember 1936, die sich, durchweg von begeisterter Zustimmung getragen, mit dem eingetretenen Rechts- und Verfassungswandel beschäftigen, vgl. dazu nur Koenen, S. 235-241 und passim; Rüthers, S. 72 und passim; Quaritsch, S. 83-120. 884 Vgl. näher unten 8. Kap. V. 2. a. E. 885 So Smend, Triepel, S. 120; ebenso Schefold, Geisteswissenschaften, S. 577. 886 Leibholz, Einleitung, S. XI. 887 Leibholz, DeuV 1949, S. 142; vgl. zum Rechtsstaatsbegriff Triepels unten 8. Kap. 883

V. 1.

888

Personalfragebogen, UAH, Nr. 102, Bl. 2; Erklärung über NSDAP-Mitgliedschaft vom 19. September 1935, UAH, Nr. 102, Bl. 37; Personalfragebogen vom 14. Januar 1946, UAH, Nr. 102, Bl. 54.

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er auch im gleichgeschalteten beruflichen Umfeld kein Geheimnis: In der ihm eigenen Art brachte er sie dadurch zum Ausdruck, daß er despektierliche Bemerkungen machte, als die Büste Adolf Hitlers in der Berliner Universität aufgestellt wurde 890 . Ein weiteres Indiz dafür, daß sich Triepel nicht nur auf die innere Emigration 891 beschränkt hat, ist darin zu sehen, daß er in seiner Funktion als Vorsitzender der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentags „unter dem nationalsozialistischen Regime schwere Misshelligkeiten" mit Reichsminister Hans Frank und dem NS-Rechtswahrerbund hatte. Denn er widersetzte sich nach eigenem Bekunden „mit aller Energie durch Jahre hindurch" den wiederholten Forderungen dieses Bundes nach Auflösung des Juristentags 892. Auch hat Triepel - im Gegensatz zu einer Vielzahl von Fachkollegen 893 - den von ihm geforderten Eintritt in die Akademie für Deutsches Recht mehrfach verweigert 894 . Zu den zahlreichen „furchtbaren Juristen" 895 jener Zeit - so man diese ahistorisch-moralisierende Kategorie überhaupt für operationabel hält gehört Triepel nach alledem eindeutig nicht. Er ist vielmehr den Dissidenten unter den Staatsrechtslehrern zuzurechen 896 . Seine anfangs eher pragmatische und schwankende 897 , dann aber aufrechte und unbeugsame Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus war kein Zufall. Sie gründet in einem Wissenschaftsethos, das Jurisprudenz und Rechtsgelehrten der Gerechtigkeitsidee unterwirft. In einem Glückwunsch zum 70. Ge-

889 Schefoldy Geisteswissenschaften, S. 577; vgl. auch Stolleis, Leviathan, S 130; Lehnert, APuZ B51/96, S. 6. 890 In Anspielung auf seine sich verschlechternde Sehfähigkeit (er mußte damals eine Fernrohrbrille tragen) fragte er, als er der Büste ansichtig wurde, laut und vernehmlich: „Wer issen das da?", Mitteilung Frau Renate v. Gebhardts. 891

892

Carro , S. 12.

Lebenslauf, UAH Nr. 102, Bl. 55; Schreiben an den Rektor der Universität vom 3. Januar 1946, UAH Nr. 102, Bl. 47; s. auch die Angaben im Personalfragebogen des Magistrats der Stadt Berlin vom 14. Januar 1946, UAH Nr. 102, Bl. 54; vgl. auch Leibholz, Einleitung, S. XI; vgl. ferner oben II. 4. a. E. 893 Vgl. dazu Mitgliederverzeichnis der Akademie fur Deutsches Recht, abgedruckt bei Pichinot, S. 156-167. 894 Personalfragebogen, UAH, Nr. 102, Bl. 54; Schreiben an den Rektor der Universität vom 3. Januar 1946, UAH Nr. 102, Bl. 47; vgl. auch oben 5. c) a. E. In Hans Franks apologetischer „Deutung Hitlers und seiner Zeit auf Grund eigener Erlebnisse und Erkenntnisse", S. 177, ist von derartigen Pressionen nicht die Rede: „Als ich die Berufungen vornahm, galt nur die Leistung .... Jede Berufung wurde eingehend erörtert." Auch wurde unter der Ägide Franks aus Gründen der Außendarstellung, namentlich auch gegenüber dem Ausland, darauf geachtet, daß nicht nur Parteimitglieder, sondern auch unabhängige Rechtsgelehrte mit großem fachlichem Renommee an die Akademie fur Deutsches Recht berufen wurden, vgl. Pichinot, S. 14, 28. 895 So der Titel des Buches von I. Müller (1987). 896 So auch Rapp, S. 145, 170-176. 897 Vgl. auch oben I. 8.

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burtstag seines Berliner Fakultätskollegen Heinrich Titze am 23. Oktober 1942 faßte Triepel sein Wissenschaftsideal in folgende eindringliche Worte: „Vor langen Jahren nannte ein großer Rechtslehrer die Jurisprudenz eine Magd des Rechts; aber diese Magd, sagte er, trage eine Königskrone. Wiederholt hat es Zeiten gegeben, in denen man der Rechtswissenschaft ihre Krone hat rauben, sie zur bloßen Magd und nicht nur zur Magd des Rechts, sondern zur Dienerin maßloser Willkür hat erniedrigen wollen. Nichtswürdig waren diese Männer, die sich solcher räuberischer Gewaltthat fugten. Ein Rechtslehrer ist nicht nur Künder des Rechts, sondern auch Priester der Göttin Gerechtigkeit, deshalb ist sein, wie des Richters Amtskleid nicht die Uniform des Beamten, sondern der priesterliche Talar. Den Rechtslehrer in seiner priesterlichen Stellung antasten, heißt ein Sakrileg begehen, und der Rechtslehrer, der sich dem widerstandslos beugt, begeht einen Verrath an der Gottheit." 898

IV. Privates Nach Eduard Spranger, den Triepel überaus geschätzt hat 899 , war fur das Berlin im „Zeitalter der Geheimräte" ein „Bündnis zwischen Staat und Geist" charakteristisch, das „einen bezeichnenden Ausdruck dadurch erfuhr, daß den Würdenträgern des Geistes der Rang des Staates verliehen wurde." 900 Auch Triepel sollte eine solche Ehrenbezeugung erfahren. Seine Ernennung zum Geheimrat war schon im Zuge seiner Versetzung an die Friedrich-Wilhelms-Universität ins Auge gefaßt worden 901 . Der Rang eines Geheimen Justizrats wurde ihm aber erst durch kaiserliche Verfugung vom 26. März 1914 verliehen 902 . Mit seiner Familie bezog Triepel ein Haus in der inmitten des Grunewaldviertels gelegenen Humboldtstr. 34 903 . Auch Triepels Fachkollege Gerhard Anschütz hatte dort, „in einem der schönsten westlichen Vororte der Reichshauptstadt", eine Wohnung gemietet 904 . In unmittelbarer Nachbarschaft Triepels, Humboldtstr. 35 a, wohnte der berühmte Nationalökonom und Soziologe Wer898

BA, NL H. Titze, Bl. 38. Auf welche „nichtswürdigen Männer" Triepel hier anspielt, liegt auf der Hand. 899 Vgl. das undatierte Dankschreiben Marie Triepels, BA, NL Spranger, Bd. 285. 900

Spranger, S. 44.

901

Wie ein handschriftlicher Aktenvermerk erkennen läßt, hat das Ministerium dies schon anläßlich der Unterzeichnung der Berufungsvereinbarung am 23. Dezember 1912 erwogen, vgl. GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 10, Bl. 73; s. auch den Wiedervorlagevermerk fìir Anfang August 1913, GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 9 Tit. IV Nr. 4 Bd. 3, Bl. 245; I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 45 Bd. 10, Bl. 76. 902 BA, NL Triepel Bd. 2, Bl. 22; UAH, Nr. 102, Bl. 69. 903 Amtliches Personalverzeichnis der Friedrich-Wilhelms-Universität Winterhalbjahr 1913/14, S. 18. 9 0 4

Anschütz,

Leben, S. I I I .

Erster Teil: Leben

ner Sombart. Dessen Sohn Nicolaus schildert das dortige Umfeld in seinen Jugenderinnerungen wie folgt: „Das Grunewaldviertel ... ist entstanden in der Glanzzeit des Wilhelminischen Deutschland, als quartier résidentiel. ... Von »Villenvorort 4 zu sprechen fuhrt in die Irre. Im Grunewaldviertel baute die Großbourgeoisie in parkartigen Gärten ihre Schlösser .... Die Alleen sind hier so breit, weil Reitwege auf ihnen geführt waren. ... Was heute als ansehnliches Wohnhaus wirkt, war früher Reitstall und Remise. Nur vereinzelt lebten hier Menschen von bescheidenerem Lebenszuschnitt. Das waren Professoren 905 oder Literaten wie Maximilian Harden ..." 9 0 6 . Triepels Lebensführung war in der Tat auch in Berlin „bürgerlich wohlanständig, aber keineswegs aufwendig." 907 Exemplarisch hierfür erscheint, daß er - abgesehen von der Zeit als Rektor, wo ihm ein Dienstwagen zur Verfügung stand - mit dem Omnibus zur Universität fuhr. Das Haus in der Humboldtstraße besaß zwei Arbeits- bzw. Bibliothekszimmer, in denen Triepel auch sonntags bis zum Nachmittagstee zu arbeiten pflegte 908 . Dieses selbstauferlegte hohe Arbeitspensum forderte seinen Tribut in Form seltener, aber heftiger Ausbrüche und gelegentlicher depressiver Verstimmungen. Triepel selbst nannte in einem Brief an die Tochter Hertha die Ursache: „... körperliche oder geistige Überanstrengung, etwa die Angst, mit etwas nicht »fertig 4 zu werden." 9 0 9 Sein „tiefes Verhältnis zur Musik" 9 1 0 mag Triepel einen gewissen Ausgleich für seine ebenso umfangreichen wie rastlosen Aktivitäten gewährt haben. Seit seiner Jugendzeit war er ein begeisterter Anhänger von Richard Wagner 911 . 1922 erwarb er sogar für 1.000 M die Rechte eines Patrons der Deutschen Festspielstiftung Bayreuth 912 . Im übrigen improvisierte er zuweilen spaßeshalber Kommerslieder auf dem Flügel für die Gäste des Hauses 913 . Als ihm Anfang und Mitte der zwanziger Jahre durch hochbezahlte staatsrechtliche Gutachten größere Einnahmen zuflössen, konnte Triepel 1927 ein

905

Sabine Leibholz, geb. Bonhoeffer, die ab 1916 eine Querstraße weiter, in der Wangenheimstr. 14, aufwuchs, schreibt in ihren Lebenserinnerungen: „In der Nachbarschaft wohnten die Professorenfamilien Delbrück, Harnack, Hertwig, Planck, His, Hildebrand; und die Jugend, die jungen Ärzte der Klinik, Musiker, Theologen, Juristen feierten Bälle, Geburtstage und Examina", Leibholz-Bonhoeffer, S. 21, 56. 906

N. Sombart, S. 10.

907

Norbert Ebers, Familienchronik, S. 14, PAG. Mitteilung Frau Renate v. Gebhardts. Brief an Hertha v. Gebhardt vom 15. April 1940, PAG. Smend, Triepel, S. 120. Vgl. oben 1. Kap. Patronatsschein Nr. 3233 vom 22. Mai 1922, BA, NL Triepel Bd. 2, Bl. 32. Mitteilung Frau Renate v. Gebhardts.

908 909 910 911 9.2 9.3

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191

Ferienhäuschen in Untergrainau bei Garmisch-Partenkirchen erwerben 914 . Dieses „Haus Ruhe" wurde mit Ausschußmöbeln eingerichtet, die in der Berliner Wohnung nicht mehr gebraucht wurden 915 . Ebenso wie mit seinen dortigen Nachbarn, etwa dem damals fuhrenden deutschen Rechtshistoriker Heinrich Mitteis (1889-1952) 916 , dem Rechtsphilosophen Felix Holldack, dem emeritierten Gynäkologen Albert Döderlein und anderen Freunden und Bekannten, pflegte Triepel auch in Berlin den persönlichen Kontakt. Zu Beginn der zwanziger Jahre schloß er Freundschaft mit dem Germanisten und späteren Präsidenten der Goethe-Gesellschaft Julius Petersen (1878-1941) 917 , der in der Nachbarschaft sein Domizil in einem Gartenhaus gefunden hatte 918 . Petersen war seit 1920 ordentlicher Professor fur Deutsche Literaturgeschichte an der Friedrich-Wilhelms-Universität 919 und sollte bald als der „erste Germanist Deutschlands" gelten 920 . Die enge Freundschaft mit dem „lieben Jul" 9 2 1 hatte Bestand bis zu dessen Tod 9 2 2 . Der Berliner Ordinarius für Philosophie und Ästhetik Max Dessoir, Ehegatte einer seiner Kusinen 923 , berichtet in seinen Lebenserinnerungen, daß ihn „das Band einer herzlichen Zuneigung" mit der Familie Triepel verknüpft habe 924 . Ferner war Triepel mit dem Psychiatrieprofessor Karl Bonhoeffer, dem Vater des Theologen und Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer, befreundet. Die Zwillingsschwester Dietrich Bonhoeffers, Sabine, kannte die Familie Triepel durch ihren Vater schon lange bevor sie sich im Jahre 1924 mit Gerhard Leibholz verlobte 925 . Leibholz, der nach der Heirat 1926 mit seiner Familie „um die Ecke" wohnte, und Triepel sahen sich häufig in Berlin - auch nach dessen Weggang an die Universität Greifswald im Jahre 1929 926 - oder telefonierten, um aktuelle Angelegenheiten zu besprechen 927. Wie eng Triepels Beziehungen zum Hause 914

Haus Nr. 41 1/6. Das Häuschen wurde inzwischen abgerissen; das wiederbebaute Grundstück hat nach Mitteilung von Herrn Peter Schwarz die Adresse Alpspitzstr. 20. 9.5 Norbert Ebers, Familienchronik, S. 14, PAG. 9.6 Über ihn Brun (1991); Landwehr, S. 572-583. Mitteis hatte schon 1917 ein bayerisches Landhaus in Untergrainau erworben, vgl. Brun, S. 39. 917 Über ihn Boden/Fischer, S. 9-37. 9.8 9.9

920 921 922 923 924

E.Petersen, S. 33. Asen, S. 148; Boden/Fischer,

S. 18.

Sc holder, S. 18; vgl. auch Boden/Fischer, S. 10. Brief Triepels an die Witwe Petersens vom 26. September 1942, NL Petersen. Vgl. auch unten 7. Kap. Vgl. oben 1. Kap. Dessoir, S. 43.

925

Mitteilung von Frau Sabine Leibholz. Bei dieser Verlobung (vgl. zu ihr LeibholzBonhoeffer, S. 71) war auch das Ehepaar Triepel anwesend. 926

927

Leibholz-Bonhoeffer,

S. 82; Wiegandt, S. 26.

Mitteilung von Frau Sabine Leibholz. Aus diesem Grund sind auch keine Briefe zwischen beiden erhalten. Noch im Jahre 1940 bekümmerte sich Triepel um das Schick-

Erster Teil: Leben

192

Bonhoeffer war, wird in einem Brief Dietrich Bonhoeffers vom 29. Juni 1930 deutlich: „Gestern war bei uns Gesellschaft, Triepel hat dermaßen viel... Witze erzählt, daß die Unterhaltung sehr güt war." 9 2 8 Nach dem Tode seines Fakultätskollegen Theodor Kipp am 2. April 1931 929 zog Triepel in dessen bisherige Wohnung nach Charlottenburg, Neue Kantstr. 22 930 , womit auch ein Wechsel des Kirchensprengels verbunden war. Superintendentur und Gemeindekirchenrat bedauerten „schweren Herzens" das Ausscheiden von einem „der Führer im Reiche der Wissenschaft" aus Gemeindevertretung und Kreissynode, in denen er bisher tätig gewesen war, und dankten ihm, daß er „allzeit" an dem Gemeindeleben „mit warmen Interesse" teilgenommen hatte 931 . Ob er dies auch in seiner neuen Kirchengemeinde in Charlottenburg tat, konnte nicht nachgewiesen werden. Signifikant erscheint in diesem Zusammenhang aber das in einem Brief an die Tochter Hertha enthaltene Bekenntnis: „Religiös bin ich stets gewesen, habe nur äusserlich niemals viel Worte darüber gemacht. Wenn man alt wird, thut man ganz von selbst mehr Blicke in sich hinein als früher." 932 Sein Glauben mag Triepel auch durch die wohl schwerste innere Krise seines Lebens geholfen haben. Im Jahre 1934 wurde ihm von seinem alten Corps Suevia in dürren Worten mitgeteilt, daß er, da ,jüdisch versippt", das Corpsband nicht mehr tragen dürfe 933 . Die Corps waren ursprünglich nicht antisemitisch in dem Sinne, daß sie überhaupt keine Juden aufgenommen hätten. Sie sind lange nicht nur die feudalsten, sondern auch die liberalsten studentischen Korporationen gewesen. Zwar hat sich auch bei den Corps etwa ab 1880 im Gleichklang mit Teilen der öffentlichen und veröffentlichten Meinung ein zunehmender Antisemitismus gezeigt 934 . Diese Entwicklung hat aber etwa die 1886 erfolgte Aufnahme von Paul Ebers, des engsten Freundes Triepels, in das Corps Suevia nicht verhindert 935 . Denn zumindest formal wurde der Grundsatz der Toleranz damals noch sal seines nach Großbritannien emigrierten Schülers: „Eben bekomme ich die sehr erfreuliche Nachricht, dass es Leibholz und seiner Frau gut geht.", Brief an Heinrich Mitteis vom 2. Dezember 1940, Universitätsbibliothek München, NL Mitteis. 928 929

Leibholz-Bonhoeffer, Asen, S. 96.

930

S. 84.

Vgl. die an die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gerichtete Benachrichtigung vom 6. Oktober 1931, MPG, Personalakte. 931 Schreiben des Gemeindekirchenrats Berlin-Grunewald vom 25. Juli 1931, BA, NL Triepel Bd. 2, Bl. 59; vgl. auch Schreiben der Superintendentur Kölln-Land I vom 9. Mai 1931, BA, NL Triepel Bd. 2., Bl. 57. 932 Brief an Hertha v. Gebhardt vom 15. April 1940, PAG. 933 Norbert Ebers, Familienchronik, S. 15, PAG. 934

Studier, S. 171.

935

Vgl. oben 2. Kap.

6. Kap.: Berlin 1913-1944

193

gewahrt. Die Corps verstanden sich nämlich in erster Linie als Freundschaftsbund und hatten stets darauf geachtet, daß in ihren Reihen jeder gewissermaßen nach seiner Façon selig werden konnte, sofern er nur eine vaterländische Gesinnung hatte 936 . Ein rassisch geprägter Antisemitismus setzte sich erst durch, als in den Jahren 1919 bis 1921 sämtliche Verbände schlagender Verbindungen Bestimmungen in ihre Satzungen aufgenommen hatten, wonach Studenten jüdischer Abstammung nicht mehr in diesen Verbindungen rezipiert werden konnten 937 . Auch unter den jungen Corpsstudenten vermochte die liberale Tradition das Vordringen antisemitischer Neigungen nicht zu bremsen. So nahm der Kösener Kongreß an Pfingsten 1920 eine Bestimmung in seine Statuten auf, mit der die Mitglieder verpflichtet wurden, durch „Pflege vaterländischer Sitte und Art" und „Fernhaltung alles Unsittlichen und Undeutschen" dem Vaterland zu dienen. Diese Neuregelung wurde so interpretiert, daß sie die Aufnahme von Juden ausschloß938. Der Kösener Kongreß von 1921 ergänzte die Satzung dahingehend, daß fur die Aufnahme von Juden „nicht die Religion, sondern die Abstammung entscheidend" sein sollte 939 . Als nähere Bestimmung galt, „daß jeder bei seinem Eintritt ins Corps auf Verlangen die Versicherung abzugeben hat, daß er bis in die Linie seiner Großeltern hinein keinen Vorfahr jüdischer Abstammung zu verzeichnen hat." 940 Obwohl es nach den Statuten auch eine Art von Bestandsschutz „für die derzeitigen Inhaber der Corpsfarben" 941 gab und deren Umsetzung in die Wirklichkeit höchst unterschiedlich ausfiel 942 , fanden die neuen Machthaber und ihre nationalsozialistischen Gefolgsleute in dieser Satzungslage einen günstigen Boden für ihr Vorhaben, die Verbindungen in ihrem Sinne gleichzuschalten943. Dementsprechend wurde § 43 der Kösener Statuten bereits auf dem Kongreß des Jahres 1933 wie folgt neu gefaßt: „Das Corps ist eine Verbindung immatrikulierter Studenten derselben Universität, die im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung ihre Angehörigen in aufrichtiger Freundschaft verbindet und zu Vertretern eines ehrenhaften Studententums und zu charakterfesten, tatkräftigen, pflichttreuen deutschen Männern erzieht. Judenstämmlinge, jüdisch Versippte oder Freimaurer können nicht Angehörige eines Corps sein." 944 Eine Kommission, die im Mai 1933 von Rudolf Heß mit dem Auftrag eingesetzt wurde, die Einordnung der Korporationen in den nationalsozialistischen Staat sicherzustellen, verab936

937 938

Bleuel/Klinnert,

Bleuel/Klinnert, Bleuel/Klinnert,

S. 148.

S. 144-153; Kreuzberger,

939

N. N. („B."), DCZ 1921, S. 62.

940

Schöning, DCZ 1921, S. 99.

941

N. N. („B."), DCZ 1921, S. 62.

942

Bleuel/Klinnert,

943

Vgl. hierzu eingehend Bleuel/Klinnert, Zit. nach Oberschulte, S. 52.

944

13 Gassner

S. 94; Pabst, S. 30 f.

S. 148 f.

S. 149.

S. 248-259.

194

Erster Teil: Leben

schiedete darüber hinaus Richtlinien, die vorsahen, diesen „Arierparagraphen" auch auf Altherrenschaften anzuwenden945. Daß sein altes Corps nicht gezögert hatte, die Arierbestimmungen durchzusetzen, hat nicht nur Triepels menschliches und juristisches Gerechtigkeitsgefühl zutiefst verletzt, sondern ihn darüber hinaus auch derartig erschüttert, daß er sogar an Selbstmord dachte 946 . Das Corpsstudententum ihm offenbar mehr als ein prägendes Lebensgefühl vermittelt: Es war ein Stück seiner Identität. Obwohl Triepel die böse Wendung der Dinge im persönlichen, universitären und politischen Bereich nie hat richtig verwinden können 947 , widmete er auch nach dem vorzeitigen Abschied vom Lehramt seine ganze Schaffenskraft unermüdlicher wissenschaftlicher Forschung. Sein im Laufe der Jahre immer schwächer werdendes Augenlicht 948 vermochte die Fertigstellung der Arbeiten lediglich zu verlangsamen. So konnte er in Berlin Ende 1937 die Arbeit an seinem letzten großen Werk, der „Hegemonie", beenden949. 1942 erschien seine vorletzte Monographie, die sich mit „Delegation und Mandat im öffentlichen Recht" befaßt 950. Sie enthält bezeichnenderweise eine Widmung für seinen Augenarzt. Kurz vor dem 75. Geburtstag mußte sich Triepel einem ärztlichem Eingriff unterziehen, durch den er fürs erste von seinem quälenden Augenleiden befreit wurde 951 . Als Triepel die Arbeit an der „Hegemonie" beendet hatte, verkaufte er, inzwischen 70jährig, seine drei Arbeitsräume füllende 952 Bibliothek, für 12.000 RM an die Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald 953 . Ausgenommen von dem Verkauf waren der Recueil Martens, den er noch bis 1944 betreuen sollte, die eigenen Schriften, sowie Werke philosophischen, geschichtlichen und sonstigen, außerhalb der von Triepel vertretenen Fächer liegenden In" halts 954 . Zu diesem Zeitpunkt ahnte Triepel noch nichts von dem besonders schmerzhaft empfundenen Verlust seiner Restbibliothek, der ihn im Februar 1944 tref945

946

Pabst, S. 58 f.

Norbert Ebers, Familienchronik, S. 15, PAG. So Mitteis, Grabrede, S. 2, PAG. 948 In einem Brief an seinen Freund Heinrich Mitteis vom 2. Dezember 1940 klagte er über seine „kümmerlichen Augen", deretwegen er das dedizierte Buch nicht so rasch wie andere Leser habe durcharbeiten können, PAG. 949 Vgl. näher unten 8. Kap. IV. 5. 950 Vgl. näher unten 8. Kap. VI. 5. 951 Schreiben der Berliner Juristenfakultät zum 75. Geburtstag vom 15. Februar 1943, UAH, NR. 529, Bl. 11. 952 Mitteilung Frau Renate v. Gebhardts. 953 Vertrag vom 14./16. April 1938, BA, NL Triepel Bd. 2, Bl. 86. 954 Vertrag vom 14./16. April 1938, BA, NL Triepel Bd. 2, Bl. 86. 947

6. Kap.: Berlin 1913-1944

195

fen sollte. Die Wohnung in Charlottenburg brannte infolge eines Volltreffers der alliierten Bomberflotten völlig aus. Nichts konnte gerettet werden 955 . Da sich Triepel mit seinen Familienangehörigen in das Sommerhäuschen nach Untergrainau begeben hatte, geschah ihnen selbst nichts. Sie waren dankbar, die furchtbaren Ereignisse nicht miterlebt zu haben956.

955 Nach Auskunft Frau Renate v. Gebhardts verbrannte auch Triepels Sammlung von Schnupftüchern mit historischen Aufdrucken (Jubiläen usw.). 956 Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 7, PAG; vgl. auch den Antwortbrief des ehemaligen Fakultätskollegen Heinrich Titze vom 4. Dezember auf einen Brief Triepels vom 28. November 1943, PAG: Triepel hatte sich offensichtlich von Grainau aus bei seinem in Berlin verbliebenen alten Freund, vgl. Glückwunschschreiben, BA, NL Titze, Bl. 38, nach den Modalitäten des Ersatzes von Kriegsschäden erkundigt sowie sich wegen ausstehender Gehaltszahlungen besorgt gezeigt.

13*

7. Kapitel

Untergrainau 1944-1946 In Grainau, dem idyllischen Zugspitzdorf, hat Triepel gerne noch im Garten des Sommerhäuschens gearbeitet und daneben manche wissenschaftliche Abhandlung zu Ende gefuhrt 1. Insbesondere war es ihm vergönnt, sein beeindrukkendes Lebenswerk durch eine letzte Monographie mit dem Titel „Vom Stil des Rechts" zu krönen 2. Auswirkungen der innen- und außenpolitische Tragödie Deutschlands, unter der Triepel überaus gelitten hat, waren freilich auch in dem kleinen Dorf zu Füßen der Zugspitze zu spüren: „Wir waren jetzt sieben Wochen in einer Münchner Pension, um Schnee, Kälte und Nahrungsmangel in unserem Thal zu entlaufen. Es war wohlthätig, auch weil wir viele alte Freunde und Bekannte sehen konnten, auch ein paar schöne Konzerte hörten. Aber zu essen gabs auch nicht viel .... Jetzt haben wir hier Tauwetter, scheinen aber allmählich neuer Hungersnoth entgegenzugehen. Das Land ist von Männern entledigt, alle Hotels sind in Lazarette verwandelt. Wo soll das alles hinführen?" 3 Gleichwohl verfolgte Triepel, weit in den Siebzigern stehend, unbeirrt, aber mit stoischer Gelassenheit4 seine Pläne weiter. Schon 1940 hatte er zur Vorbereitung seines postum erschienenen Buches „Vom Stil des Rechts" das ihm von Heinrich Mitteis dedizierte Werk „Der Staat des hohen Mittelalters" intensiv studiert 5. Er arbeitete es ebenso in seine Studie über Ästhetik und Recht ein 6 , 1 Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 7, PAG. Der Landessitte entsprechend trug er zuweilen Lederhosen und ein „blaues Leinenjankerl", Holldack, Der Tagesspiegel vom 15. September 1946; Mitteilung Frau Renate v. Gebhardts. 2 Das Manuskript wurde erst im Herbst 1946, also kurz vor Triepels Ableben, abgeschlossen, so daß es ihm verwehrt blieb, das beabsichtigte Vorwort zu schreiben, vgl. Triepel, Stil des Rechts, S. 155; vgl. zum Ganzen unten 10. Kap. 3 Schreiben vom 10. März 1942, DLA, NL Petersen. 4 In einem vom 15. April 1940 datierenden Brief an seine Tochter Hertha hat Triepel, nachdem sie ihm zuvor versprochen hatte, auch nach seinem Tod für den Druck seines Buchs über „Delegation und Mandat im öffentlichen Recht" zu sorgen, ganz unprätentiös erwidert: „... ich bitte Dich schon jetzt: Mach dir keine Gedanken, wenn es Dir nicht gelingt! So bedeutend ist das Buch nicht, dass der Welt mit ihm etwas verlorenginge ...", PAG. 5 Brief vom 2. Dezember 1940, UB München, NL Mitteis. 6 Stil des Rechts, S. 127-130, 144.

7. Kap.: Untergrainau 1944-1946

197

wie das Standardwerk seines engen Freundes7 Julius Petersen über „Die Wissenschaft von der Dichtung" 8 . Nicht zufällig eignete Triepel dieses Buch „seinem getreuen Freund und Helfer Geheimrat Karl Wessely Professor der Augenheilkunde" zu9. Denn seine Augen waren auch nach der ersten, zunächst glücklich verlaufenen Operation immer schlechter geworden und bedurften ständiger ärztlicher Behandlung 10 . Nachdem das Fest der Goldenen Hochzeit am 10. August 1944 noch einen „Licht- und Höhepunkt" in das Leben der Eheleute Triepel gebracht hatte 11 , stellte der Münchner Professor Wessely, der auch in seinem Grainauer Ferienhaus zu praktizieren pflegte, im April 1945 auf einem Auge Triepels eine Netzhautablösung fest, die einen sofortigen ärztlichen Eingriff erforderlich machte12. Die einzige Operationsmöglichkeit fand sich in der Münchner Universitäts-Augenklinik, die kriegsbedingt nach Beuerberg bei Wolfratshausen ausgelagert worden war. Triepel sagte seiner Frau, es sei ihm kein Opfer zu groß, um sich sein Augenlicht erhalten zu können. Er war voller Energie und ließ sich trotz der damaligen unsicheren Lage nicht davon abbringen, sich so weit von dem Asyl seiner letzten Jahre zu entfernen und sich von seiner Gattin zu trennen. Einen Tag nach der Operation endete der Zweite Weltkrieg. Wochenlang hörten die Eheleute nichts voneinander, bis Triepel schließlich von einem Sanitätsauto zurücktransportiert wurde, dem ein fast gebrochener, hilfsbedürftiger Greis mit weißem Vollbart entstieg. Der Eingriff war fehlgeschlagen. Er hatte seine Sehkraft auf dem operierten Auge verloren und auf dem anderen wegen altersbedingter Veränderungen nur einen Schein hiervon behalten, 7

Vgl. oben 6. Kap. IV. Das Ehepaar Petersen besaß nicht weit entfernt, in Murnau, ein Häuschen, was gegenseitige Besuche erleichterte, vgl. E. Petersen, S. 216, 345. Noch nach dem Tode ihrer Ehemänner standen die beiden Witwen miteinander in enger Verbindung, vgl. den Brief Marie Triepels an Ella Petersen vom 24. Februar 1948, DLA, NL Petersen. 8 E. Petersen, S. 55, 66, 69 f., 76 f. Triepel bat mit Schreiben vom 10. März 1942 die Witwe Petersens, ihm das Buch zu besorgen, da es in der Münchner Staatsbibliothek als Präsenzbestand nicht entleihbar sei und die Verlage aufgrund des kriegsbedingten Papiermangels ihre Bestände zurückhielten, DLA, NL Petersen; vgl. auch das vom 28. März 1942 datierende Dankesschreiben Triepels für „die schöne Gabe, die mich immerwährend an den lieben Freund erinnern wird", DLA, NL Petersen. 9 Stil des Rechts, S. 5. Schon die 1938 erschienene „Hegemonie" war dem Berliner Professor der Augenheilkunde Emil Krückmann gewidmet. 10 Glücklicherweise konnte ihn die jüngere Tochter Irmgard bei Schreibarbeiten als Sekretärin unterstützen, vgl. Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 7, PAG. 11 In einem letzten Gedicht für seine Frau hat Triepel, aus diesem Anlaß gereimt: „Ach bleibe bei mir, bis die Stunde schlägt, da man den Müden aus dem Hause trägt.", Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 8, PAG. Erich Kaufmann, DRZ 1947, S. 60, sprach, wie dieses Beispiel zeigt, wohl keineswegs zu Unrecht von einer „glücklichen Ehe". 12 Schreiben an den Universitätskurator vom 28. Dezember 1945, UAH, Nr. 102, Bl. 45; Marie Triepel, Lebenserinnerungen, S. 8, PAG.

198

Erster Teil: Leben

so daß er weder schreiben noch lesen konnte 13 . Der vom fast gänzlichen Verlust seines Augenlichts schwer Getroffene wurde immer stiller und teilnahmsloser, brütete im Lehnstuhl vor sich hin und kämpfte mit düsteren Vorahnungen 14 . Außerdem bedrückten ihn finanzielle Sorgen. Nachdem er Ende 1945 ein Schreiben des Berliner Universitätskurators erhalten hatte, wonach die Auszahlung der Pensionsbezüge an den Aufenthalt in Berlin und das Plazet eines Entnazifizierungsausschusses geknüpft sei und hiervon auch aus gesundheitlichen Gründen keine Ausnahme gemacht werden könne 15 , betrachtete er dies für sich „nicht weniger als ein Todesurteil" 16 . Denn er hatte seit April des Jahres17 keine Bezüge mehr erhalten, mußte sich schon verschulden und sah, nachdem alle Ersparnisse aufgebraucht waren, mit Schrecken dem Augenblick entgegen, in dem er mit seiner Familie vor dem völligen Nichts stehen würde 18 . Schließlich wandte er sich in dieser Angelegenheit unter Beifügung eines ärztlichen Attests 19 mit „letzte [r] Hoffnung" an den damaligen Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität 20. Ob Triepel mit seinen Bemühungen Erfolg hatte, geht aus den Archivalien nicht hervor 21 . Jedenfalls sah er sich als nahezu blinder 78jähriger Greis offenbar gezwungen, mit der bayerischen „Betreuungsstelle für Hochschullehrer des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus" einen Dienstvertrag zu schließen22. Die erforderliche Genehmigung des Dienstvertrags durch das Kultusministerium hat jedoch auf sich warten lassen23. 13

Attest Professor Wesselys vom 30. Dezember 1945, UAH Nr. 102, Bl. 50. Marie Triepel in einem undatierten Schreiben aus Anlaß des Todes Triepels, DLA, NL Petersen. 15 Schreiben vom 11. Dezember 1945 UAH, Nr. 102, Bl. 44. 16 Schreiben an den Universitätskurator vom 28. Dezember 1945, UAH, Nr. 102, Bl. 45. 17 Bis zu diesem Zeitpunkt erhielt Triepel Bezüge in Höhe von 1.099 M netto, vgl. Schreiben an Tochter Hertha vom 23. Januar 1946, PAG. 18 Schreiben an den Universitätskurator vom 28. Dezember 1945, UAH, Nr. 102, Bl. 45; vgl. auch Schreiben an Tochter Hertha vom 23. Januar 1946, PAG. 19 Das Attest hatte Professor Wessely unter dem 30. Dezember 1945 ausgestellt, UAH, Nr. 102, Bl. 50. Er bescheinigte, daß „Reisen und jede körperliche Anstrengung untersagt" seien; Triepel könne auch gar nicht in Berlin leben, weil mit Rücksicht auf seinen Allgemeinzustand der Aufenthalt auf dem Lande „unbedingt erforderlich" sei. 20 Schreiben an den Rektor der Universität Berlin vom 3. Januar 1946, UAH, Nr. 102, Bl. 47. 21 Erst die Witwe erhielt „zur Pflege des wissenschaftlichen Nachlasses" ab 1. Dezember 1946 eine laufende monatliche Beihilfe von 250 RM bewilligt, vgl. Schreiben des Verwaltungsdirektors der Universität Berlin vom 2. Januar 1947, PAG. 22 Der Vertrag datiert vom 19. Juni 1946 und sah mit Wirkung vom 1. Juli 1946 eine Monatsvergütung in Höhe von 150 RM vor, s. BA, NL Triepel Bd. 2, Bl. 92. 23 Vgl. die Schreiben der Betreuungsstelle vom 26. November 1946, BA, NL Triepel Bd. 2, Bl. 91, und vom 27. Dezember 1946, BA, NL Triepel Bd. 2, Bl. 93. 14

7. Kap.: Untergrainau 1944-1946

199

Solchermaßen gebeugt durch körperliche Leiden und existenzielle Sorgen erwachte seine frühere Tatkraft nur, wenn es die Wissenschaft anging24. So verfolgte er noch aktuelle Entwicklungen, wie etwa den Nürnberger Prozeß, und versuchte, hieraus Folgerungen für die Zukunft der Völkerrechtswissenschaft zu ziehen25. Dem AöR, das neu gegründet werden sollte, sagte Triepel die Mitarbeit zu 26 . Ferner hat er in der Lokalzeitung einen Leitartikel mit dem Titel „Was ist Demokratie?" 27 veröffentlicht 28. Anfang 1946 hat der damalige bayerische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner (SPD) Triepel gebeten, ein Gutachten darüber erstellen zu wollen, wie die Beziehungen zwischen Bayern und dem neu zu schaffenden Bund gestaltet werden könnten29. Hintergrund dieses Gutachtenauftrags war, daß die Bayerische Staatsregierung neben den Vorarbeiten für einen neue bayerische Verfassung auch noch „Grundsätze ... für die im Bereich des Möglichen liegende Neugestaltung des Reichsaufbaues" auszuarbeiten gedachte30. Triepel machte sich trotz der widrigen Umstände sogleich an die Arbeit und stellte die Denkschrift innerhalb von etwa sechs bis sieben Wochen fertig 31 . Hoegner bedankte sich persönlich für die „Denkschrift, die für eine zukünftige Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Reich und Ländern sehr wertvoll sein" würde und gab zu erkennen, daß er sich über Triepels „Bekenntnis zu einem gesunden Föderalismus", das durchaus mit seinen eigenen Auffassungen übereinstimme, „ganz besonders" freue 32. Soweit ersichtlich hat die Denkschrift allerdings weder bei den Verfassungsberatungen in Bayern noch bei der Schaffung des Grundgesetzes eine Rolle gespielt33.

24 So Marie Triepel in einem undatierten Schreiben aus Anlaß des Todes Triepels, DLA, NL Petersen. 25 Im PAG sind zwei undatierte maschinengeschriebene Manuskripte erhalten, von denen eines mit „Neues Völkerrecht" (5 S.) und das andere mit „Die neuen Wege des Völkerrechts" (8 S.) betitelt ist, vgl. zum Ganzen unten 9. Kap. VI. 2. 26 Bachof, AöR 108 (1983), S. 2; vgl. zu Triepels Herausgebertätigkeit bis 1933 oben 6. Kap. II. 10. 27 Hochland-Bote vom 5. Januar 1946. 28 Vgl. dazu unten 8. Kap. VI. 3. 29 Schreiben der Bayerischen Staatskanzlei vom 26. Januar 1946, PAG. 30 Schreiben der Bayerischen Staatskanzlei vom 26. Januar 1946, PAG. 31 Die Denkschrift befindet sich im BA, NL Triepel Bd. 3, und umfaßt im Original 24 maschinengeschriebene Seiten. Sie ist auf Veranlassung von Alexander Hollerbach in AöR 91 (1966), S. 537-550, abgedruckt worden. 32 Schreiben des Bayerischen Ministerpräsidenten vom 20. März 1946, PAG. Hoegner bezog sich auf einer Pressekonferenz am 10. April 1946 sowie bei einer Ansprache auf dem ersten Nachkriegsparteitag der bayerischen SPD ausdrücklich auf Triepels Expertise, vgl. Ν. N., Süddeutsche Zeitung vom 12. April 1946; Ν. N., Die Neue Zeitung vom 19. April 1946. 33

So auch Hollerbach,

AöR 91 (1966), S. 537.

200

Erster Teil: Leben

Anfang Oktober 1946 erhielt Triepel ein weiteres Schreiben, in dem er gebeten wurde, sich zu staatsrechtlichen Fragen gutachtlich zu äußern 34. Absender war der hessische Justizminister, der auf Beschluß der Verfassungsberatenden Landesversammlung für Groß-Hessen die Frage zu prüfen hatte, ob gegen die im Nürnberger Prozeß freigesprochenen Angeklagten v. Papen und Schacht ein Strafverfahren wegen Hochverrats eingeleitet werden könnte. Der damals im Justizministerium tätige Ministerialrat Adolf Arndt hatte sich zu erinnern gemeint, daß Triepel in den Jahren 1932/33, als er dessen Assistent war, sich dahin geäußert habe, die Entlassung des Reichskanzlers Brüning, die folgenden Regierungsbildungen und die Reichsexekution seien verfassungswidrig gewesen35. In seinem vom 8. Oktober 1946 datierenden Antwortschreiben erklärte Triepel, ihm seien solche Äußerungen nach so langer Zeit nicht mehr erinnerlich. Das Verdikt der Verfassungswidrigkeit „könne sich aber wohl höchstens auf die Reichsexekution gegen Preußen, nicht auf die Entlassung Brünings beziehen." 36 Im übrigen verwies er u. a. auf den Verlust seiner Bibliothek und seine nahezu vollständige Erblindung, die ihm die Begutachtung der aufgeworfenen Fragen so gut wie unmöglich machen würden. Auch handele es sich in erster Linie um eine strafrechtliche Frage, weswegen man sich an den Berliner Ordinarius Eduard Kohlrausch wenden möge 37 . Etwa einen Monat nach diesem Schriftwechsel erlitt Triepel eine Herzattacke, die ihn sehr schwächte, so daß das Herz kurze Zeit später einem weiteren Anfall nicht mehr standgehalten hat. Nachdem er am Abend zuvor noch einen Brief diktiert hatte38, beschloß Triepel seine Tage in der Nacht vom 22. auf den 23. November 1946, indem er, so wie er es sich immer gewünscht hatte, sanft entschlief 39. In einer stillen, eindrucksvollen Feier wurde Triepel von den Seinen40 zur letzten Ruhe auf dem kleinen Obergrainauer Bergfriedhof geleitet41. Das Grab 34 Schreiben des Großhessischen Staatsministerium, Der Minister der Justiz, vom 2. Oktober 1946, BA, NL Triepel Bd. 2, Bl. 88. 35 Schreiben des Großhessischen Staatsministerium, Der Minister der Justiz, vom 2. Oktober 1946, BA, NL Triepel Bd. 2, Bl. 88. 36 BA, NL Triepel Bd. 2, Bl. 89. 37 BA, NL Triepel Bd. 2, Bl. 89. 38 Er blieb bis zuletzt geistig auf voller Höhe, vgl. undatiertes Dankschreiben Marie Triepels an Eduard Spranger, BA, NL Spranger, Bd. 285. 39 BA, NL Spranger, Bd. 285; Marie Triepel, undatiertes Schreiben aus Anlaß des Todes, DLA, NL Petersen. Die Sterbeurkunde nennt als Todesstunde 6.30 Uhr, BA, NL Triepel Bd. 2, Bl. 90. 40 Marie Triepel, undatiertes Schreiben aus Anlaß des Todes, DLA, NL Petersen. 41 Sein Wunsch, die Tochter Hertha noch vor seinem Ableben wiederzusehen, ist ihm allerdings nicht erfüllt worden. Sie hatte sich wochenlang vergeblich um eine Reisemöglichkeit von Berlin nach Grainau bemüht, vgl. Marie Triepel, undatiertes Schreiben aus Anlaß des Todes, DLA, NL Petersen.

7. Kap.: Untergrainau 1944-1946

201

lag direkt unterhalb der Einfriedungsmauer 42, so daß er im Angesicht seiner geliebten Berge ruhen konnte 43 . Die Grabstätte blieb bis zum Ablauf des Nutzungsrechts am 19. November 198844 erhalten. Sie war mit einem schmiedeeisernen Kreuz geschmückt, das nach einem Entwurf von Hermann Ebers gefertigt worden war. Auf dem Kreuz sind u. a. die klassischen juristischen Symbole Waage und Schwert abgebildet 45 .

42 Es handelt sich um die Grabstätte Nr. 30/31, Reihe 1, Abt. III (Doppelgrab), s. Schreiben der Gemeinde Grainau vom 12. November 1976, PAG. 43 Nach einer Mitteilung Frau Renate v. Gebhardts hatte sich Triepel die Sentenz „Er ruht im Angesicht seiner geliebten Berge" als Grabinschrift ausgedacht, was aber seiner Witwe nicht gefallen wollte. 44 Schreiben der Gemeinde Grainau vom 12. November 1976 und undatiertes Schreiben (ca. Juli 1978), PAG; Mitteilung Frau Renate v. Gebhardts. 45 Das Kreuz wurde nach Mitteilung Frau Renate v. Gebhardts bei der Auflösung der Grabstätte sichergestellt.

Zweiter Teil

Werk 8. Kapitel

Öffentliches Recht und Methodik I. Frühschriften 1. Das Interregnum (1892) Die 1891 fertiggestellte Dissertation über das Interregnum, eine der kritischsten Zeiten des monarchischen Staates1, hat ein so beeindruckendes Zeugnis von der wissenschaftlichen Begabung des damals erst 23jährigen Triepel abgelegt, daß sie knapp zwei Jahre später von der Leipziger Juristenfakultät als Habilitationsleistung anerkannt wurde. Zudem wurde ihr die Ehre einer Rezension im AöR, der schon damals fuhrenden Zeitschrift des Öffentlichen Rechts, zuteil 2 . Die hohe Wertschätzung dieser Arbeit war auch aus heutiger Sicht nicht unverdient. Für ein Erstlingswerk ist der ganze Stil und Duktus von erstaunlicher Reife. Gleich die ersten Sätze der Einleitung stehen wie gemeißelt da3. Triepel beschränkt dort zunächst sein Thema auf die Darstellung des Interregnums in der Monarchie 4, das dadurch gekennzeichnet ist, „dass in ihm der persönliche, der menschliche Träger der Staatsgewalt weggefallen ist, ohne dass unmittelbar ein anderes Subjekt von gleichem rechtlichen Werthe und von ideell unbegrenzter Dauer an seine Stelle gerückt ist" 5 . Es folgt dann die Aufzählung der Entstehungsgründe eines Interregnums (Wegfall des Monarchen in der Wahlmonarchie, Aussterben der Dynastie ohne Sukzessionsberechtigten, Verzicht des oder der letzten lebenden Nachkommen eines Fürstengeschlechts unter Ermangelung anderer Folgeberechtigter, Wegfall des Monarchen ohne sukzessi-

1

Triepel, Interregnum, S. 2. Hancke, AöR 9 (1894), S. 153-155. Das AöR zeigte bei Dissertationen späterer Größen des Fachs eine „bemerkenswerte Instinktsicherheit", vgl. Doerfert, S. 86. 3 So mit Recht Mitteis, Grabrede, S. 3, PAG. 4 Interregnum, S. 4-6. 5 Interregnum, S. 4; vgl. auch ebd., S. 49. 2

8. Kap.: Öffentliches Recht und Methodik

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onsberechtigte Deszendenz mit Hinterlassung einer schwangeren Witwe) 6 und die Negativabgrenzung gegen jene Erscheinungen des staatlichen Lebens, bei denen „ein vorhandener Monarch lediglich in der Ausübung der ihm rechtlich zustehenden Staatsgewalt, sei es rechtlich, sei es thatsächlich oder widerrechtlich behindert ist." 7 Auch eine Revolution oder Usurpation lassen für Triepel den Herrscher rechtlich seiner Monarchenstellung nicht verlustig gehen, sondern hindern ihn lediglich an der Ausübung der ihm von Rechts wegen zustehenden Staatsgewalt. Anders zu entscheiden, hieße Macht vor Recht gehen zu lassen8. Allerdings sei die Zeit eine Macht, welcher selbst Rechte nicht widerstehen könntten. Es sei deshalb nicht ausgeschlossen, daß schließlich an die Stelle des früheren Subjekts der Staatsgewalt ein neues trete. Die Legitimation der illegitimen Staatsgewalt erfolge aber „erst in demselben Momente, in welchem der neue widerrechtliche Zustand zu einem rechtlichen" werde 9. Im Anschluß an diese teilweise über den Gegenstand hinausweisenden Begriffsklärungen wendet sich Triepel seinem zentralen Thema zu und teilt seinen „Versuch einer Darstellung der Lehre vom Interregnum" 10 in einen historischen und einen dogmatischen Abschnitt auf. In seiner anschaulichen Darstellung der verschiedenen, vor allem im Laufe der deutschen Geschichte vorgekommenen Interregna 11, wird schon früh eine besondere Neigung Triepels zur Verfassungsgeschichte sichtbar, die sich in seinem Lebenswerk noch vielfach niederschlagen sollte. Namentlich seine Ausführungen über das Reichsvikariatsrecht sind heute noch von Interesse und fanden auch den Beifall von Karl Zeumer und anderen angesehenen Verfassungshistorikern 12. Im dogmatischen Teil der Arbeit stellt Triepel zunächst dar, daß man schon früher trotz des Wegfalls des Monarchen stets an der Fortexistenz des Staates festgehalten hat. Überwiegend ging man von der Prämisse aus, daß das Volk während des Interregnums Inhaber der Staatsgewalt sei. Begründet wurde dies teils mit dem Gedanken der Volkssouveränität (Samuel Pufendorf, Johannes Althusius), teils mit vertragstheoretischen Überlegungen (Justus Henning Böhmer, Joachim G. Darjes) 13 . Im Anschluß an diese dogmengeschichtliche Darstellung versucht Triepel, seinen eigenen Ansatz zu entwickeln, indem er die 6 7 8

II. 1.

Interregnum S. 6-8, 49. Interregnum, S. 9. Vgl. näher zu Triepels Verständnis des Verhältnisses von Macht und Recht unten

9

Interregnum, S. 12 f. Interregnum, S. 14. 11 Interregnum, S. 16-48. 12 Mitteis, Grabrede, S. 3, PAG; ders., ZSG (GA) 1940, S. 338. 13 Interregnum, S. 51-57. 10

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Zweiter Teil: Werk

Frage nach dem persönlichen Inhaber oder Träger der Staatsgewalt stellt 14 . Für ihn ist das diejenige physische Person, in der sich die Staatsgewalt, der in Herrschaft sich äußernde Staatswille „verkörpert". Dieser „Herrscher" ist nun „derjenige dem die Herrschaft zu eigenem Rechte in dem Sinne zusteht, dass er in keiner Weise Objekt einer fremden Herrschaft ist" 15 . Wer Träger der Staatsgewalt ist, kann daher nicht zugleich Organ des Staates im Sinne eines Werkzeugs zur Ausübung fremder Gewalt sein16. Gegen diese Auffassung wandte sich Otto v. Gierke, dem Triepel seine Erstlingsschrift übersandt hatte. Gierke stimmte zwar in seinem Antwortbrief den Ergebnissen der „interessanten und scharfsinnigen Untersuchung" in der Hauptsache bei, meinte aber, daß auch der Träger der Staatsgewalt Staatsorgan sei: „... der Begriff des Organs erfährt hier nur eine Steigerung. Organ ist nicht ,Werkzeug 4 eines fremden Willens, sondern Bildner eines in ihm und nur in ihm entscheidenden Gemeinwillens. Im physischen Organismus nennen wir auch das Centraiorgan »Organ'." 17 Vermutlich aufgrund dieser Kritik des von ihm überaus geschätzten Rechtsgelehrten 18 verwarf Triepel später die Annahme eines bestimmten Personen zustehenden eigenen Rechts an der Staatsgewalt19 und bezeichnete diese These selbstkritisch als begriffsjuristische „Entgleisung" 20 . Aus der generellen Prämisse, daß nur im „Herrscher" der Staatswille zur Realität gebracht werde 21 , leitet Triepel das erste Resultat seiner Untersuchung ab: Als Träger der Staatsgewalt kommen weder der weggefallene Monarch, noch ein ungeborener zukünftiger Regent, noch Reichsverweser oder Vikare und auch nicht das Volk in Betracht. Triepel zufolge hat der Staat also während des Interregnums kein physisches Subjekt, keinen Träger seiner Gewalt 22 . Für eine nähere Bestimmung der Rechtsfolgen von Interregna fur den Staat hält Triepel es für notwendig, sich über dessen Wesen klar zu werden. Er folgt hierbei nicht der organischen Staatstheorie in einem anthropomorph-biologisti-

14

Interregnum, S. 63. Interregnum, S. 64. 16 Interregnum, S. 65, 70. 17 Brief vom 2. November 1892, UB Heidelberg, Heid. Hs. 2824,20. Im übrigen merkt Otto v. Gierke dort an, daß Triepel für manches Einzelne „vielleicht auch in den Erörterungen der Kanonisten über Sedisvakanz Brauchbares gefunden" hätte. 18 In Staatsrecht und Politik, S. 6, bezeichnet er ihn als „überragende Gestalt", dem auch das Staatsrecht „besonders fruchtbare Anregungen zu verdanken" habe. 19 Zuerst in dem 1899 gehaltenen Vortrag über „Die Entstehung der konstitutionellen Monarchie", S. 24. Die Kritik Georg Jellineks, S. 592 f., an Triepels unfruchtbarer Konstruktion, wie er sie später selbst bezeichnete, vgl. Triepel, Reichsaufsicht, S. 537 Fn. 4, war daher sachlich gerechtfertigt, aber in persönlicher Hinsicht überholt. 20 Reichsaufsicht, S. 537 mit Fn. 4. 21 Interregnum, S. 65. 22 Interregnum, S. 65-69. 15

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sehen Sinn 23 , wie sein Rezensent Ernst Hancke irrtümlich meint 24 , sondern knüpft an die damals schon herrschende, u. a. von Georg Jellinek und Otto v. Gierke vertretene Lehre vom Staat als Träger einer realen Willensmacht, als selbständigem Rechtssubjekt an 25 . Auch fur ihn ist „der Staat ein mit Persönlichkeit, mit Rechssubjektivität begabtes Wesen ..., weil er Träger eines ihm eigenen Willens ist" 26 . Auf der Basis dieser Staatsauffassung gelangt Triepel zu demselben Ergebnis wie die von ihm in dem dogmengeschichtlichen Teil seiner Arbeit zitierten Autoren: Der Staat besteht auch im Interregnum weiter 27 . Die staatliche Willensbildung erfolgt in dieser Phase durch eine „provisorische Regierung", die weder Trägerin der Staatsgewalt noch Regent im technischen Sinne ist, sondern sich in ihrer rechtlichen Stellung nur der eines Regenten annähert 28 . Triepel betrachtet aber nicht nur die innerstaatliche Seite des Interregnums, sondern untersucht auch dessen Einfluß auf die Rechtsverhältnisse zwischen den Staaten, wobei er in der Kategorisierung weitgehend Georg Jellinek folgt. Zunächst analysiert Triepel die Wirkungen des Interregnums auf den Staatenbund und auf die Realunion als dessen Spezialfall 29. Besondere Aufmerksamkeit widmet er dem Problem des Interregnums im Bundesstaat und vor allem in Preußen 30. Damit klingt bereits in der Erstlingsschrift ein Thema an, das bis hin zu der 1938 erschienenen Monographie über „Die Hegemonie" zu einem Leitmotiv in Triepels Lebenswerk werden sollte 31 : die Problematik binnen- und zwischenstaatlicher Staatenverbindungen. Besonders seine verfassungsrechtlichen Arbeiten vor 1918 haben einen deutlichen Schwerpunkt in der Analyse des Bundesstaats. Triepel setzt insofern die Arbeiten Albert Hänels über bundesstaatliche Kompetenzprobleme fort, übertrifft sie aber noch, wie Manfred Friedrich mit Recht resümiert, an Gediegenheit32.

23 Vgl. hierzu nur G. Jellinek, S. 148-158. Otto v. Gierkes Theorie der realen Verbandspersönlichkeit kann trotz terminologischer Unschärfen nicht als organologisch bezeichnet werden, vgl. ebd., S. 159. 24 Hancke, AöR 9 (1894), S. 154. 25 G. Jellinek, S. 169-183. 26 Interregnum, S. 73. 27 Interregnum, S. 75-78. 28 Interregnum, S. 82-88, 102. Da sie „z. T. auf Begriffskonstruktionen beruhen", verwirft Triepel, Reichsaufsicht, S. 289 Fn. 19, später die dort vorgenommenen subtilen Differenzierungen. 29 Interregnum, S. 89-93. 30 Interregnum, S. 94-110. 31 Hollerbach, AöR 91 (1966), S. 424 f., irrt sich deshalb, wenn er meint, erst in „Völkerrecht und Landesrecht" (1899) seien Stellungnahmen Triepels über Theorie und Praxis der Staatenverbindungen zu finden. 32 Friedrich, Staatsrechtswissenschaft, S. 278.

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Zweiter Teil: Werk

Erste Ansätze hierfür sind schon im „Interregnum" zu finden. Triepel beginnt mit einer knappen Charakterisierung des Bundesstaates als eines aus mehreren Staaten zusammengesetzten Staats33, um sich sodann einer Untersuchung der Rechtsnatur des Deutschen Reichs zuzuwenden. Hierbei folgt er im Kern der weitaus überwiegenden Ansicht der konstitutionalistischen Staatsrechtslehre, die sich auf den Standpunkt gestellt hat, die deutschen Staaten seien als Gesamtheit souverän 34. Die von Max v. Seydel (1846—1901)35 vertretene Mindermeinung 36 , daß das Reich einen Staatenbund mit unteilbarer Souveränität der Einzelstaaten bilde, lehnt Triepel ab. Statt dessen betont er dessen Charakter als staatsformige Organisation eines Volkes. Da das Deutsche Reich mit einer zur Durchführung eigener Zwecke fähigen Gewalt ausgestattet ist, stellt es für Triepel ein Rechtssubjekt, einen souveränen Staat dar 37 . Es ist kein Einheitsstaat, sondern ein Bundesstaat mit 25 Gliedstaaten, die nicht mehr souverän sind, „weil durch den Willen des ihnen übergeordneten, allein souveränen Reiches bestimmbar; aber der Mangel an Souveränetät schliesst die Existenz eines Staates nicht aus." 38 Den Protagonisten einer Art Dreigliederungslehre (Albert Hänel, Otto v. Gierke) 39 folgt Triepel demnach nicht, sondern hält wie selbstverständlich die Identität von Gesamtstaat und Zentralstaat für gegeben. Die dieser Ansicht implizite Annahme, daß das Reich selbst Träger der Reichsgewalt ist 40 , sei aber, so Triepel weiter, entsprechend seiner definitorischen Vorgabe 41 von der Frage nach dem physischen Träger dieser Gewalt, „welcher die Herrschaft als eigenes Recht zusteht" 42 , zu trennen. In diesem Sinne könne das Reich nicht Träger der Staatsgewalt sein. Man gewönne auch nichts, wenn man die Gesamtheit der deutschen Staaten als Träger der Reichsgewalt bezeichne. „Das ist ebenso richtig wie die Behauptung, dass das Reich selbst Träger der Reichsgewalt sei; aber auch der einzelne Staat ist zwar Person, aber nicht sinnlich wahrnehmbare, physische Person: der Träger seiner Gewalt ist der Monarch oder - in den drei Republiken - die Bürgerschaft." 43 Diese Einzelherrscher im Reich, nämlich die 33

Interregnum, S. 94.

34

Stolleis II, S. 366 f.

35

Über ihn Stolleis II, S. 287-289. Triepel, Unitarismus, S. 27, charakterisierte ihn nach Ansicht von Michael Stolleis II, S. 366, „mit Recht" als den „orthodoxesten Föderalisten der deutschen Staatsrechtslehre". 36 Vgl. dazu nur Stolleis II, S. 289 f., 366. 37 Interregnum, S. 96 f. 38 Interregnum, S. 98. 39 Vgl. hierzu Huber V, S. 792 f. m. w. N. 40 Interregnum, S. 98. 41 Interregnum, S. 63-65. 42 Interregnum, S. 98. 43 Interregnum, S. 98 f.

8. Kap.: Öffentliches Recht und Methodik

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22 Monarchien und die drei Stadtrepubliken hält Triepel zu eigener Herrschaft am Reich berufen, während dem Kaiser nur ein kleiner Anteil an der Reichsgewalt zugesprochen wird 4 4 . Deshalb handele es sich bei dem Kaiserreich seinem Wesen nach nicht um eine Monarchie, sondern entweder um eine konstitutionelle Aristokratie (so ζ. B. Georg Meyer und Karl Binding) oder eine Pleonarchie (so ζ. B. Philipp Zorn) 45 . Sowohl dieses Ergebnis wie auch vor allem die zu ihm hinfuhrende unklare Ableitung zeigt, daß Triepel - ebenso wie seinen Fachgenossen - die Doppelnatur des Kaiserreichs (zugleich ein Bund seiner fünfundzwanzig Gliedstaaten und ein Staat der Deutschen Nation) durchaus bewußt war 46 , er aber letztlich doch einem staatstheoretischen Trennungsdenken erlag. Ähnlich wie der damals führende Staatsrechtler Paul Laband (1838-1918) 47 , auf den er sich mehrfach bezieht, geht Triepel von der Annahme aus, das Reich sei eine mit Souveränität ausgestattete selbständige Staatspersönlichkeit und Träger einer eigenen souveränen Reichsgewalt, gelangt aber dann doch dahin, den Gliedstaaten als Gesamtheit auf der - nur scheinbar isolierten - Ebene der personalen Verkörperung der Reichsgewalt einen Teil der Reichssouveränität zuzusprechen. Damit setzt er sich in einen schwerlich auflösbaren Widerspruch mit seiner Ausgangsthese. Freilich ist die Frage, wer im Kaiserreich Träger der Staatsgewalt war und wie es staatsrechtlich kategorisiert werden kann, auch heute noch lebhaft umstritten 48 . Bedenkt man zudem, daß selbst der ansonsten recht hellsichtige Georg Jellinek noch in der 1921 erschienen dritten Auflage seiner berühmten „Allgemeinen Staatslehre" das Kaiserreich schlicht als Republik gekennzeichnet hat 49 , so erscheint dieses Monitum in milderem Licht. Schließlich hat Triepel später, als das begriffliche Interesse an der Antinomie von Staatenbund und Bundesstaat der Anerkennung der konkreten Verfassungentwicklung samt ihren politischen und historischen Implikationen zu weichen begann 50 , zu der pragmatischen Formel gefunden, das Reich sei „ein Mittelding zwischen Staatenbund und Einheitsstaat" 51 .

44

„Er ist alleiniges Subjekt der Reichsmilitär- und Marinegewalt und alleiniger Inhaber der Gewalt des Reiches als völkerrechtlichen Subjekts.", Interregnum, S. 106; vgl. Art. 11, 53, 63 BRV; instruktiv hierzu Huber V, S. 809-820. 45 Interregnum, S. 99. Triepel, ebd., S. 106, meint allerdings auch, „das ganze komplizirte Reichsgebäude" lasse sich nicht unter eine einheitliche Formel bringen. 46 Vgl. zur Bundesstaatsdebatte im Kaiserreich Friedrich, Staatsrechtswissenschaft, S. 291-293; Stolleis II, 365-368. 47 Huber V, S. 791 m. w. N.; vgl. zu Labands Leben und Werk Friedrich, ^öR 111 (1986), S. 197-218; Pauly, Laband, S. 301-319. 48 Statt aller Frotscher/Pieroth, S. 218-220 Rn. 411-^15; vgl. auch sogleich unten 2. 49 50

51

G. Jellinek, S. 712. Stolleis II, S. 367.

Unitarismus, S. 27; vgl. näher unten IV. 4.

208

Zweiter Teil: Werk

Wie auch immer, rundum überzeugend ist in seinem Erstlingswerk jedenfalls die Detailanalyse. Triepel zufolge ergeben sich Besonderheiten daraus, daß aufgrund von Art. 11 BRV der jeweilige König von Preußen Subjekt der kaiserlichen Würde ist. Dies bedeutet, daß es während eines preußischen Interregnums keinen deutschen Kaiser gibt 52 . Da die Gewalt des Reiches bei Wegfall des Kaisers in toto bei der Gesamtheit der verbündeten Regierungen ruht, kann in einer solchen Fallkonstellation nur von einem partiellen Interregnum gesprochen werden 53. Für Triepel bedarf es nun „kaum eines Beweises", daß die kaiserlichen Rechte in diesem Fall „nicht etwa von einem anderen deutschen Monarchen ,ausgeübt4 werden können; denn in ihrer Zugehörigkeit zur Krone Preussen ... soll ja nach dem Sinne der Reichsverfassung gerade die hegemoniale Stellung Preussens im Reiche zum Ausdruck gebracht werden." 54 Demnach kann und muß die interimistische Ausübung der kaiserlichen Präsidialbefugnisse im Deutschen Reich allein durch das Subjekt der provisorischen Regierung in Preußen geschehen55. Bemerkenswert ist hier, daß Triepel schon in seiner Erstlingsschrift die preußische Hegemonie nicht nur als historisch-politisches Phänomen, sondern auch als staatsrechtlich relevanten Begriff wahrnahm, während etwa Gerhard Anschütz noch im Jahre 1913 so sehr dem positivistischen Trennungsdenken verhaftet war, daß er sich nicht zu einer solchen Sichtweise durchzuringen vermochte56. Insofern kann man Fulco Lanchester beipflichten, der meint, Triepel sei schon in seiner Erstlingsarbeit bei seiner impliziten Kritik an der herrschenden Meinung „in modo realistico"' vorgegangen 57. Im übrigen ist dort von Triepels späteren Bemühungen um eine teleologische Methode im Staatsrecht58 aber noch nichts zu spüren 59. Im Schlußkapitel seiner gedankenreichen Studie befaßt sich Triepel mit den verschiedenen Möglichkeiten, ein Interregnum zu beenden60. Auch in diesem Zusammenhang fällt seine Neigung zu grundlegenden Ausführungen auf, die vielfach über das eigentliche Thema hinausweisen. So arbeitet er dort etwa heraus, was die Wahl eines Monarchen von der einer Volksvertretung unterscheidet: „Nicht Ermöglichung der Repräsentation ist Zweck dieser Wahl, sondern

52

Interregnum, S. 104 f. Interregnum, S. 106. 54 Interregnum, S. 107 f., im Anschluß an Ausführungen Labands. 55 Interregnum, S. 118. Triepels Rezensent Hancke, AöR 9 (1894), S. 155, hält diese Schlußfolgerung für überzeugend. 56 Wilhelm, S. 152; Triepel, Staatsrecht und Politik, S. 11; vgl. näher unten IV. 3. 57 Lanchester, S. 90 Fn. 20; vgl. auch ebd., S. 133. 58 Vgl. unten II. 59 So auch Doerfert, S. 87; vgl. auch oben Fn. 28. 60 Interregnum, S. 110-117. 53

8. Kap.: Öffentliches Recht und Methodik

209

Bezeichnung eines Willens, der an die Stelle eines weggefallenen, zu dem Willen der Wähler in keiner unmittelbaren Verbindung stehenden Willens treten soll." 61

2. Die Entstehung der konstitutionellen

Monarchie (1899)

Dieser Vortrag enthält nicht nur, wie der Titel vermuten läßt, historische Darlegungen, sondern auch - ebenso wie schon die Erstlingsschrift - grundlegende Ausführungen, die man nach heutigem rechtswissenschaftlichen Kanon der Allgemeinen Staatslehre zuordnen würde. Triepel unterscheidet das Gegensatzpaar der absoluten und beschränkten Monarchien, wobei er die letzteren wiederum in ständische und konstitutionelle „Einherrschaften" einteilt. Die ständische Monarchie wird von ihm insofern kritisch betrachtet, als in dieser Staatsform die Stände nicht zuletzt aufgrund des Systems des imperativen Mandats im Zweifel das eigene Wohl über das des Landes setzten, was letztlich eine „Ohnmacht des Staates" nach sich ziehe 62 . Die konstitutionelle Monarchie sei demgegenüber dadurch gekennzeichnet, daß es nicht bloß eine Vertretung partikularer Interessen, sondern eine des ganzen Volkes gebe. Auch Wahlrechtsbeschränkungen änderten nichts an der Tatsache, daß jedes Parlamentsmitglied „unabhängig von Aufträgen der Wählerschaft oder der Partei" als Vertreter des ganzen Volkes angesehen werde und „auch - und das ist das Wichtigste - von Rechts wegen verpflichtet" sei, „bei seinen Entschließungen allein das Wohl des ... ganzen Staates als solchen im Auge zu haben."63 Das Wesen der konstitutionellen Monarchie sieht Triepel aber nicht nur in der Beschränkung des Fürsten bei Gesetzgebung und anderen wichtigen Regierungsakten durch Mitwirkungs- oder Zustimmungsrechte einer echten Volksrepräsentation, sondern auch in den beiden weiteren Essentialia der Verantwortlichkeit der Minister für die Regierungshandlungen des Monarchen und der Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte 64. Triepel wendet sich sodann den Entstehungsvoraussetzungen und -bedingungen der konstitutionellen Monarchie zu. Der absolute Staat habe die große geschichtliche Aufgabe gehabt, das innerlich entzweiende Ständewesen zu beseitigen. Voraussetzung des Konstitutionalismus sei aber „nicht nur die Einheit des Staates, sondern auch eine gewisse Gleichförmigkeit der Gesellschaft" 65. Damit ist, wie Triepel betont, nicht eine völlige soziale Gleichheit gemeint. 61 62 63 64 65

Interregnum, S. 113. Entstehung, S. 5. Entstehung, S. 6. Entstehung, S. 7. Entstehung, S. 8.

14 Gassner

Zweiter Teil: Werk

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Denn jedweder Gesellschaft eigne notwendigerweise eine Schichtung, die sich nicht völlig einebnen lasse. Entscheidend sei die Wahrung der sozialen Mobilität. Rechtlich und tatsächlich müßten die Grenzen zwischen den Gesellschaftsgruppen „flüssig und überschreitbar, das Aufsteigen aus der niederen in die höhere Schicht zu ermöglichen sein." 66 Gesellschaftlicher Träger des neuen Verfassungstyps sei nicht zufällig das Bildungsbürgertum gewesen67. Den Schwerpunkt des Vortrags bildet die Frage nach den tatsächlichen und ideengeschichtlichen Grundlagen der konstitutionellen Monarchie. Für Triepel ist England die „Heimat des Konstitutionalismus" 68 , seine geistige Ausprägung habe er aber bei Montesquieu, dem „Vater der konstitutionellen Theorie" gefunden 69. Den Hauptfehler in Montesquieus Gewaltenteilungslehre sieht er darin, daß sich in dessen Konzeption die drei Gewalten infolge ihrer gleichen Stärke gegenseitig neutralisieren würden, was einen staatlichen Immobilismus zur Folge haben könnte 70 . Ferner habe sich, wie Triepel zutreffend ausführt, Montesquieu insoweit geirrt, als er sein Verfassungsmodell in England bereits verwirklicht gesehen hätte. Namentlich von seinem „kunstvollen System der Trennung und gegenseitigen Neutralisierung der Gewalten war auch nicht eine Spur vorhanden." 71 Um dies zu belegen, gibt Triepel einen kurzen Überblick über die Verfassungsgeschichte Englands, wobei er an die Arbeiten Rudolf v. Gneists anknüpft 72. Gegen Montesquieu betont er die parlamentsabsolutistische Struktur der englischen Verfassung 73, die seit dessen Lebzeiten noch deutlicher hervorgetreten sei 74 . Daß Montesquieus Lehre trotz ihrer offenkundigen Schwächen „ein volles Jahrhundert die Geister beherrscht" hat, erklärt Triepel mit soziologischem Scharfblick „daraus, daß sie das in Frankreich wie anderwärts vorhandene Bedürfnis nach einem Mittel die absolute Fürstenmacht zu beschränken und das Volk bei der Regierung zu beteiligen, durch eine, wie es schien, einfache und scharfsinnig begründete Formel befriedigte." 75 In den Fällen, in denen es unternommen worden sei, das Konzept Montesquieus in lebendiges Verfassungsrecht umzuwandeln, wie etwa in der sizilianischen Verfassung von 1812, seien bislang aber „nur totgeborene Kinder zu Tage" gekommen 76 . Deshalb habe man die Notwendigkeit erkannt, einen festen Mittel66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76

Entstehung, S. 9. Entstehung, S. 9 f. Entstehung, S. 10. Entstehung, S. 11. Entstehung, S. 13 f. Entstehung, S. 14. Entstehung, S. 15-18. Entstehung, S. 18 f. Entstehung, S. 19-21. Entstehung, S. 21. Entstehung, S. 21.

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211

punkt fur den Verfassungsbau zu finden. Erst wenn dies erreicht sei, habe die Gewaltenteilung ihre Aufgabe zu erfüllen. Triepel unterscheidet nun zwei oberste Strukturprinzipien, und zwar zum einen das demokratisch-republikanische und zum anderen das konstitutionellmonarchische, die mit dem Grundsatz der Gewaltentrennung verknüpft werden können. Hierbei läßt er keinen Zweifel daran, welches Prinzip insofern den Vorzug verdient. Die eine Möglichkeit fußt auf der Idee der Volkssouveränität, die „schon fast das ganze Mittelalter durchzittert", aber erst im 18. Jahrhundert in JeanJacques Rousseau „ihren eindrucksvollsten Interpreten und Propheten gefunden" hatte77. Steht die höchste Gewalt im Staate dem Volk zu, so ergibt sich selbst bei Einführung einer strikten Gewaltentrennung eine Eigendynamik zugunsten des Parlaments, als der seiner Bildung nach dem Souverän am nächsten stehenden Macht. Wie sich nicht zuletzt anhand der noch konstitutionellmonarchisch geprägten französischen Verfassung vom 3. September 1791 demonstrieren läßt, muß die Volkssouveränität zur Republik, zur Demokratie führen 78. Auch in Belgien (Verfassung vom 7. Februar 1831) und England, wo man „das Königtum scheinbar beibehalten" hat, entwickelte sich „eine parlamentarische Monarchie, die in Wirklichkeit eine Republik zu bedeuten hat." 79 In den deutschen Staaten dagegen habe sich die Entwicklung „zum Glück" ganz anders vollzogen. Der „feste Mittelpunkt, um den sich das konstitutionelle Leben zu bewegen hatte", sei der Monarch gewesen80. Damit spricht Triepel das heute noch als erstes Kennzeichen der deutschen konstitutionellen Monarchie betrachtete „monarchische Prinzip" 81 an, d. h. den „Grundsatz, daß der Landesherr von keiner Funktion der Staatsgewalt ausgeschlossen, wohl aber in der Ausübung der ihm rechtlich ungeteilt zustehenden Staatsgewalt nach verschiedenen Seiten hin beschränkt ist." 82 Triepel zufolge konnte in diesem System weder der Gedanke der Volkssouveränität noch die Gewaltenteilungslehre Montesquieus Wurzeln schlagen: „Wollte man hier die absolute Gewalt beseitigen, so war das unmöglich in der Weise zu bewirken, daß man den Fürsten zum gehorsamen Diener des Parlaments erniedrigte, aber auch nicht so, daß man ihm nur ein Stück der Staatsgewalt beließ und die anderen an Faktoren verschenkte, die gänzlich von ihm unabhängig waren." 83

77 78 79 80 81 82 83

14*

Entstehung, S. 22. Entstehung, S. 22 f. Entstehung, S. 23. Entstehung, S. 23. Vgl. nur E.-W. Böckenförde, Verfassungstyp, S. 148 f. Entstehung, S. 24. Entstehung, S. 23.

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Damit bezieht Triepel eine eindeutige Position in einer Debatte, die in ihren Anfängen bis in die Zeit des Vormärz zurückreicht, wo sich ein national-konstitutionelles und ein individualistisch-vernunftrechtliches Verfassungsideal gegenüberstanden waren 84 , im Kaiserreich in veränderter Frontstellung wiederaufgenommen und weitergeführt wurde und in neuerer Zeit wieder aufgeflammt ist. Im Kern geht der Streit darum, ob es sich, so namentlich Ernst Rudolf Huber, bei dem deutschen Konstitutionalismus „vermöge seines besonderen Formprinzips wie vermöge der legitimierenden Kraft der in ihm verkörperten Verfassungsidee" um einen selbständigen Verfassungstyp handelt85 oder nur „um einen Übergang und einen dilatorischen Kompromiß zwischen Monarchie und Volkssouveränität", wie Ernst-Wolfgang Böckenförde im Anschluß an Carl Schmitt meint 86 . Einen bloßen Übergangscharakter vermag Triepel der konstitutionellen Monarchie nun gerade nicht zuerkennen. Wie Ernst Rudolf Huber hält er vielmehr einen „Wesensunterschied von Konstitutionalismus und Parlamentarismus" für gegeben87. Die idealtypischen88 differentiae specificae der beiden Staatsformen 89 bestehen für Triepel nämlich in den monarchischen Prägroativen, die die Aufgabe haben, die Parlamentsherrschaft auszuschließen und die fortdauernde Königsherrschaft zu sichern 90. Anders als noch bei der Wesensbestimmung der Reichssouveränität in seiner Erstlingsschrift über das Interregnum stellt Triepel klar und ohne konstruktivistische Abwege fest, daß in der konstitutionellen Monarchie die unteilbare Staatsgewalt in ihrer Gesamtheit von Rechts wegen dem König zusteht91: „Er sanktioniert und veröffentlicht die Gesetze, er hat die vollziehende Gewalt, er stellt die Richter ein und in seinem Namen fällen sie das Urteil." 92 Nur und erst in der Ausübung der königlichen Gewalt trete eine gewisse Beschränkung ein,

84 Vgl. hierzu E.-W. Böckenförde, Einheit, S. 27-39; ders., Verfassungstyp, S. 146, 161 f. 85 So Huber V, S. 26 Fn. 48 und passim; vgl. ausführlich ders., S. 197-205. 86 E.-W. Böckenförde, Verfassungstyp, S. 147 und passim. 87

Huber V, S. 15.

88

Triepel bezieht sich auf die französische Charte constitutionelle von 1814/30 als Idealtypus. 89 Es handelt sich, worauf Ernst Rudolf Huber V, S. 5 f., zu Recht hinweist, nicht bloß um Regierungsformen, die durch das diffuse Kriterium der je verschieden großen Abhängigkeit oder Unabhängigkeit der Regierung zu unterscheiden sind. 90

91

Entstehung, S. 13 f.

Triepel bezieht diese Aussage allerdings nicht auf die Reichsverfassung, sondern nennt als Beispiel der Realisierung des monarchischen Prinzips namentlich die süd- und mitteldeutschen Verfassungen, aber auch andere, wie die preußische, vgl. Entstehung, S. 24. 92 Entstehung, S. 24; ähnlich Huber V, S. 14 f.

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wie etwa im Bereich der Legislative durch das Mitwirkungsrecht der Volksvertretung 93 , während sich die parlamentarische Monarchie dadurch auszeichnet, daß in ihr das Parlament gegenüber der Exekutive letztlich - gegebenenfalls über ein Budgetverweigerungsrecht - seinen Willen aufzwingen könne 94 . Triepel bewegt sich damit noch weitgehend in den Bahnen der damals herrschenden Staatsrechtslehre, die ausschließlich die monarchische Spitze als Träger der Staatsgewalt und das Parlament dementsprechend nur als Hilfsorgan des Fürsten bei Ausübung seiner Kompetenzen begriffen hat 95 . Diese Gehilfenoder Sanktionstheorie, wie sie namentlich von Paul Laband vertreten wurde, hat er erst nach seiner Abkehr vom staatsrechtlichen Positivismus als „willkürlichste Begriffsjurisprudenz" bezeichnet96.

3. Wahlrecht und Wahlpflicht

(1900) 91

Der in der Gehe-Stiftung zu Dresden gehaltene Vortrag befaßt sich schwerpunktmäßig mit der damals weit mehr als heute erörterten rechtspolitischen Frage, ob sich die Einführung einer Wahlpflicht rechtfertigen läßt. Eine solche Themenstellung de lege ferenda war für den damals herrschenden Gesetzespositivismus ebenso ungewöhnlich 98 wie die breite Heranziehung empirischen Materials des In- und Auslands 99 , so daß sich hierin ein erstes Anzeichen der Abkehr Triepels von der Gerber-Labandschen Schule erblicken läßt 100 . Triepel leitet die Studie mit einer statistisch unterfütterten Darstellung der geringen Wahlbeteiligung in verschiedenen Ländern 101 . Sodann kritisiert er die

93

Die Beschränkung des Souveräns wird in der Exekutive durch die Verantwortlichkeit der Minister, in der Jurisdiktion durch die Unabhängigkeit der Gerichte gewährleistet, vgl. Entstehung, S. 24. 94 Entstehung, S. 23. 95 Vgl. dazu ausfuhrlich Schönberger, S. 70-82, 100-182 und passim; gegen die h. M. etwa Rehm, AöR 25 (1909), S. 397: „Es herrscht Fürsten- und Volksstaat zugleich". 96 AöR 39 (1920), S. 473. 97 Vgl. hierzu folgende Rezensionen: Gageur, AöR 16 (1901), S. 611 f.; Kühler, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 1901, S. 293; N. N., Literarisches Centratola« 1900, Sp. 1527 f.; Stengel , Centraiblatt fur Rechtswissenschaft 1901, S. 188; Zorn, Deutsche Litteraturzeitung 1903, Sp. 1610-1612. 98 Exemplarisch Philipp Heck, Begriffsbildung, S. 136 Fn. 1, der schildert, wie seine bei der Promotion aufgestellten Thesen de lege ferenda vom Dekan als nicht zum Bereich der Wissenschaft gehörend beanstandet wurden. 99 Vgl. hierzu insbesondere die Anmerkungen S. 42-59, in denen Philipp Zorn, Deutsche Litteraturzeitung 1903, Sp. 1610, sogar den „Hauptwert der Schrift" zu erkennen glaubt. 100 Vgl. ausfuhrlich unten II. 1

Wahlrecht und Wahlpflicht, S.

.

214

Zweiter Teil: Werk

Ansichten der führenden Staatsrechtslehrer, denen zufolge schon de lege lata eine Wahlpflicht gegeben sei 102 . Namentlich sei es unrichtig, den Wähler als Staatsorgan zu betrachten 103. Selbst wenn man diesen Standpunkt einnehme, „wäre doch der Wähler ein staatliches Organ erst im Augenblicke der Abstimmung, und es ist ja eben die Frage, ob es in seinem Belieben steht oder nicht, diese Rolle zu übernehmen." 104 Nicht nur der Wortlaut von Verfassungen und Gesetzen spricht Triepel zufolge gegen die Annahme einer bereits bestehenden Wahlpflicht, sondern auch die geschichtliche Entwicklung des Wahlrechts: „Schritt für Schritt haben sich immer größere Kreise des Volkes die Möglichkeit dieser mittelbaren Teilnahme an der Staatsleitung erkämpfen müssen, und das Ziel des Kampfes war ein oft genug nur widerwillig gegebenes Zugeständnis, eine Gewährung, aber nicht die Belastung mit einer Pflicht." 105 Sodann bemüht sich Triepel, die Frage der Einführung eines Wahlzwangs mit rechtsvergleichenden Betrachtungen einzukreisen. Er stellt das Anwendungsgebiet der Wahlpflicht dar, das sich im wesentlichen auf Belgien und einige wegen ihrer Größe nicht vergleichbare Schweizer Kantone beschränke. Brauchbares statistisches Material über deren Wirkungen sei nicht vorhanden, so daß sich hieraus auch kein Argument für ihre Einführung ziehen lasse106. Wolle man sinnvollerweise keine lex imperfecta 101, so tauchten nicht zu bewältigende Schwierigkeiten bei der praktischen Durchführung des Wahlzwangs auf 108 . Bei der Untersuchung der Rechtfertigungsgründe eines Stimmzwangs unterscheidet Triepel zwei verschiedene Standpunkte, einen mehr theoretischen und einen eher praktisch-politischen. Die einen meinen, so Triepel, eine Wahl solle den Volkswillen möglichst unverfälscht abbilden und die Volksvertretung ein getreues Abbild des Volkes in allen seinen politischen Schattierungen sein, was nur bei einer allseitigen Wahlbeteiligung zu erreichen sei. Zunächst, so wendet Triepel ein, sei es mindestens „eine starke Übertreibung, wenn man die Wahl als Ausdruck des ,Volkswillens' bezeichnet. Der Aberglaube an die Wunderkraft des Rechenexempels, das mit der Feststellung der Majorität einer Zahl von Stimmen einen Volkswillen hervorzaubert und zwar den Willen eines Volkes, von dem die 102

Huber III, S. 864 m. w. N.; ebenso noch C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 254. Wahlrecht und Wahlpflicht, S. 10. Ausführlich Triepel, ZfP 1911, S. 602; hiergegen G. Jellinek, S. 422 Fn. 1 m. w. N. zum damaligen Meinungsstand. 104 Wahlrecht und Wahlpflicht, S. 10. 105 Wahlrecht und Wahlpflicht, S. 11. 106 Wahlrecht und Wahlpflicht, S. 12-23. 107 „Ohne Stimmzwang wäre das neue Gebot ein Schwert ohne Klinge.", Wahlrecht und Wahlpflicht, S. 23. 103

108

Wahlrecht und Wahlpflicht, S. 23-30.

8. Kap.: Öffentliches Recht und Methodik

215

Frauen, Kinder, Soldaten und andere mehr gar nicht stimmen dürfen, - dieser Aberglaube ist ja so alt, aber darum nicht weniger ein Aberglaube." 109 Nicht nur halbwahr, sondern völlig unrichtig sei die namentlich von Mirabeau vertretene Spiegeltheorie, der zufolge das Parlament für die Nation dasselbe sein müsse wie eine Karte für die Verhältnisse des Landes. Wolle man dies wirklich, so müßte man permanent das Parlament neu wählen und das imperative Mandat oder Referenden einführen 110 . Zudem sei „das Ideal der Volksvertretung nicht das Parlament, das ein getreues Abbild der Zerrissenheit des Volkes in unversöhnliche Parteien gewährt, sondern das Parlament, das aus den Kundigsten, Ehrlichsten und Fähigsten des Volkes bestehend das für das Volksganze Beste unabhängig nach oben und unten zu erreichen imstande ist." 111 Mit diesem Leitbild einer elitären Honoratiorendemokratie befindet sich Triepel trotz oder wegen der schon damals ansatzweise von Weltanschauungs- und Interessentenparteien geprägten Verfassungswirklichkeit noch ganz in der Traditionslinie der älteren liberal-repräsentativen Theorie, hinter der die Hypothese von der möglichen politischen Einheit des Volkes und des Volkswillens stand112. Diese liberal-aristokratische Grundauffassung vom Wesen des Parlamentarismus sollte für ihn bestimmend bleiben 113 . Die andere von Triepel apostrophierte Gruppe der Befürworter eines Stimmzwangs argumentierte, dessen Einfuhrung würde zu einer Schwächung der radikalen Parteien führen. Dies sei aber, so Triepel, keineswegs empirisch gesichert, sondern eine Rechnung mit unbekannten Größen. Selbst wenn dies aber der Fall wäre, ginge es nicht an, den Staat in die Rolle eines Zutreibers für eine Partei hineinzudrängen: „Niemals darf sich der Staat zum Büttel einer Partei erniedrigen." 114 Sich des Wahlrechts zu bedienen, kann für Triepel demnach nicht eine rechtliche, sondern allenfalls eine sittliche Pflicht bedeuten115. Dieser sittliche Imperativ „stützt sich einfach auf die Erwägung, daß das Ganze unheilbaren Schaden nehmen würde, wenn alle so handeln wollten wie die ständigen Wahlschwänzer." 116 Daneben gibt es aber auch zahlreiche Fälle, wo eine Wahlenthaltung nicht nur erlaubt, sondern sogar sittlich gefordert ist. Warum, so fragt 109

611.

Wahlrecht und Wahlpflicht, S. 31 f.; kritisch hierzu Gageur, AöR 16 (1901), S.

1.0

Wahlrecht und Wahlpflicht, S. 33 f. Wahlrecht und Wahlpflicht, S. 34. 1.2 Nipperdey, Grundzüge, S. 282. 113 Hollerbach, AöR 91 (1966), S. 436; näher unten VI. 1. bis 3. 114 Wahlrecht und Wahlpflicht, S. 36. 1.5 Ebenso Triepel, ZfP 1911, S. 602: „Das Dogma von der Wahlpflicht beruht... auf der handgreiflichen Verwechslung eines sittlichen Gedankens mit einer rechtlichen Vorschrift." 1.1

1.6

Wahlrecht und Wahlpflicht, S. 36 f.

216

Zweiter Teil: Werk

Triepel, sollte man den Wähler etwa bei Stichwahlen in einem Wahlkreis dazu nötigen, gegen seine Meinung oder für einen Dritten zu stimmen und damit eine verwerfliche oder unnütze und überflüssige Handlung vorzunehmen 117. Diese Ausnahmen seien so geartet, daß es keinem Gesetzgeber gelingen könne, sie tatbestandlich abzugrenzen 118. Denn die NichtWähler seien sehr heterogen zusammengesetzt. Triepel nennt etwa die Gruppe der Bequemen und Gleichgültigen. „Andere Leute aber - und das sind nicht immer die Schlechtesten im Staate - wählen nicht, weil sie das Parteitreiben anekelt" 119 . In solchen Fällen habe eine erzwungene Stimmabgabe keinen Wert. Auch könne man, so meint Triepel, „ein aufrichtiger Freund des allgemeinen Wahlrechts sein, - und ich bin allerdings davon überzeugt, daß wir es heute unbedingt brauchen, - aber es gehört doch schon eine Art Fanantismus dazu, um zu verlangen, daß jeder Schwachkopf wählen muß."120 Demnach verlangt nicht nur die individualrechtliche, sondern gerade auch die öffentlich-rechtliche Komponente des Wahlrechts, daß der Wähler sich frei entscheiden kann. Die Freiheit, nicht zu wählen, gehört für Triepel daher zum öffentlichen Status des Wahlrechts eines freiheitlichen Staates121. Die Einführung von Wahlpflicht und Stimmzwang, so resümiert Triepel, würde „ein Sprung ins dunkle" sein 122 . Sinnvoller sei es, das Übel der Wahlenthaltungen, soweit es sich um ein solches handele, an der Wurzel zu greifen und für eine „planmäßige politische Erziehung der Massen, auf denen das Wahlrecht nun einmal" ruhe, zu sorgen. Diese Erziehung habe vor allem zu lehren, „daß nicht das Recht des Bürgers gegen den Staat das wichtigste ist, sondern seine Pßicht zur Mitarbeit am Staate und an der Gemeinde, auch wenn von solcher Pflicht in keinem geschriebenen Gesetze etwas zu lesen ist." 123

4. Der Streit um die Thronfolge

im Fürstentum Lippe (1903)

Der lippische Thronfolgestreit 124 hat nach dem Urteil von Gerhard Anschütz, der an ihm selbst als Gutachter beteiligt war, anderthalb Jahrzehnte lang bis zu seiner schiedsgerichtlichen Erledigung im Jahre 1905 „eine ganze Schar deut117

Wahlrecht und Wahlpflicht, S. 38 f. Wahlrecht und Wahlpflicht, S. 37. 1.9 Wahlrecht und Wahlpflicht, S. 39. 120 Wahlrecht und Wahlpflicht, S. 38. 121 Ebenso Huber III, S. 865 f., unter Bezugnahme auf Triepel. 122 Wahlrecht und Wahlpflicht, S. 39. 123 Wahlrecht und Wahlpflicht, S. 40; ausdrücklich zustimmend, Ν. N., Literarisches Centraiblatt 1900, Sp. 1528. 124 Vgl. hierzu umfassend Reichold ( 1967); Bartels-Ishikawa (1995); Übersichten bei Fehrenbach, S. 337-355, Kittel, S. 234-246 und Huber IV, S. 433^36. 1.8

8. Kap.: Öffentliches Recht und Methodik

217

scher Staatsrechtslehrer und anderer Rechtsgelehrter, auch Genealogen, intensiv beschäftigt und damals viel Staub - keineswegs nur Aktenstaub - aufgewirbelt" 125 . Unter den Namen der Protagonisten befanden sich, wie Triepel feststellt, „solche von bestem Klang" 1 2 6 : u. a. Adolf Arndt, Karl Binding, Georg Jellinek, Wilhelm Kahl, Josef Kohler, Paul Laband, Franz von Liszt, Georg Meyer, Hermann Rehm, Walther Schücking, Max von Seydel, Felix Stoerk, Philipp Zorn. So entstand zur „Lippischen Frage" eine ganze Spezialliteratur 127, die schon für die Zeitgenossen „schwer überschaubar" war 128 . Triepel selbst hat diese „cause célèbre des deutschen Staatsrechts" 129 nicht nur im „Tübinger Staatswissenschaftlichen Seminar" von seinen Studenten bearbeiten lassen130, sondern ihr gleich zwei Monographien gewidmet 131 . 1903 erschien die Abhandlung „Der Streit um die Thronfolge im Fürstentum Lippe", die als umfassende Erwiderung auf die im selben Jahr erschienene Studie Felix Stoerks über „Die agnatische Thronfolge im Fürstentum Lippe" gedacht war. Ende 1904 meldete sich Triepel noch einmal mit einer - wesentlich kürzeren - Untersuchung über „Die Tragweite des Schiedsspruchs vom 22. Juni 1897" zu Wort, um sich mit einigen Einwänden gegen seine Thesen auseinanderzusetzen. Der Thronfolgestreit im deutschen Miniaturfürstentum Lippe, eines „Froschmäuselerkriegs", wie ihn ein klassisch gebildeter Diplomat der damaligen Zeit genannt hatte 132 , bewegte deshalb alle kompetenten Staatsrechtler des Reichs, die Öffentlichkeit, die Regierungen und Gerichte, weil sich in ihm die spezifischen Verfassungsprobleme der Wilhelminischen Zeit fokussierten. Das „persönliche Regiment" Wilhelms II. hatte die unitarischen Tendenzen verschärft, so daß latente Spannungen zwischen Kaiser und Bundesfürsten auf der einen und Kaiser und Reichstag auf der anderen Seite beinahe unvermeidlich waren. Die monarchische Solidarität und die Furcht vor einer Demokratisierung im Reich verhinderten jedoch eine gemeinsame Kritik von Reichstag und Bundesrat an den cäsaristisch-unitarischen Ambitionen Wilhelms II., so daß der lippische Thronfolgestreit eine relativ unverfängliche Gelegenheit für Stellungnahmen und Grundsatzentscheidungen bot, sei es im föderalistischen oder unitarischen, im konservativ-monarchischen oder im liberal-demokratischen Sinn. Im Zentrum der „Lippischen Frage" stand der bundesstaatliche Anspruch, die Erbfolge eines Gliedstaates zu regeln, wobei ihr der Umstand, daß einer der Haupt125

Anschütz, Leben, S. 91. Lippe, S. 2. 127 Vgl. die Literaturangaben bei Huber IV, S. 421 f.; Bartels-Ishikawa, S. XIII ff. 128 Triepel, Lippe, S. 2. 129 Triepel, Lippe, S. 2. 130 Vgl. Triepel, Lippe, S. III. 131 Eine erste kursorische Anmerkung zu dieser Frage findet sich schon in „Völkerrecht und Landesrecht", S. 287 Fn. 3. 126

132

Reichold, S. III.

Zweiter Teil: Werk

218

Protagonisten, Prinz Adolf von Lippe-Schaumburg, ein Schwager Wilhelms II. war, eine hohe machtpolitische Brisanz verlieh 133. Folgt man der „meisterhaft knappen Darstellung" Triepels 134 , so bestand die konkrete Kernfrage des lippischen Thronfolgestreits darin, ob beim zu erwartenden Erlöschen der regierenden Hauptlinie Lippe-Detmold das Haus LippeBiesterfeld, das Haus Lippe-Weißenfeld oder das Haus Schaumburg-Lippe 135 erbberechtigt sei. Eigentlich war die Biesterfelder Linie zur Erbfolge berufen, doch erschien ihre Ebenbürtigkeit zweifelhaft. Denn ein Vorfahr der Biesterfelder Grafen hatte sich im Jahre 1803 mit einer Modeste von Unruh verheiratet, deren Vater Karl Philipp von Unruh nicht dem Hochadel angehörte 136. Der letzte Fürst von Lippe-Detmold erkannte daher dem jüngsten Sohn des Fürsten von Schaumburg-Lippe, Adolf von Schaumburg-Lippe, das Sukzessionsrecht nach dem Erlöschen der Hauptlinie zu. Nach dessen Tod im Jahre 1895 trat Prinz Adolf von Schaumburg-Lippe dementsprechend auch die Regentschaft an, mußte aber infolge der Entscheidung eines im Rahmen von Art. 76 Abs. 1 BRV eingesetzten und landesgesetzlich sanktionierten Schiedsgerichts, mit der die Ebenbürtigkeit anerkannt wurde, schon 1897 die Regentschaft wieder niederlegen, so daß an seine Stelle Graf Ernst zu Lippe-Biesterfeld treten konnte 137 . „Damit schien der in mehrfacher Hinsicht unerfreuliche Handel erledigt zu sein. Aber es schien eben nur so. Denn alsbald trat der Streit in ein zweites Stadium" m Die Schaumburgische Partei und ihre literarischen Wortführer behaupteten nämlich, der erwähnte Dresdener Schiedsspruchs hätte nur das Erbfolgerecht des Grafen Ernst, nicht aber das seiner Nachkommen anerkannt 139. Als ein lippischer Gesetzentwurf diese Frage zugunsten der Biesterfelder Linie klären sollte, rief Prinz Adolf den Bundesrat an, der durch Zwischenbescheid vom 24. März 1898 verbot, das Gesetzgebungsverfahren während des noch schwebenden Thronfolgestreits weiterzubetreiben. Damit gelangte der Konflikt auf seinen Höhepunkt. Umstritten war besonders die Frage der Zuständigkeit des Bundesrats 140. Schließlich erging der „offenbar auf einem Kompromiß beruhende Bundesratsbeschluß vom 5. Januar 1899" 141 , dem zufolge der Bundes-

133 134

135

Fehrenbach, S. 338 f. Reicholdy S. 1.

Vgl. die genealogische Übersicht bei Triepel, Lippe, S. 121-125. Triepel, Lippe, S. 2. 137 Triepel, Lippe, S. 3-5. 138 Triepel, Lippe, S. 5. 139 Huber IV, S. 435, stellt diese bloße Rechtsmeinung fälschlich als unbestritten dar. 140 Vgl. zu diesen, die Auslegung von Art. 76 BRV betreffenden Fragen eingehend Triepel, Kompetenzen, S. 329-334. 141 Triepel, Lippe, S. 7. 136

8. Kap.: Öffentliches Recht und Methodik

219

rat zuständig sei, aber zur Zeit kein hinreichender Anlaß für eine Entscheidung gegeben sei. Als dritte Phase des Konflikts bezeichnet Triepel eine gerichtlich geführte Auseinandersetzung zwischen den Linien Lippe-Weißenfeld und Lippe-Biesterfeld, in der um den Bezug der „Lippischen Rente" sowie um die Zugehörigkeit des Grafregenten Ernst zum Lippischen Hause gestritten wurde 142 . Die in den Rentenprozessen erlittene Niederlage der Biesterfelder Linie versuchte Felix Stoerk dahin auszudeuten, daß damit auch das Sukzessionsrecht der ältesten erbherrlichen Linie ausgeschlossen sei 143 . Triepel erblickt „in dieser These eine unzulässige und unbegründete Übertreibung der in Wirklichkeit sehr beschränkten Tragweite jener Entscheidungen"144. Namentlich habe Stoerk, wie Triepel in einer subtilen zivilprozessualen Analyse nachzuweisen versucht, die objektiven und subjektiven Grenzen der Rechtskraft dieser Feststellungsurteile verkannt 145 . Die weitere Behauptung Stoerks, beide gräflichen Nebenlinien seien wegen des dem deutschen Hochadelsrecht eigentümlichen Instituts der „Entsippung" schon längst aus der landesherrlichen Familie ausgeschieden146, hält Triepel ebenfalls für verfehlt 147 . Nach Ansicht seines Rezensenten Walther Schücking „beweist" er, daß nach geltendem Recht weder stillschweigender Verzicht der Agnaten, noch Nichtgebrauch der Familienstellung, noch Mißachtung hausrechtlicher Satzungen die Verwirkung der Familienrechte nach sich ziehen kann 148 . Der von Stoerk ferner vertretenen Auffassung, der Dresdener Schiedsspruch sei in seiner Wirkung auf die Person des Grafregenten beschränkt 149, setzt Triepel die These entgegen, „daß Schiedsspruch und Landesgesetz den Streit über das Thronfolgerecht der drei Linien endgültig und mit Wirkung über die Person des Grafregenten hinaus entschieden haben." 150 Damit ist zunächst gesagt, daß der Einzelstaat selbst - und nicht etwa der Bundesrat - für die Lösung von Thronfolgestreitigkeiten zuständig sein soll. Später hat Triepel diese Auffassung für den Fall modifiziert, daß der Einzelstaat hierzu nicht (mehr) in der Lage ist; der Bundesrat könne auf der Grundlage einer analogen Anwendung 142

Lippe, S. 7 f. Stoerk, S. 24-45. 144 Lippe, S. 9. 145 Lippe, S. 14-59. Rezensent Walther Schücking, Juristisches Literaturblatt 1905, S. 4, hält diesen Nachweis für „fraglos gelungen". 146 Stoerk, S. 45-78. 147 Lippe, S. 60-87. 148 Schücking, Juristisches Literaturblatt 1905, S. 5. 149 Stoerk, S. 11-23. 150 Lippe, S. 10, 97-112; vgl. dazu auch Triepels Zusammenfassung, Tragweite, S. 2-4. 143

220

Zweiter Teil: Werk

von Art. 76 Abs. 2 RV Thronfolgestreitigkeiten schlichten, wenn sämtliche innerstaatlichen Lösungsversuche fehlschlügen 151. De constitutione ferenda wollte er Thronfolge- und Regentschaftsstreitigkeiten freilich einem zu errichtenden Staatsgerichtshof überlassen 152. Wichtiger noch ist die eindeutig antilegitimistische Stoßrichtung von Triepels These. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf seinen Lehrer Karl Binding betont er die Freiheit des Gesetzgebers, die Thronfolge zu ändern; wohlerworbene Rechte der Agnaten bilden für ihn deshalb keine Schranke, weil der Staat berechtigt sei, jederzeit zu ändern und die staatliche Gesetzgebung gegenüber jedermann verbindlich sei 153 . In diesem Zusammenhang macht Triepel deutlich, daß die überkommene Auffassung vom Monarchen als Eigentümer des Staates 154 obsolet geworden sei, und betont mit unmißverständlichen Worten den Vorrang der Staatsräson vor Fürstenrecht 155: „Land und Leute sind heutigen Tages keine Objekte mehr für fürstliche Verträge. Der Staat ist nicht Gegenstand monarchischen Rechts, sondern er ist auf sich selbst ruhender korporativer Rechtsverband, in dem sich der Fürst als bevorrechtigtes Glied des Ganzen befindet." 156 Triepels unzweideutige Ablehnung patrimonialstaatlichen Denkens hatte auch prozessuale Konsequenzen: Da die Mitgliedschaft im fürstlichen Haus ein öffentlich-rechtlicher Status sei, komme entgegen der Ansicht Stoerks insoweit der Zivilrechtsweg nicht in Betracht, und zwar selbst dann, selbst wenn man die Entscheidung dieser Frage als präjudiziell für die Beurteilung der Rentenansprüche erachte 157. Triepel hat sich mit seiner Kritik an Stoerk als einer der Wortführer der jüngeren Staatsrechtslehrergeneration profiliert. Er selbst vermerkt wohl nicht ohne gewisse Genugtuung, Gerhard Anschütz habe in seiner 1904 erschienenen Monographie „Der Fall Friesenhausen" die zentralen Ausführungen seiner ersten Abhandlung zur Lippischen Frage „in vollem Umfange und ohne Abschwächung" rezipiert 158 . Das verwundert insofern wenig, als Triepel nach Ansicht eines anonym gebliebenen Rezensenten mit der Stoerkschen Schrift gründlich aufgeräumt hat 159 . Auch Walther Schücking, der sich in seiner Abhandlung „Der Staat und die Agnaten" von 1902 ebenfalls als Vertreter der 151 152 153

Kompetenzen, S. 330 f.; vgl. dazu im einzelnen Bartels-Ishikawa, Reichsaufsicht, S. 703 f.; vgl. auch Bartels-Ishikawa, S. 201. Lippe, S. 109-112.

154

Vgl. nur G. Jellinek, S. 671 m. w. N.

155

Vgl. auch Reichold, S. 68 f.; Bartels-Ishikawa, Lippe, S. 107. Lippe, S. 89-97. Tragweite, S. 4. Ν. N., Literarisches Centraiblatt 1903, Sp. 1078.

156 157 158 159

S. 62.

S. 197-201.

8. Kap.: Öffentliches Recht und Methodik

221

modernen Staatsidee präsentiert hat 160 , folgt in seiner Sammelbesprechung Triepels Kritik an Stoerk 161 und fragt sich, wie dieser „seinen nicht ohne Grund sehr geachteten Namen mit so viel Geist und solchem Reichtum an Ideen für so unmögliche Schlußfolgerungen einsetzen, wie seine Arbeit sie bringt. Diese Frage wird im vorliegenden Fall um so rätselhafter, als es sich bei Stoerk' s Untersuchung, nach dem Vorwort zu schließen, keineswegs um ein Parteigutachten handelt." 162 Wissenschaftliche Unabhängigkeit hat auch Triepel fur sich in Anspruch genommen163, was ihn aber nicht daran hinderte, kurz nach der Veröffentlichung seiner Streitschrift das Lippische Ehrenkreuz 2. Klasse in Empfang zu nehmen164. Da ihm 1907 noch ein weiterer lippischer Orden in Anerkennung seiner wissenschaftlichen Verdienste verliehen wurde 165 , ist im übrigen zu vermuten, daß Triepel seine Schrift über „Die Tragweite des Schiedsspruchs vom 22. Juni 1897" im Auftrag des am 26. September 1904 verstorbenen Grafregenten Ernst oder seines Sohnes Leopold gefertigt hat. Wie dem auch sei, die Entscheidung des Schiedsgerichts vom 25. Oktober 1905, mit der das Erbfolgerecht der Linie Biesterfeld auch zugunsten der Nachkommen des Grafen Ernst anerkannt wurde 166 , fiel schließlich ganz im Sinne Triepels und seiner Mitstreiter 167 aus. Weit größere Bedeutung als dem Ausgang des Thronfolgestreits kommt freilich dem Umstand zu, daß nach dessen Ende legitimistische Positionen, die im übrigen eigentlich schon längst als überwunden gegolten hatten 168 , nicht mehr weiter diskursfähig waren. Damit hatte sich die moderne Auffassung vom Staat als juristische Person in der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs endgültig durchgesetzt 169. Triepel gebührt das Verdienst, diese Entwicklung gefördert und beschleunigt zu haben.

160

Näher Bartels-Ishikawa, S. 201-203. Triepel weist seinerseits auf seine prinzipielle Obereinstimmung mit Schücking hin, vgl. Lippe, S. 110. 162 Schücking, Juristisches Literaturblatt 1905, S. 1. Das Motiv Stoerks und der anderen neuen Legitimisten, die das dynastisch-adelige Element in der Staatsverfassung betonten, lag wohl in der Befürchtung, daß das „deutsche Monarchenrecht in planlose Zerrüttung" geriete, wenn den Agnaten kein Zustimmungsrecht in Thronfolgeangelegenheiten eingeräumt würde, Stoerk, S. 9; vgl. näher Bartels-Ishikawa, S. 112 f. 163 Lippe, S. IV. 164 UAT 126/693, Bl. 17. 165 Vgl. näher oben 4. Kap. 161

166

167

Huber IV, S. 436; Bartels-Ishikawa,

S. 35.

Neben den Genannten sind dies u. a. Georg Meyer, Franz v. Liszt, Kurt Pereis und Max v. Seydel. 168 Triepel, Lippe, S. 110 f.; ebenso Bartels-Ishikawa, S. 98 f. 169 Näher Bartels-Ishikawa, S. 98 f., 267 und passim.

222

Zweiter Teil: Werk

II. Triepels Kritik des staatsrechtlichen Positivismus Triepel hat, wie im folgenden nachgewiesen werden soll, einen maßgeblichen und richtungweisenden Beitrag zur Überwindung des staatsrechtlichen Positivismus geleistet. Diese These bedarf vorab in doppelter Hinsicht der Präzisierung. Erstens ist klarzustellen, daß, wenn hier in Anlehnung an die zeitgenössische Literatur von „Überwindung" die Rede ist, damit keine unreflektierte Fortschrittsthese insinuiert wird. Dieser Begriff wird vielmehr ohne deterministische Konnotation verwendet 170 . Zweitens gilt es offenzulegen, wie die schillernde und keineswegs einheitlich begriffene Kategorie „staatsrechtlicher Positivismus" zu definieren ist. Hierunter soll im folgenden diejenige Spielart des „rechtswissenschaftlichen Positivismus" verstanden werden, die Franz Wieakker zufolge, „die Rechtssätze und ihre Anwendung ausschließlich aus System, Begriffen und Lehrsätzen der Rechtswissenschaft ableitet, ohne außerjuristischen ... Wertungen und Zwecken rechtserzeugende oder rechtsändernde Kraft zuzugestehen."171 Über die Ablehnung solcher methodischer Engfuhrungen scheint man sich in der heutigen deutschen Staatsrechtslehre weitgehend einig zu sein. Doch angesichts der seit Beginn der achtziger Jahre national wie international wieder aufgeflammten Rechtspositivismusdebatte172, die naturgemäß auch und gerade das Staats- und Verfassungsrecht betrifft 173 , könnte man vielleicht versucht sein, die Feststellung Werner Heuns, in Staatslehre und Staatsrechtsdogmatik gehöre die Einbeziehung politischer, historischer, soziologischer und philosophischer Elemente in die Erkenntnisfindung zum gängigen hermeneutischen Handwerkszeug 174, in Zweifel zu ziehen. Indes läßt sich schwerlich leugnen, daß sich ein antipositivistisches Methodenverständnis trotz mancher „positivistischer Reprisen" 175 sowohl in der deutschen Lehre wie auch vor allem in der 170 Vgl. auch die erhellenden Anmerkungen von Michael Stolleis III, S. 39, zum Begriff „Entwicklung" in der Rechtswissenschaft. 171 Wieacker, S. 431. Der Vorschlag Fr. Wieackers, S. 432, diesen y yPositivismus der Normbehandlung", s. Fr. Müller, S. 74 Rn. 76, als Juristischen Formalismus" zu kennzeichnen und ihn dadurch begrifflich vom Rechts- und Gesetzespositivismus abzuschichten, hat sich bisher nicht allgemein durchgesetzt, vgl. nur Larenz, S. 36 f.; zustimmend aber Ott, S. 116. 172 Einen guten Überblick zum Stand der Diskussion bietet der Sammelband „Rechtspositivismus und Wertbezug des Rechts" (= ARSP Beiheft 37 [1990]). 173 So wird beispielsweise von Robbers, ARSP Beiheft 37 (1990), S. 162, die nicht nur rhetorisch gemeinte Frage eines Bedürfnisses nach einer „Rückbesinnung auf Paul Laband" aufgeworfen; vgl. auch Gusy, JZ 1989, S. 505-517. 174 Heun, Der Staat 1989, S. 403. 175 Ausdruck von Friedrich, Positivismus,S. 13. Die letzte wirklich bedeutende „Reprise" bildete Ernst Forsthojfs „aufrüttelnder Aufsatz", Hollerbach, AöR 85 (1960), S. 241, in der Festschrift fur Carl Schmitt (1959), S. 35-62. Forsthoff, Festschrift für Carl Schmitt (1959), S. 39, sah in der Überwindung des Positivismus die „Preisgabe der

8. Kap.: Öffentliches Recht und Methodik

223

verfassungsgerichtlichen Praxis 176 durchgesetzt hat. Eine konsequent positivistische Methodenlehre wird heute kaum mehr vertreten 177 . Triepels Beitrag zu diesem grundlegenden Paradigmenwechsel (Thomas S. Kuhn) kann nur vor der Folie des von ihm vielfach und vielfältig attackierten Gerber-Labandschen Positivismus präzise vermessen und hinreichend gewürdigt werden.

1. Der wissenschaftsgeschichtliche

Hintergrund

Hier ist freilich nicht der Ort, den Methodenwandel in der deutschen Staatsrechtslehre angefangen vom Spätkonstitutionalismus bis hin zur Weimarer Zeit im Detail nachzuzeichnen. Angesichts dessen, daß zu diesem Thema inzwischen eine Fülle gelungener wissenschaftsgeschichtlicher Studien vorliegt 178 , kann sich die folgende Darstellung zur Vermeidung allfälliger Wiederholungen auf einige unabdingbare Pinselstriche beschränken. Triepel selbst ist es, der in seiner berühmten Rektoratsrede über „Staatsrecht und Politik" (1926) der Frage nachgeht, auf welchen „geschichtlichen, namentlich geistesgeschichtlichen Grundlagen die konstruktive Jurisprudenz" der Gerber-Labandschen Schule beruht 179 . Er stellt fest, daß man sich hierbei nicht einig sei und untersucht in der Folge die divergierenden Erklärungsansätze. Die Ansicht, „die Verdrängung der politisierenden Methode des Staatsrechts durch die konstruktive Richtung" erkläre sich aus der „Periode verfassungspolitischer Ruhe" nach der Reichsgründung, trifft Triepel zufolge „sicher bis zu gewissem Grade zu", würde aber „doch eben nur das Staatsrecht angehen" 180 . Ebenfalls nicht richtig oder nur „halb richtig" sind fur ihn die Meinungen, die diese Ent-

Positivität des Rechts überhaupt" und wolle deshalb die Auslegung der Verfassung unter Ausschluß außerjuristischer Wertungen lediglich durch „Ermittlung der richtigen Subsumtion im Sinne des syllogistischen Schlusses" geleistet sehen, ebd., S 41. 176 Vgl. hierzu die treffliche Analyse Fr. Müllers, S. 37-68, Rn. 23-67 und passim. 177 Dies wird allgemein so gesehen, vgl. nur Koch, S. 61; Fr. Müller, S. 74, Rn. 75; Neumann, ARSP Beiheft 37 (1990), S. 141; Sterzel, S. 355. 178 Vgl. zum Ganzen vor allem die Monographien von Wilhelm (1958) und Pauly (1993); vgl. ferner Badura, S. 83-97; Barsch, S. 43-71; E.-W. Böckenförde, Gesetz, S. 206-220, 226-242; ders., Forschung, S. 74-98, 147-209 und passim; ders., Historische Rechtschule, S. 9-36; Haverkate, S. 96-129; Landsberg, S. 186-253, 438-461; 778833; Larenz, S. 11-81; Oertzen, Soziale Funktion, S. 249-280; ders., C. F. v. Gerber, S. 183-208; Riebschläger, S. 14-25; Rosenbaum, S. 47-63; St. Graf Vitzthum, S. 92-120; Wieacker, S. 348-458; Wyduckel, S. 257-299; Zorn, JöR 1907, S. 47-81; knappe Übersichten bei Geis, JuS 1989, S. 91-93; Koch, S. 61-63; Fr. Müller, S. 64-77, Rn. 77-83; Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, S. 7 f., 32-35; Rath, S. 52-55; Rehm, S. 260-262. 179 Staatsrecht und Politik, S. 23. 180

Staatsrecht und Politik, S. 23 f.

Zweiter Teil: Werk

224

wicklung auf den Einfluß Hegels oder die Auswirkungen der Historischen Rechtsschule zurückfuhren 181. Hegels Begriffsbildungen hätten teilweise eine gewisse Rolle in der positivistisch" geprägten Staatsrechtslehre gespielt, seine Konstruktion fuhrt Triepel zufolge aber über das Recht hinaus und dient nicht der begrifflichen Systematik des Rechts selbst182. Im übrigen habe die konstruktive Jurisprudenz die Vorliebe für das System und den Glauben an die Lückenlosigkeit des Systems nicht nur mit Hegel, sondern mit der ganzen idealistischen Philosophie gemein 183 . Mit Blick auf die Genesis der konstruktiven Methode weist Triepel ferner darauf hin, „daß es konstruierende Juristen längst vor der historischen Rechtsschule und längst vor Hegel" gegeben habe 184 . Was nun die Grundgedanken der Historischen Schule anbelange, so führten sie „nicht zur konstruktiven Methode hin, sondern von ihr hinweg." 185 So verwundert es Triepel zufolge nicht, daß deren konsequenteste Vertreter „ausgesprochene Gegner der Konstruktion" waren. Andererseits „mag es stimmen, daß der quietistische Zug, der der historischen Rechtsschule anhaftete, eine Abneigung wenigstens gegen politisches Raisonnement ... im Gefolge gehabt hat. Und die Hauptvertreter der antipolitischen Richtung im Staatsrechte, Gerber und Laband, kamen ja von der historischen Schule her. Allein sie waren doch schon einigermaßen entartete Kinder der großen Mutter." 186 Stephan Graf Vitzthum möchte die letztere Beurteilung Triepels im Lichte neuerer Untersuchungen 187 dahin revidiert sehen, „daß diese beiden Wortführer des staatsrechtlichen Positivismus weniger entartete, als vielmehr besonders wohlgeratene Kinder dieser großen Mutter und der von ihr eingeleiteten Trennung von Recht und sozialer Wirklichkeit, von Staatsrecht und Politik gewesen sind." 188 Wie der Textzusammenhang deutlich macht, bestreitet Triepel mit seiner „Entartungs"-Metapher indes gerade nicht die skizzierten geistesgeschichtlichen Zusammenhänge189, sondern will nur darauf verweisen, daß sich die Gerber-Labandsche-Schule in besonderem Maße an dem später von Philipp 181

Staatsrecht und Politik, S. 24. Staatsrecht und Politik, S. 26 f. 183 Staatsrecht und Politik, S. 27 f. 184 Staatsrecht und Politik, S. 28. Schon die römischen Juristen hätten „das Bedürfnis nach innerer Ordnung des Rechtsstoffs empfunden und befriedigt", ebd. „Gemeinsam haben alle Spielarten der Konstruktionsjurisprudenz nur eine gedankliche Grundlage. Es ist... eine juristische Berufsanschauung.", ebd., S. 30. 185 Staatsrecht und Politik, S. 25. 186 Staatsrecht und Politik, S. 25. 187 Vor allem E.-W. Böckenförde, Forschung, S. 74-209; ders., Historische Rechtsschule, S. 10-15; Wilhelm (1958). 182

188

189

St. Graf Vitzthum, S. 92.

Nicht zuletzt durch Triepels Hinweise sah Walter Wilhelm, S. 15, den Gang seiner Untersuchung „in einigen Zügen bereits vorgezeichnet".

8. Kap.: Öffentliches Recht und Methodik

225

Heck als „Inversionsmethode" 190 getadelten Verfahren der Begriffsjurisprudenz Puchtascher Prägung orientiert 191 . Nach der klassischen, aber wenig präzisen Definition Rudolf v. Iherings ist mit dem Ausdruck „Begriffsjurisprudenz" , jene Verirrung unserer heutigen Jurisprudenz gemeint, welche, den praktischen Endzweck und die Bedürfnisse der Anwendbarkeit des Rechts außer acht lassend, in derselben nur einen Gegenstand erblickt, an dem das sich selber überlassene, seinen Reiz und Zweck in sich selber tragende logische Denken sich erproben kann" 192 . Georg Friedrich Puchta gilt als Begründer dieser Auffassung. Er ging insofern über seinen Lehrer Friedrich Carl v. Savigny, den Hauptprotagonisten der Historischen Rechtsschule, hinaus, als er ein wissenschaftliches Recht anerkennt, das erst als Ergebnis wissenschaftlicher Produktion entsteht193, also nicht erst von den als Organ des Volksgeistes fungierenden Juristen ausgesprochen wird. Damit ist wissenschaftliche Rechtserzeugung allein durch abstrakte Begriffskonstruktionen möglich. In erkennbarer Anknüpfung an die Philosophie Hegels werden Rechtsbegriffe zu selbständigen intellektuellen Existenzen hypostasiert: „Jeder dieser Begriffe ist ein lebendiges Wesen, nicht ein todtes Werkzeug" 194 . Die Aufgabe juristischer Dogmatik besteht für Puchta darin, aus den einzelnen Rechtssätzen eines „logischen Systems" eine „Begriffspyramide" 195 zu filtern, so daß der Jurist die „Genealogie der Begriffe", d. h. „die Abstammung eines jeden Begriffs durch alle Mittelglieder, die an seiner Bildung Antheil haben, auf und abwärts zu verfolgen vermag." 196 Eine wertende Rechtsbetrachtung soll nicht stattfinden 197. Die Legitimität der Auslegung eines Rechtssatzes bestimmt sich vielmehr ausschließlich nach ihrer begrifflich-systematischen Richtigkeit 198 . Es ist dieser Definitions- und Begriffsontologismus, der die fünf Charakteristika der begriffsjuristischen Methodenlehre, nämlich das positivistische199 Schibboleth von der Lückenlosigkeit des Gesetzes (Gesetzespositivis-

190

Triepel, Staatsrecht und Politik, S. 23, nennt dieses Vorgehen „lückenfullende Konstruktion". 191 Vgl. den Hinweis von Triepel, Staatsrecht und Politik, S. 26, daß Gerber „bezeichnenderweise Puchta, nicht Savigny seinen Meister nannte". 192 Rudolf v. Ihering, Scherz und Ernst, S. 347; vgl. hierzu näher Bucher, S. 359-389; Edelmann, S. 26-35; Muscheler, S. 86-91. 193 Puchta, Institutionen, I, S. 36; Wieacker, S. 401. 194 Puchta, Institutionen, I, S. 101; vgl. hierzu näher Wilhelm, S. 83. 195

Larenz, S. 21.

196

Puchta, Institutionen, I, S. 101.

197

Edelmann, S. 35. Wieacker, S. 401.

198

199 Allerdings wäre es unzutreffend, Begriffsjurisprudenz schlechthin mit Positivismus gleichzusetzen, da sie nicht generell, namentlich nicht bei Friedrich Puchta, der rechtsphilosophischen Grundlage entbehrt, vgl. Larenz, S. 22 Fn. 8. 15 Gassner

Zweiter Teil: Werk

226

mus) bzw. des Rechts (Rechtspositivismus) 200 , das Dogma von der universalen Logizität des Rechts, der Ausgang von einem geschlossenen System, der „Konstruktivismus" und das „Inversionsverfahren" 201 zusammenklammert und ermöglicht 202 . Im Ergebnis hatte die Begriffsjurisprudenz eine „Entfremdung der Rechtswissenschaft von der gesellschaftlichen, politischen und moralischen Wirklichkeit des Rechts" zur Folge 203 . Die Historische Rechtsschule manövrierte sich mit diesem Sieg des Formalismus gleichsam wieder in die Sackgasse eines naturrechtlichen Rationalismus, aus der sie sich einst als „geschichtliche Rechtswissenschaft" 204 hatte herausfuhren wollen 2 0 5 . In bewußter Anknüpfung an die Denkresultate der Historischen Rechtsschule, namentlich seines Lehrers Friedrich Puchta 206 , hat Carl Friedrich v. Gerber die Ablösung des Rechts von seiner gesellschaftlichen Basis als Kern seiner Rechtsauffassung betrachtet 207 . Hieraus folgt zwangsläufig das Prinzip seiner wissenschaftlichen Methodik. Für Gerber beruht die systematische Einheit des Privatrechts „auf eigenen specifisch juristischen Principien, und nicht auf Gesichtspunkten, welche, so bedeutend sie auch an sich sein mögen, doch nur der historischen oder social-politischen Anschauung der Verhältnisse angehören" 208 . Mit der postulierten „Ausscheidung alles Fremdartigen" 209 war auch die konstruktivistische Methode vollkommen ausgebildet und formuliert. Gerber faßt sein methodologisches Credo so zusammen: „Es kam mir hauptsächlich auf die Analyse und Construction des rein juristischen Elements der Rechtsinstitute an, im Gegensatze der vielen rein faktischen und unwesentlichen Zuthaten, mit welchen gerade im deutschen Rechte so oft die rechtliche Substanz verhüllt wird. Es sollte ferner eine conséquente Trennung des Geschichtlichen vom Dogmatischen und besonders des Staatsrechtlichen und Po-

200 Paradigmatisch Bergbohm, S. 384: „Ein Recht ist etwas allemal in lückenloser Ganzheit dastehendes; ... es ist jeden Augenblick voll, weil seine innere Fruchtbarkeit, seine logische Expansionskraft im eigenen Bereich jeden Augenblick der ganzen Bedarf an Rechtsurtheilen deckt." Instruktiv dazu Riebschläger, S. 23 f. 201 Terminologie nach Bucher, S. 362. 202 So zu Recht Muscheler, S. 89. 203

Wieacker,

204

So der programmatische Titel der Gründungszeitschrift der Historischen Rechts-

schule. 205

S. 401.

E.-W. Böckenförde,

Historische Rechtsschule, S. 21, 24; Wieacker,

S. 402; Rosen-

baum, S. 53; St. Graf Vitzthum, S. 96. 206 Wilhelm, S. 92 f. m. w. N. 207

Wilhelm, S. 101 und passim; ausfuhrlich zu Gerbers „Gründerleistung für eine moderne Staatsrechtswissenschaft" Pauly, Methodenwandel, S. 92-167. 208 C. F. v. Gerber, System, S. 20 f. 209

C. F. v. Gerber, S. V.

8. Kap.: Öffentliches Recht und Methodik

227

litischen vom Privatrechte versucht werden." 210 Gerbers originäre wissenschaftsgeschichtliche Leistung besteht nun darin, daß er, zuerst in seiner 1852 erschienenen Abhandlung „Ueber öffentliche Rechte", die begrifflich-systematische Methode vom Privatrecht auf das Staatsrecht übertragen hat 211 : „Zunächst ist es das ganz Formelle, die juristische Construction, welche das Staatsrecht vom Privatrechte entlehnt." 212 Die Berührung beider Gebiete ist für Gerber bisweilen aber auch von eher materieller Art 2 1 3 , so daß für ihn das Privatrecht in seiner Gänze „als Sparren- und Holzwerk zur Construction des gesammten staatsrechtlichen Gebäudes" dient 214 . An die Stelle politischen und staatsphilosophischen Raisonnements tritt die juristische Konstruktion 215 . Die „Betrachtung soll nur eine rechtswissenschaftliche sein; das Politische ist nicht Zweck, sondern nur Material." 216 Aber nicht nur die politische, sondern auch die geschichtliche217 und philosophische218 Betrachtung des Staatsrechts war grundsätzlich ausgeschlossen. „Der Sinn ist: das Rechtliche kann nur aus dem Rechtlichen begriffen werden." 219 Paul Laband hat dann Gerbers Wissenschaftskonzeption auf das Staatsrecht des neugeschaffenen Deutschen Reiches übetragen 220 und sie nach dem Urteil Triepels „mit vollendeter Künstlerschaft gehandhabt."221 Mit gutem Recht konnte Ernst Landsberg ihn daher als „geistigen Testamentsvollstrecker Gerbers" bezeichnen222. Labands „Staatsrecht des Deutschen Reiches", dessen erster Band 1876 erschien, bedeutete schon aufgrund seiner bis ins einzelne verfeinerten Dogmatik einen großen Schritt über Gerber hinaus 223 und wurde deshalb von Triepel noch im Jahre 1917 als „das führende Werk unserer Disziplin" bezeichnet224. Andererseits enthielt es aber verschiedene Vergröberungen

210

C. F. v. Gerber, S. XII.

211

Vgl. hierzu näher Wilhelm, S. 134 f., 146-156; Oertzen, Soziale Funktion, S. 203

f. und passim; Barsch, S. 63 f.; Landsberg, S. 831. 212 C. F. v. Gerber, Öffentliche Rechte, S. 36; vgl. auch ebd., S. 29; ders., Grundzüge, S. 29, 221. 2,3 C. F. v. Gerber, Öffentliche Rechte, S. 37-46. 214 C. F. v. Gerber, Öffentliche Rechte, S. 47. 215 C. F. v. Gerber, Öffentliche Rechte, S. 27. 216 C. F. v. Gerber, Öffentliche Rechte, S. 28; vgl. auch ders., Grundzüge, S. 237. 217 C. F. v. Gerber, Grundzüge, S. V f., 10 Fn. 2. 218 C. F. v. Gerber, Grundzüge, S. 237; ders., Öffentliche Rechte, S. 27. 219 Staatsrecht und Politik, S. 8. 220 Vgl. dazu im einzelnen Pauly, Methodenwandel, S. 168-208. 221 Staatsrecht und Politik, S. 9. 222

223

Landsberg, S. 832.

Ernst Landsberg, S. 833, zufolge ist Labands „Staatsrecht" über Gerbers „Grundzüge" „wie der Eichbaum über die Eichel" hinausgewachsen. 224 Reichsaufsicht, S. 4. 1*

Zweiter Teil: Werk

228

und Begriffs Verengungen225. Faßte Gerber das Recht noch als die „gegenwärtig bestehenden allgemeinen Rechtsüberzeugungen des deutschen Volkes" auf 2 2 6 , so spielte dessen historische Bedingtheit für Laband infolge seiner rigiden Anwendung der „rein juristischen" Methode nur eine unbedeutende Rolle. Die bewußte Vernachlässigung des Erkenntniswerts nicht nur von Geschichte, sondern auch von Ökonomie, Politik und Philosophie, lag in der Konsequenz einer juristischen Dogmatik, die die „gewissenhafte und vollständige Feststellung des positiven Rechtsstoffes und die logische Beherrschung desselben durch Begriffe" zur maßgeblichen Richtschnur machte 227 . Von dem ausschließlichen Gebrauch der Logik versprach sich Laband die Reinigung der juristischen Dogmatik von jeglicher teleologischen Betrachtung 228 . Der Zweck, dem ein Rechtsinstitut dient, liegt für ihn , jenseits seines Begriffes". 229 Zwar wird Labands „Reine Staatsrechtslehre" zuweilen in etwas milderem Licht gesehen. Namentlich Walter Pauly verweist darauf, daß sich Laband zweimal, 1895 und 1907, mit dem Phänomen des Verfassungswandels beschäftigt habe 230 ; von dessen Seite sei gegen „einen gefilterten Einbezug von politischen und verwaltungspraktischen Entwicklungen sowie judikativen Tendenzen" nichts zu erinnern gewesen 231 . Schon Otto Mayer habe Triepel in seiner Rezension der „Reichsaufsicht" zu Recht entgegengehalten, daß auch die „formal-juristische" Methode in der Lage sei, „den Einfluß der im politischen Leben wirkenden Kräfte" 2 3 2 zu berücksichtigen 233 . Joachim Rückert meint gar, der Labandsche Ansatz käme nicht „ohne Verarbeitung politischer, ökonomischer, sozialer, ehischer und religiöser Element aus." 234 Wäre dem wirklich so, dann schiene es freilich auf der Grundlage von Wieackers eingangs zitierter Definition nicht mehr legitim, vom „Labandschen Positivismus" zu sprechen. Den Auseinandersetzungen um die richtige Methode im Staatsrecht käme allenfalls die Qualität eitler Spiegelfechtereien oder wohlfeiler Wortspiele zu 2 3 5 .

225

Vgl. hierzu Oertzen, S. 254-260; St. Graf Vitzthum, S. 109 f. Gerber, Grundzüge, S. 9 f. Fn. 1; vgl. auch System, S. 16 f. 227 Laband I, S. IX; vgl. näher Wilhelm, S. 7-11. 228 Hieraufmachte vor Wilhelm, S. 9, bereits Triepel, Staatsrecht und Politik, S. 10, aufmerksam. 226

229

230

Laband I, S. 67.

Vgl. auch unten 2. c). Pauly, Methodenwandel, S. 242. 232 Triepel, Reichsaufsicht, S. 2. 233 Pauly, Methodenwandel, S. 242 f., unter Bezugnahme auf O. Mayer, JW 1918, S. 159; vgl. auch unten IV. 3. 234 Rückert, Autonomie, S. 93. 235 Dies würde dann auch mit Blick auf Gerber gelten. Walter Pauly, Methodenwandel, S. 208, betont zu Recht die methodische Übereinstimmung zwischen Gerber und Laband. 231

8. Kap.: Öffentliches Recht und Methodik

229

Kann den namhaften Protagonisten des Methodenstreits aber tatsächlich ein solches Maß an Donquichotterie unterstellt werden? Die Frage zu stellen, heißt sie zu verneinen. Bezeichnend ist insofern, daß Laband von seinem rigiden Wissenschaftsprogramm erst dann - implizit - abzuweichen bereit ist, als es sich ihm im Laufe der Zeit aufzudrängen begann, daß sich der Verfassungswandel im späten Kaiserreich ohne Rekurs auf die Verfassungswirklichkeit nicht mehr adäquat erkären ließ. Trotz dieser Randkorrekturen im Spätwerk ist der textuelle Befund eindeutig. Wie Michael Stolleis mit Recht betont, war Labands Intention „doch die einer von ethischen, politischen, historischen und sonstigen Beimengungen vereinigten' wissenschaftlichen Jurisprudenz" 236. Um ihr Wissenschaftsprogramm zu realisieren, das sich bewußt reduktionistisch auf die Erklärung des positiven Rechts beschränkte, hat die Gerber-Labandsche Schule die wertende Rechtsentscheidung auf die Frage formal-logisch richtiger Deduktion reduziert. Die Jurisprudenz war damit, um mit Carl Schmitt zu reden, zu einer „Form ohne Prinzip" herabgesunken 237. Diese jeglichem materialem Gehalt entkleidete Staatsrechtswissenschaft „hat mehr als eine Generation deutscher Publizisten vollständig beherrscht, hat auch über Deutschlands Grenzen hinaus, namentlich in den romanischen Ländern Einfluß gewonnen. Kaum einer von uns Älteren", so resümiert Triepel später, „hat in seinen Anfängen nicht im Banne der Gerber-Labandschen Schule gestanden."238 Diese rückblickende Einschätzung ist auch aus heutiger Sicht nicht unzutreffend, wenn man die maßgebliche Hauptlinie des Reichsstaatsrechts in den Blick nimmt 239 . Und Triepel, der porte-drapeau antipositivistischer Methodenkritik wäre, wie noch im einzelnen zu zeigen ist, der letzte, der bestritte, daß seine Überlegungen auch von einzelnen Staatsrechtlern der Bismarckzeit angeregt wurden. Inzwischen ist man sich auch darüber einig, daß es verfehlt wäre, die Dominanz der Gerber-Labandschen Schule, wie dies früher teilweise geschah, auf den gesamten Zeitraum des Kaiserreichs zu beziehen. So hat das Triepel auch nicht gemeint 240 . Wie ihm schon aufgrund seiner eigenen geistigen Biographie bewußt war, bildete die antipositivistische Zäsur innerhalb der Staatsrechtslehre kein zeitlich klar abgrenzbares Phänomen der Weimarer Grundlagendiskussion in den zwanziger Jahren. Vor allem Stefan Korioth hat unter Berufung auf einschlägige Arbeiten Carl Schmitts, Rudolf Smends und Erich Kaufmanns mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß die Krise des staatsrechtlichen Positivismus nicht erst im Kontext des schwierigen Über236

Stolleis II, S. 344.

237

C. Schmitt, Verfassungsgeschichte, S. 233. Staat und Politik, S. 9.

238 239

Stolleis II, S. 348 f.

240

Insofern irrt Christoph Schönberger, S. 84.

Zweiter Teil: Werk

230

gangs von der Monarchie zur Demokratie in den Jahren 1918/19 eingesetzt hat 241 . Das Ende der „Herrschaft" des Gerber-Labandschen Systems, die allenfalls fur kurze Zeit völlig unangefochten war 2 4 2 , begann vielmehr schon Mitte der neunziger Jahre 243 . Spätestens ab der Jahrhundertwende zeigte es dann deutliche Erosionserscheinungen 244. Hierzu beigetragen hat vor allem Georg Jellineks „Allgemeine Staatslehre", die 1900 erschien und mit ihrer - zumindest impliziten - Rehabilitation historisch-politischer Argumentation den „Wendepunkt in der Geschichte der positivistischen Staatsrechtswissenschaft" markiert 245 . Aber auch die jüngere Generation der Staatsrechtslehrer wurde sich den Rissen im Fundament des scheinbar so stabilen Gebäudes von Reich und Reichsstaatslehre zunehmend bewußter. Im folgenden soll zunächst die - bislang weithin unterschätzte - Rolle Triepels in der Übergangsphase der Abwendung vom staatsrechtlichen Positivismus rekonstruiert werden, um sodann die Bedeutung seines methodischen Konzepts sowohl für den Methoden- und Richtungsstreit der „Weimarer Staatsrechtslehre" 246 wie auch für den verfassungsrechtlichen Diskurs der Gegenwart zu würdigen.

2. Wege zu materialem Verfassungsdenken a) Grundlegung in den Jahren 1907 und 1908 Wie schon erwähnt 247 , begann sich Triepel erst infolge des persönlichen Kontakts mit Philipp Heck und Max Rümelin, den Protagonisten der „Tübinger Schule der Interessenjurisprudenz", aus dem Bann des staatsrechtlichen Positivismus, jenes, wie Rudolf Smend es empfand, „sinnentleerten Systems von Kompetenz- oder Machtparzellen" 248 , zu lösen 249 . War sein vor der Tübinger 241

Korioth, AöR 117 (1992), S. 212-238; diesem folgend Friedrich, Staatsrechtswissenschaft, S. 275-277; ebenso Doerfert, S. 99; vgl. auch Stolleis II, S. 377. 242 Christoph Schönberger, S. 84, sieht den Zeitraum der unangefochtenen Dominanz Labands auf den Zeitraum zwischen 1880 und 1895 beschränkt. Kritisch zu Methode und Inhalt des staatsrechtlichen Positivismus äußerten sich vor 1900 neben Otto v. Gierke auch weniger bekannte Autoren, wie Hermann Schulze, Felix Stoerk, Hermann Rehm oder Karl Rieker (vgl. zuletzt ders., S. 37- 42, 83 f., 194 f., 337-367 und passim). 243 Vgl. die Periodisierung der Entwicklung bei Schönberger, S. 194 m. w. N. 244

Stolleis II, S. 349, 457.

245

Schönberger, S. 216; vgl. auch ders., S. 210 f. Vgl. dazu zuletzt Friedrich, Staatsrechtswissenschaft, S. 322-330; März, S. 75133; Stolleis III, S. 153-202. 247 Vgl. oben 4. Kap. 248 So Smend, Einfluß, S. 335. 246

249

Vgl. auch Schönberger,

S. 84 Fn. 8.

8. Kap.: Öffentliches Recht und Methodik

231

Zeit geschaffenes Werk „Völkerrecht und Landesrecht" in einigen Zügen noch stark traditionalistisch geprägt 250 , so nahm er mit der 1907 erschienenen Monographie „Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche" seinen, wie Heinrich Mitteis einmal etwas pathetisch formulierte, ,,unerbittliche[n] Kampf gegen allen Formalismus und Begriffskult in Erforschung und Lehre des öffentlichen Rechtes" 251 auf. Von kämpferischem Impetus zeugt schon der bezeichnende Untertitel von „Unitarismus und Föderalismus": „Eine staatsrechtliche und politische Studie". M i t diesem antipositivistischen Programmsatz 252 , der die von der herrschenden Lehre gemiedene politische Betrachtung rehabilitieren sollte, signalisierte Triepel sein entschiedenes Bekenntnis zur „publizistischen Interessenjurisprudenz" 253 und zur Tradition der älteren deutschen Staatslehre. Er knüpfte damit nicht zuletzt auch an die Betrachtungsweise des ganz zu Unrecht dem Vergessen anheimgefallenen Karl Viktor Fricker an, der als erster auf dem nunmehr von ihm besetzten Tübinger Lehrstuhl gelehrt hatte 254 . Das Bedeutsame und Bleibende von Frickers prinzipiellen Erörterungen, deren Überzeugungskraft auch seinen Hörer Triepel zu beeindrucken vermochte 255 , sah der Leipziger Ordinarius Karl Bücher bei seiner im Auftrag der philosophischen (!) Fakultät gesprochenen Abschiedsrede in dessen „wahrhaft soziologischen Auffassung" und in seinem „Hinausblicken über die engen Fachgrenzen" 256 . Daneben war es Ferdinand v. Martitz, Frickers Nachfolger auf dem Tübinger Lehrstuhl, der von fern her auf ihn einwirkte. Nach v. Martitz' Tod im Jahre 1921 würdigte Triepel dessen 1868 erschienene „Betrachtungen über die Verfassung des Norddeutschen Bundes" mit Worten, die in ihrer Kernaussage 250

Vgl. näher unten 9. Kap. I. 1. Mitteis, Tagesspiegel vom 7. Dezember 1946; ähnlich ders., Grabrede, S. 5, PAG. 252 Einen ganz ähnlichen Untertitel („Eine staatsrechtlich-politische Abhandlung") hatte schon Georg Jellinek für seine 1906 erschienene Studie „Verfassungsänderung und Verfassungswandlung" gewählt, um das Verhältnis des staatsrechtlichen Systems zur sozialen und politischen Realität zu problematisieren, vgl. näher Schönberger, S. 193, 251

213 f.; Stolleis II, S. 377. 253

Ausdruck von Hollerbach, AöR 91 (1966), S. 432. Triepel, Stil des Rechts, S. 118, hat die Bezeichnung „Zweck- oder Wertjurisprudenz" bevorzugt, weil seiner Auffasung nach anderenfalls leicht das Mißverständnis entstehe und auch entstanden sei, „daß es sich in der Rechtsordnung lediglich um den Ausgleich materieller Interessen handele, während doch ideelle Interessen hier eine mindestens ebenso große Rolle spielen". Letzteres stellt auch Philipp Heck, Begriffsbildung, S. 37, klar, bestreitet aber die Gefahr eines Mißverständnisses und hält deshalb am Begriff „lnteressenjurisprudenz" fest, vgl. ebd., S. 50. 254

Born, S. 82, 153.

255

Bücher, ZStW 1908, S. 199: „Als akademischer Lehrer gehörte er (seil. Fricker, d. Verf.) zu denjenigen, die vorzugsweise auf die ernsteren und gereiften unter den Studierenden einwirkten"; vgl. auch oben 2. Kap. 256

ZStW 1908, S. 199, S. 198.

232

Zweiter Teil: Werk

wie eine Charakterisierung der eigenen staatsrechtlichen Methodik klingen: „Die Schrift bewegte sich nicht in den Geleisen der von Gerber gehandhabten und später durch Laband für das Staatsrecht maßgebend gewordenen formalen Begriffskonstruktion, sondern setzte das Recht der Verfassungsurkunde, ohne auf seine konstruktive Bemeisterung zu verzichten, in innere Beziehung zu den Kräften des politischen Lebens, deren Auswirkung und gegenseitige Beeinflussung es regulieren w i l l . " 2 5 7 Ebendieses charakteristische methodentypologische Signum beginnt sich seit „Unitarismus und Föderalismus" in Triepels eigenem geistigem Werk immer deutlicher abzuzeichnen. Erkennbar wird seine Abkehr vom Gerber-Labandschen Positivismus gleich auf den ersten beinahe essayistisch anmutenden Seiten der Studie, wo er unter Zitation von Bismarck, Frantz, Treitschke und anderen eine dezidiert verfassungspolitische Deutung der Entwicklungsperspektiven der Reichsverfassung vornimmt. Dieser rechtspolitische Ansatz kommt vor allem auch im letzten Kapitel zum Tragen, wo sich Triepel vor die Notwendigkeit gestellt sieht, „ein Urteil über das Wertverhältnis zwischen Unitarismus und Föderalismus abzugeben." 258 Bewegt er sich einerseits mit dieser Darstellungsmethode fern jeglicher Begriffsjurisprudenz, so werden andererseits aber vielfach noch rechtliche und politische Betrachtungsweise scharf auseinandergehalten, ohne deren gegenseitige Verwobenheit klar aufzuzeigen. Beispielsweise erklärt Triepel zunächst die Theorie von den „vertragsmäßigen Grundlagen" der Reichsverfassung für rechtlich unhaltbar 259 , um erst im Anschluß hieran festzustellen, daß sie von größter nachwirkender politischer Bedeutung sei, denn auf sie „führen die Gliedstaaten ihre Treue gegen das Reich zurück." 2 60 In solchen Vorstellungen sind die Reste eines positivistischen Methodendualismus, einer rigiden Trennung von Recht und Wirklichkeit, noch deutlich zu spüren. Das Phänomen „Bundestreue" sollte erst in Rudolf Smends 1916 erschienener Studie „Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat" 261 als Rechtsbegriff verstanden werden 262 .

257 Triepel, NiemeyersZ 1923, S. 162; vgl. auch Staatsrecht und Politik, S. 10: „Auch die kleinen, aber feinen staatsrechtlichen Schriften von Ferdinand von Martitz haben, weil sie als zu politisch' galten, nicht die verdiente Würdigung erfahren." 258 Unitarismus, S. 117. 259 Unitarismus, S. 21 f. 260 Unitarismus, S. 29; vgl. auch ebd., S. 36-43, wo es um die Frage eines rechtlichen oder eines (nur-)politischen Vorrangs des Unitarismus geht. Auch später pflegt Triepel deutlich zwischen rechtlichen und politischen Fragen zu unterscheiden, vgl. etwa Deutsche Arbeit in Österreich 1918/19, S. 93, ohne allerdings in eine dualistische Betrachtungsweise zurückzufallen. 261 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 39-59. 262 Vgl. dazu Korioth, AöR 117 (1992), S. 222; ders., S. 32-39; Friedrich, Staatsrechtswissenschaft, S. 280 f.

8. Kap.: Öffentliches Recht und Methodik

233

Triepels inkonsequente Halbheiten mögen darauf beruhen, daß sich in „Unitarismus und Föderalismus" eine detaillierte theoretische Begründung für die Einbeziehung außerjuristischer Elemente in die staats rechtliche Analyse nicht findet. Offensichtlich steht für Triepel das praktische Interesse an Sinnfälligkeit und Ertrag der Darstellung noch ganz im Vordergrund. Immerhin offenbart seine wenigstens in Ansätzen vorhandene methodische Selbstvergewisserung eine eindeutige Stoßrichtung gegen die seinerzeit herrschende Wissenschaftsauffassung Gerber-Labandscher Provenienz. Zunächst wendet sich Triepel gegen die Ahistorizität positivistischen Rechtsdenkens. Bei den „Vertretern der modernen Reichspublizistik" sei zwar der „naive Glaube an die Ewigkeit einer Staatsordnung" weitgehend abhanden gekommen, gleichwohl würden sie „die deutsche Staatsgründung der Jahre 1867 und 1870 mindestens für sehr viel Menschenalter als der Weisheit letzten Schluß erachten" und seien daher „keine Freunde politischer Erörterungen, die in die Zukunft weisen." 263 Er beklagt, ähnlich wie schon Albert Hänel 1880 264 , die Illusion der positivistisch orientierten „Gelehrten des Reichsstaatsrechts", daß „die Verfassung Deutschlands in ihren Hauptstücken, nämlich in Bezug auf die Regelung des Verhältnisses von Reich und Einzelstaaten etwas schlechthin Endgültiges" sei; diese müßten daher die in Gang befindliche Entwicklung ignorieren 265 . Im Gegensatz zu dieser statischen, im Status quo verhafteten Denkweise betrachtet Triepel die Verfassung als dynamisches System und stellt sich die Aufgabe, Klarheit über deren zukünftige Entwicklungsrichtung zu gewinnen. Um diese Frage ernsthaft beantworten zu können, müssen Triepel zufolge drei Punkte analysiert werden: „ob die geltende Verfassung Ansätze zu einer Fortbildung enthält, ob sich aus verfassungsgeschichtlichen Tatsachen der letzten vier Jahrzehnte eine Tendenz zu weiterer Entwicklung erkennen läßt, und welches die politischen Kräfte sind, von denen die künftige Gestaltung der Dinge abhängen wird." 2 6 6 Triepel ist sich im klaren darüber, daß er mit einem solchen Forschungsansatz gegen das herrschende - und früher von ihm selbst vertretene 267 - positivistische Trennungsdenken verstößt: „Die nach mancher üblen Erfahrung im ganzen wohl berechtigte Scheu vor einer Verwirrung politischer und juristischer Betrachtungsweise, ist den meisten der heutigen Staatsrechtslehrer so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie der Politik am liebsten

263

Unitarismus, S. 2. Hänel, Entwicklung, S. 96. 265 Unitarismus, S. 2. 266 Unitarismus, S. 7. 267 Aufschlußreich ist insoweit die Beprechung von Conrad Bornhaks „Allgemeiner Staatslehre", wo Triepel, VerwArch 1897, S. 316, dem Verfasser bescheinigt, „der Gefahr, sich durch politische Ansicht oder Vorliebe das Urtheil über Geltung und Inhalt öffentlichen Rechts trüben zu lassen", entgangen zu sein. 264

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Zweiter Teil: Werk

ganz aus dem Wege gehen. Freilich läuft es bei staatsrechtlichen Untersuchungen ohne eine politische Grundanschauung doch nicht völlig ab ..." 2 6 8 . Damit war, um mit Carl Bilfinger zu sprechen, „ein Zeichen des Widerstands gegen die damals vorwaltende Tendenz formal-juristischen ... Denkens" gesetzt 269 . Ausfuhrlicher und wesentlich klarer, allerdings ebenfalls nicht systematisch, entwickelt Triepel die methodischen Implikationen seines Wissenschaftsprogramms erst ein Jahr nach der Veröffentlichung von „Unitarismus und Föderalismus", und zwar ausgerechnet in einem Beitrag zur Laband-Festgabe, den er später selbst scherzhaft sein „Kuckucksei" genannt hat 270 . In dieser Abhandlung über „Die Kompetenzen des Bundesstaats und die geschriebene Verfassung" bekennt sich Triepel zu dem methodischen „Verfahren der Konsequenz, mit dem ungesetztes Recht als notwendige Folge aus geschriebenen Rechtssätzen abgeleitet wird" 2 7 1 . Die sog. Konsequenz „gelangt von bekanntem zu unbekanntem Recht, führt aber nicht über den Bereich des Rechtes hinaus." 272 Sie enthält die conclusio a majori ad minus sowie den Schluß vom Zweck auf die Mittel 2 7 3 . Wichtig ist die Bemerkung Triepels, daß „auch bei diesem Verfahren der Rechtsfindung ... immer oder doch fast immer subjektive Werturteile mit im Spiel sein müssen." 274 Diese für die damalige Staatsrechtswissenschaft revolutionäre These entnimmt Triepel insbesondere 275 der berühmten Freiburger Prorektoratsrede Gustav Rümelins, des Vaters von Max v. Rümelin 276 , über „Werturteile und Willensentscheidungen im Zivilrecht" aus dem Jahre 1891. Als erster Staatsrechtler jener Zeit 2 7 7 erklärt er dessen Betonung von Wertungs-

268

Unitarismus, S. 7. Bilfinger, Deutsche Rechtswissenschaft 1939, S. 361. 270 Mitteis, Tagesspiegel vom 7. Dezember 1946; ders., Grabrede, S. 5, PAG. 271 Triepel, Kompetenzen, S. 271. 272 Kompetenzen, S. 287. 273 Erich Kiichenhojf AöR 82 (1957), S. 438, 441 f., macht gegen Lahm, S. 34, 38, mit Recht darauf aufmerksam, daß mit der „Konsequenz" kein deduktives, sondern ein teleologisch geprägtes Auslegungsverfahren gemeint ist; ähnlich Giacometti, S. 7-13. 274 Kompetenzen, S. 287. 275 Daneben bezieht er sich auf Josef Kohler, IheringsJb 1887, S. 270-272, der neben Adolf Wach und seinem Lehrer Karl Binding als Mitbegründer der sog. „objektiven" Auslegungstheorie gilt, vgl. zu ihr Larenz, S. 31-35. Klaus Riebschläger, S. 31 f., bezeichnet Kohler als Vorläufer der Freirechtsbewegung. 276 Vgl. zu dessen wichtiger Rolle als Vorläufer der Tübinger Schule der Interessenjurisprudenz, Kallfass t S. 6 f.; Edelmann, S. 70 f. Die Bedeutung Max Rümelins betont auch Reinhold Zippelius, Wertungsprobleme, S. 3 f., nur habe er „die Frage nach einem Richtmaß der Wertentscheidungen nicht klar genug gestellt." 277 Karl Friedrichs, FischersZ 1924, S. 149, meinte, der Begriff „Werturteile im Recht" sei zuerst von Walter Jellinek in dessen 1908 - also zeitgleich mit Triepels Beitrag zur Laband-Festgabe - erschienener Studie „Der fehlerhafte Staatsakt", S. 11, benutzt worden. Hätte W. Jellinek diesen Begriff - anders als Triepel - nicht nur ganz beiläufig gebraucht, würde in der Tat auch ihm die Krone gebühren. Auch nach dem 269

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235

gesichtspunkten278 auch im Bereich des Staatsrechts ausdrücklich fur anwendbar. Die Bedeutung dieses frühen Vorstoßes Triepels mag daraus ersichtlich sein, daß Gerhard Anschütz, einer der führenden Kommentatoren der Weimarer Reichsverfassung, noch 25 Jahre später an der positivistischen These festhielt, daß Werturteile nicht in die Auslegung einfließen dürften 279 . Mit seiner Kritik am Labandschen Logizismus markierte Triepel innerhalb der Staatsrechtswissenschaft die Gegenposition zu Max Weber 280 , der mit seiner berühmten Abhandlung über „Die »Objektivität4 sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis" aus dem Jahre 1904 281 den - heute noch schwebenden - sog. Werturteilsstreit 282 eröffnet hatte, indem er die strenge Scheidung von Erfahrungswissen und Werturteil postulierte 283 . Daß Triepel nicht gewillt ist, mit einem solchen Wertfreiheitspostulat konform zu gehen, kommt auch bei seiner Darstellung des Analogieschlusses zum Ausdruck 284 . Mit deutlich antipositivistischen Unterton stellt er zunächst fest, daß man allmählich in der Überwindung des alten Irrtums begriffen sei, die Analogie als „rein formale Anwendung logischer Gesetze", als „Operation, die aus gesetzlichen Rechtssätzen andere ,wie ein Band aus der Kapsel 4 2 8 5 heraushole", aufzufassen 286. Denn jede Analogie verbinde sich „mit Abschätzungen wertenden Charakters, mit Werturteilen " 2S1 Eine solche wertende Betrachtung impliziert, so gibt Triepel zu bedenken, daß man niemals völlig zweifelsfreie Ergebnisse erhält, was für das Öffentliche Recht, insbesondere für das Polizei-

Urteil Ernst v. Hippels, S. V, stand Jellinek „mit dieser Schrift noch ganz auf dem Boden des um 1900 herrschenden Positivismus". Jellineks spätere verwaltungsrechtliche Schriften schätzte Triepel sehr, vgl. Brief vom 10. September 1913 und Postkarte vom 1. August 1920, BA, NL W. Jellinek, Bd. 26, Brief vom 29. Mai 1929, BA, NL G. Jellinek, Bd. 29. 278 G. Rümelin, S. 5 und passim. 279 Anschütz, Verfassung, S. 516, 528. 280 Dieter Wyduckel, S. 319, weist mit Recht daraufhin, daß sich Triepels methodologische Reflexionen in diesen Diskussionszusammenhang einfügen. 281 M. Weber, Objektivität, S. 146-214. 282 Vgl. hierzu Ferber, S. 165-180. 283 M Weber, Objektivität, S. 155-161. 284 Für die Zulässigkeit der Analogie im öffentlichen Recht hatten sich bereits - allerdings nur beiläufig - folgende von Triepel, Kompetenzen, S. 309 Fn. 2, zitierte Autoren ausgesprochen: Hänel, Staatsrecht I, S. 222; Binding , Handbuch I, S. 28; Zitelmann, S. 24, 26. 285 Dieses Zitat findet sich bei Kohler, IheringsJb 1887, S. 271. 286 Kompetenzen, S. 316. 287 Kompetenzen, S. 317. Triepel erwähnt, ebd., S. 317 Fn. 3, ausdrücklich das „grosse Verdienst" Gustav Rümelins dies klargestellt zu haben und stützt sich vollständig auf dessen methodische Überlegungen, vgl. z. B. G. Rümelin, S. 15: „Die Analogie ... beruht... auf einem Werturteil."

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Zweiter Teil: Werk

und Verfassungsrecht, „nicht ohne Gefahren sein mag." 288 Diese Bedenken werden von Triepel aber selbst sogleich durch zwei Erwägungen ausgeräumt, die er primär dem Fundus der zu jener Zeit gerade im Aufstieg begriffenen Interessenjurisprudenz Tübinger Prägung entnimmt 289 . Zum einen gehe es auch bei der bloßen Gesetzesauslegung bis auf ganz eindeutige Fälle „ohne Werturteile und Abschätzungen nicht ab, so dass also das subjektive Element bei der Rechtsanwendung doch niemals ganz ausgeschaltet werden kann." 290 Zudem lasse sich eine feste Grenze zwischen Analogie und ausdehnender Auslegung überhaupt nicht ziehen, so daß, wenn man wie etwa Gerhard Anschütz einem Analogieverbot bei Eingriffsermächtigungen das Wort rede 291 , „die zur einen Tür herausgetriebene Analogie zu einer anderen in der Maske der extensiven Interpretation wieder hereinkäme 292, aus dem einfachen Grund, weil die Praxis ihrer schlechterdings nicht entraten kann." 293 Ferner könne man von den Rechtsanwendern in Wissenschaft und Praxis verlangen, daß sie nicht nur die bei jeder Analogie unentbehrlichen Zweckmäßigkeitserwägungen 294 anstellten, sondern, daß sie sich bei der analogen Anwendung von Gesetzen auf nicht geregelte Fälle an den im gesetzten Recht enthaltenen Werturteilen, d. h. an den vom Gesetz vorgenommenen Interessenabwägungen orientierten 295. Mit dieser nahezu wörtlichen Anknüpfung an Überlegungen Philipp Hecks 296 übernimmt Triepel einerseits die primär aus rechtsstaatlichen Gründen strikt am Gesetz orientierte, insoweit also durchaus gesetzespositivistische297, eben nicht „freie" Auslegungsmethode der „Tübinger Schule" 298 , verwirft an288

Kompetenzen, S. 317. Triepel, Kompetenzen, S. 318 Fn. 2, 319 Fn. 1, zitiert als Gewährsleute für die folgenden Erwägungen u. a. Gustav Rümelin, Max v. Rümelin und Philipp Heck, aber auch Josef Kohler sowie die Rechtsphilosophen Gustav Radbruch und Rudolf Stammler. 290 Kompetenzen, S.318. 291 Anschütz, VerwArch 1906, S. 315-340. 292 Hier knüpft Triepel, Kompetenzen, S. 313 Fn. 1, u. a. an eine Stelle in der 1906 von Hermann Kantorowicz unter dem Pseudonym Gnaeus Flavius veröffentlichten Schrift „Der Kampf um die Rechtswissenschaft", S. 23, an, ohne allerdings dessen radikale psychologisch-relativistische Grundhaltung und die mit ihr verbundenen Konsequenzen zu teilen, vgl. näher hierzu Muscheler, S. 97-103; Riebschläger, S. 39-44. 293 Kompetenzen, S. 313. 294 Für die Berücksichtigung von teleologischen Erwägungen hatten schon Vertreter der sog. „objektiven" Auslegungstheorie, wie Triepels Lehrer Karl Binding , Handbuch des Strafrechts I, S. 467, und Josef Kohler, GrünhutsZ 1886, S. 35, 37, plädiert. 295 Kompetenzen, S.318 f. 289

296

297

Heck, DJZ 1905, Sp. 1142.

So mit Recht Wieacker, S. 576; vgl. zu den gesetzespositivistischen Zügen der Interessenjurisprudenz auch Ott, S. 40 Fn. 4, 60 Fn. 1 und 111 Fn. 11 m. w. N. 298 Exemplarisch Heck, DJZ 1905, Sp. 1142: „Die lnteressenjurisprudenz bedingt keine Abschwächung der Gesetzestreue."

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dererseits aber auch das positivistische Lückendogma, dessen Erschütterung im übrigen vor allem ein Verdienst der Freirechtsbewegung war 2 9 9 . Nach dem apodiktischen Postulat Triepels, dem zufolge es „nur eine juristische Methode" gibt 3 0 0 , müssen die von Philipp Heck so bezeichneten Grundsätze der „Rechtsergänzung durch Interessenabwägung" 301 auch im Öffentlichen Recht gelten und lassen sich dort ebenfalls durchführen 302 . Zwar hat der Verfassungsinterpret bei der Ausfüllung von Lücken, die die Verfassung gelassen hat, Triepel zufolge nicht das Recht, „sein eigenes Urteil der Verfassung voranzustellen. Hält sich aber die Analogie in diesen Grenzen, so ist sie nicht willkürliche RechtsSchöpfung, sondern in der Tat Rechtsfindung" m Wenn Triepel mit dieser Terminologie auch nicht von der an den Begriff des positiven Rechts gebundenen „Rechtsanwendung" ausgeht 304 , sondern an die Wortwahl einiger Freirechtler anknüpft 305 , so macht er doch deutlich, daß die Ausfüllung von Lücken nicht wie die Freirechtslehre völlig unabhängig vom Gesetz, sondern - wie die Interessenjurisprudenz - das Gesetz in Orientierung an in ihm zum Ausdruck gekommene Wertungen vorgenommen werden soll 3 0 6 . Gleichzeitig lehnt er damit im Anschluß an Ernst Zitelmann 307 die Charakterisierung der richterlichen Festlegung des Gesetzesinhalts als „Rechtsschaffung" oder „Rechtserzeugung", da es sich lediglich um die Erkenntnis bereits bestehenden Rechts handele 308 .

299 Die zu dieser Zeit noch sehr streitige Frage der (Nicht-)Existenz solcher Gesetzeslücken, wird von Triepel nicht weiter reflektiert. Er legt hier offensichtlich stillschweigend die Ergebnisse der in anderem Zusammenhang von ihm des öfteren zitierten Studien Erich Jungs („Von der ,logischen Geschlossenheit' des Rechts", 1900 - nach RiebSchläger, S. 69, eine „Pionierarbeit" - ) und Ernst Zitelmanns („Lücken im Recht", 1903), zugrunde; vgl. näher Moench, S. 33-39. 300 Staatsrecht und Politik, S. 39. 301

Heck, DJZ 1905, Sp. 1142.

302

Kompetenzen, S. 319. Kompetenzen, S. 319. Die Frage, ob der Richter Recht findet oder schöpft, wird von Philipp Heck und anderen erst später eingehend behandelt, vgl. die Nachweise bei Moench, S. 119 Fn. 618, und Heck, Interessenjurisprudenz, S. 21: „Der Richter hat nicht nur fertige Rechtsnormen anzuwenden, sondern auch Normen selbst zu bilden. Er ist auch rechtsschöpferisch tätig." 304 Vgl. etwa Ott, S. 43: „Das Recht anwenden heißt: unter die Normen des Gesetzes zu subsumieren." 305 Vgl. ζ. B. Ehrlich, „Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft" (1903), und Stampe, Rechtsfindung durch Interessenabwägung, DJZ 1905, S. 713-719 (Hervorhebung nicht im Original). 306 Hierin besteht einer der wesentlichen Unterschiede zwischen beiden Schulen, vgl. 303

Riebschläger, S. 101 m. w. N. 307 Zitelmann, S. 25. 308

Kompetenzen, S. 319 Fn. 4; vgl. zur damaligen Diskussion auch M. v. Rümelin, Windscheid, S. 26 Fn. 22.

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Zweiter Teil: Werk

Mit dieser Auffassung löst sich auch Triepel nicht von der damals obwaltenden Fehlvorstellung, „Rechtsfindung" und „Rechtsschöpfung" seien Gegensätze. Erst infolge der grundlegenden Ausführungen Hans-Georg Gadamers hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß allem Verstehen eine objektive und subjektive Seite eignet und somit auch der Prozeß der Rechtsfindung ein schöpferischer Vorgang ist 309 . Zwar hebt Triepel durchaus die subjektive Seite des rechtlichen Verstehens hervor, indem er dessen Werturteilsbedingtheit anerkennt, Vorrang genießt für ihn aber offensichtlich, einen möglichen Einwand der herrschenden positivistischen Schule auszuräumen, nämlich den des Wertirrationalismus, der Willkür. Folgerichtig betont er die objektive Bedingtheit juristischen Entscheidens und legt Wert auf die Feststellung, der im Wege der Analogie vom Richter gefundene Satz habe Rechtssatzcharakter. Denn es sei der Wille der Rechtsgemeinschaft, seltener auch des Gesetzgebers 310, daß die „im Gesetze ausgesprochenen Wertungen auch für die Entscheidung solcher Interessenkonflikte massgebend sein sollen, die vom Gesetzeswortlaute nicht ohne weiteres betroffen werden." 311 Mit diesem Verständnis des Analogieschlusses gerät Triepel wenn nicht mit der rechts-, so doch mit der gesetzespositivistischen Variante des Dogmas von der Lückenlosigkeit der Rechtsordnung 312 in Konflikt 313 . Konsequenter geht Triepel in seinem Beitrag zur Laband-Festgabe mit anderen gängigen Argumentationstopoi Gerber-Labandscher Observanz ins Gericht. So postuliert er etwa, man könne sich nicht mehr bloß mit der wenig überzeugenden Argumentation begnügen, Reichskompetenzen aus der „Natur", dem „Wesen" oder dem „Begriff' des Reichs als eines Staats oder Bundesstaats abzuleiten 314 . In den Augen Triepels illustriert derlei juristische Hermeneutik einmal mehr das Versagen rechtspositivistischer Methodik vor den Aufgaben der Praxis. Kommt er deshalb einerseits zu dem Schluß, daß die Begriffsjurispru-

309 Vgl. speziell zum produktiven Charakter juristischer Hermeneutik Gadamer , S. 280, 312,482, 519; ihm folgend Larenz, S. 403 f. Fn. 91, vgl. aber auch ebd., S. 212 f. 3,0 Mit dieser Differenzierung knüpft Triepel an eine zentrale, bereits von Thibaut herrührende Vorstellung der „objektiven" Auslegungstheorie an, wonach Ziel der Auslegung nicht der Wille des Gesetzgebers, sondern der „Rechtswillen" sei, vgl. Binding, Handbuch I, S. 456; vgl. hierzu den instruktiven, auch von Triepel mehrfach herangezogenen Aufsatz von Kraus, GrünhutsZ 1905, S. 613-636, insbes. S. 618, 635. 311 Kompetenzen, S. 320. 312 Vgl. zu dieser Unterschiedung oben bei Fn. 200. 3.3 Was den rechtswissenschaftlichen Positivismus anbelangt, so hat die Kritik des Lückendogmas nur eine eingeschränkte Berechtigung, und zwar in dem Vorwurf, daß er zur Rechtsfindung ausschließlich rechtslogische Faktoren heranziehe, vgl. näher Wieakker, S. 436 f.; Riebschläger, S. 23-25, 106 f.; Larenz, S. 368; Ott, S. 44 f. 3.4 Kompetenzen, S. 324. Gegen diese heute noch herrschende „Methode" Küchenhoff, AöR 82 (1957), S. 451-473 und Bullinger, AöR 96 (1971), S. 269, unter ausdrücklicher Berufung auf Triepel.

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denz „ i m Staatsrechte noch viel weniger angebracht ist als anderwärts" 315 , so grenzt er sich gleichwohl andererseits ebenso entschieden gegen extreme Anhänger der Freirechtsbewegung ab: „... einer Praxis, welche die Neigung bekundet, sich bei Gelegenheit selbst über klare Gesetzesbestimmungen hinwegzusetzen ... muss man Misstrauen entgegenbringen, jedenfalls an den Stellen, wo der moderne Mensch besonders empfindlich ist, im Bereiche der polizeilichen und sonstigen administrativen Gewalt." 3 1 6 Nach einer treffenden Bemerkung Erich Kaufmanns aus dem Jahre 1928 finden sich in diesen grundsätzlichen Betrachtungen zur Methode des Öffentlichen Rechts „mehr wertvolle Aufschlüsse hierüber ..., als in manchen sogenannten rechtsphilosophischen und methodologischen Schriften, die diese Fragen monographisch behandeln." 317 Gleichwohl wird auch heute noch vielfach nicht, oder nicht deutlich genug, erkannt 318 , daß Triepel die Grundlinien seiner Kritik am rechtswissenschaftlichen Positivismus und seiner Methode der publizistischen Interessenjurisprudenz bereits im Jahre 1908 und nicht erst später, etwa in seiner knapp zwanzig Jahre später gehaltenen berühmten Rektoratsrede „Staatsrecht und Politik", dem „manifesto ufficiale dell' antiformalismo" 319 , formuliert hat.

b) Bedeutung Mit seinem Versuch, bloße formallogische Folgerichtigkeit durch teleologische Sachrichtigkeit zu ersetzen und damit die Rechtswissenschaft wieder als praktische Disziplin zu entdecken 320 , setzte Triepel einen der wichtigsten Marksteine in der Vorweimarer Geschichte der Überwindung des staatsrechtlichen Positivismus. Er ging nicht nur, wie Manfred Friedrich pauschalierend meint, gleichsam stillschweigend über die von Laband repräsentierte formallogische Arbeitsweise hinaus 321 , sondern postulierte, wie soeben gezeigt, eigene metho315

Kompetenzen, S. 326. Kompetenzen, S. 316. 317 E. Kaufmann, Der Tag vom 12. Februar 1928. 318 Geis, JuS 1989, S. 95; Hartmann, JöR 1980, S. 43; Heun, Der Staat 1989, S. 386; Koch, S. 556; Krawietz, S. 221 f.; Meyer-Hesemann, S. 149; Sontheimer, Politische Wissenschaft, S. 21; Wendenburg, S. 140; undeutlich auch Rennert, S. 34; Schwinge, S. 16 f., 19 Fn. 39; zutreffend dagegen Hollerbach AöR 91 (1966), S. 432; Friedrich, AöR 111 (1986), S. 214; Pauly, Methodenwandel, S. 32 Fn. 103; Stolleis III, S. 172; ebenso Ulrich Scheuner, AöR 97 (1972), S. 350, der ausdrücklich Triepels „Unitarismus und Föderalismus" hervorhebt. 319 Lanchester, S. 86. 320 E-W Böckenförde, Gesetz, S. 216 f. 321 Friedrich, AöR 102 (1977), S. 166 Fn. 15, nimmt als Beleg für seine These undifferenziert auf die Arbeiten Triepels, Kaufmanns und Smends aus der Zeit des Ersten 316

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dische Ansätze in demonstrativer Abkehr von Begriffskonstruktivismus und ungeschichtlichem Denken und setzte diese sogleich zur praktischen Problemlösung ein. Triepels Bedeutung wird besonders in der originären Leistung erkennbar, Grundzüge der vom Zivilrecht ausgehenden „Tübinger Schule der Interessenjurisprudenz" auf das Öffentliche Recht zu übertragen 322 - gewissermaßen eine späte Parallele zu Gerbers Revolutionierung staatsrechtlicher Methodik, jedoch mit gegenteiliger Wirkung. Daneben ging Triepel von der Existenz von Gesetzeslücken aus und rezipierte damit den Hauptkritikpunkt der Freirechtsbewegung am Gesetzespositvismus323. Da Freirecht und Interessenjurisprudenz, wie Hermann Kantorowicz einmal mit Recht betont hat, insgesamt auf Verschiedenes, nicht jedoch auf Widersprechendes zielen 324 , liegt in der Rezeption beider Reformansätze durch Triepel, kein Widerspruch. Vielmehr besteht sein spezifisches Verdienst gerade darin, als erster die gemeinsamen Anliegen beider Lehren, d. h. die Ablehnung der begriffsjuristischen Methode, die Verwerfung der These von der logischen Geschlossenheit des Rechts und der Rechtsfortbildung auf ausschließlich logischem Wege 325 wie auch Denkansätze anderer Gegner des herrschenden Positivismus, ζ. B. derjenigen Gustav Radbruchs oder Rudolf Stammlers, für das Staatsrecht fruchtbar gemacht zu haben. Triepel war somit weder bloß ein „positivismusimmanenter Kritiker Labands zur Kaiserzeit" 326 , noch erschöpfte sich seine Positivismuskritik in der Paraphrase früherer Ausführungen geistesverwandter Öffentlichrechtler. Erstaunlich ist allerdings, daß sich Triepel weder ausdrücklich auf Otto v. Gierkes „Methode der geschichtlichen Rechtswissenschaft" 327, insbesondere dessen berühmte Laband-Kritik aus dem Jahre 1883 328 , noch auf Albert Hänels „materiale Staatsrechtslehre" bezieht, dessen Arbeiten nach dem Urteil Erich Kaufmanns „auf ihn als den einzigen seiner Generation nachhaltig gewirkt haben" 329 . Hänel hatte sich zu Methodenfragen zwar zunächst nur selten und dann

Weltkriegs Bezug; differenzierter, aber immer noch zu pauschal ders., AöR 111 (1986), S. 213-215. 322 Diese frühe Rezeption Hecks durch Triepel übersieht Haverkate, S. 123, bei seiner grundsätzlich zutreffenden These, die teleologische Methode sei im öffentlichen Recht noch geraume Zeit nach dem raschen Erfolg der Interessenjurisprudenz im Zivilrecht auf starken Widerstand gestoßen. 323

Riebschläger, S. 93; Muscheler, S. 149.

324

Kantorowicz,

325

Muscheler, S. 148 f.; Riebschläger, S. 49.

326

DRZ 1911, Sp. 332; ähnlich auch Heck, DJZ 1905, Sp. 1140 f.

Unter diese Überschrift wird Triepel bei Rennert, S. 31, 34, subsumiert. Ausdruck von E. Wolf, S. 691. 328 Gierke, SchmollersJb 1883, S. 1097-1195. 329 So E. Kaufmann, Der Tag vom 12. Februar 1928; vgl. auch ders., DRZ 1947, S. 60; ähnlich Friedrich, Positivismus, S. 58 f. Erich Kaufmann, Der Tag vom 12. Februar 327

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meist in einem das Labandsche Verfahren bejahenden Sinne geäußert 330, fand dann aber doch zu vereinzelten kritischen Stellungnahmen und öffnete neue methodische Wege zu einem materialen Verfassungsdenken. Hänels Wissenschaftsprogramm, wie Manfred Friedrich, als „praktischen Gesetzespositivismus" zu bezeichnen331, geht daher fehl. Was Hänel vor allem von Gerber und Laband unterscheidet, ist, daß er nicht bloße Begriffssystematik gelten läßt, sondern die „Systematik der Lebensverhältnisse" im Rahmen einer „staatswissenschaftlichen", eben nicht nur „konstruktiven" Methode berücksichtigt sehen möchte 332 . Ebenso wie Otto v. Gierke 333 bewußt an die wirklichkeitsorientierte Denktradition Wilhelm Diltheys anknüpfend 334, ist es auch Hänel um die Erforschung der konkreten Probleme eines historisch individualisierten Staates und seines Rechts zu tun. Von wesentlicher Bedeutung ist nun, daß Hänel seine „staatswissenschaftliche" Betrachtungsweise teleologisch ausrichtet 335. Denn „ohne Hereinziehung des Zweckmomentes" 336 werden nach seiner Überzeugung die realen Erscheinungen des Staats- und Rechtslebens „abstrakte Schemen" bleiben 337 . Eine solche Zweckorientierung des Staatsdenkens intendiert ein inhaltliches, nicht bloß formales, am Äußerlichen haftendes Verständnis der tatsächlichen Lebensverhältnisse. Anders als beim positivistischen Formalismus Labandscher Prägung bleiben daher bei einer Rechtswissenschaft, wie Hänel sie versteht, „Form und Inhalt zusammen, bleibt alles Recht als Ordnung inhaltlich bestimmter Lebensverhältnisse auf diese bezogen." 338 Auch fur Otto v. Gierke 339 ist Recht nicht nur Form, nicht nur Ausdruck des staatlichen Willens, sondern auch Inhalt, Ausdruck der Rechtsidee340. So ver1928; ders., DRZ 1947, S. 60, betont ebenfalls zu Recht den generellen Einfluß Otto v. Gierkes, den Triepel schon früh so sehr geschätzt hat, daß er ihm 1892 seine Dissertation über das „Interregnum" dedizierte, vgl. dessen Antwortbrief vom 2. November 1892, UB Heidelberg, Heid. Hs. 2824, 20. 330

So zu Recht St. Graf Vitzthum, S. 112 m. w. N.

331

So aber Friedrich, Positvismus, S. 59. Ähnlich wie Ernst-Wolfgang Böckenförde, Gesetz, S. 282, 296, auf den er sich ebd. auf S. 65 bezieht, schätzt Manfred Friedrich Hänels Beitrag zur staatsrechtlichen Methodendebatte zu gering ein; vgl. auch Rennert, S. 31 Fn. 59. 332 Hänel, Staatsrecht I, S. 156. 333 Vgl. näher Janssen, S. 184-188, 203-209. 334 335

St. Graf Vitzthum, S. 118 f. m. w. N. Rennert, S. 32 f., St. Graf Vitzthum, S. 115-117.

336

Die geistige Nähe zu Rudolf v. Iherings berühmter Monographie „Der Zweck im Recht", besonders 1. Bd., S. 77 f., ist offensichtlich. Nachweise für einen direkten Zusammenhang lassen sich bei Hänel jedoch nicht finden, vgl. St. Graf Vitzthum, S. 115 Fn. 142. 337 Hänel, AöR 5 (1890), S. 478. 338

St. Graf Vitzthum, S. 119, mit Verweis auf Hänel, Staatsrecht I, S. 115 f.

339

Vgl. zu Gierkes Laband-Kritik Janssen, S. 126-138 und passim; Η. Α. Hesse, JuS 1985, S. 171 f.; Rennert, S. 29-31; Rückert, S. 90-95 und passim. 16 Gassner

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Zweiter Teil: Werk

wundert es wenig, daß wesentliche Aspekte der Triepelschen Positivismuskritik bei ihm schon - zumindest in nuce - vorformuliert sind. Allerdings hätte sich Triepel nie zu der Feststellung Gierkes verstanden, daß „das bewußte und energische Bestreben Labands, das Staatsrecht des Deutschen Reichs durchweg juristisch zu behandeln, ohne Einschränkung zu billigen" ist 3 4 1 . Dasselbe gilt, wiewohl auch Triepel den mit dem positivistischen Wissenschaftsprogramm verbundenen methodischen Rationalitätsgewinn nicht leugnet 342 , für die Ansicht Gierkes, die „reine Luft des juristischen Denkens", wie sie in der GerberLabandschen Schule herrsche, sei grundsätzlich ein Fortschritt gegenüber Jener nebeligen Atmosphäre" der älteren deutschen Staatslehre, „in welcher die Grenzen zwischen juristischer Erörterung und politischen, ethischen oder wirtschaftlichen Erwägungen verschwimmen." 343 Was Gierke - im Unterschied zu Triepel - kritikabel findet, ist lediglich Labands „