Johann Gottfried Herder: Leben und Werk 9783412217471, 9783412223441

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Johann Gottfried Herder: Leben und Werk
 9783412217471, 9783412223441

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�erder Michael Maurer

JOHANN GOTTFRIED

LEBEN UND WERK

2014 Böhlau Verlag Köln Weimar Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Anton Graff, Johann Gottfried Herder, 1785. Das Gleimhaus. Literaturmuseum und Forschungsstätte Halberstadt.

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Anja Borkam, Jena Einbandgestaltung: Guido Klütsch, Köln Satz: Reemers Publishing Services, Krefeld Reproduktionen: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Druck und Bindung: Theiss, St. Stefan im Lavanttal Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22344-1

INHALT EINFÜHRUNG

Wer war Herder?  7  Warum wurde Herder vergessen?  9 Der große Anreger  12  Herder – ein ‚bekannter Unbekannter‘  18 HERKUNFT, KINDHEIT, ­S TUDIUM UND ERSTES AMT (1744 –1769)

Herkunft, Kindheit, Schule  21  Studium in Königsberg  24 Das erste Amt  28  Die erste große Rede  30 Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente (1767)  32 Die Denkform ‚Lebensalter‘  35  Flucht aus Riga  37 DIE GROSSE SEEREISE (1769 –1771)

Der Philosoph auf dem Schiffe  39  Reiseerfahrungen  46 Lebensentscheidende Begegnungen  48 BÜCKEBURG (1771–1776)

Im neuen Amt  61  Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772)  65  Von deutscher Art und Kunst (1773)  70 Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774)  74  Die gescheiterte Berufung nach Göttingen  81 IN WEIMAR ANGEKOMMEN (1776 –1788) IM NEUEN AMT

Akademieabhandlungen: Preisschriften  90  Plastik (1778)  103 Volkslieder (1778/79)  107  Lieder der Liebe (1778)  112 Briefe, das Studium der Theologie betreffend (1780/81)  113 Über die Seelenwanderung (1782)  117  Vom Geist der ebräischen Poesie (1782/83)  120  Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791)  123  Denkform ‚Kette der Bildung‘  129  Gott. Einige Gespräche (1787)  133

DIE ITALIENISCHE REISE (1788/89)

Voraussetzungen  139  Herders italienische Reise  141 Die letzte Chance: Erneut ein Ruf nach Göttingen  143 WEIMAR: DIE SPÄTZEIT (1789 –1803)

Briefe zu Beförderung der Humanität (1793 –1797)  145 Was Herder nicht zu veröffentlichen gewagt hat  149 Über die menschliche Unsterblichkeit (1791)  153 Verstand und Erfahrung. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft (1799)  156  Kalligone (1800)  158 Adrastea (1801–1803)  159  Der Cid (1803/04)  163 Krankheit und Mißmut  164  Die wachsende Kinderschar  165 Herders Freunde in der späten Weimarer Zeit  166 Herder und Goethe  169  Die Nobilitierung  171 Das Problem des unberechtigten Nachdrucks und die Gesamtausgabe  172  Das Ende  174 HERDERS GRÖSSE 175 NACHWEIS DER ZITATE 181 LITERATURHINWEISE

Herder-Ausgaben  183  Forschungsliteratur  183 BILDNACHWEIS 189 REGISTER 191

1 EINFÜHRUNG

WER WAR HERDER? Johann Gottfried Herder (1744–1803) war einer der größten Denker und bedeutendsten Menschen, die je in Deutschland gelebt haben. Im Vergleich mit seiner Leistung und Bedeutung ist sein Bekanntheitsgrad eher gering: Man wird wohl kaum eine höhere Schule absolvieren können, ohne etwas von Lessing, Goethe und Schiller gelesen zu haben; ob einem aber auch Herder, der kein Drama und keinen Roman verfaßt und sich auch selber nicht für einen Dichter gehalten hat, im Rahmen höherer Schulbildung begegnet ist, scheint durchaus fraglich. Herder war universal gebildet und schlechterdings zu vielseitig, als daß ihn ein heutiger Mensch nach allen Richtungen hin verstehen könnte. Außerdem war er von einer Schreib-Lust besessen, von der er sich manchmal auch hinreißen ließ, wenn er seinen Assoziationen nachgab und sich poetische Evokationen ­gestattete, die nicht immer ganz leicht zu dekodieren sind. Herder ist nicht einfach, aber lohnend. Herder war zu vieles gleichzeitig: Er war in erster Linie ein Gelehrter von tiefer Kenntnis der Vergangenheit, die er sich aus Büchern angeeignet hatte, wenn auch nicht Professor an einer Universität. Er war Prediger und Kirchenmann, allerdings nicht ortho-

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dox, sondern bemerkenswert eigenständig. In seinem wichtigsten Amt war er auch für Schule und Unterricht zuständig und er war ein begeisterter Pädagoge, theoretisch und praktisch. Er war ein Schriftsteller, der bergeweise Bücher schrieb und publizierte: Die nach ­seinem Tode herausgekommene Gesamtausgabe umfaßte nicht weniger als 45 Bände. Er übersetzte aus den verschiedensten Sprachen, er dichtete, er schrieb einzelne Essays und ganze Zeitschriften, er verfaßte schwergewichtige theologische und philosophische Werke. Vor allem aber war er Historiker, doch dies im Versuch, ein ins­ gesamt historisches Weltbild aufzubauen, also unter Einschluß der philosophischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit. Zentral ist seine Theorie der Kultur und hauptsächlich seine Auffassung von Sprache. Zwischen Kultur und Humanität besteht dabei eine sehr enge Beziehung: Herder zeigte, inwiefern das Wesen des Menschen in seiner ‚Kultürlichkeit‘ besteht, und seine Bemühung um Kultur zielte auf Humanität, auf möglichst umfassende Entwicklung aller menschlichen Möglichkeiten. Herder war ein Mensch der Aufklärung – nicht nur in dem Sinne, daß er im ‚Zeitalter der Aufklärung‘ lebte, sondern auch in dem anderen, daß er sich für die Ausbreitung wahrer Aufklärung einsetzte. Dies wird freilich teilweise dadurch verdeckt, daß er Autoren der Aufklärung polemisch angegriffen hat, deren Tendenzen er für verfehlt hielt. Sein Wahlspruch Licht, Liebe, Leben verbindet das Intellektuelle mit dem Religiösen. – Es ist durchaus ein Mißverständnis, Herder als Propheten des Irrationalismus und als Helden einer ‚Deutschen Bewegung‘ gegen die westeuropäische Aufklärung zu sehen. ‚Wahre Aufklärung‘ war nie nur Sache des Kopfes, sondern immer auch Sache des Herzens. Und hier steht Herder als die entscheidende Mittlerfigur: Sein wesentlicher Beitrag zur Leistung seiner Epoche ist die Rückgewinnung der Sinnlichkeit, die Kultivierung aller Kräfte des Menschen für ein umfassendes, erfülltes Menschsein. Eine bloß abstrakte (erkenntniskritische) Philosophie vermochte ihn deshalb nicht zu

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fesseln. Denken und Schreiben war für ihn immer schon ein sinn­ licher Akt, eine Lebensform, welche die emotionalen Komponenten integrierte und zu einer neuen Legitimation des Menschen als eines Sinneswesens beitragen sollte. Herder leistete Wesentliches für die Philosophie, namentlich auch für die Ästhetik, die er sich aber nicht von Ethik getrennt vorstellen konnte. Als Theologe stand er im Zwiespalt: Einerseits hatte er sich durch sein geistliches Amt auf die Lehren der lutherischen Kirche verpflichtet, andererseits war es ihm ein Anliegen, diese mit den kritischen Impulsen der Aufklärung zu vereinbaren. Seine wesentliche Lebensarbeit kann man darin sehen, daß er sich bemühte, das herkömmliche Christentum mit den neuen Auffassungen seiner Zeit zu versöhnen. Er wollte den Menschen seiner sich von der Religion emanzipierenden Zeit ein Christentum predigen, das sie verstehen und als adäquaten Ausdruck ihrer religiösen, emotionalen und ­intellektuellen Bedürfnisse begreifen konnten. Herder stellte sich von Anfang an in die literarische Bewegung seiner Zeit. Er war nicht nur Gelehrter, sondern Schriftsteller, kreativ schreibend Tätiger. Er kultivierte fast alle Formen, welche damals von Belang waren, insbesondere auch den Brief und den Essay. Er war aber auch Kritiker und Journalist; er besaß ein polemisches ­ Talent. Er hätte sich auf seine beruflichen Tätigkeitsfelder beschränken können, mit denen er an sich genug zu tun hatte – aber das wollte er nie. Hinter seiner Gemeinde und seiner Schule sah er – auch insofern ein echter Aufklärer – immer das große Publikum, die gesamte deutsche Nation.

WARUM WURDE HERDER VERGESSEN? Wie aber kommt es, daß eine so herausragende Persönlichkeit mit einem so reichen Schaffen später dermaßen verdeckt, verdrängt, vernachlässigt werden konnte? Dafür gibt es mehrere Gründe:

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Ein Grund liegt darin, daß er kein Talent hatte, sich eine Anhängerschaft zu organisieren. Es gibt keine ‚Herderianer‘ und keinen ‚Herderianismus‘; jede Verengung seiner Gedanken zu einer dogmatischen Lehre oder einem System hätte er abgelehnt. Wohl gab es einige Jüngere, die von ihm begeistert und fasziniert waren (zum Beispiel der Schriftsteller Jean Paul, der Arzt und Naturwissenschaftler Gotthilf Heinrich Schubert, der Historiker Johannes von Müller und der Theologe Johann Georg Müller); aber diese waren nicht die Wortführer der wirkenden Strömungen ihrer Zeit. Und die universitäre Lehre, die vielleicht institutionell die Möglichkeit zum Aufbau einer ‚Schule‘ gebildet hätte, war ihm versagt geblieben. Zwei Gelegenheiten, Professor an der Universität Göttingen zu werden (1775, 1789), zerschlugen sich. Herders Wunsch nach einem Lehrstuhl in Jena (1789) wurde vom Herzog nicht genehmigt. 2 Die Meinungsführer um 1800: Schriftsteller und Philosophen wie die Brüder Schlegel, Hegel, Fichte und die Brüder Humboldt wollten nichts mit ihm zu tun haben. Auch wenn sie alle von Herder eine Fülle von Impulsen aufgenommen haben, vermieden sie es, sich zu Herder zu bekennen. Die Brüder Schlegel haben sich in mancher Hinsicht von Herder anregen lassen, vor allem auch für ihre Studien zur Literaturgeschichte vieler Völker, aber auf Herder bezogen sie sich kaum jemals. Wilhelm von Humboldt hatte viel von Herder gelernt und in seinen sprachwissenschaftlichen und philosophischen Arbeiten ging er in den Spuren Herders fort; aber auf Herder berief er sich nie. Die romantischen Philologen um die Brüder Grimm fußten auf dem, was ihnen Herder gezeigt hatte: Dichtung des Volkes, Sprache als Organismus, nationale Entwicklung. Aber auch für sie war Herder tot. Ein Philosoph wie Hegel war nicht denkbar ohne Herders Durcharbeitung aller Bestände der Geschichte in philosophischer Absicht – aber nie hätte sich Hegel auf Herder berufen bei seinen Bemühungen um einen philosophischen Neuentwurf. Es war schon so, wie es Goethe formulierte: Herders Impulse waren quasi anonym in die Masse des Denkens eingegangen; auch dort, wo man 1

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Herder weiterdachte, wußte man im frühen 19. Jahrhundert kaum, daß dies von Herder herkam. 3 Herders Rezeption standen schließlich verschiedene Miß­ deutungen im Wege. Jeder nahm sich von Herders Gedanken, was er gerade brauchen konnte. Seine Ideen zum Völkischen und Nationalen wurden besonders begierig von den slawischen Völkern aufgegriffen, die ihn auch bis heute als einen ‚Erwecker‘ ihrer jeweiligen Nationalität verehren. Aber das ist ein einseitiges Herder-Verständnis. Ebenso partiell und fatal ist die Meinung, Herder sei ein ‚Irra­ tionalist‘ und Kämpfer gegen die Vernunft gewesen. Vielmehr zielte seine Emanzipation der Sinnlichkeit auf eine höhere Rationalität, auf den ‚ganzen Menschen‘. Sodann wurde seine Emphase der Humanität für Herders Nachruhm verhängnisvoll, wo man, in der Nachfolge Nietzsches, ‚Humanität‘ und ‚Humanismus‘ verspottete. 4 Schließlich gibt es auch noch Gründe für eine schwierige Rezeption, die in Herders Werk selbst liegen. In seiner frühen Phase pflegte er einen anspielungsreichen, mystischen und bisweilen schwer verständlichen Stil, der durch seinen älteren Freund und Mentor Johann Georg Hamann angeregt war. Herders Haupt- und Spätwerk jedoch ist in klarer, einfacher Diktion geschrieben und für jedermann zugänglich. Viele der Schriften Herders sind Gelegenheitsschriften, polemische Ergüsse, die nicht immer erfreulich zu lesen sind. Aber sie stehen neben anderen, klassischen Schriften von unübertrefflicher Reinheit und Schönheit. Ihre gelehrte Tiefe und ihr Anspielungsreichtum sind oft so ungeheuer, daß sie nur für wenige Leser in all ihren Dimensionen verständlich sein können. Aber das liegt an uns! Die meisten dieser Argumente, die erläutern, warum Herder nicht so berühmt ist, wie er es zu sein verdiente, kann man auch umkehren und positiv für ihn geltend machen: 1 Daß er keine Schule bildete, zeigt, daß er kein Dogmatiker war. Es kam ihm letzten Endes nicht auf ‚seinen‘ Ruhm und ‚seine‘ Lehre an, sondern auf den Fortschritt der Menschheit als Zuwachs an Menschlichkeit.

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Daß schon die Romantiker nicht mehr Herder zitierten, beweist auch, daß Wesentliches aus seinem Denken in das allgemeine Denken seiner Zeit eingegangen war. Man dachte in Herders Bahnen auch dort, wo man nicht mehr wußte, daß das ‚Herder‘ war. In gewisser Hinsicht ist das sogar der höchste Beweis für Wirkung. 3 Die Verächter Herders und der von Hebbel und Goebbels so genannten ‚Humanitätsduselei‘ haben sich durch ihre eigenen Taten und Untaten so gründlich selbst gerichtet, daß man sich nur freuen kann, wenn man statt ‚Übermenschen‘ nun wieder Menschen im gewöhnlichen Maß sehen kann. ‚Humanität‘ erscheint uns gerade nach den Exzessen des 20. Jahrhunderts erneut als erstrebenswertes Ziel. 4 Der ‚schwierige‘ Herder ist auch ein Sprachkünstler, ein Sprachspieler, ein vom Wort Begeisterter. Mit seinen ‚schwierigen‘ Texten bietet er nicht nur Widerstand gegen Verflachungen, sondern auch einen Schatz der Poesie und mystischer Erkenntnis, ein Potential für überraschend zukunftsweisende Lektüren und lohnende Wiederentdeckungen. 2

DER GROSSE ANREGER Bei alledem gab es seit Herders Zeiten immer Menschen, die sich für ihn und sein Werk eingesetzt haben. Vorläufig dazu nur einige wenige Stimmen zum Beleg. Die erste große Biographie hat Rudolf Haym in zwei Bänden 1880 und 1885 vorgelegt unter dem Titel Herder nach seinem Leben und seinen Werken dargestellt. Hier wird alles ins Einzelne gehend ausführlich dargelegt, doch eine Gesamtcharakteristik findet sich nicht. Freilich hat Haym an zentraler Stelle gewissermaßen den Knoten geschürzt, wo er nämlich auf Herders Werk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit eingeht. Dort preist er dieses Werk als „Herders größte und durchgearbeitetste schriftstellerische Leistung“, als „Summe seines geistigen Lebens und Strebens“. Herder sei stets

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auf genetische Erklärungen geistiger Erscheinungen aus der Natur aus gewesen, auf Nachempfinden und Nachverstehen alles Menschlichen. Für ihn ergab sich die Darstellung der Mannigfaltigkeit des Daseienden als Aufgabe; sein Schlüssel war der Aufweis eines universalen Werdens und Entstehens. „Ihm war, ihm wurde unter der Hand die Welt Geschichte, seine Weltanschauung Geschichts­ anschauung, seine Philosophie eine Philosophie der Geschichte.“ Die Geschichtsphilosophie Herders sei gebunden durch Religion; auch die sprach- und literaturwissenschaftlichen Anschauungen seien nicht anders zu verstehen denn durch seine theologischen Überzeugungen. „Herder der Theolog und Herder der Geschichtsphilosoph ist Eins.“ Damit markiert Haym einen Zentralpunkt Herderschen Denkens: das Verhältnis von Religion und Geschichte. Und er weist darauf hin, daß alle übrigen Herder beschäftigenden Wissenschaften damit zusammenhängen. Herder kann tatsächlich nur holistisch verstanden werden, weil sich sein Denken stets auf das Ganze richtete. Wenn wir seine Schriften nach ihrem Beitrag zur Fortentwicklung verschiedener Fachwissenschaften untersuchen, schneiden wir jeweils etwas heraus aus dem Ganzen, das ihm vorschwebte. Dies ist einerseits analytisch notwendig, um Verstehen zu ermöglichen, andererseits verfälscht es das Anliegen Herders. Eugen Kühnemann legte 1895 die zweite umfassende Lebens­ deutung Herders vor (1927 in dritter Auflage). Sie hat stärker lebens­philosophischen Charakter, wie es um 1900 eben dem Zeitgeist entsprach, und geht weniger auf das empirische Einzelne ein. Kühnemann sieht Herder unter dem Gesichtspunkt des Tragischen: „Das Herdersche Leben ist die Tragödie des Genius, dem nicht gegeben war, aus seiner Genialität die Gestalt des Daseins sich zu schaffen, bei der es ruhig auswuchs zu seiner Notwendigkeit und in dieser Notwendigkeit sich behauptete bis ans Ende. Er erlebte den Gedanken der Menschheit als einer Einheit alles Menschlichen, wie sie in den unendlich verschiedenen Weisen menschlichen Erlebens uns immer das gleiche Brudergesicht zeigt. Er hat diese Menschheit

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uns entdecken gelehrt in den Entzückungen des immer tieferen und feineren Verstehens. Er hat die Liebe zur Menschheit in einem nie gekannten Umfang in sich verwirklicht. Er hat den edlen Zielgedanken der einheitlichen Menschheitsgemeinde aus tiefsten Tiefen der Seele in immer wieder lockender Predigt an unser Herz gelegt. Was von dieser seiner Arbeit bleibt, ist viel: der Ruf zum allseitigsten Verstehen menschlicher Dinge, der Geist der großen Liebe, als in der allein es ein Begreifen für das Menschliche gibt, die Sehnsucht zu den Vollendungsseiten mit ihrer wahren Brudergemeinde der einen Menschheit. Dies alles trägt er als Ziel vor uns her in seiner großen Einheit des Erkennens und Glaubens, der Genius des nachschöpferischen Mitlebens, der Prediger einer zu reiner Humanität befreiten Religion.“ Das ist zeittypisch, aber glänzend formuliert: Herder predigt nicht mehr die orthodoxe lutherische Religion, sondern eine Umbildung derselben, welche ‚Humanität‘ heißt. Er hat die ‚Liebe zur Menschheit‘, die sich ihm sowohl theoretisch als auch praktisch, historisch wie aktuell erschließt als Einheit in der Vielheit. Der Weg des Humanisten zur Geschichte verläuft über Sprache und Literatur – unter Einschluß der historischen Schriften wie auch der Heiligen Schriften, die er als ‚Älteste Urkunde des Menschengeschlechtes‘ liest. Er erschließt sich ihren Gehalt sachlich und poetisch, historisch und religiös zugleich. Eine Gesamtwürdigung des zu vielen Wissenschaften beitragenden Herder aufgrund seiner verschiedenen Begabungen und persönlichen Stärken hat meisterhaft Ernst Benz im Sammelwerk Die Großen Deutschen geliefert. Er schreibt dort unter anderem: „Von Anfang an sind bestimmte Begabungen bei ihm aufs engste miteinander verflochten. Eine dichterische Gestaltungskraft, ein tiefempfundenes Naturgefühl mit dem Blick für organische Entwicklungen und mit dem Bestreben, die Natur ins Geistige zu erheben, eine ungemeine Empfindsamkeit für das Schöne, gesteigert durch eine reich nuancierte Sinnlichkeit, in der sich Musikalität, Empfindung für Rhythmus und Maß, eine feine Empfänglichkeit für alle Reize mitei-

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nander mischen, ein ausgesprochen religiöses Sensorium, vielleicht der stärkste Zug seiner Begabung, und von hier aus ein außerordent­ liches Feingefühl für alle Nuancen des Menschlichen sowohl im leiblichen wie im seelischen wie im geistlichen Bereich. Diese einzigartige Universalität der Begabung Herders macht die Universalität seiner Ideen und Schöpfungen verständlich, ohne sie indes ganz zu erklären. Während sonst Begabungen leicht eine spezialisierte Form annehmen und sich als philosophische, naturwissenschaftliche oder musikalische Einzelbegabung in einem exklusiven Sinne äußern, weist Herders Geist eine Art von Kumulation der verschiedenartigsten Begabungen auf, die es ihm ermöglicht, an den mannigfaltigsten menschlichen Lebensbereichen empfindend und schöpferisch teilzuhaben und in einer unendlich großen Spannweite des Menschlichen zu Hause zu sein.“ – Herders Universalität als „Kumulation der verschiedenartigsten Begabungen“ – das ist trefflich gesehen. Es ist eben nicht nur ein überheblicher Wille, das Ganze zu umfassen, sondern auch ein kräftiges Vermögen, das Ganze zu erschließen. Und man erlebt hier das Zusammenspiel des Intellektuellen mit dem Emotionalen. Um es paradox zuzuspitzen: Herder war eine Persönlichkeit, die an Kants geistige Schärfe nicht heranreichte so wenig wie an Mozarts Musikalität. Aber ließe sich ein Mensch denken, der Kant und Mozart zugleich war? Er müßte ‚Herder‘ heißen. Von Wilhelm Dobbek wurde Herder nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen mit Goethe nach seinem weltanschaulichen Potential untersucht; seine Humanitätsidee trat gewissermaßen in einem säkularisierten Zeitalter an die Stelle der Religion: „[I]mmer blieb Humanität die letzte Rettung für Menschen, die sich nicht in Jenseitshoffnungen flüchten konnten und wollten, für die das Leben auf dieser Erde aber trotzdem einen Sinn bekommen mußte“. Eine solche Art des Gebrauchs spiegelt die Wirren des 20. Jahrhunderts; Herder selbst, der ohne Zweifel im philosophischen wie auch im christlichen Sinne an die Unsterblichkeit der Seele glaubte, hätte sich wahrscheinlich gegen eine solche Ausdeutung seiner Lehre

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verwahrt. Immerhin: Nach den Überspitzungen des Nationalismus und Nationalsozialismus wie auch des Sozialismus bot Herder einen Anknüpfungspunkt für neues Denken, für die bohrende Identitätssuche in verwirrter Zeit. Das kann man nicht über viele Denker des 18. Jahrhunderts sagen. In der Tat steht hier Herder neben Goethe. Ihr geistiges Potential ging sowohl in die westdeutsche als auch in die ostdeutsche Variante der Neuorientierung nach 1945 ein. Goethe wie Herder wurden von den herrschenden Kräften in West und Ost gleichermaßen vereinnahmt und für ihre ideologischen Positionen in Anspruch genommen. Ein wichtiges Charakteristikum Herders liegt darin, daß er sich unseren Disziplingrenzen nicht fügt. Wie kaum ein anderer steht er für eine umfassende Wissenschaft vom Menschen. Das hat dazu geführt, daß ihn eine ganze Reihe verschiedener Wissenschaften jeweils zum ‚Klassiker‘ erklärt hat. Er gehört zu den ‚Klassikern der Theologie‘ und zu den ‚Gestalten der Kirchengeschichte‘. Henning Graf Reventlow hat ihm ein eigenes Kapitel in seinem großen Werk Epochen der Bibelauslegung gewidmet. Herder figuriert aber auch in jeder Philosophiegeschichte! Dabei leidet eine gerechte Einschätzung seiner Bedeutung jedoch unter der Kontroverse Herders mit Kant. Da nun Kant ohne Zweifel in der Philosophiegeschichte Epoche machte, hegen die meisten Philosophiehistoriker eine negative Vorstellung von Herder. In der deutschen Literaturgeschichte wiederum herrscht eine andere Verzerrung vor. Natürlich kennt man Herder als Volksliedersammler und erwähnt grundsätzlich seine Begegnung mit Goethe in Straßburg und seine konzeptionelle Bedeutung für die Bewegung des ‚Sturm und Drang‘. Da aber Literaturgeschichte im allgemeinen stark nach Werken und Gattungen organisiert wird, fällt es den Germanisten schwer, einem Manne gerecht zu werden, der keine Romane verfaßt hat und keine Dramen und sich selbst auch nicht für einen Dichter hielt. Neuere Bestrebungen, die Sachprosa und die

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Zeitschriftenliteratur aufzuwerten, haben Herder dabei (bis jetzt) noch nicht helfen können. Auch in der Geschichte des deutschen Briefes hat er noch nicht die ihm gebührende Stellung eingeräumt bekommen. In den Klassikern der Pädagogik, die Hans Scheuerl heraus­ gegeben hat, nimmt Herder einen Platz ein zwischen Pestalozzi und Humboldt – völlig zu Recht. Nach der Ansicht von Ursula Cillien bewährt sich Herder als Pädagoge gerade durch seine ganzheitliche Sicht auf Bildung und Geschichte. Auch in den Klassikern der Kulturanthropologie, die Wolfgang Marschall herausgegeben hat, steht das Portrait Herders: zwischen Montaigne und den spanischen Kolonialexperten einerseits, Forster, Morgan, Bastian und der großen Reihe der wissenschaftlichen Ethnologen andererseits. Eberhard Berg betont besonders die Vielfalt der Erkenntnisinteressen Herders, der all jenes zu umfassen suchte, was die Menschheit in Vergangenheit und Gegenwart geistig bewegt hat. Die Einheit des Herderschen Denkens findet er in der Formel aus dem Reisejournal: „eine Geschichte der Menschlichen Seele überhaupt, in Zeiten und Völkern!“ (FA 9/2, 34) Herder will die historische Vielfalt menschlicher Lebens- und Denkformen dem Ablauf der Geschichte gemäß ordnen und auf dieser Grundlage eine Gesamtschau des Menschlichen entfalten: „Bildung der Individualität im Zuge der Verwirklichung der Humanität“. Dazu dient ihm die Kulturgeschichte. Sie liefert ihm eine Wesensbestimmung des Menschen aus der Vielfalt menschlicher Lebens- und Denkformen – eine neue Anthropologie. Für Eberhard Berg ist Herder „kraft seiner absolute Werte zurückweisenden und die Gleichwertigkeit aller ­Kultur betonenden Geschichtstheorie zu einem herausragenden Wegbereiter der Kulturanthropologie geworden“. Für Friedrich Meinecke war Herder der Kronzeuge des Historismus: ein immer geschichtliches Verstehen alles Menschlichen als Grundprinzip der historischen Wissenschaften. Hans-Georg Gadamer schätzte Herder als Meister der Hermeneutik, der Grund-

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lage der Geisteswissenschaften. Das Wort und Bild vom ‚Horizont‘, das Herder zuerst ausgenutzt hatte, wurde bei Gadamer zentral. Für Ernst Cassirer bot Herder den wichtigsten Anknüpfungspunkt einer Theorie der Kultur als Theorie der ‚symbolischen Formen‘. Unter den jüngeren Philosophen hat vor allem Jens Heise eine eindringliche Würdigung Herders verfaßt, in der Herders bereits 1765 geprägte Formel „Einziehung der Philosophie auf Anthro­ pologie“ (FA 1, 132) besonders herausgestellt wird. „Bei Herder steht Anthropologie programmatisch für die Kritik an einer Vernunft, die von allen Bindungen an Sprache, Erfahrung, Tradition gereinigt ist. Daß sich Vernunft nicht unberührt von der Erfahrung konstituiert, sondern immer schon Teil der historischen Welt des Menschen war – das hat Herder in seinem weitgespannten Werk unaufhörlich demonstriert. Getragen ist die Vernunftkritik von der Einsicht, daß Vernunft an Sprache gebunden ist.“

HERDER – EIN ‚BEKANNTER UNBEKANNTER‘ Herder genießt den Status eines ‚bekannten Unbekannten‘: Nicht selten beruft man sich in der Öffentlichkeit auf ihn, benutzt seinen Namen. Ich will dazu nur fünf Beispiele nennen. 1 Nach dem Ersten Weltkrieg, als die deutschen Ostgebiete völkerrechtlich umstritten waren und im Baltikum jahrelang Freikorps die Szene beherrschten, wurde in Riga von der deutsch-baltischen Herder-Gesellschaft unter dem Namen ‚Johann Gottfried Herder‘ eine Hochschule gegründet (1921 bis 1939). 2 Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden der ‚Johann Gottfried Herder-Forschungsrat‘ und das ‚Herder-Institut‘ in Marburg. Sie widmen sich besonders der Erforschung Ostmitteleuropas durch den Aufbau einer Spezialbibliothek und durch wissenschaftliche Veranstaltungen.

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In der DDR verlieh man die ‚Johann-Gottfried-Herder-­ Medaille‘ an diejenigen Schulabsolventen, welche die besten ­Russischkenntnisse nachweisen konnten. 4 Die Hamburger Alfred Toepfer Stiftung F.V.S. hat seit den sechziger Jahren (bis letztmals 2006) einen ‚Herder-Preis‘ für besondere Leistungen osteuropäischer Künstler und Gelehrter vergeben. 5 Der Deutsche Akademische Austauschdienst hat vor einigen Jahren ein ‚Johann Gottfried Herder-Programm‘ aufgelegt, mit dessen Hilfe die Vermittlung emeritierter deutscher Professoren an die Universitäten in Ostmitteleuropa und in den Balkanländern finanziert wird. Diesen Verwendungen des Namens ‚Herder‘ ist gemeinsam, daß er hier in seinem Symbolwert entweder für das ‚Deutschtum im Osten‘ oder für die Wirkung seiner Ideen auf die slawischen Völker genommen wird. ‚Herder‘ erscheint hier als eine Chiffre für deutsche Kulturpolitik: Wie man überall in der Welt Goethe mit dem Deutschen identifiziert und also passenderweise ‚Goethe-Institute‘ unterhält, um die Kenntnis der deutschen Sprache und Kultur zu fördern, so bedeutet der Name ‚Alexander von Humboldt‘ (für Südamerika) eben die Beziehung zu Deutschland – und der Name ‚Herder‘ die­ jenige zur slawischen Welt. Schließlich soll nicht übergangen werden, daß Herder in Weimar, wo er jahrzehntelang seine wesentliche Wirkungsstätte hatte, besonders präsent ist. Er liegt in Weimar in der Stadtkirche begraben; seine Grabplatte enthält das berühmte Ewigkeitssymbol der Schlange, die sich in den Schwanz beißt, in einem Strahlenkranz das Alpha und Omega, also Anfang und Ende in Gott, und sein Motto Licht, Liebe, Leben. Die Stadtkirche selbst erhielt den Beinamen ‚Herderkirche‘. 1850 wurde vor der Stadtkirche das Herder-Denkmal errichtet – also noch vor den Denkmälern für Wieland, Goethe und Schiller. Weitere Denkmalbüsten und Tafeln finden sich auf seinem Lieblingsplätzchen im Tiefurter Park, am Südhang des Ettersberges, ferner im Seifersdorfer Tal bei Dresden und an der Stadtkirche 3

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in Bückeburg. Herder-Denkmäler stehen an seinem Geburtsort Mohrungen in Ostpreußen (heute Morąg, zu Polen gehörig) und an seinem ersten Ort als Prediger und Lehrer, in Riga. Seine Haupt­ wirkungsstätte, seine Amtswohnung hinter der Stadtkirche in Weimar, ist nach wie vor als ‚Herder-Haus‘ kenntlich. In der DDR-Zeit gab es ein ‚Herder-Museum‘ im Kirms-Krackow-Haus in Weimar; die ‚Forschungsstätten der klassischen deutschen Literatur/Schiller-­ Nationalmuseum‘ in Weimar fühlten sich besonders für Herder-­ Forschung zuständig. Im ‚Wilhelm-Ernst-Gymnasium‘ in Weimar, wo Herder den Unterricht inspizierte und Prüfungen abhielt, soll in den kommenden Jahren ein ‚Herder-Zentrum für Kulturwissenschaft und Kulturgeschichte‘ entstehen. ‚Herder‘ ist glücklicherweise nicht auf die Assoziationen ‚Weimar‘ und ‚Osten‘ allein festgelegt, wenn diese auch besonders prägend sind. Es gibt heute eine vielseitige internationale und interdisziplinäre Herder-Forschung, die ihren zentralen Ort in einer wissenschaftlichen Gesellschaft findet. Diese ist jedoch – bezeichnenderweise – keine Erscheinung des 19. Jahrhunderts wie die Goethe- oder die Schillergesellschaft. Sie ging vielmehr aus einer Initiative deutscher Wissenschaftler hervor, die als akademische Lehrer deutsche Kultur in Amerika vertraten. Die International Herder Society wurde 1985 in Monterey in Kalifornien gegründet. Sie umfaßt heute etwa zweihundert Wissenschaftler verschiedener Fachzugehörigkeit auf allen Kontinenten, auch aus Japan, China, Rußland und mehreren afrikanischen Staaten, die sich der Erforschung von Leben, Werk und Wirkung Herders gewidmet haben. Sie treffen sich zu großen Kongressen alle zwei Jahre wechselnd in Amerika und in Europa und geben auch ein Herder-Jahrbuch (Herder Yearbook) heraus.

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2 HERKUNFT, KINDHEIT, ­S TUDIUM UND ERSTES AMT (1744 –1769)

HERKUNFT, KINDHEIT, SCHULE Wenn Herder später von der „Mitternacht, die mich erzeugte, reifte und gebar“ (FA 3, 784), sprach, meinte er damit erstens wirklich die Nachtstunde auf der Grenze zwischen zwei Tagen, zweitens den Norden, in antiker Diktion gleich Mitternacht, drittens sollte damit etwas Schauerliches angedeutet werden, nämlich die Gespensterstunde. Johann Gottfried Herder wurde am 25. August 1744 in Mohrungen in Ostpreußen als drittes Kind des Mädchenschulmeisters Johann Herder und seiner Ehefrau Anna Elisabeth geb. Peltz, Tochter eines Schuhmachers, geboren. Mohrungen war eine kleine Handelsstadt an der Straße von Danzig nach Warschau und zählte damals etwa zweitausend Einwohner. Es unterstand dem preußischen König. Seine Eltern gehörten dort zu den eingesessenen Familien, wenn sie auch, als Handwerker, Mühe hatten, sich zu ernähren. Sein Großvater väterlicherseits war Tuchmachermeister, Stadtältester und Spitalvorsteher gewesen, sein Vater hatte als Tuchmacher nicht bestehen können und deshalb das Amt eines Küsters und Mädchen­ schullehrers angenommen. Die Schulkinder wurden in seinem Hau21  Herkunft, Kindheit, ­Studium und erstes Amt

se ­unterrichtet; so kam es, daß Johann Gottfried in einer Schulstube groß wurde und alles schnell lernte, was der Vater den anderen Kindern beibrachte. Johann Gottfried war das erste überlebende männliche Kind eines verhältnismäßig alten Vaters und einer jungen Mutter. Man lebte fromm, pietistisch angehaucht; die Bibel, das evangelische Gesangbuch, aber auch Johann Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum, das bekannteste Erbauungswerk jener Zeit, hatten großen Einfluß auf ihn. Herder erinnerte sich später mit folgenden Worten: „Ich bin in einer dunkeln, aber nicht dürftigen Mittelmäßigkeit geboren, und von Kindheit auf erinnre ich mich nichts, als Scenen entweder der Empfindsamkeit und Rührung; oder eines einsamen Gedankentraums, der meistens von Planen des Ehrgeizes belebt wurde, die man in einem Kinde nicht sucht. Ich hatte also, so verwöhnt und Mütterlich ich war, so entfernt von Gelehrsamkeit und Bildung ich seyn mochte; ich hatte also von meiner Kindheit an Charakter, wahrhaft Charakter; und ich könnte Ihnen davon sonderbare Proben erzählen!“ (DA 1, 228) Herder bekennt sich also ehrlich zu seiner bescheidenen ­Herkunft, bei der er die Bildungsferne betont, materielle Armut aber leugnet. Er war ein verwöhntes Kind seiner Mutter, das in einem empfindsamen Milieu lebte. Aber in dieser Geborgenheit sieht er sich selber herausstechen durch Ehrgeiz. Er habe von Kindheit an „Charakter“ gehabt, das heißt eine auszeichnende Eigenart, Persönlichkeit; der besondere „Ehrgeiz“ ist das einzige Indiz, das er an dieser Stelle aufführt. Herder war also kleinbürgerlicher Herkunft, aber er wuchs in einer Stadt auf. In unmittelbarer Nähe gab es Personen höheren Standes, die sich für den Kleinen interessierten, beispielsweise der Stadtpfarrer Willamovius oder Grimm, der Rektor der Stadtschule, auf die er geschickt wurde, als er in der häuslichen Schulstube genug gelernt hatte. Dort wurde er in Latein, Griechisch, Hebräisch, Geschichte, Erd- und Naturkunde, Mathematik und Musik unterrichtet. Er entwickelte sich zu einem begeisterten Bücherleser und fand früh schon seine Freude

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daran, in freier Natur zu lesen. Das bedeutet zugleich, daß er sich absonderte, vereinzelte; er neigte dazu, sich in Traumwelten zu flüchten und ehrgeizige Pläne für die Zukunft zu schmieden. Es war eine Zeit der Naturschwärmerei, der Empfindsamkeit und der Grabesseligkeit. In Herders Jugendzeit war es ‚Kult‘, sich seiner Schwermut zu überlassen und über die Sterblichkeit des Menschen zu brüten. Dieser Kult war literarisch vermittelt, beispielsweise durch das Lieblingsbuch der damaligen Zeit: Edward Youngs The Complaints, or: Night Thoughts on Life, Death and Immortality (1742–48, deutsch 1751). Zeittypisch ist das Ungenügen an reiner Vernunftwissenschaft und die Suche nach Erweiterung in geträumten Phantasiewelten. Im damaligen Stil des Gelehrtenschulwesens herrschte Nachahmung vor: Nicht nur Briefe und Aufsätze mußten zu Papier gebracht werden, auch poetische Versuche in den zu lernenden Sprachen gehörten dazu. Auch Predigten nachschreiben und selber verfertigen übten die aufgeweckteren Knaben früh. Sie lernten Kirchenlieder und verfaßten bald selber welche. Von Herder sind verschiedene dieser Kinderpoesien aus der familiären und kirch­ lichen Lebenswelt erhalten geblieben. 1760 kam der Theologe und religiöse Erbauungsschriftsteller Sebastian Friedrich Trescho als Diakon nach Mohrungen, und ­Herder, der im elterlichen Haus kaum Ruhe zu seinen Studien finden konnte, zog nun zu Trescho, der ihm kostenlose Unterkunft gewährte, ihn aber auch als Schreibkraft einsetzte. Der 16jährige liebte Bücher, und Trescho hatte eine eigene kleine Bibliothek, in der man außer Klassikern auch die modernen Schriftsteller lesen konnte. Das war für den Jungen Gold wert; er las und las und fing nun auch an, Französisch zu lernen, die Sprache der Zeit. Als Kopist erlangte er eine große Geläufigkeit im Schreiben. Schon seit seiner Jugendzeit wurde Herder von einer lästigen körperlichen Erscheinung gequält, die ihn sein Leben lang verfolgte: eine Tränenfistel. Da seine Tränenflüssigkeit nicht geregelt abfließen konnte, hatte er immer mit Entzündungen zu kämpfen und war oft

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im Gesicht etwas entstellt. Diese Krankheit brachte ihm aber auch eine für den Lauf seines Lebens wichtige Beziehung ein. Mohrungen war im Siebenjährigen Krieg von den Russen besetzt worden, und mit ihnen kam ein Wundarzt mit Namen Schwartz-Erla in die Stadt, an den sich Herders Eltern um Rat wandten. Dieser konnte ihm zwar medizinisch auch nicht helfen, fand aber Gefallen an dem jungen Mann und nahm ihn mit nach Königsberg, als er 18 war. Was er ihm anbot: Heilung der Tränenfistel und Ermöglichung eines medizinischen Studiums. Was er dafür wollte: daß ihm der Junge eine medizinische Dissertation aus dem Lateinischen übersetzte. Herder war froh, auf diesem Wege an eine Universität zu kommen – seine Eltern hätten ihm kein Studium finanzieren können. Im Sommer 1762 verließ er Mohrungen; er sah seine Eltern nie wieder. Mit dem Medizinstudium wurde es freilich nichts, weil er schon bei der ersten Sektion in Ohnmacht fiel. Die Übersetzung für Schwartz-Erla machte er trotzdem. Geheilt wurde er nicht.

STUDIUM IN KÖNIGSBERG In Königsberg als Student begann ein neues Leben, wenngleich in Armut und Dürftigkeit. Er schrieb später: „Ich ging mit 3 Talern 9 Groschen Preußisch Courant auf die Universität u. machte mir einen Ehrenpunkt daraus, von meinen Eltern nichts mehr zu begehren, weil sie mir nichts geben konnten“ (DA 8, 53). Herder fand zwei Möglichkeiten zu überleben: Er beantragte ein Stipendium der Grafen zu Dohna-Schlobitten, die in Mohrungen ansässig waren und für dortige Stadtkinder ein Stipendium zum Theologiestudium ausgesetzt hatten. Und er wohnte im Collegium Fridericianum, einer Lehranstalt, die in pietistischem Geiste nach dem Muster August Hermann Franckes in Halle gegründet worden war. Dort hatte er freie Wohnung und mußte dafür Dienste als Aufseher leisten und Unterricht erteilen.

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Königsberg war für damalige Verhältnisse eine Großstadt mit etwa 60.000 Einwohnern, eine Hafen- und Handelsstadt, ein Zentrum Preußens an der Mündung des Flusses Pregel in die Ostsee. In dieser Hafenstadt konnte man Menschen und Güter aus vielen Ländern sehen, vor allem aus Polen, dem Baltikum und Rußland, aber auch englische und schottische Handelshäuser waren vertreten. In Königsberg gab es unzählige Kirchen verschiedener Konfessionen, eine Synagoge, mehrere Buchhandlungen, sogar ein Theater. Seit der Reformationszeit war Königsberg stolz auf seine eigene Universität. Hier machte Herder die Bekanntschaft zahlreicher bedeutender Menschen, von denen er etwas lernen konnte und die ihm Orientierung gaben: an der Universität etwa der Kirchenhistoriker Daniel Heinrich Arnoldt, der Professor für Altes Testament und ­orientalische Sprachen Georg David Kypke, der Dogmatiker Theodor Christoph Lilienthal, sein Lieblingslehrer unter den Theologen. Einer der berühmtesten Gelehrten Königsbergs war der Magister Immanuel Kant, der schon lange dort Philosophie und alle möglichen Wissenschaften dozierte, wenn er auch erst 1770 eine ordentliche Professur erlangen sollte. Herder hörte von Beginn an bei ihm Vorlesungen, und er hatte Glück, daß Kant dem armen Studenten das Hörgeld erließ. Herder besuchte bei Kant Vorlesungen über ­Astronomie, Logik, Metaphysik, Moralphilosophie, Mathematik und physische Geographie. Der junge Herder profitierte vom reiferen Kant, weil dieser universal gebildet war, unterschied sich jedoch von diesem durch sein Temperament und seine rege Phantasie. Kant war ein eher abstrakter, trockener Denker, Herder gefühlsbestimmter, poetischer. Für den lernenden Herder war es ideal, völlig gegensätzlichen Menschen begegnen zu können. Später hat sich Herder in heftige Fehden mit Kant verwickelt, ihm aber nichtsdestoweniger in seinen Humanitätsbriefen ein Denkmal gesetzt: „Ich habe das Glück genossen, einen Philosophen zu kennen, der mein Lehrer war. Er in seinen blühendsten Jahren hatte die fröhliche Munterkeit eines Jünglinges, die, wie ich glaube,

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ihn auch in sein greisestes Alter begleitet. Seine offne, zum Denken gebauete Stirn war ein Sitz unzerstörbarer Heiterkeit und Freude; die Gedankenreichste Rede floß von seinen Lippen; Scherz und Witz und Laune standen ihm zu Gebot, und sein lehrender Vortrag war der unterhaltendste Umgang. Mit eben dem Geist, mit dem er Leibnitz, Wolf, Baumgarten, Crusius, Hume prüfte, und die Naturgesetze Keplers, Newtons, der Physiker verfolgte, nahm er auch die damals erscheinenden Schriften Roußeau’s, seinen Emil und seine Heloise, so wie jede ihm bekannt gewordene Natur-Entdeckung auf, würdigte sie, und kam immer zurück auf unbefangene Kenntnis der Natur und auf moralischen Wert des Menschen. Menschen- VölkerNaturgeschichte, Naturlehre, Mathematik und Erfahrung, waren die Quellen, aus denen er seinen Vortrag und Umgang belebte; nichts Wissenswürdiges war ihm gleichgültig, keine Kabale, keine Sekte, kein Vorteil, kein Namen-Ehrgeiz hatte je für ihn den mindesten Reiz gegen die Erweiterung und Aufhellung der Wahrheit. Er munterte auf, und zwang angenehm zum Selbstdenken; Despotismus war seinem Gemüt fremd. Dieser Mann, den ich mit der größesten Dankbarkeit und Hochachtung nenne, ist Immanuel Kant; sein Bild steht angenehm vor mir“ (FA 7, 424 f.). Er nennt ihn sogar „Sokrates“, das war der höchste Titel, den man einem Philosophen im Zeitalter der Aufklärung geben konnte. Daß Herder seinem Lehrer Kant gegenüber eine eigenständige Stellung erlangen konnte, verdankte er nicht zuletzt dem um 14 Jahre älteren Freund Johann Georg Hamann. Dies war schon die zweite lebenswichtige Bekanntschaft, die er seiner Augenkrankheit verdankte, denn in Hamanns Haus war er gekommen, um dessen Vater als Augenarzt zu konsultieren. Der junge Hamann war eine der sonderbarsten Größen seiner Zeit; er bekam weder sein Privatleben noch sein berufliches Leben in den Griff, aber jeder, der ihn traf, war von diesem Sonderling überwältigt. Er hatte Theologie und Rechtswissenschaften studiert (ohne Abschluß); er litt an Sprachstörungen und hatte gerade die Sprache als das Entscheidende am Menschen

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entdeckt, die Poesie als „Muttersprache des menschlichen Geschlechtes“, ein Gedanke, den er an Herder weitergab. Auch die Aufwertung der Sinnlichkeit des Menschen gegen die bloße Vernunft ist Hamannsche Gabe an Herder. Von Hamann und mit Hamann lernte Herder die englische und die italienische Sprache: Sie lasen zusammen Hamlet in der Originalsprache, auch Lawrence Sternes Tristram Shandy. Hamann hatte bei einem Besuch in London ein folgenreiches religiöses Erweckungserlebnis gehabt. Zur Zeit der Anwesenheit Herders in Königsberg war Hamann teilweise als Kopist beschäftigt, teilweise als Herausgeber und Rezensent einer Zeitung. Hamann faszinierte seine Zeitgenossen durch Schriften in einem individuellen, mystisch-dunklen und anspielungsreichen Stil (‚Magus in Norden‘). Er predigte Sinnlichkeit und Intuition. Trotz seiner religiösen Herkunft paßte er hervorragend in eine neue Zeit, welche Originalität, Individualität und Genialität auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Das Zeitalter der Aufklärung, aus dem er hervorgegangen und dessen Teil er war, hatte gleichzeitig eine Schwäche für das Geheime und Orakelhafte, die Hamann so andeutungsreich bediente. Außer Kant und Hamann machte Herder als Student in Königs­berg auch die Bekanntschaft des Romanschriftstellers Theodor Gottlieb von Hippel und die des Lyrikers Johann George Scheffner. Schließlich – und das war für Herder eine besonders wichtige Sache – knüpfte er Beziehungen zu den einflußreichen Buchhändlern und Verlegern am Ort, zu Johann Jacob Kanter und seinem Stellvertreter Johann Friedrich Hartknoch, der nach seiner Lehrzeit in Königsberg eine Filiale Kanters in Mitau leitete, bevor er eine eigene Buchhandlung in Riga eröffnete. Hartknoch (später auch sein Sohn) wurde Herders Freund und Geschäftspartner für sein ganzes Leben. Auch der Weimarer Herder ließ noch einen wichtigen Teil seines Werkes durch Hartknoch in Riga verlegen. Herder studierte in Königsberg nicht länger als zwei Jahre. Er mußte in dieser Zeit ungeheure Mengen Literatur verschlungen haben: Schon seine ersten Schriften, die am Ende dieser Zeit erschienen,

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sind gelehrte Fundgruben. Und er verstand es, offenbar mit großer Arbeitsdisziplin und ausgeklügeltem Zeitmanagement, mit diesem Studium seine Lehrtätigkeit am Collegium Fridericianum zu verein­ baren. Obwohl er wußte, daß er noch längst nicht ‚fertig‘ war, ergriff er sogleich die erstbeste Möglichkeit einer Stelle, die sich ihm bot. Man hat geradezu von einer „Flucht aus Königsberg“ gesprochen. Herder fürchtete die Einziehung zum Militärdienst, denn er war in eine Regimentsrolle eingeschrieben und mußte jederzeit mit der Rekrutierung rechnen. Das hätte seine Lebenspläne entscheidend durchkreuzt. Johann Gotthelf Lindner (1755 bis 1765 als Rektor und Inspektor der Domschule in Riga, der Hauptstadt der russischen Provinz Livland; seit 1765 Professor für Dichtkunst sowie Hofprediger, Kirchen- und Schulrat in Königsberg) vermittelte ihm eine Stelle als Lehrer in Riga. Herder setzte ein Gesuch an den preußischen König auf und erhielt ohne weiteres die Genehmigung zur Ausreise.

DAS ERSTE AMT Im November 1764 kam Herder als Zwanzigjähriger nach Riga, um eine Stelle als Hilfslehrer an der Domschule zu übernehmen. Er gab sich große Mühe und hatte sofort als Lehrer Erfolg. Dieser läßt sich nicht nur an begeisterten Zeugnissen einzelner Schüler ablesen, sondern auch an seiner Karriere. Der Schuldienst war damals Bestandteil des geistlichen Amtes; Herder absolvierte in Riga zwei Predigerexamina und stieg in kürzester Zeit zu höheren Stellen auf. Als er 1767 einen Ruf an die deutsche Schule in St. Petersburg erhielt, gab sich der Rigaer Rat alle Mühe, eine neue Predigerstelle für ihn zu schaffen, um ihn zu halten und ihm ein gutes Auskommen zu sichern. Riga war eine von deutschen Kaufleuten geprägte Hansestadt, die damals zu Rußland gehörte. Die umgebende Gegend bestand aus lettischen Bauern und Adligen. Herder hatte in dieser Zeit

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Gelegenheit, Erfahrungen in einer ethnischen Grenzsituation und Gemengelage zu schöpfen. Allerdings waren die Verhältnisse damals noch nicht nationalistisch aufgeladen; die verschiedenen Milieus bildeten weitgehend getrennte Lebensbereiche. Herder hatte wohl auch einmal Gelegenheit, lettische Gesänge und Tänze um ein Feuer zu erleben, aber er erlernte weder die lettische noch die polnische noch die russische Sprache. Die Deutschen, welche aus mittelalterlicher Tradition heraus in Riga den Kern der Bürgerschaft bildeten, hielten auch über die Standesgrenzen hinweg zusammen. Als Lehrer und Prediger in Riga lebte Herder im Hause seines Freundes, des Verlegers Hartknoch; er befreundete sich mit Hamanns Freund, dem Kaufmann Berens, mit Amalie Busch, der Gattin eines anderen Kaufmanns, und fand binnen kurzem Zugang zu den besten Häusern der Stadt. Er trat nicht nur persönlich gewinnend und als Lehrer eindrucksvoll auf, sondern hatte insbesondere als junger Prediger einen außerordentlichen Erfolg unter den Rigaer Bürgern. Es kam so weit, daß er Neid und Mißgunst der anderen Prediger auf sich zog. Die geistliche Karriere war diejenige, die sich für einen Aufsteiger aus kleinbürgerlichen Verhältnissen damals am ehesten anbot. Herder war auch davon überzeugt, daß die Stelle eines Predigers die entscheidend wirksame in der Aufklärungsgesellschaft sei. An Kant schrieb er aus Riga, er habe das geistliche Amt übernommen, weil er „täglich aus der Erfahrung mehr lerne, daß sich nach Lage der bürgerlichen Verfassung von hieraus am besten Cultur u. Menschenverstand unter den ehrwürdigen Theil der Menschen bringen laße, den wir Volk nennen“ (DA 1, 120). Er vertrat das Konzept des Predigers als Volkslehrer, über das er sich später mit Spalding auseinandersetzte. Er postulierte eine „menschliche Philosophie“; als Prediger sah er sich in der Position, eine solche zu vermitteln. In seiner Rigaer Abschiedspredigt 1769 sagte er: „Meine meisten und liebsten Predigten m. Z. sind also auch Menschlich gewesen. Von dem zu reden; was unsre wahre Bestimmung hier in diesem und in einem andern Zustande sei: die eigentliche herrliche Natur des Men-

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schen, zu der ihn sein Gott geschaffen, von allen ihren Vorzügen ins Licht zu setzen, […] wie sehr wir unser Glück bauen, wenn wir den Anlagen unserer Natur treu bleiben, unsre Vernunft und Gewissen herrschend in uns machen, keine unsrer Pflichten und Bestimmungen verkennen, in jeder Tätigkeit der Seele vollkommen werden, und bloß dadurch Anspruch auf Glückseligkeit haben, wenn wir vor Gott und unserm Gewissen in allem Umfange unsrer Bestimmung und Pflicht, mit aller Redlichkeit des Herzens und aller Würksamkeit das sind, was wir sein sollen […]. Ich weiß, daß manche die Güte gehabt, mich für einen Weltweisen in schwarzen Kleidern zu halten, der wohl nicht als Theolog predige, sondern dessen Lehren ganz in ein ander Feld, auf das Katheder, oder in das Kabinett gelehrter Leute, aber nicht auf Vorstadt-Kanzeln gehörten. Allein diese Zuhörer haben zu vorteilhaft von mir geurteilt. Das, was ich auf Kanzeln und vor Altären vorgetragen, ist nie etwas weniger, als Gelehrsamkeit, es sind immer wichtige Menschliche Lehren und Angelegenheiten gewesen. Ich habe sie nie gelehrt, sondern immer Menschlich, mit der ganzen Sprache meines Herzens und meiner Teilnehmung vorgetragen, ich habe immer aus einer gefühlvollen Brust, und wie einer, der für die gute Sache der Menschheit geeifert, geredet“ (FA 9/1, 51–53).

DIE ERSTE GROSSE REDE In die Zeit des Übergangs von Königsberg nach Riga fällt eine erste bedeutende Rede, die auch (anonym) gedruckt wurde, und zwar im 24. Stück der Gelehrten Beiträge zu den Rigischen Anzeigen aufs Jahr 1764. Bedenken wir, daß Herder damals erst 20 Jahre alt war! Der Vortrag trägt den Titel Über den Fleiß in mehreren gelehrten Sprachen und ist als meisterhafte Rede in deutscher Sprache nach dem rhetorischen Muster der ‚Chrie‘, also dem strengen Muster des lateinischen Schulaufsatzes, abgefaßt. Sie zeigt uns gleich den ganzen Herder: das zentrale Thema Sprache, die pädagogische Absicht, die anthropolo-

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gische Stoßrichtung: Hier ist „schon der Ansatz des späteren Humanitätsprogramms“ zu erkennen (Ulrich Gaier, FA 1, 871). Auf der einen Seite bedeutet die Vielzahl der Sprachen „ein unentbehrliches Übel“, auf der anderen „beinahe ein wirkliches Glück“ (FA 1, 24): „Wie wenig Fortschritte würden wir getan haben, wenn jede Nation in die enge Sphäre ihrer Sprache eingeschlossen, vor die Gelehrsamkeit allein arbeitete? Ein Newton unseres Landes würde sich mit einer Entdeckung quälen, die dem englischen Newton lange ein entsiegeltes Geheimnis war“. „So können die Neuern auf den Grundstein der Alten bauen“ (25). Aber, wirft er ein, genügen nicht Übersetzungen? Nein, das Original verliert in jeder Übersetzung etwas von seiner Eigenart und Prägnanz, die nur der empfinden kann, der die fremde Sprache gelernt hat. Es ist gerade der Kontrast der Sprachen, der den Reichtum enthält: „Mit dem deutschen Fleiß suche ich die gründliche englische Laune, den Witz der Franzosen, das Schimmernde Italiens zu verbinden“ (26). Hat also auch jedes Volk die zu seinem Charakter passende Sprache, so kann man doch seine Muttersprache gewissermaßen optimieren durch Verarbeitung der Charakteristika der Fremdsprachen. Das Bemühen um die eigene Muttersprache ist nützlich, „da es in diese große Mannichfaltigkeit Einheit bringt“ (27). „Wenn wir unsre Muttersprache auf der Zunge behalten: so werden wir tief in die Dunkelheiten des Nationalcharakters jeder Sprache eindringen: Hier werden wir Lücken, dort Überfluß; hier Reichtum, dort eine Wüste erblicken, und eine aus der andern bereichern können. Denn in welchem genauen Bande steht Sprache und Denkungsart? Wer den ganzen Umfang einer Sprache übersieht, überschaut ein Feld voll Gedanken und wer sich genau ausdrucken lernt, sammlet sich eben hiemit einen Schatz bestimmter Begriffe. Die ersten Wörter, die wir lallen, sind die wichtigsten Grundsteine des Verstandes, und unsre Wärterinnen sind unsre erste Lehrer der Logik. […] Und was verweile ich mich so lange, ihren Nutzen im Gesichtspunkt der Gelehrsamkeit zu betrachten; und vergesse ihn im Gesichtspunkt der Menschheit“ (28).

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In dieser Schrift des Zwanzigjährigen ist schon vieles angelegt von dem, was er später ausformulieren und ausarbeiten sollte. Das Entscheidende am Menschen ist die Sprache – das war das Credo der Humanisten schon immer, auch für Cicero und Erasmus. Aber die kommunikative Funktion der Muttersprache wird hier auffallend betont. Das Credo der älteren Humanisten, alle Weisheit stecke in den Sprachen der Alten, wird hier eigentümlich aufgebrochen: Die viel­gerühmten Rhetoren der Griechen und Römer sprachen keine tote Sprache, sondern ihre eigene, lebendige Muttersprache. Es muß also ein Ausgleich geschaffen werden zwischen der Pflege der toten Sprachen, welche inhaltlich wichtig und formal bedeutsam sind, und der­jenigen der modernen Sprachen, von deren ‚Wendungen‘ und ‚Witz‘ wir profitieren können, vor allem aber der Muttersprache, die unserem Wesen entspricht und die Kommunikation mit lebendigen Menschen erschließt. Die Muttersprache ermöglicht Einheit in der Mannigfaltigkeit, so daß wir nicht sinnlose Sprachbrocken durcheinanderwerfen, sondern den geläuterten Gehalt der Fremdsprachen für unsere eigene Sprache nutzbar machen. Die Vielheit der Sprachen ist also nicht nur ein Unglück, sondern „beinahe ein wirkliches Glück“, freilich nur unter der Voraussetzung, daß wir mehr als nur unsere Muttersprache lernen. Herder rechtfertigte also schon hier und später immer wieder die Besonderung, die Individualisierung: Jeder Mensch muß eine Muttersprache haben, anders kann er gar keine Begriffe bilden; auf der anderen Seite zielt Herder grundsätzlich auf das Menschheitliche: Wir müssen Fremdsprachen lernen, damit wir nicht gezwungen sind, Newtons Erfindungen noch einmal zu machen.

ÜBER DIE NEUERE DEUTSCHE LITERATUR. FRAGMENTE (1767) Herder war Prediger und Lehrer, er wollte aber auch Schriftsteller sein. Anders gesagt: Seine Schulklasse und seine Gemeinde waren

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ihm nicht genug; er intendierte Wirkung auf ein großes Publikum, auf die Gemeinschaft der deutschen Sprache. Aber wie den Anfang machen? Wir erinnern uns, daß er sich schon als Kind einen besonderen Ehrgeiz zuschrieb. Und in der Zeit, als er bei Trescho in Mohrungen Kopistendienste leistete, fügte er einmal einer Sendung dieses schreibenden Pfarrers an seinen Verleger ein eigenes Gedicht Gesang an Cyrus bei, auf den neuen russischen Zaren Peter III., das der Verleger prompt druckte. In Riga wurde dann 1765 seine Rede Haben wir noch jetzt das Publikum und Vaterland der Alten? mit Namensnennung gedruckt: Bei einem Besuch der Zarin Katharina II. zur Einweihung des Gerichtshauses hatte er diese Rede gehalten, und der Rat der Stadt hatte den Zwanzigjährigen zur Publikation aufgefordert. Er schrieb mancherlei für Zeitschriften; vieles blieb auch ungedruckt in der Schublade. Wie konnte ein Lehrer und Prediger im fernen Riga seinen Auftritt vor dem Forum der deutschen Nation ins Werk setzen? Herders Projekt ist sehr aufschlußreich für seinen Charakter ­ und für sein Temperament. Er bezog wesentliche Energien aus ­kritischem Reagieren, aus Polemik. Seit 1759 waren in Berlin Briefe, die Neueste Litteratur betreffend erschienen, verfaßt hauptsächlich von Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai und Thomas Abbt. Diese hatten Furore gemacht: Ein neuer, kritischer Ton war als Aufbruchssignal einer neuen Epoche der deutschen Literatur, mitten im Siebenjährigen Krieg, vernommen worden. Herder nun hängte sich bei seinem ersten großen Auftritt in der Schriftstellerwelt, den er nur anonym wagte, an diesen Erfolg an und positionierte sich damit in Berlin, zentral auf dem literarischen Markt. Er nannte sein Werk Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten. Eine Beilage zu den Briefen, die neueste Literatur betreffend. Drei Sammlungen erschienen in den Jahren 1766 und 1767. Sie machten sofort Aufsehen, die wichtigsten Zeitschriften brachten Besprechungen. In der Rückschau hat man in den Lessingschen Literaturbriefen und den Herderschen Fragmenten den

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Anfang einer neuen Phase der deutschen Nationalliteratur gesehen. Das Werk ist sehr reichhaltig und nicht leicht zu überschauen. Ein grober Überblick (nach Ulrich Gaier, FA 1, 1010–1019): 1 Erste Sammlung: Denken, Sprache und Literatur einer Nation hängen aufs engste zusammen. Zur Kritik und Förderung der Literatur einer Nation muß man sich zunächst einmal mit dem Zustand der Sprache beschäftigen. Sprache ist ein geschichtliches Phänomen. Wie alles in der Welt hat auch Sprache ihre ‚Lebensalter‘, ihre Kindheit, Jugend, Reife und Alter. Nach Herders Vorstellung gehören zur Kindheit einfache Laute des Gefühls, zur Jugend Poesie, zur Reife Prosa. Eine Sprache kann nach dieser Entwicklungsvorstellung nicht gleichzeitig ein Optimum des Poetischen und Prosaischen aufweisen. Freilich kann man die deutsche Sprache bereichern, indem man aus ‚sinnlicheren‘ Sprachen fremder Kulturen übersetzt und die Prosa durch philosophische Reflexion läutert. Herder diskutiert die Eigenheiten und Leistungen verschiedener Sprachen und stellt ­Erwägungen an, was für das Deutsche zu gewinnen wäre durch Übersetzungen aus diesen Sprachen. Und er überprüft die Leistungen einzelner vorbildlicher Schriftsteller für die deutsche Sprache. 2 Zweite Sammlung: Hier geht es vor allem um die Aufgaben der Literaturkritik. Herder beleuchtet das damals herrschende Nachahmungsparadigma – inwiefern man die deutsche Literatur voranbringen könne durch Nachahmung oder Überbietung der alten und neuen ausländischen Literaturen, inwiefern man dieser Nachahmungs­poetik eine Poetik des Genies entgegenstellen müsse, die Originalität zum höchsten Maßstab erhebe. 3 Dritte Sammlung: Die sprachliche Bildung der Deutschen ist überfremdet durch das römische Element, schon im Mittelalter, dann in der Renaissance und seither. Poesie in der Muttersprache muß sich unabhängig vom Lateinischen entwickeln durch Rückgriff auf die Poesie des Volkes. Wissenschaft muß die Fesseln des Lateinischen ablegen und in der ‚Sprache des gesunden Verstandes‘ vorgetragen werden. Sodann diskutiert Herder, in welchen Bereichen My-

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thologie sinnvoll gebraucht werden könne. Die Möglichkeiten, die sich aus der Beschäftigung mit römischen Dichtern ergeben, werden an Einzelbeispielen behandelt. Herders Leistung in den Fragmenten besteht darin, daß er einerseits die vorhandenen Denkformen wie ‚Antike‘/‚Moderne‘ aufnimmt, sie andererseits aber durch Aufweis ihrer Situativität (Gebundenheit an Zeit und Raum) als geschichtliche erkennen läßt. Damit gewann er eine Position, die später Friedrich Schiller und Friedrich Schlegel wiederaufnahmen. Kurzfristig brachten die Fragmente Herder zweierlei: plötzliche Berühmtheit als Schriftsteller in ganz Deutschland und eine unangenehme publizistische Auseinandersetzung mit Riedel und Klotz. Friedrich Justus Riedel war Professor in Erfurt und Christian Adolph Klotz Professor in Leipzig. Beide waren auch als Journalisten tätig; sie kritisierten die Fragmente in Rezensionen und lüfteten das Incognito. Herder wütete, verteidigte sich und griff seinerseits die Gegner scharf an. 1769 sollte eine zweite, umgearbeitete Fassung der Fragmente erscheinen. Klotz hatte aus der Druckerei ein Exemplar entwenden lassen und schon vor der Publikation rezensiert. Herder stellte ihn bloß, indem er die Auslieferung der Auflage untersagte – eine für Autor und Verleger kostspielige Rache. Die literarischen Umtriebe wurden immer häßlicher und verwickelter; sie trugen dazu bei, daß Herder auch in Riga wieder an Flucht dachte. Eine solche Figur, wie er nun auf dem literarischen Markt geworden war, paßte schlecht zu dem angesehenen Prediger in der Bürgerstadt Riga.

DIE DENKFORM ‚LEBENSALTER‘ Will man Herder verstehen, muß man seine Sprache verstehen, aber auch seine Denkformen. Eines dieser Strukturmerkmale, das in Herders Werk immer wiederkehren wird, ist die Lebensalteranalogie. Wir treffen sie zum ersten Mal in den Fragmenten, hier angewandt

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auf die „Lebensalter einer Sprache“ (FA 1, 181–184). Der Ausgangspunkt seiner Ausführungen liegt in einer grundsätzlichen Trennung von Natur und Kultur, die jedoch in Analogie gesehen werden und damit schließlich zur Einheit werden. Denn daß im menschlichen Leben Lebensalter zu unterscheiden sind, müßte ja nicht zwangsläufig auf Kulturerscheinungen angewandt werden. Aber Herder tut es! Damit gewinnt er eine differenzierende Denkweise gegenüber der unifizierenden der Aufklärung seiner Zeit: Es gibt nicht ‚Sprache‘ schlechthin, sondern nur eine jeweilige, einem bestimmten Kulturniveau angemessene Sprache. Dies ist höchst einleuchtend in bezug auf den Lebenslauf eines Menschen, weil man das jeden Tag beobachten kann, daß ein Kind mit Stammeln anfängt. Die Übertragung dieses psychogenetischen Modells auf ein ontogenetisches, vom Einzelmenschen auf die Entwicklung der ganzen Menschheit, enthält eine Fülle von Implikationen: 1 |  Es gibt eine Einheit der Menschengeschichte, also nicht beispielsweise nur Einzelentwicklungen verschiedener Völker. 2 |  Menschsein läßt sich geschichtlich verstehen und muß auch geschichtlich verstanden werden. Man kann also die Menschen einer früheren Epoche nicht unbedingt mit der eigenen Zeit gleichsetzen. Die Menschen sind zwar immer Menschen und insofern gleich; sie leben aber zu verschiedenen Zeiten und sind insofern grundsätzlich verschieden. 3 |  Die menschliche Sprache hat eine eigene Geschichte, die von der Individualentwicklung unabhängig ist. 4 |  Die menschliche Sprache ist Zeugnis und Spiegel der menschlichen Kulturentwicklung: Beispielsweise waren die früheren Menschen leidenschaftlicher und hatten ergo eine Sprache des Affekts, während die kultivierteren der späteren Zeiten besonnener waren, was eine Sprache der Reflexion bedingte. Implizit wird eine Vorstellung von kultureller Entwicklung deutlich: vom Empfinden zum Denken, in der Sprache: vom Tönen zum Sprechen. Die letzte Stufe wird dann gesteigert durch die Schrift. Aus mündlicher Überlieferung (Gesang) wurde schließlich schriftliche Überlieferung (Geschichtsschreibung). 5 |  Sprache muß dabei in einem weiten

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Sinne verstanden werden. Es charakterisiert gerade den frühen Zustand der Menschheit, daß die Sprechwerkzeuge nur unter anderem eingesetzt wurden, neben Gesten und Gebärden. 6 |  Eine solche Vorstellung von Entwicklung legitimiert jede Stufe der Entwicklung zu ihrer Zeit. Man kann also nicht vom Standpunkt der Wissenschaft auf den Mythos der Frühzeit herabschauen, weil dieser zu seiner Zeit eine analoge Funktion und Bedeutung hatte. Umgekehrt wäre es aber auch verfehlt, wenn wir Modernen die Wissenschaft wieder gegen den Mythos eintauschen wollten: Er entspricht nicht mehr unserer Entwicklungsstufe, wäre also Regression. 7 |  Die eigene Zeit wird von Herder als Spätzeit begriffen: eine Zeit der Prosa, der hochgetrie­benen Künstlichkeit. Aus dieser Spätzeit fragt er zurück nach der Frühzeit der Menschheit: Alles Frühe wird unendlich interessant: schon die alten Griechen, aber noch mehr die ältesten Völker des Orients. Während andere Zeitgenossen gefolgert hätten, daß man eben, der eigenen Zeit entsprechend, die Prosa kultivieren ­müsse, wendet sich Herder genau umgekehrt, nämlich zurück: Um ein volles Menschsein zu erlangen, müssen wir die Ausdrucks­formen früherer Zeiten wiederentdecken: Poesie, Gesänge, Töne. Die Denkform der Lebensalteranalogie ist sehr alt: Schon Augustinus hat sie verwandt. Aber Herder war der erste, der aus ihr wirklich Funken geschlagen hat. In seiner Hand wurde sie zu einem heuristischen Werkzeug von ungeahnter Wirkung. Sein ganzes historisches Denken, seine „Erfindung des Historismus“ (Meinecke) läßt sich von dieser Denkform her verstehen.

FLUCHT AUS RIGA Herder fühlte sich in Riga eingeschränkt. Sein Ehrgeiz war mit der gewöhnlichen Berufsarbeit als Pfarrer und Lehrer nicht zufrieden. Vor allem die Fragmente zeigen, daß er höher hinauswollte und daß er eine weitausgreifende Wirkung im Kulturraum der deutschen

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Nation anstrebte. In seiner Eingabe an den Rat der Stadt Riga um Entlassung schrieb er am 5. Mai 1769, er fühle so „manchen unbefriedigten Wunsch und unausgeführte Anlage […], zu lernen und nützlich zu werden […]. Es gibt Bedürfnisse des Körpers, die Reisen nöthig machen: sollte es nicht dringendere und eben so nothwendige für den Geist geben? – Kurz: Eine Reise nach Deutschland und einige andere Länder ists, die ich mir wünsche“ (DA 1, 44). Er erhielt die gewünschte Entlassung sofort, zumal er eine mögliche Wiederkehr als gereifter Mensch in Aussicht stellte. Ein Grund für seine Flucht bestand auch in dem zweideutig gewordenen Verhältnis zur Gattin des Kaufmanns Busch, über das es einiges Gerede gegeben hatte. „Wißen Sie, wer diese unglückliche Freundin war und ist? eine vortreffliche, aber äußerst übel verheirathete Dame zwischen dreissig und vierzig Jahren, deren Freund, und Täglicher Umgang ich nebst einem andern ehrlichen Kerl war, vor dem wir Nichts geheimes im Herzen hatten. Zwei runde Jahre bin ich in ihrem Hause, vor Mittage, Mittag wo ich täglich speisete, nach Mittage und Abend bis in die Nacht gewesen: Einerlei Uebel unsrer Augen machte uns bekannt […]. Da waren wir täglich zusammen, um zu plaudern, und zu lesen und uns zu zanken, und uns zu trösten, und zu tändeln und zu liebkosen und – nichts mehr! Ein Gedanke weiter hätte unsre Freundschaft beleidigt!“ (DA 1, 248 f.) Herder war in eine Sinnkrise geraten: zu früh beruflich arriviert, ohne sich schon reif genug zu fühlen; in häßliche literarische Streitigkeiten verwickelt; in seiner Integrität bezweifelt. Er beschloß, ein neues Leben zu beginnen; Riga und Livland sollte er nie wiedersehen.

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3 DIE GROSSE SEEREISE (1769–1771)

DER PHILOSOPH AUF DEM SCHIFFE Herder riß sich von Riga los, ohne zu wissen, wohin er sich wenden sollte. Es gehörte zu den unverrückbaren Meinungen der damaligen Zeit: „Reisen bildet.“ Aus Reisen entstand Prestige. Wer in der Welt etwas gelten wollte, mußte gereist sein. Und Herder hat uns seinen Ehrgeiz ja schon gestanden. Er wußte also, daß er reisen mußte; wohin und wie, wußte er nicht. Sein Freund Georg Berens kam ihm zu Hilfe. Dessen Bruder, Gustav Berens, sollte eine Schiffsladung Roggen und Flachs nach Frankreich begleiten; Herder konnte mitkommen. Mit seinem Losreißen aus Riga ergaben sich finanzielle Probleme: Er hatte nun ­keine Einkünfte mehr und auch keine nennenswerten Ersparnisse. Um seine Schulden in Riga zu begleichen, mußte er seine Bücher und Möbel verkaufen. Der Abschied war tränenreich. „Das war würklich schon Trennung. Sie [nämlich Amalie Busch] begleitete mich mit einer Schaloupe voller Freunde und Freundinnen bis an mein Schif, ob sie gleich äußerst das Waßer scheut: unser letzter Kuß, ich oben auf dem Schif und der offnen See zueilend, sie unten im Fahrzeug zu ihrer

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Hütte kehrend, ohne uns vielleicht je wieder zu sehen, war würklich Kuß der Freundschaft, der auf dem offnen Meer so selten gegeben wird. Da entstand das gräßlichste Donnerwetter, was uns, da wir uns vielleicht noch sehen konnten, schied“ (DA 1, 249). Herder hatte ihr zuletzt noch ein Strumpfband geraubt und ihr dafür ein Exemplar des Buches Vom Verdienste von Thomas Abbt geschenkt. Seekrankheit, „anderthalb Tage Uebelkeiten“; man tat sich gütlich an den von den Freundinnen und Freunden mitgegebenen Kuchen, an Rheinwein und Burgunder; man schlief und philosophierte. Die Blicke richteten sich zurück nach Riga, nach Livland, zu dem sich die Distanz vergrößerte, das aber immer noch den entscheidenden Bezugspunkt darstellte, weil sich Herder vorstellte, später dorthin zurückzukehren. Und die Blicke richteten sich voraus in eine unbestimmte Zukunft. Am 25. Mai 1769 hatte das Schiff den Hafen Riga verlassen, am 19. Juni legte es im Hafen von Helsingör an, wo die dänische Behörde den Sundzoll kassierte. Herder spielte mit dem Gedanken auszusteigen, nach Kopenhagen zu gehen, um den verehrten Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock und andere Berühmtheiten der deutschen Literatur kennenzulernen; aber in seltsamer Unentschlossenheit überließ er sich seiner „Trägheit“, seiner „Schläfrigkeit“ (SWS 4, 436); das Schiff segelte weiter, am 15. Juli fand er sich in Frankreich wieder. An der Mündung der Loire ging man an Land. Herder erwachte in einem neuen Leben. Teilweise auf dem Schiff, teilweise in Nantes schrieb Herder ­jenes unglaubliche Journal meiner Reise im Jahr 1769, das er nie veröffentlichte, das aber die Nachwelt als eines der Gründungs­ dokumente des Sturm und Drang ansehen sollte. Es handelt sich nicht um eine Reisebeschreibung, sondern um pathetische Exklamationen und Reflexionen eines Entwurzelten, der seinem Ehrgeiz die Zügel schießen läßt und der die aktuelle Situation des „Philosophen auf dem Schiffe“ (FA 9/2, 16) dramatisiert, um sich über seine Herkunft und seine Zukunft klar zu werden.

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Rückwärts gerichtet, sieht er Riga und Livland; er entwirft ­Reformpläne für die Schule, für den ganzen Staat. Vorwärts gerichtet, imaginiert er Werke und Schriften von großer Tragweite. Während er seine Gesellschaftsreformpläne vergessen mußte und später in Weimar nur bescheidene Verbesserungen durchführen konnte, hat er vieles von seinen unterwegs projektierten Schriften dann ­tatsächlich ausgeführt. Das Reisejournal enthält Keime zu seinen wichtigsten Werken. Der Form nach läßt sich diese Schrift nicht stimmig zuordnen. Es sind Hefte, die alles enthalten, ein Brouillon wie Lichtenbergs ‚Sudelbücher‘. Man kann sie auf ganz verschiedenen Ebenen lesen. Zum einen handelt es sich um ein Tagebuch sowie eine persönliche Bekenntnisschrift. Zum zweiten ist es eine Denkschrift mit Projekten für gesellschaftliche Reformen. Zum dritten ist es ein Buch mit Projekten für schriftstellerische Werke, die er sich für die Zukunft vorgenommen hatte. 1 Tagebuchartige Aufzeichnungen gehen sogleich fließend ins Reflektieren über, ins Phantasieren, ins Bekennen. Im Reisejournal sind diese beiden Sphären aufs engste verknüpft: Rückschau auf das Leben in Riga und Pläne für das künftige Leben. Häufig geht es dabei um gewisse Wissenschaften und Kenntnisse, in denen er seine Bildung defizient findet und sich gewissermaßen selber dazu verpflichtet, das nachzuholen. Ganze Passagen sind von der Reue darüber geleitet, daß er sich nur um Bücher, um Lesen und Schreiben, gekümmert und darüber das wahre Leben versäumt habe. Das klingt zuweilen wie bei Faust (und in der Tat ist Herder schon als Vorbild für Goethes Faust gesehen worden): „Ich beklage mich, ich habe gewisse Jahre von meinem Menschlichen Leben verloren: und lags nicht bloß an mir sie zu genießen? Bot mir nicht das Schicksal die ganze fertige Anlage dazu dar? […] Ich hätte meine Jahre genießen, gründliche, reelle Wissenschaft kennen, und alles anwenden gelernt, was ich lernte. Ich wäre nicht ein Tintenfaß von gelehrter Schriftstellerei, nicht ein Wörterbuch von Künsten und Wissenschaften geworden, die ich nicht gesehen

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habe und nicht verstehe: ich wäre nicht ein Repositorium voll Papiere und Bücher geworden, das nur in die Studierstube gehört. Ich wäre Situationen entgangen, die meinen Geist einschlossen und also auf eine falsche intensive Menschenkenntnis einschränkten, da er Welt, Menschen, Gesellschaften, Frauenzimmer, Vergnügen, lieber extensiv, mit der edlen feurigen Neubegierde eines Jünglinges, der in die Welt eintritt, und rasch und unermüdet von einem zum andern läuft, hätte kennen lernen sollen. Welch ein andres Gebäude einer andern Seele! Zart, reich, Sachenvoll, nicht Wortgelehrt, Munter, lebend, wie ein Jüngling! einst ein glücklicher Mann! einst ein glücklicher Greis!“ (12–14). Wir erleben Herder hier grübelnd über seinem Schicksal, bohrend mit der Eigenart seines Charakters beschäftigt, sehnend nach Glück, zugleich aber ungewiß darüber, was denn ein glückliches Leben für ihn sein könnte. Er hadert mit seinem Lebenslauf, seiner Herkunft, seinem bisherigen Beruf, seiner Bildung. Der Prediger zieht seine bisherigen Werte in Zweifel; was ihm in Riga richtig schien, geriet für den „Philosophen auf dem Schiffe“ ins Schwanken. Tugend erscheint ihm nun als Schwäche, Keuschheit als Laster. Er begehrt auf gegen die Werte der Konvention: Wie ihm sein Schriftstellerleben als „Repositorium voll Papiere und Bücher“ fragwürdig geworden war, so sein platonisches Lieben als Ausweichen vor dem Leben selbst. Das Reisejournal ist insgesamt durchzogen vom Drängen auf das Wirk­ liche, auf Genuß, auf wahres, erfülltes Leben. 2 Auf einer zweiten Ebene handelt es sich bei Herders Journal meiner Reise im Jahr 1769 um eine Denkschrift mit Projekten für gesellschaftliche Reformen. Diese Ebene ließe sich noch einmal zerlegen in pädagogische und politische Reformen, die freilich aufs engste zusammengehören. Als Herder seine Ämter in Riga nieder­ legen wollte, hatte ihm der Generalgouverneur von Livland die Pastorenstelle an der St.-Jakobs-Kirche und das Rektorat der kaiserlichen Ritterschule des livländischen Adels, des Lyzeums, angeboten. Herder hatte sich nicht fesseln lassen, aber immerhin standen ihm diese beiden Stellen offen, wenn er zurückkehren wollte. So kam es,

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daß sich seine Reisegedanken stark mit der Schulreform beschäftigten, mit dem Plan einer Schule nach seinen eigenen Vorstellungen. Dabei fällt auf, daß es sich um eine ‚Realschule‘ handeln sollte, in der Sachkenntnisse vor Sprachkenntnissen den Vorrang haben sollten und moderne Sprachen vor dem Latein. Diese Besonderheit läßt sich nicht durch eine Abkehr Herders von den Prinzipien des Humanismus erklären, sondern durch die Zielgruppe: Es ging um den livländischen Adel. Und die Reflexionen über Bildung, die er unterwegs anstellte, verknüpften sich mit seinem eigenen Lebensplan insofern, als er glaubte, sich selbst erst einmal qualifizieren zu müssen durch umfassende Bildung, durch eine Erfahrung aller Länder und Kulturen Europas. So war es schließlich auch für seinen Arbeitgeber eine sinnvolle Perspektive, den ehrgeizigen jungen Mann erst einmal reisen zu lassen – in der Hoffnung auf einen brauchbaren Diener für Kirche und Staat nach seiner Rückkehr. Riga war, seit seiner Gründung durch Bremer Kaufleute, eine deutsche Stadt. Anstelle von Unterwerfung und Ausbeutung durch Deutsche sollte nun nach Herders Vorstellung ein Kultivierungswerk treten. „Liefland ist eine Provinz, den Fremden gegeben! Viele Fremde haben es, aber bisher nur auf eine Kaufmännische Art, zum Reichwerden, genossen; mir, auch einem Fremden, ists zu einem höhern Zwecke gegeben, es zu bilden!“ (29) Von hier aus konnte Rußland bis hin zur Ukraine mit europäischer Kultur konfrontiert werden. Herder träumte davon, ein Reformator Livlands zu werden, ein zweiter Luther, Zwingli, Calvin, ja sogar ein neuer Gesetzgeber wie Lykurg oder Solon, und er begeisterte sich bis zu dem Ausruf: „Ich gehe durch die Welt, was hab’ ich von ihr, wenn ich mich nicht unsterblich mache!“ (67) Herders Schulprojekt läßt erkennen, daß er über dieses Thema schon lange nachgedacht und es theoretisch und praktisch vollkommen durchdrungen hat. Es ist beeindruckend, wie er Bescheid weiß über Schulbücher für alle möglichen Fächer, noch mehr aber, wie seine praktischen Pläne philosophisch und psychologisch fundiert sind.

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Er hat sich einen Aufbau aus nur drei Klassen ausgedacht (in denen man mehrere Jahre verweilen würde), weil sich seiner Überzeugung nach nur drei grundlegende Entwicklungsschritte herauslösen lassen. Die Sprachenfolge stellt sich Herder so vor, daß auf die Muttersprache zunächst Französisch folgen sollte: „denn sie ist die allgemeinste und unentbehrlichste in Europa“ (58 f.), dann erst Latein. Herder liefert auch Notizen für eine Reform des Staates. Dabei setzt er auf die Möglichkeiten des aufgeklärten Absolutismus; seine Hoffnungen liegen auf Katharina II., die mit der Gesetzgebenden Kommission einen vielversprechenden Anfang gemacht hat und auch sonst Gutes für ihr Reich bewirken wird, wenn es nur gelingt, ihr Ohr zu gewinnen und sie entsprechend zu beeinflussen. Herder träumt sich in die Rolle Montesquieus: Aus wirklicher Kenntnis des Russischen Reiches und seiner Bewohner heraus will er die passenden Gesetze finden. Im Vorbeifahren fühlt sich Herder zu kritischen Reflexionen über die ganze Reihe der Uferstaaten veranlaßt: Preußen, Schweden, Holland, England, Frankreich … Wir können uns darauf hier nicht im einzelnen einlassen. 3 Auf einer dritten Ebene enthält Herders Journal meiner Reise vom Jahr 1769 eine ganze Fülle von Projekten für schriftstellerische Werke, die er sich für die Zukunft vorgenommen hatte. Und schließlich muß man noch zu verstehen versuchen, wie alle diese Ebenen ineinander spielen und sich gegenseitig bedingen. Um zu gesellschaftlicher und politischer Wirksamkeit zu gelangen, muß Herder die Menschen überzeugen können, insbesondere die Einflußreichen. Dafür aber muß er – das ist seine mehrfach ausgesprochene Überzeugung – erst seine eigene Bildung vollenden, insbesondere die französischen Sprachkenntnisse verbessern. „Wie viel liegt aber vor mir, diesen Schein des Ansehens zu erreichen, und der Erste Menschenkenner nach meinem Stande, in meiner Provinz zu werden! – Bin ichs geworden, so will ich diesen Pfad nicht verlassen, und mir selbst gleichsam ein Journal halten, der Menschenkenntnisse, die ich

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täglich aus meinem Leben, und derer, die ich aus Schriften sammle. Ein solcher Plan wird mich beständig auf einer Art von Reise unter Menschen erhalten und der Falte zuvorkommen, in die mich meine einförmige Lage in einem abgelegnen Scythischen Winkel der Erde schlagen könnte! Dazu will ich eine beständige Lecture der Menschheitsschriften, in denen Deutschland jetzt seine Periode anfängt, und Frankreich, das ganz Konvention und Blendwerk ist, die seinige verlebt hat, unterhalten. […] Jahrbuch der Schriften für die Menschheit! ein großer Plan! Ein wichtiges Werk! Es nimmt aus Theologie und Homiletik; aus Auslegung und Moral: aus Kirchengeschichte und Asketik, nur das, was für die Menschheit unmittelbar ist; sie aufklären hilft; sie zu einer neuen Höhe erhebt, sie zu einer gewissen neuen Seite verlenkt; sie in einem neuen Licht zeigt; oder was nur für sie zu lesen ist. Dazu dient alsdenn Historie und Roman, Politik, und Philosophie, Poesie und Theater als Beihülfe; bei den letzten Allen, wird dies nicht Hauptgesichtspunkt, aber eine sehr nutzbare und bildende Aussicht! Ein solches Journal wäre für alle zu lesen! Wir habens noch nicht; ob wir gleich Materialien dazu haben! Es würde in Deutschland eine Zeit der Bildung schaffen, indem es auf die Hauptaussicht einer zu bildenden Menschheit merken lehrte. Es würde das Glück haben, was kein Journal so leicht hat, Streitigkeiten und Wiederspruch zu vermeiden; indem es sich von allem sondert, was nur bilden will. Es würde seinen Autor berühmt, und was noch mehr ist, beliebt machen: denn das Menschliche Herz öffnet sich nur dem, der sich demselben nähert und das ist ein Schriftsteller der Menschheit! O auf dieser Bahn fortzugehen, welch ein Ziel! welch ein Kranz! Wenn ich ein Philosoph sein dörfte und könnte; ein Buch über die Menschliche Seele, voll Bemerkungen und Erfahrungen, das sollte mein Buch sein! ich wollte es als Mensch und für Menschen schreiben! es sollte lehren und bilden! die Grundsätze der Psychologie, und nach Entwicklung der Seele auch der Ontologie, der Kosmologie, der Theologie, der Physik enthalten! es sollte eine lebendige Logik, Ästhetik, historische Wissenschaft und Kunstlehre

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werden! aus jedem Sinn eine schöne Kunst entwickelt werden! und aus jeder Kraft der Seele eine Wissenschaft entstehen! und aus allen eine Geschichte der Gelehrsamkeit und Wissenschaft überhaupt! und eine Geschichte der Menschlichen Seele überhaupt, in Zeiten und Völkern! Welch ein Buch!“ (32–34) Man kann, wenn man will, in diesem Entwurf zu einem Jahrbuch der Schriften für die Menschheit den Keim der späteren Weimarer Zeitschriftenprojekte Herders sehen, vor allem der Briefe zu Beförderung der Humanität. Ein weiteres Buchprojekt Herders hieß Ein Buch zur Menschlichen und Christlichen Bildung – eine Art von Katechismus, aber nicht auf die protestantische Religion beschränkt, sondern im Sinne der Zeit, des Zeitalters der Aufklärung – „Alles im Gesichtspunkt der Menschheit“ (35). Ferner plante Herder eine Dogmatik und christliche Religionslehre, ein Buch über geistliche Beredsamkeit, eine christliche Kirchengeschichte, eine Ästhetik (wobei ein paar Schemata zur Plastik ausgeführt wurden) – kurz: ein Arbeits­ programm für ein ganzes Leben, von dem er zwar später nicht alles umzusetzen vermochte, aber doch erstaunlich vieles! Diese teils stichwortartigen, teils immerhin schematisierten, teils sich nur in Umrissen abzeichnenden Buchprojekte sind im Journal meiner Reise im Jahr 1769 eingebettet in Reflexionen aller Art, in phantastische Träume über Heringsschwärme und Unterseeboote, aber auch in psychologische Selbstanalysen, also weitere Beiträge zur ersten ­Ebene, auf der das Tagebuch als Beichtbuch und Bekenntnis dient.

REISEERFAHRUNGEN In Nantes hielt sich Herder fast ein halbes Jahr auf, um sein Französisch zu verbessern, Berge von Büchern französischer Aufklärer zu verschlingen, die er sich aus verschiedenen Bibliotheken auslieh. Er lebte mit seinem Freund Berens bei einer Familie, wo er nur geringe

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Kosten hatte, schrieb Briefe, empfing Briefe und auch Büchersendungen aus der Heimat, von Hartknoch, und aus Berlin von Friedrich ­Nicolai. Am 4. November reiste er mit der Postkutsche nach Paris, wo er eine Anlaufstation bei Johann Georg Wille hatte, einem erfolgreichen deutschen Kupferstecher und Übersetzer, der schon seit Jahrzehnten dort lebte. Für Tagebuchaufzeichnungen war nun keine Zeit mehr. Er versuchte, mit führenden Aufklärern Kontakt aufzunehmen, mit Diderot, d’Alembert, Thomas, Duclos, Barthélemy und anderen, doch zeigten diese kein sonderliches Interesse an Deutschland, an deutscher Literatur oder an Herder. Er besuchte Schlösser und Gärten, Bibliotheken und Museen, auch Theater – aber das alles machte keinen sonderlichen Eindruck auf ihn. Er war freilich von Anfang an mit negativen Vorurteilen nach Paris gekommen, wie man auch an seinen Ausführungen über Frankreich im Reisejournal sehen kann. Er hatte sich die Vorstellung gebildet, die französische Kultur sei die wichtigste in Europa infolge ihrer Wirkung, die politisch und sozial bedeutendste, die glänzendste, eine Kultur des Geschmacks – aber zugleich eine Kultur, die ihre Blütezeit schon hinter sich habe. Er nahm sich aus Paris an Eindrücken mit, was er aufraffen konnte, und hier ist insbesondere daran zu denken, daß Herder vorher nie in seinem Leben bemerkenswerte Werke der Plastik oder Architektur zu Gesicht bekommen hatte. Er hatte ja schon über Plastik als Kunst des Gefühls geschrieben, als er noch kaum je eine bedeutende Statue gesehen oder betastet hatte. Nun holte er nach. Herder träumte von einer großen Reise durch Europa; auch in Paris dachte er noch an Holland und England, an Italien. Aber er hatte kein Geld. Von seinen Freunden aus Riga ließ er sich von Zeit zu Zeit etwas schicken. Aber er sah, daß er mit seinen eigenen Mitteln nicht weit kommen würde. Da erhielt er Anfang Dezember in Paris ein Angebot, das ihn retten konnte: Der Erzbischof von Lübeck in Eutin suchte für seinen Sohn, den Erbprinzen von Holstein-Gottorp, einen Reisebegleiter. Herder zögerte zwar, weil er ursprünglich kein Engagement eingehen wollte, sondern nur sich selber bilden,

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akzeptierte aber aus Geldnot. Er reiste von Paris über Brüssel, Den Haag und Antwerpen nach Amsterdam. Dort bestieg er ein Schiff nach Hamburg, wo er eines seiner großen Vorbilder kennenlernte, Lessing, und Bekanntschaft schloß mit Matthias Claudius, dem Journalisten und Liederdichter, sowie mit dem Pädagogen Johann Bernhard Basedow. Dann mußte er weiter an den Eutiner Hof, wo er sich zunächst gut aufgenommen fühlte; er hielt sich etwa ein halbes Jahr in Eutin auf; die Italienreise sollte im Juli 1770 beginnen. Mit dem Prinzen besuchte Herder die Höfe von Hannover, Kassel, Darmstadt und Karlsruhe. Er verstand sich gut mit seinem Zögling, aber nicht mit dessen adligem Hofmeister. Binnen kurzem kam es zum Konflikt. Herder hatte vorsichtshalber von Anfang an darauf bestanden, daß er nach Belieben kündigen dürfe. Er beschloß, lieber auf die gewünschte Italienreise zu verzichten, als sich als Bedienten behandeln zu lassen.

LEBENSENTSCHEIDENDE BEGEGNUNGEN Am Ende dieser mißglückten, verfrüht abgebrochenen Reise nach Italien machte Herder noch drei für sein Leben entscheidende Begegnungen: In Karlsruhe wurde er dem Markgrafen Karl Friedrich von Baden vorgestellt, einem Musterfürsten des aufgeklärten Absolutismus, mit dem er auch in seiner Weimarer Zeit noch in Kontakt stand und für den er später sein Projekt Idee zum ersten patriotischen Institut für den Allgemeingeist Deutschlands (1788) entwickelte. In Darmstadt lernte er Caroline Flachsland kennen, die einige Jahre später seine Frau werden sollte und die ihn dann sein ganzes Leben lang begleitete und unterstützte. Und in Straßburg traf er auf den jungen Goethe, der darüber im 10. Buch von Dichtung und Wahrheit später seine autoritative Deutung niederlegte, die erkennen läßt, wie sehr ihn der um fünf Jahre ältere und reifere Ostpreuße beeindruckte und anregte, aber auch, wie sehr sie sich aneinander reiben mußten aufgrund der Differenzen zweier starker und zugleich schwieriger Charaktere. 48 1769–1771

1



Johann Gottfried Herder. Anonymer Kupferstich, um 1770.

2

Caroline Herder, geb. Flachsland (1750–1809).

Kopie eines unbekannten Künstlers (um 1820) nach einem Ölgemälde von Joachim Ludwig Strecker aus dem Jahre 1775.



3



Johann Gottfried Herder. Ölgemälde von Joachim Ludwig Strecker, 1775.

4

Johann Gottfried Herder am Kaffeetisch mit Pfeife, neben ihm seine Frau Caroline mit Handarbeit. Anonyme Silhouette, um 1780.

5



Caroline Herder mit ihren vier ältesten Söhnen. Anonyme Silhouette, 1782.

6

Die Stadtkirche St. Peter und Paul in Weimar. Anonyme Lithographie, um 1835.

7



Herders Haus in Weimar. Aquatintaradierung von Eduard Lobe, um 1840.

8

Abendgesellschaft bei Herzogin Anna Amalia. Herder sitzt ganz rechts am Rand. Aquarell von Georg Melchior Kraus, um 1795.

9

Reisegesellschaft im Park der Villa d’Este in Tivoli, Herder ist zweiter von links. Aquarell von Johann Georg Schütz, 1789.

10 Johann Gottfried Herder. Ölgemälde von Johann Friedrich August Tischbein,1795.

11 Herders Handschrift: eine Predigtdisposition (erste Eintragung im sogenannten Blauen Studienbuch).

12 Herder-Denkmal von Ludwig Schaller vor der Stadtkirche St. Peter und Paul in Weimar (1850 enthüllt). Foto 1992.



4 BÜCKEBURG (1771–1776)

IM NEUEN AMT Herder hatte schon vor seiner Entlassung aus eutinischen Diensten ein neues Angebot vorliegen, und zwar aus Bückeburg. Damit hatte es folgende Bewandtnis: Herder hatte in Riga aus Anlaß von dessen Tod ein ehrendes Denkmal für Thomas Abbt verfaßt. Thomas Abbt war zuletzt Konsistorialrat des Grafen von Schaumburg-Lippe in Bückeburg gewesen. Der Graf hatte sich mit Abbt prächtig verstanden und war nun auf die Idee gekommen, den Lobredner Abbts zu seinem Nachfolger zu machen. Herder zog Erkundigungen ein und akzeptierte schließlich das Amt in Bückeburg: das höchste, welches dieses Ländchen zu vergeben hatte, die Hofpredigerstelle in Verbindung mit einem Sitz im Konsistorium. Damit war er auch für die Schulen zuständig. Er konnte hoffen, so eine gesellschaftlich angesehene Stellung zu erreichen, welche es ihm erlaubte, seine Verlobte heimzuführen. Vielleicht hoffte er auch, daß ihm das kleine Ländchen eine Sinekure bieten würde, die ihm Raum für seine schriftstellerischen Ambitionen gewähren würde. Die Grafschaft Schaumburg-Lippe zählte damals etwa 15.000 Einwohner: eine bäuerliche Bevölkerung und nur eine einzige Stadt, die Haupt- und Residenzstadt Bückeburg. Im Kontrast dazu war Graf Wilhelm ein Mann von Welt, in London geboren, viel in 61 Bückeburg

Europa herumgekommen, lange in Wien lebend, dem sein Ländchen viel zu klein war. Er hatte das Militärwesen zu seinem Beruf gemacht und eine beträchtliche Karriere hinter sich gebracht: im Sieben­ jährigen Krieg als Hannoverscher Feldzeugmeister, danach Oberbefehlshaber der Streitkräfte Portugals. Auf einer künstlichen Insel in seinem heimischen See, dem Steinhuder Meer, hatte er eine Militärschule angelegt. Er war berüchtigt für seine Soldatenspielereien. Allerdings verfolgte er als wahrer Mann seiner Zeit auch ganz andere Interessen: philosophische und künstlerische. Er wäre gerne so etwas wie der bewunderte Friedrich der Große von Preußen im kleinen gewesen. Dazu konnte er einen als Schriftsteller schon ­bekannten Prediger wie Herder gerade brauchen. Freilich hatte er mit diesem insofern kein Glück, als Herder die freie Luft der Hansestadt Riga gewohnt und auch charakterlich nicht der Mann war, sich in fürstliche Verhältnisse hineinzuschmeicheln. Hatte er nicht gerade den eutinischen Dienst aufgekündigt, weil er sich zu Unrecht als Dienstbote behandelt gefühlt hatte? An Herder haben wir von Anfang an einen eigentümlichen Stolz bemerken können, der so gar nicht zu seinem Aufstiegswillen zu passen schien. Er war geschlagen mit einer merkwürdigen Neigung, gerade diejenigen Menschen vor den Kopf zu stoßen, die ihm helfen wollten, und diejenigen Verhältnisse schlecht zu machen, in die er sich gerade noch gesehnt hatte. Kurz, nachdem er in Bückeburg angekommen war (27. April 1771), bezeichnete er es als sein „Kanaan zwischen Stein u. Felsen, abgesondert von der ganzen Welt u. also auch vom guten Geschmack“ (DA 3, 83). Der Hof bestand freilich zu Herders Glück nicht nur aus einem militärisch gesinnten Tyrannen, sondern auch aus seiner Frau, Maria Barbara Eleonore, geborene Gräfin zu Lippe-Biesterfeld, in Herders Augen ein „Engel“. Sie war pietistisch beeinflußt, wurde Herders Beichtkind, mit dem er eine starke Beziehung aufbaute. Er war ­fasziniert von dieser empfindsamen Frau.

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Herder lebte in seiner frühen Zeit isoliert und einsam. Er las viel in seinem Garten am Wall, und er ritt oft über Land. In dieser Zeit war er sogar als forscher Reiter bekannt. Obwohl sich sein Hab und Gut anfangs auf einen Koffer beschränkte, hatte er ein stattliches Amtshaus mit zwölf Zimmern zur Verfügung. Er bezog Gipsabgüsse antiker Skulpturen und Bücher aus Kassel. Sein Amtsleben empfand er als eher unbefriedigend; er begriff bald, daß er in einem so kleinen Ländchen im Grunde genommen nicht viel mehr als der oberste der Dorfschulmeister und Landpfarrer sein konnte. Die bürokratischen Amtsgeschäfte ödeten ihn an: beispielsweise das Kontrollieren der Kirchenrechnungen, das Führen der Tabellen, das Hören der Klagen, die Direktion des Armenwesens, die Schulexamina. Das Hofleben brachte für den bewußten Bürger allen Verdruß, den ihm eine abhängige Stellung bringen konnte, ohne ihn – bei seiner Kleinheit – mit geistigen und musischen Erlebnissen entsprechend entschädigen zu können. Er schrieb bald, er habe „eine Freundin nöthig, die täglich um mich u. mit mir eins ist“ (DA 2, 119). Nun – diese wartete bereits ungeduldig in Darmstadt. Zwei Jahre nach seinem Amtsantritt in Bückeburg nahm sich Herder Urlaub und ersuchte um die Genehmigung seines Landesherrn zur Eheschließung. Diese wurde gerne erteilt, weil man glaubte, den berühmten Mann, der längst seine Fühler nach Hannover und Göttingen ausgestreckt hatte, so im Ländchen halten zu können. Am 2. Mai 1773 gaben sich Johann Gottfried Herder und Caroline Flachsland in Darmstadt das Jawort fürs Leben. Einige Wochen ­später richtete sich das junge Ehepaar in Bückeburg ein. Die ersten Ehemonate setzten bei Herder aus schierer Geldnot eine enorme Schaffenskraft frei. In der Straßburger Kur hatte er schon einen Vorschuß seines Landesherrn verzehrt. In den ersten beiden Jahren in Bückeburg blieb ihm die Rentkammer sein Gehalt schuldig; alle Einkünfte, die ihm zustanden, gingen nur schleppend und mit Verspätung ein. Herder versuchte (wie noch oft in seinem Leben), die Lücke im Haushalt durch Schreiben und Publizieren zu

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stopfen. In einem Brief an den Verleger lamentierte Herder verzweifelt: „Aber nun auch Geld! Liebster Hartknoch Geld! Ich weiß nicht, wie ich durch und vorsoll“ (DA 3, 47). Caroline hatte aus Darmstadt die ihr von Johann Gottfried übersandten Volksliedsammlungen und -nachdichtungen mitgebracht, und Herder entschloß sich zur Herausgabe der poetischen Sammlung. Im September 1773 schickte er den ersten Band, der englische und deutsche Volkslieder enthielt, an die Druckerei. Teile der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts sowie die Schrift An Prediger. Funfzehn Provinzialblätter entstanden; vor allem aber die berühmte Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. 1774 wurde der erste Sohn Gottfried geboren. Ein Familien­ leben gestaltete sich, freilich von Anfang an überschattet von ­materiellen Sorgen. Außerdem hatte sich Herder neue Krankheiten zugezogen, vor allem klagte er in der Bückeburger Zeit über Hämor­ rhoiden. (Das Reiten erleichterte sie nicht!) Mehrfach suchte er aus diesem Grund das nicht weit entfernte Modebad Pyrmont auf, wo er auch sogleich bedeutende Persönlichkeiten kennenlernen konnte wie den Arzt und Schriftsteller Johann Georg Zimmermann und die Honoratioren der Universität Göttingen. In Göttingen selbst befreundete er sich fest und lebenslang mit Christian Gottlob Heyne, dem Professor für klassische Philologie und Universitätsbibliothekar. Zielstrebig streckte Herder von Bückeburg aus seine Fühler aus. Ohne Gehaltsaufbesserung lud ihm sein Fürst 1775 zusätzlich das Amt des Superintendenten von Schaumburg-Lippe auf, also die Oberaufsicht über sämtliche Kirchen, was ihm noch mehr ungeliebte Amtsgeschäfte einbrachte. Denn eigentlich wollte er schreiben. Er publizierte um des Geldes willen, aber auch, um sich in Deutschland noch weiter bekannt zu machen und sich so den Weg in eine bessere Stellung zu bahnen. Auf Dauer wollte er sein Leben nicht in Bückeburg fristen.

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ABHANDLUNG ÜBER DEN URSPRUNG DER SPRACHE (1772) Die Bückeburger Zeit brachte eine kreative Explosion. Die Werke, mit denen Herder in die Geschichte eingehen sollte, schrieb er in Bückeburg. Die Abhandlung über den Ursprung der Sprache war freilich schon in Straßburg 1770 entstanden. Sie wurde 1771 von der Berliner Akademie der Wissenschaften preisgekrönt und 1772 veröffentlicht. Sie ging auf frühere Überlegungen Herders zurück. Als die Akademie das Thema formulierte, empfand es Herder sofort als kongenial, als „sein Thema“. Die Abhandlung enthält einen originellen Ansatz der Sprachphilosophie, damit auch der Kulturphilosophie. (Übrigens war Herder der erste, der in deutscher Sprache den Begriff ‚Philosophie der Sprache‘ verwandte und damit eine neue Teildisziplin der Philosophie begründete, die bis heute fruchtbar ist.) In der Berliner Akademie waren zwei verschiedene Ansichten über den Ursprung der Sprache vertreten worden, welche jene veranlaßten, das Thema zur Diskussion auszuschreiben. Johann Peter Süßmilch, Theologe und Begründer der Bevölkerungsstatistik, hatte sich für den göttlichen Ursprung der Sprache stark gemacht: Die Grammatik der Sprachen sei von solcher Vollkommenheit, daß sie nur Gott selbst erfunden haben könne, der sie dann den Menschen beigebracht habe. Auf der Gegenseite stand Maupertuis (der in diesem Punkt mit anderen französischen Aufklärungsphilosophen wie Condillac und Rousseau einer Meinung war): Die Sprache sei aus der Natur entstanden, aus dem Schrei, also schon bei den Tieren vorhanden und nur eben bei den Menschen weiterentwickelt worden. Genau an diesem Punkt setzt Herder ein, wenn er im ersten Satz effektvoll explodiert: „Schon als Tier hat der Mensch Sprache“ (FA 1, 697). Allerdings ergibt sich in der Folge, daß Herder mit dieser einfachen Antwort nicht zufrieden sein kann. Eine Verankerung der Sprache im Ausdruck von Gefühlen hält er zwar fest, letztlich je-

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doch entstehen aus dem Schmerz und all den Leidenschaften, welche die Zunge lösen, zwar Töne oder Laute, aber noch nicht die Sprache. Wie jedes Phänomen stellt sich Herder auch dieses geschichtlich vor: Es gibt nicht Sprache schlechthin, sondern nur Sprachen in ihrer historischen Entwicklung. Es gibt also auch Sprachen, die dem Ursprung näher stehen. ,Naturtöne‘ kann man in erster Linie in den ältesten Sprachen der Menschheit erwarten. Damals galt Hebräisch als die älteste bekannte Sprache. Indem Herder die Idee der französischen Aufklärer aufgreift, die Sprache sei als Ausdruck von Empfindungen wie Schmerz usw. entstanden, bildet er sie sogleich weiter in kommunikativer Hinsicht. Die „Töne der Natur“ werden nicht nur als Ausdruck ausgestoßen, sondern auch in appellativer Funktion, um nämlich andere Menschen aufmerksam zu machen. Letztlich liegt der Unterschied zwischen Tier und Mensch gerade in der Sprache. Also gilt es, den Unterschied zwischen Mensch und Tier herauszuarbeiten. Insofern läuft eine Philosophie der Sprache schließlich auf Anthropologie hinaus. Herders Ausführungen kreisen um den Begriff ‚Sphäre‘: Tiere haben eine eingeschränkte Sphäre, Menschen eine universale. Das ist so zu verstehen: Bienen können wunderbar Zellen bauen, aber sie sind auf diese Einzelkunst beschränkt. Alle Tiere kennen bestimmte Interaktionsformen mit ihrer Umwelt, und sie sind dadurch in spezifischer Weise festgelegt. Nicht so der Mensch, der zwar von seinen Instinkten her schwächer ausgestattet ist, aber eben deswegen etwas besitzt, was andere Tiere nicht haben: Freiheit. Herder setzt also den entscheidenden Unterschied zwischen Mensch und Tier in diesen Punkt: Nur Menschen haben Sprache; und zwar deshalb, weil nur Menschen Sprache brauchen; die Tiere sind durch Instinkt gesteuert und an ihre ‚Sphäre‘ angepaßt; der Mensch dagegen, der für eine große Sphäre, für viele Lebensmöglichkeiten offen sein muß, hat statt dessen die Sprache, um diese Situation bewältigen zu können.

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Aber noch entscheidender ist, daß die Entwicklung der Vernunft an Sprache geknüpft ist. Herder verwendet vorzugsweise den von ihm in die deutsche Sprache eingeführten Ausdruck ‚Besonnenheit‘, was gleichzeitig Reflexion und Reflektiertheit beinhaltet, auf jeden Fall aber eine Form der Distanz zur Wirklichkeit bedeutet. Dieser Gedanke wird psychologisch hergeleitet. Der Mensch sieht sich in eine Fülle von Reizen oder Kräften hineinversetzt. Um sich zu orientieren, muß er Merkmale aussondern, etwas erkennen, indem er es vereinzelt und sich selbst in Distanz zu ihm setzt. Dies geschieht durch Benennen, durch Sprache: „Beim ersten Merkmal ward Sprache“ (733). Sprache hat zur Voraussetzung das Hören, den Sinn des Ohres, auf den Herder besonderen Wert legt: „[D]er Mensch erfand sich selbst Sprache! – aus Tönen lebender Natur! zu Merkmalen seines herrschenden Verstandes!“ (736) Wenn wir uns hier noch einmal zurückwenden zu den beiden Sprachursprungstheorien, die Herder vorlagen, erkennen wir klar den Fortschritt: Gegen die Süßmilch-Theorie zeigt Herder, daß die Sprache nicht einfach von Gott gegeben sein kann, weil sonst Gott, wenn er die Sprache selbst schuf, dem Menschen eine Sprachverständnisfähigkeit anerschaffen haben müßte, die schon die ganze Sprache umfaßte. Indem Herder die Sprache vollkommen auf die Seite des Menschen verlagert, braucht er nicht dazu Stellung zu nehmen, wie sich das alles verbinden läßt. Kurz: Der Mensch ist ein Wesen, das der Sprache bedarf. Wohl gehört der Mensch wie die Tiere zur Natur, aber die Condillac-Theorie greift zu kurz, wenn sie Sprache als bloßen Ausdruck der Leidenschaft begreift. Das wesenhaft Auszeichnende des Menschen gegenüber dem Tier ist sein Weltverhältnis als Distanz (‚Besonnenheit‘), das ihn Sprache hervorbringen läßt. Indem er Sprache verwendet, entwickelt er seine Vernunft, wird er eigentlich Mensch. Damit hat Herder den Menschen im Gegensatz zum Tier, das ‚fertig‘ und mit Instinkten zur Welt kommt, als ‚unfertig‘ und ‚sich

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bildend‘ entworfen. Im zweiten Teil der Schrift finden sich dazu besonders eindringliche Formulierungen. „Wir wachsen immer aus einer Kindheit, so alt wir sein mögen, sind immer im Gange, unruhig, ungesättigt: Das Wesentliche unsres Lebens ist nie Genuß, sondern immer Progression, und wir sind nie Menschen gewesen, bis wir – zu Ende gelebt haben; dagegen die Biene Biene war, als sie ihre erste Zelle bauete“ (773). Von dieser entscheidenden Einsicht aus laufen Herders Überlegungen in verschiedenen Richtungen weiter: beispielsweise zur Bedeutung der einzelnen Wortarten, der Grammatik, oder zum Verhältnis von Tönen und sprachlichen Inhalten. Herder ist in diesem Sinne der Erfinder dessen, was Anthropologen des 20. Jahrhunderts wie Helmuth Plessner „Ästhesiologie“ genannt haben, das heißt eine Lehre von den Sinnen des Menschen. Eine Besonderheit ist dabei die Bedeutung des Gehörs. Im Gegensatz zur europäischen Haupttradition seit Plato, welche das Auge, das Sehen, als vornehmsten Sinn erachtete, will Herder das Ohr aufwerten. Der Gehörsinn ist für ihn ausgezeichnet durch Deutlichkeit und Klarheit. Er ist der mittlere Sinn zwischen Gesicht und ‚Gefühl‘, dem Tastsinn. Entscheidend ist weiterhin, daß Herder auch die kulturelle Funktion der Sprache klar herausarbeitet. Zwar entwickelt sich die Vernunft des Einzelmenschen mittels der Sprache. Aber die Stärke des Menschen (im Vergleich mit dem Tier) besteht gerade darin, daß sein ‚Mangel‘, nämlich die schwache Ausstattung mit Instinkten, ihn via Sprache auf die anderen Menschen verweist, auf die Gemeinschaft, auf die Menschheit. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bestimmt er wie folgt: „Kein einzelner Mensch ist für sich da, ‚er ist, in das Ganze des Geschlechts eingeschoben, er ist nur Eins für die fortgehende Folge‘“ (785 f.). Und in der Generationenfolge ist der Mensch als Lernender und Lehrender definiert. Herders Anthropologie ist nicht denkbar ohne Pädagogik. Die Individualisierung der Nationalsprachen erklärt sich bei Herder eben aus dieser kommunikativen Funktion: Sie dienen in ers-

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ter Linie der Verständigung in einer Familie, Gruppe, Gemeinschaft, in zweiter Linie aber müssen sie bei der Ausbreitung der Menschheit über die ganze Erde auf die entsprechenden Umwelt- und Lebens­ bedingungen reagieren, also flexibel bleiben, sich unterscheiden. Herder entwickelt also seine Anthropologie immer in doppeltem Bezug: synchron (der Einzelmensch und die gleichzeitig mit ihm lebenden Menschen in Familie und Gesellschaft) und diachron (der Mensch als Glied einer Kette von Wesen, welche sich aus der Vergangenheit in die Zukunft fortspinnt). „So wie nach aller Wahrscheinlichkeit das menschliche Geschlecht Ein progressives Ganze von Einem Ursprunge in Einer großen Haushaltung ausmacht: so auch alle Sprachen, und mit ihnen die ganze Kette der Bildung. […] Jedes Individuum ist Mensch, folglich denkt er die Kette seines Lebens fort. Jedes Individuum ist Sohn oder Tochter: ward durch Unterricht gebildet: folglich bekam es immer einen Teil der Gedankenschätze seiner Vorfahren frühe mit und wird sie nach seiner Art weiter reichen – also ist auf gewisse Weise ‚kein Gedanke, keine Erfindung, keine Vervollkommnung, die nicht weiter, fast ins Unendliche reiche‘. So wie ich keine Handlung tun, keinen Gedanken denken kann, der nicht auf die ganze Unermeßlichkeit meines Daseins natürlich hinwürke; so nicht ich und kein Geschöpf meiner Gattung, was nicht mit jedem auch für die ganze Gattung und für das fortgehende Ganze der ganzen Gattung würke. Jedes treibt immer eine große oder kleine Welle, jedes verändert den Zustand der einzelnen Seele, mithin das Ganze dieser Zustände; würkt immer auf andre; verändert auch in diesen etwas – der erste Gedanke in der ersten menschlichen Seele hängt mit dem letzten in der menschlichen Seele zusammen. […] In diesem Gesichtspunkt, wie groß wird die Sprache! ‚Eine Schatzkammer menschlicher Gedanken, wo jeder auf seine Art etwas beitrug! Eine Summe der Würksamkeit aller menschlichen Seelen‘“ (799–801). Anthropologen des 20. Jahrhunderts wie Helmuth Plessner und Arnold Gehlen knüpften nicht nur an Herders Bestimmung des Menschen als eines Mängelwesens und die Funktion der Sprache

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für die Menschwerdung des Menschen an. Sie brachten Herders Erkenntnisse mit den fachwissenschaftlichen Erkenntnissen der Biologie ihrer Zeit zusammen. Am stärksten hat Gehlen das Ergebnis in seinem Werk Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940) formuliert: „Die philosophische Anthropologie hat seit Herder keinen Schritt vorwärtsgetan, und es ist im Schema dieselbe Auffassung, die sich mit den Mitteln moderner Wissenschaften entwickeln will. Sie braucht auch keinen Schritt vorwärts zu tun, denn dies ist die Wahrheit.“

VON DEUTSCHER ART UND KUNST (1773) Bei seiner Durchreise durch Hamburg hatte Herder auch den Verleger Johann Joachim Christoph Bode kennengelernt, der ihn dafür gewonnen hatte, etwas für die von Gerstenberg herausgegebene Zeitschrift Briefe über die Merkwürdigkeiten der Litteratur zu schreiben. 1773 erschien ohne Verfasserangabe bei Bode in Hamburg eine Sammlung unter dem Titel Von deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter, die von Herder herausgegeben wurde. Sie enthielt von Goethe den Aufsatz Von Deutscher Baukunst, von Paolo Frisi die Übersetzung Versuch über die Gothische Baukunst, von Justus Möser einen Auszug aus der Einleitung zu dessen Osnabrückischer Geschichte und von Herder selbst zwei Texte: Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker sowie Shakespear. Es ist offenkundig, daß sich Herder nach der intensiven Beschäftigung mit der französischen ­Literatur auf seiner Reise hier gewissermaßen entlastete: Das Deutsche, Germanische, Nordische traten nun stärker hervor und wurden unter den Schlagwörtern ‚Natur‘, ‚Genie‘ und ‚Volk‘ gegen die Ideale des französischen Klassizismus in Stellung gebracht. Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker nimmt seinen Ausgangspunkt von der Übersetzung durch den Wiener Jesuiten Michael Denis, der Ossian in deutsche Hexame-

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ter übertragen hatte. Herder lobt zwar, was er an dieser Übersetzung loben kann, aber letzten Endes hält er das ganze Unternehmen für verfehlt. Seine Schrift zielt darauf ab, im Leser ein Gefühl dafür zu wecken, daß die Menschheit verschiedene Arten von Poesie hervorgebracht hat, die miteinander nicht verglichen werden können. Eine Übersetzung originaler Poesie aus einer frühen Phase der Menschheit (Ossian) in Hexameter, das heißt ein spätes, verfeinertes Silbenmaß der lateinischen Sprache, kann nie den ‚Ton‘ treffen, auf den es hier ankommt. Es geht also um das Authentische, Originale, und Herder sucht seine poetische Position zu beglaubigen durch Hinweis auf seine Seereise, welche ihm ein neues Verständnis für solche Dichtung der Natur eröffnet habe: „Wissen Sie, warum ich ein solch Gefühl teils für Lieder der Wilden, teils für Ossian insonderheit habe? Ossian zuerst, habe ich in Situationen gelesen, wo ihn die meisten, immer in bürgerlichen Geschäften, und Sitten und Vergnügungen, zerstreute Leser, als bloß amusante, abgebrochene Lecture, kaum lesen können. Sie wissen das Abenteuer meiner Schiffahrt; aber nie können Sie sich die Würckung einer solchen, etwas langen, Schiffahrt so denken, wie man sie fühlt. Auf Einmal aus Geschäften, Tumult und Rangespossen der bürger­ lichen Welt, aus dem Lehnstuhl des Gelehrten und vom weichen Sopha der Gesellschaften auf Einmal weggeworfen, ohne Zerstreuungen, Büchersäle, gelehrten und ungelehrten Zeitungen, über Einem Brette, auf offnem allweiten Meere […], mitten im Schauspiel einer ganz andern, lebenden und webenden Natur, zwischen Abgrund und Himmel schwebend, täglich mit denselben endlosen Elementen umgeben, und dann und wann nur auf eine neue ferne Küste, auf eine neue Wolke, auf eine ideale Weltgegend merkend – nun die Lieder und Taten der alten Skalden in der Hand, ganz die Seele damit erfüllet, an den Orten, da sie geschahen – hier die Klippen Olaus vorbei, von denen so viele Wundergeschichte lauten – dort dem Eilande gegenüber, das jene Zauberase, mit ihren vier mächtigen Sternbestirnten Stieren, abpflügte, ‚das Meer schlug, wie Platzregen, in die Lüfte empor, und wo sich,

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ihren schweren Pflug ziehend, die Stiere wandten, glänzten acht Sterne vor ihrem Haupte‘ über dem Sandlande hin, wo vormals Skalden und Vikinge mit Schwert und Liede auf ihren Rossen des Erdegürtels (Schiffen) das Meer durchwandelten, jetzt von fern die Küsten vorbei, da Fingals Taten geschahen, und Ossians Lieder Wehmut sangen, unter eben dem Weben der Luft, in der Welt, der Stille – glauben Sie, da lassen sich Skalden und Barden anders lesen, als neben dem Katheder des Professors […] wenigstens für mich sinnlichen Menschen haben solche sinnlichen Situationen so viel Würckung. Und das Gefühl der Nacht ist noch in mir, da ich auf scheiterndem Schiffe, das kein Sturm und keine Flut mehr bewegte, mit Meer bespült, und mit Mitternachtwind umschauert, Fingal las und Morgen hoffte – – –“ (FA 2, 456 f.). Diese neue Leseerfahrung des Authentischen beansprucht also ein neues Sensorium für Dichtung der Natur, wie Herder sie in Ossian wiederfinden will. Freilich ist Ossian für ihn nur ein Beispiel; letztlich steht diese Dichtung für Volksdichtung überhaupt, insbesondere jenen nordisch-germanischen Typus, der gekennzeichnet ist durch eine eigene, poetische Logik, die sich mit der klassischen Rhetorik nicht begreifen läßt. Herder spielt dabei die Frühzeit gegen die Spätzeit aus; er will zurück hinter die Buchgelehrsamkeit, hinter die geschriebenen Versionen der alten Lieder. Dafür verweist er auf den Sinn des Ohres: „Lieder, Lieder des Volks, Lieder eines ungebildeten sinnlichen Volks [...], die sich so lange im Munde der väterlichen Tradition haben fortsingen können“ (448). „Nichts ist stärker und ewiger, und schneller, und feiner, als Gewohnheit des Ohrs! Einmal tief gefaßt, wie lang behält dasselbe! In der Jugend, mit dem Stammlen der Sprache gefaßt, wie lebhaft kommt es zurück, und so schnell mit allen Erscheinungen der lebendigen Welt verbunden, wie reich und mächtig kommt es wieder. Aus Musik, Gesang und Rede könnt’ ich Ihnen eine Menge sonderbarer Phänomene anführen, wenn ich einmal psychologisieren wollte!“ (453)

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Eine Poesie für das Ohr als Poesie der Frühzeit der Menschheit – für Herder stehen Homer und Ossian, das Alte Testament und Gesänge der Wilden, die er aus Reisebeschreibungen kennt, für jene Originalpoesie, die er aufspüren will. Sein Aufruf zur Sammlung volkstümlicher Poesie war folgenreich für Goethe, für Arnim und Brentano, für die Brüder Grimm, für die ganze Romantik. Shakespear lautete die schlichte Überschrift eines weiteren Essays dieser Sammlung. Herder setzte damit Lessings 17. Literaturbrief fort. Es ging ihm um die Möglichkeit eines Dramas der Neuzeit, das nicht durch die drei Einheiten des Aristoteles eingeengt wäre. Er postulierte die Eigengesetzlichkeit eines nordischen Dramas als Reaktion auf den französischen Klassizismus. Er zeigte, daß und inwiefern es unhistorisch und unverständig sei, an die Dramen Shakespeares den Maßstab der französischen Tragödien in der Art Corneilles anzulegen. Zu diesem Zweck lenkt er zunächst den Blick zurück zum Ursprung der griechischen Tragödie aus dem Chor und erläutert ihre Entwicklung bei Aischylos, Sophokles und Euripides. Als Zweck der griechischen Tragödie wird mit Aristoteles ‚Katharsis‘ herausgestellt, ‚Erschütterung des Herzens‘. Die Franzosen, welche die griechische Tragödie schulmäßig nach Regeln nachahmten, erreichten diesen Zweck nicht mehr, da sie unnatürlich seien. Den wahren Zweck der Tragödie habe dagegen Shakespeare erfaßt, wenn auch auf anderem Wege und ohne Unterwerfung unter die Regeln der Dramatik. „Da aber Genie bekanntermaßen mehr ist, als Philosophie, und Schöpfer ein ander Ding, als Zergliederer: so wars ein Sterblicher mit Götterkraft begabt, eben aus dem entgegen gesetztesten Stoff, und in der verschiedensten Bearbeitung dieselbe Würkung hervor zu rufen, Furcht und Mitleid! Und beide in einem Grade, wie jener erste Stoff und Bearbeitung es kaum vormals hervorzubringen vermocht!“ (508) Weil Shakespeare in einer anderen Gesellschaft lebte und für ein anderes Publikum schrieb, mußte er zwangsläufig ein anderes Drama erfinden als das der alten Griechen. „Er fand keinen so einfachen Volks- und Vaterlandscharakter, sondern ein

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Vielfaches von Ständen, Lebensarten, Gesinnungen, Völkern und Spracharten – der Gram um das Vorige wäre vergebens gewesen; er dichtete also Stände und Menschen, Völker und Spracharten, König und Narren, Narren und König zu einem herrlichen Ganzen! Er fand keinen so einfachen Geist der Geschichte, der Fabel, der Handlung: er nahm Geschichte, wie er sie fand, und setzte mit Schöpfergeist das verschiedenartigste Zeug zu einem Wunderganzen zusammen, was wir, wenn nicht Handlung im griechischen Verstande, so Aktion im Sinne der mittlern, oder in der Sprache der neuern Zeiten Begebenheit (evenement), großes Eräugnis nennen wollen […]. Und wenn jener Griechen vorstellt und lehrt und rührt und bildet, so lehrt, rührt und bildet Shakespear nordische Menschen!“ (508 f.) Mit großer Beredsamkeit arbeitet Herder heraus, daß Shakes­ peares Dramen eine eigene Welt darstellen, die nach anderen Prinzipien gebaut ist als die der griechischen oder der französischen Tragödie. Damit schlägt er gleichzeitig eine Bresche für ein neues ­ deutsches Theater, wie es zur selben Zeit in Goethes Götz von ­Berlichingen und bei J. M. R. Lenz zum Vorschein kam.

AUCH EINE PHILOSOPHIE DER GESCHICHTE ZUR BILDUNG DER MENSCHHEIT (1774) Zur Geschichte kam Herder von der Erforschung der Sprachen und Literaturen sowie von der Theologie. Er intendierte im Grunde ­keinen Beitrag zur Fachhistorie, die sich gerade in seiner Lebenszeit zur universitären Disziplin verfestigte, ihre methodischen Standards ausprägte und professionalisierte; er wollte etwas ganz anderes: Seine Befassung mit Geschichte war letztlich eine religiöse, welche die Menschheitsgeschichte als Selbsterkenntnis des menschlichen Geschlechts verstehen wollte, den Spuren Gottes in der Geschichte so nachgehen, wie man sich gewöhnt hatte, neben der Offenbarung (der Heiligen Schrift) noch das ‚Buch der Natur‘ zu studieren, um

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Gottes Schöpfung auszudeuten. Als höchste irdische Schöpfung war der Mensch anzusehen; also bedeutete es zugleich ein Stück Gottes­ erkenntnis, wenn man die Taten und Entwicklungsformen der Menschen im Zusammenhang zu deuten unternahm. Dies ist Herders Grundanschauung sein Leben lang geblieben, wenn er auch verschiedene Varianten davon entwickelt hat. Die Frühschrift spiegelt diejenige Variante, die am nächsten mit herkömmlichem religiösen Denken verbunden war, wenn auch Herder von Anfang an sich an eine Aufklärungsöffentlichkeit wandte, bei der man einen allgemeinen Konsens über Gottes Wirken in der Geschichte nicht mehr voraussetzen konnte. Es galt vielmehr, in der Sprache und in den Denkformen der Zeit auszusagen, was als herkömmliche Glaubensüberzeugung nicht mehr vorausgesetzt werden konnte. Seine neue Sicht trug Herder in der Bückeburger Geschichtsphilosophie provozierend vor. Sie war offenkundig eine polemische Abrechnung mit den vernunftstolzen Aufklärern wie Voltaire, Hume und Robertson; sie wurde zu einem Grunddokument des Sturm und Drang. Darüber hinaus allerdings kann man in der Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) einen der Haupttexte europäischer Ideenentwicklung sehen, selbst langfristig: Ein Stück Rousseauismus mit seiner heftigen Frontstellung gegen die vernunftfixierte Aufklärungsbewegung, eine Schrift gegen den Zeitgeist, die als Dokument eines erneuerten Denkens und Fühlens verstanden sein wollte. Die Sprache ist geradezu hymnisch, hoch erregt, pathetisch: Kaskaden ungebärdiger Ausrufe und ungebändigter, teilweise von Hamann geprägter, dunkel andeutender Bilderfluten jagen sich in diesem formlosen Essay, dessen Thema die Menschheit schlechthin bildet, das heißt Entstehung, Formierung und Wandel des gesamten Menschengeschlechts, und damit verknüpft die Frage, wie weit ein Mensch einen so universalen Gegenstand überhaupt erfassen könne. Herders Antwort läßt Hermeneutik und praktische Philosophie in charakteristischer Weise ungeschieden: Auch wenn der Mensch nur eng begrenzte Fähigkei-

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ten besitzt und, um überhaupt etwas zu erkennen, Horizonte bilden muß, die ihm die Gesamtschau unmöglich machen, gilt es, an der Voraussetzung des Ganzen, der Einheit, festzuhalten, die in letzter Instanz aber nur der Schöpfer selbst denken kann. Seine Einsicht in die Begrenztheit menschlicher Erkenntnis überspringt Herder durch kühnes Hypothesenbilden über die Möglichkeit einer Einheit: Um das Ganze erfassen zu können, muß man die Gesetze der Bildungsprinzipien des Seienden begriffen haben; der Mensch vermag sich selbst zu erkennen in einer theoria seiner historischen Erscheinungsformen im Ablauf der Zeit, wird durch den intellektuellen (sowohl rationalen als auch intuitiven) Nachvollzug der Werke des Schöpfers der Schöpfung inne – und erst durch dieses Ringen um Erkenntnis überhaupt zum Menschen. Umgekehrt garantiert erst diese homologe Struktur des Erkennenden und des Erkannten die Möglichkeit historischer Erkenntnis, die allerdings notwendig beschränkt ist: Der Blick auf die Geschichte vermag Elemente des göttlichen Planes, aber nicht die tiefsten Intentionen des Schöpfers und damit auch nicht die Zukunft zu erkennen. Die Schrift enthält – und das hat man in der hermeneutischen Tradition von Friedrich Meinecke bis Hans-Georg Gadamer immer wieder hervorgehoben – entscheidende Aussagen zur Möglichkeit historischen Verstehens überhaupt, Anleitungen zur Einfühlung, zum Epochenbezug. Diese werden entwickelt aus der Polemik gegen die Aufklärer, denen Herder ein vereinfachtes Fortschrittsdenken und einen übereilten Bezug ihrer jeweiligen Gegenwart zur Vergangenheit zum Vorwurf macht. Rankes Prinzip, jede Epoche sei unmittelbar zu Gott, ist bei Herder in dieser Schrift vorgebildet, wo es etwa heißt: „Jede Nation hat den Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt“ (FA 4, 39). Auch das schnellfertige Aburteilen über fremde Vergangenheiten ist hier klassisch zurückgewiesen: „Gehe in das Zeitalter!“ (33), fordert Herder vom Historiker. Wo man, wie Kurt Breysig und Friedrich Meinecke, den Entwicklungsgedanken und den Individualitätsgedanken verfolgt

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hat, konnte man immer auf diese Grundschrift Herders als einen klassischen Text zurückkommen. In dieser Deutungstradition wird das Vorausweisende dieser Sturm-und-Drang-Schrift herausgehoben, das Rückwärtsgewandte aber nicht erkannt. Doch dieses war vielleicht noch signifikanter, noch provokativer. Wir bekommen es in der Lebensalteranalogie zu fassen und in der durchgehenden Teleologie. Als grundlegend für die Erkenntnis konstatiert Herder die Analogie der Epochen historischer Entwicklung mit den menschlichen Lebensaltern. Dies ist eine Denkform, die uns heute bloß metaphorisch scheint, die für Herder aber verschiedene Tiefendimensionen hat. Es ist zunächst der Versuch, ein Strukturmodell aufzustellen, um sich vielgestaltiges Einzelnes in Veränderung denken zu können. Die Stadien des menschlichen Lebenslaufes, des Kindes-, Knaben-, Jünglings- und Mannesalters hat Herder als „Analogie in der Natur“ (41) auf die Entwicklung des gesamten Menschengeschlechtes übertragen: Die Menschheit beginnt im Alten Orient, im Patriarchenzeitalter, wie es in den ältesten Teilen der Bibel bezeugt ist, gewissermaßen in der Kindheit. Und analog den menschlichen (eingeschränkter: männlichen) Lebensstufen entwickelt sie sich über das Knabenalter der Ägypter bzw. Phönizier und das Jünglingsalter der Griechen zur Höhe des Mannesalters der Römer. Die Lebensalteranalogie macht es möglich, sich sowohl eine Einheit des Ganzen und ihren inneren Zusammenhang als auch die Eigenwertigkeit und Besonderung der Durchgangsstufen zu denken. In analoger Weise will Herder sehen lehren, daß es möglich ist, die Durchgangsepochen der Menschengeschichte in ihrer eigenen Finalität zu begreifen und trotzdem die Möglichkeit einer teleologischen Entwicklung der ganzen Menschheitsgeschichte aufrechtzuerhalten. Bei der Darstellung der einzelnen Epochen der Menschheitsgeschichte, die ja nur in mindestens einer Hinsicht, nicht aber in der Fülle ihrer Erscheinungen zur Grundlage der Weiterentwicklung der Menschheit werden müssen, bemüht sich Herder um eine ganzheitliche Ausgestaltung. Er spricht dabei von ‚Nationen‘,

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meint aber nur eine Art von Kulturmorphemen, bestimmbaren Elementen einer universalen Kulturentwicklung. Bei dieser Darstellung der Kulturmorpheme bildet sich Herders Kulturgeschichte eigentlich aus: Denn die jeweiligen Erscheinungen brauchen Gelegenheitsursachen. Diese werden primär aus dem Bereich der Geographie, des Klimas, der Bodenbeschaffenheit deduziert. Kausale Analyse ermöglicht die Abgrenzung von Kulturmorphemen. Gerade auf dem Unterschied zwischen dem Ägypter und dem Griechen, dem Griechen und dem Römer usw. beruht der Fortgang des Menschengeschlechtes im Sinne einer organischen Entwicklung. Der Unterschied wird primär auf eine kausale Basisschicht (Klima, Geographie, Bodenbeschaffenheit) bezogen. Auf dieses Formativ gründet sich die Art des Nahrungserwerbs, der menschlichen Arbeit, der Wirtschaftsformen. Die Patriarchenzeit des Alten Orients ist der Idealtypus einer Viehzucht treibenden Gesellschaft, Ägypten der Idealtypus einer Ackerbau treibenden, Phönizien der Idealtypus einer Handel treibenden. In direkter Abhängigkeit von solchen Lebensformen entstehen Brauchtum und Religion, Sitte und Recht. Das ganze System der Kultur entfaltet sich für Herder auf jeder Stufe stets im Blick auf die Basis ökonomisch determinierter Lebensformen. Die Lebensalteranalogie ist zugleich vielversprechend und gefährlich, weil sie kein bloßes Gliederungsprinzip darstellt, das die Zeitalter neben- oder nacheinander an ihre Stelle setzte, sondern in der Aufeinanderfolge stabile Ordnung schafft, und zwar eine notwendige, unumkehrbare Ordnung. Man kann nicht Jüngling werden, ohne Kind gewesen zu sein. Die Abfolge gewinnt also ein Moment innerer Notwendigkeit. Sie ist aber insofern überzeugend, als sie Kontinuität und Diskontinuität verstehbar macht und zugleich Höherentwicklung oder Fortschritt im ganzen als Denkmöglichkeit offenhält, ohne die Stufen oder Durchgangsstadien zu entwerten. Kein Alter ist nur Mittel zum Zweck; wie jedes Lebens-, so ist auch jedes Zeitalter sowohl Mittel zum Zweck weiterer Entwicklung als auch schon Zweck in sich selbst.

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Herder verstand Voltaire und die Aufklärungshistoriker so, als hätten sie die früheren Zeitalter gewissermaßen mediatisieren wollen. Demzufolge zählte in der Geschichte nur, was Wert hatte für die Gegenwart. Die vergangenen Zeitalter wären dann nur Mittel zum Zweck der gegenwärtigen Kulturblüte und Höhe der Menschheitsentwicklung. Dieser Auffassung kann Herder nun mit seiner ­Lebensalteranalogie entgegentreten. Jede Nation – und das heißt: jedes Zeitalter – hat den Mittelpunkt ihrer Glückseligkeit in sich selbst wie jedes Lebensalter. Der Knabe ist als Knabe glücklich, der Mann als Mann, wenngleich auf andere Weise. Die Lebensalteranalogie ist nicht der einzige Bildbereich, durch den Herder die menschliche Geschichte mit der Naturgeschichte in Zusammenhang bringt. Keim – Blüte – Frucht; Tropfen – Fluß – Meer sind weitere Metaphern für Geschichte. Am wichtigsten aber wird – neben der Lebensalteranalogie – die Metapher des Baumes: Die Geschichte entwickelt sich aus Wurzeln zu einem Stamm, der kräftige Äste treibt und dann immer feinere Zweige ansetzt. Wie bei den Lebensaltern ist es auch im Bild des Baumes: Die feinsten Verästelungen könnten nicht leben ohne die Verbindung mit dem Stamm und mit den Wurzeln, wie es kein reifes Alter ohne Kindheit und Jugend gibt. Wiederum ist moralisches Räsonnement über die Geschichte sinnlos: Die Äste sind nicht besser als der Stamm, nur feiner und später. Und doch erfüllt der Übergang von der Lebensalteranalogie zum Bild des Baumes eine wichtige Funktion für Herder: Auf die Zeit des reifen Mannesalters (die Römerzeit) könnten allenfalls noch Greisenalter und Tod folgen. Diese Konsequenz meidet Herder jedoch. Er stellt keine neue Dekadenztheorie auf. Wohl ist er bestrebt, das hybride Selbst- und Epochenbewußtsein des siècle des lumières zu relativieren; er will aber nicht seine eigene Zeit unter die früheren herabsetzen. Aus Herders Vorstellung vom Einheitscharakter einer Epoche oder ‚Nation‘ erklären sich die Zusammengehörigkeit einer be-

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stimmten Dichtung und einer bestimmten Kulturstufe, die Ausprägung sprachlicher Eigenart, die religiösen Formen, das gesellschaftliche Gefüge, die politische Ordnung. So ist Herders Auffassung der Geschichte als Universalgeschichte schon in dieser frühen Schrift notwendig die einer Kulturgeschichte im umfassendsten Sinn. Gerade die kausale Interdependenz aller Sektoren erlaubt es, eine Kulturgeschichte als Entwicklungsgeschichte zu schreiben, und zwar in divinatorischem Vorgriff auf eine intentional mögliche, praktisch aber an der Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens scheiternde empirische Gesamtgeschichte der Menschheit. Letztlich läßt sich Herders Bückeburger Geschichtsphilosophie als säkularisierte Theodizee deuten: Die Geschichte erscheint als Offenbarung, als Handeln Gottes im Menschengeschlecht, in Analogie zu seinem Handeln in der Natur. Erforschung der Geschichte ist dann Bemühung um die Erkenntnis des Seienden nicht nur, sondern letztlich des höchsten Seins. Entscheidend ist wohl die von der Deutung des Historismus geflissentlich übersehene Andeutung einer universalen Teleologie der Menschheitsgeschichte – das heißt der Geschichte überhaupt. Hinzu kommt aber auch die Anknüpfung an ältere Schemata heilsgeschichtlicher Deutung, etwa das danielische der Vier-Reiche-­ Lehre. Herders Wiederaufnahme und Neuansatz einer Universal­ geschichte führte gerade in dieser Komplexität mit Notwendigkeit zu einer neuen, säkularen, empirisch fundierten Universalgeschichte, zur Kulturgeschichte. Für Herders Position charakteristisch ist die Hinwendung zur Empirie. Das christliche Geschichtsbild der abendländischen Tradition war, im neueren Sinne, tatsachenfremd, indem es nicht zwischen historischen Tatsachen, geoffenbarten Wahrheiten und geglaubten Heilstatsachen unterschied. Die Einheit der Geschichte war durch den universalen Glauben der Kirche verbürgt; außerhalb der Kirche gab es kein Heil und auch keine Geschichte. Doch Herder, trotz seiner Polemik gegen die Aufklärer, stellte diesem Denken

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die empirische Konzeption einer Universalgeschichte als Kultur­ geschichte entgegen. Denn solche Empirie war nun, in einem zeitgemäßen wissenschaftlichen Kontext der Aufklärung, nicht mehr zu vermeiden.

DIE GESCHEITERTE BERUFUNG NACH GÖTTINGEN Herder erlebte in Bückeburg eine Explosion seiner Produktivität und das glückliche Leben einer jungen Familie. Allerdings hatte er mancherlei Grund, unzufrieden zu sein. Seinen Wirkungskreis hatte er sich jedenfalls weit größer vorgestellt, als er von Riga aufgebrochen war und sich erträumt hatte, ein neuer Reformator Livlands zu werden – und nun oberster Landprediger von 15.000 Bauern! Ein Problem war die gesellschaftliche Isolation: Abgesehen von der verehrten Gräfin Maria und wenigen einzelnen Menschen in Bückeburg gab es eigentlich keinen kongenialen Umgang für Herder. So etwas wie ein gebildetes Bürgertum fehlte völlig. Aus Zusammenstößen mit dem Grafen blieb ihm ein Groll, und aus der Amtstätigkeit entstanden vielerlei Mißhelligkeiten. Schon seit längerem verfolgte Herder die Idee einer Berufung als Professor der Theologie an die Universität Göttingen. Dort hatte er Freunde – namentlich den Altphilologen und Universitätsbibliothekar Christian Gottlob Heyne – und Feinde, namentlich den Historiker August Ludwig Schlözer, mit dem er eine giftige Fehde aus Anlaß der Geschichtsphilosophie ausgetragen hatte. Herder bedauerte nun, in Straßburg nicht den theologischen Doktortitel erworben zu haben. Um die Sache in Göttingen voranzubringen, hätte er einen solchen haben sollen (was ihn mit 300 Reichstalern ein halbes Jahresgehalt gekostet hätte – und eben das Geld fehlte ihm ja!), oder er konnte sich durch theologische Schriften bekannt machen. In der Tat schrieb Herder in den Bückeburger Jahren verschiedene theologische Werke, welche ihn den Göttingern wertvoll machen sollten, beispielsweise: An

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Prediger. Funfzehn Provinzialblätter (1774), Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (Teil I: 1774), Erläuterungen zum Neuen Testament aus einer neueröfneten Morgenländischen Quelle (1775), Briefe zweener Jünger Jesu in unserm Kanon. Nebst einer Probe nichtiger Conjekturen übers N. T. zum Anhange (1775). Wenn die Universität ihn denn haben wollte, konnte sie sich durchaus auf theologische Fachschriften Herders beziehen, die deutlich machen konnten, daß er fachlich geeignet und lutherisch orthodox war. Denn eigentümlicherweise hatte Herder nicht nur damit zu kämpfen, daß ihn Schlözer für einen windigen Literaten hielt, sondern auch damit, daß das Gerücht existierte, er sei theologisch nicht einwandfrei. 1775 jubelte er bereits über einen Ruf nach Göttingen als Professor der Theologie und Universitätsprediger mit Aussicht auf den Posten des Generalsuperintendenten. Kurz darauf bemerkte er, daß man ihm nur 600 Reichstaler angeboten hatte, etwa so viel, wie er in Bückeburg hatte, nur mit dem Unterschied, daß in Göttingen die ­Lebenshaltungskosten viel höher lagen, er also faktisch zurückgesetzt worden wäre. Er machte eine Eingabe, und man bot ihm 700. Die Sache wurde an den Landesherrn, den Kurfürsten von Hannover, der zugleich König von England war, nach London überwiesen. Während Herder in Göttingen bereits eine Wohnung suchen ließ, intrigierten seine Feinde in London. Georg III. war bigott; man brauchte ihm nur das Gerücht beibringen, der Kandidat sei etwas freigeistig. Infolgedessen erhielt Herder den Ruf mit der Bedingung, sich einem öffentlichen theologischen Kolloquium der Professoren zu stellen. Mit Recht schäumte er; dies war wirklich eine Zumutung! Entweder, man hielt ihn für fähig (und der ergangene Ruf hatte dies ja zur Voraussetzung!), oder man hielt ihn für ungeeignet, dann konnte man das auch mit einer erniedrigenden Prozedur nicht wettmachen. Herder schuldete es seiner Selbstachtung, unter dieser Bedingung die Professur nicht anzunehmen. Gleichzeitig hatte sich in Bückeburg das Verhältnis zu seinem Landesherrn verschlechtert, denn der Triumph des Rufes nach Göt-

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tingen konnte dort nicht unbekannt bleiben. Unter diesen Bedingungen wäre es doppelt bitter gewesen, weiter in Bückeburg dienen zu müssen. Aus diesem mißlichen Verhältnis befreite ihn ein Ruf nach Weimar, der auf Wielands Anregung hin von Goethe betrieben worden war. Herzog Carl August ließ sich gewinnen und auf die durchwegs ablehnende Geistlichkeit im Lande (auch hier war ­Herder als Freigeist verschrien!) nahm man keine Rücksicht. Am 1. Februar 1776 erhielt Herder das Berufungsschreiben als Weimarer Hofprediger, Oberkonsistorial- und Kirchenrat, Generalsuperintendent und Pastor primarius zu Weimar. Sein Gehalt wurde großzügig verdoppelt: 1200 Taler. Noch verzögerte sich die Annahme durch den Tod der verehrten Gräfin Maria. Doch nach ihrer Beerdigung ersuchte Herder um Urlaub zur Brunnenkur nach Bad Pyrmont. Die junge Familie vergrößerte sich um einen zweiten Knaben, dem man im Blick auf die Weimarer Perspektive schon einmal den Namen ‚August‘ gab. Am 15. September 1776 hielt Herder seine Abschieds­ predigt in Bückeburg; über Halberstadt (Aufenthalt beim Dichter Gleim) kam man am 1. Oktober nach Weimar und am 20. Oktober hielt Herder seine Antrittspredigt in Weimar. – Was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen konnte: Weimar sollte nicht nur seine wichtigste, sondern auch seine letzte Lebensstation werden.

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5 IN WEIMAR ANGEKOMMEN (1776 –1788) IM NEUEN AMT Im Vergleich mit Königsberg oder Riga war Weimar mit seinen 6.000 Einwohnern ein kleines Städtchen; Herder konnte es auch nicht lassen, es sogleich schlecht zu machen: ein „unseliges Mittelding zwischen Hofstadt u. Dorf “ (DA 5, 135) nannte er es und eine „erbärmliche Apanage der Reformation zwischen den Gebürgen“ (DA 4, 60). Im Vergleich mit Bückeburg allerdings bot sich ihm in diesem Ländchen zwischen Erfurt und Jena, zwischen Apolda und Ilmenau ein reichhaltiges Betätigungsfeld. Weimar lag nicht weit von einer Handelsstraße; die Verbindung der Höfe war sehr eng; das geistige Commercium zwischen den mitteldeutschen Universitätsund Handelsstädten sehr rege. Wenn er in Bückeburg zuweilen darüber geklagt hatte, es gebe niemanden, mit dem er ein vernünftiges Wort sprechen könne, außer dem Grafen und der Gräfin, konnte er sich dergleichen Klagen in Weimar jedenfalls sparen. Sachsen-Weimar-Eisenach war seit dem frühen Tode des Herzogs Constantin, seit 1757, von dessen Witwe Anna Amalia vormundschaftlich regiert worden. Diese geborene Prinzessin von Braunschweig-Lüneburg-Wolfenbüttel war eine gebildete Frau, die versuchte, durch gezielte Berufung Auswärtiger Leben an den Weimarer Hof zu bringen. 1763 berief sie beispielsweise den Schriftsteller Johann Carl August Musäus als Hofmeister und Gymnasialprofessor, 1772 den Dichter und Erfurter Professor Christoph Martin

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Wieland als Prinzenerzieher und Hofrat. 1775 war ihr ältester Sohn Carl August mit 18 Jahren für volljährig erklärt worden und hatte die Regierung ergriffen. Dieser hatte den genialen jungen Goethe an den Hof geholt. Goethe wiederum hatte auf Anregung Wielands einen weiteren in ganz Deutschland als Schriftsteller bekannten Mann vorgeschlagen, als es darum ging, die höchste geistliche Stelle im Lande Weimar zu besetzen: eben Herder. In Weimar bildete sich so etwas wie ein ‚Exzellenzcluster‘. Zur Zeit der Vormundschaft war die höchste Kirchenstelle mit Absicht nicht neu besetzt worden, um dem jungen Herzog freie Hand zu lassen. In den fünf Jahren der Vakanz hatten sich natürlich mancherlei Mißbräuche und Versäumnisse eingeschlichen, und der neue Mann hatte es auch deshalb nicht einfach, weil es in der weimarischen Geistlichkeit gleich mehrere gab, die glaubten, mehr Anspruch auf diese Beförderung zu haben als das ‚Nordlicht‘. Von Anfang an hatte Herder in Weimar gegen die Mißgunst seiner Kollegen zu kämpfen und gegen giftige Gerüchte. So glaubte man etwa zu wissen, der Neue sei Socinianer (also ein Leugner der Göttlichkeit Christi), und er könne nicht predigen (dieses Gerücht brachte Herder freilich mit seiner ersten Predigt schon zum Verstummen). Herder trat in Weimar ein Amt mit fordernden Pflichten an: häufige Predigten und geistliche Amtsverrichtungen, Sitzungen im Konsistorium, Kandidaten- und Lehrerexamina, die Inspektion des weimarischen Gymnasiums und der Geistlichen und Schullehrer sowie die Prüfung der Kirchenrechnungen. Der junge Herzog Carl August heiratete Luise, eine Prinzessin von Hessen-Darmstadt: noch ein Pluspunkt für die Familie Herder, welche mit dieser bereits aus Darmstädter Zeiten bekannt waren. Wenn es Ärger gab mit Goethe oder Carl August, konnte man sich an Luise halten. Kein Zufall, daß Herders einzige Tochter nach dieser verehrten Fürstin ‚Luise‘ getauft wurde. Eine bedeutsame Persönlichkeit für Herder in der gesamten Weimarer Zeit war Wieland. Sicher: Die betonte Toleranz und

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­ äßigkeit des biegsamen Schwaben und die provozierende SchroffM heit des Ostpreußen stießen öfter gegeneinander an. Aber insgesamt ergab sich ein erfreuliches Familienverhältnis zwischen Wielands mit ihren fünf Töchtern und Herders mit ihrer zunehmenden Kinderschar. Außerdem war Herder in den ersten Jahren für Wieland auch wichtig als Beiträger zu seiner Zeitschrift, zum Teutschen ­Merkur. Und Wieland war wichtig für Herder, weil er ihm Kapital lieh. Wo immer Herder sich aufhielt: Das Geld reichte nie. Kaum jemals stand er ohne Schulden da. Am Weimarer Hof lebten nicht wenige Menschen, die für Herder Bedeutung gewannen. Karl Ludwig von Knebel etwa, zuerst als Prinzenerzieher engagiert, dann als Privatmann und Pensionär, gehörte jahrzehntelang zum Umgang Herders. Oder August von Einsiedel, ein philosophischer Sonderling, bekennender Atheist. Karl von Dalberg, kurmainzischer Statthalter in Erfurt, war ein ­älterer Freund Herders, der sich schon für seine Berufung eingesetzt hatte und nun in Weimar häufig Herders Nähe suchte. Auch Prinz August von Gotha wünschte den nahen Umgang und geistigen Austausch mit Herder. Im Kreise um Anna Amalia war Herder ein wertgeschätzter Unterhalter voll Geselligkeit und Bildung. Er lieferte auch Beiträge zum handschriftlich zirkulierenden Tiefurter Journal. Herzogin Luise ließ sich von Herder im Englischen und Lateinischen unterrichten. So sehr er sich beruflich verbessert hatte und so sehr er an persönlichem Umgang gewonnen hatte – zufrieden war Herder nie. Das große Amtshaus hinter der Kirche war der Familie zu groß und zu düster; auch glaubten Herders, es hindere sie durch seine Stattlichkeit am Umgang mit den Weimarer Bürgern auf gleichem Fuße: „eingeklemmet in das einsame Wirrwarr und geistliche SisyphusHandwerk, in dem ich hier lebe, ermattet man an allem u. nimmt zuletzt an sich selbst nicht mehr Teil. Ich habe den Winter einsamer gelebt, als ich in meinem Leben gelebt habe: die Kirchmauer, die gerade vor mir steht, scheint mir unaufhörlich die wahre Bastille und

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ich habe von jeher mein Haus, groß und verschnitzelt, unbewohnbar u. wo es bewohnt wird, eingeklemmt und drückend, als das wahre Symbol meines Amts angesehen.“ (DA 4, 59). Bei den zahlreichen hervorragenden Eigenschaften Herders fehlte ihm doch eine: sich mit vorhandenen Verhältnissen abzufinden und das Beste aus einer Situation zu machen. Nach viereinhalb Jahren in Weimar fiel seine Bilanz so aus: „Sonst leben wir sehr abgesondert und ein Zweig der Bekanntschaft u. sogenannten leidigen Freundschaft verdorrt nach dem andern, wenigstens in unsrer Seele. Wie ich seit 3. oder 4. Jahren seitdem ich hier bin, alt und grau geworden bin, ist unsäglich. Meine Haare fallen wie Stoppeln hinweg u. ich kann mit dem Scheitel kaum die Glatze mehr decken, ein junger Greis vom Baume, der auf seinem Stamm verdorret“ (DA 9, 309). Zu diesem Zeitpunkt war Herder 36 Jahre alt. Was ihm in der Folge noch mehr zu schaffen machen sollte: der Aufstieg Goethes. Er hatte diesen als einen jungen, unreifen ­Studenten kennengelernt. 1782 wurde Goethe in den Adelsstand erhoben, nannte sich Geheimer Staatsrat, Gesandter bei den thüringischen Höfen und anderes mehr, bezog Wohnung in dem statt­lichen Haus am Frauenplan und hielt Assemblee mit Adligen. Herder fühlte sich zurückgesetzt, schon persönlich. Aber auch ein struktureller Konflikt trieb damit seiner Eskalation zu: Herder fühlte sich als Mann der Kirche; daß der Herzog und Goethe sich dem kirchlichen Einfluß entzogen, gefiel ihm gar nicht. Zumal seine Reformpläne für Kirche und Schule häufig einfach steckenblieben. Auf der anderen Seite sorgte Goethe für Theater und Lustbarkeiten aller Art: Nicht nur, daß er sich damit bei Hofe unentbehrlich machte; Herder wurde auch den Verdacht nicht los, daß dieser Einfluß ein verderblicher sei, der seinen eigenen Bestrebungen gerade zuwiderlief. 1783 war das Jahr, in dem diese Sphären kulminierten, in dem Herder und Goe­ the, Kirche und Theater in Weimar heftigst aufeinanderstießen. In den Erinnerungen, die Caroline Herder nach dem Tode ihres Mannes verfaßte, sind zahlreiche persönliche Beziehungen be-

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schrieben und gewürdigt – aber ein Name fehlt: Sophie von Schardt. Diese kam 1778 22jährig nach Weimar als Gattin eines Bruders der Frau von Stein. Sie war äußerst munter, lebhaft, charmant und gebildet; im Nu spann sich ein erotisches Verhältnis zwischen dem Kirchenmann und dieser weltlich gesinnten Frau an. Sie wußte aber auch, wie sie den Weg zu seinem Herzen finden konnte: Sie begehrte nämlich Griechischunterricht von ihm. Darüber ergab sich wohl ein Verhältnis wie das zwischen Abaelard und Heloise, wenngleich Herder Wert legte auf das Platonische dieser pädagogisch-erotischen Beziehung. Fest steht, daß man die Grenzen austestete und gewisse Gratwanderungen nicht scheute. Beispielsweise gab es 1783 eine Zeit, in der alle Herderschen Kinder an den Blattern erkrankt waren und man eine Art von Quarantäne hielt. Herder, als wichtiger Amtsträger, sollte ausquartiert werden, um Ansteckung zu vermeiden, während sich Caroline um die Kinder kümmerte. Wo aber fand er Aufnahme? Im Schardtschen Hause! Zu anderen Gelegenheiten traf man sich unterwegs, um dem Weimarer Geschwätz aus dem Wege zu gehen, zum Beispiel in Blankenburg im Harz, oder sonst im Zusammenhang mit Badereisen. Als Herder nach Weimar kam, träumte er vielleicht, dieses Ländchen könnte ihm als Sprungbrett dienen für eine umfassendere Wirksamkeit in Riga, in Livland, in Rußland, wie er sie in seinem Reisejournal zum Ausdruck gebracht hatte. Seine Weimarer Unzufriedenheit rührte zum Teil auch daher, daß sich aus den alten Beziehungen nichts Neues ergab. Als Herder Goethes Ruf gefolgt war, wußte er, daß man in Weimar nicht nur auf einen Prediger hoffte, sondern auch auf einen berühmten Schriftsteller. Je mehr sich Herder in die Kirchensachen einarbeitete, desto schwieriger wurde es, seine schriftstellerischen Pläne damit zu verbinden. Je größer die Familie wurde, desto mehr drängte ihn seine Frau, durch journalistische und literarische Arbeiten das Budget aufzubessern. Je mehr er sich in dieser Hinsicht gefordert sah, desto ärgerlicher blickte er auf seine Amtspflichten – insbesondere dann, wenn sich ihm mißgünsti-

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ge Kollegen widersetzten oder der Hof seine Reformbestrebungen in Schule und Kirche blockierte. Wenn er sich hoffnungsvoll mit seinen schriftstellerischen Plänen befaßte, konnte er auch einmal ein gutes Wort über seine neue Lage finden: „Seitdem ich in Sachsen bin, mehr Menschen kenne u. von mehreren gekannt werde, geprüfter, reifer u. stärker werde, soll hoffentlich jetzt ein zweites Mannesalter meines Lebens beginnen.“ (DA 4, 43). Dies sollte man nicht zuletzt am Stil seiner Schriften merken.

AKADEMIEABHANDLUNGEN: PREISSCHRIFTEN In Bückeburg hatte Herder sein Ansehen beim Grafen einst verbessern können als Preisträger der Berliner Akademie der Wissenschaften für die Schrift über den Ursprung der Sprache. Im Juni 1775 bekam er zum zweiten Mal einen Preis dieser Akademie zugesprochen, nämlich für die Abhandlung Ursachen des gesunknen Geschmacks bei den verschiednen Völkern, da er geblühet. Diese Abhandlung erschien auch 1775 im Druck. Es handelt sich um eine der großen Fragen, die seit der Querelle des Anciens et des Modernes, also schon seit hundert Jahren, diskutiert wurde. Letzten Endes war es eine geschichtsphilosophische Frage, die insofern mit der Abhandlung Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit enge Berührungspunkte zeigt. Worum es dabei geht, erschließt sich am besten über Herders eingangs dargelegte Begriffsunterscheidung zwischen ‚Genie‘ und ‚Geschmack‘. Unter ‚Genie‘ versteht Herder Naturkräfte: intensiv- oder extensivstrebende Kräfte der Seele. Unter ‚Geschmack‘ versteht Herder: „Ordnung in dieser Menge, Proportion und also schöne Qualität jener strebenden Größen“ (FA 4, 113). Bei dieser Definition ist unmittelbar einsichtig, daß ‚Genie‘ primär ist – das Genie muß erst etwas hervorbringen, damit etwas da ist – und ‚Geschmack‘ sekundär, nämlich Harmonie der Kräfte und Hervorbringungen.

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Diese Sekundärqualität hat allerdings auch zur Folge, daß „Geschmack in Einer Kunst“ den „Geschmack in allen Künsten“ weckt (115), das heißt: Hier kommt so etwas wie eine Epochenqualität zum Tragen, die Zeitgenossenschaft unter Menschen, die unter gleichen Einflüssen stehen. Herder prüft, wie ‚Vernunft‘ in diesem Feld steht, und kommt zu dem Ergebnis, daß die alten Griechen (als vorbildliche Kultur) durch ihre Vernunft an Geschmack gewonnen haben und durch ihren Geschmack an Vernunft. Er sieht also keinen Gegensatz von Geschmack und Vernunft. Ebensowenig will er einen Gegensatz von Geschmack und Tugend oder Religion gelten lassen. Er trennt klar Ethik und Ästhetik: Geschmack diene nur dazu, eine Harmonie im Künstlerischen zu bezeichnen; Religion oder Tugend ziele dagegen auf Harmonie im Leben. Nach diesen begrifflichen Unterscheidungen gilt der Hauptteil der Abhandlung einer historischen Untersuchung. Es ist sehr charakteristisch für Herder, daß er grundsätzlich die Position vertritt: „[N]icht durch Spekulation nach solcher oder solcher Hypothese“ könne die Frage geklärt werden, sondern nur „aus der Geschichte“ (121). Die erste Untersuchung gilt den alten Griechen, bei denen nach allgemeiner Übereinkunft der Geschmack am höchsten stand. Herder erläutert den Zusammenhang der verschiedenen Künste und Fertigkeiten der Griechen. Insbesondere ist dabei die politische Komponente wichtig: Die griechische Kulturblüte war nur möglich durch politische Freiheit. Als zu Zeiten Alexanders des Großen die griechische Welt in einem Großreich beherrscht wurde, war es mit der Kulturblüte vorbei. Die zweite Untersuchung gilt den alten Römern, die nach Herders Ansicht Nachahmer der Griechen waren. „Redekunst und Geschichte“ schreibt er ihnen zu (128). Aber auch hieran zeigt sich, daß die Freiheit der Römischen Republik Voraussetzung der Blüte von Rhetorik und Historiographie war; zu Zeiten des Augustus (und später ohnehin) sank der Geschmack mit der Freiheit. Und in den

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Zeiten der Völkerwanderung, als sich „Sprachen, Sitten, Denkarten mischten“ (133), war es sowieso mit dem Geschmack vorbei. Die dritte Untersuchung bezieht sich auf die florentinische Renaissance: Sie wurde allgemein als drittes Zeitalter der Kulturblüte angesehen. Hier zeigt sich Herder sehr kritisch: Weil das Wesen der Renaissance eingestandenerweise Nachahmung war, konnte man auf Dauer auf diesem Wege nichts Eigenes erreichen. Möglich war also nur eine relative Verbesserung im Vergleich mit der vorangehenden Zeit, nicht aber eine autochthone Kulturblüte. Herder erläutert dies mit dem Begriff des Werkzeuges: Geschmack war für die Italiener nur Werkzeug, nicht Zweck. Sie schufen sich ein Instrument durch Nachahmung der Alten, aber als es vollendet war, wußten sie nicht mehr weiter, weil es ihnen wesensfremd war. Sie hatten kein wirk­ liches Bedürfnis für griechischen und römischen Geschmack, es war eher ein Spiel, ein überflüssiger Zierrat. Allerdings wurden die Italiener historisch wichtig als Mittler antiken Geschmacks für das neuere Europa. Die vierte Untersuchung gilt der Epoche Ludwigs XIV., bei der Herder (im Gegensatz zu Voltaire) die Anregung und Förderung durch den Monarchen möglichst minimiert. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Epochen der Geschmacksdebatte bindet Herder die Entwicklung nicht an Nachahmung und Förderung von oben, sondern an Natur. Genies schaffen aus Naturanlage; ohne Produkte des Genies keinen Geschmack. Geschmack ist in diesem Sinne eine Spätform von Kultur, die freilich schon bei den alten Griechen erreicht wurde. Weil es aber nur eine jeweilige Kultur geben kann, unter den jeweils vorliegenden Umständen, ist es zwecklos, nachzuahmen. Wer eine neue Kulturblüte will, muß die Voraussetzungen dafür schaffen. Damit meint Herder insbesondere: Freiheit. Deshalb hat sein Konzept von Kultur auch eine eminent politische Note in einem Zeitalter des Absolutismus und der Monarchie. 1777 erschien in der Zeitschrift Deutsches Museum ein anonymer Aufsatz unter dem Titel Von Ähnlichkeit der mittlern englischen

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und deutschen Dichtkunst nebst Verschiedenem, was daraus folget. Der Autor war Herder. Dieser Aufsatz steht in Kontinuität mit Ossian und Shakespear. Herder entwarf ein gigantisches Forschungsprogramm zur Erschließung der mittelalterlichen deutschen Dichtung nach dem vielgepriesenen Vorbild der Engländer. In England bestand – so Herder – eine Kontinuität der Sprache und Literatur, welche uns die Blüten des 16. Jahrhunderts, Spenser und Shakes­ peare, verstehen läßt; in Deutschland nichts als Diskontinuität und Mangel an Überlieferung. Es gelte, die Zeugnisse des Mittelalters zu sammeln und zu studieren – und zwar die volkstümlichen Zeugnisse der Dichtung. Der Appell zur Sammlung von Volksliedern und anderen volkstümlichen Überlieferungen gehört zum selben Programm der literarischen Erneuerung, das Herder früh schon in Anknüpfung an Lessing angeschlagen hat: gegen die Franzosen, gegen den romanischen Einfluß, gegen den Klassizismus, gegen die Stubengelehrsamkeit. Eine Zielrichtung dieses Forschungsprogrammes ist genauere Kenntnis der eigenen Literatur, der deutschen Literatur, die Herder immer im germanischen Zusammenhang sieht – auch deshalb ist der Hinweis auf die hier vorangepreschten englischen Literarhistoriker von besonderer Bedeutung. Die zweite Zielrichtung ist die gegen den französischen Klassizismus. Die dritte Zielrichtung aber tastet nach einer mündlich inspirierten Literatur, nach volkstümlicher Überlieferung, die noch nicht durch Büchergelehrsamkeit überformt ist. Es geht Herder um menschheitliche Zeugnisse, nicht bloß um schöne Literatur. Und auf dieser Ebene ruft er zur Sammlung aller volkstüm­ lichen Überlieferungen auf, auch derjenigen aller anderen Völker. „Die Karte der Menschheit ist an Völkerkunde ungemein erweitert: wie viel mehr Völker kennen wir, als Griechen und Römer! wie kennen wir sie aber?“ (FA 2, 560) Die äußerlichen Nachrichten der Reisebeschreiber dürfen nicht das letzte Wort sein; wir müssen von allen Völkern ihre eigenen Überlieferungen aufnehmen, auch wenn sie sich nicht mit den herkömmlichen, an den Griechen und Römern geschulten Vor-

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stellungen von Poesie vergleichen lassen. Gerade in „Spielen“ offenbare sich das Wesen der Völker, in „Naturgesängen“: „Sie öffnen das Herz, wenn man sie höret, und wie viele Dinge in unsrer künstlichen Welt schließen und mauern es zu!“ (562) 1777 war Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel von einer Italienreise zurückgekehrt und hatte in seiner Antikenbegeisterung beschlossen, eine Société des Antiquités de Cassel ins Leben zu rufen – nach dem Vorbild der Berliner Akademie der Wissenschaften. Die erste Preisaufgabe, die sogleich ausgeschrieben wurde, sollte einer Würdigung Winckelmanns gelten. Es gingen nur zwei Lösungen ein: eine von Herders Göttinger Freund Christian Gottlob Heyne und eine von Herder. Da Herder den Preis nicht erhielt, blieb seine Schrift ungedruckt, ja, sie war sogar lange verschollen und wurde erst 1881 wieder aufgefunden. Sie zeigt verschiedene der charakteristischen Züge Herders: unbegreiflich etwa, warum er, wenn er den Preis ernsthaft anstrebte, zuerst die Akademie vor den Kopf stoßen mußte: Schon, daß er Deutsch als Sprache seiner Einsendung wählte, war gewagt; in der Ausschreibung hatte es zwar geheißen, daß französische, deutsche, italienische oder lateinische Beiträge möglich seien, daß aber nur eine französische Version gedruckt werden könne. Das proklamierte doch klar den europäischen Anspruch der Akademie und ihre Ausrichtung an der führenden französischen Kultur. Aber Herder konnte es nicht lassen, die Akademie eingangs dafür zu tadeln, und gegen Ende an prominenter Stelle sogar noch solche Preisaufgaben von Akademien überhaupt zu schmähen und gegen echte Originalwerke herabzusetzen. Herder träumte von einem Originalwerk, „wozu ihn Gott und kein Buchhändler rief “ (FA 2, 652), kurz, er problematisierte die Schriftstellerei, den Buchmarkt, das Akademiewesen, die fürstliche Protektion – und brauchte sich so wirklich nicht zu wundern, daß die Akademie seine Lobschrift mit dem wenig schmeichelhaften Prädikat „médiocre“ versah. Ein anderes Problem bestand darin, daß Herder über Leben und Werk Winckelmanns nichts Neues, Historisches mitzuteilen

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hatte. Sein Denkmal Johann Winkelmanns war eine begeisterte Hymne auf den Genius Winckelmanns nebst einigen Urteilen über seine Schriften. Es wird deutlich, daß sich Herder Winckelmann nahefühlte wie nur wenigen Menschen, und dieses Gefühl bringt er schmelzend zum Ausdruck. Er versucht sich Winckelmanns Leben (wie früher Abbts) gewissermaßen anzuempfinden; er spiegelt sich auch im harten Ringen und im Unglück des Verstorbenen. Immer wieder wird Winckelmanns Schicksal als ein deutsches Schicksal apostrophiert; Herder und seinesgleichen, Emporkömmlinge aus kleinen Verhältnissen durch Bildung, sahen sich immer wieder in dieser Lage: „Ohne Zweifel gehört Winkelmanns Armut und Mäßigkeit, in der er sich das Ansehn eines Griechischen Weisen zu geben wußte, auch hieher, leider! der gewöhnliche Weg, wie, in Deutschland zumal, gute Leute werden müssen“ (635). Diese Aspekte der Anempfindung und des Sich-hinein-Denkens in Schicksal und Lebenslauf eines anderen sind bei weitem die dominanten in dieser Schrift. Außerdem verteidigt er Winckelmann gegen Einzelkritik an seinen Schriften. Unübersehbar ist aber trotzdem Herders eigene Kritik an einem einzigen, wichtigen Punkt von Winckelmanns Auffassung: Die Griechen hätten die Kunst erfunden. Dies kann Herder nicht zugeben. Wiederum beschwört er „die Kette der Kultur“ (659). „Die ersten Kunstwerke der Griechen waren aus Asien oder Asien nahe“ (660). Herder zeigt uns, wie er sein Prinzip des Historismus anzuwenden vermochte. Er konnte gleichzeitig die Kunst der alten Griechen für klassisch, unübertrefflich und endgültig erklären und trotzdem ihre historische Bedingtheit aufdecken. Das erste hatte ihn Winckelmann gelehrt; das zweite lehrte er selber. Der große Essay über Perspektiven einer europäischen Literaturgeschichte mit dem Titel Über die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten ist Herders Einsendung auf eine Preisaufgabe der Baierischen Akademie der Wissenschaften, mit der er 1778 den Preis erzielte. In der Aufklärungspoetik war es

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selbstverständlich gewesen, daß die Dichtkunst die guten Sitten befördere – ein Konsens, den bekanntlich Rousseau aufsprengte. Für Herders Denken in Anknüpfung an und in Überwindung Rousseaus mußte es darum gehen, das Ästhetische und das Ethische in einen neuen Zusammenhang zu bringen. Das geschieht hier. Die poetischen Teile des Alten Testamentes werden als vorbildlich dargestellt: vorbildlich als Nationaldichtkunst des jüdischen Volkes, dessen Identität bildend und tradierend. Die Dichtung der alten Griechen bedeutete zwar Entfaltung des ersten poetischen Keims, ist aber auch in dem Maße, wie sie die religiöse Dimension verloren hat, belanglos geworden. Und die Dichtung der alten Römer wurde von den Mächtigen in Dienst genommen und war insofern langfristig zu Wirkungslosigkeit verurteilt. Erst die nordischen Nationen brachten eine Erneuerung. Im Mittelalter verbanden sich antike und nordische Elemente mit arabischen und christlichen zu einem neuen Ganzen. In der Neuzeit trägt der Buchdruck zu einer Konventionalisierung der Poesie bei. Man hofft für eine Verjüngung auf Deutschland! Auch bei der Schrift Über den Einfluß der schönen in die höhern Wissenschaften handelt es sich um eine Preisaufgabe der Baierischen Akademie der Wissenschaften, für die Herder 1779 einen Preis davontrug – allerdings zu seinem Ärger nur einen halben. Herder beginnt mit dem Problematischen der Vielleserei seiner Zeit: Wenn einer die vielen Almanache und Romane verschlingt, wie sie zweimal jährlich auf den Messen erscheinen, bekommt er etwas sehr Problematisches: „Gutes und Böses durcheinander“ (FA 4, 218). „Die höchste Wissenschaft ist ohne Zweifel die Kunst zu leben“ (220) – aber gerade diese wird durch die Befassung mit den sogenannten schönen Wissenschaften oft eher gefährdet als gefördert. Das System der schönen Wissenschaften bringt Herder in ein Verhältnis zur menschlichen Entwicklung (die uns schon bekannte Lebensalteranalogie): Der junge Mensch ist sinnlich, der ältere stärker vernunftbestimmt. Für den jungen Menschen sind die schönen

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Wissenschaften adäquat, für den reifen die höheren. Es wäre nun allerdings ein Irrtum, sich vorzustellen, man könnte gleich mit den höheren einsteigen. In Herders Denkart würde das bedeuten, „in der Luft zu ackern“, also ohne Inhalte zu spekulieren. Es gibt so etwas wie eine „Natur und Ordnung der menschlichen Seele“ (222), die jeweils zu ihrer Zeit und nach ihrer Entwicklungsstufe eine adäquate Art der Beschäftigung braucht. In diesem Sinne wird die Befassung mit schönen Wissenschaften zum richtigen Bildungsmittel in jungen Jahren, ohne daß man dabei stehenbleiben dürfe. Dies erinnert an die pädagogischen Pläne des Reisejournals, in denen auch schon ein bestimmtes Verhältnis von Entwicklungsstufen der menschlichen Seele auf ein bestimmtes Lehrprogramm bezogen worden war. In der Folge zeigt Herder an den verschiedenen höheren Wissenschaften, inwiefern eine Grundlegung durch die schönen Wissenschaften nützlich sein kann: für den Theologen, für den Juristen, für den Historiker und Politiker, für den Philosophen. Doch die Frage, was ein Mann für seine Amtsgeschäfte als Pfarrer oder Politiker von der Beschäftigung mit Belletristik in der Schule hat, ist für Herder nur eine Nebenfrage. Die Hauptsache ist dagegen der ‚ganze Mensch‘, die Ausbildung der Humanität. Und dafür sind die schönen Wissenschaften nach Herders Auffassung in der Tat grundlegend. Mit dem Stichwort ‚Humanität‘ läßt sich die wesentliche Akzentsetzung des Weimarer Klassikers Herder bezeichnen. Nicht zufällig hat man darauf verwiesen, daß diese Akademieabhandlung sich nicht wesentlich von den Weimarer Schulreden unterscheidet. Herder war eben selber ein ‚ganzer Mensch‘: Der Prediger und der Lehrer und der Schriftsteller standen nicht im Widerspruch zueinander. Die Kombination der Weimarer Ämter, über die er so oft stöhnte, ermöglichte es ihm letzten Endes in Kombination mit der Wirkung des Schriftstellers über den literarischen Markt, sich zu jener ungeheuren Höhe zu erheben, von der er in seiner Jugend geträumt hatte: zum Lehrer der Menschheit, zum Prediger der Humanität zu werden.

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Auch bei der Schrift Vom Einfluß der Regierungen auf die Wissenschaften, und der Wissenschaften auf die Regierung (1780) handelt es sich um eine Preisschrift, die Herder auf Anregung der Berliner Akademie der Wissenschaften abfaßte, und erneut erhielt er dafür einen Preis! Allerdings kann man feststellen, daß er diesmal seinem Genius Zügel anlegte und sich so zu schreiben befliß, daß es die Berliner Aufklärer unter Friedrich dem Großen verstehen und verkraften konnten. Ja, an manchen Stellen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sich Herder (entgegen seinem Charakter) dazu hinreißen ließ, der Akademie nach dem Munde zu reden. So wird beispielsweise in der Schrift selbst die Wirksamkeit wissenschaftlicher Akademien gepriesen (während die Universitäten herabgesetzt werden!), von der Berliner Akademie wird als „der berühmtesten Akademie Deutschlands“ gesprochen (FA 9/2, 336) und Friedrich der Große von Preußen wird sogar in eine schmeichelhafte Reihe mit Caesar und Marc Anton gesetzt (353). Offensichtlich hatte Herder die Absicht, seine grundlegenden Vorstellungen von Kultur und Geschichte auf diese Weise unter die Leute zu bringen. Und in der Tat wurde die Abhandlung 1780 in Berlin gedruckt. Schon in Riga hatte Herder in einer öffentlichen Rede die Frage aufgeworfen: „Haben wir noch das Publicum der Alten?“ Mit anderen Worten: Er hatte die Frage nach den Bedingungen des Schreibens und Redens, der Wissenschaften und der Literatur im Zeitalter des monarchischen Staates gestellt. Hier geht es wiederum um die politischen Rahmenbedingungen für kulturelle Entfaltung. Dem Grundgedanken sind wir schon begegnet: Der Staat ist wesentlich für die Gewährleistung von Freiheit zur Entfaltung von Kultur zuständig. Immer und immer wieder preist Herder die Kulturblüte in der griechischen Polis und er weist explizit und auch ex negativo darauf hin, daß dort Freiheit die Bedingung der Möglichkeit kultureller Entfaltung war. Despotismus erstickt die Künste und Wissenschaften. In der Akademieabhandlung zu Händen des preußischen Königs tritt nun allerdings neben diesen Hauptgedanken

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der korrigierende, daß und unter welchen Umständen Zensur und Kontrolle der öffentlichen Meinung erlaubt und angeraten sei. Die Schrift war überhaupt Herders Wort an die Fürsten. Eben im Jahre 1780 gelangte Joseph II. in Wien zur Alleinregierung, und Herder zögerte nicht, eine Huldigungsode an den Kaiser zu schreiben und ihm die Berliner Akademieschrift zuzuschicken. Auch sondierte er über diplomatische Kanäle, wie es möglich sein könnte, die Akademieschrift der russischen Zarin, Katharina II., nahezubringen. Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1778) war der Titel einer Schrift, die auf eine Preisaufgabe der Berliner Akademie der Wissenschaften zurückgeht, die aber keinen Erfolg hatte und der ein eigenes Schicksal beschieden war. Die Ausschreibung erfolgte bereits 1774 und Herders erste Einsendung, noch aus Bückeburg, im selben Jahre. Die Akademie war aber mit keiner der Einsendungen zufrieden und gab den Interessenten Gelegenheit, im folgenden Jahr noch einmal nachzubessern. Herder legte nach und reichte 1775 eine zweite Version ein. Als jedoch auch diese nicht in die engere Wahl kam, mußte ihm klar geworden sein, daß er sich hier mit seinen Gedanken an die falsche Adresse gewandt hatte. Deshalb war es konsequent, daß er die Abhandlung 1778 auf eigene Hand veröffentlichte. Daß der Mißerfolg bei der Berliner Akademie programmiert war, ergab sich nicht nur aus spöttischen Bemerkungen gegen solche Preisfragen überhaupt in der Schrift selbst, sondern mehr noch aus dem grundsätzlichen Denkansatz. Die Akademie hatte nämlich vorausgesetzt, daß ‚Erkennen‘ und ‚Empfinden‘ zwei verschiedene Vermögen der Seele seien – was Herder sehr wohl wußte, aber seinem eigenen Ansatz nach zu überwinden trachtete. Im Ergebnis leugnete er also die Möglichkeit einer Trennung von Erkennen und Empfinden und führte damit die Aufgabenstellung der Akademie ad absurdum. Konnte er wirklich gehofft haben, durch seine Abhandlung die Juroren von der Ungegründetheit ihrer Begriffe zu überzeugen? Ein weiteres Hindernis für die von französischen Aufklärern dominierte Berliner Akademie muß gewesen sein, daß Herder,

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wenn er auch die zeitgenössischen mechanistischen Theoretiker kannte und diskutierte, letztlich als Theologe argumentierte. Sein Hintergrund ist eine Theologie der Schöpfung, für die ‚Licht‘ und ‚Leben‘ entscheidende Begriffe sind. Die erste Abhandlung endet geradezu johanneisch, und daß Herder dies selbst bemerkte und sich gewissermaßen zur Räson rief, expliziert dies nur. Da er mit einem solchen Text die Berliner Philosophen bestimmt nicht erreichen konnte, wandte er sich konsequent an ein allgemeines Publikum und ließ die Schrift 1778 in Riga drucken. Herder leistete damit wiederum einen Beitrag zur Anthro­ pologie, und zwar zur Theorie des ‚ganzen Menschen‘. ‚Erkennen‘ und ‚Empfinden‘ können keinesfalls getrennt werden; es gibt kein ‚reines Denken‘, es gibt nur die hin und her wogenden Kräfte, welche sich in der Menschenseele ständig gegenseitig beeinflussen. Sich ‚Empfinden‘ und ‚Denken‘ als Gegensätze vorzustellen, ist falsch, es ist aber auch schon kategorial zweifelhaft, diese Begriffe überhaupt als getrennte zu verwenden, wo sie doch höchstens zwei Seiten derselben Münze sind. Das Problem hängt mit der Trennung von Geist und Materie zusammen, die Herder nie zugeben würde. Er findet eine Fülle von Beispielen dafür, wie sich beide gegenseitig durchdringen und beeinflussen. Die Leugnung dieser Unterscheidungen läßt sich auch übersetzen als Einheit der Seelenkräfte, als Aufhebung der Möglichkeit einer Trennung von ‚oberen‘ und ‚unteren‘ Seelenkräften. Dieses holistische, ganzheitliche Denken formt Herder nach verschiedenen Seiten hin aus. Er will beweisen, daß es kein ‚reines Denken‘ gibt; an anderer Stelle sagt er dann auch, daß es keine ‚reines Empfinden‘ geben kann. Den Rationalismus bekämpft er durch Materialismus und den Materialismus durch Rationalismus. Anders gesagt: Jede einseitige Interpretation des Menschen, die ihn auf eine seiner Komponenten festlegt, hält er für falsch. Wie aber könnte man unter diesen Umständen etwas über Anthropologie herausfinden? Herder nennt drei Quellen unseres Wissens: Lebensbeschreibungen, Bemerkungen der Ärzte und

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Freunde, Weissagungen der Dichter (FA 4, 340). Unter den Lebensbeschreibungen sind es vor allem die Autobiographien, die ihm hier als Quelle menschheitlichen Wissens vorschweben (er nennt als Beispiele Augustinus, Petrarca, Montaigne, Cardano und Adam Bernd [342]). Bemerkungen der Ärzte und Freunde: Außer der Selbstbeobachtung und Selbstdeutung hilft also auch die Außensicht, die Analyse durch Kundige und nahe Menschen. Und schließlich enthalten die Werke der Dichter (Herder denkt dabei in erster Linie an den Menschenkenner Shakespeare) einen Schatz von psycholo­ gischen Bemerkungen über den Menschen. Einzelne Abschnitte gelten den Sinnen; die Verhältnisse von Auge und Ohr sowie des ‚Gefühls‘ hat Herder aber in anderen Schriften genauer ausgeführt. Ein Abschnitt gilt auch dem ‚Erkennen‘ und dem ‚Wollen‘, der aber im wesentlichen nur darauf hinausläuft zu zeigen, daß es keines ohne das andere gibt, daß man hier nicht wirklich trennen kann. Herders Einsichten gipfeln in dem Satz: „[W]as ich bin, bin ich geworden“ (359). Das heißt: Wenn man erklären kann, welche Umstände zu meiner Bildung beigetragen haben, läßt sich genetisch erläutern, wie ich so werden mußte, wie ich nun bin. Einen Menschen a priori konstruieren zu wollen, wäre gänzlich unmöglich. Immer sind es bestimmte spezifische Umstände, Gelegenheitsursachen, welche die Förderung oder Hemmung von Anlagen bewirken. In diesem Sinne gibt es ein ‚reines Wollen‘ so wenig wie ein ‚reines Denken‘. Herder rekonstruiert zu jedem Phänomen seine Genese und so auch zu jedem Menschen seine Geschichte. So kommt er zu einer scharfen Betonung des Individuellen und zu einer entsprechend scharfen Ablehnung des Allgemeinen, der Abstraktionen. „Der tief­ ste Grund unsres Daseins ist individuell“ (365), lautet eine wichtige Formulierung zu Beginn des zweiten Versuchs. Diese Grundeinsicht wird dann fortgeführt für größere Einheiten: „Wie einzelne Menschen, so sind noch mehr Familien und Völker von einander verschieden“ (368). Das bedeutet schließlich, daß auch soziale Einheiten

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‚individuell‘ sind, was sich durch die Erkenntnis der relativen Ähnlichkeiten innerhalb von sozialen Gruppen (Familien und Völkern) darstellen läßt. Hier können wir Herder bei seinem großen Vermittlungswerk beobachten: Sein ganzes Leben und seine ganze Leistung läßt sich verstehen als Versuch, die christliche Religion einem weltlich werdenden Zeitalter zu vermitteln, und zwar nicht als Prediger, sondern als Übersetzer. Er läßt sich ein auf die rationalistischen und schwärmerischen Sprechweisen seiner Zeitgenossen, um ihnen seine Botschaft zu dolmetschen, sein Evangelium vom Menschen. Diesen Impuls verwirklichte er in immer neuen Anläufen und unter immer neuen Gestalten. Die Schrift Abhandlung über den Ursprung der Sprache hatte erfolgreich vorgeführt, daß es möglich war, den Berliner Akademikern solches zu vermitteln. Die Schrift Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele demonstrierte sein Scheitern: Diesmal konnte er keine Sprache finden, um den Berliner Akademikern sein anthropologisches Grundanliegen zu vermitteln. Der letzte Abschnitt bezieht sich offen auf die christliche Religion: „Es ist ein inneres Kennzeichen von der Wahrheit der Religion, daß sie ganz und gar menschlich ist, daß sie weder empfindelt noch grübelt, sondern denkt und handelt, zu denken und zu handeln Kraft und Vorrat leihet. Ihre Erkenntnis ist lebendig, die Summe aller Erkenntnis und Empfindungen, ewiges Leben. Wenns eine allgemeine Menschenvernunft und Empfindung gibt, ist in ihr, und eben das ist ihre verkannteste Seite“ (393). Diese Sätze enthalten ein Potential, das Herder in anderen Schriften nach den verschiedensten Seiten hin entfaltete. Zum Beispiel bergen sie die Vorstellung, daß sich Religion am Menschen messen lassen müsse, daß sie nur als menschliche wahrhaft Religion sei. Sie verknüpfen außerdem ‚Religion‘ ganz eng mit ‚Leben‘, womit eine weitere wichtige Erkenntnis Herders ausgesprochen ist. Kaum ahnen kann man, daß hier angedeutet ist, daß ‚Leben‘ nicht nur als individuelles Leben eines Menschen zwischen Geburt und Tod zu

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verstehen ist, sondern daß sich Herder über seine besondere Vorstellung des Verhältnisses von Einzelmensch und Gattungswesen auch Vorstellungen eines übergreifenden ‚Lebens‘ machen konnte – bis hin zur Seelenwanderung.

PLASTIK (1778) Herder hat nicht nur im allgemeinen über Kultur nachgedacht, sondern auch über alle speziellen Ebenen, sei es nun Sprache oder Literatur, Religion oder Geschichte. Erstaunlicherweise war ihm – wir konnten dies schon sehen – aber auch die Kunst nicht fremd – ein Sektor, für den die damaligen deutschen Gelehrten im Durchschnitt noch wenig Verständnis hatten. Vielmehr war Kunst eine Sache der Connaisseurs, die man eher an Höfen vermuten konnte als in Studierstuben. Und doch hatten Persönlichkeiten der vorangehenden Generation, von allem die von Herder verehrten Lessing und Winckelmann, auch im Bereich des Nachdenkens über Kunst Maßstäbe gesetzt. Herder bemühte sich von jung an, hier mitzudenken und weiterzudenken. Er schrieb schon über Statuen, als er noch kaum eine gesehen hatte. Und seine große Reise sollte dazu dienen, ihm hier die nötige Erfahrung zu ermöglichen. Zwar war er nicht nach Italien gekommen, aber er hatte in Paris und Versailles, in Hannover und Kassel immerhin eine Fülle bedeutender Skulpturen ertasten können. Nach grundlegenden Reflexionen zur Plastik im Reisejournal war es dann in den Monaten in Paris, daß er sich gedrängt fühlte, seine Gedanken über Bildhauerei aufzuschreiben. Diese frühen Teile der Plastik blieben lange liegen, weil er nicht nach Italien kam. In den ersten Jahren in Weimar jedoch formte er sie aus und brachte sie zur Reife. Im Jahre 1778 erschien die Plastik als selbständiges Buch – ohne Nennung des Autors (der ja ein Kirchenmann war). Der Kontext der Entstehung dieser Schrift, deren kunstwissenschaftliche Bedeutung im Grunde genommen erst im 20. Jahr-

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hundert erkannt werden konnte, nachdem mit Wilhelm Worringer und Aloys Riegl in der nun professionalisierten Kunstgeschichte solche Grundlagenfragen der Kunst erneut auf die Tagesordnung gekommen waren, ist äußerst vielschichtig. Vielleicht muß man zunächst bei Alexander Gottlieb Baumgarten einsetzen, jenem Schüler Christian Wolffs, dessen historische Leistung in einer ersten Ästhetik (1750/51) bestand, mit der er dieser Wissenschaft einen Namen und ein Programm gab. Mit Baumgarten hatte sich der junge Herder schon ausführlich auseinandergesetzt, an ihm arbeitete er sich ab. Baumgartens von Wolff übernommene Grundidee war es, daß der Mensch verschiedene Arten von Sinneskräften besitze. Während aber in der älteren, wolffianischen Aufklärung Verstand und Vernunft im Vordergrund standen, untersuchte Baumgarten komplementär, wozu denn der Mensch wohl die unteren, die sinnlichen Erkenntnisvermögen habe. Seine Lösung: Was die Logik für den Verstand, bedeute die Ästhetik für die unteren Seelenkräfte. Der Verstand sorge für deutliche Erkenntnis, die Sinnlichkeit zwar nur für undeutliche, aber in Fülle. Die Hierarchie von oberen und unteren Seelenkräften blieb bei Baumgarten erhalten, aber es bedeutete eben doch eine Aufwertung, wenn er sich nun eigens mit denjenigen menschlichen Vermögen befaßte, welche in der Tradition geringgeschätzt worden waren. Baumgarten betrieb also so etwas wie eine ‚Emanzipation der unteren Seelenkräfte‘. Und Herder versuchte, diesen Theoretiker vom Kopf auf die Füße zu stellen, das heißt seine theoretischen Ansätze einer Ästhetik in der praktischen Begegnung mit der Kunst fortzuführen; dies alles (wir erinnern uns an Herders Postulat von 1765!) in anthropologischer Absicht. Wenn Herder über Plastik schrieb, ging es ihm nicht eigentlich um die Kunst, sondern um denjenigen Sinn des Menschen, der dafür zuständig war, nämlich das ‚Gefühl‘, den Tastsinn. Es sollte nicht mehr alles dem Distanzsinn des Auges untergeordnet werden, vielmehr sollten auch Ohr und Gefühl zu ihrem Recht kommen. In diesem Programm spielte die Plastik als Kunst des Bildens eine hervorragende Rolle.

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Herder setzt dort an, wo auch Lessing und Winckelmann angesetzt hatten: bei den Statuen der Griechen. Nicht nur, daß sie in der künstlerischen Tradition als klassisch galten; für Herder bildeten sie noch aus einem anderen Grund die Norm: Die Griechen hatten ein Optimum des Menschlichen verwirklicht. Um zu wissen, was der Mensch sei, mußte man sich an die Griechen wenden. Sie standen der Natur am nächsten und damit auch dem überzeitlich Gültigen. Die Griechen hatten im Grunde die Formenwelt des bildhauerisch Möglichen schon erschöpft; spätere Versuche führten zu Unformen, zu Bizarrerien, zum Abgeschmackten. Griechische Bildhauerei (der klassischen Zeit) hatte die Muster der Vollkommenheit geschaffen. Um die Möglichkeiten und Grenzen des Tastsinnes zu erkunden, bedurfte man einer Untersuchung der griechischen Bildnisse. Dabei beschäftigt er sich eingangs mit dem Problem der Abgrenzung zwischen den Künsten, das Lessing im Laokoon aufgeworfen hatte. Wodurch unterscheidet sich die Bildhauerei von der Malerei? Für Herder ist das klar: „daß das Gesicht uns nur Gestalten, das Gefühl allein, Körper zeuge: daß Alles, was Form ist, nur durchs tastende Gefühl, durchs Gesicht nur Fläche, und zwar nicht körperliche, sondern nur sichtliche Lichtfläche erkannt werde“ (FA 4, 247). Malerei ist zweidimensional, Plastik dreidimensional. Malerei ist Kunst der Fläche, Plastik Kunst der Form. Malerei kennt nur einen Gesichtspunkt, Plastik viele Gesichtspunkte. Streng genommen wird Plastisches nicht durch das Auge erfaßt (obwohl man immerhin eine reduzierte Erkenntnis auch durch das Auge erreichen kann, wenn man nämlich seinen Standpunkt verändert und also viele Gesichtspunkte gewinnt); eigentlich wird Plastisches nur durch den Tastsinn erfaßt. Die Schrift über die Plastik enthält wesentliche Aussagen zur Ästhesiologie: „Das Gesicht ist der künstlichste, philosophischste Sinn“ (252). „Einen Sinn haben wir, der Teile außer sich neben einander, einen andern, der sie nach einander, einen dritten, der sie in einander erfasset. Gesicht, Gehör und Gefühl. – Teile neben einander geben eine Fläche: Teile nach einander am reinsten und einfachsten

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sind Töne. Teile auf einmal in- neben- bei einander, Körper oder Formen. Es gibt also in uns einen Sinn für Flächen, Töne, Formen, und wenns dabei aufs Schöne ankommt, drei Sinne für drei Gattungen der Schönheit, die unterschieden sein müssen, wie Fläche, Ton, Körper. Und wenns Künste gibt, die jede in Einer dieser Gattungen arbeitet, so kennen wir auch ihr Gebiet von außen und innen, Fläche, Ton, Körper, wie Gesicht, Gehör, Gefühl. Dies sind sodann Grenzen, die ihnen die Natur anwies und keine Verabredung; die also auch keine Verabredung ändern kann, oder die Natur rächet. Eine Tonkunst, die malen, und eine Malerei die tönen, und eine Bildnerei, die färben, und eine Schilderei die in Stein hauen will, sind lauter Abarten, ohne oder mit falscher Würkung. Und alle Drei verhalten sich zu einander, als Fläche, Ton, Körper, oder wie R a u m, Z e i t und K r a f t, die drei größten Medien der allweiten Schöpfung, mit ­denen sie alles fasset, alles umschränket“ (257). In der Folge kommt Herder zu verschiedenen Spezialproblemen der künstlerischen Darstellung, beispielsweise der der nassen Gewänder, zur Frage der Bemalung von Statuen, zur Wiedergabe des Häßlichen in den verschiedenen Künsten. Wichtig ist dabei die Grundeinsicht, die er in folgende These gefaßt hat: „Die Formen der Skulptur sind so einförmig und ewig, als die einfache reine Menschennatur; die Gestalten der Malerei, die eine Tafel der Zeit sind, wechseln ab mit Geschichte, Menschenart und Zeiten“ (276). Eigentlich geschichtlich ist die Malerei, ungeschichtlich die Skulptur. Das bedeutet zugleich, daß in der Skulptur das Höchste schon geleistet ist (nämlich durch die Griechen), während man in der Malerei in Zukunft noch Fortschritte erwarten kann. Im dritten Abschnitt seines Werkes geht Herder ausführlich auf die menschliche Gestalt ein. Er sieht Gott gewissermaßen als Bildhauer an, der hier sein Meisterstück vollbracht hat, und beschreibt die Differenz und Harmonie aller Teile des menschlichen Körpers. Wir sehen auch hier wiederum (wie in der Geschichts­ philosophie) das wichtige Element der Teleologie: Ein großer Teil

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von Herders gedanklicher Arbeit in allen Wissenschaften läßt sich so verstehen, daß er die Gedanken des Schöpfers nachdenken wollte und seine eigentliche Aufgabe darin sah, seinen Zeitgenossen den Blick zu öffnen für die innere Sinnhaftigkeit alles Geschaffenen. Das ist zugleich das Motiv der Anthropologie. Die ganze Kunst wird auf den Menschen zentriert. Herder orientiert sich an jenem frühen Satz der griechischen Philosophie, welcher lautet: homo hominis mensura, der Mensch ist das Maß aller Dinge, oder in der aufklärerischen Version von Alexander Pope: „The proper study of Mankind is Man.“

VOLKSLIEDER (1778/79) Im ‚Volk‘ sah Herder eine ‚Stimme Gottes‘ (vox populi, vox Dei). Die Bemühung um den ‚Ursprung‘ sollte der Rekonstruktion des Gött­ lichen dienen, wie es im Menschlichen in Erscheinung tritt. In diesem Punkt war Herder für Deutschland wieder der große Anreger, der originelle Erfinder. Das Wort ‚Volkslieder‘ hat er in der deutschen Sprache heimisch gemacht. International gesehen, gehört er in die europäische Strömung der Vorromantik und hatte auch auf diesem Feld Anregungen der Engländer und Schotten aufgenommen. Was man bisher noch wenig beachtet hat: Sein großes Vorbild Lessing hatte in den Literaturbriefen im Zusammenhang der Gleimschen Grenadierlieder die Volksliedproblematik aufgeworfen und die Kleistschen Nachdichtungen lappländischer Lieder ins Gespräch gebracht. Hier schließt sich Herder an. In der Tradition der Literaturgeschichte liest man meist, er habe sich von Rudolf Erich Raspe anregen lassen, dem Kasseler Archivar, der 1765 und 1766 die Reliques of Ancient English Poetry von Thomas Percy rezensiert hatte. Herder kannte jedenfalls die schottischen Balladensammlungen, die seit dem frühen 18. Jahrhundert erschienen waren, er kannte Ossian und Shakespeares Stücke, die nicht wenige ältere volkstüm-

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liche Lieder enthielten, und er hatte nun durch Percys Publikation richtig Feuer gefangen. Goethe bezeugt das in Dichtung und Wahrheit. Die Straßburger Begegnung hatte 1770 stattgefunden. In den darauffolgenden Jahren hatte Herder selbst gesammelt und seine Freunde um Beiträge gebeten. In Ossian und die Lieder alter Völker hatte er 1772 eine Programmschrift veröffentlicht, die freilich auch auf ­Widerstand und heftige Kritik gestoßen war, insbesondere unter den Berliner Aufklärern. Friedrich Nicolai hatte ein parodistisches Werk publiziert mit dem Titel Ein kleiner feiner Almanach, in dem er ­solche Lieder im Volkston verspottete. 1773 besaß Herder ein fertiges Manuskript, das er 1775 unter dem Titel Alte Volkslieder wirklich in Druck gab, jedoch aufgrund der Berliner Kritik an seinem Ossian-Aufsatz zurückzog. Aber ­Goethe, Merck und die anderen Freunde drängten ihn, die Volkslieder trotzdem drucken zu lassen. Und 1778/79 ließ Herder tatsächlich in zwei Bänden die überarbeiteten Volkslieder mit theoretischen Vorreden erscheinen. – Nur am Rande sei erwähnt, daß Herder zeitlebens weiter Volkslieder sammelte und die frühere Edition ausbaute und perfektionierte. Nach seinem Tod wurde von seiner Witwe und Johannes von Müller eine erweiterte und neugeordnete Sammlung herausgegeben unter dem berühmten Titel: Stimmen der Völker in Liedern (1807). Diese traf dann bereits in die Zeit der nationalen Erhebung; sie erschien gleichzeitig mit Des Knaben Wunderhorn von Achim von Arnim und Clemens Brentano (1806–1808). Was verstand Herder eigentlich unter ‚Volk‘? Er verwendet einen doppelten Begriff: ‚Volk‘ bedeutete für ihn einerseits etwas Soziales, nämlich das ‚einfache Volk‘, der ‚gemeine Mann‘, das heißt also die Ungelehrten, nicht durch die Schriftsprache und gedruckte Literatur verdorbenen Leute, vor allem die Kinder, die Frauen und die Landleute. In diesem Sinne gab es ‚das Volk‘ nur im Singular. Auf der anderen Seite bedeutete ‚Volk‘ für ihn einen jeweiligen ethnischen Zusammenhang der Abstammung; in dieser Bedeutung konnte man dann zu Volk den Plural ‚Völker‘ bilden. Im späten Titel

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Stimmen der Völker in Liedern ist dieser ethnische Zusammenhang durch den Plural kenntlich: Nun stehen Lieder der Deutschen neben Liedern der Lappen, der Schotten usw. Im frühen Titel Volkslieder scheint die erste Bedeutung zu überwiegen: ursprüngliche Lieder einfacher Leute aus allgemeinmenschlichen Situationen wie Freude, Trauer usw. Herders Volkslieder intendieren diese doppelte Richtung: einerseits anthropologische Erkenntnis aus möglichst unverstellt und unverbildet ausgedrückten poetischen Äußerungen, andererseits Identitätsbildung des eigenen Volkes (der eigenen Nation) durch Rückbezug auf ein erst noch zu sammelndes Überlieferungsgut aus früheren Epochen. Dabei konnte er auf die damals als vorbildlich geltenden Engländer verweisen: Sie hatten schon solche Sammlungen ihres eigenen Volksgutes aus vergangenen Zeiten aufzuweisen; an ihnen konnte man sich orientieren. Sollten wirklich die Deutschen in der Mitte Europas, die vielfach mit anderen Nationen in Kontakt gekommen und von anderen Kulturen überformt worden waren, kein entsprechendes Volksgut aufzuweisen haben? Seine Publikation der Volkslieder betonte diesen Charakter des Anstoßes zum Suchen und Sammeln. Für nachromantische Leser provozierend ist nun Herders Zusammenstellung von vielfältigem Überlieferungsgut verschiedenster Art ohne jede historische Kritik, ohne einheitlichen Begriff, ohne dokumentarische Absicht. Herder wußte in diesem Sinne noch gar nicht, was ein ‚Volkslied‘ ist, obwohl er diesen Begriff einführte. Für ihn war ein ‚Volkslied‘ ein ‚Lied im Volkston‘. Er hatte sich anhand von Ossian eine bestimmte Vorstellung von Liedern einer älteren Phase der Menschheitsgeschichte gebildet, die nach heutigen Begriffen unhistorisch ist. Freilich hatte Herder in dieser Sache kaum eine Möglichkeit zu historischer Erkenntnis, die hinter die damalige englisch-schottische Forschung zurückging. Gerade diese war aber vollkommen verwirrt durch ‚Pastiches‘. Dieser literaturtheoretische Begriff muß hier eingeführt werden: eine Art zu dichten, die sich an einem bestimmten ‚Ton‘ orien-

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tiert, einer ‚Manier‘, die also gerade nicht original, sondern nachempfunden ist. James Macpherson hatte (gegen den Widerspruch seiner kritischen Zeitgenossen) behauptet, er habe die Lieder eines frühen altirischen Barden Ossian in gälischer Sprache aufgefunden und diese ins Englische übersetzt. Herder war von der Wahrheit dieser Behauptung überzeugt. Er fand auch keine Möglichkeit der Kritik, da Macpherson sich standhaft weigerte, die angeblich aufgefundenen Fragmente herauszurücken. Macphersons Ossian war aber in Wirklichkeit ‚Pastiche‘, das heißt eigene Dichtung im sentimentalistischen Tone der Mitte des 18. Jahrhunderts, wenn auch angeregt durch Reste alter gälischer Dichtung. Herder erkannte nicht die darin liegende Verzeichnung: Die alten Schotten, die Macpherson zum Sprechen und Singen brachte, waren weich und melancholisch. Deshalb konnte Herder die überlieferten skandinavischen Gesänge der ‚Skalden‘ (das heißt Barden) gegen Ossian absetzen als rauher, kriegerischer. In gewissem Maße ‚Pastiche‘ waren aber auch die altenglischen Balladen, die Percy veröffentlicht hatte: Im Stile der Zeit hatte er nämlich mittelalterliche und frühneuzeitliche Dichtung geglättet, ergänzt, verändert. Das eigentlich ‚Alte‘ (‚Ancient English Poetry‘) konnte Herder also bei Percy sowenig finden wie bei Macpherson. Herders Sammlung umfaßte englische und schottische, spanische und kroatische, litauische und lappländische Lieder aus den verschiedensten Zeitaltern. Er hatte Lieder aus Reiseberichten gesammelt, die ihm wichtig waren: Die Reisebeschreibungen selbst sah er als ‚äußere Geschichte‘ der fremden Nationen, die in ihnen mitgeteilten Lieder und Sprüche aber als deren ‚innere Geschichte‘. Daneben zog er die Wörterbücher und die Schriften der Grammatiker verschiedener Sprachen heran. Sodann durchkämmte er systematisch die barocken und humanistischen Gedichtsammlungen. Außerdem hatte Johann Jacob Bodmer damals schon Proben mittelhochdeutscher Dichtung aus der manessischen Liedersammlung herausgegeben. Daneben standen Strophen aus Homer sowie Ossian und Percy-Balladen. Auch die in Shakespeares Stücken enthaltenen

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Lieder waren ihm wichtig. Aber auch Zeitgenossen wie Goethe, Matthias Claudius und Gottfried August Bürger fanden Aufnahme. Man sieht, daß dieser Begriff des ‚Volksliedes‘ mit dem der Romantik kaum zu vergleichen ist. Für Arnim und Brentano und für die Brüder Grimm war das entscheidende Kennzeichen des Volksliedes seine Anonymität: Man stellte sich vor, daß es gewissermaßen aus der ‚Seele des Volkes‘ entstanden war und genau aus diesem Grund nicht Kennzeichen eines individuellen Urhebers tragen konnte. Bei Herders ‚Volksliedern‘ bestand diese regulative Idee noch nicht; Herder zögerte deshalb auch nicht, bei den Liedern, deren Verfasser ihm bekannt waren, deren Namen hinzuzusetzen. Herders Kriterium war anders gelagert: Es war der ‚Ton‘ eines Liedes, also die gewisse Einfachheit, bei der sich das Echte und Nachgemachte kaum trennen ließen. Zum ‚Volkslied‘ gehörte für ihn das menschlich-nahe Thema (also Ausschaltung von Hinweisen auf späte Kultur, auch von Reflexionspoesie) und eine Sangesweise, die nicht von den Regeln der klassischen Dichtkunst bestimmt war, von deren Versmaßen und Silbenzahlen, von deren Reimschemata und poetischen Formen. Die Wirkung der zweibändigen Sammlung von 1778/79 war zunächst nicht sehr groß. Die Wirkung der Volksliederkonzeption Herders insgesamt, wie er sie in seinem Ossian-Aufsatz und in der Schrift Von Ähnlichkeit der ältern englischen und deutschen Dichtkunst ausgesprochen hatte, war dagegen von historischer Vehemenz. Slawische, serbische, neugriechische und litauische Volksliedersammlungen wurden im frühen 19. Jahrhundert ediert, meist Goethe gewidmet und von diesem freudig angezeigt. Goethe rückte nach Herders Tod in diese Stellung eines Repräsentanten der Weltliteraturkonzeption. In den Befreiungskriegen wurde das gemeinsame Singen zu einer weitgreifenden Bewegung; im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden überall in Deutschland Gesangvereine. Aber auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit volkstümlichem Überlieferungsgut ging von Herder aus. Ihm folgten zum Beispiel Wilhelm Grimm mit seinen Altdänischen Heldenliedern (1811) und

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Ludwig Uhland mit seiner wichtigen Sammlung Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder (1844/45). Insgesamt läßt sich sagen, daß im nationalen und nationalistischen 19. Jahrhundert nicht Herders ‚Volks‘-Konzeption der anthropologischen Grundsituationen herrschend wurde, sondern seine ‚Völker‘-Konzeption der jeweiligen ethnischen Zusammenhänge.

LIEDER DER LIEBE (1778) Herder war ein Theologe, der wie wenige in der ganzen Kirchengeschichte ein Sensorium für Poesie hatte. Wohl waren ihm manche anglikanischen Theologen und Philologen wie Robert Lowth in diesem Feld schon vorangegangen. Trotzdem ist Herders Auffassung von Teilen der Heiligen Schrift als Poesie, als Ausdruck genuin menschlichen Sprechens einer frühen Phase, durchaus originell. Wir erinnern uns an Hamanns Basissatz, Poesie sei die „Muttersprache des menschlichen Geschlechts“, mit dem Herder schon früh konfrontiert worden war. Hamann war denn auch der begeisterte Empfänger einer Schrift, die Herder 1778 als Gelegenheitsschrift drucken ließ unter dem Titel Lieder der Liebe. Dabei handelt es sich um eine Übersetzung des Hohen Liedes aus dem Alten Testament, die eine grundlegende Neuinterpretation beinhaltete. Wir können uns mit den Einzelheiten der Geschichte der theologischen Deutung an dieser Stelle nicht beschäftigen. Deshalb nur soviel: Die entsprechenden lyrischen Partien des Alten Testamentes, die als Liebeslieder stark von ihrer Umgebung abstechen, waren nichtsdestoweniger im Kanon der Weltreligionen erhalten geblieben, weil man sie zumeist allegorisch deutete. Sowohl in der christlichen als auch in der jüdischen Überlieferung konnte man sich solche erotischen Verse nur so zurechtlegen, daß in ihnen etwas anderes gesagt sein müsse als das wortwörtlich Ausgedrückte. Wenn man sie im Literalsinn interpretierte, bestand immer die Gefahr, sie

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für unecht zu erklären und aus der Bibel auszuscheiden. Diesen Weg ging damals (genau im selben Jahr 1778!) der Göttinger Orientalist Johann David Michaelis: Er nahm Anstoß an diesen erotischen Liedern, weil er sie wörtlich verstand, und entfernte sie deshalb aus seiner Bibelübersetzung! Herder hatte also allen Grund, mit seiner Auffassung des Hohen Liedes hervorzutreten. Seine Lösung: Er deutete das Lied der Lieder (Canticus canticorum) im Kontext seiner Volkspoesiekonzeption als Sammlung echter Liebeslieder der alten Hebräer, und gerade als solche waren sie für ihn wertvoll als anthropologische Zeugnisse einer frühen Stufe der Menschheit. Er las sie in gleicher Weise wie Homer, Ossian oder andere Lieder früher Kulturen. Herders Übersetzung wird von Experten hoch gepriesen. Er war der Originalsprache mächtig und hatte philologisch exakt die Varianten gesammelt. Er hatte seit Jahren Interlinearübertragungsversuche gemacht. Er hatte insbesondere Luthers Arbeit konsultiert, aber auch die Übersetzungen ins Englische und andere. Er orientierte sich an einem eigenen Ideal, das er „Mentalübersetzung“ nannte (FA 3, 26): Er entscheidet sich für den vertretbarsten Ausdruck in der Übersetzung, gibt aber durch Prosatexte, die er hinzufügt, allerlei Erläuterungen über Varianten, historische Umstände, Alternativen. So bietet er schließlich beides zusammen: die bestmögliche Übersetzung und den reichstmöglichen Kommentar. Übrigens kann man feststellen, daß der Wortlaut der Hohenlied-Übersetzung Herders sehr nahe an der heutigen Einheitsüber­ setzung liegt.

BRIEFE, DAS STUDIUM DER THEOLOGIE BETREFFEND (1780/81) Herders Briefe, das Studium der Theologie betreffend, welche 1780 und 1781 in zwei Bänden erschienen, setzten sich zum Ziel, in analoger

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Weise herkömmlichen Glauben und moderne Bibelkritik zu verein­ baren, und zwar immer mit Blick auf einen vorgestellten Adressaten: einen jungen Studenten der Theologie, der grundlegende Orientierung braucht über das, was wichtig ist und was er vernachlässigen kann. Im Herbst 1780 hatte sich in Johann Georg Müller aus Schaffhausen tatsächlich ein solcher bei ihm in Weimar eingefunden. Ihn hatte er dann im zweiten Band auch konkret vor Augen. Dieser Müller sollte einer der ersten und treuesten Jünger Herders werden. Er hielt sich in späteren Jahren längere Zeit in Weimar auf und hatte engen Umgang mit der Familie Herder. Nach Herders Tod gab er die Werke des Meisters heraus, ebenso die Erinnerungen Carolines nach deren Tod. Herders Briefe, das Studium der Theologie betreffend reflektieren seine beruflichen Erfahrungen in Weimar als Superintendent in den ersten Jahren. In einem Brief an Hamann schildert er die Problemlage seines neuen Buches mit folgenden Sätzen: „Es ist für junge Leute, Kandidaten pp geschrieben, die hier u. an vielen Orten schrecklich in der Wüste sind […]. Die jungen Leute, die von Academien kommen, lachen über die Art, in der sie von den meisten im Consistorio examiniert werden u. ergeben sich, mit dem Fonds von Leichtfertigkeit, den sie mitgebracht haben, kriechender Stupidität u. Faulheit – so daß mir fast keine verkehrtere Art vorkommt, als die unsrer jungen Candidaten“ (DA 4, 129). Man spürt förmlich, wie hier Lebenswelten aufeinanderprallen: auf der einen Seite Studenten, die beispielsweise in Jena bei Eichhorn Altes Testament studiert ­haben und mit allen kritischen Wassern gewaschen sind, auf der anderen Seite konservative ältere Männer im Konsistorium in Weimar, welche diese nach dem orthodoxen Lehrbegriff der lutherischen Kirche prüfen, um ihnen den Weg ins Pfarramt entweder zu versperren oder freizugeben. Der Weimarer Superintendent Herder kennt beide Positionen und macht sich daran, zwischen Alt und Neu, zwischen Glauben und Kritik zu vermitteln. Dies geschieht in einem umfangreichen Werk, das den Stoff in die im 18. Jahrhundert so beliebte Form von Briefen einkleidet. Dies

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ermöglicht ihm auch, die Texte abzusetzen gegen die Lehrbücher der Universitäten. Jeder, der sie in die Hand bekommt, soll sich persönlich angesprochen fühlen von einem väterlichen Freund, der Erfahrung und Kenntnisse zu vermitteln hat, sich aber auch in die Zweifel und Probleme eines jungen Theologiestudenten hineinzusetzen vermag. Außerdem sind die Briefe zwanglos: Weder muß er insgesamt eine systematische Ordnung einhalten (was zwangsläufig die ins Auge gefaßten Studenten abgeschreckt hätte, weil es wie eine ihrer Dogmatiken ausgesehen hätte), noch braucht er sich um die Reinheit einer Gattung und Form zu kümmern. Denn bei einem Brief ergibt es sich natürlich, daß er auch ‚Beilagen‘ enthalten kann. Und solche liefert Herder reichlich: Gedichte, Sentenzen, Parabeln, eigene Übersetzungen von ausgewählten Psalmen und anderes mehr. Damit will Herder interessant sein und anregen; Wulf Koepke hat Herders Wirkungsweise in solchen textlichen Collagen mit folgender Formel beschrieben: „Aufhebung und Auflösung der systembildenden Wissenschaft in lebensverändernde Anschauung“ (FA 9/1, 979). Herders Briefe, das Studium der Theologie betreffend sind in ihren ersten Teilen streng auf die Bibel bezogen, zunächst auf das Alte, dann auf das Neue Testament. Herder hält sich im Prinzip an Luthers Auffassung des Glaubens mit seinem konstitutiven Schriftbezug. Er will einen jungen Theologen (und jeden gebildeten Leser) zunächst einmal an einen Umgang mit der Heiligen Schrift heranführen, indem er ihm Winke gibt zu ihrem Gebrauch und Verständnis. Grundlegend ist dabei seine Interpretation der Bibel als eines ‚historischen Dokuments‘. Für Herder ist die Schöpfungsgeschichte, wie sie in den fünf Büchern Mose berichtet wird, dasjenige Werk, welches am nächsten an den Ursprung der Menschheit heranreicht, also Dokument der ältesten menschlichen Geschichte. Und die synoptischen Evangelien des Neuen Testamentes (dem Johannes-Evangelium kommt eine Sonderstellung zu!) sind historische Berichte von Zeitzeugen über das Auftreten des Menschen Jesus Christus, über seine Lehre und seine Wirkung. Herder legt großen Wert auf eine möglichst schlichte Lesart,

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die nicht durch Dogmatik, Kirchengeschichte oder traditionelle Bräuche verstellt sein darf. Jesus Christus ist für ihn der erste, reinste, beste der Menschen; seine Vorbildfunktion beruht gerade auf seinen Taten. Er war kein Schriftsteller und kein Gelehrter, sondern ein schlichter Mensch. Das Wirken dieses Menschen auf Erden ist die zweite entscheidende Tatsache nach der Schöpfung. Viel Raum gibt Herder dem Exegetischen: Wie die verschiedenen Bücher des Alten Testamentes zu verstehen seien, wobei er besonders die poetischen Partien betont und deren sprachliche Kraft hervorhebt. Dies ist das Hauptthema des ersten Briefdutzends. Das zweite Briefdutzend gilt den Evangelien von Matthäus, Markus und Lukas; im Zentrum stehen die Erzählungen vom Leben Jesu. Der dritte Teil (Brief 25–37) ist an der Dogmatik orientiert. Der vierte Teil (Brief 38–50) gilt dem Predigtamt: was eine gute Predigt sei und wie man sich im Predigen üben könne. „Bildung und Besserung anderer, durch Vortrag“ (FA 9/1, 496) beschreibt Herder als wesent­liche Aufgabe des Predigers. Herders Kernsatz lautet: „Der Grund des ganzen Christentums ist historische Begebenheit und derselben reine Erfassung, simpler, schlichter, tätig-ausdrückender Glaube“ (284). Herder stellt sich hier wiederum präzise auf die Denkvoraussetzungen seiner Zeitgenossen ein. Er will Interesse wecken für ein tätiges Christentum, das auf der einen Seite ein nahes Verhältnis zur Bibel pflegt, auf der anderen Seite auf die Zeitgenossenschaft ausgerichtet ist, die beide Extreme erfaßt: kritiklose Glaubensüberlieferung und glaubenslose Kritik. So lehnt er die extremeren Positionen der Bibel-Kritik, die sich bei Reimarus beispielsweise gezeigt hatten, welcher die Auferstehung Christi geleugnet und die Jünger als Betrüger dargestellt hatte, mit deutlichen Worten ab. Er spricht sich aber auch gegen die Akkommodation aus, also gegen die Lehre, es handle sich bei den biblischen Berichten um ein Sprechen, das dem beschränkten Verständnis der damaligen Menschheit angepaßt gewesen sei und deshalb nicht wörtlich für die eigene, fortgeschrittene Zeit angewendet werden könne.

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Herders Mittlerstellung erweist sich auch in der überwiegend positiven Rezeption dieser Schrift durch die aufgeklärte Öffentlichkeit und ihre theologischen Rezensenten. Sein Freund Hamann sogar zeigte sich enthusiastisch. Andererseits kam Lob auch von den Berliner Aufklärern, welche sich freilich nicht enthalten konnten hinzuzufügen, nun schreibe der ungebärdige Herder endlich einen vernünftigen und verständlichen Stil. Aber zu einem reinen Gefühlschristentum, wie es Herders Schweizer Freund Johann Caspar Lavater praktizierte, führte von hier aus keine Brücke; die Beziehung zwischen beiden endete mit Lavaters ablehnender Kritik von Herders Briefen, das Studium der Theologie betreffend. Andererseits waren Herders Anschauungen wohl zu theologisch, zu orthodox, zu lutherisch für seine Weimarer Gesprächspartner Wieland und ­Goethe. Herder lebte dazwischen.

ÜBER DIE SEELENWANDERUNG (1782) Erstmals im Jahre 1782 experimentierte Herder mit der literarischen Form des Dialogs – nun aber gleich mehrfach. Seine drei Gespräche Über die Seelenwanderung, die 1782 in Wielands Teutschem Merkur erschienen, sind auf zwei Sprechrollen verteilt, ebenso wie die Gespräche in dem im selben Jahr veröffentlichten ersten Band Vom Geist der ebräischen Poesie. ‚Dialoge‘ im Sinne von ‚Lehrgesprächen‘ kannte die philosophische Literatur seit Platon. Herder erklärte jedoch im Vorwort seines Werkes Vom Geist der ebräischen Poesie, nicht Platon sei das Vorbild gewesen, sondern Cosri, ein mittelalterliches jüdisches Werk, „oder gar der Katechismus“ (FA 5, 668). Stärker ist wohl die humanistische Tradition überhaupt, für die Erasmus und seine Zeitgenossen stehen. Aber auch in der Aufklärungszeit waren Gespräche eine beliebte Form literarischer Darstellung; Herder nennt selber als mögliche Vorbilder Shaftesbury, Diderot und Lessing. Ein sol-

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ches Werk enthielt grundsätzlich mehrere Stimmen (wenn auch im vorliegenden Falle nur zwei). Das bedeutet, daß jede Äußerung nur gebrochen aufscheint, nicht autoritativ wie in einem Lehrbuch, sondern nur als eine mögliche Meinung, meist sogar im Kontrast mit einer Gegenmeinung. Durch den Dialog erhält die Darstellung eine gewisse Lebendigkeit. Und – das ist vielleicht noch wichtiger, war Herder vielleicht aber weniger bewußt: Der Dialog lenkt ab von der Individualität des Verfassers. Die Neuansätze des Weimarer Herder lassen sich ja auch interpretieren als Weg zur Klassik, als Suche nach einem Stil, der die jugendlichen Metaphernkaskaden des Reisejournals und der Bückeburger Zeit überwinden konnte. Wir haben an den Briefen, das Studium der Theologie betreffend schon sehen können, wie ihm die Gattung Brief (als Lehrbrief verstanden, als Form der Abhandlung) dabei helfen konnte, sich klar und verständlich, einfach und zielführend auszudrücken. Die Form eines Dialoges unter literaturbegeisterten Jünglingen, die sich miteinander verständigen wollen, also verständlich sein müssen, half Herder, sein Vermittlungswerk zu betreiben. Die Namen der Sprecher lauten ‚Charikles‘ und ‚Theages‘, das bedeutet griechisch ‚Anmutberühmt‘ und ‚Gottgeweiht‘. Herder begründete die Wahl der Dialogform mit dem Satz: „Was eigne Gedanken weckt, ist eben so viel, ja oft mehr werth, als das, was fremde Gedanken gebieterisch vorschreibt“ (SWS 15, 201). Man kann also nur mit Vorsicht nach dem fragen, was Herder ‚wirklich gemeint‘ hat. Ideen über Seelenwanderung waren im 18. Jahrhundert weit verbreitet. Man kannte die Vorstellungen der Buddhisten (zumindest in groben Zügen), die der Orphiker und Pythagoräer des alten Griechenlands, welche unterschiedliche Formen von ‚Metempsychose‘, das heißt Wanderung einer Seele in einen anderen Körper, vertreten hatten. 1780 hatte Lessing in seiner Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechtes eine solche Möglichkeit angedeutet. Und 1781 hatte Johann Georg Schlosser, Goethes Schwager, ein Buch Ueber die Seelen-Wanderung veröffentlicht. Auf dieses antwortete Herder mit

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seiner Schrift direkt (und Schlosser antwortete wiederum ein Jahr später auf Herder mit einer neuen Schrift zum selben Thema). Herders drei Gespräche Über die Seelenwanderung sind in verschiedene Situationen gestellt (erst Studierstube, dann im Freien; erst Abend, dann Nacht, dann neuer Tag), welche sich in der schweifenden Bewegung des Gedankens spiegeln: Aus dem Dumpfen ins Freie, aus der Nacht zum Licht. Indem die beiden Protagonisten die verschiedenen Theorien gesprächsweise erörtern und sich über literarische Gestaltungen austauschen, wird der Leser mit allen Möglichkeiten, die in der Tradition schon vorhanden waren, bekannt gemacht. Abgelehnt wird die Möglichkeit einer Rückstufung, daß also zum Beispiel eine Menschenseele in einem anderen Leben in ein Tier fährt, und abgelehnt wird auch die ziellose Wiederkehr des Gleichen. Was dagegen als positive Möglichkeit vorgestellt wird, ist die aufsteigende Seelenwanderung als „wahre Palingenesie dieses Lebens“: „Sehen Sie die Menschheit menschlich an, und sie wird Ihnen menschlich erscheinen“ (FA 4, 431). Die in vielen Religionen anzutreffende Verheißung von künftigem Glück für ein gutes und Strafe für ein böses Leben erklärt Herder als praktischen Trick aller Ethiker: Man kann es einfachen Menschen nun einmal so am einfach­ sten sinnfällig machen, daß sie sich anstrengen sollen, wenn man ihnen Lohn bzw. Strafe in einem künftigen Leben verheißt. Herder predigt letztlich (im Anschluß an Lessing) die Pflicht zur Selbstbildung, zur möglichsten Höherentwicklung in diesem Leben. In jungen Jahren hatte er einmal in einem Brief provozierend formuliert: „Die fünf Akte sind in diesem Leben“ (DA 1, 142). Diese Ansicht mußte er nicht unbedingt aufgeben, aber sie erscheint hier in einer komplexeren Gestalt. Die ethische Botschaft der Bergpredigt mit ihrem Ziel einer individuellen Perfektibilität ist zusammenzudenken mit dem Schöpfungswerk, wie es Herder verstand, nämlich als globale Perfektibilität, als „Fortrückung zu einem höhern Dasein“ (FA 4, 466).

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VOM GEIST DER EBRÄISCHEN POESIE (1782/83) Vom Geist der Gesetze hatte eines der berühmtesten Werke der Aufklärung geheißen, Montesquieus De l’esprit des Lois von 1748. Dies klang den Zeitgenossen in den Ohren, wenn sie Herders neuen Titel zu Gesicht bekamen: Vom Geist der ebräischen Poesie. Eine Anleitung für die Liebhaber derselben, und der ältesten Geschichte des menschlichen Geistes. Der Ausdruck ‚ebräische Poesie‘ erinnerte die Zeitgenossen an das damals berühmte Werk des Oxforder Professors Robert Lowth: De sacra Poesi Hebraeorum, das in Deutschland durch die Übersetzung und Kommentierung des Göttinger Orientalisten Johann David Michaelis bekanntgeworden war. Dieses enthält die für Herder kongeniale Grundidee: daß man nämlich das Alte Testament als Dichtung lesen könne und mit anderen Dichtungen alter Völker vergleichen könne – wie Homer und Ossian. Damit wurden die bekannten Texte auf eine neue Weise erschlossen. Lowth machte auf die lautliche Gestalt des Originals aufmerksam, auf die Metrik, auf den Stil. Allerdings operierte er auch mit Übertragungen klassischer Gattungsbegriffe – schließlich war er Professor der Rhetorik (bevor er Bischof von London wurde). In diesem letzten Punkt widersprach ihm Herder heftig: Mit festgelegten Begriffen späterer Dichtung der Griechen und Römer (‚Ode‘, ‚Tragödie‘ usw.) könne man das Alte Testament nicht verstehen. Auch hier bestand er auf seinem historistischen Grundsatz: „Geh in das Zeitalter!“ Mit den ‚Liebhabern‘, den ‚Dilettanten‘, hat Herder sein Ziel­ publikum im Untertitel selbst bezeichnet. Er wandte sich wiederum an ein allgemeines Publikum, nicht an Fachgelehrte der Theologie. Er sah sich wiederum als Mittler: Denn selbstverständlich hatte er selbst die Ergebnisse der bibelkritischen Fachwissenschaft aufgenommen. Auch stand er in einem engen Gesprächsverhältnis mit dem Jenaer Alttestamentler Johann Gottfried Eichhorn, seinem Freund, der gerade damals seine Einleitung ins A. T. verfaßte (1780–1783), das grundlegende Lehrbuch für die damaligen Theologiestudenten. Man kann

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also sagen, daß Herder solche aktuellen Forschungsergebnisse popularisierte. In erster Linie war sein Werk wohl (nicht anders als die Briefe, das Studium der Theologie betreffend) für Theologiestudenten gemeint, denen es Interesse am Alten Testament und Liebe zu den biblischen Schriften überhaupt einflößen sollte – im Kontext der aktuellen mentalitätsgeschichtlichen Strömungen der Zeit, im Blick auf die aktuelle Literatur der Empfindsamkeit. Aber darüber hinaus wollte Herder ein Interesse für hebräische Literatur unter seinen aufgeklärten Zeitgenossen wecken. Die alten Juden hatten in der Aufklärungszeit insgesamt eine schlechte Presse: Für Voltaire und seine Zeitgenossen waren sie ein zurückgebliebenes, abergläubisches, verschlagenes Volk. Herder nun wollte ihre Kultur auf dem Weg über ihre Literatur retten. Er wollte Begeisterung wecken für die Poesie früher Völker, nach Ossian und Homer eben auch für die poetischen Teile des Alten Testamentes. Die Form ist auch hier die des Dialoges. ,Alciphron‘ und ,Eutyphron‘ nennt Herder seine beiden Stimmen: etwa ,der Unerschrockene‘ und ,der Ernsthafte‘. Im übrigen ist der Dialog eine hinreichend flexible Form. Herder hat in einigen Fällen Schilderungen der Situation hinzugefügt, wie etwa beim zweiten Gespräch, das in einen Sonnenaufgang in freier Natur verlegt wird. Außerdem hat er allen Gesprächen ausführliche Inhaltsangaben vorangestellt, also eine Übersicht über die im Gespräch berührten Themen. Und schließlich hat er den Gesprächen zumeist (wie den Briefen, das Studium der Theologie betreffend) Beilagen hinzugefügt. Dabei konnte es sich um eigene Übersetzungen von Psalmen handeln, um Nachdichtungen, aber auch um Stücke aus Ossian oder von Milton oder aus der persischen Literatur. Hier war Raum für alles. Es ist diese Vielstimmigkeit, die der Anregung dienen sollte, ohne alles in einen definitiven, logischen Zusammenhang zu bringen. Die im Untertitel angesprochenen ‚Liebhaber‘ mochten das so: erhabene Gedanken in poetischer Sprache. Eingangs betonte er mehrfach (wie in den Briefen, das Studium der Theologie betreffend), daß er von der Bibel nur „menschlich“

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sprechen wollte (FA 5, 673). Das heißt vor allem, daß er jeden Anspruch einer Inspiration der Heiligen Schrift von Gott direkt aufgeben wollte (womit er sich von der älteren lutherischen Theologie der Orthodoxie unterschied). Allerdings bedeutet bei Herder dieses „Menschliche“ indirekt ein Göttliches: nämlich der Mensch als Abbild Gottes, die Verwirklichung von Gottes Plan in der Geschichte des Menschengeschlechtes. Herder wollte zu einem Verständnis der Sprache und Literatur der Hebräer anleiten, indem er die Zeitgenossen mit ihrem ästhetisch-literarischen Interesse beim Wort nahm, um ihnen so ein Stück der „ältesten Geschichte des menschlichen Geistes“ aufzuschließen (wie es ja schon im Untertitel dieser Schrift heißt). Der Umgang mit der Heiligen Schrift als bloßer Literatur ist dabei durchaus ambivalent: Einerseits konnte er hoffen, auf diese Weise manchen Zeitgenossen, für welchen die Bibel undiskutabel geworden war, neues Interesse einzuflößen; andererseits bestand natürlich die Möglichkeit, daß sich solches Interesse rein auf das Literarische, auf die poetischen Schönheiten, richten würde. Hierin scheint Herder allerdings kein Problem gesehen zu haben: Er war sich sicher, daß die Begeisterung für die Sprache des Alten Testamentes auch zu einem Verständnis seiner Inhalte führen würde. Herder hatte die Absicht, eine nach drei Epochen gegliederte Geschichte der hebräischen Poesie zu bieten: Die erste Epoche beherrscht von Moses, die zweite von David, die dritte von den Propheten. Ausgeführt hat er aber nur die ersten beiden Teile. Wie kann man aber über hebräische Poesie sprechen ohne Kenntnis der Ursprache? Herder selbst hatte eingehende Studien des Hebräischen und auch der verwandten Sprachen getrieben (beispielsweise des Arabischen!). Aber bei seinen Lesern setzte er solches nicht voraus. Kaum je findet sich ein Wort in der hebräischen Sprache; alle Phänomene werden in deutscher Sprache umschrieben. Wir hatten herausgestellt, daß Herder ein Vermittlungswerk betreibt – er holt seine Zeitgenossen mit ihrer vorromantisch-empfindsamen Sensibilität bei deren literarischen Vorlieben ab, indem

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er ihnen das Alte Testament als eine poetische Leistung anpreist. Bei ­Herders Art des gesprächsweisen Vorgehens läßt es sich leicht ­machen, daß die Gedanken unvermerkt ins Philosophische oder Theologische schweifen. Er hat sich nicht auf eine einseitig linguistische oder literaturkritische Darstellung festgelegt. Dies bietet ihm auch die Möglichkeit, mit der Dichtung deren Inhalte zu vermitteln. So lenkt Eutyphron etwa von seiner Neuübersetzung von Psalm 139 spielend zur Naturauffassung der Zeit über und mithin zur Physikotheologie, der im 18. Jahrhundert so beliebten Erkenntnis Gottes aus der Natur. Von hier aus kommt man zwanglos auf den Polytheismus zu sprechen, auf die intellektuelle Überlegenheit des Monotheismus gegenüber dem Polytheismus, auf die Auswirkungen dieser Glaubensform auf die Weltanschauung usw. Herder legt dar, warum es im He­ bräischen keine Hymnen auf die Sonne (und andere Naturerscheinungen) geben kann und was das für die Poesie und die Weltanschauung bedeutet. Herders in logischer Hinsicht so fragwürdiges Schweifen durch alle möglichen Gebiete erweist sich hier als außerordentlich fruchtbar: Mit der Sprache analysiert er den ‚Geist‘ und der ‚Geist‘ schließt das Wesen des religiösen Denkens jener Zeit auf. Mit dem Beitrag des ‚Theologen unter den Klassikern‘, wie Karl Barth und Martin Keßler Herder genannt haben, zur Weimarer Kultur wurde das Alte Testament in deren Horizont zurückgeholt. Spätere Beiträge, etwa Goethes West-östlicher Divan, zeigen die Wirkung Herders.

IDEEN ZUR PHILOSOPHIE DER GESCHICHTE DER MENSCHHEIT (1784–1791) Trotz aller Kritik, die er erfahren hatte, arbeitete Herder mit Beharrlichkeit und Überzeugung weiter an seinem Geschichtswerk. Daß er kirchliche Stellungen einnahm, hinderte dies keineswegs; vielmehr fühlte er sich sogar gerade als Theologe und aufgeklärter

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Kirchenmann berufen, die gesamte Weltgeschichte zu deuten als eine Geschichte der Menschheit – oder, wie man auch sagen könnte: durch seine Interpretation der ganzen Weltgeschichte die auseinanderklaffenden Sphären von Glauben und Wissen, von Theologie und moderner Naturwissenschaft zu überbrücken. Es ist schon auffallend, daß Herder von seinen frühesten Veröffentlichungen an bis zu seinen spätesten hin immer wieder auf die Geschichte zurückgekommen ist. Der Hauptunterschied zwischen der Frühschrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit und der 1784 bis 1791 in vier Teilen gedruckten Spätschrift Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit liegt zunächst im Stil: Das Frühwerk ist eine Rhapsodie; Kaskaden von Bildern und Ausrufen prasseln auf den Lesern nieder. Das Hauptwerk ist dagegen von klassischer Klarheit und auch im Stilideal an klassischer Einfachheit ausgerichtet. Wo im Frühwerk Anakoluthe vorherrschen, besteht das klassische Werk wesentlich aus gerundeten Perioden. Die Denkweise ist so verschieden gar nicht: Beispielsweise gibt es kühne Analogien im Frühwerk wie im Hauptwerk. Was uns oft befremdet, ist jedoch eine Eigentümlichkeit im Denkstil der Aufklärung überhaupt, das ‚Formprinzip des Witzes‘ (Paul Böckmann). Darunter ist nicht etwas zum Lachen Reizendes zu verstehen, sondern eine konsequent angewandte Kombinatorik, die überraschende Verbindung verschiedener Sphären. Nach diesem ‚Formprinzip des Witzes‘ funktionieren viele Epigramme bei Lichtenberg; aber auch Lessings Stil ist durchformt von solchen überraschenden Wendungen und Zusammenstellungen. Herders Analogien gehören zum Denkstil der Zeit. Trotzdem bestehen gravierende Differenzen auch im Denken zwischen der Frühschrift und dem Hauptwerk. Am auffälligsten ist dabei das Religiöse, das Theologische. In der Bückeburger Frühschrift spricht ein neuerweckter Christ, der auch deshalb so heftig polemisch gegen Voltaire und andere Aufklärer auftritt, weil er sich gegen ihr rein

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säkulares Verständnis historischen Geschehens verwahrt. Im Weimarer Hauptwerk ist alles Theologische ausgeblendet; so spricht ein vernünftiger Aufklärer zu seinen Zeitgenossen, die teils orthodoxe Christen alten Stils, teils schon kaum mehr Christen sind. Herder sucht hier stets die minimale Konsensbasis; er trägt seine Ansichten so vor, daß sie auch einen Kirchenfernen nicht abschrecken. Ja, man kann vielleicht sogar sagen, daß er als Kirchenmann die Aufklärungsöffentlichkeit anspricht, um ihr ältere, noch theologisch geformte Denkformen erneut nahezubringen. Im wesentlichen spricht Herder in diesem Werk nicht die Sprache des Gottesgelehrten, sondern die des Weltweisen. Wenn wir hier also theologische Strukturen freilegen, ist das eher ein Akt der Interpretation. Theologisch erscheint dabei vor allem die Teleologie, also die durchgehende Deutung allen Geschehens in einer bestimmten Sinnperspektive. Dabei muß man sich jedoch präsent halten, daß die empirische Ordnung und Perspektivierung nach Ursache-Wirkungs-Relationen das wesentlich logische Programm der Aufklärer überhaupt waren, also ein Element der (damals so genannten) ‚pragmatischen Geschichte‘. Auch Kants untheologische Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht oder Lessings Erziehung des Menschengeschlechtes sind durchgehend teleologisch geformt. Herders Hauptwerk Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit stellt den Versuch einer Gesamtgeschichte der Menschheit dar, nachdem die rein heilsgeschichtliche Deutung der Universalgeschichte nicht mehr möglich war und Geschichte nun nicht mehr anders als empirisch angegangen werden konnte. Herders Gesamtdeutung zeigt die organische Entfaltung der Menschheit im Prozeß der Kultur. Man kann auch sagen: Universalgeschichte wird abgelöst durch eine empirische Geschichte als Kulturgeschichte. Die ersten Bücher der Ideen behandeln die allgemeine Anthropologie – der Mensch als Tier und was ihn vom Tier unterscheidet – als Grundlage einer universalen Kulturgeschichte der Menschheit. So hatte kein Geschichtsbuch vor Herder begonnen – und nach ihm ebensowenig. Wie ist diese Sonderstellung zu erklären?

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Der tiefste und somit entscheidende Grund ist wohl der: Herders jahrzehntelange Beschäftigung mit der Geschichte der Menschheit läßt sich deuten als Exegese des ‚zweiten Buches‘, als Lesen im ‚Buch der Natur‘. Je mehr die Heilige Schrift als universale Wahrheitsquelle ins Feuer der Kontroversen rückte, desto mehr mußten sich die Bemühungen – gerade auch des Theologen – darauf konzentrieren, eine neue konsensfähige Wahrheitsbasis zu etablieren. Dafür konnte es kein sichereres Bezugssystem geben als eben die Natur. Herders Ideen schließen an die ältere Naturgeschichte an, und zwar mit einer Anthropologie und Kulturgeschichte der Menschheit. Ganz natürlich folgt auf die einfachen Kulturstadien die Entwicklung der Hochkulturen. Das fundamentale Quellendefizit für die nicht­ abendländischen Kulturen kann dabei noch etwas verdeckt werden durch die Klimatheorie, die gerade im mediterranen Bereich zu einer Folge von Hochkulturen mit Notwendigkeit zu führen schien, so daß sich das abendländische Geschichtsbild erneut einpassen ließ. Das in der Frühschrift noch weitgehend idealtypische Kulturentstehungsmodell, das im Anschluß an die heilsgeschichtlichen Schemata der Tradition nahelag, wird nun zunehmend empirisch eingelöst, modifiziert und differenziert. Herders Methode ist durchgehend die der Analogie. Er spürt den Bildungsgesetzen des Lebendigen nach. Was in Auch eine Philosophie der Geschichte zunächst wie ein Wildwuchs der Metaphorik wirkt, wird in den Ideen kultiviert zur methodischen Disziplin, die dem Naturbeobachter gebührt. Die Voraussetzung solchen Denkens ist die durchgehende Gleichartigkeit der Erscheinungen. In dieser Hinsicht ist der Mensch völlig in die Natur eingebettet; es gibt keinen Riß zwischen dem Materiellen und dem Geistigen, keine Kluft zwischen Natur und Kultur. Zweierlei ist bei solchem Denken bemerkenswert: 1. Die verwirrende Fülle der Erscheinungen wird geordnet; überall sieht der Beobachter Zusammenhang und Aufbau, Keim und Entwicklung. Kurz: Alles ein Kosmos! 2. Die so geschaute Fülle der Erscheinungen

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läßt nicht nur jedem einzelnen sein Recht – sie gibt es ihm geradezu! Jede Differenzierung ist sinnvoll. Alles Individuelle ist legitim. Diese Lehre ermöglicht es, gewissermaßen Bildungsgesetze des Lebendigen zu abstrahieren. Das sind keine ‚Gesetze‘ im strengen physikalischen Sinne. Es sind Abstraktionen aus empirischer Beobachtung, die auf Beobachtungen in anderen Bereichen übertragen werden. Mit der Voraussetzung der Gleichartigkeit alles Geschaffenen können etwa Bildungsgesetze, die im Pflanzenreich gewonnen wurden, auf das Tierreich, ja: die Geschichte der Menschheit, angewendet werden. Herder sieht eine genetische Kraft in allem Lebendigen, die je nach Gelegenheitsursachen die möglichen Formen hervorbringt. Seine Synthese – der Mensch innerhalb der Natur – gestattet einen durchgehenden Aufweis der Sinnhaftigkeit des Seins, der in seinem Erklärungsanspruch nicht hinter der christlichen Heilsgeschichte zurücksteht und zugleich in seiner empirischen Ausführung ein Grundbedürfnis der Aufklärung befriedigt. Es ist Herder um eine ‚menschliche Geschichte‘ zu tun (nicht zufällig ist dem zweiten Teil der Ideen das bekannte Terenz-Motto vorangestellt: Homo sum, humani nihil a me alienum puto). Das heißt auch, daß selbst noch das Irreguläre, dem Anschein nach Abweichende, dem Kausalitäts- und Ordnungsanspruch unseres Denkens unterworfen werden muß – und kann. Das Böse in der Welt sogar muß in seiner Zweckhaftigkeit erklärt werden können, Krieg und Gewalt – diesen unwissenschaftlich radikalen und universalen Anspruch rettet der Theologe aus der christlichen Universalgeschichte in die neue Kulturgeschichte. Herders Anthropologie, die nicht zufällig fast alle neuere Anthropologie wesentlich angeregt hat, erhebt sich aus der Naturgeschichte in die Kulturgeschichte: Der Mensch ist das Wesen, das der Bildung, der Überlieferung, der Erziehung bedarf. Nur so wird es eigentlich zum Menschen. Deshalb stellen die Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit zweifelsohne einen neuen, verbesserten, vertieften Beitrag zur „Bildung der Menschheit“ dar. Die erste

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Kulturtatsache ist die Sprache, die zweite die Schrift. Indem Herder den wesentlichen Unterschied des Menschen vom Tier gerade in die Sprache setzt, ergibt sich zwingend, daß hier die Naturgeschichte endet und zugleich die Kulturgeschichte beginnt. Mit der Schrift entsteht erst die Möglichkeit einer dauerhaften Überlieferung; da der Mensch, wie Herder schreibt, das Wesen ist, das ohne Tradition nicht leben kann, beginnt an diesem Punkt (phylogenetisch gesehen) die eigene Geschichte des Menschen – eben als Kulturgeschichte. Durch Überlieferung bauen sich alle differenzierteren Kulturbereiche auf, insbesondere die Religion. Die einzelnen Kulturstufen hat Herder mehrfach in praktischer Anwendung durchgespielt, zunächst bei den asiatischen Völkern im Kontext der Frage nach dem ältesten Volk und nach dem Ursprung der Menschheit. Indem der Mensch, wie Herder lehrt, erst kollektiv, in Gemeinschaft mit anderen – in seinem Verhältnis zunächst als Kind zu Mutter und Vater, als Schüler zu Lehrern sodann – eigentlich Mensch wird, erfüllt er für seinen Teil, sich akkulturierend, das Telos der Menschheit. Die Geschichtlichkeit ist also nicht nur ein gewissermaßen defizitäres Merkmal der Humanität, sondern (positiv gewendet) die Bedingung ihrer Möglichkeit. Geschichtlich ist der Mensch Kulturwesen. Die Geschichte seiner Bildung – individuell, national, universal – ist deshalb nichts anderes als: Kulturgeschichte. Als 1784 und 1785 die ersten beiden Teile von Herders Hauptwerk erschienen waren, wurden sie von seinem früheren Lehrer Kant in der Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung des Jahres 1785 in aller Ausführlichkeit und mit vernichtender Absicht rezensiert. Es ging ihm um Grundsätzliches (die später erschienenen Teile hat er nicht mehr behandelt). Kant kommt zu vier prinzipiellen Grenzziehungen: (1) Was Herder als Sprachforscher aus dem Urtext der Genesis interpretiere, liege außerhalb dessen, was der Philosoph als Wissenschaftler zu erkennen imstande sei. (2) Was Herder an empirisch-historischem Material aus den Reiseberichten ziehe, sei willkürlich; bei derart unkritischer Quellenbehandlung sei darauf keine Wissenschaft zu grün-

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den. (3) Die physiologische Seite der anthropologischen Darlegungen liege ebenfalls außerhalb des Gebietes der Philosophie. (4) Die ‚Metaphysik‘ der ‚Kräfte‘ habe keine logische Konsistenz und keine Berechtigung innerhalb der Philosophie als Wissenschaft. In Kants Sicht will Herder etwas, was er im Grunde genommen nicht wollen dürfte. Herder habe den gewaltsamen Entschluß gefaßt, etwas, was man nicht sehen könne, durch Dichtungskraft sichtbar machen zu wollen, indem er es durch Analogien erschließe. Dies führe zu dem Versuch, „das was man nicht begreift, aus demjenigen erklären zu wollen, was man noch weniger begreift“. Kant verteidigt die Philosophie als Wissenschaft gegen eine unkonventionelle Denkweise, die Subjekt und Objekt nicht in der herkömm­ lichen Weise trennt. Er arbeitet den rhetorischen, persuasiven Charakter der Ideen mit aller Schärfe heraus, um ihre logische Schwäche nur desto ­schonungsloser bloßzulegen. Er weigert sich zugleich, das Andeutende, Dunkle, das er bemerkt und anprangert, als legitimen Erkenntnisweg der Vernunft zuzulassen.

DENKFORM ‚KETTE DER BILDUNG‘ Herders Denkform ‚Kette der Bildung‘, welche für jede Theorie der Kultur von höchster Bedeutung ist, bedarf der Erläuterung. Die ‚Kette der Wesen‘ (the chain of beings, Arthur Lovejoy) ist eine uralte Denkform, die sich von Plato durch das Mittelalter bis hin zur Aufklärung verfolgen läßt. Herder stellt sie zu Beginn des Neunten Buches der Ideen ins Zentrum seiner Überlegungen zur Anthropologie. Damit erläutert er das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, von Person und Geschichte. Die thesenartige Überschrift lautet: „So gern der Mensch alles aus sich selbst hervorzubringen wähnet; so sehr hanget er doch in der Entwicklung seiner Fähigkeiten von andern ab“ (FA 6, 336). Der Mensch ist kein Selbstgeborener – das wissen wir im biologischen Sinne. Der Mensch ist aber auch in bezug auf seine intellek-

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tuelle Entwicklung kein Selbstgeborener. Im Augenblick der biologischen Geburt sind die Sinne wie Auge und Ohr noch unterentwickelt: Sie besitzen die Anlagen, um sich zu entfalten. Aber auch die intellektuelle Entwicklung beruht auf Anlagen („Keimen“), die von außen, durch andere Menschen erst entwickelt werden müssen. Das ist am deutlichsten bei der Sprache: Natürlich müssen die Sprechwerkzeuge vorhanden sein, aber das Erlernen einer Kommunikationsmöglichkeit mit anderen Menschen stellt einen komplexen Prozeß dar, bei dem der Lernende durch Nachahmung (usw.) etwas schon Vorhandenes übernimmt und sich zu eigen macht. Herders Akzent liegt an dieser Stelle eindeutig darauf, den falschen Glauben von der Selbstmächtigkeit des Menschen einzuschränken und ihn darauf hinzuweisen, daß er sich nur durch die Übernahme vorgefertigter Kulturelemente von außen voll entwickeln kann. Und trotzdem stellt er sich vor, daß der einzelne diese Erziehung an sich selbst vollendet, wenn auch „als ein fremder Künstler“. Das soll heißen: Was jemand lernt, welche Fähigkeiten einer entwickelt, wie weit er sich bildet, hängt zwar selbstverständlich von dem ab, was er zum Zeitpunkt seiner Geburt vorfindet (Sprache zum Beispiel), aber wie weit er sich zu diesem Vorgefundenen in Beziehung setzt, wie weit er es sich zu eigen macht, hängt auf einem bestimmten Niveau dann von ihm selber ab. Er gewinnt seine volle Individualität gerade dadurch, daß er sich selbst als Subjekt erfährt, das von anderen gebildet wird, aber schließlich sich selbst bilden kann, indem es sich selbst als Objekt nimmt, sich gewissermaßen von außen entgegentritt und als ein „fremder Künstler“ sich vollendet. An dieser so wichtigen wie tiefsinnigen Stelle wird offenbar vieles vorausgesetzt: ein bestimmtes Verhältnis von Innen und Außen, von Ich und Welt, von Individuum und Gesellschaft. Herders Modell kann von der einen Seite her als ‚Akkulturation‘ gesehen werden, als Einbeziehung in ein vorhandenes Kultursystem: Die Gesellschaft erzieht sich einen neugeborenen Menschen – von der anderen Seite her aber als ‚Enkulturation‘, das heißt der Heranwachsende setzt sich selber zu der vorgefundenen Kultur in Beziehung, nimmt sie auf, paßt

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sich an, formt sie schließlich auch selber mit. Was hier noch offen bleibt: auf welcher Ebene diese Integration zu denken ist: Familie? Gruppe? Dorf? Stamm? Herder denkt in erster Linie an die ganze Menschheit, an die größte denkbare Einheit. Deshalb kommt er an dieser Stelle sofort auf die Kulturgeschichte zu sprechen, verstanden als Universalgeschichte der Menschheit: „Hier also liegt das Principium zur Geschichte der Menschheit, ohne welches es keine solche Geschichte gäbe. Empfinge der Mensch alles aus sich und entwickelte es abgetrennt von äußern Gegenständen: so wäre zwar eine Geschichte des Menschen, aber nicht der Menschen, nicht ihres ganzen Geschlechts möglich. Da nun aber unser spezifische Charakter eben darin liegt, daß wir, beinah ohne Instinkt geboren, nur durch eine Lebenslange Übung zur Menschheit gebildet werden, und sowohl die Perfektibilität als die Korruptibilität unsres Geschlechts hierauf beruhet: so wird eben damit auch die Geschichte der Menschheit notwendig ein Ganzes, d. i. eine Kette der Geselligkeit und bildenden Tradition vom Ersten bis zum letzten Gliede“ (337). Die ‚Ursituation‘: Ein Mensch, der geboren wird, ist auf die Hilfe anderer angewiesen; zunächst in einem biologischen Sinne, dann aber auch umfassender in einem kulturellen. Herder spitzt das zu durch den Begriff ‚zweite Genesis‘. Das Unvollkommen-geboren-Werden des Menschen bewirkt, daß er durch andere Menschen eine ‚zweite Genesis‘ erfahren muß. Herder nennt als dafür maßgeblich: „Eltern, Lehrer, Freunde“ und „Umstände im Lauf seines Lebens“. Damit man sich dies nun nicht wieder individualisierend zurechtlegt, schiebt er nach: das „Volk“ und die „Väter desselben“ (338), also einen sozialen, ethnischen Zusammenhang der Kultur. Wo dem einzelnen Menschen Eltern, Lehrer und Freunde gegenübertreten und ihm helfen, ihn lehren, ihn formen, geschieht dies nicht nach ihrem individuellen Gutdünken, sondern nach den Werten ihrer Gemeinschaft oder Gruppe. Im Hintergrund sieht Herder eine allgemeine Vaterfigur, Gott, den Schöpfer, als Lehrer aller Menschen, das heißt des gesamten

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Menschengeschlechtes und damit auch jedes einzelnen Menschen. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, daß der Gedanke hier nicht spezifisch christlich ausgeformt ist, sondern eine allgemeine teleologische Gestalt annimmt: Aus der beobachteten Menschengeschichte schließt Herder zurück auf einen Urheber und auf ein Ziel der Geschichte, und zwar ebenso, wie man aus einem Schiff auf seinen Erbauer und dessen Zwecksetzung zurückschließen kann. Diese Denkform ist zwar mit dem Christentum, wie es zu seiner Zeit gelehrt wurde, vollkommen kompatibel; zugleich aber ist dieser Gedanke in eine solche Form gekleidet, daß er auch für einen bloß deistischen Aufklärer einleuchtend bleibt. „Tradition und organische Kräfte“ (339) hebt Herder selber hervor. Das heißt: Es gibt kein menschliches Leben ohne leibliche Grundlage, aber die volle Entfaltung des Menschseins erfolgt erst auf der Grundlage der Tradition, also der Kultur. Die Chancen eines Individuums sind dadurch bestimmbar, daß man es in eine förderliche oder feindliche Umgebung hineinstellt. Herder verweist hier auf das Klima, das zu seiner Zeit als alles determinierend angesehen wurde. Interessanterweise will er aber allen Menschen Kultur zuschreiben, nicht nur den höchstentwickelten Europäern. Die Kalifornier und Feuerländer bildeten in der damaligen ethnologischen Fachliteratur die Paradebeispiele für Menschen auf der untersten Stufe der Jäger und Sammler. Aber der Kulturbegriff, der hier formuliert wird, schließt selbst diese nicht aus. Ja, Herder hat uns aus der ‚Ursituation‘ hergeleitet, daß alle Menschen grundsätzlich ‚Kultur‘ brauchen. Was dann noch übrig bleibt, ist, daß man die Kultur der Jäger und Sammler als menschheitlich unterste Stufe anordnet. Herders Formulierung: „[D]ie Tradition einer Erziehung zu irgend einer Form menschlicher Glückseligkeit und Lebensweise“ (340) läßt die inhaltliche Füllung gerade offen: Gebildet ist nicht nur, wer Latein kann (das wäre ein europäischer Maßstab); gebildet im Sinne des Kaliforniers oder Feuerländers ist vielleicht derjenige, welcher am besten das Wild zu locken weiß. Während ein europäischer Junge die

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Schulbank drückt, liegt ein kalifornischer oder feuerländischer auf der Pirsch und lernt von seinem Vater oder Häuptling, wie man’s erfolgreich anstellt, das gruppenspezifisch definierte Ziel zu erreichen: „Erziehung zu irgend einer Form menschlicher Glückseligkeit und Lebensweise“. Um diesen Gedanken weiter zuzuspitzen, extrapoliert er gewissermaßen das Innere des Zöglings und stellt „die Tradition“ als etwas von außen an ihn Herantretendes vor: „Tradition tritt zu ihm und formt seinen Kopf und bildet seine Glieder. Wie jene ist, und wie diese sich bilden lassen: so wird der Mensch, so ist er gestaltet.“ Wir haben hier eine umfassende anthropologische Theorie vor uns mit tiefen historischen Wurzeln und Wirkungen bis in unsere Gegenwart. Entscheidend ist für uns, daß Menschwerdung zwar auf biologischer Grundlage geschieht, aber nicht auf dieser Ebene abgeschlossen werden kann. Es bedarf der „zweiten Genesis“. Das heißt mit anderen Worten: der Kultur.

GOTT. EINIGE GESPRÄCHE (1787) Fast gleichzeitig mit dem 3. Teil der Ideen ging Herders Schrift Gott. Einige Gespräche in Druck, erneut ein dialogisches Werk, nur (im Vergleich mit Über die Seelenwanderung und Vom Geist der ebrä­ ischen Poesie) insofern dramatischer, als zu zwei gelehrt disputierenden Männern am Ende als Überraschung noch eine Frau hinzutritt, die für den gesunden Menschenverstand steht. Seine Gesprächspartner nennt Herder diesmal ‚Philolaus‘ und ‚Theophron‘, also etwa: ‚Volksfreund‘ und ‚Gottbegeisterter‘. Theophron ist eindeutig der Lehrende, während Philolaus am Anfang die gewöhnlichen Vorurteile des Pöbels hat, im Laufe der fünf Gespräche aber schnell eines Besseren belehrt wird. Im fünften Gespräch tritt plötzlich eine Frau mit Namen ‚Theano‘ in Erscheinung, von der sich herausstellt, daß sie die ganze Zeit schon verborgen das Gespräch der Männer mitgehört hat, während sie mit einer Stickerei beschäftigt war.

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Die Vorgeschichte dieser Schrift reicht weit zurück in Herders Leben. Schon in jungen Jahren hatte er eine Schrift über Spinoza, Shaftesbury und Leibniz im Sinn gehabt, die aber nicht ausgeführt worden war. Es ging ihm dabei um so etwas wie eine Grundlegung der Religionsphilosophie, nämlich um ein philosophisches Denken, das mit seinen theologischen Grundüberzeugungen vereinbart werden konnte. Dabei war ein mit den Augen Leibniz’ gesehener Spinoza das Entscheidende. Aber Spinozas metaphysische Abstraktheit wollte Herder auch hier wieder menschlich kompatibel machen, auf den Menschen anwenden. Das Dasein des Menschen wurde zum Drehund Angelpunkt seines Denkens: die ‚anthropologische Wende‘. Einen aktuelleren Anlaß bot der sogenannte Spinoza-Streit, den Friedrich Heinrich Jacobi vom Zaun gebrochen hatte. Jacobi veröffentlichte nach Lessings Tod (1781) ein Gespräch mit diesem, in dem er sich selbst als einen christlichen Philosophen darstellte, Lessing aber als ‚Spinozisten‘, und das hieß in seinem Verständnis: Atheisten. Diese Veröffentlichung schlug bedeutende Wellen in der deutschen Kulturlandschaft. Moses Mendelssohn in Berlin arbeitete sich daran ab, die ‚Schande‘ von Lessing abzuwaschen. In Weimar trafen sich Goethe, Herder und Jacobi zu Gesprächen, in denen grundlegende weltanschauliche Positionsbestimmungen erarbeitet wurden. Herders Publikation mit dem lapidaren Titel Gott und dem Untertitel Einige Gespräche war nicht nur ein Stück Papier, sondern Niederschlag einer derjenigen Diskussionen der Zeit, welche die intellektuell Wachen unter den Zeitgenossen am tiefsten aufwühlten. Über die Gespräche zwischen Goethe und Herder gibt es Quellen verschiedenster Art. Die Debatte zwischen Herder und ­Jacobi läßt sich durch den erhaltenen Briefwechsel der beiden rekonstruieren. Schon Lessing hatte die Ansicht geäußert, Jacobi habe einen ‚Salto mortale‘ in den Glauben vollzogen, den er nicht mitmachen könne. Dieser Salto mortale führte aber Herder zu größerer Klarheit, der zwar ein führender Mann der lutherischen Kirche in Deutschland war, aber sich gerade als solcher nicht das

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Denken verbieten lassen wollte. Mit seinem großen Vorbild Lessing hielt Herder an Spinoza fest – wobei er ihn allerdings auf eine bestimmte Art interpretieren, ja reformulieren mußte. Inwiefern dies mit der kirchlichen Doktrin vereinbar sein konnte, blieb zunächst offen. Herder arbeitete gleichzeitig (wie wir in den Ideen gesehen haben) an einer stimmigen Auffassung der Geschichte und an einer adäquaten Berücksichtigung der modernen Naturerkenntnisse. Deshalb war für ihn Spinoza besonders wichtig. Kompatibilität mit dem Luthertum war nicht seine erste Sorge. Anders gesagt: Herder hatte sich ein ehrgeiziges Projekt zum Ziel gesetzt, nämlich die überlieferten religiösen Vorstellungen des Christentums im Problemhorizont seiner Zeitgenossen auf neue Weise plausibel zu machen. Eine Auseinandersetzung mit dem Spinozismus erschien ihm unter diesen Umständen unausweichlich, da er in Spinoza das überzeugendste, stimmigste und klarste metaphysische System der Neuzeit sah. Die Form des Gespräches wird hier erneut sehr bewußt eingesetzt. Herder schrieb in der Vorrede: „Gespräche sind keine Entscheidungen, noch minder wollen sie Zank erregen: denn über Gott werde ich nie streiten“ (FA 4, 681). Philolaus, der Freund des Volkes, muß im ersten Gespräch zugeben, daß er Spinozas Schriften noch gar nicht gelesen hat. Was er über Spinoza von sich gibt, entspricht dem populären Vorurteil. Sogar Jacobi (der nicht genannt wird) war der Meinung gewesen, daß einer, der wie Spinoza Gott und Natur gleichsetze, ein Pantheist, ja ein Atheist sei. Sein Gesprächspartner Theophron sucht solche populären Vorurteile zu zerstreuen und Interesse für Spinoza zu wecken, indem er Philolaus auf eine biographische Schrift hinweist. Dieser beschäftigt sich dann mit dem Leben des Spinoza und erkennt den hohen moralischen Standard dieses Philosophen, der aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten war und sich gleichzeitig vom Christentum fernhielt. Die hohe Übereinstimmung von Leben und Lehre beglaubigt die Philosophie und weckt Interesse an der Ethik, die Philolaus auf Anraten seines Gesprächspartners zwischen dem ersten und dem zweiten Gespräch wirklich liest.

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Das zweite Gespräch zeigt, daß Philolaus, nachdem er die Ethik des Spinoza gelesen hat, eingesehen hat, daß Spinoza kein Pantheist und kein Atheist war. Im sokratischen Gespräch geht es nun darum, den Kern der Philosophie des Spinoza zu bestimmen, seine „Idee von Gott“. Man setzt sich über die „harten Ausdrücke“ des Spinoza auseinander, die damit erklärt werden, daß er sich der Grundbegriffe der Philosophie des Descartes bedient habe, um sich seinen Zeitgenossen verständlich zu machen. Für Herder gilt es nun, die Gedanken des Spinoza so zu reformulieren, daß sie für das Verständnis des 18. Jahrhunderts tauglich sein konnten. Das geschieht zunächst durch das Medium Leibniz: Man erhält den Eindruck, als habe Leibniz mit anderen Begriffen dasselbe ausgedrückt, was Spinoza mit seinen cartesianischen gesagt hatte. Zumindest aber habe Spinoza auf Leibniz vorausgedeutet. Für Herder ist besonders wichtig, daß er die „schroffe Abteilung zwischen Materie und Geist“ (707) nicht mitvollziehen kann. Man geht aus vom Satz des Spinoza: „Es gibt nur Eine Substanz und diese ist Gott; alle Dinge sind in ihm nur Modifikationen“ (703). Die Verständnisprobleme, die mit den Begriffen ‚Substanz‘ und ‚Modifikation‘ aufgerufen sind, werden bekämpft durch den Leibnizschen Begriff der ‚Kraft‘; es ergibt sich (vereinfacht), „daß sich die Gottheit in unendlichen Kräften auf unendliche Weisen offenbare“ (709). Diesen Kraft-Begriff (den man auch religiös verstehen kann) rechtfertigt Herder insbesondere durch die Fortschritte der Naturwissenschaften im 18. Jahrhundert, also zwischen Spinoza und seiner eigenen Zeit. Der zitierte Spinoza-Satz läßt sich in dieser Hinsicht reformulieren: „Alle Dinge […] sind […] Ausdrücke der göttlichen Kraft, Hervorbringungen einer der Welt einwohnenden ewigen Wirkung Gottes“ (713). Diese Einsicht war für Herder zentral. Im dritten Gespräch bringt Herder ein weiteres, nicht von Spinoza herkommendes Element mit dessen Philosophie zusammen. Es wird unter dem Stichwort ‚Nemesis‘ angesprochen. Herder bezieht sich immer wieder auf eine bestimmte Siegeldarstellung dieser Göttin. Nemesis bedeutet nach Herders Erläuterung in einer anderen

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Schrift die „Göttin des Maßes und Einhalts“ (FA 4, 564) und nähert sie der Adrastea an, von ihm erläutert als die „Unentfliehbare“ und „immer-Wirksame“ (565). Philolaus ist inzwischen zum Kenner und damit zu einem vollwertigen Gesprächspartner Theophrons herangewachsen. Im vierten Gespräch konfrontiert ihn dieser nun mit Jacobis Streitschrift Über die Lehre des Spinoza. Das entscheidende Stichwort Theophrons lautet ‚Dasein‘ (743). Gott ist das höchste Dasein, von dem alles abgeleitete Dasein sein Licht, seine Kraft empfängt. Dies ist nun ganz anders vorzustellen, als man es in der orthodoxen Lehre eines persönlichen, außerhalb der Welt befindlichen und nach blinder Willkür wirkenden Gottes dachte. Gott ist in allem, in der Welt selbst. Philosophiegeschichtlich kann man Herders Spinoza-Interpretation deshalb als ‚Panentheismus‘ bezeichnen: eine Lehre, die vom Begriff Gottes ausgeht (-theismus), diesen überall sich verwirklichen sieht (Pantheismus), und zwar innerhalb der Welt (Panentheismus). Die hinzukommende weibliche Stimme soll auch intuitive Erkenntnis bedeuten, einen Zügel für die „abstracten Herren“. Als Frau ist sie der Natur und der Anschauung zugewandt. Zu dritt arbeiten sie schließlich jene „wahre Philosophie“ aus, die von Herder der neumodischen Wortphilosophie entgegengestellt wird (worunter man sich die Kantsche vorzustellen hat). Theano spricht: „Wir sind Menschen und als solche, dünkt mich, müssen wir Gott kennen lernen, wie er sich uns wirklich gegeben und geoffenbart hat. Durch Begriffe empfangen wir ihn nur als Begriff, durch Worte nur als ein Wort; durch Anschauungen der Natur aber, durch den Gebrauch unsrer Kräfte, durch den Genuß unsres Lebens genießen wir ihn als wirkliches Dasein voll Kraft und Leben“ (765). Herder spricht auch von einem Evangelium der „ewigen Palingenesie“ (790), also der Wiedergeburt, und von einer „Theodizee der weisen Notwendigkeit“ (792), die er im Anschluß an Spinoza entwickelt, dabei auf Leibniz und Shaftesbury Bezug nimmt. Goethe übrigens, auf seiner Italienreise einer der ersten Leser dieses „Büchleins voll würdiger Gottesgedanken“, markierte als einen 137  In Weimar angekommen

„Hauptpunct“: „man nimmt dieses Büchlein, wie andre, für Speise, da es eigentlich die Schüssel ist. Wer nichts hinein zu legen hat, findet sie leer“ (1361). Daß Männer wie Jacobi, Lavater und Hamann damit nichts anzufangen wußten, wunderte ihn dementsprechend gar nicht. Für ihn selbst aber, als Künstler wie auch als Naturforscher, war Herders religionsphilosophische Arbeit von großer Bedeutung. Und Herder selbst? Er hatte ebenfalls in diese „Schüssel“ mancherlei hineinzulegen, was an dieser Stelle nicht ausgesprochen werden konnte. Offensichtlich ist der Bezug zu den Ideen. Das heißt, daß die dort ausgeführten Auffassungen über Natur und Geschichte in diesem Gefäß gewissermaßen aufgefangen werden. Wenn man das genauer vergleicht, wird man feststellen, daß Herders Grundsätze über Natur und Geschichte mit der von ihm in der Schrift Gott entwickelten Religionsphilosophie kompatibel sind. Ja, die konkreteren, empirischen Ausführungen erklären in mancher Hinsicht die abstrakteren, metaphysischen Vorgaben. Schwieriger ist dagegen die Frage, wie der Weimarer Superintendent die Lehre Spinozas mit dem positiven Christentum vereinbaren konnte. Nun, Herder arbeitete auf verschiedenen Ebenen daran, die Tradition des Christentums mit der Aktualität des Aufklärungsdenkens zu einem Ausgleich zu bringen. Hier hilft uns noch einmal Goethes Bild der Schüssel: In der Schrift Gott hatte Herder eine bestimmte Abstraktionsform der Welt als von notwendigen Gesetzen durchwaltete, von Gott geschaffene Einheit entworfen, in der sich Gott selbst durch Kräfte verwirklichte. Die positive Überlieferung des Christentums sah Herder, wie wir bei der Besprechung seiner theologischen Schriften gesehen haben, rein historisch. Das in der Heiligen Schrift Berichtete war für ihn in diesem Sinne ein Teil der Geschichte, der Menschengeschichte. In ­Goethes Bild gesprochen: Die Botschaft Christi war für Herder gerade das, was er als „Speise“ in diese „Schüssel“ hineinlegen konnte. Die Schüssel war aber auch (ohne diese Speise) für Atheisten wie Goethe brauchbar. Und sie sollte es für alle Menschen sein.

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6 DIE ITALIENISCHE REISE (1788/89)

VORAUSSETZUNGEN Eine Reise nach Italien war im 18. Jahrhundert ein kulturelles Gebot. Wirklich mitsprechen konnte nur, wer in Italien gewesen war. Seit langem schon hatte sich die Kavalierstour wesentlich auf Frankreich und Italien ausgerichtet und bürgerliche Bildungsreisen hatten sich an diesem prestigebefrachteten Kanon orientiert. ‚Italien‘ war eine Chiffre für ‚Kunst und Altertum‘. Daneben wurde es, infolge der neuen Sensibilität für Natur und Landschaft im späten 18. Jahrhundert, auch zu einem südlichen Sehnsuchtsort: Die alte Kultur suchte man in südlicher Natur; Neapel mit dem Vesuv im Hintergrund galt als schönste Stadt der Welt. Seit seiner Jugend war Herder schon an einer Italienreise gelegen gewesen. Nach seiner Abreise aus Riga hatte er durchaus auch die Möglichkeit gesehen, außer Frankreich, Deutschland und England Italien zu besuchen. Sein Dienstverhältnis beim Sohn des Fürstbischofs von Lübeck war er hauptsächlich mit Absicht auf eine Italienreise eingegangen. Doch die Gelegenheit hatte sich zerschlagen; Herder war nach Bückeburg und Weimar gekommen, hatte eine immer mehr anwachsende Familie gegründet. Die Italienreise

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war in weite Ferne gerückt, war fast ein Ding der Unmöglichkeit geworden. Als Herder aus heiterem Himmel eine Einladung zu einer Italienreise erhielt, mußte ihm dies wie ein göttliches Geschenk, wie eine Befreiung vorkommen. Ein katholischer Kleriker, der Trierer Domherr Johann Friedrich Hugo von Dalberg, der sich als Komponist und Musikschriftsteller betätigte, hatte Herder das großzügige Angebot unterbreitet, ihn auf seine Italienreise mitzunehmen. ­Wahrscheinlich sah Herder auch eine Möglichkeit, einen Mann der katholischen Elite aus altem Reichsadel zu beeinflussen und mit seinen Ideen zu erfüllen. Kurz: Er nahm das Angebot an. Unter die Voraussetzungen gehört auch, daß Herders Ehe in jener Zeit, wie es scheint, in einer eher unerfreulichen Epoche angekommen war. Und die Familie, die ihm so wichtig war, bedeutete 1788 eher eine Quelle der Sorge: Sein sechster Sohn Alfred, vier Monate alt, war genau an dem Tage gestorben, als Dalberg in Trier seinen Einladungsbrief schrieb. Und Herders waren auf eine pietistisch geprägte Weise religiös. Für sie war Dalbergs Brief deshalb ein göttlicher Fingerzeig. Die vielleicht wichtigste Voraussetzung für die Entscheidung des Weimarer Superintendenten, mit 44 Jahren, als er sich längst als Greis fühlte, eine solche Reise zu unternehmen, war Goethes Italien­ begeisterung. Goethe war bekanntlich im Herbst 1786 fluchtartig nach Italien aufgebrochen; von dort schrieb er begeisterte Briefe nach Weimar, schwärmte von einer ‚Wiedergeburt‘ und intonierte die Winckelmann-Weise. Goethe war im Sommer 1788 gerade aus Italien zurückgekehrt; wenige Wochen später brach Herder mit ­Dalberg auf. Goethe hatte vorgelebt, daß eine Italienreise eine Fluchtmöglichkeit bieten konnte. Damals ahnte Herder noch nicht, was er einige Monate später drastisch formulieren würde: „Ich bin nicht G[oethe]!“ (MH, 209)

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HERDERS ITALIENISCHE REISE In Herders ersten Briefen von der Reise vernimmt man Echos auf die Goetheschen Leitmotive (‚Wiedergeburt‘). Allerdings nimmt bald Skepsis überhand. In den Briefen an die zu Hause gebliebene Ehegattin erscheint Frau von Seckendorf mit ihrer Launenhaftigkeit und bildungsmäßigen Unbedarftheit als Störenfried. Freilich darf man bezweifeln, daß Herder überhaupt in der Lage war, Goethes geglückte Flucht nachzuvollziehen: Schließlich reiste er nicht inkognito, sondern wurde als ‚Bischof von Weimar‘ aufgenommen. Damit waren gesellschaftliche Pflichten verbunden, vor allem aber Kosten. Herder war es zwar gelungen, für einige Monate hinter dem Schatten der Weimarer Stadtkirche hervorzukommen und seine Kirchenund Schulpflichten hinter sich zu lassen; es fehlte ihm aber Goethes glückliche Natur und die Fähigkeit, sich in jede Lage zu schicken. Er konnte seinen künstlerischen Interessen nachgehen, die sich vor allem auf die Bildhauerei richteten, aber er war kein ausübender Künstler wie Goethe. Als er sich schließlich im Verdruß von Dalberg trennte und Anschluß an Anna Amalias Hofgesellschaft, die 1789 ebenfalls in Italien weilte, fand, besserte sich die Stimmung etwas. Aber Goethes Ausbruch, seine Entdeckung der Sinnlichkeit und der eigenen Sexualität, blieb Herder wesensfremd: „Wo alles sinnlich ist, wird man unsinnlich; man sucht mit seiner Seele etwas, das man mit den Sinnen nicht findet“ (MH, 334). Herder war wirklich ein Familienmensch; er litt unter der Trennung von seinen Kindern; in seiner Ehekrise und Verstimmung suchte er sich bei Angelika Kauffmann zu trösten, was wiederum seine zu Hause gebliebene Frau zur Eifersucht reizte, deren nahes Verhältnis zu Goethe als Berater umgekehrt den abwesenden Herder verstimmte. Hinzu kamen Differenzen in der künstlerischen Entwicklung. Goethes Italienerlebnis verband sich für ihn mit der Idee vom Kunstwerk als dem ‚in sich selbst Vollendeten‘, wie sie Karl Philipp Moritz ausgearbeitet hatte, dessen Programmschrift Über die bil-

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dende Nachahmung des Schönen ihm in Rom von ihrem Autor vorgelesen worden war und die nicht zufällig in Goethes spätere Italienische Reise aufgenommen wurde. Herder kämpfte gegen eine solche Verselbständigung der Kunst zu einer eigenen und in sich abgeschlossenen Welt, die mit der Wirklichkeit nur noch symbolisch in Verbindung steht, und stellte ihr seine Auffassung von der Kunst als ,Kodex der Humanität‘ entgegen. In dieser Absicht durchforschte er nun die reichen Skulpturensammlungen des Museo Pio-Clementino im Vatikan, der Kapitolinischen Museen, der Villa Borghese und anderer Privatkabinette. Zahlreiche Beschreibungen von Kunstwerken zeugen von seinem Eifer und geben zu erkennen, wie Herder Kunst sah und deutete. Entscheidend ist dabei die bereits in der Plastik vorgeführte Betonung des taktilen Wahrnehmungsvermögens für die Bildhauerkunst. Herder nahm sie, wie er in den Briefen zu Beförderung der Humanität schreibt, als „Denkbilder reiner Formen der Menschheit“ (FA 7, 389) wahr. Mehr als Rom bedeutete Neapel für Herder: Dies war seine Sehnsuchtslandschaft, ein mildes Klima, klassisch angereichert um die Reste Großgriechenlands. Herder zog aus seiner Reise in den Süden ganz andere Schlüsse als Goethe: „Ich fürchte, ich fürchte, Du taugst nicht mehr für Deutschland; ich aber bin nach Rom gereist, um ein echter Deutscher zu werden“ (MH, 293). Das Italienerlebnis bewirkte bei Herder keine ‚Wiedergeburt‘, wohl aber eine Auseinandersetzung mit Italien einerseits und den Weimarer Lebensverhältnissen andererseits. Er erfuhr ‚Arkadien‘, zog sich aber fortan bewußt zurück nach ‚Cimmerien‘. Die Italienreise hatte (wie die große Reise mit dem Erlebnis Frankreich) zu seiner Identitätsfindung beigetragen; er wurde sich um so klarer bewußt: „[I]ch bin ein Nordliches Wesen“ (MH, 414).

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DIE LETZTE CHANCE: ERNEUT EIN RUF NACH GÖTTINGEN Während seiner Italienreise erreichte Herder im März 1789 erneut und völlig unerwartet ein Ruf nach Göttingen, vermittelt durch seinen alten Freund Christian Gottlob Heyne, als ordentlicher Professor der Theologie und erster Universitätsprediger. Nach Lage der Dinge mußte ihn dieser Ruf der damals angesehensten Universität Deutschlands mit besonderer Befriedigung erfüllen, da seine erste Berufung dorthin unter so sonderbaren Umständen hintertrieben worden war. Herder grübelte, je länger er sich in Italien aufhielt, desto mehr: über sein sonderbares Lebensschicksal und über den Zweck seiner weitgehend fehlgeschlagenen Italienreise. Was hätte ihn denn in Weimar halten können? Die Gnade der Fürsten sei prekär; „überhaupt ist ja für uns eigentlich keine Sphäre in W[eimar]. Wir sind einsam u. werden es mit jedem Jahr mehr werden. […] Ich traue mir wohl zu, wieder anfangen zu können; aber anzufangen, wo ichs gelassen habe, um in W[eimar] begraben zu werden, scheint mir schwer. Und doch müßte ich dies nicht, wenn ich dies ausschlüge? Wird, kann mir je ein Antrag wieder so werden? […] Viel besser, zu versuchen u. zu wandern. Einmal muß es doch gewandert sein; warum nicht jetzt, da es noch Zeit ist. Und wozu, kommt mir ein, hat der Himmel eben meine sonderbare Reise verhängt, als um mich abzuschütteln, abzustreifen u. zu einer neuen Situation zu gewöhnen? Zu nichts anderm. Und gerade kommts jetzt vor meiner Rückreise zu rechter Zeit, nicht früher, nicht später“ (MH, 408 f.). Die in rätselhafter Weise vom Himmel gefallene und später ebenso mysteriös verkorkste Reise schien Herder nun ein Wink der Vorsehung, sich von Weimar zu lösen und sich auf eine neue Laufbahn vorzubereiten. Herder war geneigt, Weimar und Thüringen hinter sich zu lassen; Caroline unterwarf sich zwar in allem seinem Willen, war aber stärker in der Stadt verwurzelt. Diejenigen, welche Herder für Wei-

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mar erhalten wollten: Goethe und die Herzogin Luise, wußten, wo sie ihre Hebel ansetzen mußten. Carl August bot eine Gehaltserhöhung und eine Ermäßigung der Arbeitslast des Generalsuperintendenten und ernannte ihn zum ‚Vice-Präsidenten im Ober-Consistorium‘. Die Schulden Herders wurden diskret getilgt. Caroline wurde eine ansehnliche Witwenpension ausgesetzt und für die fünf Söhne wurde eine Ausbildungsbeihilfe versprochen. Fürs erste schienen die Anstrengungen des Herzogs so bedeutend, daß Herder gar nicht mehr anders konnte, als ein so ehrenvolles Angebot anzunehmen. Er ließ sich also wieder ins Weimarer Joch spannen, wenngleich etwas mißmutig; er resignierte und verzichtete darauf, noch einmal ein neues Leben als Professor in Göttingen anzufangen. Diese Entscheidung erwies sich als definitiv; die Chance, in einem erweiterten Wirkungskreis neu zu beginnen, erhielt Herder nicht noch einmal. Er sollte 14 Jahre später in Weimar begraben werden.

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7 WEIMAR: DIE SPÄTZEIT (1789 –1803)

BRIEFE ZU BEFÖRDERUNG DER HUMANITÄT (1793 –1797) Herder hatte schon in seinem Reisejournal von 1769 von einer Zeitschrift für die Menschheit geträumt, damals unter dem Titel Jahrbuch der Schriften für die Menschheit. Der geplante fünfte Teil der Ideen war steckengeblieben angesichts der Zensurprobleme. Wie weit konnte sich ein Superintendent im Umfeld von ‚1789‘ politisch äußern? Sein Zeitschriftenprojekt Briefe zu Beförderung der Humanität sollte einerseits den revolutionären Fortschritt festhalten, konnte andererseits natürlich nicht mit den politischen Tagesschriften konkurrieren. ‚Humanität‘ war in diesem Sinne auch eine Deckformel für ‚Ertrag der Revolution‘. In den Jahren 1793 bis 1797 erschienen in lockerer Folge nicht weniger als zehn Sammlungen mit insgesamt 124 Briefen unter diesem Titel. Sie enthalten viele fremde Texte, insofern Herder die gesamte Geschichte mustert in bezug auf die Fortschritte der Humanität. In gewisser Weise knüpfen sie an die Ideen an, nämlich insofern, als hier ein Schwerpunkt auf der Kulturgeschichte der neuzeitlichen Jahrhunderte liegt. Mit der ‚Humanität‘, wie Herder sie versteht, hat er sich

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einen universalen Gegenstand gewählt: Alles den Menschen Betreffende, also Literatur, Kunst, Philosophie – schlechterdings alles kann hier besprochen werden. Mehr noch als in früheren Schriften herrscht hier ein Prinzip der Collage, der arrangierenden Sammlung: Weil Herder hauptsächlich eigene Gedanken anregen will, trägt er Heterogenes zusammen, welches aber immerhin in eine gemeinsame Perspektive gerückt wird durch den Titel und das Anliegen: Humanität. Intensiv hat Herder vor allem im Jahr 1792 an diesem Projekt gearbeitet. Hier war der politische Kontext besonders deutlich. Von Juni bis August 1792 weilte Herder drei Monate in Aachen zur Kur, in einer Gegend mithin, welche in engem Kontakt mit der Französischen Revolution stand und von den zeitgenössischen Auswirkungen direkt betroffen war. 1792 ereigneten sich in Paris die ‚Septembermorde‘. Am 20. September erfolgte die Kanonade von Valmy mit dem ersten Sieg der Revolutionstruppen gegen die Invasion, an der auch Goethe teilnahm. Am 22. September wurde in Frankreich die Republik ausgerufen. Am 29. Dezember 1792 gab Herder die 24 ersten Briefe an seinen Freund Knebel zur Begutachtung, der sie ihm schon am folgenden Tag zurückreichte. Im Januar 1793 freilich wurde der französische König hingerichtet. Dies empfand man allgemein als Einschnitt. Wer jetzt noch für die Französische Revolution eintrat, unterstützte die Königsmörder. Auch in Weimar begann ein Prozeß des Umdenkens. Herder mußte vorsichtiger agieren. Die ersten 24 Briefe wurden umgeschrieben und entschärft. Der Begriff ‚Humanität‘ ist für Herder bedeutungsgleich mit ‚Menschheit‘. Unter ‚Menschheit‘ stellt er sich das Proprium des Menschen vor, also im Gegensatz zum Tier und anderen Geschöpfen. ‚Menschheit‘ ist aber zugleich die Gesamtheit aller Menschen in ihrer Generationenfolge vom Anfang bis heute. Dementsprechend ist ‚Humanität‘ nicht eingeschränkt auf die guten und freundlichen Eigenschaften eines Menschenwesens, sondern meint das ganze Menschsein, einschließlich des Bösen und Unvollkommenen. Insbesondere ist aber ‚Humanität‘ nicht eine auszeichnende Eigen-

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schaft eines Einzelmenschen, sondern vielmehr sein Verhältnis zur Gesamt­heit der Menschen, das, was einer mit allen anderen gemeinsam hat. Alle Aussagen Herders müssen in diesem Bezugsfeld von Individuum und Gesamtheit gesehen werden. Auch ‚Perfektibilität‘ kann doppelt ausgelegt werden: in bezug auf die Gesamtheit und den einzelnen. Perfektibilität des einzelnen bedeutet Individualisierung, das heißt Entwicklung eines Optimums aus den ihm gegebenen Kräften. Perfektibilität der Gesamtheit entwickelt sich im komplexen Zusammenwirken aller Individuen. Diese ‚Perfektibilität‘ ist prozeßhaft zu denken: immer unterwegs, immer in Entwicklung. Das menschliche Leben ist von Anfang bis Ende ‚Erziehung‘. Es gibt Individuen nur im Zusammenleben mit anderen, nur so können sie erzogen werden, sich entwickeln, selbst erziehen. Der Gesellschaftszustand des Menschen hat diesen doppelten Zweck: den einzelnen vollkommen auszubilden und seine Kräfte wiederum zum Fortgang des Ganzen einzubinden. Der Tod eines Individuums ist deshalb keine völlige Vernichtung, weil seine Leistung für die anderen Menschen zurückbleibt. „Menschen sterben, aber die Menschheit perenniert unsterblich“ (FA 7, 125). Obwohl in diesen Thesen das Wort ‚Kultur‘ nicht vorkommt, wird hier der Mensch als Kulturwesen definiert: „Denn die Natur des Menschen ist Kunst“ (126). Gerade durch seine Entäußerung, durch alles, was er schafft, trägt der Mensch zu einer Kunstwelt bei, zu einer Dingwelt der Artefakte. Die Kette der Wesen bedeutet auch eine Kette der Erfindungen: Aus der Not, aus dem Streben nach Überleben und Dienstbarmachung der Natur, entstehen fortwährend Artefakte, die durch ihr bloßes Vorhandensein die Menschheit auf ein neues Niveau heben: „Eine Erfindung weckt die andre auf; Eine Tätigkeit erweckt die andre.“ Es entsteht ein agonales System, ein „Wettkampf menschlicher Kräfte“, welcher die Menschheit insgesamt voranbringt, wenn auch nicht in geradlinigem Fortschritt. Der Zusammenschluß gesellschaftlicher Einheiten ist agonal auf die Entwicklung der Menschheit bezogen. Herder setzt auf Kulturkontakt,

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will aber auch Kulturkonflikt nicht ausschließen: „Ein Konflikt aller Völker unsrer Erde ist gar wohl zu gedenken“ (127). Nach außen zeigt sich der Fortschritt des Menschengeschlechtes in zunehmender Bemeisterung der Natur; dem muß auf der Innenseite eine zunehmende Bemeisterung der Leidenschaften entsprechen. Als abstrakte Richtgröße dafür benennt Herder die ‚Vernunft‘, der er in bezug auf das Handeln ‚Billigkeit und Güte‘ entsprechen läßt, also Gerechtigkeit und Wohlwollen (128). Negative Eigenschaften müssen zur Entwicklung des Ganzen dienen. Herders Ethik hängt also aufs engste mit seiner Politik zusammen. Harmonie von Politik und Ethik ist sein Ideal. Es soll keine Politik geben, welche den Menschen nur zum Zweck macht, und keine Ethik, welche nur das Individuum zum Zweck erklärt. Hier kommt nun das Christentum ins Spiel. Religion dient der Beförderung der Humanität: „Je reiner eine Religion war, desto mehr mußte und wollte sie die Humanität befördern.“ Das bedeutet, daß die Religion nicht ein Zweck an sich ist, sondern nur ein Mittel zum Zweck, nämlich zur Vollendung der Humanität. Das bedeutet auch, daß Herder durchaus mit verschiedenen Religionen rechnet, die diesem Zweck dienen können. Allerdings gibt er dem Christentum insofern den Vorzug, als es der Entfaltung der Humanität am besten dient. Dabei sind freilich die Nuancen mitzulesen: Herder bezieht sich nicht etwa auf die Kirchen und Konfessionen seiner Zeit, sondern auf das Urchristentum: „Die Religion Christi, die Er selbst hatte, lehrte und übte, war die Humanität selbst“ (130). Damit ist also zugleich die Religion in ihre Schranken gewiesen, wie der Staat in seine Schranken gewiesen wird. Die Vergötterung des Staates setzte erst mit Hegel ein; sie kulminierte im 20. Jahrhundert. Herder ist von dieser Verblendung noch frei. Sein Ideal ist nämlich die ‚Humanität‘. Und die Humanität hat zwei Seiten: das Individuum und die Gesamtheit der Menschen. Ein Staat, der die Individuen unterdrückt und ihre Kräfte sich nicht entfalten läßt, ist auf keine Weise zu rechtfertigen. Auch ‚Volk‘ und ‚Nation‘, bei deren Propagierung man sich

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später oft auf Herder berufen hat, können nur mit Bezug auf die Entfaltung der Humanität verstanden werden; sie dürfen nicht mißbraucht werden, um eine Überlegenheit über andere zu behaupten und durchzusetzen.

WAS HERDER NICHT ZU VERÖFFENTLICHEN GEWAGT HAT Ob ihm Knebel abgeraten hat oder ob ihm selber Bedenken gekommen sind: Mehrere der Humanitätsbriefe, die Herder vor dem Druck ausgeschieden hat, haben sich im Nachlaß erhalten und sind inzwischen veröffentlicht worden. Dabei fällt auf, daß sie mit verschiedenen Buchstaben gezeichnet sind: Herder hatte offenbar anfangs geglaubt, durch die Fiktion unterschiedlicher Briefschreiber die Botschaft eher gangbar zu machen. Er wäre nicht als Autor für seine Meinung haftbar gewesen. Trotzdem formulierte er zumindest solche Ansichten, die ihm diskutierbar schienen – und wohl auch seinem eigenen Meinungsspektrum entsprachen. Der Verzicht auf Veröffentlichung ist am begreiflichsten im Falle der prononcierten Stellungnahmen zur Französischen Revolution und zum System der Erbmonarchie. Immerhin stand er im Dienst eines solchen Erbmonarchen, der gerade gegen die Französische Revolution zu Felde zog. Im ausgeschiedenen 10. Brief fällt zunächst das starke Bewußtsein ins Auge, das damals in Deutschland unter Gebildeten recht verbreitet war, die Französische Revolution sei ein Ereignis von welthistorischem Rang, nicht nur irgendeine politische Begebenheit. Herder denkt nach über ähnliche Epochenereignisse, und da drängt sich ihm die Feudalisierung und Christianisierung des frühmittelalterlichen Europas auf, der Übergang aus der romanischen in eine germanisch-romanische Welt im Zuge der Völkerwanderung. Geschickt baut er dann die Reformation als Zwischenglied seines Geschichtsbildes ein: Die Protestanten haben in Kirchensachen

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schon im 16. Jahrhundert mit dem Feudalismus reinen Tisch gemacht durch ihre Säkularisationen, Klosterauflösungen, Abschaffung des Zölibats und des Pfründenwesens. „Die protestantischen Länder sind fortgeschritten; die zurückgebliebenen wollen und müssen nach; gelingt der Gang nicht auf rechtmäßigen Wegen, so kann es nicht fehlen, daß er auf den gewaltsamsten Abwegen versucht werde“ (766). Dieses Argument ist ambivalent: Man kann es so lesen, daß eine Revolution in den protestantischen Staaten gar nicht mehr nötig ist; man kann es aber auch als Rechtfertigung der Revolution verstehen. Nach Herders Ansicht sind Lehenssystem und Erbadel nebst Erbmonarchie unzeitgemäß geworden. Weil das Wort ‚Demokrat‘ damals in Verruf geraten war, weicht Herder aus auf seine eigene Wortschöpfung ‚Aristodemokrat‘, die freilich nicht weniger revolutionär ist. Offenbar denkt sich Herder darunter so etwas wie eine ‚Herrschaft der Besten‘, jedenfalls nicht durch Erbe, sondern Leistung ausgewiesener Eliten. Herder spricht sich für Wettbewerb und freie Entfaltung des Individuums aus. Was hier hinderlich ist (beispielsweise Erbadel oder absolutistische Herrschaftsgewalt), will er beseitigt wissen. Dies ist klar revolutionär. Und durch die Einbettung in seine umfassenden geschichtsphilosophischen Vorstellungen, welche dem Gang der Geschichte eine Art von Notwendigkeit zusprechen, wird die Sache nicht besser, weil sich so zeigt, daß das zunächst so konservativ scheinende, religiös angeleitete Geschichtsdenken zur Legitimation einer Revolution herangezogen werden konnte. Auch in weiteren Briefen dieser Folge arbeitet sich Herder an dem Problem der Französischen Revolution, ihrer Auswirkungen und ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Menschheit ab. Er glaubt zu erkennen, „daß gewisse alte Äste der Verfassung zu unsrer Zeit nicht so viel Kultur mehr erhalten als ehmals: man fühlt, daß sie dürre Äste sind, und wünscht junge Sprossen an ihre Stelle. – So ists mit dem geistlichen, selbst dem wissenschaftlichen, und manchem andern Stande“ (776). Er spricht sich auch gegen das europäische Staatensystem und die Gleichgewichtsdoktrin aus, gegen das „barbarische

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Kriegs- und Eroberungssystem“: „Wenn das ist, so gehe zum Frieden der Menschheit das unglückselige Europa unter! Hat es nicht lange gnug der Religion oder der Familiensukzession wegen unsinnige Kriege geführet? Triefen nicht alle Weltteile vom Blut derer, die es erschlug, vom Schweiß derer, die es als Sklaven quälte? Auf den Tafeln der Natur stehet das große Gesetz der Billigkeit und Wiedervergeltung geschrieben: ‚es mache gut, was es böse gemacht hat, oder es büße durch seine eignen Verbrechen und Laster‘“ (777 f.). Dieses pazifistische Argument wird hier nicht gegen die Franzosen der Revolution gewendet, sondern gegen die gegenrevolutionären Mächte, welche sich zur Intervention in Frankreich entschlossen hatten. Im ausgeschiedenen 16. Brief erhebt sich die Gegenstimme, die wissen will, was der Glaube an die „Vervollkommnung der Dinge um uns her“ etwa mit der Französischen Revolution zu tun haben könnte – „dies fürchterliche und in seinen Folgen so schauderhafte, wenigstens noch so zweifelhafte französische Übel!“ (778 f.) Hier wird verwiesen auf bessere Bildung durch bessere Erziehung – nicht gerade eine Stärke der Revolution. Es ist die Rede vom „Schwindelgeist der Freiheit“; Herder ahnt bereits „die wahrscheinlich daher entstehenden blutigen Kriege der Völker und Regenten“ (779). Mit dieser Anfrage wurde auch die Antwort im 17. Brief ausgeschieden, in dem die Französische Revolution als großes welt­ historisches Ereignis aufgefaßt wird. Aber wie sollen sich die Deutschen zu dem einstellen, was sich in Frankreich tut? „Wir können der französischen Revolution wie einem Schiffbruch auf offnem, fremden Meer vom sichern Ufer herab zusehen, falls unser böser Genius uns nicht selbst wider Willen ins Meer stürzte“ (782). Frankreich handelt gewissermaßen stellvertretend für ganz Europa. Der Schreiber dieses Briefes äußert sich hämisch über den französischen Kultureinfluß des 17. und 18. Jahrhunderts: Die Nachahmung der Franzosen durch den deutschen Adel und die Höfe hat die paradoxe Situation gewissermaßen vorbereitet, die nun entstanden ist: Die französisierten Deutschen ziehen gegen die Französische Revolution, um deren Auswirkung

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auf Deutschland zu verhindern. „Meines Wissens ist kein Deutscher ein geborner Franzose, der Verpflichtung und Beruf habe, für die alte Ehre des Königs der Franzosen auch nur einen Atem zu verlieren. […] Die Franzosen haben Deutschland seit Jahrhunderten nie anders als Schaden gebracht; sie haben viel zu vergüten […]. Wir wollen an und von Frankreich lernen; nie aber und bis zur letzten großen Nationalversammlung der Welt am jüngsten Tage wird Deutschland ein Frankreich werden wollen und werden“ (784). Der 18. Brief schließlich spricht sich eindeutig dafür aus, die Revolution der Franzosen als stellvertretendes Tun für die ganze Menschheit zu sehen. Auf die Frage: „Welches ist die bessere Verfassung, die sich Frankreich gibt und zu geben vermag?“, lautet die unmißverständliche Antwort: ‚Republik‘, nicht etwa ‚gemäßigte Monarchie‘ (785). Die neuen Verhältnisse in Frankreich führen zu einer allgemeinen Erneuerung, auch in den Künsten und Wissenschaften: „[…] eben diese werden bei allen Klassen des Volks in Bewegung gesetzt, und an den wichtigsten Gegenständen des menschlichen Wissens jetzt mächtig geübet. […] Wer sprechen kann, spricht und wird von Europa gehört. Kinder und Jünglinge empfangen diesen Eindruck, und die zweite Generation wird gewiß weiter sein, als die erste war. Die Buchdruckerei feiert nicht, und Männer von entschiednem Wert in Betreibung der Wissenschaften sind mit andern jetzt an der Spitze der Geschäfte. In ruhigern Zeiten werden sie zu ihren Musen wiederkehren, nachdem sie in stürmischen Zeiten den Göttern des Vaterlandes Gefahrvolle Opfer gebracht haben. Lassen Sie die alte Schönrednerei auf Kanzeln und Richterstühlen, in Akademien und auf der tragischen Bühne sterben; mich dünkt, wir haben alle Meisterstücke, deren diese Gattungen fähig waren, schon in Händen, und manche Gattung hatte sich bereits selbst überlebet. Eine neue Ordnung der Dinge fängt jetzt auch in diesen Künsten an; Wort werde Tat, die Tat gebe Worte“ (788). Es sei betont, daß solche Äußerungen jeweils durch Buchstaben eigenen Sprechrollen zugeteilt sind; wir müssen sie also nicht als

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direkte Aussagen über Herders Meinungen auffassen. Andererseits ist unübersehbar, daß Herder, hätte er diese Briefe publiziert, mit solchen Meinungen identifiziert worden wäre. Er hätte sich zu sehr exponiert und damit in Gefahr gebracht.

ÜBER DIE MENSCHLICHE UNSTERBLICHKEIT (1791) In der von Goethe und Anna Amalia 1791 gegründeten Freitagsgesellschaft trug Herder am 4. November 1791 eine kurze Rede Über die menschliche Unsterblichkeit vor, welche auf wenigen Seiten Herders Kulturtheorie resümiert. Entgegen dem, was der Titel vielleicht vermuten läßt, geht es nicht um die persönliche Unsterblichkeit eines Menschen, sondern darum, wie es innerhalb der Kultur der Menschheit möglich ist, einen eigenen Beitrag zur Geltung zu bringen. Die Anfangspassagen beschäftigen sich mit der ‚Unsterblichkeit‘ der Dichter, auf die beispielsweise die alten Römer wie Horaz setzten. Herder nennt sie eine „Kunst-Unsterblichkeit“, eine Frage des Nachruhms (FA 8, 203). Ähnlich ist es mit der historischen ‚Unsterblichkeit‘ von Fürsten und Feldherren: Sie ist sehr relativ, nämlich an funktionierende Überlieferung gebunden. Je älter die Geschichte des Menschengeschlechtes wird, desto schwerer wird es für einen einzelnen – selbst bei großen Taten –, sich in der großen Masse der Überlieferung noch geltend zu machen. Alexander und Caesar werden immer größer erscheinen als Friedrich der Große. Nach diesem Vorspann kommt Herder auf das Wesentliche: „Sollte es nicht eine andre Unsterblichkeit geben, die uns nicht geraubt werden kann, ja auf die uns eben jene der Kunst, Geschichte und Dichtkunst als ein jugendlicher Traum selbst hinwies? Es wäre sonderbar, daß was seiner Natur nach wahrhaft unsterblich ist, uns von Zeiten, Menschen und Schicksalen geraubt werden könnte; die Götter selbst können es nicht rauben. – Unsterblich nämlich und allein unsterblich ist, was in der Natur und Bestimmung des Men-

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schengeschlechts, in seiner fortgehenden Tätigkeit, im unverrückten Gange desselben zu seinem Ziel, der möglichstbesten Ausarbeitung seiner Form wesentlich liegt; was also seiner Natur nach fortdauren, auch unterdrückt immer wiederkommen, und durch die fortgesetzte, vermehrte Tätigkeit der Menschen immer mehr Umfang, Haltung und Wirksamkeit erlangen muß: das rein-Wahre, Gute und Schöne“ (FA 8, 206 f.). Von Herders Religionsphilosophie ausgehend, können wir voraussetzen, daß sich Gott im Menschengeschlecht verwirklicht. Die Anlagen, die in diesem vorhanden sind, müssen sich entwickeln; sie müssen Form werden. Während sich in einem Individuum immer nur Grade der Perfektion zeigen, strebt das ganze Menschengeschlecht zu seiner Vollendung im Wahren, Guten und Schönen. Die menschliche Unsterblichkeit (in dem hier eingeführten Sinne genommen) besteht also im Beitrag des einzelnen zum Ganzen. Dies zeigt Herder zunächst an der Sprache, seinem Leitthema. Erfindungen kommen hinzu, Maximen und Sitten. Also Technik und Ethik, um es abstrakt zu fassen, ermöglichen ebenfalls bleibende Beiträge zum Werk der Menschheit und sorgen dafür, daß die jeweils Neugeborenen eine neue Welt vorfinden, eine Welt auf neuem Niveau. Wiederum argumentiert Herder mit Bild und Denkform der ‚Kette‘, die wir schon kennen. Nicht nur biologisch gibt es einen Zusammenhang des Menschengeschlechtes, sondern auch kulturell, nämlich durch die Überlieferung der Sprache, der Erfindungen, Maximen und Sitten. Das Rad braucht nicht immer neu erfunden zu werden; wer nach seiner Erfindung auf die Welt kommt, kann es bereits benutzen und die Wirkungen potenzieren. Hier ist es nun wichtig zu sehen, daß Herder keineswegs nur an die großen Leistungen der Technik oder der Dichtkunst denkt, sondern diese „Kette der Wirkungen“ (208) ganz elementar in jedermanns Alltag ansetzen läßt: „Noch in einem höhern Grade wirken so auf uns die Leidenschaften, Lebensweisen und Sitten der Menschen, insonderheit derer, mit denen wir täglich umgehn; die wir

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hassen oder lieben; verabscheuen oder verehren. Gegen jene empört sich unser Gemüt, die Eindrücke dieser gehen sanft in unsre Natur über. Wir gewöhnen uns an des andern Wort, Miene, Blick, Ausdruck so, daß wir solche unvermerkt in uns nehmen und auf andre fortpflanzen. Dies ist das unsichtbare magische Band, das sogar Gebärden der Menschen verknüpft; eine ewige Mitteilung der Eigenschaften, eine Palingenesie und Metempsychose ehemals eigner, jetzt fremder, ehemals fremder, jetzt eigner Gedanken, Gemütsneigungen und Triebe. Wir glauben allein zu sein und sinds nie: wir sind mit uns selbst nicht allein; die Geister andrer, abgelebter Schatten, alter Dämonen, oder unsrer Erzieher, Freunde, Feinde, Bildner, Mißbildner, und tausend zudringender Gesellen wirken in uns. Wir können nicht umhin, ihre Gesichte zu sehn, ihre Stimmen zu hören; selbst die Krämpfe ihrer Mißgestalten gehen in uns über“ (209 f.). Die „Mittel“ des Menschen, seine „Werkzeuge“ und „Symbole“, sind „vorzüglich Sprache, Schrift, Wissenschaft, Kunst, und die Kunst der Künste, Gesetzgebung und Staatseinrichtung“ (215). Es erschließt sich nicht leicht, wie Herder hier von ‚Symbolen‘ sprechen kann. Allerdings läßt sich assoziieren, daß eine der wichtigsten modernen Kulturtheorien, diejenige von Ernst Cassirer, auch in diesem Punkt auf Herder fußt. Auch Cassirer nennt Sprache als erste seiner ‚symbolischen Formen‘, sodann Religion und Mythos, Wissenschaft und Kunst sowie Geschichte. Herder, der Schöpfer des Historismus, sieht das geschichtliche Denken noch nicht als eigenes Werkzeug. Daß er die Religion nicht nennt, läßt sich wohl auf seine Wirkungsabsicht zurückführen (Goethe und Anna Amalia!). Der Gedanke, daß die Gestaltung des Sozialen und Politischen, des Rechts, gewissermaßen die höchste Form der Kunst ist, stammt übrigens von Kant. „Schrift und Buchdruck“ lassen sich leicht der Funktion ‚Sprache‘ zuordnen; hier könnte man Herder besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat, indem man Institutionen und Medien herausarbeiten würde. Poetisch endet Herder mit einem Bild des Lichtes. – Wir erinnern uns an die Nähe der Begriffe ‚Kultur‘ und ‚Aufklärung‘ bei

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Herder und an seine johanneische Devise Licht, Liebe, Leben. Sein tragender Begriff des ‚Daseins‘ konnte gewissermaßen spiritualisiert werden durch die Metaphorik des Lichtes. So anspruchslos und übersichtlich Herders kurze Rede mit Nachschrift erscheint – hier kann man erleben, wie die anthropologische Wendung seiner Frühzeit sich kulturgeschichtlich verbindet mit seiner spinozistischen Religionsphilosophie. Wenn uns oben noch Sätze irritieren konnten wie: „Kein Tod ist in der Schöpfung“, werden sie hier in der Rede Über die menschliche Unsterblichkeit plötzlich kontextualisiert. Was in den uferlosen Stoffmassen der Humanitätsbriefe verschüttet werden konnte: Hier tritt es klar heraus.

VERSTAND UND ERFAHRUNG. EINE METAKRITIK ZUR KRITIK DER REINEN VERNUNFT (1799) Zwei wichtige Impulse hatte Herder in seiner Königsberger Zeit aufgenommen: Kant und Hamann. Diese beiden bildeten gewissermaßen einen Widerspruch in Herder selbst. Als Kant 1781 seine Kritik der reinen Vernunft herausbrachte, setzte Hamann dagegen ein kurzes, aber fundamentales Papier auf mit dem Titel Metakritik über den Purismum der Vernunft, das Herder bekannt war, aber damals nicht veröffentlicht wurde. Hamann und Herder gemeinsam war die Ablehnung der Vorstellung, es könne eine ‚reine Vernunft‘ geben. Für sie war menschlicherweise alles in Sprache gekleidet; aus der Sprache kann kein Mensch aussteigen. Mit seiner Kritik an Herders Ideen in der Jenaischen Allgemeinen Litteraturzeitung hatte Kant seinem ehemaligen Schüler selbst den Fehdehandschuh hingeworfen. Trotzdem hätte sich diese Fachkontroverse nicht unbedingt ausweiten müssen. Der Weimarer Oberkonsistorialrat hätte den Königsberger Philosophieprofessor seine Theorien vertreten lassen können, ohne sich weiter darum zu

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kümmern. Daß dies für Herder unmöglich war, hat neben theore­ tischen Gründen auch lebensweltlich-praktische. In Jena hatte sich seit der Konversion von Wielands Schwiegersohn Karl Leonhard Reinhold eine Kant-Schule gebildet. Die Universität Jena wurde zunehmend mit dem Kantianismus assoziiert. Seit Fichtes Auftreten war das besonders plakativ: In Herders Augen erschien Fichte gewissermaßen als ein übersteigerter Kant, ein Beispiel dafür, was auf die Welt zukam, wenn man in Kants Bahnen fortdachte. Die Auswirkungen der Lehre an der Jenaer Universität verspürte Herder ganz direkt in den Kandidatenexamina: wenn jemand einzustellen war für Kirche und Schule. Hier schlug ihm die neue Lehre direkt ins Gesicht. Ein weiterer Grund lag in Kants theoretischer Grenzüberschreitung hinsichtlich der Religion. Kant hatte 1793 als Konsequenz aus seiner kritischen Wendung eine Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft veröffentlicht. Herder antwortete darauf in seiner Sammlung Christliche Schriften 1798; Kants gewissermaßen altlutherische Vorstellung vom ‚radikalen Bösen‘ war dabei der Hauptpunkt der Differenz. Wenn die neue kritische Philosophie solche orthodoxen Lehren neu einführte und über die Absolutsetzung der Vernunft gewissermaßen eine neue ‚Schwärmerei‘ begünstigte, sah Herder sein Projekt der Aufklärung und Humanität bedroht. Deshalb wollte Herder auch nicht dabei stehenbleiben, sich auf theologischer Ebene mit Kant auseinanderzusetzen. Er fühlte, daß es nun darum ging, das Übel an der Wurzel zu packen, das heißt Kants Kritik der reinen Vernunft selbst grundsätzlich zu erörtern. Die Schrift Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft besteht aus zwei Teilen mit den Überschriften „Verstand und Erfahrung“ und „Vernunft und Sprache“. In „polemischer Anknüpfung“ (Irmscher) bietet er teilweise Paraphrasen von Kants Aussagen, die dann direkt zurückgewiesen werden. Experten sind der Meinung, daß Herder dabei manches mißverstanden habe.

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Die zweite Form der „polemischen Anknüpfung“ ist die eigene Darlegung philosophischer Sachverhalte im Wettstreit mit Kant. Außerdem wendet Herder sprachanalytische Verfahren an, ausgehend von der These, daß die Begriffe von den Dingen als ‚dunkle Vorstellungen‘ schon der Alltagssprache zugrunde liegen und also durch Analyse zu begrifflicher Deutlichkeit gebracht werden können (Irmscher, FA 8, 1136). Der Inhalt der sehr ausführlichen Schrift läßt sich kurz so angeben: Die Erfahrung der menschlichen Leiblichkeit ist unhintergehbar. Gefühl und Verstand, überhaupt alle menschlichen Kräfte, wirken bei der Erkenntnis von Realität untrennbar zusammen. Emotionalität und Rationalität lassen sich nicht trennen. Eine Reflexion auf die Bedingungen der Erkenntnis vor aller Erkenntnis ist deshalb nicht möglich. Das erkennende Subjekt hat keinen eigenen Standpunkt, weil es selbst zum erkannten Sein gehört. Die den Menschen umgebende und menschliches Leben ermöglichende Kultur zeigt ihn inmitten einer Welt von Bezügen und Bedeutungen. Die Welt ist nur erkennbar durch ein Sich-Einlassen auf die Produktionen der Kultur, also durch eine hermeneutische Philosophie.

KALLIGONE (1800) In einer ebenso umfangreichen Schrift kritisierte Herder im Jahr darauf Kants Kritik der Urteilskraft. Genauer gesagt: deren ersten Teil, die „Analytik des Schönen“ und die „Analytik des Erhabenen“. Stärker als die polemischen Formen der Metakritik treten nun Beschreibungen ästhetischer Naturgebilde (der Luft, des Meeres usw.) in den Vordergrund sowie Erzählungen von Geschichten. „Der Deduktion des Erhabenen bei Kant setzt Herder die Erzählung seiner Entstehungsgeschichte entgegen“ (Irmscher, FA 8, 1139). Herder folgt erneut dem ästhesiologischen Ansatz: Er bezieht sich auf die unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen der Sinne, in

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denen die spezifischen Darstellungsformen der einzelnen Künste begründet sind. Darüber hinaus untersucht er nun prononcierter das Phänomen der Gestalt: Inwiefern ist der Vogel an sein Element, die Luft angepaßt, der Fisch an das Meer? Er konstatiert ein wechselseitiges Verhältnis zwischen Gestalt und Medium. Gestalt aber ist Ausdruck von Bedeutung. Das ‚Erhabene‘, das in der damaligen ästhetischen Diskussion eine so tragende Bedeutung gewonnen hatte, versteht er als einen Prozeß des Übergangs vom Ungeheuren zum Schönen. Die literarische Gattung leitet er aus der Bedeutung des Wortes ‚Genie‘ her. Darunter versteht er eine schöpferische Kraft, die Folgen hat: Ein ‚Originalgenie‘ stellt zwar, so schöpferisch es sich auch fühlen mag, nie wirklich einen neuen Anfang dar, sondern bleibt immer durch das Vorgefundene bestimmt, aber es setzt doch einen neuen Anfang mit geschichtlichen Folgen. „Herders Kalligone steht an begrifflicher Schärfe hinter Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft zurück, aber in der auf Erfahrung gegründeten Fähigkeit, das ästhetische Phänomen in der Natur und in den Künsten zu vergegenwärtigen, geht sie weit über Kant hinaus“ (Irmscher, FA 8, 1139 f.).

ADRASTEA (1801–1803) Als sich das 18. Jahrhundert seinem Ende zuneigte, beschloß Johann Gottfried Herder, Rückschau zu halten auf die europäische Kultur dieser Epoche. Die Zeitschrift, die 1801 bis 1803 (1804) erschien, trug den Namen Adrastea: Allegorie der Gerechtigkeit und Wahrheit, wie Herder selbst erläuterte. Gerechtigkeit und Wahrheit sind Herders Maßstäbe bei der Beurteilung der ausgebreiteten Materialien und referierten Stoffmassen. Vier Fragenkomplexe zeichnen sich ab: (1) Vernunft und Geschichte, (2) Wahrheit und Macht, (3) Individuum und historischer Prozeß, (4) Geschichte und Gegenwart.

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Vernunft und Geschichte. In Herders Reflexionen über das Glänzende und den Ruin des 18. Jahrhunderts scheint immer wieder die Frage auf nach der Erkennbarkeit des Geschichtlichen, nach der kausalen Verknüpfung von Ereignissen, nach Zufall und Vorsehung. Zu den letzten Sätzen, die er vor seinem Tode schrieb (der Gedankengang ist nicht vollendet), gehören auch diese: „Die Pflanze band die große Mutter an den Boden; das Thier regiert sie durch Triebe; den Menschen ließ sie frei. Frei, auf der Erde umherzulaufen, frei, sein und andrer Glück und Unglück zu machen, wie? nach keiner Regel? in keinen Grenzen? unter Keines Aufsicht? Eben hier fängt also das Amt der strenge-bewachenden Nemesis an“ (SWS 24, 334). Die Geschichte erscheint als ein Humanum, als ein entscheidender Bestandteil menschlicher Existenz. Und der Historiker wird zum Lehrer des ganzen Menschengeschlechtes: „Verdienstvoll, wer sie vor Augen stellt und mit unwiderlegbaren Erweisen die Menschen menschlich zu seyn gebietet“ (333). Wohl sieht sich der einzelne einerseits einer erdrückend mächtigen Umwelt gegenüber, die er in ihrer Wirkungsweise nicht restlos durchschauen kann; andererseits ist es ein Gebot der ihm angeborenen Vernunft, die Geschichte als vernünftige zu deuten. Vernunft ist das Mittel der Geschichtserkenntnis. Aber nicht nur dies. Vernunft ist auch das Prinzip der geschichtlichen Entwicklung selbst. Und wo Vernunft noch unterdrückt wird, muß ihr der Mensch, indem er sich auf die ihm innewohnende Vernunft besinnt, zum Durchbruch verhelfen. Das Problem der Gewalt und des Krieges stellt sich demzufolge so dar: Krieg hebt Vernunft auf, muß also durch Vernunft überwunden werden. Die Sukzessionskriege des 18. Jahrhunderts werden konsequent als vernunftwidrig verurteilt. Herder schlägt statt dessen einen allgemeinen Schiedsgerichtshof der „höchsten Pairs von Europa“ vor als ein Gebot der Vernunft, als eine Lehre, die aus dem „blutig-verheerenden Baxen der Reiche und Nationen gegen einander“ gezogen werden müsse (SWS 23, 27–29). 1

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Wahrheit und Macht. Das Alterswerk der Adrastea betont immer wieder das Objektive, den Glauben an die festen Maßstäbe, die „ewigen Gedanken“, die sich „mit den Jahrhunderten entwölken“. Geschichte schafft Distanz, gewährt „ein Maas mit reinem Anblick“ (SWS 23, 212–214). Die Mitlebenden träumen; Geschichtlich-Werden heißt erwachen. Wo die real existierenden Verhältnisse mit der erkennenden Vernunft kollidieren, gilt es, die Verhältnisse zu ändern. Insofern hat Herders Geschichtsphilosophie einen eigentümlichen Appellcharakter, drängt vom Erkennen zum Tun. Damit stellt sich Herder selbst in den Prozeß der Aufklärung und nimmt den Impuls der Französischen Revolution auf seine eigene Weise auf. Er will nicht die Gewalttaten und Greuel – die ja vernunftwidrig sind; er will aber die Transformation des Bestehenden im Lichte der Vernunft. 3 Individuum und historischer Prozeß. Die ersten beiden Stücke der Adrastea, die mit Frankreich unter Ludwig XIV. und England unter Queen Anne die Probleme von Macht und Recht diskutieren, scheinen den Anfangsimpuls Herders zu spiegeln, seine Betroffenheit durch die Zeitgeschichte, die Kriege um 1800. Die späteren Stücke gehen aber immer mehr aus dem politischen Bereich in den der Kultur; die Entwicklung der literarischen Gattungen als Spiegel der Menschheitsgeschichte greift Raum. Dabei individualisiert Herder stets die Nationen, charakterisiert die handelnden Personen als Träger der historischen Entwicklung. Die Sphäre der Kultur wird als konstruktive der destruktiven Sphäre der Macht entgegengesetzt. Die Einzelleistungen von Menschen im Prozeß des kulturellen Fortschritts werden Exempla, positive Gegenbilder zu den überwiegend negativ gezeichneten Figuren des Mächtespiels. Vernunft verwirklicht sich sichtbar im Reich des Geistes; das finster gezeichnete Reich der Faust muß erst noch aufgehellt werden im Prozeß der Geschichte. So ermuntert Herder Männer des Geistes zur politischen Tat, die ihm selbst versagt geblieben ist. Häufig führt Herder in seinen späten Jahren den Spruch „Speremus atque agamus!“ im Munde (z. B. SWS 17, 122): „Laßt uns hoffen und handeln!“ 2

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Individuum und Geschichte werden gleich zu Beginn in zwei mächtigen Bildern in ein grundsätzliches Verhältnis zueinander gesetzt: „In tausend Farben bricht sich der Stral und hangt an jedem Gegenstande anders. Alle Farben aber gehören Einem Licht, der Wahrheit. In vielen melodischen Gängen wandelt der Ton auf und nieder; und doch ist nur Eine Harmonie, auf Einer Tonleiter der Weltbegebenheiten und des Verhältnißes der Dinge möglich. Was jetzt mißklingt, löset sich auf in einem andern Zeitalter.“ Die Devise ist deshalb eine doppelte: „Thut das Eure und traut der ewigen Welt-Ordnung.“ Oder: „Das neue Jahrhundert schaffen Wir: denn Menschen bildet die Zeit und Menschen schaffen Zeiten“ (SWS 23, 20 f.). 4 Geschichte und Gegenwart. Die bedrängenden Zeitereignisse der ersten Jahre des 19. Jahrhunderts legten es nahe, sich Rat und Trost bei der Geschichte zu holen. Wie das eigene Leben ein Bildungsprozeß ist, wird die Geschichte der Menschheit insgesamt als Bildungsprozeß begriffen. Im Kontinuum des Historischen hat Zeitgeschichte, verstanden als Geschichte der eigenen Lebenszeit, eine herausgehobene Bedeutung. Ganz naturgemäß beeinflußten auch bei Herder die Probleme seiner Gegenwart die Beurteilung der Vergangenheit. Geschichte kann nicht mehr nur in der Weise magistra vitae sein, daß sie Exempla liefert, die man kopieren könnte. Vielmehr leitet Geschichte das Handeln in der Gegenwart an durch Einsicht in das Walten der Nemesis. Ergebnis historischer Betrachtung ist eine Besinnung auf die Möglichkeiten menschlichen Wirkens in der jeweiligen Gegenwart, Erkenntnis auch der Grenzen des Eingreifens in das umfassende Ganze. Wie ein roter Faden zieht sich durch die Adrastea die Rede von der Linie, die Nemesis vorschreibt, welche nicht überschritten werden darf; vom Maß, das gefunden und gehalten werden muß, von der Waage, die ausgleicht. Adrastea ist nicht Aurora, aber beide sind zusammenzudenken; beider rechtes Verhältnis bestimmt erst die Mitte des Lebens. Die Einsicht in die Prinzipien des Historischen (in das Walten der Nemesis) ist also komplementär zu zukunftsgerichtetem Handeln: Dieses ist nur durch jene mit Aussicht auf Erfolg denkbar; jene ist

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nicht historisch-quietistisch, sondern handlungsleitend, als praktische Philosophie, konzipiert. Geschichtsphilosophie ist für Herder nie reine Erkenntnislehre des Historischen, sondern stets mit einem Appell zum Handeln verbunden.

DER CID (1803/04) Welches ist das am häufigsten in Einzelausgaben erschienene Werk Herders? Keine der großen philosophischen, theologischen oder historischen Schriften, an die man spontan denken würde. Nach den Forschungen von Bernhard Becker ist es vielmehr El Cid, die posthum herausgekommene Romanzendichtung Herders. Dieses Buch war im 19. Jahrhundert so etwas wie ein Schulbuch geworden – ein Werk, das heute völlig vergessen ist. ‚El Cid‘ ist arabisch und heißt soviel wie ‚Herr‘, ,Gebieter‘. Es handelt sich um eine sehr freie Nachdichtung, keineswegs um eine Übersetzung des mittelalterlichen spanischen Stoffes. Die originalen Quellen waren Herder noch nicht zugänglich. Er hatte spätere spanische Bearbeitungen zur Verfügung, mit denen er gewisse Episoden ergänzte. In Weimar hatte er Spanisch zu lernen begonnen, vor allem von Bertuch, der ihm aber auch nicht weit forthelfen konnte (obwohl er als Übersetzer von Don Quixote in die deutsche Literatur­ geschichte eingehen sollte). Herders hauptsächliche Quelle war ein anonymes französisches Werk, das 1783 in der Bibliothèque universelle des romans erschienen war. Als Verfasser hat man einen gewissen Couchut oder Couchu herausgefunden. Dabei handelt es sich um eine Prosanachdichtung der spanischen Romanzensammlung. Herder ging es aber nicht zuletzt um die Romanze als lyrische Form. Sein Freund Gleim hatte 1756 ein paar tastende Versuche mit Romanzen gemacht; ansonsten war diese Form im Deutschen bis dahin unbekannt. Die episch-lyrische Kurzform der Romanze (gewöhnlich vierzeilige

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S­ trophen aus achtsilbigen Kurzversen) kommt am ehesten dem nahe, was man vorher im Deutschen als ‚Ballade‘ kannte. Herder sah darin eine spanische Volksdichtung aus der Zeit der Kreuzzüge – für ihn ein unverstellter Durchblick auf eine frühere historische Epoche, vergleichbar den Epen Homers. Ein Teil der Romanzen war schon innerhalb der Adrastea erschienen. Das komplette Werk kam erst nach seinem Tod heraus.

KRANKHEIT UND MISSMUT Wenn wir uns abschließend mit den biographischen Begebenheiten der letzten Lebensphase Herders in Weimar nach der italienischen Reise beschäftigen, muß zur Grundierung bedacht werden, daß Herder krank war – zwar in wechselnden Umständen, aber eigentlich nie frei schaffend, immer beeinträchtigt durch körperliches Mißbehagen, Schmerzen und Schlaflosigkeit. Seine Urteile über Menschen und Werke sind grundiert von einem unausgeglichenen Gemüt infolge körperlichen Mißbehagens. Seine früher schon vorhandenen Beschwerden kulminierten im Februar 1792 infolge einer rheumatischen Erkrankung; nun konnte er sich nicht mehr aufrecht halten. Hinzu kamen Gichtanfälle, ein Leberschaden und ein altes Hämorrhoidalleiden. Im Sommer 1792 fuhr er mit seiner Frau zur Kur nach Aachen, wo sich seine Leiden vorübergehend besserten, dann aber auch wieder verschlechterten. Aus der Sicht seiner Frau war eine Genesung die Voraussetzung für literarische Produktivität, so daß keine Kosten gescheut wurden. Umgekehrt ließen ihn aber kostspielige, mehrmonatige Kuraufenthalte wie der Aachener vom Sommer 1792 in finanziellen Schwierigkeiten zurück, welche ihn nach seiner Rückkehr um so fester an den Schreibtisch ketteten. Bei den vielfältigen Leiden Herders in den 1790er Jahren war es ihm ein Trost, einen vertrauten Hausarzt bei der Hand zu haben:

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Sein Sohn Gottfried hatte in Jena Medizin studiert und begann im September 1796 in Weimar als Arzt zu praktizieren. Er heiratete; die jungen Leute zogen zu den Eltern in die Superintendentur. Auch in den folgenden Jahren trat immer wieder die Situa­ tion ein, daß Herders sämtliche körperlichen Leiden zum Ausbruch kamen, in den letzten Jahren noch vermehrt um eine Schwäche der Augen. Er erblindete zwar nie völlig, hatte aber zeitweilig ein so schwaches Sehvermögen, daß er sich mit seinen vielen Amtsgeschäften kaum zu helfen wußte – von der eigenen Schriftstellerei ganz abgesehen.

DIE WACHSENDE KINDERSCHAR Herders Weimarer Leben ist geprägt vom Dasein des Familienvaters mit wachsender Kinderschar. Wir erinnern uns: Schon aus Bückeburg hatte er zwei Kinder mitgebracht: Gottfried (*1774) und August (*1776). In Weimar wurde zunächst Wilhelm geboren (1778), ein Jahr später Adalbert (1779), zwei Jahre darauf Luise (1781), sodann Emil (1783), 1787 schließlich Alfred, der nach wenigen Monaten verstarb. Aber auch nach der Italienreise entstand noch einmal ein Kind mit den illustren Taufpaten Goethe, Angelika Kauffmann, Dalberg und Anna Amalia – letztere gab ihm aufgrund der Reminiszenzen der Italienreise den Namen Rinaldo (1790). Schon auf der Italienreise fügten die Kinder den Briefen der Mutter Nachschriften und eigene kleine Briefchen bei (wobei ihnen vielleicht gelegentlich auch Goethe oder Moritz die Feder führten), und Herder schrieb ihnen getrennte Briefchen mit Berichten von seinen italienischen Besichtigungen je nach Alter und Fassungsvermögen. Familienleben wurde bei Herders großgeschrieben; sie lebten der Stadt ein bürgerliches Muster vor, wie man es von einem lutherischen Pfarrhaus auch erwartete. Erziehung und Ausbildung wurden möglichst im eigenen Haus vorgenommen. Doch der Papa war infolge seiner Amtsgeschäfte nicht

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zu regelmäßigem Unterricht in der Lage und beschäftigte sich nur gelegentlich mit seinen Kindern. Caroline ihrerseits stieß an die Grenzen ihrer Bildung, als die Jungen größer wurden und eine regelrecht gelehrte Bildung bekommen sollten. Zeitweilig stellte man einen eigenen Hauslehrer für die Kinderschar ein. Später besuchten die Jungen das von ihrem Vater beaufsichtigte weimarische Gymnasium. Die einzige Tochter Luise kam nach Gotha in ein Erziehungsinstitut. Die allmählich erwachsen werdenden Söhne machten den Eltern manche Not. Herder verfolgte das Prinzip, sie möglichst außerhalb Weimars in bürgerlichen Berufen unterzubringen, um nicht von der Gnade des Herzogs abhängig zu sein. Der dritte Sohn Wilhelm lernte in Hamburg Kaufmann, geriet aber in Geldnot, aus der ihm sein Vater helfen sollte, der das auch nicht vermochte. Der zweite Sohn, August, studierte in Freiberg Naturwissenschaften, um sich dem Bergbau zuzuwenden, wollte aber lieber Soldat werden. Außerdem zeigte er sich beeindruckt von der Philosophie Fichtes (die seinem Vater besonders verhaßt war). Zu alledem ließ er auch noch Spielschulden auflaufen, welche die Mutter mit einem Darlehen vom Verleger beglich, das dem Familienoberhaupt jedoch verheimlicht wurde. – Und dann war da noch der Sohn Adalbert, der Landwirt werden sollte und dem Vater ganz spezielle Probleme einbrockte, von denen noch zu reden sein wird.

HERDERS FREUNDE IN DER SPÄTEN WEIMARER ZEIT Man hat beim Lesen der Herder-Korrespondenz oft den Eindruck, es gehe gegen eine Welt von Feinden; man bestärkte sich gegenseitig unter den wenigen Getreuen. Herder und seine Familie genossen ein persönlich nahes Verhältnis zu den Frauen des herzoglichen Hauses, zu Anna Amalia wie auch zur Herzogin Luise, nicht aber zum Herzog Carl August. Dieser stand Goethe zu nahe.

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Wieland, der Älteste des Weimarer Musenhofes, der seinerzeit vorgeschlagen hatte, Herder nach Weimar zu berufen, hielt über Jahrzehnte treu zu Herder. Das hängt auch mit den wachsenden großen Familien zusammen: Immer wieder gab es Gelegenheit, füreinander etwas Gutes zu tun und sich gegenseitig zu Dank zu verpflichten. Außer solchen Familienbeziehungen bestanden unter den ‚Alten‘ auch ideologische Gemeinsamkeiten. Herder wie Wieland waren aktive Befürworter der Französischen Revolution; beide kultivierten einen bewußt bürgerlichen Habitus. Im höfischen Weimar isolierten sie sich damit zuweilen. Vor allem Goethe und Schiller waren politisch konservativ. Ein weiteres Band zwischen Wieland und Herder bestand in der Liebe zum klassischen Altertum (vor allem Griechenland!) und in der Einschätzung der Rolle der Literatur. Die Tendenz zur Autonomie der Kunst, die Goethe mit Moritz und Schiller in den 1790er Jahren entwickelte, war Wieland und Herder gleich fremd. Die ethische Bindung der Literatur und ihr anthro­ pologischer Gehalt blieben Leitsterne Herders und Wielands. Im engsten Zusammenhang mit Herder und Wieland muß man auch Knebel sehen. Er lebte in jenen Jahren überwiegend in Ilmenau und in Jena, zeitweilig aber auch in Weimar. Knebel war für Herder ein enger, verläßlicher Berater (wie es sich etwa bei den politisch diffizilen Humanitätsbriefen zeigte). Knebel war ein eigenständiger Kopf und genau deshalb kein Mitglied einer Partei für oder gegen Goethe, den Herzog oder Herder. Er leistete wichtige Dienste als Mittler, als Caroline im Streit um die Förderung ihrer Kinder das Verhältnis zu Goethe und zum Herzog vergiftet hatte, ebenso später in der Nobilitierungsangelegenheit. Knebel war ebenfalls ein Kenner und Liebhaber des klassischen Altertums. – Es fällt auf, daß sich Herder, Wieland und Knebel einander nahe fühlten, obwohl Herder ein Mann der Kirche war und Wieland wie Knebel sich vom lutherischen Christentum im Laufe der Jahrzehnte entfernt hatten. Es sticht ins Auge, daß Herder seine Freunde keineswegs nur unter Kirchenleuten und expliziten Christen fand.

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Im Personennetzwerk der späten Jahre spielt der Halberstädter Domsekretär Johann Wilhelm Ludwig Gleim eine große Rolle. Immer wieder lud er die Familie Herder nach Halberstadt ein, er schickte Pakete, half mit Geldgeschenken und Darlehen, kümmerte sich um das Fortkommen der Herderschen Kinder. Auch Gleim gehörte zur ‚Partei der Alten‘, die politisch eher die Jungen waren, ästhetisch aber gegen die Romantiker standen. Die Schaffhausener Brüder Johann Georg Müller und Johannes von Müller spielten für die Familie Herder eine große Rolle – bis über Herders Tod hinaus, weil sie sich um die Werkausgabe kümmerten. Johann Georg war zu Herder als Theologiestudent gekommen; er wurde so etwas wie Herders erster Jünger, ein Mann, der Herders ganzes Wirken und Wesen in sich aufgenommen hatte und keine starke Eigenprägung entwickelte. Johannes dagegen war Politiker und Historiker; er lebte in ganz anderen Welten, an Fürsten­höfen; aber auch auf ihn war einiges von Herders Denken abgestrahlt. Die wichtigste Neuerwerbung Herders in seiner Spätzeit war der Romanschriftsteller Jean Paul, mit bürgerlichem Namen Johann Paul Friedrich Richter. Seit Juni 1796 fühlte sich Herder dem viel jüngeren Phantasiemenschen eng verbunden. Im Herbst 1798 zog dieser sogar für zwei Jahre nach Weimar und Caroline sorgte mütterlich für ihn. Alle Werke Jean Pauls wurden mit Begeisterung aufgenommen. Umgekehrt war der studierte Theologe Jean Paul für Herder auch ein Gesprächspartner bezüglich der Christlichen Schriften, die für Goethe und Schiller nicht von Belang sein konnten. Jean Paul bewunderte den älteren und arrivierten Herder bedingungslos: als Schriftsteller, Denker und Mensch. Die begeistertsten Lobeshymnen, die ein Zeitgenosse auf den Weimarer Kirchenmann veröffentlicht hat, stammen vom dankbaren Schüler Jean Paul.

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HERDER UND GOETHE Goethe beschrieb die Straßburger Begegnung mit Herder als Wechselspiel von Anziehung und Abstoßung. Ganz offensichtlich ging von dem um fünf Jahre älteren Herder eine mächtig anregende Wirkung auf den jungen Goethe aus. Er vermittelte ihm Shakespeare und Ossian, die Plastik mit ihren morphologischen Grundgedanken und die Idee der Poesie als Welt- und Völkergabe. Für die Berufung Herders nach Weimar war Goethe wesentlich verantwortlich. In Weimar jedoch ergab sich sogleich als psychologisches Problem, daß der Jüngere nun erfolgreicher war, das Ohr des Herzogs hatte und als dessen Günstling alles bewirken konnte, während Herder sich in seinen Bestrebungen zur Reformation von Kirche und Schule allenthalben durch Bedenken und Widerstände beeinträchtigt fühlte. Herder, mit höchstem Ehrgeiz nach Weimar gekommen, spürte blanken, gelben Neid; er fühlte sich zurückgesetzt und verkannt. Es war nicht leicht für Goethe, ein gedeihliches Verhältnis herzustellen, aber es gelang 1783, als er Herder mit Frau zu seinem Geburtstag einlud. Darauf folgten Jahre eines positiven Verhältnisses, in das auch Caroline Herder und Charlotte von Stein einbezogen wurden. Man traf sich in geselliger Runde, las einander vor, revidierte die Texte und Dichtungen der Großen. Herder schrieb sich Gedichte von Goethe ab, und er beriet ihn bei der Versfassung der Iphigenie. Die gemeinsame geistige Fortentwicklung von Goethe und Herder vollzog sich teils über die Religionsphilosophie des Spinoza, teils über das Studium der Natur und Geschichte, wobei Goethe eher für Natur stand und Herder eher für Geschichte. Das klassische Zeugnis dieser Zusammenarbeit sind die ersten fünf Bücher der Ideen, die von Herder unter Goethes Einfluß konzipiert und von Goethe mit Begeisterung aufgenommen wurden. Die Position der Erde im Kosmos und die Position des Menschen auf der Erde – das waren Ausführungen Herders im Geist Goethes. Die elementare Anthropologie war ein Grundproblem Goethes wie Herders. Aller-

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dings: Die geschichtliche Entfaltung des Menschlichen – das war ein Herder-Thema mit theologischen Anklängen, welches Goethe schon nicht mehr in gleicher Weise zu faszinieren vermochte. Die Idee der ‚Kraft‘, die Herder von Leibniz übernommen hatte, eine göttliche Kraft, die sich auf der Erde auswirkt und vor allem im Menschen zu einer progressiven Verwirklichung der göttlichen Schöpfung führte, liegt auch Goethes wesentlichen weltanschau­ lichen Äußerungen zugrunde. Aber die von Herder daraus entwickelte Polemik gegen Kant war für Goethe unverständlich und abstoßend; freilich gerade deshalb, weil ihm das eigentlich Philosophische daran eher gleichgültig war. Er konnte sowohl Herders kreativen Kraft-Begriff schätzen und als Dichter und Künstler aufnehmen als auch die erkenntniskritischen Bestrebungen Kants gelten lassen. Für Herder freilich war das ein Entweder-Oder, und Goethes politische Einstellung und strategische Verhaltensweise (auch an Schiller mußte gedacht werden, an Fichte, an Schelling) waren Herder ohnehin zuwider. Wieviel Herder aber in Goethe steckte, sieht man an dessen Kampf gegen Newton in der Farbenlehre. In Newton trat Goethe genau jener Cartesianismus entgegen, den Herder aus Spinoza entfernen wollte und der ihm in Kant und Fichte aufgegipfelt erschien. Die letzte Lebensphase Herders ist deshalb gekennzeichnet vom Zerwürfnis zwischen Goethe und Herder, welches auch atmosphärisch und politisch vertieft wurde. Entscheidend ist hier das „glückliche Eräugnis“ vom 23. August 1794, nämlich die Begegnung und das anschließende Bündnis von Schiller und Goethe. In der Zeit dieser Freundschaft wurde Herder an den Rand gedrängt. Die gemeinsame Arbeit der Dioskuren an einer Autonomie der ästhe­ tischen Welt gegenüber der historischen Lebenswelt traf bei Herder sofort auf Widerstand, wenn es auch einen Moment lang scheinen konnte, als sei Herder in das gemeinsame Projekt der Horen einzubinden. Schiller aber merkte schnell, daß die Beiträge Herders zu den Horen im Grunde genommen Kassiber waren: eingeschleuste Gegengedanken.

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Am 30. Oktober 1795 schrieb Goethe einen Brief an Caroline Herder, der in seiner Schärfe jeder weiteren Korrespondenz auf Jahre hinaus ein Ende setzte. Der Anlaß lag in jenen vagen Versprechungen, die der Herzog für die Ausbildung von Herders Söhnen gemacht hatte, als es galt, Herder in Weimar zu halten und von einem Weggang nach Göttingen abzuhalten (1789). Caroline Herder nun hatte sich in Briefen vehement darüber beklagt, daß diese Versprechungen nicht eingehalten würden. Goethe war als Mittler betroffen: Er hatte sich damals für das Bleiben Herders beim Herzog eingesetzt. Als Herder seine Humanitätsbriefe herausbrachte, verquickten sich die verschiedenen Problemkreise aufs unerquicklichste. Zwar mäßigte Herder seine Ausführungen zur Französischen Revolution in der gedruckten Fassung, aber in Weimar wußte man trotzdem, wie er dachte. Außerdem wurde nun die Autonomieästhetik immer schärfer als entscheidende Trennung deutlich. Nach Jahren des Zwistes schien sich eine persönliche Annäherung anzubahnen, als Herder 1801 in Goethes Hause dessen Sohn August konfirmierte, aber Herder verdarb alles durch eine verletzende Äußerung.

DIE NOBILITIERUNG Auf Herders Grabplatte und auf seinem Denkmal ist der Kirchenmann als ‚Johann Gottfried von Herder‘ bezeichnet. Bedenkt man seine Stellungnahme zur Französischen Revolution, mag es immerhin erstaunlich erscheinen, daß dieser ‚Aristodemokrat‘ geadelt worden sein sollte. Freilich: Im späten 18. Jahrhundert war es nicht gerade eine Seltenheit, daß ein führender Beamter von seinem Landesherrn mit dem Adel ausgezeichnet wurde. Goethe etwa war schon 1782 auf Betreiben des Weimarer Herzogs in den Reichs­ adel erhoben worden. Bei Herder war das anders. Sein vierter Sohn Adalbert, ausgebildeter Landwirt, erwarb Anfang August 1801 ein

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Landgut in der bayerischen Oberpfalz. Für den Kauf benötigte der 22jährige ein Darlehen, was ihm eine Hypothekenbelastung einbrachte. In Bayern galt das sogenannte Einstandsrecht: Inländische Adlige durften dem Bürgerlichen das Adelsgut binnen Jahresfrist wieder abkaufen. Um diese Katastrophe zu verhindern, begehrte Herder vom bayerischen König, dessen Verehrung seiner Werke ihm bekannt war, den Adelstitel. Diesen schenkte ihm der bayerische Kurfürst am 8. Oktober 1801, womit der Sohn für die nächsten Jahre ökonomisch gerettet war. Für Herder selbst war der Ärger aber noch keineswegs ausgestanden. Sein Landesherr, Herzog Carl August, fühlte sich durch die Aktion hintergangen und wollte die neue Würde in Weimar nicht anerkennen. Ja, er erhob in dieser Situation sogar Schiller in den Adelsstand – als ob er es darauf abgesehen hätte, Herder zu ärgern! Erst kurz vor seinem Tode wurden die Verhältnisse bereinigt. Noch einmal hatte der in diesem Punkt sehr empfindliche Herder zu fühlen bekommen, daß man in einem Fürstenstaat eben nicht alles seinen eigenen Verdiensten verdanken konnte und daß die Gnade des Herrn unumgänglich war.

DAS PROBLEM DES UNBERECHTIGTEN NACHDRUCKS UND DIE GESAMTAUSGABE Um der finanziellen Probleme Herr zu werden, trieb Caroline ihren Mann in seinen späten Jahren immer mehr dazu, Buch um Buch zu veröffentlichen und sich durch Periodika, die er größtenteils selbst schrieb, produktiv in Atem zu halten. Freilich: Ein Geschäftsmann war Herder nicht; das Feilschen um Honorare und Rechte war seine Sache nicht. Seine Frau hingegen lebte sich im Laufe der Jahre immer mehr in die Rolle seines Managers und Agenten ein. Sie verhandelte mit den Verlegern und schlug optimale Bogenhonorare heraus. Herder hatte sich als Schriftsteller im Laufe von drei Jahrzehnten

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einen großen Namen gemacht; die Verleger riskierten wenig, wenn sie eine von seinen vielen Schriften publizierten. Einige erwiesen sich als ausgesprochen marktgängig, etwa die Humanitätsbriefe. Mit dem buchhändlerischen Erfolg schlug das zeittypische Problem des illegalen Nachdrucks auch im Hause Herder zu. Damals gab es noch keine allgemeinen urheberrechtlichen Regelungen; gegen unberechtigten Nachdruck war kein Kraut gewachsen. Moralische Appelle an das Publikum wirkten hilflos; juristische Schritte im Ausland blieben aussichtslos. Gravierender wurde das Problem in einem Falle wie dem Herders, wo ein guter Name erarbeitet worden war und ein sich rundendes Lebenswerk seinem Abschluß entgegenging. In Wien erschien bereits in den Jahren 1801 bis 1804 eine unautorisierte Ausgabe Vermischte Schriften in 26 Bänden. Als im Frühjahr 1803 ein Augsburger Buchhändler einen Raubdruck seiner Werke ankündigte, setzte Herder eine eigene Ankündigung einer ‚palingenesierten‘ Sammlung seiner Schriften dagegen. Doch Herders Verleger Hartknoch erschien nicht kapitalkräftig genug. Eine solche Edition kam deshalb erst nach Herders Tod zustande. Sie wurde von seiner Witwe aufgrund der hohen Schulden der Familie mit Eifer betrieben. Als Herausgeber stellten sich Freunde und Verwandte zur Verfügung: Johann Georg Müller und Johannes von Müller, Christian Gottlob Heyne und schließlich der Sohn Wilhelm Gottfried von Herder. Caroline verhandelte über die Rechte mit den Verlegern Hartknoch, Frölich, Göschen und Cotta. Den Zuschlag erhielt schließlich Cotta, der Verleger der Klassiker Goethe und Schiller, in Tübingen. Dort erschien zwischen 1805 und 1820 die sogenannte Vulgata in 45 Bänden. Schon 1807 waren die Schulden der Familie Herder getilgt, wozu allerdings auch seine riesige Bibliothek verkauft werden mußte.

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DAS ENDE Krankheit, Sorgen und Nöte aller Art überschatteten die ersten Jahre des 19. Jahrhunderts in Herders Haushalt. Eine Rheinreise und eine Kur in Aachen sollten Ablenkung, Linderung und Befreiung bringen. Die Badereise von 1802 brachte jedoch auch die schmerzlich empfundene Konfrontation mit den französisch besetzten Teilen Deutschlands. Herder erkrankte erneut. Bei der Kutschfahrt zu einer Teegesellschaft bei der Herzogin brach eine Achse auf der Esplanade in Weimar; der Unfall traumatisierte den Angeschlagenen zusätzlich. Eine weitere Erholungsreise 1803 führte nach Schneeberg zu seinem Sohn August, nach Franzensbad und Dresden, wo der Kranke noch einmal aufzublühen schien. Ein Kandidatenexamen in einem überheizten und überfüllten Zimmer und der Besuch einer Kunstausstellung bei Goethe in einem unterkühlten Saal warfen den Geschwächten im Herbst nieder; er erlitt wohl einen leichten Schlaganfall, von dem er sich nicht mehr völlig erholte. Der Arzt, sein Sohn Gottfried, stellte eine „Atonie aller Lebensfunktionen“ fest; Herder sah sich gezwungen, um eine Beurlaubung nachzusuchen, die ihm der Herzog auch bis Ostern 1804 gewährte – doch ein Zusammentreffen verschiedener Krankheiten und weitere Schlaganfälle setzten seinem Leben am 18. Dezember 1803 ein Ende. – Er wurde nebenan begraben, in der Stadtkirche St. Peter und Paul, die heute ‚Herder-Kirche‘ genannt wird. Sein Grab deckt die Platte mit seinem Zeichen: dem Unendlichkeitssymbol der Schlange im göttlichen Strahlenkranz und der Devise Licht, Liebe, Leben.

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8 HERDERS GRÖSSE

Jean Paul schrieb in der Vorschule zur Ästhetik, man könne Herder nicht anders als einen „großen Menschen“ nennen. Worin bestand Herders Größe? 1 Ein Element dabei ist sicher sein Wille zur Größe. Wir erinnern uns an das erschreckend-erhabene Wort des jungen Herder: „Ich gehe durch die Welt, was hab ich in ihr, wenn ich mich nicht unsterblich mache!“ (FA 9/2, 67) Das Reisejournal von 1769 enthält nicht etwa haltlose Übersteigerungen des jugendlichen Ehrgeizes; Herder maß später unglücklicherweise sein wirkliches Leben an dem, was er sich selber vorgezeichnet hatte. Freilich: „Unsterblich“ darf hier nicht in der geläufigen Weise auf den bloßen Nachruhm bezogen werden; in seiner Rede Über die menschliche Unsterblichkeit machte Herder später klar, daß es nicht um den Ruhm seines Namens ging, sondern um den Beitrag zur Humanität – und dieser konnte durchaus anonym sein. In gewisser Hinsicht sah Herder also seine Rezeption schon voraus und billigte sie. Nicht der Name ‚Herder‘ sollte unsterblich werden, sondern sein Beitrag zum Ganzen sollte die Humanität befördern. 2 Diese Vorstellung ist aufs engste verknüpft mit dem Bewußtsein des Empfangen-Habens, mit der klaren Einsicht in die Abhängigkeit von dem, was die Menschheit vor seiner Lebenszeit schon zustande gebracht hatte. Kaum jemand erlangte je eine solche Einsicht in die Tiefe und Fülle der Tradition wie Herder. Vor diesem Hintergrund lesen sich seine Genie-Gedanken ganz anders: Lebendi175  Herders Größe

ge Tradition wollte er; der Übermut des Künstlers war bei ihm stets zurückgebunden an die Verantwortung gegenüber dem Erbe. Wo er Überwältigung durch die Überlieferung fürchtete (etwa in seiner Frühzeit), forderte er produktive Befreiung und trug das seine dazu bei, daß die deutsche Kultur nicht im Nachahmen und Nachempfinden steckenblieb. Wo er dagegen kecken Übermut der Spekulation sah (in seiner Spätzeit bei den Romantikern und subjektiven Idealisten), wurde ihm die Erinnerung an das überlieferte Wahre, Gute und Schöne zum wichtigsten Korrektiv. 3 Herders Größe bestand in seiner Vielseitigkeit, ja Universalität. Wiederum ist es Jean Paul, der in seiner bilderreichen Sprache den treffenden Ausdruck fand, als er formulierte: Herder sei „nicht ein Stern erster Größe“ gewesen, aber „ein ganzer Bund von Sternen“. Die Goethezeit kannte nicht wenige Universalgenies, aber keinen, der wie Herder die Literatur und die Ästhetik, die Theologie, die Philosophie, die Geschichte sowie eine Fülle von Sprachen beherrscht hätte. Die Uferlosigkeit seiner Wirkung hängt mit seiner mangelnden Disziplinarität zusammen: Es gab nach ihm keinen mehr, der das alles hätte zusammenbringen können. 4 Ein Abweg der Jüngeren (Hegel, Fichte, Schelling, Schlegel) war die Spekulation. Herders Größe besteht nicht zuletzt darin, daß er – bei kühnen Gedanken – immer die empirische Fundierung suchte. In dieser Hinsicht stand er Goethe nahe. Ein Gedanke ohne ‚Welthaltigkeit‘, ohne Sachbezug, war für beide eine ‚Luftblase‘. 5 ‚Empirie‘ bedeutete für Herder in hohem Maße ‚Geschichte‘. Für Goethe war ‚Natur‘ wichtiger, für Schiller das ‚Ideal‘; tragisch, daß sich die Geschichtswissenschaft zur selben Zeit völlig anders ausformte. Aber die großen Konzeptionen der Folgezeit verdanken Herder wohl mehr, als man weiß. Leopold von Ranke beispiels­ weise begriff sich als Antipoden zu Hegel; als Antipoden zu Herder brauchte er sich nicht zu begreifen. Der von ihm bearbeitete Ausschnitt der Geschichte fußt noch stark auf jener „Geschichtstheologie der Goethezeit“ (Carl Hinrichs), die er selbst ungern explizierte,

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die aber doch die tragende Grundlage seines Werkes darstellt. 6 Anders als im 19. Jahrhundert gibt es bei Herder keine Geschichte um der Geschichte willen, kein selbstverliebtes Anempfinden und Behagen an der Vergangenheit. Herders regulatives Prinzip war das anthropologische: Geschichte belehrte ihn über das Menschliche, das Allgemeinmenschliche. In dieser Perspektive wurde wohl alles Historische für ihn interessant, aber es vereinzelte sich nie, hatte immer seine Bedeutung in einem Zusammenhang des Ganzen. 7 Während man also auf der einen Seite das Regulativ des Anthropologischen sehen muß, gilt Herder doch (und mit Recht) als Entdecker der Individualität. In seinem Denken (philosophisch auf Leibniz zu beziehen) gewinnt jedes Einzelne eine besondere Würde. So auch die einzelnen Völker. Aus romantischem Geist heraus konnte Ranke später formulieren, Völker seien „Gedanken Gottes“ – ein perfekter Herderianismus! 8 Herders Größe liegt auch in seiner Erkenntnislehre, seiner Hermeneutik. Er las die Welt wie ein Buch; die Aufgabe des Entzifferns der ‚Hieroglyphen Gottes‘ war sein wesentlicher Antrieb zur Empirie. Alles auf der Welt rückte so in den Horizont des Interesses. Die klassische Beschränkung der gelehrten Bildung wurde zunächst überschritten durch die Welt Shakespeares und Ossians: der Norden, gefaßt in dichterische Symbole. In seiner Spätzeit befaßte sich Herder aber auch mit besonderer Vorliebe mit Indien. Und er dichtete „Neger-Idyllen“ (FA 7, 674–685) – konsequent, sich als wahrer Humanist für die Schwächsten einzusetzen, für diejenigen, denen die Fülle des Menschlichen vorenthalten wurde. In diesem Sinne bedeutete die Theologie kein Hindernis, sondern den entscheidenden Antrieb zum Forschen. 9 Andererseits hätte man sich aus klassizistischem, Winckelmannschem Geist leicht vorstellen können, daß die europäische Kultur als Maß des Menschlichen genommen worden wäre, die Höhe der Zivilisation, das Optimum der künstlerischen Formen. Bei Herder gibt es (vor allem, wenn er über die alten Griechen spricht) durchaus

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Stellen, die klassizistisch klingen. Aber er bringt sie in Einklang mit dem Universalmenschlichen, welches letztlich nur beschränkt würde, wenn man es an eine bestimmte kulturelle Tradition bände. Herder wurde so zum Anwalt der Eigenkulturen – sei es der slawischen Völker oder der Feuerländer und Kalifornier. Er zweifelte keinen Augenblick am Glück der europäischen Kultur – und er dachte doch nie daran, daß man dieses Glück anderen Völkern mit Gewalt bringen könnte. Auch das Christentum war für ihn ein Höchstes, aber den Gedanken einer Mission überall auf der Erde verwarf er. 10 Überhaupt liegt seine Größe zu einem nicht geringen Teil in seiner Vermittlungsleistung: die Tradition des lutherischen Christentums in die säkularisierten Verhältnisse der Gebildeten seiner Zeit hinein zu vermitteln. Seine gedankliche Arbeit läßt sich zu einem großen Teil so verstehen: als Übersetzungstätigkeit. Er bewahrte und formulierte neu, was er als Kern des Christentums ansah. Dabei mußte er sich immer wieder an seiner Umgebung, seinem Publikum orientieren. Er schrieb Gott für Philosophen, und er schrieb gleichzeitig Christliche Schriften für lutherische Gläubige. Er predigte nach der Lehre seiner Kirche, aber er konnte sich nie damit begnügen, nur christliche Wahrheit für diejenigen zu lehren, die ohnehin davon überzeugt waren. Er wurde zum ‚Prediger der Humanität‘ in dem doppelten Sinne, daß er alle Menschen an ihr Menschsein erinnern wollte, aber gleichzeitig davon überzeugt blieb, daß Christus als vorbildlicher Mensch von höchster Bedeutung für ethisches Handeln sei. 11 Herders Größe besteht auch darin, daß er an der Einheit der Erscheinungen festhielt. Natur und Geschichte, Geist und Materie waren für ihn nicht kategorial getrennt. Von dieser Grundentscheidung her durchformte er die ganze empirische Welt. Mochten auch die Romantiker in der Fülle seiner späten Zeitschriftenpublikationen keinen roten Faden mehr sehen – bei genauerer Analyse präsentiert sich Herders Panentheismus als ein vollkommen konsistentes Denken. Ein gewisses Problem besteht in seiner Neigung, dem Sein ein Sollen einzuschreiben: Seine Lehre von den ‚Kräften‘, die sich

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organisch entwickeln, ließ die Möglichkeit immer offen, daß die Differenz zwischen einem beobachteten Ist-Zustand und einem postulierten Soll-Zustand im Denken aus der Einheit überbrückend vorweggenommen wurde. Aber seine kategoriale Nicht-Unterscheidung von Ethik und Politik war Programm. 12 Seine wesentliche Leistung kündigte er schon in jungen Jahren an: „Einziehung der Philosophie auf Anthropologie“ (FA 1, 132). Der Mensch durfte kein blasses Abstraktum einer Metaphysik bleiben, sondern mußte sinnliche Gestalt gewinnen. Konsequent wurde Herder zum Stifter einer neuen Wissenschaft, der ‚Ästhesiologie‘, in welcher die Qualität der Sinne zum entscheidenden Untersuchungsgegenstand wurde: der Mensch als Augenmensch, Ohrenmensch, Handmensch. Entgegen der platonisch herkömmlichen Sinneshierarchie, die gerade auch im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, das Sehen als menschlich zentral einstufte, kämpfte Herder für das ‚Menschenrecht des Ohres‘ und das ‚Menschenrecht des Gefühls‘ (den Tastsinn). Sein Interesse an Ästhetik erklärt sich zu einem Gutteil aus dem Interesse an Ästhesiologie. Die Kunst des Auges (Malerei, Schrift) sollte relativiert werden gegenüber der Kunst des Ohres (Poesie, Musik) und der Kunst des Gefühls (Plastik). Damit zog Herder nicht nur Konsequenzen aus der Ästhetik seit Alexander Gottlieb Baumgarten; durch seine Transposition in den Rahmen der Anthropologie gelang ihm zugleich eine neue Form physikotheologischer Theodizee. In einem Brief über Herders Älteste Urkunde des Menschengeschlechtes nannte Goethe diese einmal ein „mystisch weitstrahlsinniges Ganze, eine in der Fülle verschlungner Geschöpfsäste lebend und rollende Welt“ – ein für Herder insgesamt treffender Ausdruck.

179  Herders Größe

NACHWEIS DER ZITATE S. 12f.  Rudolf Haym: Herder nach seinem Leben und seinen Werken

dargestellt, Berlin 1880–1885; zit. nach der Neuausgabe, hrsg. von Wolfgang Harich, Bd. 2, Berlin 1954, S. 221–223. S. 13f.  Ernst Kühnemann: Herder, 2. Aufl., München 1912, S. 611. S. 14f.  Ernst Benz: Johann Gottfried Herder 1744–1803, in: Hermann Heimpel/Theodor Heuss/Benno Reifenberg (Hrsg.): Die Großen Deutschen. Deutsche Biographie, Bd. 2, Berlin 1956, S. 210–228. S. 15    Wilhelm Dobbek: J. G. Herders Humanitätsidee als Ausdruck seines Weltbildes und seiner Persönlichkeit, Braunschweig 1949. S. 17    Eberhard Berg: Johann Gottfried Herder (1744–1803), in: Wolfgang Marschall (Hrsg.): Klassiker der Kulturanthropologie. Von Montaigne bis Margaret Mead, München 1990, S. 51–68, Zitat: S. 51–53. S. 18    Jens Heise: Johann Gottfried Herder zur Einführung, Hamburg 1998, S. 8. S. 70    Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940, S. 79. S. 129  Immanuel Kant: Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Immanuel Kant: Werke in zehn Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 10, S. 779–806, Zitat: S. 791.

181  Nachweis der Zitate

S. 175f.  Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, in: Jean Paul: Werke in

zwölf Bänden, hrsg. von Norbert Miller, Bd. 4, München 1975, S. 443. S. 177    Leopold von Ranke: Über die Epochen der neueren Geschichte. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Theodor Schieder und Helmut Berding, München 1971, S. 59. S. 179  Brief Goethes an Schönborn vom 8. Juni 1774.

182  Nachweis der Zitate

LITERATURHINWEISE

HERDER-AUSGABEN Herder, Johann Gottfried: Briefe, hrsg. von [Wilhelm Dobbek und] Günter Arnold, 16 Bde., Weimar 1984–2012 [DA]. Herders Sämmtliche Werke, hrsg. von Bernhard Suphan, 33 Bde., Berlin 1877–1913 (Reprint: Hildesheim, Zürich und New York 1994) [SWS]. Herder, Johann Gottfried: Italienische Reise. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen 1788–1789, hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Albert Meier und Heide Hollmer, München 1988 [MH]. Herder, Johann Gottfried: Werke, hrsg. von Wolfgang Proß, 3 Bde. in 4 Bdn., Darmstadt 1984–2002. Herder, Johann Gottfried: Werke in zehn Bänden, 11 Bde., Frankfurt a. M. 1985–2000 [FA].

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187 Literaturhinweise

BILDNACHWEIS Bückeburg, SHD Fürst zu Schaumburg-Lippe: Abb. 10 Hessisches Landesmuseum Darmstadt: Abb. 3 Klassik Stiftung Weimar: Abb. 2 (Goethe-Nationalmuseum, Gemäldesammlung), Abb. 4, 5, 6, 7, 8, 9 (Goethe-Nationalmuseum, Graphische Sammlung), Abb. 12 (Foto: Sigrid Geske, 1992) LWL–Museum für Kunst und Kultur/Porträtarchiv Diepenbroick Münster: Abb. 1 Stiftung Preußischer Kulturbesitz Berlin, Herder-Nachlass (XX, 188, Bl. 230): Abb. 11

189 Bildnachweis

REGISTER

A

Abaelard 89 Abbt, Thomas 33, 40, 61, 95 Aischylos 73 Alembert, Jean-Baptiste le Rond d‘ 47 Alexander der Große 91, 153 Anna Amalia, Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach, geb. Prinzessin von Braunschweig-Wolfenbüttel 85, 87, 141, 153, 155, 165, 166 Anne, Königin von England 161 Aristoteles 73 Arndt, Johann 22 Arnim, Achim von 73, 108, 111 Arnoldt, Daniel Heinrich 25 Augustinus von Hippo 37, 101 August, Prinz von Gotha 87 Augustus, Kaiser von Rom 91

B

Barthélemy, Jean-Jacques 47 Barth, Karl 123 Basedow, Johann Bernhard 48 Bastian, Adolf 17

191 Register

Baumgarten, Alexander Gottlieb 26, 104, 179 Becker, Bernhard 163 Benz, Ernst 14 Berens Georg 29, 39 Gustav 39, 46 Berg, Eberhard 17 Bernd, Adam 101 Bertuch, Friedrich Justin 163 Böckmann, Paul 124 Bode, Johann Joachim Christoph 70 Bodmer, Johann Jacob 110 Brentano, Clemens 73, 108, 111 Breysig, Kurt 76 Bürger, Gottfried August 111 Busch, Amalie 29, 38, 39

C

Caesar, Gaius Iulius 98, 153 Calvin, Johannes 43 Cardano, Gerolamo 101 Carl August, Herzog von Sachsen-Weimar-Eisenach 83, 86, 144, 166, 172 Cassirer, Ernst 18, 155

Cicero, Marcus Tullius 32 Cillien, Ursula 17 Claudius, Matthias 48, 111 Condillac, Étienne Bonnot de 65, 67 Corneille, Pierre 73 Cotta, Johann Friedrich 173 Crusius, Christian August 26

D

Dalberg, Johann Friedrich Hugo von 140, 141 Karl von 87, 165 Denis, Michael 70 Descartes, René 136 Diderot, Denis 47, 117 Dobbek, Wilhelm 15 Dohna-Schlobitten, Grafen zu 24 Duclos, Charles Pinot 47

E

Eichhorn, Johann Gottfried 114, 120 Einsiedel, August von 87 Erasmus von Rotterdam 32, 117 Ernst August II. Constantin, Herzog von SachsenWeimar-Eisenach 85 Euripides 73

F

Fichte, Johann Gottlieb 10, 157, 166, 170, 176 Forster, Georg 17 Francke, August Hermann 24 Friedrich Ernst Wilhelm, Graf von Schaumburg-Lippe 61

192 Register

Friedrich II. (der Große), König von Preußen 62, 98, 153 Friedrich II., Landgraf von Hessen-Kassel 94 Frisi, Paolo 70 Frölich, Heinrich 173

G

Gadamer, Hans-Georg 17, 18, 76 Gaier, Ulrich 31, 34 Gehlen, Arnold 69, 70 Georg III. Kurfürst von Hannover, König von England 82 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm 70 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 83, 163, 168 Goebbels, Joseph 12 Goethe August von 171 Johann Wolfgang von 7, 10, 15, 16, 19, 20, 41, 48, 70, 73, 74, 83, 86, 88, 89, 108, 111, 117, 118, 123, 134, 137, 138, 140 – 142, 144, 146, 153, 155, 165 – 171, 173, 174, 176, 179 Göschen, Georg Joachim 173 Grimm 22 Jacob 10, 73, 111 Wilhelm 10, 73, 111

H

Hamann, Johann Georg 11, 26, 27, 29, 75, 112, 114, 117, 138, 156 Hartknoch, Johann Friedrich 27, 29, 47, 64, 173

Haym, Rudolf 12, 13 Hebbel, Friedrich 12 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 10, 148, 176 Heise, Jens 18 Herder Anna Elisabeth geb. Peltz 21 Caroline geb. Flachsland 48, 63, 64, 88, 89, 114, 143, 144, 166 – 169, 171 – 173 Emil Ernst Gottfried von 165 Johann Gottfried 21 Karl Emil Adalbert von 165, 166, 171 Karl Ferdinand Alfred 165 Luise Theodora Emilie von 165, 166 Rinaldo Gottfried von 165 Siegmund August Wolfgang von 165, 166, 174 Wilhelm Christian Gottfried von 64, 165, 173, 174 Wilhelm Ludwig Ernst von 165, 166 Heyne, Christian Gottlob 64, 81, 94, 143, 173 Hinrichs, Carl 176 Hippel, Theodor Gottlieb von 27 Homer 73, 110, 113, 120, 121, 164 Horaz 153 Humboldt Alexander von 10, 19 Wilhelm von 10, 17 Hume, David 26, 75

193 Register

J

Jacobi, Friedrich Heinrich 134, 135, 137, 138 Jean Paul, eigentl. Richter, Johann Paul Friedrich 10, 168, 175, 176 Joseph II., Kaiser 99

K

Kanter, Johann Jacob 27 Kant, Immanuel 15, 16, 25 – 27, 29, 125, 128, 129, 155 – 159, 170 Karl Friedrich, Markgraf von Baden-Durlach 48 Katharina II., Zarin von Russland 33, 44, 99 Kauffmann, Angelika 141, 165 Kepler, Johannes 26 Keßler, Martin 123 Klopstock, Friedrich Gottlieb 40 Klotz, Christian Adolph 35 Knebel, Karl Ludwig von 87, 146, 149, 167 Koepke, Wulf 115 Kühnemann, Eugen 13 Kypke, Georg David 25

L

Lavater, Johann Caspar 117, 138 Leibniz, Gottfried Wilhelm 26, 134, 136, 137, 170, 177 Lenz, Jacob Michael Reinhold 74 Lessing, Gotthold Ephraim 7, 33, 48, 73, 93, 103, 105, 107, 117 – 119, 124, 125, 134, 135

Lichtenberg, Georg Christoph 41, 124 Lilienthal, Theodor Christoph 25 Lindner, Johann Gotthelf 28 Lovejoy, Arthur 129 Lowth, Robert 112, 120 Ludwig XIV., König von Frankreich 92, 161 Luise Auguste, Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach, geb. Prinzessin von Hessen-Darmstadt 86, 87, 144, 166 Luther, Martin 43, 113, 115 Lykurg 43

M

Macpherson, James 110 Marc Anton 98 Maria Barbara Eleonore, Gräfin von Schaumburg-Lippe, geb. Gräfin zu Lippe-Biesterfeld 62, 81, 83 Marschall, Wolfgang 17 Maupertuis, Pierre-Louis Moreau de 65 Meinecke, Friedrich 17, 37, 76 Mendelssohn, Moses 33, 134 Merck, Johann Heinrich 108 Michaelis, Johann David 113, 120 Montaigne, Michel de 17, 101 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de 44, 120 Morgan, Lewis Henry 17 Moritz, Karl Philipp 141, 165, 167

194 Register

Möser, Justus 70 Mozart, Wolfgang Amadeus 15 Müller Johannes von 10, 108, 168, 173 Johann Georg 10, 114, 168, 173 Musäus, Johann Carl August 85

N

Newton, Isaac 26, 31, 32, 170 Nicolai, Friedrich 33, 47, 108 Nietzsche, Friedrich 11

P

Percy, Thomas 107, 108, 110 Pestalozzi, Johann Heinrich 17 Peter Friedrich Wilhelm, Erbprinz von HolsteinGottorp 47 Peter III., Zar von Russland 33 Petrarca, Francesco 101 Platon 68, 117, 129 Plessner, Helmuth 68, 69 Pope, Alexander 107

R

Ranke, Leopold von 76, 176, 177 Raspe, Rudolf Erich 107 Reimarus, Hermann Samuel 116 Reinhold, Karl Leonhard 157 Reventlow, Henning Graf 16 Riedel, Friedrich Justus 35 Riegl, Aloys 104 Robertson, William 75 Rousseau, Jean-Jacques 26, 65, 96

S

Schardt, Sophie von 89 Scheffner, Johann George 27 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 170, 176 Scheuerl, Hans 17 Schiller, Friedrich 7, 19, 35, 167, 168, 170, 172, 173, 176 Schlegel August Wilhelm 10 Friedrich 10, 35, 176 Schlosser, Johann Georg 118, 119 Schlözer, August Ludwig 81, 82 Schubert, Gotthilf Heinrich 10 Schwartz-Erla, Johann Christian 24 Seckendorf, Sophie Friederike von 141 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Earl of 117, 134, 137 Shakespeare, William 70, 73, 74, 93, 101, 107, 110, 169, 177 Solon 43 Sophokles 73 Spalding, Johann Joachim 29 Spenser, Edmund 93 Spinoza, Baruch de 134 – 138, 169, 170 Stein, Charlotte von 89, 169 Sterne, Lawrence 27 Süßmilch, Johann Peter 65, 67

195 Register

T

Thomas, Antoine-Léonard 47 Trescho, Sebastian Friedrich 23, 33

U

Uhland, Ludwig 112

V

Voltaire, eigentl. Arouet, FranÇois-Marie 75, 79, 92, 121, 124

W

Wieland, Christoph Martin 19, 83, 86, 87, 117, 157, 167 Willamovius, Christian Reinhold 22 Wille, Johann Georg 47 Winckelmann, Johann Joachim 94, 95, 103, 105, 140 Wolff, Christian 104 Wolf, Friedrich August 26 Worringer, Wilhelm 104

Y

Young, Edward 23

Z

Zimmermann, Johann Georg 64 Zwingli, Huldrych 43

MICHAEL ZAREMBA

JEAN PAUL DICHTER UND PHILOSOPH EINE BIOGRAFIE

Am 21. März 2013 jährt sich sein Geburtstag zum 250. Mal: Jean Paul, 1763 in Wunsiedel geboren, 1825 in Bayreuth verstorben, war schon zu Lebzeiten einer der bedeutendsten und erfolgreichsten deutschen Schriftsteller. Mehrfach wurde er zum »Lieblingsdichter der Deutschen« ausgerufen. Seine literarischen Werke fanden viele Bewunderer. Die Weimarer Klassiker Wieland und Herder zählten dazu, ebenso wie die Philosophen Fichte und Hegel. Auch nachfolgenden Dichtergenerationen galt er als großes Vorbild. Doch seine ausufernden Textlabyrinthe stießen bisweilen auch auf Kopfschütteln und Unverständnis. Als autodidaktisch gebildeter Literat und Philosoph stand Jean Paul als Solitär zwischen Weimarer Klassik und Romantik, zwischen Auf klärung und Idealismus. Michael Zaremba stellt das Leben und Wirken des freigeistigen und feinsinnigen Dichters und Denkers nach dem neuesten Forschungsstand kompetent und kurzweilig vor. Seine Biografie ist eine Einladung, diesen liebenswert versponnenen Romantiker und scharfzüngig spottenden Realisten (neu) kennen und schätzen zu lernen. 2. AUFLAGE 2012. 335 S. 20 S/W-ABB. GB. MIT SU. 135 X 210 MM. ISBN 978-3-412-21091-5

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