Paradoxien des Unendlichen 9783787321858, 9783787335701

Die "Paradoxien des Unendlichen" sind ein Klassiker der Philosophie der Mathematik und zugleich eine gute Einf

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Paradoxien des Unendlichen
 9783787321858, 9783787335701

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BERNARD BOLZANO

Paradoxien des Unendlichen Mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von CHRISTIAN TAPP

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 630

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-7873-2161-2 E-Book: ISBN 978-3-7873-2185-8

© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2012. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Christian Tapp. Druck und Bindung: Strauss, Mörlenbach. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DINISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Der Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2. Das Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 3. Der Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

Bernard Bolzano Paradoxien des Unendlichen Vorwort [des Erstherausgebers Príhonský] . . . . . . . .

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Inhalt[sübersicht] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Paradoxien des Unendlichen . . . . . . . . . . . . . . . .

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§. 1 §. 2 §. 3 §. 4 §. 5 §. 6 §. 7 §. 8 §. 9 §. 10 §. 11 §. 12

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§. 13 . §. 14 . §. 15 . §. 16 . §. 17 . §. 18 . §. 19 . §. 20 . §. 21 . §. 22 . §. 23 . §. 24 .

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50 52 58 59 59 61 64 65 67 68 70 71

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inhaltsverzeichnis

§. 25 . §. 26 . §. 27 . §. 28 . §. 29 . §. 30 . §. 31 . §. 32 . §. 33 . §. 34 . §. 35 . §. 36 . §. 37 . §. 38 . §. 39 . §. 40 §. 41 . §. 42 . §. 43 . §. 44 §. 45 . §. 46 §. 47 .

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§. 48 . §. 49 . §. 50 . §. 51 . §. 52 . §. 53 . §. 54 . §. 55 . §. 56 . §. 57 . §. 58 . §. 59 . §. 60 §. 61 . §. 62 . §. 63 . §. 64 §. 65 . §. 66 §. 67 . §. 68 . §. 69 . §. 70 .

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Anmerkungen des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . 169 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222

Vorwort

Eine gewisse Begeisterung für Werk und Person Bernard Bolzanos kann ich als Herausgeber dieses Bandes schwerlich verstecken. Sie wurde geweckt durch das schlichte Lesen und Mitdenken, das Mitgehen auf den beeindruckenden Gedankenwegen dieses immer noch zu wenig gewürdigten Philosophen, Theologen und Mathematikers. Getroffen war ich auf Bolzano schon häufig, während des Studiums und später. Die für nachhaltige Begeisterung notwendige Intitialzündung verdanke ich jedoch dem Kollegen Winfried Löffler aus Innsbruck. Ihm bin ich dafür ebenso verbunden, wie den Kollegen Jan Berg (München), Wolfgang Künne (Hamburg), Edgar Morscher (Salzburg) und Kurt Strasser (Salzburg) für ihre großartige fachliche Unterstützung. Viele ihrer Anregungen sind in diesen Band eingeflossen. Der Arbeitsaufwand dieser Edition konnte nur durch das Engagement des Teams am Lehrstuhl für Philosophisch-Theologische Grenzfragen der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum bewältigt werden. Dafür sei Ilona Dombert, Lisa Ernst, Alfonso Savarino, Andrea Strickmann und besonders Tobias Leibold herzlich gedankt. Marcel Simon-Gadhof und Jens-S. Mann vom Meiner Verlag danke ich für die anspruchsvolle und gute Zusammenarbeit – bei Weitem keine Selbstverständlichkeit mehr im heutigen verlegerischen Geschäft. Bochum, am 5. Oktober 2011, dem 230. Geburtstag Bolzanos Christian Tapp

»Doch den entschiedensten Vertheidiger hat das Eigentlich-Unendliche [. . .] in einem höchst scharfsinnigen Philosophen und Mathematiker unseres Jahrhunderts, in Bernhard [!] Bolzano gefunden, der seine betreffenden Ansichten namentlich in der schönen und gehaltreichen Schrift: ›Paradoxien des Unendlichen, Leipzig 1851‹ entwickelt hat, deren Zweck es ist, nachzuweisen, wie die von Skeptikern und Peripathetikern aller Zeiten im Unendlichen gesuchten Widersprüche gar nicht vorhanden sind, sobald man sich nur die freilich nicht immer ganz leichte Mühe nimmt, die Unendlichkeitsbegriffe allen Ernstes ihrem wahren Inhalte nach in sich aufzunehmen.« Georg Cantor, Grundlagen einer allgemeinen Mannichfaltigkeitslehre, Leipzig: Teubner 1883 = Ueber unendliche, lineare Punktmannichfaltigkeiten, 5., in: Mathematische Annalen 21 (1883), S. 545–591, hier 560.

Einleitung

1. Der Autor Bernard Bolzano war in vielerlei Hinsicht ein außergewöhnlicher Mensch. Als Wissenschaftler verband er so verschiedene Begabungen wie die eines Mathematikers, eines Philosophen, eines Logikers und eines Theologen. Er war katholischer Priester und ein seine Zuhörer begeisternder Hochschullehrer. Er war ein tiefgläubiger Mensch und fühlte sich ganz der Vernunft verpflichtet. Gedankliche Klarheit, begriffliche Präzision und argumentative Untermauerung seiner Standpunkte galten ihm »als Grundlage für ein vernünftiges, gottgefälliges Leben zum Wohl der Allgemeinheit«.1 Bolzano ist, dem Philosophen Michael Dummett zufolge, Urgroßvater der analytischen Philosophie.2 Von ihm stammt der Satz von Bolzano-Weierstraß, den jeder Mathematikstudent heute in seinem ersten Semester lernt. Bolzanos Talente gipfelten zwar im wissenschaftlichen Bereich, sie erstreckten sich aber viel weiter. Er verstand sich selbst auch als Jugenderzieher, Ratgeber und »Seelenführer«. Er war an künstlerisch-ästhetischen Dingen ebenso interessiert wie an didaktisch-organisatorischen Fragen. Er war ein Sozialethiker und leidenschaftlicher Theoretiker einer gerechten Staatsordnung im Dienste der Glückseligkeit aller. In seinen Werken legte Bolzano stets viel Wert darauf, die Positionen anderer Denker darzustellen und kritisch zu disku1 2

Strasser, Einleitung [2001], 11. Dummett, Ursprünge [1988], 167.

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tieren. Und doch war er in seinem Denken extrem selbständig – zu selbständig vielleicht. Anfang 1820 wurde er seines Amtes als ordentlicher öffentlicher Professor der Religionslehre an der Prager Unversität enthoben. Die Umstände der Amtsenthebung liegen teilweise bis heute im Dunkeln. Klar scheint, dass nicht einfach die kirchlichen Autoritäten einen modernistischen oder rationalistischen Professor loswerden wollten. Reaktionären politischen Kreisen waren die Erziehungsideale Bolzanos ein Dorn im Auge. Doch die enge Verflechtung von Kirche und Staat im damaligen Österreich gestattet eigentlich kaum zu entscheiden, ob seine Absetzung auf das Konto der Kirche oder das des Staates ging. Bolzano wollte seine Studenten jedenfalls zu mündigen Staatsbürgern heranbilden, die nicht einfach blind der Autorität gehorchten, sondern sich ihre eigenen Überzeugungen bilden und diese auch demokratisch vertreten sollten. Er prophezeihte eine kommende Zeit ohne Rang- und Klassengrenzen, dafür aber mit einer funktionierenden Verfassung. Das rief restaurative Kräfte in Kirche und Staat auf den Plan, die Bolzano bekämpften, allen voran der Leibarzt von Kaiser Franz I., Andreas Josef Freiherr von Stifft. Trotz einer Denunziation Bolzanos bei der römischen Kurie hatte der Prager Erzbischof Wenzel Leopold Chlumˇcansk´y Bolzano lange gegen Wiener Invektiven in Schutz genommen und sich hinter ihn gestellt. Nach der offiziellen Amtsenthebung, die ein Lehr-, Publikations- und Predigtverbot einschloss, setzte er zwar ein kirchliches Untersuchungsverfahren mit dem Ziel eines förmlichen Widerrufs in Gang. Schließlich genügte aber eine Erklärung Bolzanos über seine Rechtgläubigkeit sowie die feierliche Ablegung des Glaubensbekenntnisses vor dem Erzbischof am Silvestertag 1825. Der Amtsenthebung waren 15 sehr produktive Jahre als Professor der Religionslehre vorausgegangen. Im Alter von nur 23 Jahren war Bolzano 1805 auf diese neugeschaffene Professur berufen worden, mit dem Auftrag, die weltanschauliche, religiöse und moralische Bildung der (Philosophie-) Studierenden zu sichern. Dies tat Bolzano nicht nur durch

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seine akademischen Vorlesungen, sondern auch durch die Einrichtung von sog. »Erbauungsreden«. Diese predigtartigen Ansprachen wurden für die Studierenden von einer mühsamen Pflichtübung zu einem beliebten »Muss«. Sie nahmen Bolzano extrem in Anspruch. Viele dieser Texte sind zwischenzeitlich verschollen, andere sind publiziert worden. Bolzano pflegte dem Erstbesten, der ihn darum bat, sein Manuskript in die Hand zu drücken – oft ohne die Aussicht, das Verliehene zurückzubekommen. Aus seinen Vorlesungen ging später eines seiner Hauptwerke, das Lehrbuch der Religionswissenschaft (RW), hervor. »Religionswissenschaft« meint dabei etwas ganz anderes als heute: keine empirische oder historische Religionsforschung, sondern eine interessante Mischung aus Religionsphilosophie, philosophischen Grundlagen der Theologie und einer gewissen Menge katholischer Dogmatik. Wegen des Publikationsverbots im Habsburgerreich gaben Schüler Bolzanos das Werk 1834 im angrenzenden Bayern anonym heraus. Seit 2006 liegt es in einer acht Teilbände umfassenden kritischen Edition im Rahmen der Bernard Bolzano-Gesamtausgabe vor. Schon im Jahr 2000 war die kritische Edition seines zweiten Hauptwerks, der Wissenschaftslehre (WL), in zwölf Teilbänden abgeschlossen worden. Die WL, eine großangelegte Grundlegung der Logik und der Wissenschaften, war erstmals im Jahre 1837 erschienen, ebenfalls in dem kleinen Verlag der von Seidelschen Buchhandlung im bayrischen Sulzbach. Bolzanos Leben lässt sich recht natürlich in drei Perioden unterteilen: Die Zeit der Kindheit, des Schulbesuchs und des Studiums (1781–1805), die Prager Professur (1805–1820) und die lange Zeit im Ruhestand bzw. im Exil (1820–1848). Die erste Phase beginnt am 5. Oktober 1781, als Bernard Placidus Johann Nepomuk als viertes von zwölf Kindern in eine, man möchte sagen, typische Familie des Habsburgerreichs geboren wurde: Der Vater Bernard Bolzano stammt aus der Lombardei, genauer vom Comer See im Herzogtum Mailand, die Mutter Cäcilie hingegen aus einer deutschsprachigen

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Familie Maurer in Prag. Der Sohn Bernard »versteht sich als ›Böhme deutscher Zunge‹« und verlässt sein Heimatland Böhmen zeitlebens nicht.3 Der junge Bernard ist ein kränkelndes, leicht schwächliches Kind. Er absolviert das Gymnasium in Prag und studiert anschließend an der dortigen Universität erst Philosophie und Mathematik, dann Theologie. Das akademische Jahr 1804– 1805 muss ein turbulentes Jahr für den gerade 23-Jährigen gewesen sein. 1804 legt er die Rigorosen in Mathematik, Philosophie und Geschichte ab; anschließend fällt endgültig die Entscheidung, Priester zu werden; parallel bewirbt er sich um eine Universitätsprofessur für Mathematik, eine Universitätsprofessur für Religionslehre und eine Stellung als Gymnasialprofessor. Im April 1805 kulminieren dann die Ereignisse: Am 7. April wird er zum katholischen Priester geweiht, am 17. April zum Doktor der Philosophie promoviert und am 19. April tritt er seine Professur für Religionslehre an der Prager Karl-Ferdinands-Universität an (die Ernennung erfolgte schon im Februar 1805). Bolzano fühlte sich lange von religiösen Zweifeln geplagt. Mit Hilfe des Theologiestudiums wollte er sich darüber Gewissheit verschaffen. Die Entscheidung, sich der Theologie und der Kirche zu verschreiben, konnte Bolzano wohl nur treffen, weil er sich letztlich der ausgesprochenen Meinung seines Lehrers, des Pastoraltheologen Marian Mika, anschließen konnte, »die Religion gewähre dem Menschen gewisse sittliche Vorteile, [und] besonders das katholische Christentum diene dazu, das Wohl der Gesamtheit zu fördern«.4 Diese utilitaristische Sicht bestimmte sowohl Bolzanos persönliches Ethos als auch seine moralischen Lehren und ethischen Theorien. Die dritte Phase von Bolzanos Leben, nach der Amtsenthebung, gewinnt ihre spezifische Form durch seine Freundschaft mit Frau Anna Hoffmann, die er 1823 am Totenbett ihrer 3 4

Strasser, Einleitung [2001], 5. Bolzano, Lebensbeschreibung [1836], 27–28.

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Tochter kennenlernt. Mit ihrer Familie verbringt er zunächst die Sommermonate in einem Landgut im südböhmischen Tˇechobuz, während er sich im Winter weiter bei seinem Bruder in Prag aufhält. 1830 zieht er mit Familie Hoffmann dauerhaft nach Tˇechobuz, wo er bis 1841 lebt und arbeitet. In diesem Jahr erkrankt Anna Hoffmann schwer, und alle ziehen nach Prag zurück, wo Frau Hoffmann 1842 stirbt. Bolzano lebt von dieser Zeit bis zu seinem Tod bei seinem Bruder, der einst die Firma des Vaters übernommen hatte. Bolzano selbst stirbt am 18. Dezember 1848 an einer sog. »Lungenlähmung«, vermutlich in Folge einer langwierigen Lungenerkrankung. Schon 1815 war Bolzano Mitglied der Königlich Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften geworden und 1819 schon einmal deren Direktor. Nun, nach seiner Rückkehr aus dem selbst gewählten »Exil«, schließt er sich der Gesellschaft wieder enger an und bekleidet gleich eine Reihe von Funktionen: als Direktor der mathematischen Sektion (1841– 1845), als Direktor der philosophischen Sektion (1842–1845), als Direktor der neu gegründeten Sektion für Philosophie und reine Mathematik (1845–1848), und ab 1843 sogar noch einmal als Direktor der gesamten Gesellschaft. Bolzano ist ein sehr selbständiger Denker und daher mit herkömmlichen Kategorien schwer zu fassen. So gilt er vielen als überzeugter Kantianer5 – und doch widmet er eine »Einschaltung« in seiner Religionswissenschaft einer Kritik an Kant und der nachkantischen deutschen Philosophie (RW I § 60– 63). Darin entwickelt er z. B. die zentrale Unterscheidung analytischer und synthetischer Urteile anders als Kant und kritisiert dessen Erklärung des Zustandekommens synthetischer Urteile und besonders, dass Kant dabei nur diejenigen Schlüsse, die zu empirischen Urteilen führen, als Wahrscheinlichkeitsschlüsse ansieht. Und auch wenn es um die Vorbilder in der antiken Philosophie geht, lernt er zwar viel von Aristoteles, aber eben auch von den Platonikern, den Vorsokrati5

Vgl. Künne, Versuche [2008], 315.

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kern, den Stoikern u. v. a. m. Seine Belesenheit in der Philosophiegeschichte ist enorm und oft findet man in Fußnoten oder Randbemerkungen tiefgehende Interpretationsvorschläge zu griechischen oder lateinischen Originaltexten. Bolzano hat viele spätere Entwicklungen in gewissem Umfang vorweggenommen. Das gilt sowohl für die mathematischen als auch für die philosophischen Teile seines Werkes. Das wichtigste Beispiel für die mathematische Seite aus dem vorliegenden Werk, den Paradoxien, ist vielleicht die Entdeckung, dass die ein-eindeutige Zuordenbarkeit auf eine echte Teilmenge ein Charakteristikum unendlicher Mengen ist. Erst ein knappes halbes Jahrhundert später wurde dies durch Cantor und Dedekind zur bis heute als Standard geltenden mathematischen Unendlichkeitsdefinition ausgebaut. Ohne hier ins Detail gehen zu können, sei noch erwähnt, dass wir bei ihm hundert Jahre vor Carnap einen ausgearbeiteten Begriff logischer Wahrscheinlichkeit finden; dass er u. a. mit seinem Begriff von »Wahrheiten an sich« schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts dem Psychologismus den Kampf angesagt hat; dass er hundert Jahre vor Wittgenstein es als Aufgabe angesehen hat, die Philosophie von sinnlosen Begriffsstreitereien zu befreien; dass er die Relationen der Ableitbarkeit, der Begründung (»Abfolge«) und der Kausalität in aller Deutlichkeit unterschieden hat; dass er in einer Rezension auf die überragende Anwendungsbreite der unter einem allzu engen Titel publizierten Ideen des Physikers Christian Doppler hingewiesen hat; dass er in der Religionsphilosophie schwierige Fragen nach der Vereinbarkeit verschiedener Gottesprädikate auf einem Niveau bearbeitet hat, das wohl erst mit der analytischen Religionsphilosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder erreicht worden ist; dass er auf utilitaristischer Grundlage die moralischen Imperative eines gottesfürchtigen und tugendhaften Lebens wiedergewinnen konnte; dass er die Kirche als Mittel zur Errichtung des Reiches Gottes und nicht Zweck an sich selbst angesehen, sie als solches Mittel aber als alternativlos und

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dem Gemeinwohl förderlich betrachtet hat; dass er längst vor 1848 (seinem Todesjahr) überzeugter Demokrat war, von eher liberaler Gesinnung, von dem Wert von Religions- und Denkfreiheit überzeugt.6 Diese Liste kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Aber wenn sie einlädt, sich mit dem Denken dieses außergewöhnlichen und faszinierenden Menschen zu beschäftigen, hätte sie ihr Ziel erreicht.7

2. Das Werk In den Paradoxien des Unendlichen will Bolzano den »Schein des Paradoxen«, der in den Augen vieler Zeitgenossen dem Unendlichkeitsbegriff anhaftet, als bloßen Schein entlarven und die Grundlage für die Akzeptanz einer mathematischen Theorie des Unendlichen sichern, die in seinen Augen in jedem Fall, in dem zu Recht vom Unendlichen die Rede ist, auf irgendeine Weise zum Tragen kommt. Zur Orientierung im Werk ist es sinnvoll, die 70 Paragraphen der PdU drei Teilen zuzuordnen, die jeweils ungefähr einem Drittel des Textes entsprechen, – auch wenn diese Unterteilung nicht völlig trennscharf ist. Im ersten Drittel (§§. 1–27) bestimmt Bolzano das Ziel der Abhandlung, entwickelt die grundlegende philosophische Begrifflichkeit und seinen eigenen Unendlichkeitsbegriff. Er wi6

Bei der Abwägung zwischen dem Gleichheitsanspruch aller Bürger eines Staates und ihren Freiheitsrechten dominierte jedoch ersterer. So hat Bolzano in seiner Utopie eines besten Staates diesem Staat durchaus das Recht zugesprochen, wissenschaftliche oder künstlerische Betätigung von Bürgern einzuschränken, so Morscher, Life and Work [2008], 117–120. 7 Für Informationen zu Bolzanos Leben bietet sich zunächst das autobiographische Werk Bolzano, Lebensbeschreibung [1836], sowie die frühe Biographie von Gregor Zeithammer (veröffentlicht als Zeithammer, Biographie [1997]) an. Am besten informiert ansonsten immer noch Berg/Morscher/Ganthaler, Biographie [1987]; daneben ist Morscher, Life and Work [2008], 17–27 empfehlenswert. Nicht ebenso zuverlässig, aufgrund der Ausführlichkeit aber immer noch lesenswert ist Winter, Lebensbild [1969].

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derlegt mögliche Einwände gegen ihn, kritisiert andere Konzeptionen und bietet eine Reihe von Beispielen für unendliche Inbegriffe – sowohl aus dem Bereich des Nichtwirklichen als auch aus dem Bereich des Wirklichen. Schließlich stellt er dar, welche Beziehungen zwischen unendlichen Mengen bzw. Größen bestehen und welche nicht bestehen können. Im zweiten Drittel (§§. 28–49) geht es um Paradoxien des Unendlichen in der Mathematik, speziell in der allgemeinen Größen- und Zahlenlehre wie auch in deren Anwendung in der Lehre von Zeit und Raum (§§. 38–49). In diesem Zusammenhang entwickelt Bolzano auch seine Ideen für eine Rechnung mit dem Unendlichen. Das letzte Drittel (§§. 50–70) ist Paradoxien auf dem Gebiet der Physik und der Metaphysik gewidmet, d. h. Paradoxien, die im Rahmen von Theorien über die Wirklichkeit auftreten. Bolzano entwickelt hier seine atomistische Theorie von Substanzen, ihren Kräften, ihrer räumlichen Anordnung und Bewegung. Bolzano ist seinem Ziel, die Widerstände gegen die Rede vom Unendlichen aus dem Weg zu räumen und eine präzise, mathematische Art, von Unendlichkeit zu sprechen, zu entwickeln, recht nahe gekommen. Und doch war es ein anderer, dessen mathematische Unendlichkeitstheorie schließlich durchschlagend war: Georg Cantor (1845–1918). Cantor hat die Mengenlehre entwickelt und eine bis heute unbeanstandete Theorie aktual unendlicher Zahlen aufgestellt. Von ihm stammt eine der ersten befriedigenden Theorien der reellen Zahlen. Gemeinsam mit Richard Dedekind hat er die beiden Unendlichkeitsdefinitionen entwickelt, die in der heutigen Mathematik Standard sind (siehe dazu unten die Anmerkung zu §. 9, S. 174). Bolzanos Werk hingegen stammt aus einer früheren Epoche, zwischen der Entwicklung der Analysis durch Leibniz und Newton und der Cantorschen Rehabilitierung des Unendlichen. Von einer »Rehabilitierung« kann man hier sprechen, da das Unendliche früher in Form unendlich kleiner

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Größen in der Analysis aufgetreten war. So war zum Beispiel die Rede davon, die Tangente an eine Kurve sei eine Sekante zu zwei Punkten mit unendlich kleinem Abstand. Die vielerlei Widersprüche, in die einen die ungeregelte Verwendung dieser Redeweise verwickelt, führte dazu, das Kind mit dem Bade auszuschütten und das Unendliche gleich völlig aus der Mathematik zu verbannen. Sprichwörtlich steht dafür das vielzitierte Diktum von Carl Friedrich Gauß (1777–1855): Ich protestiere »zuvörderst gegen den Gebrauch einer unendlichen Grösse als einer Vollendeten, welcher in der Mathematik niemals erlaubt ist. Das Unendliche ist nur eine façon de parler, indem man eigentlich von Grenzen spricht, denen gewisse Verhältnisse so nahe kommen als man will, während anderen ohne Einschränkung zu wachsen verstattet ist. In der Bildersprache des Unendlichen [. . .] ist aber nichts Widersprechendes, wenn der endliche Mensch sich nicht vermisst etwas Unendliches als etwas Gegebenes und von ihm mit seiner gewohnten Anschauung zu Umspannendes betrachten zu wollen. Sie sehen, daß hier in der That der Fragepunkt unmittelbar an die Metaphysik streift.«8

Insbesondere die Arbeiten von Cauchy – Bolzano teilweise gut bekannt – und die späteren Arbeiten von Weierstraß zeigten, wie man die Analysis tatsächlich ohne den problematischen Begriff aktual unendlich kleiner Größen aufbauen konnte, nämlich mittels des Grenzwertbegriffs. Gauß umschreibt ihn in dem oben zitierten Ausschnitt als »Grenzen, denen gewisse Verhältnisse so nahe kommen als man will«. So konnte die Steigung f ′ einer Tangente an eine Kurve f nun bestimmt werden als Grenzwert des Differenzenquotienten: f ′ (x) = lim h→0 8

f (x + h) − f (x) , h

Brief an Schumacher vom 12. 7. 1831, Gauss, Schumacher-Briefwechsel [1975], 268–271.

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falls dieser Grenzwert existiert – und nur dann heißt f in x differenzierbar. Bolzano hat diese Situation recht klar erkannt, wenn man bedenkt, dass er anders als wir ja nur den einen Teil der Geschichte, nämlich das, was vor ihm geschehen war, kannte. In Bezug auf den Unendlichkeitsbegriff in der Mathematik ist dies das Ziel der PdU: zu zeigen, dass nichts gegen eine Verwendung des Unendlichen in der Mathematik spricht, wenn man gewisse Vorsichtsmaßregeln beachtet, die einen gegen das Auftreten von Widersprüchen schützen. Solche Widersprüche muß man in jedem Fall vermeiden. Falls sie in einem schwachen Sinne »auftreten«, muss man sie »auflösen«. Das heißt: Wenn Argumente oder Rechnungen vorgeführt werden, die auf einen Widerspruch führen, so muss man versuchen, mittels begrifflicher Differenzierungen, klarer Definitionen, strengerer Schlussfolgerungen usw. diese Widersprüche als Scheinwidersprüche zu entlarven. Denn echte Widersprüche sind bei diesem faszinierenden Thema des menschlichen Denkens nicht anzutreffen – das ist Bolzanos Grundüberzeugung. Und von daher versteht sich auch sein Verständnis von Paradoxien: Es handelt sich um das, was »gegen« die Meinung oder den Anschein steht, nämlich um das, was man als widersprüchlich vermeint. Eine Paradoxie ist für Bolzano also etwas, das den Anschein des Widersprüchlichen trägt, ohne wirklich widersprüchlich sein zu müssen. In Bezug auf Paradoxien des Unendlichen kann es also nur darum gehen, diesen Anschein zu beseitigen, um damit einen gewichtigen Einwand gegen das Unendliche als Gegenstand der Mathematik oder anderer Wissenschaften auszuräumen. Und genau dies ist das Anliegen der PdU (vgl. §. 1, S. 39). Wenn hier hauptsächlich von der mathematischen Behandlung des Unendlichen die Rede ist, so ist das sachlich ganz angemessen, denn nach Bolzano ist eine Theorie des Unendlichen primär eine mathematische Angelegenheit. Wie verhält es sich dann mit den anderen Wissenschaften, die vom Unendlichen sprechen, wie etwa der Philosophie oder

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der Theologie? Es ist ja zum Beispiel von der »Unendlichkeit Gottes« die Rede, von der »Endlichkeit unseres Erkenntnisvermögens« oder der »Endlichkeit des Denkens«. Bolzano argumentiert in den PdU dafür, dass all diese anderen Begriffsverwendungen entweder Fehlverwendungen sind oder mit einem mathematisch-quantitativen Unendlichkeitsbegriff zusammenhängen. Etwas genauer gesagt ist Bolzano der Ansicht, dass wir nur da zu Recht von der Unendlichkeit einer Sache sprechen, wo wir auch Merkmale finden, die quantitativ unendlich sind. Er behauptet damit strenggenommen nur, dass in jedem Fall, wo von Unendlichkeit gesprochen werden kann, auch quantitative Unendlichkeit vorliegt. Er behauptet nicht, dass man die möglicherweise vorhandenen anderen Arten von Unendlichkeit auf die quantitative reduzieren kann. Andernorts habe ich zu zeigen versucht, dass gewisse Spannungen in Bolzanos Lehre von der Unendlichkeit Gottes darauf hindeuten, dass vielmehr ein allgemein-philosophischer Unendlichkeitsbegriff im Hintergrund seiner Überlegungen stand.9 Es geht in diesem Bändchen also hauptsächlich um philosophische Betrachtungen über Mathematisches und den teilweise problematischen Umgang mit der Unendlichkeit in der früheren Mathematik. Es geht aber auch um die Unendlichkeit Gottes und, jedenfalls kurz, um anderes, das manche Philosophen unter dem »Unendlichen« verstehen wollten. Man wird in der Einleitung noch sagen müssen, worum es in den PdU nicht geht: Bolzano beschäftigt sich mit einer ganzen Reihe von historisch diskutierten Paradoxien, die mit dem Unendlichen zu tun haben, aber bei weitem nicht mit allen, z. B. nicht mit den berühmten Zenonschen Paradoxien (die berühmteste, den Wettlauf von Achilles und der Schildkröte, löst er jedoch in WL III § 377.7 auf). Man kann nur spekulieren, warum Bolzano sie nicht berücksichtigt hat. Vielleicht war ihm zu offensichtlich, dass es sich im Allgemeinen um »non9

Siehe Tapp, Beobachtungen [2011].

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sequitur-Argumente« handelt, bei denen an irgendeiner Stelle ein ungedeckter Schluss durchgeführt wurde. Vielleicht war ihm zu klar, dass diese Paradoxien vom Begriff des potentiell Unendlichen abhängen, den er in §. 11 der PdU in Grund und Boden kritisiert. Vielleicht war es aber auch einfach nur so, dass sein Tod 1848 die PdU genauso unvollendet gelassen hat wie das große mathematische Werk, in das weite Teile der PdU eigentlich einzuordnen wären: die Mathematische Größenlehre. Bolzanos eigene mathematische Theorie davon, wie man unendliche Punktmengen größenmäßig vergleichen könnte, ist mathematikgeschichtlich überholt. Es scheint mir weniger klar zu sein, ob sie tatsächlich inkonsistent ist, wie einige Kommentatoren meinen, oder nur vor dem Hintergrund der heutigen Theorien etwas skurril erscheint.10 Unabhängig davon könnten manche der von Bolzano behandelten Paradoxien dem heutigen, mathematisch vorgebildeten Leser als Merkwürdigkeiten erscheinen. Und wahrscheinlich ist dieser Eindruck gar nicht so falsch, wenn man sich klarmacht, dass Bolzano in einer Zeit schreibt, in der eine klare Vorstellung der reellen Zahlen noch bei weitem nicht so selbstverständlich und verbreitet war wie heute. Man sollte generell im Kopf behalten, dass Bolzano die Paradoxien, die er auflösen will, als bloße »Scheinwidersprüche« angesehen hat (vgl. §. 1). Wie viel Eingängigkeit kann man verlangen, wenn jemand Meinungen und Argumente anderer schildert, die er eigentlich als unklar, ungenau oder bloßen Schein entlarven will? De facto war Bolzano jedenfalls ein Pionier in der Theorie der reellen Zahlen, auch wenn sie erst mit Cantor (Fundamentalfolgen), Dedekind (Schnitte) und Hilbert (Axiomatik) ihre bis heute gültigen Formen gefunden hat.11 10

Zur Größenlehre Bolzanos siehe Behboud, Bolzanos Beiträge [2000]. Eine kompakte Darstellung von Bolzanos Theorie der reellen Zahlen bietet bspw. Gericke, Zahlbegriff [1970], Kap. 5.3; siehe auch noch Rootselaar, Theory [1963], Rychlik, Theorie [1962]. 11

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Bemerkenswert ist neben seiner Entdeckung des Zwi>0 schenwertsatzes (s. Illustration)12 auch seine klare 1 ist, wo die Reste somit nur umso höher steigen, je weiter das Geschäft des Dividierens fortgesetzt wird, ist nichts begreiflicher, als dass 10 u. a. m. ] 1851 u. m. a. fortsgesetzt

32 umso ] 1851 um so

33 fortgesetzt ] 1851

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paradoxien des unendlichen ⋅ §. 32

a der Wert der Reihe dem Quotienten 1−e nicht gleichgestellt werden könne. Oder wie sollte z. B. die Reihe mit abwechselnden Vorzeichen:

1 − 10 + 100 − 1000 + 10000 − 100000 + ⋯ in inf., ∣ 5

10

welche durch eine in das Unendliche fortgesetzte Division von 1 + 10 in 1 entsteht, = 111 gesetzt werden dürfen? Wer vollends wollte die aus lauter positiven Gliedern zusammengesetzte Reihe 1 + 10 + 100 + 1000 + ⋯ in inf. 1 durch dem negativen Werte − 91 gleichschätzen, bloß weil 1−10 Entwicklung auf diese Reihe leitet? Gleichwohl nimmt solche Summierungen der vorhin erwähnte M. R. S. noch immer in Schutz, und will z. B. die Richtigkeit der Gleichung

1 − 2 + 4 − 8 + 16 − 32 + 64 − 128 + ⋯ in inf. = 15

nur aus dem Grunde erweisen, weil ja doch x

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1 3

= 1 − 2 + 4 − 8 + 16 − 32 + 64 − ⋯ = 1 − 2(1 − 2 + 4 − 8 + 16 − 32 + ⋯ ) = 1 − 2x

wäre; wobei abermal übersehen ist, dass die in den Klammern enthaltene Reihe gar nicht die nämliche mit der ursprünglich angenommenen sei, weil sie nicht mehr die nämliche Menge der Glieder hat. Dass auch dieser Größenausdruck gegenstandlos sei, erhellt auf ähnliche Art, wie bei dem früher betrachteten, weil er zu widersprechenden Ergebnissen führt. Denn einerseits müsste sein: 1 − 2 + 4 − 8 + 16 − 32 + 64 − ⋯ = 1 + (−2 + 4) + (−8 + 16) + (−32 + 64) + ⋯ = 1 + 2 + 8 + 32 + 64 + ⋯ andererseits ebenso gewiss:

53

90

paradoxien des unendlichen ⋅ §. 33

= (1 − 2) + (4 − 8) + (16 − 32) + (64 − 128) + ⋯ = −1 − 4 − 16 − 64 − ⋯ so dass sich also durch einen doppelten berechtigten Vorgang einmal ein unendlich großer positiver, das andere Mal ein unendlich großer negativer Wert desselben Ausdruckes ergäbe. 54 [A 193]

5

§. 33 Wollen wir also in unseren Rechnungen mit dem Unendlichen nicht auf Irrwege geraten: so dürfen wir nie uns erlauben, zwei unendlich große Größen, die aus Summierung der Glieder zweier unendlicher Reihen entstanden sind, schon darum für gleich, oder die eine für größer oder kleiner als die andere zu erklären, weil je ein Glied in der einen je einem in der anderen Reihe entweder gleich oder größer oder kleiner als das der letzteren ist. Wir dürfen ebensowenig die eine Summe für die größere erklären, bloß weil sie die sämtlichen Glieder der anderen und nebstdem noch gar viele, sogar unendlich viele Glieder (die alle positiv sind) in sich schließt, welche der anderen fehlen. Denn auch bei alledem kann sie noch kleiner, ja unendlichemal kleiner sein als diese. Ein Beispiel liefert uns die sehr bekannte Summe der Quadrate aller natürlichen Zahlen, verglichen mit der Summe der ersten Potenzen dieser Zahlen. Gewiss kann niemand in Abrede stellen, dass jedes Glied der Reihe aller Quadrate 12 + 22 + 32 + 42 + 52 + 62 + 72 + 82 + 92 + 102 + ⋯ in inf. = 1 + 4 + 9 + 16 + 25 + 36 + 49 + 64 + 81 + 100 + ⋯ in inf. =

10

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⎫ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎬ S2 ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎭

weil es ja gleichfalls eine natürliche Zahl ist, auch in der Reihe aller ersten Potenzen der natürlichen Zahlen 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6 + 7 + 8 + 9 + 10 + 11 + 12 + 13 + 14 + 15 + 16 + ⋯ in inf. = S 1

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5

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erscheine; ingleichen dass in der letzteren Reihe S 1 nebst allen Gliedern der S 2 noch gar viele (ja unendlich viele) Glieder erscheinen, die in der Reihe S 2 fehlen, weil sie nicht eben Quadratzahlen sind. Gleichwohl ist S 2 , die Summe aller Quadratzahlen, nicht etwa kleiner, sondern unstreitig größer als S 1 , | 55 die Summe der ersten Potenzen aller Zahlen. Denn erstlich ist, trotz allem Anscheine des Gegenteils, die Gliedermenge in beiden (noch nicht als Summe betrachteten und somit nicht in beliebige Mengen von Teilen zerlegbaren) Reihen gewiss dieselbe. Dadurch, dass wir jedes einzelne Glied der Reihe S 1 in der S 2 auf das Quadrat erheben, ändern wir bloß die Beschaffenheit (die Größe) dieser Glieder, nicht ihre Vielheit. Ist aber die Menge der Glieder in S 1 und S 2 dieselbe: so liegt am Tage, dass S 2 viel größer als S 1 sein müsse, indem, mit Ausnahme des ersten Gliedes, jedes der übrigen in S 2 entschieden größer als das gleichvielste in S 1 ist; so zwar, dass S 2 als Größe betrachtet das ganze S 1 als einen Teil in sich fasst, und noch einen zweiten Teil hat, der für sich selbst abermals eine unendliche Reihe von gleicher Gliederzahl mit S 1 darbietet, nämlich: 0, 2, 6, 12, 20, 30, 42, 56, . . . , n(n − 1), . . . in inf., darin, mit Ausnahme der zwei ersten, alle folgenden Glieder größer als die gleichvielsten in S 1 sind, so dass die Summe der ganzen Reihe unstreitig abermals größer als S 1 ist. Ziehen wir daher von diesem Reste die Reihe S 1 zum zweitenmal ab; so erhalten wir als zweiten Rest eine Reihe von derselben Gliedermenge −1, 0, 3, 8, 15, 24, 35, 48, . . . , n(n − 2), . . . in inf.

30

darin, mit Ausschluss der drei ersten Glieder, abermals alle folgenden größer als die gleichvielsten in S 1 sind; so dass auch dieser dritte Rest ohne Widerspruch größer als S 1 zu schätzen ist. Da sich nun diese Schlüsse ohne Ende fortsetzen lassen, so erhellt, dass die Summe S 2 unendlichemal größer sei als die Summe S 1 ; indem wir allgemein | 56

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paradoxien des unendlichen ⋅ §. 34

S 2 − S 1 = (1 − m) + (22 − 2m) + (32 − 3m) + (42 − 4m) + ⋯ + (m 2 − m 2 ) + ⋯ + n(n − m) + ⋯ in inf. haben, in welcher Reihe nur eine endliche Menge von Gliedern, nämlich nur die m − 1 ersten negativ, das mte = 0, alle folgenden aber positiv sind und ins Unendliche wachsen.

5

§. 34

[A 194]

Ehe wir die Unrichtigkeit der übrigen, schon in §. 31 erwähnten Behauptungen in das gehörige Licht stellen können, müssen wir den Begriff der Null etwas genauer, als man gewöhnlich tut, bestimmen.⋆ Unstreitig wollen alle Mathematiker mit dem Zeichen 0 nur einen solchen Begriff verbunden wissen, dass es, A sei was immer für ein Größenausdruck, unentschieden ob einer wirklichen Größe entsprechend, oder ganz gegenstandlos, erlaubt bleibe, die beiden Gleichungen A− A= 0 A±0 = A

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15

(I) (II)

zu schreiben. Hier wird nun jeder zugestehen, dass dieses nur verstattet sein könne, wenn wir das Zeichen 0 selbst nicht als die Vorstellung einer wirklichen Größe, sondern als bloße Abwesenheit einer Größe und die Zeichnung A ± 0 als eine Forderung betrachten, zu der etwaigen Größe, die A bezeichnet, in Wahrheit weder etwas zusetzen noch abziehen zu wollen. Irrig wäre es aber zu glauben, dass schon die bloße Erklärung, dass Null eine gegenstandlose Größenvorstellung sei, zur vollständigen Bestimmung des Begriffes, den Mathematiker mit 57 diesem Zeichen verbinden, hinreiche. Denn | offenbar gibt es

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25



Sehr gern räume ich Herrn M. Ohm das Verdienst ein, in seinem sehr schätzbaren »Versuche eines vollkommen consequenten Systems der Mathematik« (2. Aufl. Berlin 1828) der erste gewesen zu sein, der auf die Schwierigkeiten in dem Begriffe der Null das mathematische Publikum aufmerksam gemacht hat.

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paradoxien des unendlichen ⋅ §. 34

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93

noch andere in der Mathematik übliche Größenbezeichnungen, wie namentlich √ das in der Analysis so ungemein wichtig gewordene Zeichen −1, die gleichfalls gegenstandlos sind, die wir desungeachtet nicht als gleichgeltend mit 0 ansehen und behandeln dürfen. Bestimmen wir aber die Bedeutung des Zeichens 0 genauer durch die Erklärung: es solle so aufgefasst werden, dass die zwei Gleichungen (I) und (II) allgemein gelten: so stellen wir einen Begriff auf, der einerseits völlig so weit ist, als der bisherige Gebrauch und das Interesse der Wissenschaft es fordert, und andererseits doch auch enge genug ist, um jeden Missbrauch desselben zu verhindern. Es ist aber, näher betrachtet, nicht bloß der Begriff der Null, der durch die festgesetzte Allgemeingültigkeit der beiden Gleichungen (I) und (II) auf eine eigene Weise bestimmt wird, sondern es erfahren auch die Begriffe des Addierens und des Subtrahierens, welche hier unter den Zeichen + und − auftreten, durch die Festsetzung dieser Gleichungen eine eigentümliche Erweiterung, die sehr zum Vorteile der Wissenschaft gereicht. Derselbe Vorteil der Wissenschaft verlangt noch überdies, man möge auch den Begriff der Multiplikation so weit auffassen, dass sich, was auch A sei (ob eine endliche oder unendlich große oder unendlich kleine Größe, √ oder auch eine bloße gegenstandlose Größenvorstellung wie −1 oder 0) die Gleichung 0× A= A×0 = 0 (III) ansetzen lasse. Endlich müssen wir auch im Interesse der Wissenschaft fordern, man möge auch den Begriff der Division so allgemein fassen, als es nur möglich ist, um nicht mit einer der drei schon aufgestellten Gleichungen in Widerspruch zu geraten, also auch in der Gleichung A A B×( )=( )×B = A∣ (IV) 58 B B dem Zeichen B einen so weiten Umfang zu geben, als es nur jene drei Gleichungen in der ihnen schon zugestandenen Allge-

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paradoxien des unendlichen ⋅ §. 34

meinheit erlauben. Diese erlauben nun immerhin, dass B jede beliebige endliche sowohl als unendlich große oder √ unendlich kleine wirkliche Größe, auch wohl die imaginäre −1 bezeichne; schlechterdings aber nicht, dass B = 0 gesetzt werde, d. h. dass wir die Null oder irgendeinen der Null gleichgeltenden Ausdruck jemals als einen Divisor anwenden. Denn da nach (III) 0(A) = 0 sein muss, was immer A sei: so müsste, wenn wir in (IV) B = 0 setzten, auch B( AB ) = 0 sein, welches mit der in (IV) geforderten Gleichung B( AB ) = A nur in dem einzigen Falle, wenn auch A = 0 wäre, übereinstimmen würde. Wir müssen also, um nicht in Widersprüche zu geraten, die Regel festsetzen, dass man die Null oder einen der Null gleichgeltenden Ausdruck nie als Divisor anwenden dürfe in einer Gleichung, welche noch etwas anderes als eine bloß identische sein soll, wie etwa A A = 0 0 Dass die Beobachtung dieser Regel durchaus notwendig sei, beweisen nebst dem soeben Gesagten gar viele höchst ungereimte Folgerungen, die sich aus völlig richtigen Vordersätzen ergeben, sobald wir uns Divisionen mit Null erlauben. Sei a was immer für eine reelle Größe: so stellt sich, wenn das Dividieren durch einen der Null gleichgeltenden Ausdruck, z. B. 1 − 1, erlaubt sein soll, nach der bekannten, gewiss ganz regelrechten Divisionsmethode folgende Gleichung dar: a a = a+a+⋯+a+ 1−1 1−1 wo der Summanden von der Form a jede beliebige Anzahl auftreten kann. Ziehen wir nun zu beiden Seiten den gleichen a 59 Größenausdruck 1−1 ab: so ergibt sich die höchst un|gereimte Gleichung: a + a + ⋯ + a = 0. Sind a und b ein Paar verschiedene Größen: so gelten die zwei identischen Gleichungen:

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paradoxien des unendlichen ⋅ §. 35

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a−b = a−b b − a = b − a. Also durch Addition auch a−a =b−b 5

oder a(1 − 1) = b(1 − 1).

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Ist es nun erlaubt, die beiden Glieder einer Gleichung durch einen der Null gleichgeltenden Faktor zu dividieren, so erhalten wir das ungereimte Ergebnis a = b, was immer a und b sein mögen. Doch es ist allgemein bekannt, dass man nur allzu leicht bei größeren Rechnungen auf ein unrichtiges Ergebnis stösst, wenn man einen gemeinschaftlichen Faktor aus beiden Gliedern der Gleichung entfernt, ohne sich erst überzeugt zu haben, dass er nicht Null sei. §. 35 Es wird nun leicht sein, zu zeigen, wie unrichtig die von so manchen aufgestellte Behauptung sei, dass nicht nur eine unendlich kleine Größe von höherer Ordnung in der Verbindung durch Addition oder Subtraktion mit einer anderen von niederer Ordnung oder mit einer endlichen, sondern auch jede endliche, ja selbst unendlich große von jeder beliebig hohen Ordnung in ihrer Verbindung durch Addition oder Subtraktion mit einer anderen unendlich großen von höherer Ordnung gleich einer bloßen Null verschwinde. Soll dies nun so verstanden werden – und in dem gewöhnlichen Vortrage, der noch etwas unvorsichtiger als die soeben gebrauchten Ausdrücke lautet, warnt man vor einer solchen Missdeutung nicht – soll dieses, sage ich, so ausgelegt werden, dass man aus dem Komplexe der beiden Größen M ± m, deren die erste unendlichemal größer ist als die zweite, diese schlechterdings weglassen

[A 194]

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paradoxien des unendlichen ⋅ §. 35

dürfe, auch wenn in dem Verfolge der Rechnung | die Größe M vielleicht selbst (etwa durch Abzug einer ihr gleichen) wegfällt: dann brauche ich die Irrigkeit dieser Regel nicht erst zu beweisen. Doch man wird sagen: So sei es nicht gemeint. Wenn man die Größen M und M ± m für gleich erkläre, so meine man nicht, dass sie ein gleiches Resultat gewähren, wenn sie in fortgesetzter Rechnung neue Verbindungen durch Addieren oder Subtrahieren eingehen; sondern ihre Gleichheit bestehe nur darin, dass sie bei dem Geschäfte des Messens, namentlich durch eine Größe N, welche von gleichem Range mit ihnen, in einem endlichen (also völlig bestimmbaren) Verhältnisse zu einer von ihnen, z. B. M, steht, gleiche Ergebnisse darbieten. Dies wäre in der Tat das Geringste, was man zu der Erklärung, dass ein Paar Größen gleich groß sind, zu fordern berechtigt ist. Aber leisten denn M und M ± m auch nur so viel? Steht die eine derselben, z. B. M, in einem irrationalen Verhältnisse zum Maße N, so kann es sich allerdings treffen, dass wir bei der gewöhnlichsten Weise des Messens, welche zu jeder beliebigen auch noch so großen Zahl q eine andere p von der Beschaffenheit sucht, dass M p p+1 > < N q q

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1

sei; und es kann sich fügen, dass auch M±m fortwährend in N denselben Grenzen verbleibt, d. h. dass sich auch M±m p p+1 > < N q q 1

Sowohl die 1851er Ausgabe als auch die Príhonský-Reinschrift schreiben diese Ungleichungskette so. Sie ist gemäß heute üblicher Notation wohl als p p+1 < M < q zu lesen. Es scheint, dass Bolzano bei Verkettungen von Ungleiq N chungen anderen Konventionen folgte als heute üblich: Zwei Ungleichungen X < Y und X > Z fasst er durch X > Z < Y zusammen anstatt durch Z < X < Y. Dies wird plausibel, wenn man X > Z < Y folgendermaßen liest: »X ist größer als Z und kleiner als Y«.

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paradoxien des unendlichen ⋅ §. 36

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findet. Ist aber das Verhältnis M rational: so gibt es ein q, für N welches M p = N q p

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entweder > oder < q ist; wo also ein | Unter- 61 und dagegen M±m N schied zwischen diesen Größen selbst im Vergleiche zu bloßen Zahlen (endlichen Größen) sich kund gibt. Wie also dürften wir sie einander gleich nennen? §. 36

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Um solche Widersprüche zu vermeiden, nahmen nach Eulers Vorgange mehrere Mathematiker ihre Zuflucht zu der Erklärung, dass die unendlich kleinen Größen in der Tat bloße Nullen, die unendlich großen Größen aber die Quotienten wären, welche aus einer endlichen Größe durch die Division mit einer bloßen Null hervorgehen. Durch diese Feststellung hatte man das Verschwinden oder Wegwerfen einer unendlich kleinen Größe in ihrer Verbindung durch Addition zu einer endlichen mehr als gerechtfertigt; desto schwieriger aber war es, das Dasein der unendlich großen Größen, ingleichen die Möglichkeit des Hervorgehens einer endlichen Größe durch die Division zweier unendlich kleiner oder auch großer Größen und das Vorhandensein unendlich kleiner und großer Größen höherer Ordnungen begreiflich zu machen. Denn die unendlich große Größe kam auf diese Art durch eine Division mit Null oder einem der Null gleichgeltenden Größenausdrucke (der eigentlich eine gegenstandlose Vorstellung ist), also auf eine durch die Gesetze des Rechnens verbotene Weise zum Vorschein; an allen jenen endlichen oder auch unendlichen Größen aber, die man durch Division einer unendlichen in eine andere unendliche Größe hervorgehen ließ, haftete die Makel der illegitimen Geburt vervielfacht. Was noch am meisten für die Richtigkeit dieser Rechnung mit Nullen zu sprechen scheint, ist wohl die Art, wie man den

[A 196]

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paradoxien des unendlichen ⋅ §. 36

Wert einer von der veränderlichen x abhängigen Größe y, der durch die Gleichung Fx 62 y= ∣ Φx bestimmt werden soll, in dem besonderen Falle berechnet, wenn ein gewisser Wert von x = a entweder den Nenner dieses Bruches allein oder den Nenner und den Zähler zugleich zu Null macht. In dem ersten Falle, wenn Φa = 0 wird, Fa aber eine endliche Größe verbleibt, schließt man, dass y unendlich groß geworden sei. In dem zweiten Falle dagegen, wenn sowohl Φa als Fa =0 sind, schließt man, dass die beiden Ausdrücke Φx und Fx den Faktor von der Form (x − a) einoder etlichemal enthalten und somit von der Form Φx = (x − a)m ⋅ φx;

5

10

Fx = (x − a)n ⋅ f x

sein müssen: wo allenfalls φx oder f x auch Konstante vorstellen können. Ist nun m > n, so schließt man, dass, auch nach Fx nicht ändernden Aufhebung einer den Wert des Bruches Φx der gemeinschaftlichen Faktoren im Nenner und im Zähler, der erstere für x = a immer noch zu Null werde, und bleibt somit bei der Behauptung, dass der Wert x = a ein unendlich fx Fx großes y gebe. Ist aber m = n, so sieht man, da Φx = φx sein

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fa

muss, die endliche Größe, die φa ausdrückt, als den richtigen Wert von y an. Und ist endlich m < n, so schließt man, weil jetzt Fx (x − a)n−m ⋅ f x = Φx φx für x = a zu Null wird, dass der Wert x = a die Größe y zu Null mache. Über dies Verfahren denke ich so. Wenn der zu x = a gehörige Wert von y in den angegebenen Fällen für ∞ groß erklärt wird: so kann das offenbar nur dann und dann nur zufällig wahr sein, wenn die Größe y zu der Art derer gehört, die auch unendlich groß werden können; allein es bleibt dabei,

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paradoxien des unendlichen ⋅ §. 36

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dass dieses Ergebnis aus dem gegebenen Ausdrucke, der hier eine Division durch Null verlangt, nicht her|vorgeht. Bloß aus 63 dem Umstande, dass gesagt wird, der Wert von y sei immer Fx angibt, lässt sich der nämliche, den der gegebene Ausdruck Φx nur schließen auf die Beschaffenheit der Größe y für alle jene Werte von x, die eine wirkliche Größe vorstellen, nicht aber für solche, bei denen dieser Ausdruck gegenstandlos wird; wie dies der Fall ist, wenn sein Nenner oder auch nur sein Zähler oder gar beide zugleich Null werden. Wohl lässt sich sagen, dass die Größe y in dem zuerst erwähnten Falle, wo nur Φx = 0 ist, größer, und in dem zweiten Falle, wo nur Fx = 0 ist, kleiner als jede gegebene werde, endlich im dritten Falle, wo Fx eine gleiche Anzahl von Faktoren von der Form (x − a) im Φx fa Nenner und Zähler enthält, dem Werte φa so nahe komme, als man will, indem man x dem Werte a so nahe rückt, als man will: allein aus allem diesem folgt nichts für die Beschaffenheit Fx dieses Wertes dort, wo der Ausdruck Φx gegenstandlos ist, d. h. gar keinen Wert darstellt, weil er entweder die Form 0 selbst oder die Form 0c oder gar die Form 00 annimmt. Denn der Satz von der Gleichheit des Wertes zweier Brüche, deren der eine sich von dem anderen nur durch die Aufhebung eines gemeinschaftlichen Faktors im Nenner und Zähler unterscheidet, gilt wohl in allen Fällen, nur in dem Falle nicht, wo dieser Faktor eine Null ist; weil sonst mit eben dem Rechte, mit dem wir behaupten wollten, dass 2⋅0 = 23 ist, auch behauptet werden 3⋅0 dürfte, dass jede beliebige Größe, z. B. 1000 = 23 sei. Denn sicher ist doch sowohl 3000 ⋅ 0 = 0, als auch 2 ⋅ 0 = 0. Wenn also 2⋅0 = 23 | gesetzt werden darf, so darf auch 2×(3000⋅0) = 64 3⋅0 3×(2⋅0) (2⋅3000)⋅0 (3⋅2)⋅0

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= 2⋅3000 = 1000 gesetzt werden. 3⋅2 Der Fehlschluss, der hier in die Augen springt, fällt oben nur deshalb minder auf, dass man die Division mit dem einer Null gleichgeltenden Faktor (x − a) in einer Form vornimmt, die diesen Nullwert verhüllt. Und weil die Fortschaffung desselben in jedem anderen Falle erlaubt ist, so nimmt man umso 34 umso ] 1851 um so

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paradoxien des unendlichen ⋅ §. 37

zuversichtlicher an, sie auch in diesem Falle sich erlauben zu dürfen, weil der für y sich herausstellende Wert gerade so ausfällt, wie man ihn zu erwarten berechtigt zu sein glaubt; nämlich wenn er ein endlicher ist, genau wie das Gesetz der Stetigkeit ihn fordert, Null, wenn die nächststehenden bis auf Null abnehmen, und unendlich groß wenn die nächststehenden in das Unendliche zunehmen. Allein hierbei vergisst man, dass das Gesetz der Stetigkeit keineswegs von allen veränderlichen Größen beobachtet werde, ingleichen dass eine Größe, welche so klein wird, als man nur will, indem man x dem Werte a so nahe bringt, als man will, darum noch eben nicht für x = a zu Null werden müsse; und dass sie ebensowenig, wenn sie in das Unendliche wächst, während sich x dem Werte a nähert, für x = a in Wahrheit unendlich werde. Es gibt ja namentlich in der Geometrie unzählig viele Größen, die kein Gesetz der Stetigkeit kennen, z. B. die Größen der Linien und Winkel, die zur Bestimmung der Umfangslinien und Oberflächen der Polygone und Polyeder dienen u. a. m.

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§. 37

[A 196]

Obgleich wir der bisherigen Darstellungsweise der Lehre von dem Unendlichen so viele wichtige Mängel, wie ich glaube, nicht mit Unrecht vorwerfen mögen: so ist es doch bekannt, 65 dass man meistens ganz richtige Ergeb|nisse erhält, wenn man die Regeln, die in der Rechnung mit dem Unendlichen allgemein eingeführt sind, mit der gehörigen Vorsicht befolgt. Solche Ergebnisse hätten sich nimmer darbieten können, wenn es nicht eine Weise der Auffassung und Handhabung dieser Rechnungsmethode gäbe, die wirklich untadelhaft ist; und gerne will ich glauben, dass es im Grunde nur diese gewesen sein dürfte, die den scharfsinnigen Erfindern jener Methode im Geiste vorgeschwebt, ob sie auch nicht sogleich imstande waren, ihre Gedanken hierüber mit aller Deutlich18 u. a. m. ] 1851 u. m. A.

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keit auseinanderzusetzen; eine Sache, die in schwereren Fällen insgemein erst nach wiederholten Versuchen gelingt. Sei es mir denn verstattet, hier nur in wenigen Umrissen anzudeuten, wie ich diese Methode des Rechnens glaube auffassen zu müssen, damit sie vollkommen zu rechtfertigen wäre. Es wird genügen, von dem Verfahren zu sprechen, das bei dem sogenannten Differential- und Integralkalkül zu beobachten ist, denn die Methode des Rechnens mit dem unendlich Großen ergibt sich dann schon durch den bloßen Gegensatz leicht, zumal nach allem, was Cauchy hierüber schon geleistet. Ich also bedarf hier schlechterdings nicht der so beengenden Voraussetzung, die man wohl sonst für nötig erachtete, dass die in Rechnung zu nehmenden Größen unendlich klein werden können; eine Beschränkung, wodurch alle begrenzte Zeit- und Raumgrößen, auch alle Kräfte begrenzter Substanzen, also im Grunde alle Größen, an deren Bestimmung uns gerade am meisten liegt, aus dem Bereiche dieser Rechnungsmethode im Vorhinein ausgeschieden werden. Ich begehre nichts anderes, als dass diese Größen, falls sie veränderlich und doch nicht frei veränderlich, sondern von einer oder mehreren anderen Größen abhängig sind, ihre Abgeleitete (une fonction derivée nach der Lagrange’schen Erklärung) haben; wenn nicht für alle Werte ihrer Bestimmenden, wenigstens für alle diejenigen, auf welche die Rechnung als gültig angewandt werden soll. Mit anderen | Worten, wenn x eine der frei ver- 66 änderlichen Größen und y = f x eine von ihr abhängige bezeichnet: so muss, wenn unsere Rechnung für alle innerhalb x = a und x = b liegende Werte von x ein richtiges Resultat geben soll, y in einer solchen Art von x abhängen, dass für alle innerhalb a und b gelegenen Werte von x der Quotient ∆y f (x + ∆x) − f x = ∆x ∆x welcher zum Vorschein kommt, indem wir den Zuwachs von y durch den ihm zugehörigen von x dividieren, einer entweder

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paradoxien des unendlichen ⋅ §. 37

konstanten oder doch nur von x allein abhängigen Größe f ′ x so nahe kommt, als man will, wenn man nur ∆x klein genug nimmt, und dann noch immer so nahe bleibt oder noch näher rückt, wenn ∆x noch kleiner gemacht wird.⋆ Ist eine Gleichung zwischen x und y gegeben: so ist es insgemein eine sehr leichte und bekannte Sache, diese Abgeleitete von y zu finden. Wäre z. B. y 3 = ax 2 + a 3

5

(1)

so hätte man hier für jedes ∆x, das nur nicht Null ist, (y + ∆y)3 = a(x + ∆x)2 + a 3

(2)

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woraus sich nach bekannten Regeln 2ax + a∆x ∆y = 2 ∆x 3y + 3y∆y + ∆y 2 2ax 3ay 2 ∆x − 6ax y∆y − 2ax∆y 2 = 2 + 3y 9y 4 + 9y 3 ∆y + 3y 2 ∆y 2

(3)

ergibt. Und die gesuchte abgeleitete Funktion der y oder (nach 67 Lagrange’scher Bezeichnung) y ′ wäre |

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2ax , 3y 2 eine Funktion, die aus dem Ausdrucke von ∆y ∆x hervorgeht, wenn wir nach der gehörigen Entwicklung desselben, nämlich nach einer solchen, dabei im Zähler und Nenner ⋆

Es lässt sich zeigen, dass alle abhängig veränderlichen Größen, wenn sie nur überhaupt bestimmbar sind, an dies Gesetz gebunden sein müssen in der Art, dass Ausnahmen davon, wenn auch in einer unendlichen Menge, stets nur für isoliert stehende Werte ihrer frei Veränderlichen eintreten dürfen.

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die in ∆x oder in ∆y multiplizierten Glieder von den übrigen trennend, also in dem Ausdrucke 2ax + a∆x 3y 2 + 3y∆y + ∆y 2 5

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beides, ∆x sowohl als ∆y, =0 setzen. Von welchem vielfältigen Nutzen die Findung dieser Abgeleiteten sei; auf welche Weise jeder einem endlichen Zuwachse von x entsprechende endliche Zuwachs der y vermittels solcher Abgeleiteten sich berechnen lasse; und wie, wenn umgekehrt nur die abgeleitete f ′ x gegeben ist, auch die ursprüngliche Funktion f x bis auf eine Konstante bestimmt werden kann – brauche ich nicht zu sagen. Weil wir aber, wie nur eben angemerkt wurde, die abgeleitete Funktion einer abhängigen Größe y in Bezug auf ihre Veränderliche x erhalten, sobald wir in dem Ausdrucke ∆y ∆x falls er erst so entwickelt wurde, dass weder ∆x noch ∆y irgendwo als Divisoren erscheinen, das ∆x sowohl als auch das ∆y = 0 setzen: so dürfte es wohl nicht so unschicklich sein, die Abgeleitete durch eine Zeichnung wie etwa folgende dy dx darzustellen, wenn wir hierbei erklären, einerseits, dass alle in ∆y der Entwicklung von ∆x vorkommenden ∆x, ∆y oder die allenfalls statt ihrer angeschriebenen dx, d y als bloße | Nullen 68 angesehen und behandelt werden sollen; – andrerseits aber, dy dass man die Zeichnung d x nicht etwa als einen Quotienten von dx in d y, sondern nur eben für ein Symbol der abgeleiteten von y nach x anzusehen habe. Dass einem solchen Verfahren noch keineswegs der Vorwurf gemacht werden könnte, es nehme Verhältnisse zwischen Größen an, die gar nicht vorhanden sind (Null zu Null), ist

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paradoxien des unendlichen ⋅ §. 37

klar; denn man will jene Zeichnung ja eben für nichts anderes als für ein bloßes Zeichen angesehen wissen. Ebenso untadelhaft wird es ferner auch sein, wenn man die zweite abgeleitete Funktion von y nach x, d. h. diejenige bloß von x abhängige (oder vielleicht auch ganz konstante) Größe, welcher der Quotient ∆2 y ∆x 2 so nahe kommt, als man will, sobald man nur auch ∆x so klein, als man will, nehmen darf, durch

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2

d y dx 2

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bezeichnet und dies so auslegt, dass man die in der Ent∆2 y wicklung von ∆x 2 vorkommenden Größen ∆x, ∆2 y als bloße d2 y

Nullen betrachten und behandeln, in der Zeichnung d x 2 aber nicht eine Division von Null in Null, sondern nur das Symbol der Funktion erblicken müsse, in welche die Entwicklung ∆2 y von ∆x 2 nach der soeben verlangten Veränderung übergeht. dy

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d2 y

Diese Bedeutungen der Zeichen d x , d x 2 , . . . einmal vorausgesetzt, können wir strenge dartun, dass eine jede von einer anderen frei Veränderlichen x auf eine bestimmbare Art ab69 hängige veränderliche Größe |

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y = fx höchstens mit Ausnahme gewisser isoliert stehender Werte von x und ∆x an die Gleichung 2

d f x ∆x 2 d f x f (x + ∆x) = f x + ∆x ⋅ + ⋅ dx 1 ⋅ 2 dx 2 3 n ∆x 3 d f x ∆x n d f (x + µ∆x) + ⋅ +⋯+ ⋅ 1 ⋅ 2 ⋅ 3 dx 3 1 ⋅ 2⋯n dx n

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worin µ < 1 ist, gebunden sei.⋆ Wie viele wichtige Wahrheiten der allgemeinen Größenlehre (besonders der sogenannten höheren Analysis) durch diese einzige Gleichung begründet werden können, ist niemandem unbekannt. Aber auch in der angewandten Größenlehre, in der Raumlehre (Geometrie) und in der Kräftenlehre (Statik, Mechanik usw.) bahnt diese Gleichung den Weg zur Lösung der schwierigsten Probleme, z. B. von der Rektifikation der Linien, der Komplanation der Flächen, der Kubierung der Körper, ohne irgendeiner hier widersprechenden Voraussetzung eines unendlich Kleinen, noch sonst eines anderen angeblichen Grundsatzes zu bedürfen, dergleichen der bekannte archimedische u. a. m. sind. Ist es aber erlaubt, Gleichungen von der Art, wie z. B. die Formel für die Rektifikation der Kurven bei einem rechtwinkligen Koordinatensysteme ¿ 2 2 dy dz ds Á Á À = [1 + ( ) + ( ) ] dx dx dx

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in der vorhin erklärten Bedeutung aufzustellen: so wird es auch, ohne Gefahr zu irren, möglich sein, Gleichungen von der Art, wie etwa folgende, niederzuschreiben: | 70 d(a + bx + cx 2 + dx 3 + ⋯ ) = b dx + 2cx dx + 3dx 2 dx + ⋯ ; ds 2 = dx 2 + d y 2 + dz 2 ;

⋆ 25

Der Beweis dieses Satzes für jede, gleichviel ob uns bekannte und durch die bisherigen Zeichen darstellbare oder nicht darstellbare Art der Abhängigkeit der y von x, lange schon vom Verfasser niedergeschrieben, wird vielleicht ehestens veröffentlicht werden. H[erausgeber (= Príhonsk´y)] 13 u. a. m. ] 1851 u. m. a. Príhonský-Reinschrift u. m. A. dx 2 dx

21 3dx 2 dx ] 1851

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oder wenn r den Halbmesser des Krümmungskreises bei einer Linie von einfacher Krümmung bezeichnet,

r=−

ds 3 2

; u. a. m.,

d y ⋅ dx 2

worin wir die Zeichen dx, d y, dz, ds, d y usw. fortwährend nicht als Zeichen wirklicher Größen, sondern sie vielmehr als der Null gleichgeltend betrachten, und in der ganzen Gleichung nichts anderes sehen, als einen Zeichenkomplex, der so geartet ist, dass sich, wenn wir mit demselben nur lauter Veränderungen vornehmen, welche die Algebra mit allen Zeichen wirklicher Größen erlaubt (hier also auch ein Dividieren mit dx u. dergl.) – nie ein unrichtiges Ergebnis herausstellt, wenn es zuletzt gelingt, die Zeichen dx, d y usw. auf beiden Seiten der Gleichung verschwinden zu sehen. Dass dieses so sei und sein müsse, ist leicht zu begreifen. Denn wenn z. B. die Gleichung:

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¿ 2 ds Á dy Á À = [1 + ( ) ] dx dx untadelig ist: wie sollte nicht auch die Gleichung ds 2 = dx 2 + d y 2 untadelig sein; da sich nach der soeben erwähnten Verfahrungsart aus dieser sofort auch jene ableiten lässt? Endlich ist leicht zu erachten, dass es auch keine Irrung herbeiführen könne, wenn wir in irgendeiner Gleichung welche die Zeichen dx, d y . . . enthält, zur Abkürzung alle diejenigen Addenden, von welchen wir mit Bestimmtheit vorauswissen, dass sie am Schlusse der Rechnung als der Null gleichgeltend 71 wegfallen werden, gleich anfangs weglassen. So können wir |

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es, z. B. wenn wir durch irgendeine Rechnung erst auf die (aus 1 und 2 sich ergebende) Gleichung1 3y 2 ⋅ ∆y + 3y∆y 2 + ∆y 3 = 2ax∆x + a∆x 2

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geraten sind, die bei dem Übergange zu den der Null gleichgeltenden Zeichen die Gestalt 3y 2 ⋅ d y + 3y ⋅ d y 2 + d y 3 = 2ax dx + a ⋅ dx 2 annimmt, sogleich ersehen, dass die Addendi, welche die höheren Potenzen d y 2 , d y 3 , dx 2 enthalten, zuletzt jedenfalls wegfallen werden und somit alsbald nur 3y 2 d y = 2ax dx

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ansetzen; woraus sich dann die gesuchte Abgeleitete von y in Bezug auf x d y 2ax = dx 3y 2 15

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alsbald ergibt. Dies ganze Verfahren, dass wir es schließlich noch mit einem Worte sagen, beruht auf ganz ähnlichen Grundsätzen, auf welchen die Rechnung mit den sogenannten imaginären Größen (welche ja ebenso wie unsere dx, d y, . . . bloße Zeichnungen sind) oder auch die in der neueren Zeit erfundene abgekürzte Divisionsmethode und andere ähnliche Rechnungsabkürzungen beruhen. Hier nämlich ebenso wie dort genügt es, zur Rechtfertigung des Verfahrens nachzuweisen, dass wir den √ √ 3 √−1 d y d2 y eingeführten Zeichen (dx, d x , d x 2 , . . . , −1, ( −1) , −√−1 usw.) nur eine solche Bedeutung geben, und uns mit ihnen nur solche Veränderungen erlauben, dass zuletzt jedesmal, wenn endlich statt der gegenstandlosen Zeichen solche zum Vorschein kommen, die wirkliche Größen bedeuten, beide Glieder der Gleichung einander in Wahrheit gleichgelten. 1

Siehe S. 102.

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§. 38

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Wenden wir uns zu dem angewandten Teile der Größenlehre, so begegnen uns die ersten Paradoxien auf dem Gebiete der Zeitlehre in dem Begriffe der Zeit selbst, zumal inwiefern sie eine stetige Ausdehnung sein soll. Es lasten aber die schon von alters her so berühmten scheinbaren Widersprüche, die man in dem Begriffe einer stetigen Ausdehnung eines Kontinuums zu finden glaubte, in gleicher Weise wie auf der zeitlichen auch auf der räumlichen, ja auch der materiellen; daher wir sie gleich in Vereinigung betrachten wollen. Sehr wohl erkannte man, dass alles Ausgedehnte seinem Begriffe nach aus Teilen zusammengesetzt sein müsse; erkannte ferner, dass sich das Dasein des Ausgedehnten nicht ohne einen Zirkel aus der Zusammensetzung solcher Teile, die schon selbst ausgedehnt sind, erklären lasse; wollte jedoch nichtsdestoweniger auch einen Widerspruch in der Voraussetzung finden, dass es aus Teilen, die keine Ausdehnung haben, sondern schlechterdings einfach sind (Punkten in Zeit, Raum, Atomen, d. i. einfachen Substanzen im Weltall auf dem Gebiete der Wirklichkeit), entstehe. Wurde gefragt, was man an dieser letzteren Erklärung anstößig finde: so hieß es bald, dass eine Eigenschaft, die allen Teilen mangelt, auch nicht dem Ganzen zukommen könne; bald, dass doch je zwei Punkte wie in der Zeit so auch im Raume, und ebenso auch je zwei Substanzen noch immer eine Entfernung voneinander haben, somit nie ein Kontinuum bilden. Es bedarf aber wahrlich nicht vieler Überlegung, um das Ungereimte in diesen Einwürfen zu erkennen. Eine Beschaffenheit, die allen Teilen mangelt, soll auch dem Ganzen nicht zukommen dürfen? Gerade umgekehrt! Jedes Ganze hat und muss gar manche Eigenschaften haben, welche den Teilen 73 mangelt. Ein Automat hat die Beschaffenheit, gewisse Be|wegungen eines lebenden Menschen fast täuschend nachzuahmen, die einzelnen Teile aber, die Federn, Räderchen usw. entbehren dieser Eigenschaft. – Dass je zwei Zeitpunkte noch

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durch eine unendliche Menge dazwischenliegender Zeitpunkte getrennt sind; dass es ebenso zwischen je zwei Punkten im Raume eine unendliche Menge dazwischenliegender gibt, ja dass es selbst im Reiche der Wirklichkeit zwischen je zwei Substanzen noch eine unendliche Menge anderer gebe – ist allerdings zuzugestehen: aber was folgt hieraus, das einen Widerspruch enthielte? Nur soviel folgt, dass durch zwei Punkte allein, ja auch durch drei, vier und jede bloß endliche Menge derselben noch kein Ausgedehntes erzeugt wird. Dies alles gestehen wir selbst, ja wir gestehen, dass auch eine unendliche Menge von Punkten nicht immer zur Erzeugung eines Kontinuums, z. B. einer auch noch so kurzen Linie, hinreicht, wenn diese Punkte nicht zugleich die gehörige Anordnung haben. Versuchen wir nämlich, uns den Begriff, den wir mit den Benennungen »eine stetige Ausdehnung oder ein Kontinuum« bezeichnen, zu einem deutlichen Bewusstsein zu bringen: so können wir nicht umhin zu erklären, dort, aber auch nur dort sei ein Kontinuum vorhanden, wo sich ein Inbegriff von einfachen Gegenständen (von Punkten in der Zeit oder im Raume oder auch von Substanzen) befindet, die so gelegen sind, dass jeder einzelne derselben für jede auch noch so kleine Entfernung wenigstens einen Nachbar in diesem Inbegriffe habe. Wenn dieses nicht der Fall ist, wenn sich z. B. unter einem gegebenen Inbegriffe von Punkten im Raume auch nur ein einziger befindet, der nicht so dicht umgeben ist von Nachbarn, dass sich für jede – nur klein genug genommene Entfernung ein Nachbar für ihn nachweisen lässt: so sagen wir, dass dieser Punkt vereinzelt (isoliert) dastehe, und dass jener Inbegriff eben deshalb kein vollkommenes Kontinuum darbiete. Gibt es dagegen nicht einen einzigen in diesem Sinne isoliert stehenden Punkt in einem vorliegenden Inbegriffe von Punkten, hat also jeder der|selben für jede auch noch 74 so kleine Entfernung wenigstens einen Nachbar: so erübrigt nichts mehr, was uns berechtigen könnte, diesem Inbegriffe die Benennung eines Kontinuums abzusprechen. Denn was noch sonst wollten wir verlangen? –

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»Dieses,« erwidert man, »dass jeder Punkt einen habe, den er unmittelbar berührt!« – Allein hier fordert man etwas, das eine offenbare Unmöglichkeit ist, einen Widerspruch in sich schließt. Denn, wann doch wollt Ihr sagen, dass ein Paar Punkte einander berühren? Vielleicht wenn die Grenze des einen (etwa die rechte Seite desselben) mit der Grenze des anderen (etwa der linken Seite desselben) zusammenfällt? Aber Punkte sind ja einfache Teile des Raumes, sie haben somit keine Begrenzungen, keine rechte und linke Seite. Hätte der eine nur einen Teil gemein mit dem anderen, so wäre er schon durchaus derselbe mit ihm; und soll er etwas von ihm Verschiedenes haben, so müssen beide ganz auseinander liegen, und es muss somit Raum da sein noch für einen zwischen ihnen liegenden Punkt; ja, weil von diesem mittleren im Vergleiche zu jenen beiden das Nämliche gilt, für eine unendliche Menge von Punkten. »Aber das alles ist«, wie man sagt, »nicht zu begreifen!« Allerdings lässt es sich nicht mit den Fingern begreifen, allerdings auch nicht mit den Augen wahrnehmen; wohl aber wird es erkannt durch den Verstand und erkannt als etwas, das notwendig so und nicht anders sein kann, so dass ein Widerspruch nur erst dann angenommen wird, wenn man es anders, wenn man es sich unrichtig vorstellt. Doch man fährt fort: »Wie unbegreiflich ist es, sich in der kleinsten Linie noch eine Anhäufung von unendlich vielen Punkten, ja eine unendliche Menge solcher Anhäufungen von Punkten vorzustellen, wie man dies alles nach der gewöhnlichen Lehre tun muss! Denn selbst die kleinste Linie soll man ja noch in eine unendliche Menge anderer Linien zerlegen können, indem man sie erst in zwei Hälften, dann 75 diese abermals in Hälften und so ohne Ende fort zerlegt!« – | Ich finde in dieser ganzen Gedankenverbindung nichts Irriges und nichts Befremdendes, bis auf den einzigen Ausdruck einer kleinsten Linie, den manche sich wohl nur aus Mangel an Aufmerksamkeit entschlüpfen ließen, weil es doch eine solche nicht gibt und geben kann, und von derjenigen, die man hier

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eben betrachtet, geradezu erklärt wird, dass sie in kleinere zerlegt werden könne. Jede unendliche Menge, nicht die der Punkte in einer Linie allein, lässt sich in Teile zerlegen, die selbst noch unendliche Mengen enthalten, ja in unendlich viele solche Teile. Denn bedeutet ∞ eine unendliche Menge, ,∞ ,∞ , . . . unendliche Mengen. So liegt es in so sind auch ∞ 2 4 8 dem Begriffe des Unendlichen. »Wie aber« (dürfte man, falls die bisherigen Erläuterungen nach einer längeren Erwägung sich vielleicht doch als befriedigend herausgestellt hätten, zuletzt sagen), »wie sollen wir die Behauptung derjenigen Mathematiker deuten, die selbst erklären, dass das Ausgedehnte durch keine, auch noch so große Aneinanderhäufung von Punkten erzeugt und durch Zerlegung in eine auch noch so große Menge von Teilen auch nie in einfache Punkte aufgelöst werden könne?« – Strenge zu reden, sollte man einerseits freilich lehren, dass nie eine endliche, eine unendliche Menge von Punkten aber nur dann allein, dann aber auch immer ein Ausgedehntes liefere, wenn die schon mehrmal erwähnte Bedingung erfüllt wird, dass nämlich jeder Punkt für jede hinreichend kleine Entfernung gewisse Nachbarn erhält; dabei aber sollte man andererseits zugestehen, dass auch nicht jede Zerlegung eines gegebenen Raumdinges in Teile, namentlich keine Zerlegung in solche Teile, deren Menge nur eine endliche ist, ja auch nicht jede solche, die ins Unendliche geht (z. B. durch fortgesetzte Halbierungen), wie wir nur vorhin sahen, bis an die einfachen Teile gelange. Nichtsdestoweniger muss man darauf beharren, dass jedes Kontinuum zuletzt doch aus nichts anderem als aus Punkten und | 76 wieder nur Punkten hervorgehen könne. Und beides verträgt sich, nur recht verstanden, sehr wohl. §. 39 Dass man an den Beschaffenheiten jener besonderen stetigen Ausdehnung, welche die Zeit ist, auch noch besondere Anstöße nehmen werde, ließ sich im Voraus erwarten. Zumal den-

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jenigen Philosophen, die wie die Skeptiker es eigens darauf anlegten, die menschlichen Begriffe statt zu verdeutlichen, nur zu verwirren und allenthalben scheinbare Widersprüche zu finden, musste die Lehre von der Zeit willkommenen Stoff darbieten. Wir werden jedoch hier nur das Wichtigste erwähnen, zumal nicht alles, was hier vorgebracht würde, den Begriff des Unendlichen berührte. Man warf die Frage auf, ob die Zeit etwas Wirkliches sei, und wenn dieses, ob Substanz oder Adhärenz, und im ersten Falle, ob erschaffen oder unerschaffen? »Wenn jenes,« meinte man, »müsse sie einen Anfang genommen haben, auch wohl einst wieder ein Ende nehmen, mithin sich ändern, demnach selbst wieder einer anderen Zeit bedürfen, in der sie sich ändert. Noch ungereimter sei es, sie für Gott selbst, oder für eine an ihm befindliche Adhärenz zu erklären. Gewiss sei es auch, dass man die Zeit der Ewigkeit entgegensetze; was nun sei diese? Wie sei es möglich, dass eine unendliche Menge nicht nur von Augenblicken, sondern von ganzen Zeitlängen enthalten sei in einem einzigen auch noch so kurzen Weilchen, z. B. in einem einzigen Blick mit dem Auge, von dem jeder einfache Zeitteil eben den Namen Augenblick hat? Doch es ist in der Tat (sagte man zuletzt) gar keine Zeit vorhanden! Denn die vergangene Zeit ist eben, weil vergangen, offenbar nicht mehr da; die zukünftige aber ist, weil erst künftig, jetzt noch nicht da: was endlich gegenwärtig ist, das ist nichts anderes als ein 77 bloßer Augen|blick in des Wortes strengstem Sinne, der keine Dauer, somit auch keine Ansprüche auf den Namen einer Zeit hat.« Meinen Begriffen zufolge ist die Zeit allerdings nichts Wirkliches im eigentlichen Sinne des Wortes, wo wir nur den Substanzen und ihren Kräften Wirklichkeit beilegen. Ich halte sie also auch weder für Gott selbst noch für eine geschaffene Substanz, noch auch nur für eine Adhärenz weder an Gott, noch an irgend einer geschaffenen Substanz, oder an einem Inbegriffe mehrerer. Sie ist auch eben darum gar nichts Veränderliches, sondern vielmehr dasjenige, worin alle Veränderung vorgeht.

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Wenn man das Gegenteil sagt, wie in dem Sprichworte: die Zeiten ändern sich; so wurde längst schon erinnert, dass man hier unter der Zeit nur die in ihr befindlichen Dinge und deren Zustände verstehe. Die Zeit selbst ist, um es nun näher anzugeben, diejenige an einer jeden (veränderlichen oder was ebensoviel ist) abhängigen Substanz befindliche Bestimmung, deren Vorstellung wir zu der Vorstellung dieser Substanz hinzufügen müssen, um von je zwei einander widersprechenden Beschaffenheiten b und Nicht-b ihr die eine in Wahrheit beizulegen, die andere absprechen zu können. Genauer ist die hier erwähnte Bestimmung ein einziger einfacher Teil der Zeit, ein Zeitpunkt oder Augenblick, in welchem wir uns die Substanz x, der wir von je zwei widersprechenden Beschaffenheiten, b und Nicht-b, eine mit Sicherheit beilegen wollen, vorstellen müssen; dergestalt, dass also unser Ausspruch eigentlich lauten muss: x in dem Zeitpunkte t hat entweder die Beschaffenheit b oder Nicht-b. Gesteht man mir diese Erklärung des Begriffes eines Augenblickes erst als richtig zu, dann kann ich auch deutlich angeben, was die Zeit selbst, und zwar die ganze Zeit oder die Ewigkeit sei, nämlich dasjenige Ganze, dem alle Augenblicke als Teile zugehören. Und jede endliche Zeit, d. h. jede innerhalb zweier gegebener Augenblicke enthaltene Zeitdauer oder Zeitlänge erkläre ich als den Inbegriff aller der Augenblicke, die zwischen jenen | zwei Grenzaugenblicken 78 liegen. Diesen Erklärungen zufolge ist also kein Unterschied zwischen der Zeit und der Ewigkeit, wenn man unter jener nicht (wie es oft geschieht) eine beschränkte, endliche, sondern die ganze (nach beiden Richtungen hin endlose) Zeit versteht. Wohl aber besteht ein großer Unterschied in der Art, wie Gott und wie die veränderlichen oder geschaffenen Wesen in dieser Zeit sich befinden. Diese nämlich sind in der Zeit, indem sie sich in ihr verändern, Gott aber ist zu aller Zeit ganz unveränderlich derselbe. Dies hat Veranlassung gegeben, ihn allein ewig, die übrigen Wesen aber, seine Geschöpfe, zeitliche Wesen zu nennen. – Dass jedes auch noch so kurze Weilchen, wie ein Blick mit den Augen, schon eine unendliche Menge

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ganzer Zeitlängen enthalte: dies sich in einem sinnlichen Bilde auszumalen, mag eine schwere Aufgabe für unsere Phantasie sein; genug, dass der Verstand es begreift und als etwas erkennt, das gar nicht anders sein kann. Aus dem Begriffe der Zeit, den wir hier andeuteten, lässt sich auch selbst der objektive Grund hiervon erkennen; doch würde die Auseinandersetzung desselben hierorts zu weitläufig sein. Ungereimt wäre nur, wenn wir behaupteten, dass in der kurzen Zeit die gleiche Menge von Augenblicken wie in der längeren stecke, oder dass die unendlich vielen Zeitlängen, in welche sich jene zerlegen lässt, von einer gleichen Länge, wie bei irgendeiner längeren Zeit wären. Der Trugschluss endlich, der die Realität des Begriffes der Zeit gänzlich vernichten will, liegt so am Tage, dass es kaum eines Wortes zu seiner Widerlegung bedarf. Wir gestehen ja, dass die Zeit überhaupt nichts Existierendes sei, und so hat freilich weder die vergangene, noch die zukünftige Zeit Existenz; denn selbst die gegenwärtige hat keine: aber wie soll hieraus folgen, dass die Zeit nichts sei? Sind denn nicht auch Sätze und Wahrheiten an sich – etwas, obgleich sich niemand einfallen lässt, zu behaupten, dass sie – wenn man mit ihnen 79 nicht ihre Auffassung in das Bewusstsein eines | denkenden Wesens, also nicht wirkliche Gedanken oder Urteile verwechselt – etwas Existierendes wären? [A 201]

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Hinsichtlich der Paradoxien in der Lehre vom Raume ist es bekannt, dass man auch diesen nicht zu erklären gewusst; dass man auch ihn häufig für etwas Existierendes gehalten, bald mit den Substanzen, die sich in ihm befinden, verwechselt, bald ihn sogar für Gott selbst, wenigstens für ein Attribut der Gottheit gehalten; dass selbst der große Newton auf den Gedanken verfiel, den Raum für das Sensorium der Gottheit zu erklären; dass man nicht nur die im Raume befindlichen Substanzen sich oft bewegen, sondern ihn selbst, d. h. die Orte ihre Or-

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te verändern ließ; dass man (seit Descartes) entdeckt zu haben glaubte, nicht alle, sondern nur die sogenannten materiellen Substanzen befänden sich im Raume: bis endlich Kant sogar auf den unglücklichen, von vielen noch jetzt ihm nachgesprochenen Einfall geriet, den Raum sowohl als die Zeit gar nicht als etwas Objektives, sondern als eine bloße (subjektive) Form unserer Anschauung zu betrachten; dass man seitdem die Frage aufgeworfen, ob andere Wesen nicht einen anderen Raum, z. B. mit zwei oder vier Dimensionen, haben; dass endlich Herbart uns vollends mit einem doppelten, einem starren und stetigen Raum, und einer ebensolchen doppelten Zeit hat beschenken wollen. Über dies alles habe ich mich schon an anderen Orten erklärt. Mir ist nämlich der Raum, ähnlicherweise wie die Zeit, keine Beschaffenheit der Substanzen, sondern nur eine Bestimmung an denselben, so zwar, dass ich diejenigen Bestimmungen an den geschaffenen Substanzen, welche den Grund angeben, warum sie bei dem Besitze ihrer Beschaffenheiten in einer gewissen Zeit gerade diese Veränderungen ineinander her|vorbringen, die Orte, an welchen sie sich befinden, den 80 Inbegriff aller Orte aber den Raum, den ganzen Raum nenne. Diese Erklärung setzte mich in den Stand, die Lehren der Raumwissenschaft aus jenen der Zeitlehre objektiv abzuleiten, also z. B. zu zeigen, dass und warum der Raum drei Ausdehnungen habe u. a. m. Die Paradoxien also, die man schon in dem Begriffe des Raumes, in jener Gegenständlichkeit, die ihm trotz dem, dass er nichts Wirkliches sei, zukommen soll, in der unendlichen Menge seiner Teile und in dem stetigen Ganzen gefunden, welches sie untereinander bilden, trotz dem, dass auch nicht zwei dieser einfachen Teile (Punkte) einander unmittelbar berühren, diese Scheinwidersprüche glaube ich nicht ferner besprechen zu sollen, sondern als abgetan betrachten zu dürfen. 25 u. a. m. ] 1851 u. m. A.

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Das erste, was eine nähere Beleuchtung noch erheischt, möchte wohl der Begriff der Größe einer räumlichen Ausdehnung sein. Dass aller Ausdehnung Größe zukomme, darüber ist kein Streit; auch darüber ist man einig, dass sich, wie bei der einen zeitlichen, so auch bei den drei räumlichen Ausdehnungen die vorkommenden Größen nur durch ihr Verhältnis zu einer, die man willkürlich als Maßeinheit angenommen hat, bestimmen lassen; ingleichen, dass diese zur Einheit angenommene Ausdehnung von eben derselben Art, wie die durch sie zu messenden, also für Linien eine Linie, für Flächen eine Fläche, für Körper ein Körper⋆ sein müsse. Fragen wir 81 aber jetzt, worin das | eigentlich bestehe, was wir die Größe einer räumlichen Ausdehnung nennen, so möchte man wohl, zumal da eine solche Ausdehnung doch aus nichts anderem als aus Punkten, welche nach einer gewissen Regel geordnet sind, besteht, bei einer Größe aber nie auf die Ordnung, sondern nur auf die Menge der Teile gesehen werden soll, – sehr geneigt sein, zu schließen, nur eben diese Menge der Punkte sei es, was wir uns unter der Größe eines jeden Raumdinges denken; wie dieses auch der Name selbst zu bestätigen scheint, wenn wir die Größe einer Fläche oder eines Körpers geradezu den

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Vielleicht ist es manchem nicht unlieb, hier gelegenheitlich die Erklärung dieser drei Arten räumlicher Ausdehnung zu lesen. Gesteht man die §. 38 gegebene Erklärung einer Ausdehnung überhaupt als richtig zu (und sie hat das Verdienst, dass sie mit einer leicht anzubringenden Erweiterung auch auf diejenigen Größen der allgemeinen Größenlehre, welche man stetig veränderliche nennt, sich ausdehnen lässt): so sage ich, ein räumlich Ausgedehntes sei einfach ausgedehnt, oder eine Linie, wenn jeder Punkt für jede hinlänglich kleine Entfernung einen oder mehrere, keinesfalls aber so viele Nachbarn hat, dass deren Inbegriff für sich allein schon ein Ausgedehntes wäre; ich sage ferner, ein räumlich Ausgedehntes sei doppelt ausgedehnt oder eine Fläche, wenn jeder Punkt für jede hinlänglich kleine Entfernung eine ganze Linie von Punkten zu seinen Nachbarn hat; ich sage endlich, ein räumlich Ausgedehntes sei dreifach ausgedehnt oder ein Körper, wenn jeder Punkt für jede hinlänglich kleine Entfernung eine ganze Fläche voll Punkten zu seinen Nachbarn hat.

35 Punkten ] 1851 Puncte; Príhonský-Reinschrift Punkten, jedoch n mit anderem Stift durchgestrichen

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Inhalt dieser Raumdinge nennen. Dennoch zeigt eine nähere Betrachtung, dies sei nicht so. Oder wie könnten wir sonst annehmen, was wir doch allgemein und unbedenklich tun, dass sich die Größe eines Raumdinges, z. B. eines Würfels, nicht im geringsten ändert, ob wir die Umgrenzung desselben, hier also die Oberfläche des Würfels (die doch selbst schon eine Größe hat) mit zu dem Inhalte desselben rechnen, oder nicht? Und so verfahren wir unstreitig, wenn wir z. B. die Größe eines Würfels von der Seite 2 achtmal so groß finden als einen Würfel, dessen Seite = 1 ist, ungeachtet der erste 12 quadratische Seitenflächen von der Größe = 1 weniger hat, als die letzteren, indem durch ihre Zusammenstellung in einen einzigen Würfel von 24 solchen Quadraten, die in das Innere des größeren Würfels kommen, die Hälfte wegfällt. Hieraus geht denn hervor, dass wir uns unter der Größe einer räumlichen Ausdeh|nung, sei es Linie, Fläche oder Körper, eigentlich 82 doch nichts anderes denken, als eine Größe, welche aus einer zur Einheit angenommenen Ausdehnung von derselben Art mit der zu messenden nach einem solchen Gesetze abgeleitet wird, dass, wenn wir, nach eben diesem Gesetze verfahrend, aus dem Stücke M die Größe m und aus dem Stücke N die Größe n ableiten, wir nach demselben Gesetze verfahrend, aus dem durch die Verbindung der Stücke M und N erzeugten Ausgedehnten, die Größe m + n erhalten, gleichviel ob wir die Grenzen, die M und N und das aus beiden entstehende Ganze M + N haben, mit in Betracht ziehen oder nicht. Dass sich aus diesem Begriffe die allgemeinsten Formeln, welche die Raumwissenschaft für die Rektifikation, die Komplanation und die Kubierung aufzuweisen hat, in der Tat ableiten lassen, ohne dass es sonst einer anderen Voraussetzung, namentlich auch nicht der fälschlich so genannten Grundsätze des Archimedes bedürfte, ist in der schon §. 37 erwähnten Schrift gezeigt.

12 einen ] 1851 Druckfehlerkorrektur aus einem

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§. 41

Auf die seither gegebenen Erklärungen uns stützend, dürfen wir nun ohne Besorgnis, man werde uns eines Widerspruches beschuldigen können, Sätze, wie folgende, aufstellen, so paradox auch einige für die gewöhnliche Vorstellungsweise erscheinen mögen. 1. Der Inbegriff aller Punkte, die zwischen den beiden a und b liegen, stellt eine Ausdehnung von einfacher Art oder Linie dar; sowohl wenn wir die Punkte a und b mit dazurechnen, wo sie dann eine begrenzte Gerade ist, als auch wenn wir den einen oder den anderen oder auch beide Grenzpunkte nicht dazurechnen, wo sie also unbegrenzt, in jedem Falle aber stets von derselben Länge ist, wie vorher. Jede dergleichen unbegrenzte Gerade hat an der Seite, wo ihr der Grenzpunkt 83 fehlt, eben deshalb keinen äußersten (ent|ferntesten) Punkt, sondern hinter jedem steht noch ein fernerer, obgleich ihre Entfernung stets eine endliche verbleibt. 2. Die Umfangslinie eines Dreieckes abc lässt sich zusammensetzen 1) aus der auf beiden Seiten begrenzten Geraden ab, 2) der nur auf einer Seite, bei c, begrenzten ac, und 3) der beiderseits Unbegrenzten bc; ihre Länge aber ist gleich der Summe der drei Längen von ab, bc und ca. 3. Wenn wir uns vorstellen, dass die Gerade az durch den Punkt b halbiert, das Stück bz abermals durch den Punkt c halbiert, das cz wieder durch den Punkt d halbiert und so ohne Ende fortgefahren werde; und wenn wir annehmen, dass diese unendlich vielen Halbierungspunkte b, c, d, . . . und der Punkt z aus dem Inbegriffe der Punkte, die zwischen a und z liegen, hinweggedacht werden sollen: so wird der Inbegriff der übrigen noch immer den Namen einer Linie verdienen, und ihre Größe wird noch dieselbe wie vorhin sein. Rechnen wir aber z mit zu dem Inbegriffe: so ist das Ganze kein stetig Ausgedehntes mehr zu nennen; denn der Punkt z steht vereinzelt, weil es für ihn keine auch noch so kleine Entfernung gibt, von der gesagt werden könnte, dass er für diese und für jede kleine-

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re einen Nachbar in diesem Punkteninbegriffe habe. Nämlich für alle Entfernungen, welche der Form az unterstehen, fehlt 2n es an einem Nachbar für z. 4. Wenn die Entfernung der Punkte a und b der Entfernung der Punkte α und β gleicht: so muss auch die Menge der Punkte zwischen a und b der Menge der Punkte zwischen α und β gleich angenommen werden. 5. Ausdehnungen, die eine gleiche Menge von Punkten haben, sind auch von gleicher Größe, nicht aber umgekehrt müssen zwei Ausdehnungen, welche von gleicher Größe sind, auch gleichviel Punkte haben. 6. Bei einem Paar Raumdingen, welche einander vollkommen ähnlich sind, müssen sich auch die Mengen ihrer Punkte genau wie ihre Größen verhalten. | 84 7. Ist also das Größenverhältnis zwischen zwei einander vollkommen ähnlichen Raumdingen ein irrationales: ist auch das Verhältnis zwischen den Mengen ihrer Punkte irrational. Es gibt also Mengen (nämlich unendliche nur), deren Verhältnis in jeder beliebigen Art irrational ist. §. 42

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Unter diesen Sätzen, deren Anzahl (wie man sieht) leicht vermehrt werden könnte, hat meines Wissens der sechste allein in den Schriften der Mathematiker schon bisher eine Beachtung gefunden; jedoch nur in der Art, dass man im Widerstreite mit ihm den Satz aufstellte, ähnliche Linien müssten, wie verschieden sie auch in ihrer Größe wären, doch eine gleiche Menge von Punkten besitzen. Solches behauptete Dr. J. K. Fischer (Grundriß der gesammten reinen höhern Mathematik. Leipzig, 1809. Bd. II. §. 51. Anm.)1 namentlich von ähnlichen und konzentrischen Kreisbögen, aus dem bei1

Dieser Verweis bezieht sich vermutlich auf Johann Carl Fischer: Grundriss der gesammten reinen höhern Mathematik oder Die allgemeine Rechenkunst usw., II. Band, Leipzig: Kummer 1807, S. 65. (1809 erschien der dritte Band.)

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gefügten Grunde, weil sich durch jeden Punkt des einen ein Halbmesser ziehen ließe, der einem Punkte des anderen begegnet. Bekanntlich aber hat schon Aristoteles sich mit dieser Paradoxie beschäftigt. Fischers Schlussweise verrät offenbar die Meinung, dass ein Paar Mengen, wenn sie auch unendlich sind, einander gleich sein müssten, sobald nur jeder Teil der einen mit einem der anderen zu einem Paare verknüpft werden kann. Nach Aufdeckung dieses Irrtums bedarf es keiner weiteren Widerlegung jener Lehre, von der sich überdies gar nicht einsehen ließe, warum wir, sofern sie richtig wäre, diese Behauptung der gleichen Punktenmenge nur eben auf Kreisbögen und auf konzentrisch liegende und ähnliche beschränken müssten, da sich der gleiche Grund auch für alle gerade Linien und für die verschiedenartigsten, nichts weniger als einander ähnlichen Kurven anführen ließe. 85 [A 204]

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§. 43 Kaum gegen eine in die Raumlehre gehörige Wahrheit dürften sich die Lehrer dieser Wissenschaft öfter versündigt haben, als gegen die, dass jede zwischen zwei Punkten im Raume liegende Entfernung, somit auch jede auf beiden Seiten begrenzte Gerade nur eine endliche sei, d. h. mit jeder anderen in einem durch bloße Begriffe genau bestimmbaren Verhältnisse stehe. Denn es wird kaum einen Geometer geben, der nicht zuweilen von unendlich großen Entfernungen gesprochen und eine Gerade, die doch nach beiden Seiten hin ihre Grenzpunkte haben sollte, unter gewissen Umständen nicht hätte unendlich groß werden lassen. Als Beispiel genüge uns hier die Hinweisung auf jenes bekannte Linienpaar, welches die, im geometrischen Sinne des Wortes zu verstehende, Tangente und Sekante eines Winkels oder Bogens genannt wird. Diese sollen nach der ausdrücklichen Erklärung ein Paar gerade Linien sein, welche nach beiden Seiten hin begrenzt sind: und doch wie wenige gibt es, die ein Bedenken tragen zu lehren, dass für den rechten Winkel Tangente sowohl als Sekante unendlich groß würden.

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Dennoch wird man für diese irrige Lehre gleich auf der Stelle bestraft durch die Verlegenheit, in die man hierbei gerät, sobald man angeben soll, ob diese zwei unendlich großen Größen als positiv oder als negativ anzusehen seien? Denn offenbar spricht derselbe Grund, der für das eine angeführt werden könnte, auch für das andere; weil ja bekanntlich eine durch den Mittelpunkt des Kreises gleichlaufend zu einer Berührungslinie desselben gezogene Gerade zu beiden Seiten dieser Berührenden ein völlig gleiches Verhältnis hat, daher so wenig auf der einen als auf der anderen Seite mit ihr zusammenstößt. Auch in dem Größenausdrucke für diese beiden Linien = 01 liegt, da Null weder als positiv noch als negativ angesehen werden kann, nicht der geringste | Grund, diese vermeintlich un- 86 endliche Größe eher für positiv oder für negativ zu erklären. Es ist also nicht bloß paradox, sondern ganz falsch, das Vorhandensein einer unendlich großen Tangente des rechten Winkels sowie sämtlicher Winkel von der Form π ±nπ ∓ 2 anzunehmen. Dass es, strenge gesprochen, auch für den Winkel = 0 oder für den = ±n ⋅ π weder Sinus noch Tangente gebe, sei bloß gelegenheitlich erinnert. Der Unterschied in diesen beiden Annahmen ist bloß, dass sich bei letzterer kein falsches Ergebnis herausstellt, wenn man in Fällen, wo diese Größenausdrücke als Faktoren erscheinen, die Produkte wie gar nicht vorhanden betrachtet, dort aber, wo sie als Divisoren auftreten, schließt, dass die Rechnung etwas Ungesetzliches verlange. §. 44

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Ein ebenso unberechtigtes Verfahren, welches jedoch glücklicherweise wenig Nachahmer fand, war es, wenn Joh. Schulz 16–17 Winkels sowie ] 1851 Winkels, so wie lerkorrektur aus ±nπ ± π2

18 ±nπ ∓

π 2

] 1851 Druckfeh-

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die Größe des ganzen unendlichen Raumes berechnen wollte, indem er aus dem Umstande, dass sich aus jedem gegebenen Punkte a nach allen Seiten hin, d. h. in jeder Richtung, die es nur immer gibt, gerade Linien in das Unendliche hinaus gezogen denken lassen, und aus dem ferneren Umstande, dass jeder nur immer gedenkbare Punkt m des ganzen Weltraumes in einer und nur in einer dieser Linien liegen müsse, sich zu dem Schlusse berechtigt hielt, dass man den ganzen unendlichen Raum als eine Kugel ansehen dürfe, die aus dem willkürlich gewählten Punkte a mit einem Halbmesser von der Größe =∞ beschrieben wäre; woraus sich ihm denn sofort ergab, dass der 4 87 ganze unendliche Raum genau nur die Größe 3 π∞3 habe. | Es wäre ohne Zweifel einer der wichtigsten Lehrsätze der Raumwissenschaft, wenn dies als wahr gerechtfertigt werden könnte. Und gegen die beiden Vordersätze (die ich jedoch hier eben nicht genau nach Schulzens, mir nicht vor Augen liegenden Vortrage darstellte) dürfte sich kaum etwas Gegründetes einwenden lassen. Denn wollte jemand sagen, der zweite Vordersatz müsse schon darum irrig sein, weil aus ihm eine sehr ungleiche Verteilung der Punkte im Weltraume, nämlich eine viel dichtere Anhäufung um den doch willkürlich zu wählenden Mittelpunkt a herum folgen würde: so gäbe er nur zu erkennen, das §. 21 f. von uns bekämpfte Vorurteil noch nicht überwunden zu haben. Gefehlt und ganz offenbar gefehlt hat Schulz nur darin, dass er die Geraden, die aus dem Punkte a nach allen Richtungen ins Unbegrenzte hinaus gezogen sein müssen, wenn jeder Punkt des Raumes in irgendeiner derselben gelegen sein soll, dennoch als Halbmesser, somit als beiderseits begrenzte Linien annahm. Denn nur aus dieser Voraussetzung ist ja die Kugelgestalt des unendlichen Raumes und die Berechnung seiner Größe = 43 π∞3 gefolgert. Aus diesem Irrtume fließt aber auch die Ungereimtheit, dass – weil es zu jeder Kugel doch auch einen sie umschließenden Zylinder oder auch einen dergleichen Würfel, ja noch gar 31

4 π∞3 3

] 1851 43 π∞3 , Príhonský-Reinschrift 43 π∞3

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viele andere Raumdinge, z. B. unendlich viele sie umgebende andere Kugeln von gleichem Durchmesser geben muss – der angeblich ganze Raum nicht der ganze, sondern ein bloßer Teil ist, der noch unendlich viele andere Räume außer sich hat. Die einzige Bemerkung, dass eine, auch nur nach einer Seite hin in das Unendliche hinaus gezogene Linie eben deshalb keine nach dieser Seite hin begrenzte Linie sei, dass also auch von einem Grenzpunkte derselben so wenig gesprochen werden könne, wie etwa von der Spitze einer Kugel oder der Krümmung einer Geraden oder eines einzelnen Punktes, oder dem Punkte des Zusammenstoßes zweier Gleichlaufenden, | – diese 88 einzige Bemerkung, sage ich, reicht hin, um die meisten Paradoxien (mysteria infiniti), die Boscowich in s. Diss. de transformatione locorum geometricorum (angehängt s. Elem. univ. Matheseos T. III. Romae 1754) vorgebracht hat, in ihrer Nichtigkeit zu zeigen. §. 45

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Nicht viel seltener als unendlich große hat man auch unendlich kleine Entfernungen und Linien im Raume angenommen, besonders wenn es ein scheinbares Bedürfnis wurde, Linien oder Flächen, deren kein Teil (der noch selbst ausgedehnt ist) gerade oder eben ist, gleichwohl als solche, die gerade oder eben sind, zu behandeln, z. B. um ihre Länge oder die Größe ihrer Krümmung oder auch wohl gewisse für die Mechanik merkwürdige Beschaffenheiten derselben leichter bestimmen zu können. Ja man erlaubte sichs in solchen Fällen sogar, Entfernungen zu erdichten, die durch unendlich kleine Größen der zweiten, dritten u. a. höherer Ordnungen gemessen werden sollten. Dass man bei diesem Verfahren, besonders in der Geometrie, nur selten auf ein falsches Resultat geriet, hatte man bloß dem schon §. 37 erwähnten Umstande zu danken, dass die veränderlichen Größen, die sich auf räumliche Ausdehnungen, welche bestimmbar sein sollen, beziehen, von einer solchen

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Beschaffenheit sein müssen, dass sie, höchstens mit Ausnahme einzelner isoliert stehender Werte, eine erste, zweite und jede folgende abgeleitete Funktion haben. Denn wo dergleichen bestehen, da gilt dasjenige, was von den sogenannten unendlich kleinen Linien, Flächen und Körpern behauptet wird, insgemein schon von allen Linien, Flächen und Körpern, die – ob sie gleich stets endlich verbleiben – doch so klein, als man nur will, genommen werden, d. h. (wie man sich ausdrückt) in das 89 Unendliche abnehmen können. Solche | veränderliche Größen also waren es eigentlich, von denen galt, was man nur fälschlicherweise von den unendlich kleinen Entfernungen aussagte. Dass aber bei einer solchen Darstellung der Sache immer doch viel Paradoxes, ja ganz Irriges vorgebracht und scheinbar erwiesen werden musste, begreift sich von selbst. Wie anstößig klang es z. B. schon, wenn man von jeder krummen Linie und Fläche behauptete, dass sie nichts anderes sei, als eine Zusammensetzung aus unendlich vielen geraden Linien und ebenen Flächen, die nur unendlich klein vorausgesetzt werden müssten; besonders wenn daneben wieder unendlich kleine Linien und Flächen, die gleichwohl krumm seien, zugestanden wurden. Wie sonderbar war es, wenn man von Linien, welche in einem ihrer Punkte gar keine Krümmung, sondern z. B. einen Wendepunkt haben, behauptete, dass ihre Krümmung in diesem Punkte unendlich klein, ihr Krümmungshalbmesser also unendlich groß wäre; oder von Linien, die in einem ihrer Punkte in eine Spitze auslaufen, dass ihre Krümmung hier unendlich groß, ihr Krümmungshalbmesser unendlich klein wäre, u. dergl. m. [A 206]

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§. 46 Als ein recht auffallendes und zugleich sehr einfaches Beispiel, zu welchen Ungereimtheiten die Annahme solcher unendlich kleinen Entfernungen Stoff und Veranlassung darbot, erlaube ich mir hier nur die Anführung eines Satzes, den nach Kästners Berichte (Anfangsgründe der höheren Analysis, Bd. II. Vor.)

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schon Galilei in s. Discorsi e dimostrazioni matematiche etc., wohl nur in der Absicht, um das Nachdenken zu wecken, aufgestellt hatte, nämlich, dass der Umfang eines Kreises so groß als dessen Mittelpunkt wäre. Um eine Vorstellung von der Art, wie man dies darzutun suchte, zu erhalten, denke der Leser sich ein Quadrat abcd, darin | aus a als dem Mittelpunkte mit dem Halbmesser 90 ab = a der Quadrant bd beschrieben, dann die Gerade pr parallel zu ab d c gezogen ist, die die beiden Seiten des Quadrats ad und bc in p und r, die Diagonale ac in n, und den Quadran- p r ten in m schneidet; kurz die bekannte n m Figur, durch die man darzutun pflegt, b dass ein Kreis mit dem Halbmesser pn a gleich sei dem Ringe, der durch Abzug des Kreises mit pm von dem mit pr zurückbleibt; oder dass π ⋅ pn 2 = π ⋅ pr 2 − π ⋅ pm 2

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sei. Wenn pr stets näher zu ab heranrückt, wird offenbar der Kreis mit pn stets kleiner und der Ring zwischen den Kreisen mit pm und pr immer schmaler. Geometer also, die keinen Anstoß an unendlich kleinen Entfernungen nahmen, dehnten dieses Verhältnis auch auf den Fall aus, wenn pr unendlich nahe an ab heranrückt, also z. B. der Abstand ap = dx wird, wo dann die Gleichung π ⋅ dx 2 = π ⋅ a 2 − π(a 2 − dx 2 )

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eintreten sollte, die sich auch in der Tat als eine bloß identische rechtfertigt. In diesem Falle aber war ihrer Vorstellung nach der Kreis mit pn ein unendlich Kleines der zweiten Ordnung geworden; der Ring dagegen, der nach dem Abzuge des Krei10 die die ] 1851 und die

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ses mit pm von dem mit pr übrig bleibt, hatte jetzt nur die Breite 1 dx 2 1 dx 4 mr = + ⋅ + ⋯, 2 a 2 ⋅ 4 a3 die selbst schon ein unendlich Kleines der zweiten Ordnung war, erhalten. Wurde nun vollends angenommen, dass pr gänzlich in ab übergehe, so zog sich der unendlich kleine 91 Kreis mit pn in den einzigen Punkt a zusammen, und der | unendlich schmale Ring von der Breite mr verwandelte sich in die bloße Umfangslinie des Kreises mit dem Halbmesser ab. Daher man berechtigt zu sein schien zu dem Schlusse, dass der bloße Mittelpunkt a jedes beliebigen Kreises mit ab so groß als die ganze Umfangslinie desselben wäre. Das Täuschende in diesem Schlusse wurde vornehmlich durch die Einmengung des unendlich Kleinen erzeugt. Durch dieses nämlich wurde der Leser auf eine Gedankenreihe geleitet, die ihn viel leichter übersehen lässt, wie vieles Ungereimte in den Behauptungen liegt, dass von dem Kreise mit pn, wenn statt des Punktes p zuletzt der Punkt a zu betrachten kommt und gar kein Halbmesser wie pn mehr vorhanden ist, doch noch der Mittelpunkt a bleibe, d. h. dass ebenso der durch den Abzug des Kreises mit dem kleineren Halbmesser pm von dem Kreise mit dem größeren Halbmesser pr entstehende Ring zuletzt, wenn beide Halbmesser und somit auch Kreise einander gleich werden, zur Umfangslinie des vorhin größeren werde. Denn freilich bei den unendlich kleinen Größen ist man gewohnt, dieselben Größen bald als einander gleich, bald wieder die eine als um ein unendlich Kleines einer höheren Ordnung größer oder kleiner als die anderen, bald auch als völlig gleich der Null zu betrachten. Wollen wir schlussgerecht verfahren, so dürfen wir aus der richtig angesetzten Gleichung π ⋅ pn 2 = π ⋅ pr 2 − π ⋅ pm 2 , 3 mr = . . .

d x4 a3

+ ⋯ ] 1851 −mr =

2 1 dx 2 a



1 2⋅4



d x4 a3

− ....

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welche die bloßen Größen (Flächeninhalte) der in Rede stehenden Kreise vergleicht, nichts anderes schließen, als dass für den Fall, wo pr und pm einander gleich werden, der Kreis mit pn gar keine Größe habe, demnach gar nicht vorhanden sei. Wahr ist es freilich (und ich habe die zu dieser Wahrheit führenden Prämissen §. 41 selbst aufgestellt), dass es auch Kreise mit und ohne Umfangslinie gebe, und dass dies an der Größe derselben, die lediglich von der Größe ihres Halb|messers abhängt, nichts ändere. Und daraus könnte wohl 92 jemand noch einen neuen Scheinbeweis für den Satz Galileis hernehmen wollen, indem er von der allerdings erlaubten Forderung ausginge, dass man den Kreis mit pm sich ohne Umfangslinie, den Kreis mit pr aber samt seiner Umfangslinie denken solle. Dann nämlich würde nach Hinwegnahme des Kreises mit pm von dem mit pr, wenn wir von pr zu ab übergehen, in der Tat nur die Umfangslinie des Kreises mit ab übrig bleiben. Aber auch jetzt noch ließe sich von keinem Kreise um a, der sich in einen einzigen Punkt zusammengezogen habe, sprechen, und noch viel weniger wäre es erlaubt, sich auf die obige Gleichung berufen zu wollen, um aus ihr zu folgern, dass der Punkt a und jene Umfangslinie einander gleich groß wären, da die besagte Gleichung nur von den Größen der drei Kreise, sie mögen mit oder ohne Umfangslinien betrachtet werden, handelt. §. 47

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Das eben besprochene Beispiel wurde, wie schon erwähnt, von seinem Erfinder selbst nicht aufgestellt, um als Wahrheit angestaunt zu werden. Als ernste Wahrheit aber lehrt man von der gemeinen Zykloide, sie habe in dem Punkte, wo sie auf ihre Grundlinie trifft, eine unendlich große Krümmung oder (was ebensoviel heißt) einen unendlich kleinen Krümmungshalbmesser und stehe hier in senkrechter Richtung auf. Es hat dies auch seine völlige Richtigkeit, versteht man es so, dass der Krümmungshalbmesser in das Unendliche

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abnimmt, während der Zykloidalbogen sich der Grundlinie in das Unendliche nähert; wie auch, dass seine Richtung in dem Punkte des Eintrittes selbst eine senkrechte ist. Nur was von dem unendlich kleinen oder zu Null gewordenen Krümmungshalbmesser gesagt wird, besteht (richtiger ausgedrückt) bloß darin, dass (weil die Kurve bekanntlich über ihrer Grundlinie nach beiden Seiten hin in das Unendliche 93 fortgeht und somit | keine Grenzpunkte hat) auch in diesem Punkte zwei Bogenstücke zusammentreffen, und zwar in der Art, dass sie, weil beide senkrecht auf der Grundlinie stehen, hier miteinander eine Spitze bilden, und zwar eine solche, wo beide nur eine und dieselbe Richtung haben, oder (wie man schon minder richtig sagt) mit ihren Richtungen hier den Winkel Null einschließen. Allein man kann durch Rechnung überzeugt sein, dass sich dies alles in der Tat so verhalte, und doch nicht begreifen, wie es so komme, ja auch nur möglich sei. Um auch dies einleuchtend zu machen, wodurch das Paradoxon erst gelöst wird, müssen wir zuvor begreifen, warum die Richtung, in welcher die gemeine Zykloide über ihre Grundlinie emporsteigt, eine senkrechte sei. r Aus der Art, wie t m die gemeine Zykloide konstruiert werden ρ kann, nämlich, dass µ man aus jedem Punkte o der Basis einen diese berührenden Kreisbogen mit dem o a Halbmesser des erω zeugenden Kreises beschreibt und, von demselben ein Stück om von gleicher Länge mit der Entfernung des Punktes o vom Anfangspunkte a abschneidend, m als einen Punkt der Zykloide betrachtet – ergibt sich sofort, dass der Winkel mao einem rechten immer näher tritt, je näher man mit dem Punkte o zu a rückt,

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indem der Winkel moa, dessen Maß der halbe Bogen om ist, immer kleiner und das Verhältnis der beiden Seiten oa und om im Dreiecke moa sich immer mehr dem Verhältnisse der Gleichheit nähert; daher die Winkel an der dritten Seite am sich immer weniger vom rechten unterscheiden. Die wirkliche Berechnung zeigt dies ganz deutlich. Hieraus folgt aber noch überdies, dass der Zykloidalbogen am ganz auf derselben Seite der Chorde am, nament|lich zwischen ihr und dem aus a errichteten Lote at liege; somit, dass dieses die Richtung der Kurve im Punkte a bezeichne. Beschreiben wir ferner aus o als Mittelpunkt einen von a ausgehenden Kreisbogen mit oa; so ist offenbar, dass dieser die Chorde om erst in einem Punkte r ihrer Verlängerung schneide, weil or = oa > om sein muss. Ist nun µ irgendein noch näher an a liegender Punkt der Kurve, so gibt es für ihn ein noch näher an a liegendes ω in der ao von der Art, dass von der Chorde ωµ dasselbe gilt, was soeben von der om behauptet wurde, nämlich, dass ein aus ω als Mittelpunkt mit dem Halbmesser ωa beschriebener Kreisbogen in die Verlängerung ωµ über µ irgendwo in ρ eintrifft. Wegen ωa < oa liegt aber der Kreisbogen aρ innerhalb des Kreisbogens ar, also zwischen dem Zykloidalbogen aµ und dem Kreisbogen ar. Wir sehen demnach, dass es zu jedem, mit noch so kleinem Halbmesser oa beschriebenen Kreisbogen ar, den die Zykloide am in a berührt, einen anderen aρ gibt, der ihr noch näher kommt in dieser Gegend; mit anderen Worten, dass es keinen auch noch so kleinen Kreis gibt, der sich als Maß der in a stattfindenden Krümmung, falls es hier eine gibt, ansehen ließe. Es gibt also hier in Wahrheit keine Krümmung, sondern die Kurve, die in diesem Punkte nicht endet, hat hier, wie wir schon wissen, eine Spitze. §. 48 Paradox hat man es auch häufig gefunden, dass manche räumliche Ausdehnungen, die sich durch einen unendlichen Raum verbreiten (d. h. Punkte haben, deren Entfernung voneinan-

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der jede gegebene Entfernung übersteigt), gleichwohl nur eine endliche Größe, und wieder andere, die in einem ganz endlichen Raume beschränkt sind (d. h. deren sämtliche Punkte so liegen, dass ihre Entfernungen voneinander eine gegebene nicht überschreiten), doch eine unendliche Größe besitzen; oder endlich, 95 dass | manche räumliche Ausdehnung eine endliche Größe behält, ob sie gleich unendlich viele Umgänge um einen Punkt herum macht. 1. Wir müssen hier vor allem unterscheiden, ob unter der räumlichen Ausdehnung, von welcher hier gesprochen wird, ein aus mehreren voneinander getrennten Teilen bestehendes Ganze (dergleichen z. B. die mit vier Zweigen versehene Hyperbel ist), oder nur ein durchaus zusammenhängendes Ganze, d. h. nur eine solche Ausdehnung verstanden werden soll, die keinen einzigen, selbst noch eine Ausdehnung darstellenden Teil hat, an dem nicht wenigstens ein Punkt vorhanden wäre, der, zu den übrigen Teilen gerechnet, mit ihnen abermals ein Ausgedehntes bildet. Dass eine Ausdehnung, die aus getrennten Teilen besteht, durch einen unendlichen Raum sich ausbreiten könne, ohne darum schon unendlich groß zu sein, wird niemand anstößig finden, der daran denkt, dass auch eine unendliche Reihe von Größen, wenn sie im geometrischen Verhältnisse abnehmen, eine bloß endliche Summe darbietet. In diesem Sinne also kann allerdings auch eine Linie sich ins Unendliche verbreiten, und doch nur endlich sein, wie gleich diejenige, welche zum Vorschein kommt, wenn wir aus einem gegebenen Punkte a in gegebener Richtung aR eine begrenzte Gerade ab auftragen, dann aber in einem sich immer gleichbleibenden Abstande eine Gerade cd, welche nur halb so groß als die vorige ist, auftragen, und nach demselben Gesetze in das Unendliche fortfahren. Sprechen wir aber – und das soll in dem nun Folgenden immer geschehen – nur von solchen räumlichen Ausdehnungen, 24 darbietet ] 1851 darbeut

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die ein zusammenhängendes Ganzes gewähren: so ist wohl einleuchtend, dass unter den Ausdehnungen der niedrigsten Art, d. h. den Linien, keine zu finden sein könne, die sich in das Unendliche erstreckt, ohne zugleich eine unendliche Größe (Länge) zu haben. Denn so ergibt es sich ja schon mit Notwendigkeit aus der bekannten | Wahrheit, dass die kürzeste durchaus 96 zusammenhängende Linie, die zwei gegebene Punkte miteinander verbinden soll, nur die Gerade zwischen denselben ist.⋆ Anders als bei den Linien ist es bei den Flächen, die bei derselben Länge bloß durch Verminderung ihrer Breite, und bei den Körpern, die bei derselben Länge und Breite bloß durch Verminderung ihrer Höhe so klein, als man nur will, gemacht werden können. Daraus begreift sich denn, warum auch Flächen, die eine unendliche Länge, und Körper, | die neben ei- 97 ner unendlichen Länge auch eine unendliche Breite haben, zuweilen doch nur eine endliche Größe behaupten. Ein Beispiel, das auch der Unkundigste begreiflich finden wird, geben wir ihm, wenn wir verlangen, dass er sich auf der in das Unendliche fortlaufenden Geraden aR die gleichen Stücke ab = 1 = bc = cd = usw., in das Unendliche aufgetragen denken, sodann ⋆

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Weil der Beweis dieser Wahrheit so kurz ist, erlaube ich mir, ihn dieser Note einzuverleiben. Ist die Linie amonb nicht gerade, so muss es irgendeinen m Punkt o in ihr geben, der außerhalb der n o Geraden ab liegt und es sind, wenn wir aus o das Lot oω auf ab fällen, die Entν fernungen µ aω < ao bω < bo. a b ω Da aber alle Systeme zweier Punkte einander ähnlich sind, so gibt es zwischen den Punkten a und ω eine Linie aµω, ähnlich dem zwischen den Punkten a und o liegenden Stücke amo der gegebenen amonb, und zwischen den Punkten b und ω ebenfalls eine Linie bνω, ähnlich dem zwischen den Punkten b und o liegenden Stücke bno der gegebenen bnoma. Diese Ähnlichkeit aber fordert auch, dass sich die Länge der Geraden aω zur Länge der aµω verhalte wie die Länge der Geraden ao zur Länge des Stückes amo und die Länge der Geraden bω zur Länge bνω wie die Länge der Geraden bo zur Länge des Stückes bno. Weil nun aω < ao, so muss auch aµω < amo und weil bω < bo, so muss auch bνω < bno sein. Folglich ist auch das Ganze aµωνb < das Ganze amonb. Die krumme Linie amonb ist also nicht die kürzeste zwischen a und b, sondern die aµωνb ist kürzer.

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α γ a

δ b

R c

d

e

über dem ersten Stücke ab das Quadrat bα, über dem zweiten bc das Rechteck cγ, das nur die halbe Höhe bc hat, und so über jedem folgenden ein Rechteck, halb so hoch als das nächstvorhergehende vorstellen wolle, wo er gewiss sehr bald erkennen wird, dass die zusammenhängende Fläche, die ihm hier vorschwebt, in das Unendliche reicht und doch nicht größer als 2 ist. Nicht schwieriger wird es ihm sein, sich einen Würfel zu denken, dessen Seite = 1 ist, und diesem in Gedanken einen zweiten Körper unterzustellen, dessen Grundfläche ein Quadrat von der Seite 2, also viermal so groß als die Grundfläche des vorigen Würfels, die Höhe aber nur 81 beträgt; diesem hierauf einen dritten unterzusetzen, dessen Grundfläche abermals ein Quadrat viermal so groß als des nächstvorhergehenden, die Höhe aber 81 von der Höhe des vorigen Körpers beträgt – und sich vorzustellen, dass nach demselben Gesetze in das Unendliche fortgefahren würde. Er wird begreifen, dass die Länge und Breite der Körper, die hier im Verfolge untersetzt werden, in das Unendliche wachsen, obgleich ihr körperlicher Inhalt nur immer kleiner wird, so zwar, dass jeder folgende die Hälfte von dem nächstvorhergehenden beträgt; dass also die 98 Größe des pyramidalischen Ganzen, das so zum Vorschein | kommt, trotz seiner unendlichen Basis doch nie den körperlichen Inhalt = 2 übersteige. 2. Wie der bisher betrachtete Fall, wo eine Ausdehnung, die etwas Unendliches (eine unendliche Länge oder auch Breite) an sich hat, und gleichwohl von einer nur endlichen Größe befunden wird, nur bei den zwei höheren Arten der Ausdehnung, den Flächen und Körpern, nicht aber bei Linien eintreten kann: so findet das Gegenteil bei dem Falle statt, auf den wir jetzt zu sprechen kommen, wo eine Ausdehnung, die deshalb endlich scheint, weil sie in einen ganz endlichen Raum beschränkt ist, in der Tat doch eine unendliche Größe besitzt.

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Dieser Fall nämlich kann nur bei den zwei niederen Arten der Ausdehnung, den Linien und Flächen, keineswegs aber bei Körpern Platz greifen. Ein Körper, in dem es keine Punkte gibt, deren Entfernungen voneinander jede gegebene Größe überschreiten, kann sicher nicht unendlich groß sein. So ergibt es sich unmittelbar aus der bekannten Wahrheit, dass unter allen Körpern, deren Punkte eine gegebene Entfernung E, der eine von dem anderen nicht überschreiten sollen, der größte eine Kugel vom Durchmesser1 E sei. Denn diese enthält jene Punkte allzumal, und ihre Größe ist nur π6 ⋅ E 3 ; jeder andere diesen Raum nicht überschreitende Körper muss also notwendig kleiner als π6 ⋅ E 3 sein. Der Linien dagegen, die sich in den Raum einer einzigen, auch noch so kleinen Fläche, z. B. eines Quadratschuhes, einzeichnen lassen, gibt es unendlich viele, und jeder aus ihnen können wir eine wenigstens endliche Größe, z. B. die Länge eines Schuhes, erteilen, auch durch Hinzufügung einer oder auch unendlich vieler Verbindungslinien sie alle zu einer einzigen durchaus zusammenhängenden Linie vereinen, deren Länge dann gewiss eine unendliche sein muss. Und völlig ebenso gibt es der Flächen, die sich in den Raum eines einzigen, auch noch so kleinen Körpers, z. B. eines Kubikschuhes, | einzeichnen lassen, unendlich viele, deren 99 jeder wir eine Größe, z. B. die eines Quadratschuhes, erteilen können, und durch Hinzufügung einer oder auch unendlich vieler Verbindungsflächen können wir alle diese Flächen zu einer einzigen vereinen, deren Größe dann unstreitig eine unendlich große sein wird. Dieses alles kann auch niemand wundernehmen, der nicht vergisst, dass es nicht etwa dieselbe 16 Schuhes ] 1851 Quadratschuhes 1

Statt »Durchmesser E«, müsste es wohl heißen »Radius E«; denn z. B. die Punkte eines gleichseitigen Dreiecks mit Seitenlänge E liegen nicht alle innerhalb einer Kugel mit Durchmesser E. Man hätte dann im Text alle folgenden Formeln mit dem Faktor 8 zu korrigieren. Alternativ lese man zuvor einfach »deren Punkte eine gegebene Entfernung E/2, der eine von dem andern nicht überschreiten sollen . . . « und kann den übrigen Text lassen, wie er ist.

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Einheit sei, mit der wir Linien, Flächen und Körper messen, und dass, obgleich die Menge der Punkte schon in jeder auch noch so kleinen Linie eine unendliche ist, in einer Fläche diese Menge jedenfalls noch unendlichemal größer als in der Linie, in einem Körper endlich mit ebensolcher Gewissheit unendlichemal größer als in der Fläche vorausgesetzt werden muss. 3. Das dritte, im Anfange dieses §. erwähnte Paradoxon lautete, dass es auch Ausdehnungen gebe, die eine unendliche Menge von Umläufen um einen gewissen Punkt herum machen, und dabei gleichwohl eine endliche Größe behalten. Soll eine solche Ausdehnung lineär sein, so kann dies, wie wir soeben in Nr. 1 sahen, nur dann erfolgen, wenn sich die ganze Linie in einem endlichen Raume befindet. Unter dieser Bedingung aber liegt durchaus nichts Unbegreifliches in der Erscheinung, dass sie eine endliche Länge behalte, obgleich sie der Umläufe um einen gegebenen Punkt unendlich viele vollbringt; wird nur die fernere Bedingung noch erfüllt, dass diese Umläufe von einer endlichen Größe beginnend, in der gehörigen Weise bis ins Unendliche abnehmen, eine Forderung, die wieder durch den Umstand ermöglicht wird, dass es ein bloßer Punkt ist, um welchen jene Umläufe erfolgen sollen. Denn dies erlaubt, dass die Entfernungen, welche die einzelnen Punkte eines solchen Umlaufes von diesem Mittelpunkte und somit auch untereinander selbst haben, in das Unendliche abnehmen können; wo dann die Kreislinie selbst uns lehrt, dass auch die Länge dieses Umlaufes in das Unendliche vermindert werden könne. Die logarithmische Spirale, wenn bloß dasjenige 100 Stück derselben ins Auge gefasst werden soll, | das, anzufangen von einem gegebenen Punkte dem Centro stets sich annähert, ohne doch je in dasselbe einzufallen, wird sich unseren Lesern als Beispiel einer Linie, wie die hier besprochene, von selbst schon aufgedrungen haben. Soll aber die räumliche Ausdehnung, welche der Umläufe um einen gegebenen Punkt unendlich viele macht, eine Fläche oder ein Körper sein: so bedarf es nicht einmal der beschränkenden Bedingung, dass sich das Raumding mit keinem seiner

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Punkte über eine bestimmte Weite von seinem Mittelpunkte entferne. Denn um mich auf die kürzeste Weise verständlich zu machen, denke sich der Leser die nur erwähnte Spirale als eine Art Abszissenlinie, aus deren jedem Punkte Ordinaten senkrecht auf sie und ihre Ebene hervorgehen. Der Inbegriff all dieser Ordinaten bildet dann offenbar eine Fläche (von der Art der zylindrischen), die nach der einen Seite hin sich in unendlich vielen Windungen dem Mittelpunkte naht, ohne ihn je zu erreichen, nach der anderen aber sich ins Unendliche entfernt. Wie groß diese Fläche sei, wird von dem Gesetze abhängen, nach dem wir die Ordinaten zu- oder abnehmen lassen. Der dem Mittelpunkte zueilende Teil aber wird jederzeit endlich verbleiben, solange wir die Ordinaten nach dieser Seite (d. h. über dem nur endlichen Abszissenzweige) hin nicht ins Unendliche zunehmen lassen, weil jede Fläche, in der weder Abszisse noch Ordinate ins Unendliche wachsen, endlich ist. Doch auch der Teil der Fläche, der über dem anderen sich ins Unendliche entfernenden Spiralzweige steht, wird endlich bleiben, so oft die Ordinaten in einem schnelleren Verhältnisse abnehmen als die Abszissen (d. h. die Bogenlänge der Spirale) zunehmen. Wählen wir also zur Abszissenlinie die natürliche Spirale, wo der von dem √ Radius = 1 dem Mittelpunkte zueilende Zweig die Länge 2 hat, und nehmen zur Begrenzung der Fläche den Bogen einer Hyperbel höherer Art, für den die Gleichung yx 2 = a 3 : so hat derjenige Teil dieser Fläche, der von x = a zu allen höheren Werten von x gehört, doch nur die Größe a 2 , | während der andere, zu allen kleineren Werten 101 von x gehörige Teil in das Unendliche wächst. Nehmen wir √ aber a > 2 und verlegen den Endpunkt der Abszisse x = a auf den Punkt der Spirale, der den Radius 1 hat, so fällt √ ihr Mittelpunkt mit dem Endpunkte der Abszisse x = a − 2 zusammen, hat also noch eine endliche Ordinate, und der Teil derselben, der über diesem Zweige der Spirale liegt, ist nicht größer als 10–11 abhängen ] 1851 abhangen

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1 1 a3 a3 2 √ = −( √ − a 2 ); a ( − )=a − a x a− 2 a− 2 3

die ganze nach beiden Seiten hin die Spirale bedeckende Fläche (die zu erhalten wir ihre beiden Größen nach ihrem positiven Werte addieren müssen) ist also a3 a3 2 √ −a )= √ . = a +( a− 2 a− 2 2

√ Also z. B. für a = 2 beträgt die ganze Fläche nur 4(2 + 2). Eine sehr ähnliche Bewandtnis hat es auch mit den körperlichen Ausdehnungen. Nur ist zu bemerken, dass hier der gegen den Mittelpunkt zueilende Teil des Körpers, wollte man seine Ausdehnung in die Breite und Dicke zunehmen lassen, in den Raum seiner eigenen nächst angrenzenden Umläufe (rechts und links) eingreifen würde. Wollte man dieses vermeiden, und einen Körper haben, dessen sämtliche Teile außer einander liegen, so käme man unter anderem auch schon dadurch zum Ziele, dass man einer Fläche von der Art, wie die nur eben betrachtete war, die bei ihrer Annäherung an den Mittelpunkt an Breite immer zunahm, noch eine dritte Dimension, eine Dicke beilegte, die jedoch gegen den Mittelpunkt zu in einem solchen Verhältnisse sich verminderte, dass sie stets weniger als die Hälfte des zwischen zwei nächsten Spiralwindungen liegenden Abstandes beträgt. 102 [A 209]

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§. 49 Räumliche Ausdehnungen, die eine unendliche Größe besitzen, stehen eben in Hinsicht auf diese Größe selbst in so verschiedenartigen und oft so paradoxen Verhältnissen, dass wir wenigstens einige derselben noch in besondere Betrachtung ziehen müssen. Dass auch ein Raumding, das eine unendliche Menge von Punkten enthält, darum noch keine stetige Ausdehnung sein müsse; wie auch, dass es bei einer stetigen Ausdehnung nicht

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eben die Menge der Punkte sei, die wir durch ihre Größe bestimmen; dass von zwei Ausdehnungen, die wir als gleich groß ansehen, die eine noch um eine unendliche Menge von Punkten mehr oder weniger enthalten könne denn die andere; ja, dass eine Fläche unendlich viele Linien, ein Körper unendlich viele Flächen mehr oder weniger als ein gleich groß erachtetes Ausgedehnte derselben Art enthalten könne: das alles können wir schon als hinreichend aufgeklärt aus dem bisher Gesagten betrachten. 1. Das Erste, worauf wir die Aufmerksamkeit des Lesers richten wollen, ist, dass die Menge der Punkte, die eine einzige, auch noch so kurze Gerade az enthält, eine Menge sei, die als unendlich größer betrachtet werden müsse, denn die unendliche Menge derjenigen, die wir aus ersterer ausheben, wenn wir, anzufangen von einem ihrer Grenzpunkte a, in einer angemessenen Entfernung einen zweiten b, nach diesem in einer kleineren Entfernung einen dritten c herausheben und so ohne Ende fortfahren, jene Entfernungen nach einem Gesetze vermindernd, dabei die unendliche Menge derselben in ihrer Summe gleich oder kleiner als die Entfernung az ist. Denn da auch die unendlich vielen Stücke ab, bc, cd, . . . , in welche az zerfällt, insgesamt wieder endliche Linien sind: so kann mit jeder vorgenommen werden, was wir soeben von az verlangt, d. h. in jeder lässt sich abermals eine solche unendliche Menge von Punkten wie in der az nachweisen, die zugleich in der az stecken. Mithin muss in der ganzen az | 103 eine solche unendliche Menge von Punkten unendlichemal enthalten sein. 2. Jeder Geraden, ja jeder räumlichen Ausdehnung überhaupt, die einer anderen nicht nur ähnlich, sondern auch (geometrisch) gleich ist (d. h. in allen durch die Vergleichung mit einer gegebenen Entfernung begrifflich darstellbaren Merkmalen mit ihr übereinstimmt), muss auch die gleiche Menge von Punkten zugestanden werden, sofern wir nur auch die Art der Begrenzung in beiden gleich annehmen, z. B. in beiden Linien die Grenzpunkte mitrechnen oder nicht mitrechnen. Denn

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das Gegenteil könnte nur statthaben, wenn es Entfernungen gäbe, die, obwohl gleich, doch eine ungleiche Menge von Punkten zwischen den beiden Punkten, deren Entfernungen sie sind, zulassen. Das aber widerspricht dem Begriffe, den wir mit dem Wort geometrisch gleich verbinden; denn eben dann nur nennen wir eine Entfernung ac ungleich mit einer

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b a

|

c

anderen ab, und zwar größer als diese, wenn in dem Falle, dass b und c beide in einerlei Richtung liegen, der Punkt b zwischen a und c kommt, und somit alle Punkte zwischen a und b wohl auch zwischen a und c, aber nicht umgekehrt alle zwischen a und c auch zwischen a und b liegen. 3. Bezeichnen wir die Menge der Punkte, die zwischen a und b liegen, samt a und b durch E, und erheben die Gerade ab zur Einheit aller Längen, so wird die Menge der Punkte in der Geraden ac, welche die Länge n hat (worunter wir jetzt nur eine ganze Zahl verstehen), wenn ihre Grenzpunkte a und c mit eingerechnet werden sollen, = nE − (n − 1) sein. 4. Die Menge der Punkte in einer Quadratfläche, deren Seite = 1 ist (dem gewöhnlichen Maße für Flächen), wird, wenn wir den Umfang mit dazurechnen, = E 2 sein. 104 5. Die Menge der Punkte in jedem Rechtecke, dessen | eine Seite die Länge m, die andere die Länge n hat, wird mit Einberechnung des Umfanges sein = mnE 2 − [n(m − 1) + m(n − 1)]E + (m − 1)(n − 1). 6. Die Menge der Punkte in einem Würfel, dessen Seite =1 (dem gewöhnlichen Maße für Körper), wird, wenn wir die Punkte der Oberfläche mit einrechnen, = E 3 sein. 7. Die Menge der Punkte in einem Parallelepipedon, dessen Seiten die Längen m, n, r haben, wird mit Einbezug der Oberfläche sein:

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mnr ⋅ E 3 − [nr(m − 1) + mr(n − 1) + mn(r − 1)]E 2 +[m(n − 1)(r − 1) + n(m − 1)(r − 1) + r(m − 1)(n − 1)]E − (m − 1)(n − 1)(r − 1). 5

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8. Einer Geraden, die beiderseits in das Unendliche reicht, müssen wir eine unendliche Länge und eine Menge von Punkten zuschreiben, welche unendlichemal so groß ist, als die Menge der Punkte in der zur Einheit angenommenen Geraden = E. Wir müssen auch allen solchen Geraden die gleiche Länge und die gleiche Punktenmenge zugestehen; weil die bestimmenden Stücke, durch die sich für ein Paar solcher Geraden zwei Punkte bestimmen lassen, durch welche sie gehen, wenn wir den Abstand zwischen diesen Punkten gleich groß annehmen, einander nicht nur ähnlich, sondern auch (geometrisch) gleich sind. 9. Die Lage eines in einer solchen Geraden beliebig angenommenen Punktes ist nach beiden Seiten der Geraden ganz ähnlich, bietet auch nur lauter solche begrifflich erfassbaren Merkmale dar, wie sie die Lage jedes anderen Punktes der Art hat. Gleichwohl lässt sich nicht sagen, dass solch ein Punkt die Linie in zwei gleich lange Teile zerlege; denn dürften wir das von einem Punkte a sagen, so müssten wir es auch von jedem anderen b aus gleichem Grunde behaupten, was sich doch widerspricht, indem, wenn aR = aS wäre, nicht auch

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R

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|

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b

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bR (= ba + aR) = bS (= aS−ab) | sein könnte. Wir müssen al- 105 so vielmehr behaupten, dass eine beiderseits unbegrenzte Gerade gar keinen Mittelpunkt, d. h. gar keinen Punkt habe, der durch sein bloßes begrifflich auffassbares Verhältnis zu dieser Linie bestimmt werden könne. 27 bR. . .ab) ] 1851 Druckfehlerkorrektur aus bR = (ba+aR) = bS = (aS−ab)

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10. Der ebenen Fläche, die zwei einander gleichlaufende, nach beiden Seiten unbegrenzte Gerade zwischen sich einschließen (d. h. dem Inbegriffe aller derjenigen Punkte, welche die Perpendikel aus jedem Punkte der einen dieser Parallelen auf die andere enthalten), müssen wir einen unendlich großen Flächenraum und eine Menge von Punkten zugestehen, der unendlichemal so groß ist, als die Menge in dem zur Flächeneinheit angenommenen Quadrate = E 2 . Wir müssen auch allen solchen Parallelstreifen, wenn sie die gleiche Breite (Länge des Perpendikels) besitzen, eine gleiche Größe und Punktenmenge beilegen. Denn auch sie lassen sich in einer Weise bestimmen, dass die bestimmenden Stücke einander nicht nur ähnlich, sondern auch geometrisch gleich sind; z. B. wenn wir sie durch die Angabe eines gleichschenklig rechtwinkligen Dreiecks von gleicher Seite bestimmen, von dem wir festsetzen, dass die eine dieser Parallelen durch die Grundlinie, die andere durch die Spitze des Dreiecks gehe. 11. Die Lage eines in einem solchen Parallelstreifen beliebig angenommenen Perpendikels ist zu beiden Seiten der Fläche die ähnliche, bietet auch keine anderen begrifflich erfassbaren Merkmale dar, wie sie die Lage jedes anderen dergleichen Perpendikels darbietet. Gleichwohl lässt sich nicht sagen, dass ein solches Perpendikel die Fläche in zwei einander geometrisch gleiche Teile zerlege. Denn diese Annahme würde uns alsbald in einen ganz ähnlichen Widerspruch wie Nr. 9 verwickeln, und beweist dadurch ihre Falschheit. 12. Einer Ebene, die nach allen Richtungen hin in das Unendliche geht, müssen wir einen unendlich großen Flächenraum und eine Menge von Punkten zugestehen, die noch unendlichemal größer ist als die Menge der Punkte, die sich 106 in einem Parallestreifen befinden. Wie aber allen dergleichen | Parallelstreifen von gleicher Breite untereinander, so müssen wir auch allen dergleichen grenzlosen Ebenen die gleiche unendliche Menge von Punkten untereinander zugestehen. 14 gleichschenklig ] 1851 gleichseitig 22 darbietet ] 1851 darbeut

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Denn auch von ihnen gilt, dass sie bestimmt werden können auf eine nicht bloß ähnliche, sondern auch (geometrisch) gleiche Weise; wie z. B. wenn wir sie jede durch drei in ihr liegende Punkte, welche ein ähnliches und gleiches Dreieck bilden, bestimmen. 13. Die Lage einer in einer solchen R E R′ grenzenlosen Ebene beliebig angenommenen unbegrenzten Geraden ist nach F′ F F ′′ beiden Seiten der Ebene ganz ähnlich; sie bietet überdies dieselben begrifflich darS S′ stellbaren Merkmale dar, wie die Lage jeder anderen Geraden der Art. Dennoch ist nicht zu sagen, dass eine solche Gerade die Ebene in zwei geometrisch gleich große Teile zerlege. Denn dürften wir das von einer Geraden RS behaupten, so müssten wir es von jeder anderen R ′ S ′ auch zugeben, was doch auf einen offenbaren Widerspruch führt, sobald wir diese Geraden einander gleichlaufend nehmen. 14. Zwei unbegrenzte Geraden, die S R in derselben Ebene liegend einander a nicht gleichlaufen, somit sich irgendwo schneiden und vier (paarweise gleiche) R′ S′ Winkel bilden, teilen den ganzen Flächenraum der unbegrenzten Ebene in vier Teile, davon je zwei von den gleichen (ähnlichen) Winkeln RaS = R′ aS ′ , RaS ′ = R′ aS umspannte einander ähnlich sind. Jeder dieser vier Winkelräume enthält eine unendliche Menge nach einer Seite hin sich ins Unendliche erstreckender Parallelstreifen, dergleichen wir in Nr. 11 | betrachteten, von jeder 107 beliebigen Breite; und nach jeder endlichen Menge derselben, welche wir in Gedanken wegnehmen, erübrigt noch ein Winkelraum, umspannt von einem gleichen Winkel wie anfangs. Allein so wenig wir nach Nr. 9 und 11 berechtigt sind, die Schenkel dieser Winkel, oder auch die Parallelstreifen, die wir als Teile ihres Flächenraumes nachweisen können, einander gleich zu nennen: so wenig sind wir auch,

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und zwar aus ähnlichen Gründen wie b a R dort, berechtigt, diese unendlichen c P Winkelräume auch selbst bei gleichen α (ähnlichen) Winkeln einander gleich, d. h. gleich groß zu nennen. So ist es von den zwei Winkelflächen RaS und S Σ PαΣ offenbar, dass die erste größer ist als die zweite, obgleich die Winkel selbst einander gleich sind, wenn bΣ ∥ aS, cP∥ aR. 15. Den Körperraum, den zwei einander gleichlaufende grenzlose Ebenen zwischen sich einschließen (d. h. den Inbegriff aller derjenigen Punkte, welche die sämtlichen aus einem jeden Punkte der einen auf die andere Ebene gefällten Perpendikel enthalten), diese (wie man sie nennen könnte) grenzlose Körperschicht müssen wir jedenfalls für unendlich groß erklären, wie auch die Breite derselben (die Länge eines solchen Perpendikels) sein mag. Bei gleicher Breite aber dürfen wir diese Größe, ja auch die Menge der Punkte in zwei solchen Körperschichten für gleich erklären; immer nach demselben Schlusse, den wir schon mehrmal (Nr. 8, 10, 12) angewandt haben. 16. Die Lage, die ein in einer unbegrenzten Körperschicht beliebig angenommener auf ihre Ebenen senkrechter Parallelstreif nach seinen beiden Seiten hin zu jener Körperschicht hat, ist sich ganz ähnlich, und auch die Lage, die ein anderer Parallelstreif dieser Art zu derselben oder auch zu jeder 108 beliebigen anderen grenzlosen Körperschicht hat, | ist ähnlich. Dennoch lässt sich nicht sagen, dass jene beiden Teile, in welche die Körperschicht durch einen solchen Parallelstreif zerlegt wird, von gleicher Größe sein müssten. 17. Zwei unbegrenzte Ebenen, welche einander durchschneiden, zerlegen den ganzen unendlichen Raum in vier unendlich große Teile, deren je zwei gegenüberstehende einander 10 ∥ ] 1851 # / ∥ ] 1851 # 33–34 unendlich große Teile ] 1851 grosse Theile

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unstreitig ähnlich sind, nicht aber sofort für gleich groß gelten dürfen. 18. Ebenso wenig dürfen die Körperräume, die zwei einander ähnliche oder (wie man zu sagen pflegt) gleiche Körperecken zwischen ihren in das Unendliche verlängerten Seitenflächen einschließen, für gleich groß ausgegeben werden. 19. Auch die zwei Teile, in welche schon eine einzige unendliche Ebene den ganzen Raum zerlegt, sind, obwohl ähnlich, doch nicht als geometrisch gleich, d. h. als von gleicher Größe, umso weniger, als aus einer gleichen Menge von Punkten bestehend, zu betrachten. §. 50

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[A 211]

Es erübrigt uns jetzt noch eine kurze Besprechung derjenigen Paradoxien, die uns auf dem Gebiete der Metaphysik und Physik begegnen. In diesen Wissenschaften stelle ich die Sätze auf: »es gebe nicht zwei einander durchaus gleiche Dinge, somit auch nicht zwei einander durchaus gleiche Atome oder einfache Substanzen im Weltall; notwendig aber müsse man dergleichen einfache Substanzen voraussetzen, sobald man zusammengesetzte Körper in der Welt annimmt; man müsse endlich auch voraussetzen, dass alle diese einfachen Substanzen veränderlich sind und sich fortwährend verändern.« Ich behaupte dies alles, weil es mir deucht, es seien Wahrheiten, die sich so strenge und einleuchtend dartun lassen, als irgendein Lehrsatz der Mathematik. Gleichwohl muss ich befürchten, dass die meisten Physiker diese Sätze nur kopfschüttelnd anhören werden. Sie nämlich rühmen | sich, nur Wahrheiten aufzustellen, wel- 109 che Erfahrung sie lehrt; Erfahrung aber weise gar keinen Unterschied nach zwischen den kleinsten Teilen der Körper, besonders von einerlei Art, z. B. zwischen den kleinsten Teilen bei einem Golde, das wir aus dieser oder aus jener Mine gewonnen haben; Erfahrung lehre ferner wohl allerdings, dass 10 umso ] 1851 um so

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jeder Körper zusammengesetzt sei, Atome aber, die durchaus einfach und sonach auch ohne alle Ausdehnung wären, habe noch niemand wahrgenommen; Erfahrung zeige endlich, dass die verschiedenen Stoffe, z. B. Sauerstoff, Wasserstoff usw., bald diese, bald jene Verbindungen untereinander eingehen und hiernächst bald diese, bald jene Wirkungen äußern – dass aber sie selbst in ihrem Inneren dadurch verändert würden und dass z. B. der Sauerstoff nach und nach zu einem anderen Stoff sich umwandle, das werde bloß erdichtet. 1. Meines Erachtens ist es ein Irrtum, dass die Erfahrung lehre, was hier behauptet wird. Erfahrung, bloße, unmittelbare Erfahrung oder Wahrnehmung ohne Verbindung mit gewissen reinen Begriffswahrheiten lehrt uns nichts anderes, als dass wir diese und jene Anschauungen oder Vorstellungen überhaupt haben. Woher uns diese Vorstellungen kommen, ob durch die Einwirkung irgendeines von uns verschiedenen Gegenstandes, ja ob sie überhaupt nur einer Ursache bedürfen, welche Beschaffenheiten diese habe: darüber lehrt uns die unmittelbare Wahrnehmung gar nichts, sondern das schließen wir nur aus gewissen reinen Begriffswahrheiten, die wir durch die Vernunft hinzudenken müssen, und schließen es meistens nur nach einer bloßen Regel der Wahrscheinlichkeit, z. B. dass dieses Rot, das wir soeben sehen, durch einen krankhaften Zustand unseres Auges, jener Wohlgeruch aber durch die Nähe einer Blume hervorgebracht werde. Dagegen, um einzusehen, dass zwischen je zwei Dingen irgendein Unterschied obwalten müsse, bedarf es gar keiner aus der Erfahrung abgezogenen Schlüsse der bloßen Wahrscheinlichkeit; sondern das können 110 wir durch ein geringes Nachdenken mit aller | Sicherheit erkennen. Sollen A und B zwei Dinge sein, so muss eben deshalb die Wahrheit bestehen, dass das Ding A nicht das Ding B sei, eine Wahrheit, welche voraussetzt, dass es zwei Vorstellungen A und B gibt, deren die eine nur das Ding A, nicht aber B, die andere nur das Ding B, nicht aber A vorstellt. Und schon in diesem Umstande liegt ja ein Unterschied (und zwar ein innerer), welchen die Dinge A und B voneinander haben.

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Sehen wir auf diese Art, dass je zwei Dinge mit Notwendigkeit gewisse Unterschiede haben, wie können wir uns berechtigt glauben, an einem solchen Unterschiede zu zweifeln, bloß weil wir ihn hier und da nicht wahrnehmen? Da doch zu dieser Wahrnehmung eine besondere Schärfe der Sinne und noch viel andere Umstände gehören. 2. Dass erst Erfahrung uns lehre, es gebe der Dinge, die auf uns einwirken, mehrere, und namentlich alle diejenigen, die Anschauungen in uns vermitteln, seien zusammengesetzt, hat seine Richtigkeit. Doch lehrt die Erfahrung dieses nur unter Voraussetzung gewisser reiner Begriffswahrheiten: wie dass verschiedene Wirkungen nur durch verschiedene Ursachen hervorgebracht werden können usw. Aber nicht minder gewiss sind die Begriffswahrheiten, dass jede Ursache irgendein Wirkliches sein müsse, alles Wirkliche aber entweder eine Substanz oder ein Inbegriff mehrerer Substanzen oder Beschaffenheiten an einer oder mehreren Substanzen sei; ingleichen, dass Beschaffenheiten, die etwas Wirkliches sind, nicht sein können, ohne das Dasein einer Substanz, an der sie sich befinden und Inbegriffe von Substanzen nicht ohne einfache, welche die Teile dieser Inbegriffe bilden. Daraus folgt aber das Dasein einfacher Substanzen mit strenger Notwendigkeit, und es wird lächerlich, letztere nicht annehmen zu wollen, weil man sie nicht – sieht; und umso ungereimter, wenn ferneres Nachdenken lehrt, dass jeder Körper, der noch für unsere Sinne wahrnehmbar sein soll, zusammengesetzt, ja aus einer unendlichen Menge einfacher Teile zusammengesetzt sein müsse. | 111 3. Ein ähnlicher Trugschluss von dem Nichtwahrnehmen auf das Nichtvorhandensein ist es, wenn man nicht zugeben will, dass alle endliche Substanzen einer nie aufhörenden Veränderung unterliegen. An unserer eigenen Seele kennen wir die Veränderlichkeit ihrer Zustände, Vorstellungen, Beschaffenheiten und Kräfte doch zur Genüge; auf ein Ähnliches auch 24 umso ] 1851 um so

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bei den Seelen der Tiere und bei den Pflanzen zu schließen, werden wir schon durch die bloße Analogie veranlasst. Dass aber alle, auch diejenigen Substanzen, welche durch einen Zeitraum von Jahrhunderten keine uns merkbare Veränderung beweisen, doch in der Tat sich ändern, werden wir erst durch Gründe der Vernunft berechtigt anzunehmen. Wer dies bestreiten, wenigstens in Bezug auf die sogenannte leblose Materie und hinsichtlich ihrer einfachen Teile oder Atome in Abrede stellen will, sieht sich genötigt zu der Behauptung, dass alle Veränderungen, die uns in diesem Teile der Schöpfung erscheinen, wenn z. B. ein Stück Eis, das vor einer Weile noch fest war, jetzt schon geschmolzen ist und in der nächsten Stunde sich in Dampfform verflüchtigt – dass (sage ich) alle diese Veränderungen nichts als bloße Änderungen in den örtlichen Verhältnissen der kleineren oder größeren Teilchen dieser Körper sind, dabei sich in dem Inneren jener Teilchen selbst nichts ändert. Aber wie mochte man nicht bemerken, dass man bei dieser Erklärung in einen Widerspruch verfalle? Denn könnte sich in den einfachen Substanzen selbst (in ihrem Inneren) nichts ändern: wodurch nur könnten Veränderungen in ihren örtlichen Verhältnissen untereinander bewirkt werden, und welche Folgen sollten diese bloß äußeren Veränderungen haben, zu welchen Zwecken sollten sie dienen, und woran sollten sie auch nur erkannt werden können? Auf alle diese Fragen lässt sich nur vernünftig antworten, wenn wir den einfachen Substanzen – nämlich denjenigen, welche nicht allvollkommen sind, also der Kräfte mehrere, als sie schon haben, annehmen können – eben deshalb die Fähigkeit ei112 ner Veränderung durch gegenseitiges Einwirken aufeinan|der zugestehen, und ihre Orte als diejenigen Bestimmungen an denselben betrachten, welche den Grund enthalten, warum sie bei dem Besitze gerade dieses Maßes von Kräften in einem gegebenen Zeitraume gerade diese und nicht eine größere oder geringere Veränderung die eine in der anderen bewirken. Nur unter dieser, auch dem gemeinen Menschenverstande so einleuchtenden Voraussetzung verschwindet jeder Widerspruch

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in der Lehre vom Weltall, und es bedarf nur, uns über einige, fast schon veraltete Schulmeinungen zu erheben, um alles im Einklang zu finden. §. 51 5

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[A 213]

1. Die erste dieser Schulmeinungen, die wir aufgeben müssen, ist die von den älteren Physikern erdachte tote oder bloß träge Materie, deren einfache Teile, wenn sie ja solche hat, einander alle gleich und ewig unveränderlich, gar keine eigenen Kräfte, es wäre denn die sogenannte Kraft der Trägheit allein, besitzen sollen. Was immer wirklich ist, das muss ja auch wirken, und somit Kräfte zum Wirken haben. Eine beschränkte Substanz aber, die eben deshalb auch veränderlich ist, kann allerdings keine Kraft, die ihrer Natur nach keine Veränderung in ihrem Wirken zuließe, also insonderheit keine Kraft des Schaffens, sondern sie muss bloße Veränderungskräfte besitzen, die übrigens entweder immanent, wie die Kraft des Empfindens, oder transient, wie die Bewegkraft, sein können. Immerhin mag es uns, nach wie vor, verstattet bleiben, um den Erfolg, welcher aus einer gewissen Verbindung mehrerer Körper hervorgehen werde, allmählich mit hinreichender Genauigkeit beurteilen zu lernen, uns den Fall anfangs weit einfacher vorzustellen und statt der unendlichen Menge von Kräften, die in Wahrheit hier zusammenwirken, nur das Vorhandensein einiger weniger anzunehmen, ja überhaupt uns | 113 Körper und Beschaffenheiten derselben zu denken, die in der Wirklichkeit gar nicht vorhanden sind, um zu bestimmen, was diese hervorbringen würden. Nur dürfen wir nicht, ohne die Sache erst eigens erwogen zu haben, voraussetzen, dass der Erfolg, der sich in diesem erdichteten Falle einstellen müsste, auch mit demjenigen, der in der Wirklichkeit eintreten wird, bis auf einen gewissen Grad übereinstimmen werde. Die Außerachtsetzung dieser Vorsicht hat manches berühmte Paradoxon verschuldet, wie wir noch sehen werden. 24 weniger ] 1851 wenigen

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[A 213]

2. Ein anderes Vorurteil der Schule ist es, dass jede Annahme einer unmittelbaren Einwirkung einer Substanz auf eine andere in der Wissenschaft unerlaubt sei. Wahr ist nur, dass wir nie, ohne es erst erwiesen zu haben, voraussetzen dürfen, eine gewisse Einwirkung erfolge unmittelbar; wahr ist es, dass alles wissenschaftliche Studium aufhören würde, wollten wir jede uns vorkommende Erscheinung damit erklären, dass wir nur sprächen, sie werde unmittelbar erzeugt. Allein wir gehen offenbar zu weit und verfallen in einen neuen, gleichfalls sehr nachteiligen Irrtum, wenn wir jede Einwirkung, die eine Substanz auf eine andere ausüben soll, für eine bloß mittelbare erklären, somit gar kein unmittelbares Wirken irgendwo zulassen wollen. Denn wie nur könnte ein mittelbares Wirken zustande kommen, wenn es kein unmittelbares gäbe? Da dies einleuchtend genug ist, so wollen wir uns hierbei nicht länger aufhalten, sondern uns nur begnügen, zu sagen, wie merkwürdig es sei, dass ein so großer und so umsichtiger Denker wie Leibniz nur eben aus diesem Anlasse, weil ihm kein Mittel bekannt war, wodurch Substanzen, die einfach sind, aufeinander sollten einwirken können, auf jene unglückliche Hypothese der prästabilierten Harmonie verfiel, welche sein ganzes sonst so schönes System der Kosmologie verunstaltet. 114 [A 214]

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§. 53 3. Mit diesem Vorurteile innigst zusammenhängend und damit schon von selbst widerlegt, ist jenes noch viel ältere, es sei keine (nämlich keine unmittelbare) Einwirkung einer Substanz auf eine andere, in der Ferne von ihr befindliche möglich. Im schroffsten Widerspruche mit dieser Vorstellung behaupte ich vielmehr, dass jede Einwirkung einer (im Raume befindlichen, also beschränkten) Substanz auf eine andere eine actio in distans sei; aus dem ganz einfachen Grunde, weil je zwei 13 somit ] 1851 so mit

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verschiedene Substanzen in jedem Augenblicke auch zwei verschiedene einfache Orte einnehmen, also eine Entfernung zwischen sich haben müssen. Den scheinbaren Widerspruch, der zwischen dieser und einer anderen unserer Behauptungen liegt, dass der Raum stetig erfüllt sein soll, habe ich schon oben besprochen. §. 54 [A 215] 4. Hiermit verstoßen wir aber freilich auch gegen ein anderes Vorurteil der Schulen neuerer Zeit, die ein Durchdringen der Substanzen, namentlich in jeder chemischen Verbindung erblicken wollen. Jede Möglichkeit eines solchen Durchdringens leugne ich unbedingt; weil es, soviel ich einsehe, schon in dem Begriffe eines einfachen Ortes (oder Punktes) liegt, dass er ein Ort sei, der nur eine einzige (einfache) Substanz beherbergen kann. Wo zwei Atome sind, sind auch zwei Orte. Aus unserer schon mehrmal wiederholten Erklärung vom Raume ergibt es sich gleichfalls unmittelbar, dass nur die Größe, welche die Entfernung zweier aufeinander wirkender Atome hat, die Größe der Veränderung bestimme, welche sie innerhalb einer gegebenen Zeitdauer ineinander bewirken. Könnten zwei oder mehrere Substanzen durch eine, auch noch so kurze Zeit in einem und demselben Orte sein, so wäre die Größe ihres gegenseitigen | Einwirkens in dieser Zeit absolut unbestimmbar; 115 und wäre es auch nur ein einziger Augenblick, so wäre ihr Zustand in demselben nicht zu bestimmen. §. 55

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5. Doch seit Descartes erhob sich noch ein neues Vorurteil in den Schulen. Indem er (wohl aus sehr löblicher Absicht) den Unterschied zwischen denkenden und nichtdenkenden Substanzen (Geist und Materie, wie er sie nannte) nicht hoch genug glaubte ansetzen zu können, verfiel er auf jene dem gemeinen Menschenverstande so auffallende, ja fast undenkbare Behauptung, dass ein geistiges Wesen nicht nur nicht als ein ausgedehntes, d. h. aus Teilen bestehendes, sondern nicht

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einmal als irgendein im Raume befindliches, also auch nur einen einzigen Punkt im Raume durch seine Gegenwart erfüllendes Wesen angesehen werden dürfe. Da nun in späterer Zeit Kant gar so weit ging, den Raum (nicht minder wie die Zeit) für ein paar bloße Formen unserer Sinnlichkeit zu erklären, denen kein Gegenstand an sich entspreche; da er zwei Welten, eine intelligible der Geister- und eine Sinnenwelt, einander geradezu entgegensetzte: so ist es nicht zu bewundern, wenn sich das Vorurteil von der Unräumlichkeit der geistigen Wesen in Deutschland wenigstens so tief festsetzte, dass es bis auf den heutigen Tag in unseren Schulen noch besteht. Hinsichtlich der Gründe, durch die ich dieses Vorurteil bekämpft zu haben glaube, muss ich auf andere Schriften, vornehmlich auf die Wissenschaftslehre und Athanasia verweisen. So viel wird jeder zugestehen müssen, dass die von mir aufgestellte Ansicht, zufolge der sich alle geschaffenen Substanzen aus einem gemeinschaftlichen Grunde wie in der Zeit so auch im Raume befinden müssen, und aller Unterschied in ihren Kräften ein bloßer Gradunterschied ist, sich schon durch ihre Einfachheit vor jeder anderen, die man bis jetzt gekannt, empfehle. 116 [A 216]

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§. 56 6. Bei dieser Ansicht fällt auch das große Paradoxon hinweg, das man bisher noch immer in der Verbindung zwischen den geistigen und materiellen Substanzen gefunden. Wie die Materie auf den Geist und hinwieder dieser auf jene einwirken könne, wenn beide so ungleichartig wären, hat man für ein uns Menschen unerforschliches Geheimnis erklärt. Aus den obigen Ansichten aber ergibt sich, dass diese gegenseitige Einwirkung, teilweise wenigstens, eine unmittelbare sein müsse, insofern also gewiss nichts uns Geheimes und Verborgenes an sich haben könne; womit wir jedoch allerdings nicht gesagt haben wollen, dass es nicht sehr viel Wissens- und Forschenswürdiges in demjenigen Teile dieser Einwirkungen gebe, welche auf irgendeine Weise, besonders durch Organismen vermittelt werden.

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paradoxien des unendlichen ⋅ §. 57

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7. Ersann man sich vor alters Substanzen ohne Kräfte, so wollte die neuere Zeit umgekehrt aus bloßen Kräften ohne Substanzen das Weltall konstruieren. Der Umstand, dass jede Substanz ihr Dasein uns nicht anders kundgebe als durch ihre Wirkungen, somit durch die Kräfte, war es ohne Zweifel, der die irrige Erklärung des Begriffes einer Substanz, dass sie ein Inbegriff von bloßen Kräften wäre, veranlasst hatte. Und das grobsinnliche Bild, auf welches die Etymologie der Worte: Substanz, Substrat, Subjekt, Träger u. dergl. hinweisen, schien einen klaren Beweis zu liefern, dass die allgemein herrschende Lehre, zum Dasein einer Substanz bedürfe es doch eines eigenen Etwas, dem jene Kräfte als Beschaffenheiten desselben angehören, eine bloße Täuschung der Sinnlichkeit sei; denn eines Trägers, einer Unterlage in des Wortes eigentlichem Sinne bedarf es hier ganz gewiss nicht. Aber müssen wir denn bei dieser | sinnlichen 117 Auslegung bleiben? Jedes beliebige Etwas, selbst den bloßen Begriff des Nichts müssen wir doch als einen Gegenstand betrachten, dem nicht bloß eine, sondern ein ganzer Inbegriff unendlich vieler Beschaffenheiten zukommt. Denken wir deshalb wohl jedes beliebige Etwas als einen Träger im eigentlichen Sinne? Sicherlich nicht! Wenn wir uns aber ein Etwas mit der Bestimmung denken, dass es ein Wirkliches und ein solches Wirkliches sei, das keine Beschaffenheit von einem anderen Wirklichen ist, dann fassen wir es unter dem Begriffe einer Substanz nach der rechten Erklärung des Wortes auf. Und solcher Substanzen gibt es, außer der einen unerschaffenen, eine unendliche Menge geschaffener. Kräfte nennen wir dem herrschenden Sprachgebrauche zufolge alle diejenigen Beschaffenheiten dieser Substanzen, die wir als nächsten (d. h. unmittelbaren) Grund irgendeines anderen in oder außerhalb der es bewirkenden Substanz voraussetzen müssen. Eine Kraft, die sich an keiner Substanz als Beschaffenheit derselben befände, wäre eben deshalb, weil sie als Ursache doch etwas Wirkliches, sonach ein Wirkliches sein müsste, das sich an keinem anderen

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paradoxien des unendlichen ⋅ §. 59

Wirklichen befindet, nicht eine bloße Kraft, sondern schon eine für sich selbst bestehende Substanz zu nennen. §. 58

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Dass keine Stufe des Daseins die höchste, keine die niedrigste in Gottes Schöpfung sei; dass es ferner auf jeder, auch noch so hohen Stufe, zu jeder auch noch so frühen Zeit Geschöpfe gegeben habe, die durch ihr schnelles Fortschreiten bereits auf diese Stufe sich emporgeschwungen haben; dass es aber auch auf jeder, noch so niedrigen Stufe und zu jeder noch so späten Zeit Geschöpfe geben werde, die sich trotz ihrem steten Fortschreiten jetzt erst auf dieser Stufe befinden – diese Paradoxa bedürfen nach allem, was wir über ähnliche Verhältnisse (§. 38 f.) bei Zeit und Raum erwähnt, keiner weiteren Rechtfertigung. 118 [A 217]

§. 59 Viel anstößiger lautet jedoch das Paradoxon: »es könne trotz dem, dass der gesamte unendliche Raum des Weltalls überall und zu allen Zeiten in der Art erfüllt ist mit Substanzen, dass auch kein einziger Punkt nur einen Augenblick ohne eine ihm inwohnende Substanz ist, und auch kein einziger Punkt zwei oder mehrere beherbergt – doch eine unendliche Menge verschiedener Grade der Dichtigkeit geben, mit welcher verschiedene Teile des Raumes zu verschiedenen Zeiten erfüllt sind, dergestalt, dass dieselbe Menge von Substanzen, welche in diesem Augenblicke z. B. diesen Kubikschuh ausfüllt, zu einer anderen Zeit durch einen millionenmal größeren Raum verbreitet sein mochte, und wieder zu einer anderen in einen tausendmal kleineren zusammengedrängt sein werde, ohne dass bei der Ausbreitung irgendein Punkt in dem größeren Raume leer stand, noch bei der Verdichtung irgendein Punkt in dem kleineren Raume zwei oder mehr Atome aufzunehmen brauche.« 28 bei ] 1851 hei

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Dass ich hiermit etwas behaupte, das in den Augen der meisten Physiker bis jetzt als eine Ungereimtheit erscheint, weiß ich recht wohl. Denn eben nur, weil sie vermeinen, dass sich das Faktum der ungleichen Dichtigkeit der Körper mit der Voraussetzung eines stetig erfüllten Raumes nicht vereinigen lasse, nehmen sie eine Art Porosität als allgemeine Eigenschaft aller Körper, auch selbst derjenigen an, bei denen (wie bei den Gasen und dem Äther) nicht die geringste Beobachtung dafür spricht, und in diesen Poren, deren größere insgemein mit Gasen erfüllt sein sollen, also eigentlich nur in den nie gesehenen Poren der Flüssigkeiten nehmen die Physiker auch noch bis jetzt ihr sogenanntes vacuum dispertitum, d. i. gewisse leere Räume in solcher Menge und Ausdehnung an, dass kaum der billionste Teil eines mit bloßem Äther erfüllten Raumes wahre Materie enthält. Gleichwohl hoffe ich, dass es allen denjenigen, welche das in den | §§. 20 ff. Gesagte gehörig in Erwägung zo- 119 gen, klar genug sein werde, wienach es so ganz und gar nichts Unmögliches enthalte, dass sich dieselbe (unendliche) Menge von Atomen bald durch einen größeren Raum verbreite, bald wieder in einen kleineren zusammenziehe, ohne dass in dem ersten Falle auch nur ein einziger Punkt in jenem Raume verlassen dastehe, im zweiten auch nur ein einziger Punkt zwei Atome aufnehmen müsste. §. 60

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Und nun dürfte man kaum viel Anstoß nehmen an einer Behauptung (die ohnehin auch in der älteren Metaphysik, in der Lehre de nexu cosmico, schon aufgestellt wurde), dass jede Substanz in der Welt mit jeder anderen in stetem Wechselverkehr stehe, doch so, dass die Veränderung, welche die eine in der anderen bewirkt, umso geringer wird, je größer der zwischen ihnen liegende Abstand; und dass das Gesamtergebnis des Einflusses aller auf jede einzelne eine Veränderung ist, die – ab30 umso ] 1851 um so

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gesehen von dem Falle, wo ein unmittelbares Einwirken Gottes statt hat – nach dem bekannten Gesetze der Stetigkeit vorgeht; weil eine Abweichung von diesem letzteren eine Kraft fordert, die im Vergleiche mit einer stetigen unendlich groß sein müsste. [A 218]

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§. 61

So leicht auch die schon in der ersten Ausgabe der Athanasia (1829) aufgestellte Lehre von den herrschenden Substanzen aus bloßen Begriffen sich ableiten lässt, so wird man doch auch in ihr Paradoxien erblicken, weshalb es nötig ist, ihrer mit einigen Worten hier zu erwähnen. Ich gehe nämlich (a. a. O.) von dem Gedanken aus, dass es, weil doch bekanntlich zwischen je zwei Substanzen im 120 Weltall zu jeder Zeit irgendein Unterschied von endlicher | Größe stattfinden muss, zu jeder Zeit auch Substanzen gebe, die in ihren Kräften bereits so herangewachsen sind, dass sie eine Art von Übermacht über alle in einem, sei es auch noch so kleinem Umfange, um sie herum liegenden Substanzen ausüben. – Es wäre ein Irrtum, der diese Annahme sogleich in den Verdacht eines inneren Widerspruches brächte, wollte sich jemand vorstellen, dass solch eine herrschende Substanz Kräfte besitzen müsse, welche die der beherrschten um ein Unendliches übertreffen. Aber so ist es keineswegs. Denn setzen wir, in einem Raume von endlicher Größe, z. B. in dem einer Kugel, befinde sich (etwa im Mittelpunkte derselben) eine Substanz, die in ihren Kräften jede der übrigen in einem endlichen Verhältnisse überragt, wie es z. B. wäre, wenn jede der letzteren etwa nur halb so stark wäre als sie. Obgleich nun gar nicht bezweifelt werden kann, dass die Gesamtwirkung dieser unendlich vielen schwächeren Substanzen dort, wo sie zufällig sich in ihrer Tätigkeit vereinen (wie z. B. nach dem, was wir bald hören werden, bei ihrem Bestreben zur Annäherung an einen Zentralkörper zu geschehen pflegt), die Wirksamkeit der einen stärkeren unendlichemal überwiegt: so kann und muss es doch andere Fälle geben, wo jene Kräfte

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nicht eben nach demselben Ziele streben, namentlich muss, wenn wir bloß jene Einwirkung jetzt ins Auge fassen wollen, die eine jede der in dem Raume befindlichen Substanzen für sich allein auf eine jede andere ausübt und von ihr gegenseitig erfährt – in der Regel gesagt werden können, dass dieses gegenseitige Einwirken auf Seite der stärkeren Substanz in demselben Verhältnisse mit ihrer Stärke das stärkere sei. In diesem Beispiele also wird die Substanz, die wir als wenigstens doppelt so stark denn jede ihrer benachbarten annehmen, auf jede derselben wenigstens doppelt so stark einwirken, als diese auf sie rückwirken. Und das nur ist es, was wir uns denken, wenn wir sagen, dass sie die anderen beherrsche. §. 62

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Allein, sagt vielleicht jemand, wenn sich die Sache nur so verhält, dann muss man nicht bloß in einigen, sondern in jedem, auch noch so kleinen Raume, ja in jedem beliebigen Inbegriffe von Atomen ein herrschendes antreffen; denn ein stärkstes muss es wohl ebenso wie ein schwächstes Atom in jedem Inbegriffe mehrerer geben. Ich hoffe jedoch, dass keiner meiner Leser der Belehrung bedürfe, dass dieses höchstens von endlichen Mengen gelte, dass aber dort, wo eine unendliche Menge sich befindet, jedes Glied noch ein größeres über (oder ein kleineres unter) sich haben könne, ohne dass gleichwohl irgendeines derselben eine gegebene endliche Größe überschreitet (oder auch unter sie herabsinkt). §. 63

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Diese herrschenden Substanzen, die also schon ihrem Begriffe nach in jedem endlichen Raume nur in endlicher Menge, aber jede umgeben mit einer bald größeren bald kleineren Hülle bloß dienender Substanzen auftreten, sind es nun, welche ver18 ebenso ] 1851 eben so,

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einigt in Haufen von endlicher Größe das bilden, was wir die mannigfaltigen in der Welt vorkommenden Körper (gasförmigen sowohl als tropfbar flüssigen, festen, organischen usw.) nennen. Im Gegensatze mit ihnen nenne ich den ganzen noch übrigen Weltstoff, der, ohne ausgezeichnete Atome zu besitzen, alle noch sonstwo vorhandenen Räume erfüllt und somit alle Körper der Welt verbindet, den Äther. Es ist hier nicht der Ort auseinander zu setzen, wie manche bisher nur unvollkommen oder noch gar nicht erklärte Erscheinung sich aus der bisherigen Annahme (wenn man sie ja nur als Annahme zulassen will) mit großer Leichtigkeit erkläre. Nur ein paar Andeutungen, durch welche scheinbare Widersprüche aufgehellt werden, muss ich mir gemäß dem Zwecke dieser Schrift 122 erlauben. | Unterscheiden sich alle geschaffenen Substanzen untereinander nur durch den Grad ihrer Kräfte, muss also jeder irgendein, sei es auch noch so geringer Grad der Empfindung eingeräumt werden, und wirken alle auf alle: so ist nichts begreiflicher, als dass für jede zwei, wie immer geartete, umso gewisser für je zwei ausgezeichnete Substanzen nicht eine jede Entfernung als ihnen gleichgenehm (gleichwohltuend für sie) erscheine; weil von der Größe der Entfernung die Größe der Einwirkungen, die sie ausüben sowohl als auch erleiden, abhängt. Ist die Entfernung, in der sie sich eben befinden, größer als es der einen genehm ist: so wird sich bei ihr ein Bestreben, diese Entfernung zu kürzen, also ein sogenanntes Anziehen, im entgegengesetzten Falle aber Abstoßen einstellen. Weder jenes noch dieses müssen wir uns immer beiderseitig, umso weniger immer von dem Erfolge einer wirklichen Ortsveränderung begleitet denken: wohl aber dürfen wir als sicher annehmen, dass es für je zwei Substanzen im Weltall eine Entfernung gebe, groß genug, dass für diese und alle größeren ein beiderseitiges Anziehen, und ebenso auch eine Entfernung klein genug, dass für sie und alle kleineren ein beiderseitiges 19 umso ] 1851 um so 24 abhängt ] 1851 abhangt 29 umso ] 1851 um so

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Abstoßen statt hat. Wie sehr sich aber auch die Größe der hier besprochenen zwei Entfernungen, welche die Grenzen des Anziehens und Abstoßens für zwei gegebene Substanzen sind, mit der Zeit nicht nur nach der Beschaffenheit dieser Substanzen selbst, sondern auch nach der Beschaffenheit der in ihrer ganzen Umgegend liegenden Nachbarsubstanzen ändern mag: so ist doch unstreitig, dass aller Einfluss, den zwei Substanzen unter übrigens ähnlichen Umständen aufeinander ausüben, mit der Zunahme ihrer Entfernung voneinander sich vermindern müsse; schon aus dem Grunde, weil auch die Menge derer, welche in gleicher Entfernung Platz greifen könnten und einen Anspruch auf dieselbe Einwirkung hätten, wie das Quadrat jener Entfernung zunimmt. Da ferner das Übergewicht, das jede ausgezeichnete Substanz über eine bloß dienende hat, stets nur | eine endliche Größe ersteigt, 123 wogegen die Menge der letzteren in jedem Raume jene der ersteren unendlichemal übertrifft: so begreift sich, dass die Größe der Anziehung, welche die sämtlichen, in einem gegebenen Raume befindlichen Substanzen auf ein außerhalb gelegenes Atom ausüben, wenn die Entfernung desselben eine hinlängliche Größe erreicht hat, nahezu eben die nämliche ist, welche auch dann stattfände, wenn jener Raum gar keine ausgezeichneten Substanzen, sondern nur eine gleich große Menge gemeiner Atome enthielte. Dies mit dem Früheren verbunden, führt zu dem wichtigen Schlusssatze, dass zwischen allen Körpern, wenn ihre Entfernung voneinander erst eine hinreichende Größe besitzt, eine Kraft der Anziehung bestehe, die sich gerade wie die Summe ihrer Massen (d. h. die Menge ihrer Atome), und umgekehrt wie das Quadrat ihrer Entfernung verhält. Dass dieses Gesetz im Weltall beobachtet werde, leugnet kein Physiker noch Astronom in unseren Tagen; wie schwer es sich aber mit der gewöhnlichen Ansicht von der Beschaffenheit der Elementarteile der verschiedenen Körper vertrage, scheint man noch selten bedacht zu haben. Verhielte es sich nämlich wirklich nur so, wie man die Sache bisher

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gemeiniglich darstellt, dass jene 551 und mehr einfache Stoffe, die unsere Chemiker auf Erden kennengelernt haben, die Masse der sämtlichen hier anzutreffenden Körper in der Art bildeten, dass jeder eigentlich nichts anderes als ein bloßer Inbegriff von Atomen des einen oder des anderen oder etlicher dieser Stoffe zusammen wäre, so dass z. B. das Gold ein bloßer Inbegriff von lauter Goldatomen, der Schwefel ein Inbegriff von lauter Schwefelatomen wäre usw.: dann erkläre mir, wer es vermag, woher es komme, dass Stoffe, die so verschieden in ihren Kräften, namentlich in dem Grade ihrer gegenseitigen Anziehungen sich verhalten, in ihrem Gewichte gleichwohl einander durchgängig gleichen, d. h. dass ihre Gewichte sich 124 wie ihre Massen verhalten. Denn dass dieses stattfinde, | beweist unmittelbar die bekannte Erfahrung, dass Kugeln von jedem beliebigen Stoffe, wenn sie von gleichem Gewichte sind, beim Anstoße gegeneinander sich genau so verhalten, wie Körper von gleicher Masse es tun müssen, also z. B. bei gleicher Geschwindigkeit (wiefern die Einwirkung der Elastizität beseitigt oder Rechnung von ihr getragen wird) einander zur Ruhe bringen. Nehmen wir aber an, dass alle Körper eigentlich aus nichts anderem als aus einer unendlichen Menge von Äther bestehen, in welchem eine gegen diese Menge ganz verschwindende Anzahl von ausgezeichneten Atomen sich befindet, deren Kräfte die eines Ätheratoms nur endlichemal überragen: so begreift man, dass die Kraft der Anziehung, die diese Körper von seiten des ganzen Erdballs erfahren, durch die geringe Zahl jener ausgezeichneten Atome in keinem Falle merklich erhöht werden könne, dass ihr Gewicht somit nur ihrer ganzen Masse proportional sein müsse. Doch es fehlt auch schon jetzt nicht an Physikern, welche den Wärmestoff 2 kennengelernt ] 1851 kennen gelernt 1

Die 1851er Ausgabe hat hier »SS« statt »55«, verzeichnet das jedoch als Druckfehler. Die Graphie der Príhonský-Reinschrift bei »§. 55« legt nahe, dass auch hier »55« zu lesen ist. Außerdem wurde 1839, also relativ zeitnah zur Entstehung der PdU, das 55. chemische Element (Lanthan) entdeckt.

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(also im Grunde den nämlichen Stoff, den ich selbst mit dem Äther identifiziere) als eine Flüssigkeit betrachten, die sich in allen Körpern befinde und nie ganz aus denselben sich austreiben lasse. Hätten sie also nicht unglücklicherweise die Vorstellung aufgefasst, dass dieser Wärmestoff imponderabel wäre, und hätten sie sich erhoben zu der Ansicht, dass die Menge der Atome, die jedem besonderen Körper noch nebst dem Wärmestoffe beiwohnt, gegen diesen eine verschwindende sei (und wie nahe waren sie auch nicht hieran, wenn sie zuweilen verlangten, dass man die ersteren sich getrennt voneinander durch Entfernungen zu denken habe, die im Vergleiche zu ihren Durchmessern unendlich groß sind): so wäre ihnen wohl bald völlig klar geworden, dass nur eben dieser ihr Wärmestoff es sei, der das Gewicht aller Körper bestimmt. §. 64

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Leicht zu erachten ist, dass jene Herrschaft, die eine ausgezeichnete Substanz über ihre nächste Umgebung ausübt, wenn in nichts anderem, wenigstens in einer gewissen stärkeren Anziehung ihrer Nachbaratome besteht, infolgedessen sich diese dichter, als es sonst wäre, um sie herum und aneinander gedrängt finden, und eben deshalb ein Bestreben haben, sich bei gegebener Gelegenheit wieder von diesem Anziehungspunkte sowohl als untereinander etwas weiter zu entfernen, also einander abstoßen; eine Sache, auf die so viele Erfahrungen deuten, zu deren Erklärung man aber ganz unnötigerweise eine ursprüngliche Abstoßungskraft zwischen den Teilchen des Äthers annahm. §. 65

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Aus diesem Umstande ergibt sich ein leichter Beweis des Satzes, den ich schon in der Athanasia aufstellte, dass keine ausgezeichnete Substanz in ihrer Hülle eine solche Veränderung erfährt, dass sie nicht einen gewissen (sei es auch noch so kleinen) Teil ihrer nächsten Umgebung behielte. Gewiss wird

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niemand besorgen, dass eine ausgezeichnete Substanz a ihrer sie zunächst umstehenden Ätheratome beraubt werden sollte, wenn unter den gesamten ihr ringsumher nächstliegenden Nachbarn von ausgezeichnetem Range b, c, d, e, . . . keiner seine Entfernung von a verändert; sondern nur dann ließe sich etwas der Art besorgen, wenn einige derselben oder auch alle sich entfernen. Doch auch wenn dies geschieht, kann nur ein Teil der a umgebenden Ätherteile den fliehenden Substanzen b, c, d, e, . . . nachfolgen, ein Teil aber, und zwar von denen, welche die nächsten an a stehen, muss stets zurückbleiben; obgleich wir nicht nur zugestehen, sondern sogar als notwendig behaupten, dass er in einen weiteren Raum sich ausdehnen 126 werde. Ja nach | Befund der Umstände könnten sogar aus gewissen entfernten Gegenden Ätheratome herzuströmen und sich in jene Räume drängen, welche wegen der allzu weiten Entfernungen, in welche die Substanzen a, b, c, d, e, . . . soeben sich zerstreuten, mit einem vergleichungsweise viel lockererem Äther gefüllt sind. Dass aber dieser von ferne kommende Äther den die Substanz a zunächst umgebenden insgesamt wegstoßen und seine Stelle erbeuten sollte, dazu ist kein Grund vorhanden. Statt den die Substanz a umgebenden Äther noch vollends wegzutreiben, muss der herbeiströmende vielmehr nur seine weitere Ausbreitung hindern und ihn so enge zusammendrängen, bis seine Dichtigkeit den Anziehungskräften aller umstehenden Atome das Gleichgewicht hält.

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Hiernächst beantwortet sich manche Frage in einer Weise, welche man paradox finden könnte, wenn das Vorhergehende nicht darüber Aufschluss gewährte. Von der Art ist die Frage über die Grenzen der Körper: wo eigentlich ein Körper aufhöre und ein anderer anfange? Ich verstehe aber unter der Grenze eines Körpers den Inbegriff jener äußersten Ätheratome, 17 soeben ] 1851 so eben

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die noch zu ihm gehören, d. h. die von den ausgezeichneten Atomen desselben stärker angezogen werden, als es von anderen, in der Nachbarschaft befindlichen Herrscheratomen geschieht; dergestalt, dass sie, sofern der Körper seine Stellung zu seiner Nachbarschaft verändert (z. B. sich von ihr entfernt), mit ihm fortziehen werden, wenn vielleicht nicht mit derselben Geschwindigkeit, doch so, dass keine Trennung und kein Dazwischentritt fremder Atome statt hat. Diesen Begriff einer Grenze vorausgesetzt, zeigt es sich alsbald, dass die Begrenzung eines Körpers etwas sehr Wandelbares sei, ja sich beinahe fortwährend ändere, sowie nur irgendeine Veränderung teils in ihm selbst, teils in den nachbarlichen Körpern vorgeht, weil alle dergleichen Veränderungen | begreiflich auch gar manche 127 Änderung wie in der Größe, so auch in der Richtung der Anziehung bewirken können, die die Atome eines Körpers, nicht nur die dienenden, sondern selbst seine herrschenden erfahren. So werden z. B. gewiss mehrere Teilchen von diesem Kiele, welche noch kurz zuvor von dessen übriger Masse stärker als von der umgebenden Luft angezogen wurden, also zu ihm noch gehörten, jetzt von meinen Fingern stärker als von der Masse des Kieles angezogen und sind demselben somit entrissen. – Genauer erwogen, zeigt sich, dass mancher Körper an gewissen Stellen auch gar keine Grenzatome, d. h. gar keine Atome aufweisen könne, welche die äußersten sind unter denjenigen, die ihm noch zugehören und noch mit ihm zögen, wenn seine Stellung sich verändern würde. Denn in der Tat, so oft der eine von zwei nachbarlichen Körpern ein äußerstes, mit ihm fortziehendes Atom an einer Stelle besitzt, kann eben deshalb der andere keines dergleichen äußerstes haben, weil alle hinter jenem befindlichen Ätheratome schon diesem zugehören. §. 67 Hiermit beantwortet sich auch noch die Frage, ob und wann Körper in einer unmittelbaren Berührung miteinander stehen 15 die die ] 1851 den die

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oder durch einen Zwischenraum getrennt sind? Erlaube ich mir nämlich (wie mir das Zweckmäßigste deucht) die Erklärung, dass ein Paar Körper einander berühren, wo immer die äußersten Atome, die nach der Erklärung des vorigen §. dem einen zugehören, mit gewissen Atomen des anderen eine stetige Ausdehnung bilden: so wird sich gewiss nicht ableugnen lassen, dass es gar viele Körper gebe, welche sich gegenseitig berühren; nicht nur, wenn einer oder gar beide flüssig, sondern auch, wenn sie fest sind, sofern nur erst die im gewöhnlichen Zustande auf Erden ihnen anhängende Luft durch starkes Andrücken oder auf sonst eine Weise zwischen ihnen fortge128 schafft ist. Wenn ein Paar Körper einander nicht | berühren: so muss, weil es doch keinen ganz leeren Raum gibt, der Zwischenraum durch irgendeinen anderen Körper, oder wenigstens durch bloßen Äther ausgefüllt werden. Somit lässt sich behaupten, dass eigentlich jeder Körper nach allen Seiten mit irgend einigen anderen Körpern, oder in Ermangelung derselben mit bloßem Äther in Berührung stehe. [A 220]

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§. 68 In Betreff der verschiedenen Arten der im Weltall stattfindenden Bewegungen könnte man glauben, es sei bei dem Umstande, dass (unserer Ansicht nach) kein Teil des Raumes leer ist, nie eine andere Bewegung möglich als eine, dabei die ganze gleichzeitig bewegte Masse eine einzige, in sich zurückkehrende Ausdehnung bildet, wo jeder Teil der Masse immer nur Orte einnimmt, die unmittelbar vorher ein anderer Teil der Masse eingenommen. Wer aber im Sinne behielt, was §. 59 von den verschiedenen Graden der Dichtigkeit, mit denen der Raum erfüllt werden kann, gesagt wurde, der wird begreifen, dass noch viel andere Bewegungen stattfinden können und müssen. Besonders eine Bewegung, die schwingende, muss nicht nur bei allen Ätheratomen, sondern auch bei fast allen ausgezeichneten Atomen beinahe unaufhörlich angetroffen werden aus einem Grunde, der so einleuchtend ist, dass ich ihn

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nicht erst anzuführen brauche. Dieser zunächst muss auch, zumal bei festen Körpern, die drehende Bewegung sehr gemein sein. Wie man sich diese zu denken habe, wie zu erklären es sei, dass, wenn die Drehungsachse (was unseren Ansichten zufolge jedesmal sein muss) eine materielle Linie ist, dieselben Atome, die jetzt auf dieser Seite derselben sich befinden, nach einer halben Umdrehung auf die entgegengesetzte gelangen, ohne sich loszureißen: das kann wohl nur denjenigen beirren, der es vergisst, dass auch in einem Continuo ebenso gut, wie außerhalb desselben, jedes Atom in einer gewissen Entfernung von jedem anderen stehe | und somit dieses umkreisen könne, 129 ohne sich losreißen oder es gar mit sich herumdrehen zu müssen; welches letztere, das Drehen um sich selbst, bei einem einfachen Raumdinge etwas sich selbst Widersprechendes wäre. §. 69 Ohne behaupten zu wollen, dass auch nur ein einziges herrschendes oder gemeines Atom im Weltall zu irgendeiner Zeit eine vollkommen gerade oder vollkommen kreisförmige Bahn beschreibe (was vielmehr bei der unendlichen Menge von Störungen, die jedes Atom durch die Einwirkung aller übrigen erleidet, eine unendlich große Unwahrscheinlichkeit hätte): dürfen wir dergleichen Bewegungen doch nicht für etwas, das an sich selbst unmöglich wäre, erklären. Wohl aber dürfen wir behaupten, dass die Beschreibung einer gebrochenen Linie z. B. nur dann zustande kommen könne, wenn die Geschwindigkeit des Atoms gegen das Ende des Stückes ab allmählich so abnimmt, dass sie im Punkte b zu Null wird; worauf denn, wenn die Bewegung nicht durch eine endliche Zeit der Ruhe unterbrochen werden soll, in jedem der auf die Ankunft in b folgenden Augenbliche abermals eine (von Null an wachsende) Geschwindigkeit sich einfinden muss. Nicht also ist es mit gewissen anderen Linien, wie namentlich mit der logarithmischen Spirale. Es ist, selbst abgesehen von allen Störungen von außen, etwas sich Widersprechen-

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des, dass auch nur derjenige Zweig dieser Linie, der, anzufangen von irgendeinem ihrer Punkte, gegen den Mittelpunkt zu liegt, durch die Bewegung eines Atoms in einer endlichen Zeit zurückgelegt werde; und noch ungereimter, zu fordern, dass der beschreibende Atom zuletzt in den Mittelpunkt der Spirale eintreffe. Um dies nur für den Fall zu beweisen, wo der Atom in seiner Bahn mit gleichförmiger Geschwindigkeit fortschreitet: denken wir uns zuerst, dass er allein sich bewege. 130 Dann zeigt sich bald, dass sein Fortschreiten | in der Spirale betrachtet werden könne, als ob es aus zwei Bewegungen zusammengesetzt wäre: einer gleichförmigen in der Leitlinie gegen den Mittelpunkt zu, und einer Winkeldrehung um diesen Mittelpunkt, deren Geschwindigkeit, gleichförmig wachsend, größer als eine jede endliche Größe werden muss, sofern der Atom zum Mittelpunkte so nahe, als man nur will, gelangen soll. Sicher gibt es also keine Kraft in der Natur, welche ihm diese Geschwindigkeit zu erteilen vermag; umso weniger eine Kraft, die einer ganzen, durch drei Dimensionen verbreiteten Masse von Atomen eine solche Geschwindigkeit mitteilen könnte, als erforderlich ist, wenn jener Atom in ihr die sämtlichen unendlich vielen Windungen der Spirale bis an den Mittelpunkt hin in einer endlichen Zeit durchwandern soll. Aber auch wenn er dies hätte, könnte man wohl von ihm sagen, dass er im Mittelpunkte angelangt sei? Ich wenigstens halte es nicht dafür. Denn obwohl man sagen mag, dass dieser Mittelpunkt mit den Punkten der Spirale (die ihr ganz unleugbar zugehören) ein Kontinuum bilde, weil sich für jede auch noch so kleine Entfernung ein Nachbar unter ihnen findet: so fehlt dieser lineären Ausdehnung doch noch eine zweite Beschaffenheit, die jede haben muss, soll sie durch die Bewegung eines Atoms beschrieben werden können, die nämlich, dass sie in jedem ihrer Punkte eine oder etliche bestimmte Richtungen habe. Dies ist im Mittelpunkte bekanntlich nicht. 17 umso ] 1851 um so

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Beschließen wir diese Betrachtungen mit zwei besonders durch Euler berühmt gewordenen Paradoxien. Schon Boscowich machte auf den Umstand aufmerksam, dass man auf eine und dieselbe Frage, nämlich wie sich ein Atom a bea wege, wenn er von einer in c befindlichen Kraft im verkehrten Verhältnisse mit dem Quadrate der Entfernung angezogen wird, eine verschiedene Antwort erhalte; je nachdem man den Fall als einen solchen betrachtet, in c welchen die elliptische Bewegung allmählich übergeht, wenn ihre Wurfsgeschwindigkeit bis auf Null abnimmt, oder wenn man die Sache, ganz abgesehen von dieser Fiktion, bloß an sich selbst beurteilt. Hätte der Atom a durch einen Wurf (oder auf sonst eine andere Weise) b beim Anfange seiner Bewegung eine auf ac senkrechte Seitengeschwindigkeit erhalten: so müsste er (abgesehen von I

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Hierher gehört endlich auch noch die neckende Frage, ob bei unseren Ansichten von der Unendlichkeit des Weltalls wohl auch ein Fortrücken des ganzen Alls nach irgendeiner gegebenen Richtung, oder auch eine drehende Bewegung desselben um eine gegebene Weltachse oder einen Weltmittelpunkt stattfinden könne? Wir entgegnen, dass man weder die eine noch die andere Bewegung deshalb für unmöglich zu erklären habe, weil nicht für jedes Atom Orte, in die es eintreten könnte, zu finden wären; wohl aber muss man sie für unmöglich erklären, weil es an Ursachen (Kräften), die eine solche Bewegung her|vorbringen sollten, gebreche. Denn we- 131 der ein physischer Grund oder eine Einrichtung, die schlechthin notwendig ist (d. h. die eine bloße Folge rein theoretischer Begriffswahrheiten ist), noch ein moralischer Grund oder eine Einrichtung, die nur bedingt notwendig ist (d. h. die wir nur darum in der Welt antreffen, weil Gott jedes dem Wohle seiner Geschöpfe zuträgliche Ereignis herbeiführt) – lässt sich erdenken, aus welchem eine Bewegung dieser Art in der Welt anzutreffen sein sollte.

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jedem Widerstande im Mittel) eine Ellipse beschreiben, deren ein Brennpunkt in c ist. Nimmt diese Seitengeschwindigkeit in das Unendliche ab, so nimmt auch die kleinere Achse dieser Ellipse in das Unendliche ab; weshalb denn Euler schloss, dass in dem Falle, wo der Atom im Punkte a gar keine Geschwindigkeit hat, ein Oszillieren desselben zwischen den Punkten a und c eintreten müsse; diese Bewegung nur sei es, in welche jene elliptische ohne Verletzung des Gesetzes der Stetigkeit 132 übergehe. – Andere, wie vornehmlich Busse, | fanden es dagegen ungereimt, dass der Atom, dessen Geschwindigkeit in der Richtung ac bei der Annäherung an den Punkt c in das Unendliche zunehmen sollte, hier ohne allen angeblichen Grund (denn die Anwesenheit eines den Durchgang durch diesen Ort verhindernden, wie etwa eines hier fixen und undurchdringlichen Atoms, wurde gar nicht vorausgesetzt) in seinem Laufe gehemmt und in entgegengesetzter Richtung zurückgetrieben werden sollte. Sie behaupteten also, er müsse vielmehr seine Bewegung in der Richtung ac über c hinaus, doch jetzt mit abnehmender Geschwindigkeit fortsetzen, bis er das Ende der cb = ca erreicht, und dann in ähnlicher Weise von b nach a wieder zurückkehren, und so ohne Ende. – Meiner Ansicht nach konnte durch Eulers Berufung auf das Gesetz der Stetigkeit hierorts gar nichts entschieden werden. Denn gegen jene Art von Stetigkeit, welche in den Veränderungen des Weltalls (im Wachstume oder in der Abnahme der Kräfte einzelner Substanzen) erweislicherweise in der Tat herrscht, verstößt die hier in Streit liegende Erscheinung ebenso wenig, wenn man die Oszillation des Atoms innerhalb der Schranken a und b, als wenn man sie innerhalb a und c vorgehen lässt. Wohl aber verstößt man gegen dies Gesetz in einer Art, die schlechterdings nicht zu rechtfertigen ist, schon dadurch, dass man hier Kräfte, nämlich eine Anziehungskraft, die ins Unendliche wächst, voraussetzt; und schon darum darf man sich nicht wundern, wenn sich aus widersprechenden Vordersätzen auch widersprechende Schlusssätze ableiten lassen. – Hieraus ersieht man jedoch, dass nicht nur Eulers, sondern

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auch Busses Beantwortung der Frage unrichtig ist; weil sie etwas schon an sich selbst Unmögliches voraussetzt, nämlich die unendlich große Geschwindigkeit im Punkte c. Wird dieser Fehler verbessert, wird also angenommen, dass die Geschwindigkeit, mit der der Atom fortrückt, nach einem solchen Gesetze sich ändert, dabei sie stets endlich verbleibt; wird endlich auch bedacht, dass | man nie von der Bewegung eines einzi- 133 gen Atoms sprechen könne, ohne ein Mittel, in dem er sich bewegt, und eine größere oder geringere Menge mit ihm zugleich bewegter Atome vorauszusetzen: so stellt sich ein ganz anderes Ergebnis heraus, mit dessen näherer Beschreibung wir uns hier nicht zu befassen brauchen. Das zweite Paradoxon, das wir mit wenigen Worten noch anführen wollen, betrifft die Pendelbewegung und besteht darin, dass man die halbe Schwingungszeit eines einfachen Pendels, dessen Länge = √r, durch einen unendlich kleinen Boπ gen bekanntlich = 2 gr berechnet; während die Fallzeit über die Chorde dieses Bogens, die man gewöhnlich doch als von √ √r gleicher Länge mit ihm betrachtet, sich als = 2 ⋅ g ergibt. Dass Euler hierin ein Paradoxon sah, beruht wohl lediglich auf seiner unrichtigen Vorstellung von dem unendlich Kleinen, welches er sich als gleichgeltend mit Null dachte. In der Tat aber gibt es unendlich kleine Bögen so wenig als Chorden; dasjenige aber, was die Mathematiker von ihren sogenannten unendlich kleinen Bögen und Chorden behaupten, wurde von ihnen eigentlich nur erwiesen von Bögen und Sehnen, welche so klein genommen werden können, als man nur immer will; und die obigen zwei Gleichungen, richtig verstanden, können keinen anderen Sinn haben, als: die halbe √ Schwingungszeit eines Pendels nahet sich der Größe π2 gr so sehr als man nur will, wenn man den Bogen, durch den man es schwingen lässt, so klein nimmt, als man will; die Fallzeit auf der Chorde dieses Bogens aber nahet sich unter√ denselben Umständen so genau, √ als man will, der Größe 2 ⋅ gr . Dass nun diese zwei Größen

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verschieden sind, dass also der Bogen und seine Sehne in Hinsicht auf die erwähnte Fallzeit sich unterscheiden, so klein man 134 sie | auch nehme: ist etwas ebenso wenig Befremdendes, wie gar manche andere Unterschiede zwischen ihnen, deren Verschwinden, solange beide nur sind, niemand erwartet, wie z. B. der, dass der Bogen stets eine Krümmung, und zwar diejenige behalte, deren Größe wir durch r1 messen könnten, während die Chorde stets gerade bleibt, d. h. gar keine Krümmung hat.

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Anmerkungen des Herausgebers

Die folgenden Anmerkungen stellen eine wesentliche Überarbeitung der früheren Anmerkungen von Hans Hahn (Ausgabe Meiner 1920), Donald A. Steele (Ausgabe Yale/Routledge 1950) und Bob van Rootselaar (Ausgabe Meiner 1975) dar. Gelegentlich werden Teile dieser Anmerkungen übernommen, ohne das ausdrücklich zu kennzeichnen. Die Anmerkungen sollen eine Verständnishilfe bieten und die Bolzanoschen Überlegungen in Beziehung zu heutigen mathematischen Standards setzen. Viele dieser Standards beruhen auf Entwicklungen, die sich erst nach Bolzanos Leben abgespielt haben. Die vorgeschlagene Interpretation will nicht »a-historisch« sein, sondern die bleibende Relevanz von Bolzanos Denken, auch in heutigen Kontexten, aufzeigen. Verwendete Abkürzungen: - Athanasia = Bolzano, Athanasia [1827]; - MM = Miscellanea mathematica – mathematische Tagebuchaufzeichnungen Bolzanos, veröffentlicht in Reihe IIB der Bernard Bolzano-Gesamtausgabe; - PdU = Bolzano, Paradoxien (ed. Príhonský) [1851]; - RW = Bolzano, Religionswissenschaft [1834]; - WL = Bolzano, Wissenschaftslehre [1837]. Zu §. 1–2 (S. 39): In den beiden ersten Paragraphen stellt Bolzano die Aufgabenstellung dieses Buches vor: Den Schein des Widerspruchs, der die Rede vom Unendlichen umgibt, »als einen bloßen Schein zu erkennen«. Um dieses Ziel zu erreichen, muss er zunächst den Unendlichkeitsbegriff klären. Dabei geht er von zwei Basisannahmen aus: dass das Unendliche als Gegenbegriff zum Endlichen aufzufassen ist und dass dieses Begriffspaar ursprünglich in der Mathematik beheimatet ist, wo von »unendlichen Mengen« und »Größen« die Rede ist. Bolzanos Ansicht, dass der Endlichkeitsbegriff der grundlegendere sei, ist mathematisch unproblematisch, wenn man von der Gegebenheit der natürlichen Zahlen ausgehen kann. Heute ist in der

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anmerkungen des herausgebers

Mathematik eher der umgekehrte Weg üblich, vgl. die Anmerkung zu §. 9, S. 174. Die Begriffe der Menge und der Vielheit werden in §. 4 näher besprochen, der Begriff der Größe in §. 6; Bolzanos eigene (problematische) Definition endlicher Vielheiten findet sich in §. 8, vgl. die folgenden Anmerkungen zu §. 3–8. Zu §. 3–8 (S. 40): Bolzano klärt die wichtigsten Grundbegriffe für seine weiteren Überlegungen: »Inbegriff«, »Menge«, »Vielheit«, »Summe«, »Größe«, »Reihe« und »Zahlen«. Der absolute Basisbegriff ist der eines Inbegriffs: Inbegriffe (§. 3, vgl. WL § 82–83) sind Vereinigungen mehrerer Gegenstände (»Teile«, mindestens zwei) zu einem Ganzen. Paradebeispiele sind Gegenstände, die durch die »und«-Verbindung mehrerer nicht-leerer Gegenstandsbezeichnungen bezeichnet werden. So macht man beispielsweise mit dem Satz »Romeo und Julia sind ein Liebespaar« eine Aussage über einen Inbegriff, der aus zwei Liebenden besteht. Die Gegenstände, aus denen ein Inbegriff besteht, können ontologisch ganz heterogen sein: auch »mein gegenwärtiges Kopfweh und das Buch, in das der Leser jetzt schaut, und der Begriff einer Rose« bezeichnet einen Inbegriff. Die Vereinigung der Teile zu einem Inbegriff geschieht nach der in den PdU vertretenen Theorie unter Gesichtspunkten oder Begriffen. Daher können zwei Inbegriffe verschieden sein, obwohl sie dieselben Teile haben und obwohl Inbegriffe aus ihren Teilen bestehen. (Beispiel: Ein zerbrochenes Glas besteht immer noch aus denselben Teilen wie das heile Glas, ist von diesem aber unter dem Gesichtspunkt eines Trinkgefäßes betrachtet verschieden. Daher handelt es sich um zwei verschiedene Inbegriffe.) Bolzanos Begriff eines Inbegriffs hat gelegentlich eher mereologische, gelegentlich eher mengenmäßig-abstrahierende Züge.1 Mengen (§. 4, vgl. WL § 84) sind dagegen Inbegriffe, bei denen die »Art der Verbindung« zwischen den Teilen irrelevant ist. Grosso modo ist dies der moderne, extensionale Mengenbegriff, demzufolge Mengen gleich sind, wenn sie die gleichen Elemente haben – deren Anordnung ist irrelevant. Bolzano verwendet den Ausdruck »Teil« bei Mengen sowohl für deren Elemente als auch gelegentlich im Sinne von »Teilmenge«. Ein wichtiger Unterschied zum modernen Men1

Zu Bolzanos Inbegriffslehre und ihrer Rekonstruierbarkeit in modernen Mengentheorien und Mereologien siehe Krickel, Teil [1995].

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genbegriff ist, dass Mengen in Bolzanos Sinne als spezielle Inbegriffe mindestens zwei Elemente haben müssen. Er kennt also keine Einermengen wie {a} für einen Gegenstand a. Ein Beispiel für eine Menge ist ein Geldhaufen, wenn man ihn unter dem Aspekt des Geldbetrages betrachtet (und nicht z. B. unter Aspekten, die die Stabilität eines daraus aufgebauten Turmes betreffen). Vielheiten (§. 4, vgl. WL § 86) sind schließlich Mengen von Gegenständen einer bestimmten Art A. Solche Gegenstände heißen Einheiten dieser Art A. Man beachte den Unterschied zwischen diesem Begriff von Einheiten, der an bestimmte Arten A geknüpft ist und unter einer Einheit ein A versteht – also ein Exemplar der Art A –, und dem auf Euklid (Elemente VII, Def. 2) zurückgehenden und in der Mathematik verbreiteten, nach dem eine Einheit eine Eins ist – also ein Abstraktum. Summen (§. 5, vgl. WL § 84) sind Inbegriffe, die man unter einem Aspekt betrachtet, sodass sich »nichts an ihnen Wesentliches ändert, wenn wir die Teile der Teile als Teile des Ganzen selbst auffassen« oder, so fügt Bolzano in der WL hinzu, wenn wir Teile des Ganzen durch ihre Teile ersetzen. Ein Beispiel ist eine Summe aus endlich vielen kürzeren, sich überlappenden Strecken: Sie bilden wieder eine Strecke, und die Strecken, aus denen sie sich zusammensetzen lassen, können auch als Teile der Summenstrecke angesehen werden. Ein weiteres Beispiel ist ein Geldhaufen unter dem Aspekt der betreffenden Geldbeträge: Ersetzt man eine Münze durch ihre »monetären Teile«, also kleinere Münzen, die zusammen denselben Wert haben, ändert sich an dem Betrag des Geldhaufens nichts. Ein Gegenbeispiel ist hingegen der Geldhaufen als physisches Objekt: Ersetzte man dort die Münzen durch ihre physischen Teile, also Metallstückchen, wäre das eine relevante Veränderung. Bolzano führt hier die Notation einer Addition ein, die assoziativ sein soll: A + (B + C) = A + B + C, wobei »A + B + C« wohl den aus A, B und C zusammengesetzten Inbegriff meint. Ob mit der rechten Seite der Gleichung (A+B)+C gemeint ist oder die Addition variable Stellenzahl haben soll, kann offen bleiben. Die assoziative Formel A+ (B+C) = A+B+C wäre demnach so zu lesen: Die Vereinigung von A und dem aus B und C gebildeten Inbegriff zu einem Inbegriff ergibt den gleichen Inbegriff wie die Vereinigung von A und B und C zu einem Inbegriff.

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anmerkungen des herausgebers

Bolzanos Summenbildung entspricht, wenn sie auf Mengen angewendet wird, in etwa der Vereinigungsmengenbildung ∪ der Mengenlehre. Es können aber auch Gegenstände zu Mengen oder Gegenstände zu anderen Gegenständen addiert werden. Wollte man die Operation + in die Sprache der modernen Mengenlehre übersetzen, könnte man für X und Y, die verschieden sind, mittels folgender Fallunterscheidung vorgehen: ⎧ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ X + Y ∶= ⎨ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎩

X∪Y {X} ∪ Y X ∪ {Y} {X, Y}

wenn X und Y Teile haben wenn nur Y Teile hat wenn nur X Teile hat wenn weder X noch Y Teile hat

Der von Bolzano bei der Summendefinition formulierten Eigenschaft scheint, wenn man sie direkt mengentheoretisch liest, eher die Transitivität einer Menge zu entsprechen.2 Im Allgemeinen muss man anmerken, dass Assoziativität zwar eine notwendige, aber keineswegs eine hinreichende Bedingung für Summen darstellt. Größen (§. 6, WL § 87) sind dann, modern mengentheoretisch gesprochen, die Elemente einer Menge, für die gilt, dass je zwei Elemente additiv vergleichbar sind. Das heißt Folgendes: Für jedes m und n aus dieser Menge muss gelten, dass m = n ist oder dass es ein µ aus der Menge so gibt, dass m = n + µ oder n = m + µ ist. Dieser Größenbegriff ist noch nicht hinreichend klar, da Bolzano in der ausführlichen Fassung in der WL aus dem Bestehen dieser Gleichungen darauf schließt, dass die eine Größe größer als die andere sei, obwohl negative Größen nicht ausgeschlossen sind (vgl. §. 18, Fußnote). In der heutigen Mathematik spricht man von Größen meist im wesentlich engeren Sinne der reellen Zahlen oder Ähnlichem (komplexen Zahlen, Funktionen etc.). Reihen (§. 7, WL § 85) sind nach Bolzanos Definition linear geordnete Inbegriffe (Bolzano drückt das implizit durch die Verwendung der Buchstabenkette . . . , A, B, C, D, E, F, . . . , L, M, N , . . . 2

»Transitivität einer Menge M« ist eine in der Mengenlehre übliche Abkürzung für »Transitivität der ∈-Relation auf der Menge M«. Damit ist gemeint, dass eine Menge mit jedem ihrer Elemente auch dessen Elemente enthält.

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aus), deren Teile auseinander durch ein Bildungsgesetz hervorgehen. »Nachfolger«, »Vorgänger«, »innere«, »äußere«, »erste« und »letzte« Glieder werden standardmäßig eingeführt. Bolzanos ausdrückliche Definition ist mindestens unklar; auf sie scheint das Gegenbeispiel von H. Hahn zu passen: Die reellen Zahlen mit der Operation x ↦ x + 1 als »Bildungsgesetz« erfüllen die Definition, sind aber von Bolzano sicher nicht als Beispiel einer Reihe intendiert. Dieses Gegenbeispiel könnte ausgeschaltet werden, wenn man Bolzanos Verwendung der Buchstabenkette . . . , A, B, C, D, E, F, . . . , L, M, N , . . . und die Rede von einem »Bildungsgesetz« stärker in Anschlag bringt und darin die implizite Voraussetzung einer linearen Aufzählung der betreffenden Reihenglieder sieht. Oder man präzisiert Bolzanos Definition mit H. Hahn so, dass eine Reihe eine linear geordnete Menge ist, bei der es zu jedem ihrer Elemente mit Ausnahme eines ersten und eines letzten jeweils ein unmittelbar vorangehendes und ein unmittelbar nachfolgendes Element gibt. Aber auch dieser Begriff wäre wahrscheinlich noch weiter, als Bolzano es wollte, denn unter ihn fällt auch die Menge von Paaren ganzer Zahlen (m, n), wenn man sie folgendermaßen ordnet: (m, n) > (m′ , n′ ) gdw.

m > m′ oder (m = m′ und n > n′ ).

Zahlen (§. 8) sind schließlich für Bolzano die Elemente einer Reihe, die aus einem einzigen Gegenstand der Art A durch folgendes Bildungsgesetz hervorgehen: Füge zum ersten Element bzw. einer schon gebildeten Vielheit ein weiteres Element der Art A hinzu. Diese Operation entspricht der seit Giuseppe Peano eingebürgerten NachfolgerOperation mit dem Unterschied, dass Bolzano nicht von abstrakten »Einheiten« oder einer leeren Menge ausgeht, sondern von Gegenständen einer bestimmten Art A. Strenggenommen bleibt bei Bolzano die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Zwei in »zwei Äpfel« und der Zwei in »zwei Birnen« offen. Bolzano nennt Vielheiten, die auf diesem Wege erreicht werden, »zählbare« oder »endliche« Vielheiten und baut auf diesem Begriff von Endlichkeit seine Definition des Unendlichen in §. 9 auf. Dies ist problematisch, da folgendes Dilemma besteht: Die Definition ist nur adäquat (d. h. es fallen nur dann ausschließlich endliche Vielheiten

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anmerkungen des herausgebers

unter sie), wenn man voraussetzt, dass die Nachfolger-Operation nur endlich oft angewendet wird. Dann aber ist die Definition zirkulär, weil sie auf der Metaebene (endlich oft anwenden) schon den Begriff voraussetzt, der auf der Objektebene (endliche Vielheiten) erst definiert werden soll. Eine »Reparaturmöglichkeit« von Bolzanos Ansatz, die allerdings auf Entdeckungen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückgeht, wird in der folgenden Anmerkung zu §. 9 angeboten. Zu §. 9 (S. 44): Bolzano definiert eine unendliche Vielheit als »eine Vielheit, die so beschaffen ist, dass jede endliche Menge nur einen Teil von ihr darstellt«. Diese Definition ähnelt derjenigen aus Aristoteles’ Physik III,6 (207a1), der zufolge dasjenige unendlich sei, von dem immer noch etwas ausserhalb ist (ergänze: nachdem man endlich viel genommen hat). Bolzanos Definition kann schon deshalb problematisch scheinen, weil sicher nicht jede beliebige endliche Menge in jeder beliebigen unendlichen enthalten sein muss (man denke an die unendliche Menge der natürlichen Zahlen, in der endliche die Menge aus mir, meinem Tisch und meinem Stuhl sicher nicht enthalten ist). Dieses Problem kann man auf drei Weisen relativ leicht beheben: Erstens könnte man Bolzanos Formulierung dahingehend korrigieren, dass nicht jede endliche Menge einen Teil der unendlichen darstellen muss, sondern das nur von jeder endlichen Teilmenge verlangt wird (van Rootselaar). Oder zweitens könnte man auf den Kontext abstellen, wo Bolzano von der Zahlenreihe aus einem Element der Art A, diesem plus einem weiteren Element der Art A usw. spricht, bevor er die hier diskutierte Definition mit den Worten »dies also vorderhand vorausgesetzt« einleitet. Man könnte also davon ausgehen, dass man in der Definition nur über die Teilreihen dieser Reihe redet. Oder schließlich drittens könnte man darauf abheben, dass es in der Definition nicht heißt »ein Teil von ihr ist«, sondern »einen Teil von ihr darstellt«. Das mag man so lesen, dass jede endliche Menge zwar nicht identisch mit einer echten Teilmenge der Vielheit ist, aber wenigstens mit einer solchen äquivalent, d. h. ein-eindeutig auf sie abbildbar. Eigentlich problematisch an dieser Definition ist die Voraussetzung des Endlichkeitsbegriffs. Mit van Rootselaar kann man dieses

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Vorgehen nur so lange für legitim halten, wie ein »einwandfreier Begriff der natürlichen Zahlen« bzw. der endlichen Iteration vorliegt. Bolzanos Einführung des Endlichkeitsbegriffs in §. 8 ist jedoch, wie gesehen, entweder inadäquat oder zirkulär. Der unmittelbare Kontext der Definition erlaubt jedoch noch eine andere Interpretation. In §. 8 wird von einem Gegenstand a einer Art A ausgegangen, und durch Hinzufügung eines jeweils neuen Gegenstands der Art A (erst b, dann c, dann d, usw.) die Reihe a, a + b, a + b + c, a + b + c + d, . . . von Vielheiten von Gegenständen der Art A gebildet. Ist nun die Art A so beschaffen, dass eine solche Reihe kein letztes Glied haben darf, wenn sie alle Gegenstände der Art A enthalten soll, so soll dies eine Voraussetzung für die folgende Definition einer unendlichen Vielheit als einer solchen sein, von der »jede endliche Menge nur einen Teil [. . .] darstellt«. Dies regt folgende Lesart an: Nenne jede linear geordnete Reihe, die kein letztes Glied hat, »sicher unendlich«. »Endlich« heißen dann diejenigen Mengen, die einen echten Teil jeder sicher unendlichen Reihe darstellen (wobei »darstellen« heißt, bijektiv darauf abbildbar zu sein). Nenne schließlich »unendlich« jede Menge, von der alle endlichen Mengen nur eine echte Teilmenge darstellen. Dieser kleine Umweg gegenüber Bolzanos eigenem Vorgehen ist nötig, da die Eigenschaft, ein erstes, aber kein letztes Element zu besitzen, zwar hinreichend, aber nicht notwendig dafür ist, eine unendliche Vielheit zu sein. Dies hat die von Georg Cantor (1845–1918) entwickelte transfinite Mengenlehre gezeigt. Es liegt daran, dass es Nachfolger-Zahlen gibt. In Bolzanos Terminologie heißt das in etwa, dass es Vielheiten gibt, die aus einer Vielheit ohne letztes Element hervorgehen, indem man den Inbegriff aus ihr und einem weiteren Element der Art A bildet. In der modernen Terminologie: Durch die Eigenschaft »hat kein letztes Element« erhält man nur die Limeszahlen. Diese reichen aber hin, um als »endlich« alle diejenigen Ordinalzahlen zu erklären, die kleiner als jede Limeszahl sind, denn ω, die kleinste transfinite Zahl, ist selbst eine Limeszahl. Sind die endlichen Vielheiten einmal bestimmt, kann man wie Bolzano die unendlichen als die nicht-endlichen bestimmen, oder eben als diejenigen, die größer sind als alle endlichen. Bolzanos Definition unendlicher Vielheiten entspricht in etwa der etwas präziseren von Dedekind mittels unendlicher Ketten. Auch sie setzt letztlich einen Begriff natürlicher Zahlen schon voraus. In der

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anmerkungen des herausgebers

modernen Mathematik wird meist ein alternativer Weg eingeschlagen, der von Dedekind und Cantor entwickelt worden ist: Der Begriff einer unendlichen Menge wird durch die (von Bolzano in §. 20 angeführte) Eigenschaft eingeführt, ein-eindeutig auf eine echte Teilmenge abbildbar zu sein (siehe dazu Richard Dedekind: Was sind und was sollen die Zahlen? (1887), § 5). Im Kontext von Standardaxiomen der Mengenlehre sind beide Definitionen äquivalent. Zu §. 10 (S. 44): Bolzano stellt sich die Frage, ob wir von »Unendlichkeit« überhaupt nur dann reden bzw. reden sollten, wenn eine unendliche Vielheit im Spiel ist. Für die Mathematik beantwortet er dies in §. 10 klar positiv: Der Mathematiker spreche nur im Zusammenhang mit Größen von Unendlichkeit, und zwar nenne er eine Größe unendlich groß, wenn sie größer sei als alle endlichen. Eine unendlich kleine Größe sei eine solche, deren sämtliche ganzzahligen Vielfachen kleiner als eins sind. Das ist ziemlich genau die Definition, die in der Non-standard-Analysis verwendet wird. Diese in den 1960er Jahren von Abraham Robinson und anderen entwickelte Theorie rehabilitierte die Leibnizsche Rede von »unendlich kleinen Größen«, nachdem sie durch die Einführung des Grenzwertbegriffs für die Analysis entbehrlich geworden und aus der Mathematik ausgeschieden worden war. Zu §. 11 (S. 45): In Bezug auf Hegels kritische Rede vom mathematischen Unendlichen als eines »schlechten Unendlichen« zeigt Bolzano auf, dass die darin kritisierten Größen nur ins Unendliche wachsen, aber stets endlich bleiben (das sog. »potentiell Unendliche«), mit den in der Mathematik »unendlich« genannten Größen also unmittelbar nichts zu tun haben. Desweiteren bezweifelt er, dass es einen »höheren«, »wahren« oder »qualitativen« Unendlichkeitsbegriff gibt, der ohne oder gar gegen die quantitativ präzisierte Zugangsweise erfassbar wäre. Denn der einzig erkennbare Kandidat für etwas in diesem Sinne Unendliches wäre das All. Das jedoch umfaßt auch alle Wahrheiten an sich und damit quantitativ unendlich vieles (vgl. RW I §11–12). Auch im Fall, wo von der Unendlichkeit Gottes die Rede ist, haben wir es nach Bolzano mit quantitativer Unendlichkeit zu tun. Gott würden so nämlich unendlich große Kräfte zugeschrieben, z. B. un-

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endliche Erkenntniskraft, die alle unendlich vielen Wahrheiten an sich umfasse (dazu siehe auch Tapp, Beobachtungen [2011]). So kann Bolzano schließen, dass sein Ansatz bei der quantitativen Unendlichkeit alle relevanten Reden von Unendlichkeit abdeckt bzw. betrifft. Zu §. 12 (S. 47): Dieser § bietet eine Grundsatzkritik anderer Auffassungen des Unendlichen: 1. als eines uneigentlichen oder potentiell Unendlichen, nämlich als Eigenschaft einer Größe, die zwar unbegrenzt wächst, aber stets endlich bleibt. Dies wird von Bolzano als begriffliche Inkonsistenz zurückgewiesen, denn hier ist von einer Grenze für das unbegrenzt Wachsende die Rede. »Unendlich« sage man außerdem von einem bestimmten Wert aus und nicht von einer Funktion. 2. als eines Unvermehrbaren. Dies kollidiert mit der mathematischen Praxis der Hinzufügung von etwas zu etwas Unendlichem, wie das Beispiel einer Halbgeraden zeigt: Sie ist nach einer Richtung unendlich und doch kann ihr in die andere Richtung offenkundig etwas hinzugefügt werden. Van Rootselaar zufolge misst Bolzano einer Halbgeraden eine unendliche Länge bei, die noch vergrößert werden kann (vgl. schon MM S. 77, um 1805). Dies sei eine Anwendung des euklidischen Axioms, dass das Ganze größer ist als der Teil – was sich für die Rechnung mit dem Unendlichen nicht aufrechterhalten lässt (vgl. Tapp, Kardinalität [2005], 48–50). 3. als etwas, das kein Ende hat. Versteht man unter »kein Ende haben« nur, kein Ende in der Zeit zu haben, würden nur Dinge, die in der Zeit existieren, »unendlich« genannt werden können, was dem Sprachgebrauch widerspricht. Versteht man darunter hingegen, keine Grenze zu haben, so passt auch dies nicht mit dem Sprachgebrauch zusammen, da man sowohl von Dingen spricht, die keine Grenze haben und dennoch niemals »unendlich« genannt würden (z. B. Punkte), als auch von solchen, die eine Grenze haben und doch unendlich sind (z. B. dem Zwischenraum zwischen zwei parallelen Geraden). 4. als etwas, das »größer als jede angebliche Größe« ist. Hier verwendet Bolzano »angeblich« im Sinne von »angebbar«. Die Kritik hängt dann davon ab, was das heißt. Heißt es so viel wie »was Wirklichkeit haben kann«, so widerspricht es dem Sprachgebrauch, der »endlich« und »unendlich« auch auf Gegenstände anwendet, denen nach Bolzano keine Wirklichkeit zukommt, obwohl es sie

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anmerkungen des herausgebers

gibt (z. B. auf Wahrheiten oder Sätze an sich). Heißt es so viel wie »was widerspruchsfrei ist«, so kann es nichts Unendliches geben, denn dann müsste eine unendliche Größe größer als sie selbst sein. Heißt es schließlich so viel wie »was uns gegeben werden kann / Gegenstand unserer Erfahrung werden kann / überschaubar für uns ist«, so scheitert der Definitionsversuch daran, dass »endlich« und »unendlich« innere Beschaffenheiten von Gegenständen bedeuten und nicht deren Beziehung zu unserem Erkenntnisvermögen. Zu §. 13 (S. 50): Bolzano konstruiert ein Beispiel für eine unendliche Menge und zeigt damit, in seiner Terminologie, die »Gegenständlichkeit« dieses Begriffs. Er geht dazu von einer Wahrheit (oder einem Satz) an sich aus, z. B. der Wahrheit, dass es Wahrheiten an sich gibt (vgl. WL § 31; RW I § 11). Dann zeigt er, dass man aus dieser ersten Wahrheit eine unendliche Folge weiterer Wahrheiten gewinnen kann, da es zu jeder Wahrheit A eine weitere Wahrheit gibt, die durch den Satz »A ist wahr« ausgedrückt wird. Diese Wahrheit ist verschieden von A, da sie von einem anderen Gegenstand handelt. Entsprechend gibt es also eine ganze Folge voneinander verschiedener Wahrheiten an sich (vgl. die ausführlichere Fassung in WL § 32 Anm.). Anders als Bolzano sind manche Philosophen (z.B. Gottlob Frege) der Ansicht, dass »A« und »Es ist wahr, dass A« dieselbe Proposition ausdrücken, also hier: dieselbe Wahrheit darstellen. Demzufolge würde die Operation »A« ↦ »Es ist wahr, dass A« zwar eine unendliche Folge von verschiedenen sprachlichen Sätzen, jedoch keine unendliche Folge von verschiedenen Wahrheiten erzeugen. Diesem Einwand ist zunächst entgegenzuhalten, dass Bolzanos Operation »A« ↦ »⌜A⌝ ist wahr« lautet, Wahrheit also nicht als satzbildender Operator, sondern als Prädikator auftritt, der mit dem Namen eines Satzes verknüpft wird. Es ist also in »⌜A⌝ ist wahr«, anders als in »Es ist wahr, dass A« tatsächlich von einem anderen Gegenstand die Rede als in A, nämlich von A selbst. Im Übrigen präsentiert Bolzano in WL § 32 und RW I § 12 noch einen weiteren Beweis, der von dem Einwand gar nicht getroffen wird. Auch nicht getroffen wird davon der strukturell dem hier gegebenen Beweis sehr ähnliche, berühmte Beweis für die Existenz einer unendlichen Menge aus Richard Dedekinds Buch Was sind und was sollen die Zahlen? von 1888 (Nr. 66). Die Ähnlichkeit mit Bolzanos

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Beweis war immerhin so stark, dass Dedekind sich in der zweiten Auflage von 1893 zu dem Bekenntnis veranlasst sah, Bolzano und sein Werk seien ihm bis dato völlig unbekannt gewesen. Die Mengenlehre macht im Gefolge von Ernst Zermelo die Annahme der Existenz einer unendlichen Menge ausdrücklich zu einem Axiom. Dafür wurden und werden gelegentlich verschiedene Begründungen gegeben: dass Wahrheiten an sich üblicherweise kein Gegenstand der Mathematik seien; dass die unbeschränkte Ausführbarkeit der Operation »A« ↦ »⌜A⌝ ist wahr« nicht selbstverständlich sei; dass »... ist wahr« den Rahmen einer erststufigen Theorie verlasse u. a. m. Zu §. 14 (S. 52): Bolzano widerlegt Argumente gegen die Möglichkeit aktual unendlicher Mengen von Gegenständen, die keinen Anspruch auf Wirklichkeit haben. »Wirklich sein« bedeutet für Bolzano dabei so viel wie »wirksam sein«.3 Gegenstände »ohne Anspruch auf Wirklichkeit« sind z. B. Wahrheiten oder Sätze an sich. 1. Dass man eine unendliche Menge nicht in Gedanken zusammenfassen / nicht zu einem Ganzen vereinigen könne. – Dieser Behauptung liegen nach Bolzanos Diagnose zwei Fehler zugrunde, nämlich erstens, dass man sich einen Inbegriff von Gegenständen nur vorstellen könnte, wenn man sich zuvor Einzelvorstellungen der betreffenden Gegenstände gebildet hätte. Dies ist nicht richtig, da man sich, um sich die Menge aller ca. 110.000 damaligen Einwohner Prags vorzustellen, nicht erst jeden einzelnen Prager vorstellen müsse. Allgemein gesprochen reicht der Operator »Inbegriff aller ...« zusammen mit einem Gattungsbegriff A schon für eine Vorstellung des Inbegriffs aller A hin. Zweitens stecke die konstruktivistische These dahinter, dass die Existenz von Mengen jemanden voraussetze, der sie denkt. In §. 13 hatte Bolzano jedoch gezeigt, dass Sätze und Wahrheiten an sich, wenn es sie denn überhaupt gibt, unendlich viele sind. Der Konstruktivist müsste also überhaupt in Frage stellen, ob es »Sätze an sich« bzw. »Wahrheiten an sich« gibt. Das aber hat man schon zugegeben, wenn man annimmt, dass es bestimmte Wahrheiten völlig unabhängig von unserer Wahrnehmung und unserem Denken gibt (z. B. über das ge3

In der WL hat Bolzano sauber zwischen Wirklichkeit und Wirksamkeit unterschieden, beide Begriffe aber für koextensional gehalten, vgl. Morscher, Logisches An-sich [1973], 44–45.

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anmerkungen des herausgebers

genwärtige Verhalten von Gegenständen am Nordpol). Aus dem erkenntnistheoretischen Realismus Bolzanos ergibt sich auch seine Widerlegung des nächsten Gegenarguments. 2. Dass die Verhältnisse zwischen Gegenständen erst durch das Zusammendenken zustandekommen. Mein Urteil über Gravitationskräfte zwischen materiellen Gegenständen kann nur wahr sein, wenn diese Kräfte unabhängig von meinen gedanklichen Aktivitäten bestehen. 3. Dass wir die Gegenstände eines Inbegriffs zwar nicht wirklich zusammendenken müssen, damit er existiert, aber dass es zumindest möglich sein müsse, was aber bei aktual unendlichen Inbegriffen nicht der Fall sei. Hierzu verweist Bolzano auf die vorangehenden Argumentationen sowie darauf, dass nicht die Denkbarkeit der Grund für sachliche Möglichkeit ist, sondern umgekehrt. Nur weil etwas sachlich möglich ist, kann es auch von jemandem gedacht werden. Um das zu zeigen, verteidigt Bolzano die Definition des (sachlich) Möglichen als desjenigen, was keiner reinen Begriffswahrheit widerspricht. Eine (reine) Begriffswahrheit ist ein wahrer Begriffssatz, also ein wahrer Satz, der bloß aus reinen Begriffen besteht, ohne irgendeine Anschauung zu enthalten (WL § 133), dessen Wahrheit deshalb nur von der Beschaffenheit dieser Begriffe abhängt. Die Alternativen zu dieser Definition von »möglich« funktionieren nicht: a) was sein kann – keine bzw. eine zirkuläre Erklärung, da in »kann« noch der Begriff der Möglichkeit steckt; b) was gedacht werden kann, genauer: b1) was vorgestellt werden kann – sachlich inadäquat, da wir auch das Unmögliche uns vorstellen, z. B. wenn wir urteilen, dass es unmöglich ist, b2) was für wahr gehalten werden kann – sachlich inadäquat, weil wir uns irren können, b3) was ein denkendes Wesen, wenn es wahr urteilt, als möglich beurteilt – zirkulär; c) was sich nicht selbst widerspricht – zu weit, da Widersprüche nicht immer aus den bloßen Bestandteilen einer zusammengesetzten Vorstellung erkennbar sind; d) was nicht irgendeiner Wahrheit widerspricht – zu eng, da dann alles, was nicht der Fall ist, schon unmöglich wäre und die Modalitäten zusammenfallen würden. Bolzanos Position liegt also zwischen den beiden letztgenannten Alternativen.

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Zu §. 15 (S. 58): Widerlegung der ersten Paradoxie: Die Anzahl der Ordnungszahlen von 1 bis n ist immer gleich n. Müsste dann nicht auch die Menge aller natürlichen Zahlen gleich groß wie die letzte natürliche Zahl und daher endlich sein? Wie kann die Menge der natürlichen Zahlen unendlich sein? – Diese Paradoxie ist schnell widerlegt, da sie von der falschen Prämisse ausgeht, dass es eine letzte natürliche Zahl gibt. Zu §. 16 (S. 59): Mit der Menge der natürlichen Zahlen sind erst recht die Mengen der rationalen und der reellen Zahlen unendlich. Weil Bolzano den Zahlbegriff für die endlichen positiven ganzen (=natürlichen) Zahlen reserviert, handelt es sich bei den rationalen und den reellen Zahlen nicht um Zahlen in seinem Sinne, sondern um Größen. Es gibt auch unendlich große Größen, nämlich zum Beispiel die Größe der Menge der natürlichen Zahlen. Eine Größe heißt dabei unendlich groß, wenn jede endliche Anzahl von Einheiten nur ein Teil von ihr ist. Was eine »Einheit« ist, ist dabei relativ (s. u.). Nimmt man die Elemente einer Menge als Einheiten, so lässt sich dieser Größenbegriff mengentheoretisch rekonstruieren: Eine Menge ist dann unendlich groß, wenn ihre endlichen Teilmengen stets echte Teilmengen sind. Diese Definition des Unendlichkeitsbegriffs setzt offenkundig den Endlichkeitsbegriff voraus (s. dazu oben die Anm. zu §. 9, S. 174). Bolzano erwähnt schließlich eine Art Dualitätsprinzip zwischen unendlich Kleinem und unendlich Großem: Nimmt man etwas unendlich Großes als neue Einheit, so erscheint das Endliche ihm gegenüber als unendlich klein. Umgekehrt könnte man ergänzen: Nimmt man etwas unendlich Kleines als neue Einheit, so erscheint das Endliche ihm gegenüber als unendlich groß. Da Bolzano sich bewußt ist, dass es verschieden große unendliche Größen gibt, muß man den bestimmten Artikel in »unter der unendlich großen Größe...« als Gattungsbezeichnung lesen, die für alle oder die meisten Exemplare der Gattung steht, wie in »Der Österreicher liebt Kaffee«. Zu §. 17 (S. 59): Raum und Zeit sind für Bolzano nichts Wirkliches, sondern bloß mögliche Bestimmungen des Wirklichen. Ausgangspunkt für die Einführung des Konzepts einer Bestimmung ist die Beobachtung,

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anmerkungen des herausgebers

dass in einem Satz wie »Goethe war 1786 in Rom glücklich« die Orts- und Zeitangabe einen ganz anderen Beitrag zur ausgedrückten Proposition leisten als das Prädikat »glücklich«: Mit diesem schreibt man eine Beschaffenheit zu, mit jenen Angaben nicht. Zwar ist jede Beschaffenheit auch eine Bestimmung des Gegenstands, der Begriff einer Bestimmung ist aber etwas weiter. Raum und Zeit nämlich sind nach Bolzano bloße Bestimmungen, die keine Beschaffenheiten darstellen. Was Bolzano genau unter einer Bestimmung versteht, ist jedoch nicht ganz klar:4 Handelt es sich um eine Vorstellung, wie manche Formulierungen in WL I 380–381 nahelegen,5 oder um etwas, das vorgestellt werden kann und selbst keine Vorstellung ist?6 Mit der Passage in WL war Bolzano später jedenfalls selbst unzufrieden.7 Da also Raum und Zeit mögliche Bestimmungen des Wirklichen sind,8 nähert sich Bolzano in diesem § der Frage nach der Möglichkeit aktualer Unendlichkeit im Reich des Wirklichen. Nicht nur gibt es insgesamt unendlich viele Raum- und Zeitpunkte, sondern schon zwischen zwei beliebig nah beieinanderliegenden Punkten liegen stets unendlich viele weitere Punkte. Schließlich widerlegt er die Behauptung der Unendlichkeitsgegner, man könne sich zwar stets Punkte hinzudenken, die Menge der Punkte, die es in Wirklichkeit gebe, bleibe aber endlich. Dagegen führt Bolzano zwei Dinge ins Feld: Erstens sei es widersprüchlich, von Punkten zu reden, die es in Wirklichkeit gebe, weil eben Zeit und Raum nichts Wirkliches seien. Und zweitens sei es abwegig, so zu tun, als gebe es Punkte erst durch unser Denken (z. B. als würde der Schnittpunkt zweier geometrischer Figuren erst durch unser Nachdenken über ihn entstehen; vgl. auch die Argumentation in §. 14). Zu §. 18 (S. 61): Was Bolzano in diesem § über Summen unendlich vieler Größen sagt, ist präzisierungsbedürftig. Das gilt insbesondere für den ausführlichen Beweis in der Fußnote. Problematisch ist daran das ungeschütz4

Anders Berg in BGA IIB 20, 24–26. So Berg a. a. O. 6 So Morscher, Logisches An-sich [1973], 72–75 unter Berufung auf Bolzano, Versuch Dimensionen [1843], 5 u. a. 7 Vgl. seinen Brief an Zimmermann v. 9. 3. 1848, BGA IIA 12/2, 189. 8 Zu den Konsequenzen dieser Auffassung für Paradoxien der Zeit und des Raumes vgl. §. 39f. 5

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te Operieren an Gleichungen, die Bolzano selbst zwar vorsichtig bloß »symbolische« nennt, mit denen er dann aber auf eine Weise umgeht, die in anderen Fällen zu falschen Ergebnissen führen kann. Eine präzise Formulierung von Bolzanos Satz, dass für eine positive reelle Zahl e < 1 die unendliche Reihe 1 + e + e 2 + e 3 + . . . den 1 Wert 1−e hat, setzt den Grenzwertbegriff voraus. Eine Zahl b heißt Grenzwert einer Folge (b n ), in Zeichen b = lim b n , n→∞

wenn es zu jeder vorgegebenen Genauigkeit ε > 0 eine Zahl n 0 gibt, so dass die Folgenglieder ab dieser Zahl (also die b n mit n > n 0 ) höchstens den Abstand ε von b haben, d. h. wenn für alle n > n 0 gilt ∣b n − b∣ < ε. Um Summen mit unendlich vielen Gliedern, d. h. mathematische Reihen, zu behandeln, muss man sie als Folgen ihrer Partialsummen ansehen, d. h. als Folgen ihrer Summen bis zum jeweils n. Glied. Die n. Partialsumme der von Bolzano betrachteten Reihe ist s n = 1 + e + e 2 + . . . + e n . Einer unendlichen Reihe kann man nur dann sinnvoll einen Wert oder eine »Summe« zuschreiben, wenn die Folge der Partialsummen einen Grenzwert hat. Dies ist nun bei unserer Folge von Partialsummen (s n ) der Fall. Für die n. Partialsumme s n gilt nämlich (e ≠ 1 vorausgesetzt): 1 − e n+1 sn = 1 + e + e + e + . . . + e = . 1−e 2

3

n

Da e < 1 ist, hat die Folge e n+1 den Grenzwert 0. Nach bekannten 1 Grenzwertsätzen hat die Folge s n daher den Grenzwert 1−e : 1 − e n+1 1 − limn→∞ e n+1 1 lim s n = lim = = . n→∞ n→∞ 1 − e 1−e 1−e Richtig ist sicher Bolzanos Beobachtung, dass nichts wirklich Paradoxes darin liegt, wenn eine unendliche Summe von Zahlen tatsächlich einen endlichen Wert hat. Das war auch im Lauf der Geistesgeschichte fast durchgängig klar. Zum Begriff der reellen Größen siehe auch die Aufzeichnungen in MM S. 1992, 1993, 1999, 2000 ff. aus den Jahren 1831–1833. Zu §. 19 (S. 64): Bolzano widerlegt die unbegründete Ansicht, dass ein Größenvergleich unendlicher Mengen etwas Paradoxes sei. Diese Ansicht folgt

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anmerkungen des herausgebers

beispielsweise aus der oben abgelehnten Auffassung (§. 12, Nr. 2), dass etwas Unendliches etwas Unvermehrbares bzw. Maximales sei. Als Gegenbeispiel verweist Bolzano auf eine Halbgerade, die in einer Richtung ins Unendliche geht: Sie lässt sich auf der begrenzten Seite durch Ansetzen eines endlichen Stücks augenscheinlich verlängern. Die hier von Bolzano verwendete intuitiv einleuchtende GrößerRelation scheint nahezu identisch mit der Teilmengenrelation. Nach §. 6 heißt M größer als N, wenn sich M als Summe (in Bolzanos Sinne) aus N und ν darstellen lässt. Diese Größer-Relation hat neben ihrer Intuitivität den Vorteil, das Euklidische Axiom »Das Ganze ist größer als sein Teil« zu respektieren, obgleich es dadurch fast trivialisiert wird, denn sowohl »ist größer als« als auch »ist Teil von« sind dann mittels der Teilmengenrelation erklärt. Solange man für die Größer-Relation die Identität der kleineren Menge mit einer Teilmenge der größeren Menge ansetzt und nicht – wie oben vorgeschlagen – die Zuordenbarkeit zu einer solchen Teilmenge, hat man das Problem, dass diese Größenrelation »bei weitem« keine Totalordnung ist, denn »die meisten« Mengenpaare stehen offenbar in keiner Teilmengenbeziehung zueinander. Die Mengen {1, 4} und {2, 3, 4} lassen sich nach diesem Größenbegriff nicht unmittelbar miteinander vergleichen. Zu §. 20 (S. 65): Bei unendlichen Mengen kann es vorkommen, dass die Elemente zweier Mengen einander bijektiv, oder ein-eindeutig, zugeordnet werden können, obwohl »die eine dieser Mengen die andere als einen bloßen Teil in sich fasst«. Dabei bedeutet »bijektiv« oder »ein-eindeutig«, dass man alle Elemente der einen Menge denen der anderen so zuordnet, dass in beiden Mengen jedes Element mit genau einem Element der jeweils anderen Menge verbunden wird. Zwei Mengen, bei denen das möglich ist, nennt man nach Cantor »gleichmächtig« oder »äquivalent«. Bolzanos Beobachtung lässt sich also kurz so ausdrücken: Unendliche Mengen können einer echten Teilmenge gleichmächtig sein. Bolzano erläutert dieses Phänomen anhand zweier Beispiele. Erstens lässt sich das reelle Zahlenintervall [0, 5] durch die Funktion f (x) ∶= 125 x ein-eindeutig auf das Intervall [0, 12] abbilden, so dass wir hier eine 1-zu-1-Abbildung zwischen einer Menge und einer echten Teilmenge haben. Das (intuitiv) größere Intervall ist damit

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(im Zuordnungssinne) gleich groß wie das (intuitiv) kleinere Intervall. Dasselbe gilt zweitens für die Raumpunkte auf einer beliebigen Strecke ac und einer beliebigen Teilstrecke ab. Alle Punkte auf ac lassen sich ein-eindeutig Punkten auf der Teilstrecke ab zuordnen, obwohl die Strecke länger oder (intuitiv) größer ist als die Teilstrecke. Schon bei Galileo Galilei (Nuove Scienze) findet sich die Beobachtung, dass sich die natürlichen Zahlen und die Quadratzahlen auf diese Weise aufeinander abbilden lassen (vgl. dazu die Anmerkung zu §. 42, S. 203). Bolzano bemerkt hier zum ersten Mal, dass es sich um ein Phänomen handelt, das in gewisser Hinsicht typisch für unendliche Mengen ist (vgl. die Anm. zu §. 22). Zu §. 21 (S. 67): Nach Bolzanos intuitivem Größenbegriff folgt bei unendlichen Mengen aus ihrer ein-eindeutigen Zuordenbarkeit nicht die Gleichheit ihrer Größe. Für diesen Schluss müssten weitere Informationen hinzukommen, etwa dass beide Mengen die »gleiche Entstehungsweise« oder »gleiche Bestimmungsgründe« haben. Was Bolzano damit genau im Sinn hatte, bleibt unklar, insbesondere bei nicht-identischen und dennoch gleichmächtigen Mengen: Haben die Mengen der geraden und der ungeraden Zahlen die gleichen Bestimmungsgründe? Wenn ja, dann müssten doch auch die Mengen der geraden und der durch 4 teilbaren Zahlen die gleichen Bestimmungsgründe haben, während die erstere Menge (intuitiv) größer ist als die letztere. Wenn aber nein, welche Mengen sollen dann überhaupt die gleichen Bestimmungsgründe haben? Könnte das nur bei identischen Mengen der Fall sein, so schlösse man letztlich von der Identität zweier Mengen auf ihre gleiche Größe und würde die Prämisse ihrer Zuordenbarkeit gar nicht benötigen. Zu §. 22 (S. 68): Das Phänomen, dass unendliche Mengen gleichmächtig und doch (intuitiv) verschieden groß sein können, scheint paradox. Bolzanos Erklärung geht davon aus, dass dieses Phänomen bei endlichen Mengen eben nicht auftreten kann. Bei ihnen gilt der Schluss von ihrer ein-eindeutigen Zuordenbarkeit auf die (intuitive) Größengleichheit. Hat man zwei elementweise einander ein-eindeutig zugeordnete Mengen A und B, so ergibt die Hintereinanderschaltung dieser

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anmerkungen des herausgebers

Zuordnung mit einer Abzählung der Menge A eine Abzählung der Menge B. Mit E. Schröder hat H. Hahn darauf aufmerksam gemacht, dass hier noch der Nachweis fehlt, dass das Resultat der Abzählung von der Reihenfolge der Elemente unabhängig ist. Den entsprechenden Beweis findet man früh etwa bei A. Pringsheim, Vorlesungen über Zahlen- und Funktionentheorie, Bd. I, S. 15. Da unendliche Mengen jedoch bzgl. einer Abzählung kein letztes Element haben (nach Cantor sollte man genauer sagen: nicht haben müssen), kann man dort nicht in derselben Weise vom Resultat einer Abzählung der Menge sprechen. Und diese Feststellung ist unabhängig von einem subjektivistischen Standpunkt, demgemäß wir Abzählenden nie an ein Ende kommen können. In diesem § macht Bolzano deutlich, dass er die Ungedecktheit des Schlusses von der Zuordenbarkeit auf die (intuitive) Größengleichheit für ein Charakteristikum unendlicher Mengen hält, wenn er sagt, dass die Berechtigung des Schlusses bei endlichen Mengen »nur eben in ihrer Endlichkeit liegt«. In der Tat wurde die bijektive Zuordenbarkeit auf eine echte Teilmenge später von Cantor und Dedekind zur ersten präzisen Definition von Unendlichkeit herangezogen. Damit war ein neuer Größenbegriff eingeführt, für den das Euklidische Axiom nur in einer abgeschwächten Version gilt: Das Ganze ist größer als oder gleich groß wie seine Teile (sc. Teilmengen). Zu §. 23 (S. 70): Dieser § soll aufklären, wie es kommen kann, dass zwei Mengen trotz ein-eindeutiger Zuordenbarkeit unterschiedlich groß sind. Am Beispiel der Intervalle [0, 5] und [0, 12] erklärt Bolzano das damit, dass zwei einander zugeordnete Zahlen bzw. Punkte innerhalb von [0, 5] einen geringeren Abstand haben als ihre Bildpunkte in [0, 12]. Wäre dies eine Erklärung, müsste sie jedoch auch im endlichen Fall gelten. Bolzano sieht aber die Mengen {0, 5} und {0, 12} durchaus als gleichgroß an, obwohl ihre Elemente unterschiedlichen Abstand voneinander haben. Zu §. 24 (S. 71): Dieser § wendet die Beobachtungen der vorigen §§ auf den Fall unendlicher Reihen an. Bolzano formuliert treffend, dass man unendliche Summen (Reihen) nicht vorschnell einander gleichsetzen darf, nur weil man zu jedem Summanden in der einen Reihe einen glei-

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chen Summanden in der anderen Reihe ausfindig gemacht hat. Allerdings hält er die Gleichsetzung für zulässig, wenn beide Summen darüberhinaus auch gleichviele Summanden haben. Dessen aber kann man sich nach Bolzano nur sicher sein, wenn man die Bestimmungsgründe der Summen kennt. Zur Problematik der Bestimmungsgründe vgl. die Anm. zu §. 21. Letztlich bleibt in Bolzanos Theorie also offen, wann zwei unendliche Mengen gleichviele Elemente haben – und damit auch, wann man zwei unendliche Reihen gleichsetzen darf. Zu §. 25 (S. 72): Hier beginnt Bolzano seine Auseinandersetzung mit der These, dass es im Bereich des Wirklichen nichts Unendliches gebe. Dagegen führt er drei Gegenbeispiele an. Das erste ist Gott, dessen Wissen, Wollen und Wirken nach aussen jeweils unendlich vieles umfasst. Bolzano präsentiert hier eine extrem komprimierte Fassung seiner Gotteslehre, wie er sie in der RW breiter entfaltet (s. insbes. RW I § 66– 83). Dort werden insbesondere auch die Existenzbeweise gegeben, die Gott überhaupt erst zu einem Beispiel für etwas unendliches Wirkliches machen könnten (s. etwa RW I §§ 67, 83). Das zweite Beispiel sind die Geschöpfe. Ihre Zahl sei unendlich – was Bolzano hier nicht näher begründet (s. aber RW I § 81, Athanasia 299–300). Das dritte schließlich sind die Mengen von Zuständen, die jedes Geschöpf in einem noch so kurzen Zeitabschnitt durchläuft. Da dieser unendlich viele Zeitpunkte enthält, handle es sich auch um unendlich viele Zustände. Zu §. 26 (S. 73): In diesem § richtet sich Bolzano gegen diejenigen, die etwas Unendliches im Bereich des Wirklichen für unmöglich halten, obwohl sie bei den nichtwirklichen Dingen, wie Sätzen an sich, durchaus Unendlichkeit zulassen. Insbesondere wendet er sich dagegen, diese Position mittels der Forderung nach durchgängiger Bestimmtheit alles Wirklichen begründen zu wollen. Dieses Prinzip unterschreibt Bolzano selbst, und zwar nicht nur für alles Wirkliche, sondern sogar für alles Nichtwirkliche (s. WL § 45, S. 209). Es ist eine Art ontologisches Gegenstück zum logischen Prinzip des tertium non datur und besagt, dass jedem Gegenstand von zwei kontradiktorischen Prädikaten P und nicht-P immer genau eines zukommen muss. Wäre damit eine Begründung für die Ablehnung von Unendlichem in Wirklichkeit zu machen, so müsste sie auch im Bereich des Nichtwirklichen gelten.

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anmerkungen des herausgebers

Abgesehen von diesem Symmetrieargument steht das Prinzip durchgängiger Bestimmtheit überhaupt nicht in Konflikt mit der Unendlichkeit von etwas. Unendlichkeit zieht für Bolzano zwar die Unbestimmtheit in zahlenmäßiger Hinsicht nach sich, da er keine verschiedenen unendlichen Zahlen kannte. Dies ist aber nur eine Unbestimmtheit in bestimmter Hinsicht und sie ist genauso unproblematisch wie die Unbestimmtheit der Tonhöhe eines Wochentages oder der Farbe des pythagoräischen Lehrsatzes. Dass bei unendlichen Mengen nicht gegen diese Forderung verstoßen wird, zeigt Bolzano einmal mehr mit dem Beispiel der Punkte auf der Strecke zwischen zwei Raumpunkten im euklidischen Raum: Dass die Menge dieser Punkte unendlich ist, verhindert keineswegs ihre vollkommene Bestimmtheit. Denn von jedem Punkt dieses Raumes ist eindeutig bestimmt, ob er auf der Strecke liegt oder nicht. Unendlichkeit zieht also keine Unbestimmtheit in diesem Sinne nach sich. Zu §. 27 (S. 75): Bolzano kritisiert hier eine zu weit gehende Verwendung von unendlichen Größen in der Mathematik. Genauer geht es um die unendlich kleinen und die unendlich großen Größen – wegen des Dualitätsprinzips zwischen beiden kann man sich im Folgenden ohne Beschränkung der Allgemeinheit auf die unendlich großen Größen beschränken. Er setzt deren zu weit gehender Verwendung die folgenden Behauptungen entgegen (vgl. dazu teilweise R. J. Boscovich: Theoria philosophiae naturalis, Venezia 1763, Suppl. I): 1. Es gibt keine vier Zeitpunkte so, dass die Entfernung der beiden ersten voneinander unendlichmal größer wäre als die der beiden letzten voneinander. Auch wenn es durchaus sinnvoll ist, von unendlichen Zeitlängen zu sprechen, die also keinen Anfang oder kein Ende haben (vgl. Bolzanos Begriff der Ewigkeit in §. 39), so fordert er zumindest, dass Größenverhältnisse von Zeitintervallen stets in einem endlichen Verhältnis zueinander stehen sollen. 2. Ähnlich müssen auch Verhältnisse zwischen räumlichen Entfernungen stets endlich sein: Es gibt keine vier Raumpunkte so, dass die Entfernung der beiden ersten voneinander unendlichmal größer wäre als die der beiden letzten voneinander. 3. Es gibt keine zwei Kräfte so, dass die eine unendlichmal größer wäre als die andere.

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Alle drei Behauptungen begründet Bolzano mit Hilfe zweier Thesen, für deren Begründung er den Leser auf andere seiner Schriften verweist: Erstens die These, dass sich für jeden Zustand der Welt jeder frühere Zustand der Welt (plus die in der Zwischenzeit erfolgenden direkten Eingriffe Gottes) als Ursache ansehen lässt. Zu einer solchen Zustandsangabe gehören nach Bolzano anscheinend Ort- und Zeitangaben der Substanzen sowie Angaben über die herrschenden Kräfteverteilungen. Bolzano hätte wohl noch Angaben über Massen und Geschwindigkeiten (Impuls) hinzufügen sollen (Hahn). Die zweite These ist die schon aus §. 26 bekannte Bestimmtheitsforderung, hier nun in der Fassung, dass sich jeder für die Wirkung relevante Umstand der Ursache begrifflich bestimmen lassen muss. Dem würde es nun widersprechen, wenn die zeitliche oder räumliche Entfernung oder die Größe einer Kraft zu diesen relevanten Umständen gehörte und sich, da unendlich, nicht begrifflich bestimmen ließe. Auf den ersten Blick scheint hier eine gewisse Inkonsistenz in Bolzanos Theorie zu bestehen, wenn er nämlich wiederholt Endlichkeit mit begrifflicher Bestimmtheit gleichsetzt (z. B. »...ein bloß endliches, durch bloße Begriffe völlig bestimmbares Größenverhältnis« oder »in einem bloß endlichen (durch reine Begriffe völlig bestimmbaren) Verhältnisse zueinander stehen«), was er in §. 26 bestritten hatte. Genauer betrachtet hat er in §. 26 jedoch zugestanden, dass Unendlichkeit größenmäßige Unbestimmtheit meine. Seine Gegenargumente dort richteten sich also gegen die Behauptung, Unendlichkeit bedeute völlige begriffliche Unbestimmtheit. Hier in §. 27 entfaltet er jedenfalls die umgekehrte Behauptung, dass Endlichkeit völlige begriffliche Bestimmbarkeit bedeute. Bolzano schließt sich hier in spezifischer Weise an die These des Aristoteles an, dass (quantitativ) Unendliches (zahlenmäßig) unbestimmt sei. Aristoteles’ Begründung, dass es keine bestimmten Arten unendlicher Größen gibt, konnte so lange als zutreffend gelten, wie es tatsächlich keine befriedigende Theorie unendlicher Zahlen gegeben hat (Cantor). Zu §. 28 (S. 79): Bolzano weist zunächst darauf hin, dass er in den vorangehenden §§ die »Grundregeln« für den Umgang mit Paradoxien aufgestellt hat. Ihm zufolge lassen sie sich vollständig in zwei Klassen einteilen: Sätze, die tatsächlich Irrtümer sind und »aufgegeben werden« müssen, und

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anmerkungen des herausgebers

Sätze, die Wahrheiten sind und nur den Schein des Paradoxen an sich haben. Er vertritt ferner die Vorstellung einer objektiven Anordnung der verschiedenen Wissenschaften und damit der in ihnen vorkommenden Paradoxien. Diejenigen der Größenlehre, also die mathematischen, gehören zu den grundlegendsten. Schließlich behandelt er die Paradoxie des Rechnens mit dem Unendlichen. Dies sei paradox, weil Rechnung Bestimmung bedeute, das Unendliche aber eine Menge mit unendlich vielen Elementen sei, die daher durch Zahlen nicht bestimmt werden könne (hier zeigt sich, dass Bolzano am antiken Zahlbegriff, der Endlichkeit einschliesst, festhält). Kurz gesagt also: Rechnung ist Bestimmung, Bestimmung verwendet Zahlen, Zahlen sind endlich und daher ist eine Rechnung mit dem Unendlichen paradox. Bolzano weist demgegenüber darauf hin, dass es ihm nicht um eine Berechnung des Unberechenbaren gehe, sondern um die Berechnung von Verhältnissen zwischen verschiedenen Unendlichen. Hier zeigt sich die systematische Relevanz der in §§. 26–27 ausführlich thematisierten Unterscheidung zwischen der Unbestimmbarkeit unendlicher Größen und der Endlichkeit/Bestimmbarkeit von Verhältnissen. In der modernen Mathematik hat sich durch die Mengenlehre Cantors eine Theorie unendlicher Ordinal- und Kardinalzahlen etabliert, mit denen man durchaus rechnen kann. So lässt sich eine Erweiterung der Addition, Multiplikation und Potenzierung auf unendliche Zahlen definieren. Deren Rechenregeln gemäß ist das Quadrat der Mächtigkeit des Kontinuums gleich der Mächtigkeit des Kontinuums selbst – was bedeutet, dass sich die Punkte einer Gerade denjenigen einer Ebene ein-eindeutig zuordnen lassen. Zu §. 29 (S. 80): Gegen die Erörterungen dieses § kann man viele Einwände erheben, die sich u. a. aus einem wesentlich klareren Umgang der modernen Mathematik mit unendlichen Folgen und Reihen ergeben. Bolzanos Terminologie der Summen schwankt hier zwischen einer Auffassung als Mengen im Sinne der Mengenlehre und der Auffassung als formale Gebilde (»bloß symbolische Gleichungen«), denen ein Summenwert entsprechen kann. Es ist zunächst unklar, was N 0 , N n und S 0 sein sollen. Z. B. wird N 0 einerseits als unendliche Summe von Einheiten definiert, andererseits wird gesagt, es handle sich um die Menge der

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natürlichen Zahlen. Je nach Interpretation unterscheiden sich N 0 , N n und S 0 oder unterscheiden sich nicht: Die Mengen der Folgenglieder von N 0 , N n , und S 0 sind gleichmächtig, nämlich von der Mächtigkeit der Menge der natürlichen Zahlen. Die Mengen der Werte, die diese Folgen annehmen, unterscheiden sich: Während N 0 und N n konstant den Wert 1 haben, durchläuft S 0 alle natürlichen Zahlen. Die Folge der Partialsummen ist bei N 0 und N n beidemal die Folge der natürlichen Zahlen, während sie bei S 0 die natürlichen Summen 1 + 2 + . . . + i durchläuft. Eine Summe im eigentlichen Sinn haben alle drei nicht, denn alle drei Folgen von Partialsummen sind divergent. Bolzanos Ausführungen legen es nahe, dass er auch mit (unendlichen) Werten divergenter Reihen rechnen wollte. Und obwohl er manche Übertragungen von Üblichkeiten aus dem Bereich des Endlichen in den des Unendlichen ablehnt (z. B. die Summenformel n⋅(n+1) ), hält er andere für unproblematisch (z. B. die Multiplikation 2 einer divergenten Reihe mit einem unendlichen Faktor oder die Differenz zweier unendlicher Reihen), obwohl sie nach heutigem Standard nicht ohne Weiteres zulässig sind. Es ist auch nicht zu sehen, was α ⋅ N 0 sein soll, denn die hier verwendete Multiplikation ist nicht definiert. Schließlich ist, auch mit einer sehr wohlwollenden Lesart von »Bestimmungsgründen« (s.o., §§. 21 und 24), nicht zu sehen, wie Bolzano die Gleichung Mult.(8 − 7) = Mult.(13 − 12) rechtfertigen will. Die plausibelste Interpretation der Schreibweisen N 0 , N n und S 0 scheint mir, sie als Bezeichnung einer Folge von Partialsummen anzusehen. Es handelte sich also um Mengen mit abzählbar-unendlich vielen Elementen in Form von Paaren aus einer natürlichen Zahl, die angibt, um das wievielte Folgenglied es sich handelt, und dem zugehörigen Wert der Folge. Das heißt: N0

=

{(1, 1), (2, 1), (3, 1), (4, 1), (5, 1), . . .}

Nn

=

{(n, 1), (n + 1, 1), (n + 2, 1), (n + 3, 1), . . .}

S0

=

{(1, 1), (2, 3), (3, 6), (4, 10), (5, 15), . . .}

Dann wäre relativ klar, was die Differenz N 0 − N n ist, wieso N 0 die Menge der natürlichen Zahlen »darbietet« und wie man solche Größen mit einem endlichen Skalar multiplizieren könnte (α ⋅ N 0 ). Ob es

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anmerkungen des herausgebers

eine konsistente Gesamtrekonstruktion von Bolzanos Theorien und Rechenregeln gibt, muss hier aber offen bleiben. Bolzano selbst ist zeitlebens selbstkritisch geblieben und schrieb über die diesbezüglichen Behauptungen in seiner Wissenschaftslehre, sie seien »nicht nur unklar vorgetragen, sondern wie ich soeben zu erkennen anfange, ganz falsch. [. . .] Das falsche Ergebniß wurde nur durch den unberechtigten Schluß von einer endlichen Menge Zahlen, nemlich der die Zahl N nicht übersteigende[n], auf alle herbeigeführt«.9 Es ist merkwürdig, wenn sich Bolzano hier verstiegen hat, da er in §. 29 ja selbst vor der ungerechtfertigten Übertragung der Summenformel s = n⋅(n+1) auf den Fall unendlich großer Sum2 manden warnt. Er hält es ausdrücklich für »ungereimt [. . .], bei einer unendlichen Reihe von einem letzten Gliede derselben, das den Wert N 0 hätte, zu reden«, redet dann aber relativ ungeniert über den Wert einer divergenten Reihe. Zu §. 30 (S. 83): Die Einführung Unendlich-Kleiner als Reziprokwerte UnendlichGroßer hängt völlig in der Luft, solange nicht eine Division Unendlich-Großer definiert ist, was nicht der Fall ist. Erst die Entwicklung der Non-standard-Analysis (s. Anm. zu §. 10) hat der Rechnung mit unendlich kleinen Größen ein sicheres logisches Fundament gegeben. Die vorgeführte Rechnung mit Differentialen entspricht den Regeln der Kunst. Bei explizit gegebenen Funktionsgleichungen wird es ohnehin meist erst dann problematisch, wenn Grenzübergänge dadurch gemacht werden sollen, dass man dx = 0 setzt. Ein klares Fundament, um zu entscheiden, welche solcher Rechnungen zulässig sind und welche nicht, scheint Bolzano noch nicht gehabt zu haben. Zu einer Rechnung mit unendlich kleinen Größen siehe MM 1028, 1029 (vor dem Jahr 1815); für eine einwandfreie moderne Einführung unendlich kleiner Größen siehe Robinson, NonStandard [1966]. Zu §. 31 (S. 84): Bolzano kritisiert zu Recht den unkontrollierten Umgang mit unendlichen Reihen, wie etwa den Rückschluss von Verhältnissen zwischen Summanden auf Verhältnisse zwischen unendlichen Summen oder die Verwendung von 0 als Divisor in Ausdrücken wie 01 oder 00 . 9

Berg, Besprechung [1967], 221.

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Zu §. 32 (S. 85): Bolzano konkretisiert die abstrakte Kritik aus §. 31 anhand von Beispielen. Auch heute würde man wie er sagen, »daß es auch Größenausdrücke gebe, die keine wirkliche Größe bezeichnen«. Gerade dann, wenn man mit der Bildung von Zahltermen und Gleichungen so freizügig umgeht wie in der Analysis zu Bolzanos Zeiten, muss nicht jeder irgendwie geformte Term auch eine Zahl bezeichnen. Heute würde man Bolzanos Einsicht, dass a − a + a − a + a − . . . ein »gegenstandloser Größenausdruck« ist, so ausdrücken, dass diese Reihe divergiert (die Folge ihrer Partialsummen ist a, 0, a, 0, a, . . . – sie erfüllt nicht die in der Anm. zu §. 18 (S. 182) angegebene Definition für Konvergenz). Interessant ist die Idee, die Konstantheit des Wertes einer unendlichen Reihe unter Permutation und Assoziation von Summanden als Kriterium dafür zu verwenden, dass dem Reihenausdruck auch eine Zahl entspricht. Tatsächlich gilt nur für absolut konvergente unendliche Reihen, dass sie unter Permutation identisch bleiben (absolut konvergente Reihen sind solche, für die auch die Folge der Summen der Absolutbeträge konvergiert). Umgekehrt gilt für reellwertige Reihen, die konvergieren, aber nicht absolut konvergieren, sogar der Riemannsche Umordnungssatz: Für jede Zahl r kann man eine Umordnung der Reihe angeben, die gegen r konvergiert. Zu §. 33 (S. 90): Zu den Erwägungen über die Summen divergenter unendlicher Reihen vgl. grundsätzlich die kritischen Bemerkungen zu §. 29. Bolzano entwickelt hier seine Theorie weiter, dass es beim Vergleich zweier unendlicher Reihen nicht nur auf einen paarweisen Vergleich der Summanden ankommt, sondern auch auf deren »Anzahl«. Er behauptet ganz nachvollziehbar, dass die Gliedermenge in der Reihe aller natürlichen Zahlen und in der Reihe aller Quadratzahlen gleich groß sei. Weniger nachvollziehbar ist hingegen seine Ansicht, dass die (wegen der Divergenz der Reihe gar nicht existierende) Summe der Reihe der Quadratzahlen größer sei als die Summe der Reihe der natürlichen Zahlen. In derselben »Logik« könnte man für das genaue Gegenteil argumentieren, da – wie Bolzano selbst sagt – in der Reihe der natürlichen Zahlen neben den Quadratzahlen noch unendlich viele weitere Zahlen auftreten.

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anmerkungen des herausgebers

Zu §. 34 (S. 92): Der Begriff der Null kann nicht allein dadurch gefasst werden, dass man sie als eine gegenstandlose Größenvorstellung auffasst. Bolzano geht vielmehr einige erste Schritte auf einem Weg, der erst später zum Durchbruch in Grundlagenfragen geführt hat, nämlich die 0 durch Axiome wie II. A ± 0 = A (0 ist neutrales Element) und I. A − A = 0 (Inversenbildung zum neutralen Element) einzuführen, bzw. in Bolzanos Sprache: durch die Erklärung, das Zeichen 0 sei so aufzufassen, dass die zwei Gleichungen I und II allgemein gelten. Er sieht auch schon, dass »die Begriffe des Addierens und des Subtrahierens [. . .] durch die Festsetzung dieser Gleichungen eine eigentümliche Erweiterung« erfahren. Das ist schon ein gutes Stück des Wegs zur axiomatischen Einführung von Zahlen und Rechenoperationen (z. B. durch die Peano-Axiome oder, allgemeiner, die Gruppenaxiome). Auf ähnliche Weise stellt Bolzano auch Axiome für Multiplikation und Division auf und zeigt, wie die Division durch 0 mit diesen Axiomen auf Widersprüche führt. Da er jedoch hier wie auch sonst in dieser Schrift das Ziel verfolgt, die Rechenmöglichkeiten so weit wie möglich auszudehen und sie nur dort einzuschränken, wo es unbedingt notwendig ist, erlaubt er dann doch die Null als Divisor wenigstens in identischen Gleichungen wie A0 = A0 . Schließlich zeigt er aber, wie unvorsichtiges Dividieren zweier gleicher Ausdrücke durch einen Ausdruck, der gleich 0 ist, zu allerlei falschen Ergebnissen führt. In der modernen Axiomatik fasst man die Division konsequent als Umkehrfunktion der Multiplikation und fordert ihre Definiertheit nur für Divisoren ungleich Null. Ein entsprechendes Axiom lautet dann etwa ∀x(x ≠ 0 → ∃z(x × z = 1)), wobei »1« das neutrale Element der Multiplikation × bezeichnet. Zu §. 35 (S. 95): Bolzano beschäftigt sich hier mit der Frage, wann in einer Rechnung, in der eine Größe m neben einer unendlich viel größeren Größe M auftritt, m weggelassen (bzw. = 0 gesetzt) werden kann. Dies ist grundsätzlich nicht unproblematisch, da zu einem späteren Zeitpunkt der Rechnung auch M selbst wegfallen könnte. Die Frage ist dann: Kann m weggelassen werden, wenn M und M ± m beim Messen mit einer Größe N der Größenordnung von M zu denselben Ergebnissen führen? Im Bezug auf ein Messen mittels

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Intervallschachtelungen unterscheidet Bolzano danach, ob M und N in einem rationalen oder einem irrationalen Verhältnis stehen. Im letzteren Fall könne es durchaus sein, dass sich M und M ± m immer in denselben Intervallen befinden, wie genau auch immer man die Schachtelung wählt. Stehen jedoch M und N in einem rationalen Verhältnis, etwa qp , so weicht M±m von M = qp in die eine oder N N andere Richtung ab, sodass die Messung per Intervallschachtelung hier einen Unterschied ergibt. Unter dem »Messen« muss man sich Folgendes vorstellen. Ist uns ein System von Größen gegeben, die addiert werden können, so kann man für jede natürliche Zahl p das Vielfache p × N einer Größe N definieren (als p-malige Addition). U. U. kann man auch für jede natürliche Zahl q die Division q1 × N festlegen (als Größe, die mit q multipliziert N ergibt). Damit wäre klar, was die Multiplikation mit einer positiven rationalen Zahl qp × N bedeuten kann, nämlich das p-fache des q-ten Teils von N. Hat man nun zwei Größen M und N des Systems, so kann es sein, dass M und N in rationalem Verhältnis stehen, d. h. es kann natürliche Zahlen p und q geben mit M = qp × N. Ist das nicht der Fall, kann man M mittels N durch Intervallschachtelung messen, d. h. man kann zu jeder als Nenner vorgegebenen natürlichen Zahl q eine natürliche Zahl p so finden, dass p p+1 ×N b. Per Induktion wählt man aus diesen das kleinste für die obere Intervallgrenze. Das archimedische Axiom führt dazu, dass es keine unendlich großen Größen geben kann. In der Geometrie ist es wie das Parallelenaxiom von den übrigen euklidischen Axiomen unabhängig. Es gibt also nicht-archimedische Geometrien (s. erstmals Veronese, Fondamenti [1891]; ein sehr einfaches Beispiel dann bei Hilbert, Grundlagen [1899]). Die Ausführungen hier stehen in einer gewissen Spannung zu Bolzanos früherer Forderung, dass es immer nur um die Bestimmung

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anmerkungen des herausgebers

von endlichen Zahlenverhältnissen, auch zwischen unendlichen Größen gehen würde (vgl. §§. 27–28). Zu §. 36 (S. 97): Bolzanos Kritik an der Erklärung von Werten einer Funktion f (x) = g(x) an Stellen a mit h(a) = 0 ist ganz berechtigt. Er macht einen h(x) wichtigen Unterschied zwischen den (eigentlichen oder uneigentlichen) Grenzwerten limx→±a f (x) und einem Funktionswert f (a). Diese Werte müssen nur übereinstimmen, wenn f bei a stetig ist. Zu §. 37 (S. 100): Die moderne Mathematik hat dem praktischen Umgang mit der Differentialrechnung, wie Bolzano ihn schildert, ein solides Fundament gegeben, das die praktischen Regeln und Vorsichtsmaßregeln im Wesentlichen bestätigt. Zu Bolzanos Vorsichtsmaßregeln gehört: Funktionen müssen eine Ableitung haben, jedenfalls für alle Werte, um die es in einer Rechnung geht; der Kalkül muss nach Elimination der gegenstandlosen Zeichen zu richtigen Ergebnissen führen; und dy ist nicht als Quotient zweier unabhängig bestimmter Größen d y dx und dx zu verstehen, sondern einfach als ein Zeichen für die Ableitung der Funktion y nach x. In diesem Zusammenhang gibt er explizit ein Kriterium für die Verwendung idealer Elemente an: »Gegenstandlose Zeichen«, also Zeichen, für die nicht verlangt ist, dass es ein Etwas gibt, das sie bezeichnen, können verwendet werden, wenn sie sich schlussendlich so eliminieren lassen, dass die resultierenden Gleichungen zwischen Zeichen für wirkliche Größen korrekt sind. Bolzano weist auch auf den Vorteil seiner Theorie hin, nach der die Variablen nicht »unendlich kleine« Werte annehmen können müssen. Die in der Fußnote S. 102 ausgesprochene Behauptung hängt davon ab, was man unter »bestimmbaren« Funktionen versteht. Dasselbe gilt für den Satz S. 104, dass alle »bestimmbaren« Funktionen eine Taylor-Entwicklung mit Zwischenwertrest besitzen. Bestimmbarkeit muss mehr als Stetigkeit sein, denn für stetige Funktionen sind beide Sätze falsch (Hahn). Eine längere Interpretationskontroverse um die Bedeutung von »Bestimmbarkeit« hat zu folgendem Ergebnis geführt: Eine in a stetige Funktion f heiße in a bestimmbar, wenn die Differenz f (x + ∆x) − f (x) wenigstens in einer kleinen Umgebung von a dasselbe Vorzeichen behält. Diese Lesart wird

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durch eine Reihe von Stellen in Bolzanos Werk unterstützt, u. a. im MS Verhältnisse zwischen stetigen Funktionen und in MM S. 1903 u. S. 1921–1923 (vgl. dazu die Anmerkungen in Bolzano, Paradoxien (ed. Rootselaar) [1975], 141–143). »Bestimmbarkeit« bedeutet demnach also stückweise Monotonie. Der von Bolzano behauptete Zusammenhang zwischen Monotonie und Differenzierbarkeit ist relativ kompliziert, vgl. etwa Carathéodory, Vorlesungen [1918], §§ 500–510, wo es in Satz 7 (S. 573) heißt: Jede monoton wachsende endliche auf [0, 1] erklärte Funktion f (x) ist differenzierbar in einer Teilmenge vom Maß 1. Ob dies genau der von Bolzano richtig gesehenen »Ausnahme gewisser isoliert stehender Werte« entspricht, hängt von Bolzanos Begriff isolierter Punkte ab, der ein eigenes Diskussionsfeld darstellt (s. dazu unten §. 38). Mit der S. 117 erwähnten Theorie der Rektifikation, Komplanation und Kubierung hat sich Bolzano in einer eigenen, 1817 erschienenen Schrift befaßt: Bolzano, Drey Probleme [1817]. Zu den erwähnten Archimedischen Grundsätzen gehören die Folgenden: I. Jede krumme Linie ist länger als die gerade, die zwischen denselben Endpunkten liegt. II. Von zwei krummen Linien, die beide nach einer Seite zu hohl sind, ist die umschließende länger als die umschlossene. III. Wenn eine krumme und eine ebene Fläche dieselben Grenzen haben, so ist die erstere größer als die letztere. IV. Von zwei krummen Flächen, die beide nach einer Seite zu hohl sind, ist die umschließende größer als die umschlossene. Zu §. 38 (S. 108): In diesem und dem folgenden § behandelt Bolzano Paradoxien in Bezug auf den Begriff der Zeit. Die Zeit ist nach herkömmlicher Vorstellung ein Kontinuum, das aus Zeitpunkten oder (punktförmigen) Augenblicken zusammengesetzt ist. Bolzano behandelt in §. 38 die Paradoxien, die mit der Vorstellung eines Kontinuums verbunden werden und die die Zeit mit dem Raum und der Materie teilt. In §. 39 geht es dann um Paradoxien, die andere Aspekte des Zeitbegriffs betreffen. Die wichtigste Paradoxie besteht darin, dass die Zeit (a) etwas kontinuierlich (stetig) Ausgedehntes und dennoch (b) aus ausdehnungslosen Punkten zugesammengesetzt sein soll. Dies gehe nicht zusammen, da aus der Zusammensetzung von Ausdehnungslosem

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anmerkungen des herausgebers

kein Ausgedehntes hervorgehen könne. Bolzano hält dem entgegen, dass gerade die Zusammensetzung aus Ausdehnungslosem die einzige Möglichkeit ist, sich ein Kontinuum vorzustellen, da die Alternative, es bestünde wiederum aus Ausgedehntem, nur wieder auf dieselbe Frage führen und also keine Antwort sein würde. Als vollkommen irrig weist er die Ansicht zurück, ein Zusammengesetztes könne keine Eigenschaften haben, die seine Teile nicht hätten – ganz im Gegenteil ist es sogar notwendig, dass es solche Eigenschaften hat. Unter einem Kontinuum versteht Bolzano einen Inbegriff von Punkten, die in dem Inbegriff nicht isoliert sind. »Isoliert« versteht Bolzano allerdings wesentlich weiter als heute in der Mathematik üblich: Ein Punkt ist isoliert, wenn er »nicht so dicht umgeben ist von Nachbarn, dass sich für jede – nur klein genug genommene – Entfernung ein Nachbar für ihn nachweisen lässt«. Das heißt wenn K η (p) die Menge der Punkte bezeichnet, die von p genau den Abstand η haben, so heißt p in A isoliert, wenn ∀ε∃η(η < ε ∧ K η (p) ∩ A = ∅). Ein isolierter Punkt einer Menge A ist also für Bolzano ein Häufungspunkt des Komplements von A. Der heute übliche Begriff eines isolierten Punktes einer Menge A ist wesentlich enger: Es ist ein Punkt, der in einer bestimmten Umgebung gar keine Nachbarn in A hat: ∃ε∀η(η < ε → K η (p) ∩ A = ∅). Die Vorstellung dagegen, in einem Kontinuum müsse es für jeden Punkt einen weiteren geben, der ihn berührt, weist Bolzano als widersprüchlich zurück, denn bei Punkten gibt es nur Identität oder Getrenntheit, weil etwas Ausdehnungsloses keine Teile hat und sich daher nicht teilweise mit etwas anderem decken kann. Die Rede davon, dass wenn ∞ eine unendliche Menge ist, dann auch ∞ ,∞ ,∞ 2 4 8 usw. unendliche Mengen sind, meint wohl die Teilmengen einer geordneten Menge, die man erhält, wenn man jedes zweite, jedes vierte oder jedes achte Element der Ausgangsmenge nimmt. Das zeigt, dass jede unendliche Menge unendlich viele unendliche Teilmengen hat. Bolzano erklärt, wie etwas Ausdehnungsloses etwas Ausgedehntes erzeugen kann, schließlich so: Endliche Mengen von Punkten können niemals ein Kontinuum bilden. Unendliche Mengen von Punkten bilden genau dann ein Kontinuum, wenn sie so angeordnet sind, dass kein Punkt in ihnen (in Bolzanos Sinne) isoliert ist.

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Der moderne Begriff eines Kontinuums ist entweder im Gefolge Cantors der einer perfekten und zusammenhängenden Menge, oder er wird gleich an die Struktur der reellen Zahlen geknüpft (entweder ist ein Kontinuum ein Raum, der mittels reeller Zahlen aufgebaut wird, oder er ist wenigstens zu einem solchen Raum homöomorph). »Perfekt« bedeutet dabei, dass die Menge alle ihre Häufungspunkte enthält, d. h. alle Punkte, für die gilt, dass in jeder Umgebung um sie Punkte der Menge liegen. Bolzano hingegen verlangt, dass es für jeden Punkt eine Entfernung so gibt, dass in dieser und allen kleineren Entfernungen Nachbarpunkte liegen. Wenn unter diese »Entfernungen« auch die irrationalen Entfernungen fallen sollen, setzt dieser Kontinuumsbegriff also die reellen Zahlen schon voraus. Bolzanos Bedingung »keine isolierten Punkte« impliziert jedenfalls Perfektheit, nicht jedoch Zusammenhang: Zwei parallele Geraden in der euklidischen Ebene bilden einen perfekten Teilraum der euklidischen Ebene, der keine Bolzano-isolierten Punkte enthält, aber nicht zusammenhängt und daher nicht als Kontinuum gilt (vgl. Cantor, Grundlagen [1883], 572 u. 576). Umgekehrt ist eine Menge, die einen Bolzano-isolierten Punkt enthält, auch nicht zusammenhängend. Bolzano kannte den Begriff des Zusammenhangs, siehe §. 48. Man beachte also schließlich, (a) dass ein Kontinuum nach Bolzano Lücken aufweisen kann und (b) die Menge der rationalen Zahlen im Intervall [0, 1] aus lauter isolierten Punkten besteht, obwohl sie in [0, 1] dicht liegt. Zu Bolzanos Theorie der reellen Zahlen vgl. Berg, Anmerkungen [1964]; Rychlik, Theorie [1962]; Rootselaar, Theory [1963]; Laugwitz, Bemerkungen [1965]; und Bolzanos MM S. 2000 ff. Zu §. 39 (S. 111): In diesem § geht es um die Natur der Zeit. Nach Bolzanos Theorie ist die Zeit nichts Wirkliches. Das liegt daran, dass ihm nur Substanzen und ihre Kräfte als wirklich gelten, denn er versteht unter »wirklich« in Anlehnung an das Verb »wirken« so viel wie »wirksam«. Zeit ist vielmehr eine Bestimmung10 an veränderlichen Substanzen, nämlich genau die, die man einer Substanz hinzufügen muss, um ihr (zu zwei verschiedenen Zeitpunkten) zwei miteinander unvereinbare Beschaffenheiten widerspruchsfrei zuzuschreiben. Auch wenn es die 10

Zur Konzeption von Zeit und Raum als bloßen Bestimmungen und speziell zum Begriff der Bestimmung vgl. die Anm. zu §. 17, S. 181.

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anmerkungen des herausgebers

Zeit selbstverständlich gibt, ist sie in Bolzanos Sinne nichts Wirkliches und damit nichts Existierendes, ähnlich wie »Sätze an sich« oder »Wahrheiten an sich«. Nach dieser Auffassung lassen sich die erwähnten Zeitparadoxien relativ leicht lösen: Da die Zeit nichts Wirkliches ist, ist sie keine geschaffene Substanz, muss also auch selbst nicht anfangen und aufhören (was wiederum eine Zeit voraussetzte); Augenblicke sind Zeitpunkte, die tatsächlich keine Dauer haben, obwohl sie endliche Zeitdauern (zwischen zwei Augenblicken) bzw. die Gesamtheit der Zeit konstituieren: Beides sind Inbegriffe der ihnen zugehörigen bzw. aller Zeitpunkte; ein wirklicher Blick mit den Augen hingegen hat eine Dauer, und nach Bolzanos Konzeption ist es, wie beim Kontinuum allgemein, überhaupt keine Schwierigkeit, dass zwischen zwei Zeitpunkten immer noch unendlich viele weitere Zeitpunkte liegen müssen. Bolzano kommt am Ende auch hier wieder auf seine Ansicht zu sprechen, dass man vor allem vermeiden müsse, beim Vergleich einer längeren und einer kürzeren Dauer von derselben Menge von Zeitpunkten zu sprechen. Unter »Ewigkeit« versteht Bolzano das Ganze, dem alle Augenblicke als Teile zugehören, also die Menge aller Zeitpunkte. Dieses Konzept würde man in der heutigen Religionsphilosophie unter »Sempiternalismus« einordnen, im Unterschied zu »eternalistischen« Ewigkeitskonzeptionen. Es ist näher am alltagssprachlichen Begriff von Ewigkeit (z.B. »die ewige Stadt« als die immer existierende Stadt) als an demjenigen, der seit Boethius in Philosophie und Theologie dominiert und der mit Begriffen wie »totum simul«, »nunc stans« oder »Atemporalität« näher bestimmt wird.11 Ganz mit modernen physikalischen Auffassungen kompatibel ist Bolzanos Auffassung einer Zeitdauer als Menge der Punkte zwischen zwei Zeitpunkten (heute: Intervall bzw. dessen Länge). Der wesentliche Unterschied zwischen Gott und den Geschöpfen besteht für Bolzano nicht in einem wesentlichen Unterschied zwischen Zeit und Ewigkeit, sondern darin, wie etwas in der Zeit ist: nämlich die Geschöpfe, indem sie sich in ihr verändern, Gott hingegen als unveränderlich derselbe. In puncto der Unveränderlichkeit Gottes schließt sich Bolzano also an die klassische philosophisch-theologische Lehre an.

11

Vgl. dazu Tapp/Runggaldier (Hrsg.), God, Eternity [2011].

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Zu §. 40 (S. 114): Ganz ähnlich wie die Zeit fasst Bolzano auch den Raum als eine Bestimmung, keine Beschaffenheit, der Substanzen auf. Er ist daher nichts Wirkliches, aber deshalb nicht nichts – seinem Begriff kommt »Gegenständlichkeit« zu. Orte sind diejenigen Bestimmungen der geschaffenen Substanzen, »welche den Grund angeben, warum sie [die geschaffenen Substanzen, C. T.] bei dem Besitze ihrer Beschaffenheiten in einer gewissen Zeit gerade diese Veränderungen ineinander hervorbringen«. Der Raum ist der Inbegriff der Orte. Er ist aus Punkten als einfachen Teilen zusammengesetzt. Die Größe von räumlichen Dingen ergibt sich nicht aus der bloßen Menge an Punkten, wie Bolzano mit Hinweis darauf klar macht, dass das Volumen eines Würfels unabhängig von der Hinzunahme seiner Oberfläche ist, während die bloße Punktmenge sich dadurch verändert. Bolzanos Ansichten zum Rechnen mit und Vergleichen von unendlichen Mengen von Punkten ziehen sich durch die nächsten §§ hindurch, bevor sie in §. 49 anhand einer ganzen Reihe von Beispielen im Zusammenhang dargestellt werden. Den Größenbegriff fasst Bolzano schließlich fast axiomatisch: Eine Größe ist etwas, das »aus einer zur Einheit angenommenen Ausdehnung von derselben Art mit der zu messenden« abgeleitet wird, und zwar so, dass ein aus M und N zusammengesetztes Ganzes die Größe m + n hat, wenn m die Größe von M und n die Größe von N ist. Dass dabei nur an eine Zusammensetzung wie bei physikalischen Gegenständen, nicht aber an eine beliebige mengentheoretische Vereinigung o.ä. gedacht ist, versteht sich genauso von selbst wie Bolzanos ausdrücklicher Hinweis, dass bei der Zusammensetzung Grenzflächen unberücksichtigt bleiben. Die Definition von Linien, Flächen und Körpern, die Bolzano in der Fußnote S. 116 vorschlägt, ist »sehr bemerkenswert« (Hahn). Die rekursive Struktur – erst werden Linien definiert, dann dieser Begriff in der Definition für Flächen verwendet, dann dieser in der Definition für Körper usw. – ist auch in der fast ein Jahrhundert später aufgestellten Menger-Urysohnschen Definition erhalten geblieben (van Rootselaar). Bei Bolzanos Definition ist zu beachten, dass er mit »Nachbarn von x in einer Entfernung e« nicht die Punkte in einer ganzen e-Umgebung von x meint, sondern diejenigen Punkte, die genau den Abstand e von x haben (dies wurde in der Anm. zu §. 38,

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anmerkungen des herausgebers

S. 197, als K e (x) bezeichnet). Der erste Teil von Bolzanos Definition ist also folgendermaßen zu lesen: g heißt einfach ausgedehnt ∶⇔ (∀x ∈ g)(∃ε > 0)(∀e < ε) K e (x) ist nicht ausgedehnt. Für beliebiges e hat ein Punkt auf einer (euklidischen) Geraden also genau zwei Nachbarn in der Entfernung e, sie bilden selbst kein Ausgedehntes, und damit ist die Gerade etwas einfach Ausgedehntes. Zu §. 41 (S. 118): Die in diesem § aufgestellten mathematischen Aussagen über offene und abgeschlossene Intervalle oder irrationale Verhältnisse zwischen Punktmengen sind im Wesentlichen auch nach heutigen mathematischen Standards gültig. Der Schein von Paradoxikalität liegt also nur im Mißverständnis auf Seiten dessen, der sie paradox findet. Ausnahme ist Punkt 3. Darin betrachtet Bolzano eine Strecke az, a

b

c

d...

z

die bei b halbiert wird. bz wird bei c halbiert, cz bei d usw. Sei I 1 die ursprüngliche Strecke az ohne alle Halbierungspunkte. Daraus entstehe I 2 durch Weglassen auch noch von z. Während nach Bolzano I 2 ein Kontinuum ist, sei I 1 es nicht mehr, denn z sei darin isoliert: es gebe beliebig kleine Entfernungen (nämlich alle der Form az ), in denen es keinen Punkt dieser Entfernung von z gibt. Hier 2n sieht man ein Anwendungsbeispiel dafür, wie Bolzanos Kontinuumsbegriff vom heutigen abweicht: Sowohl I 1 als auch I 2 sind nach dem Cantorschen Begriff keine Kontinua, da sie nicht zusammenhängend sind (vgl. hierzu §. 38). Zur notorischen Problematik, wann zwei unendliche Punktmengen gleich viele Punkte enthalten sollen, legt Bolzano in den Punkten 4–7 die Umrisse seiner Theorie dar, die eine relativ enge Entsprechung von Größen/Längen und Anzahl von Punkten aufrecht erhält. Der Grundgedanke ergibt sich aus Intervallen reeller Zahlen: Offenes, halboffenes und abgeschlossenes Intervall zwischen zwei Punkten sind gleich groß, haben aber »offenbar« unterschiedlich viele Punkte. Ein gewichtiger Nachteil von Bolzanos Theorie ist, dass er nicht definiert, wann zwei Mengen dieselbe Anzahl Punkte haben (anders als die spätere Cantor-Dedekindsche Theorie, die

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die ein-eindeutige Abbildbarkeit dafür heranzieht). Vielleicht kann man seine Theorie jedoch quasi-axiomatisch lesen. Dann wären die hier diskutierten »Axiome« die folgenden: Zwei offene Strecken zwischen gleich weit entfernten Endpunkten haben gleich viele Punkte; die gleiche Menge an Punkten führt zur Gleichheit der Größe, aber nicht umgekehrt (siehe Intervallbeispiel); geometrische Ähnlichkeit führt dazu, dass sich Proportionen zwischen Größen auch auf Proportionen zwischen Mengen an Punkten übertragen. Zu §. 42 (S. 119): Das hier diskutierte Paradoxon wird nicht vollkommen deutlich gemacht. Es geht, kurz gesagt, darum, dass man bei zwei unterschiedlich großen konzentrischen Kreisen die Punkte des einen Kreises durch Verlängerung der Radien ein-eindeutig denen des anderen Kreises zuordnen kann. Paradox ist daran, dass beide Kreise nach der Abbildung gleich viele Punkte haben müssen, aber doch unterschiedlich groß sind. Anders als der von ihm zitierte J. K. Fischer sieht Bolzano eineindeutige Zuordenbarkeit ausdrücklich nicht als Kriterium dafür an, dass zwei Mengen gleich viele Elemente enthalten. Was also nach Dedekind und Cantor zum Hauptkriterium für Gleichmächtigkeit geworden ist, lehnt Bolzano ab. Der Grund ist wahrscheinlich, dass er an dem euklidischen Satz »Das Ganze ist größer als sein (echter) Teil« festhalten will (vgl. die Anmerkungen zu §. 20f., S. 184f.). Man wird Bolzano aber zugute halten müssen, dass er (a) die starke Verallgemeinerbarkeit des von Fischer nur für konzentrische Kreisbögen vorgebrachten Kriteriums erkannt und (b) die Unvereinbarkeit dieses Satzes mit einer Reihe von Phänomenen im Bereich unendlicher Mengen bemerkt und daher eine Entscheidungsnotwendigkeit gesehen hat. G. Galilei folgert in seinem Werk Nuove Scienze aus der eineindeutigen Zuordenbarkeit der natürlichen Zahlen zu ihren Quadratzahlen, dass es gleich viele Quadratzahlen wie natürliche Zahlen geben müßte. Allerdings fährt Galilei fort und zieht (passend zu Euklids Axiom) die Schlußfolgerung, dass es zwischen unendlichen Mengen die Beziehungen der Gleichheit, des Größer- und des Kleiner-Seins nicht gebe. Die in diesen §§ diskutierten Schwierigkeiten gehen auf die Ansicht zurück, dass es viel mehr natürliche Zahlen als Quadratzahlen

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anmerkungen des herausgebers

gebe, weil die Quadratzahlen ja nur eine kleine Teilmenge aller natürlichen Zahlen bilden. Man kann sie als Resultat eines Fehlschlusses von endlichen auf unendliche Verhältnisse auffassen: Für jede natürliche Zahl m gilt, dass unter den natürlichen Zahlen von 1 bis m weniger Quadratzahlen als natürliche Zahlen sind. Es gilt sogar, dass mit wachsendem m der Anteil an Quadratzahlen immer kleiner wird. Daraus folgt aber nicht ohne Weiteres, dass es insgesamt nicht gleich viele natürliche Zahlen wie Quadratzahlen geben könnte. (Man vgl. das folgende augenfällige Beispiel: Wenn eine Kurve immer unterhalb einer anderen liegt, und für x → ∞ sogar immer weiter hinter der schneller wachsenden zurückbleibt, folgt daraus überhaupt nicht, dass die flachere Kurve nicht auch »ins Unendliche wachsen« kann, d. h. jeden beliebigen endlichen Wert einmal überschreitet.) Zu §. 43 (S. 120): Bolzano kritisiert die Redeweise, von einer Strecke (mit zwei Endpunkten!) zu sagen, dass sie ins Unendliche gewachsen sei, da die Entfernung zwischen zwei Raumpunkten stets endlich sein müsse. Verstöße gegen dieses Prinzip rächen sich, wenn man z. B. beim Tangens den Winkel gegen 90° gehen lässt und dann davon spricht, der Wert des Tangens sei unendlich. Da der Tangens von links und von rechts gegen 90° gehend verschietan β dene uneigentliche Grenzwerte hat (nämlich +∞ und −∞), kommt man in die Verlegenheit, auf die Frage, ob sein Wert bei 90° +∞ oder −∞ sei, keine β kohärente Antwort geben zu können. Bolzano hat tan α α durchaus recht, dass es keinen Sinn macht, von einem Wert des Tangens an den Stellen der Form 1 π ± nπ zu sprechen. Und er hat auch recht, dass man für Werte 2 der Form ±nπ den Sinus nicht sinnvollerweise als Verhältnis von Seitenlängen in geometrischen Figuren konstruieren kann. Der geometrisch konstruierbare Werteverlauf lässt sich hier jedoch, anders als beim Tangens, problemlos durch den Wert 0 fortsetzen, und zwar so, dass die Gesamtfunktion überall beliebig oft stetig differenzierbar ist. H. Hahn hat also auch recht, wenn er behauptet, dass vom Standpunkt der Analysis aus keine Sonderstellung der Winkel der Form ±nπ zuzugeben ist.

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Am Ende dieses § geht Bolzano wieder auf seine Theorie idealer Elemente ein: Man kann mit ihnen rechnen, wenn man sie als Faktoren in Produkten = 0 setzt und vermeidet, dass sie als Divisoren auftreten. Zu §. 44 (S. 121): Hier kritisiert Bolzano eine Arbeit von J. Schulz, der zufolge der Weltraum das Volumen 43 π∞3 habe, weil man ihn wie eine Kugel mit einem Radius ∞ auffassen könne. Der eigentliche Fehler in der entsprechenden Argumentation ist nicht, dass der Mittelpunkt der Kugel willkürlich wäre oder dass die Vorstellung von Strahlen, die von einem Mittelpunkt ausgehen, zu einer sehr ungleichen Punkte-Dichte zwischen Regionen in der Nähe und Regionen in der Ferne des Mittelpunktes führen würde, sondern dass der Autor die Halbstrahlen, die von einem Mittelpunkt ausgehen, wie Strecken (Bolzano sagt: Geraden) mit festen Endpunkten und bestimmter Länge behandelt hat. Ähnliche Kritik gilt gegenüber gewissen von Boskovich vorgebrachten Paradoxien. Die Tatsache, dass Bolzanos Rechnung mit dem Unendlichen nicht aufgeht, führt also hier zu der Einschränkung, dass Geraden nur endlich lang sein dürfen, obwohl es zuvor hieß, dass auch im Unendlichen die geometrischen Größenverhältnisse sich auf die Verhältnisse der entsprechenden Mengen an Punkten, aus denen die geometrischen Objekte bestehen, übertrügen. Zu §. 45 (S. 123): Hier weist Bolzano nochmals auf das Problem mit der Annahme unendlich kleiner Größen hin, wie man sie etwa in manchen geometrischen Begründungen für die Bestimmung der Krümmung einer gekrümmten Kurve o.ä. findet. Er erklärt die Fehlerfreiheit solch zweifelhafter Operationen damit, dass die Beispiele stets mehrfach differenzierbare Funktionen waren, sodass die Operationen letztlich auf den Wert der Ableitung führen konnten. Die Existenz der Ableitung erklärt er hier noch einmal durch Größenverhältnisse, die bestehen (oder angenähert werden), wenn die entsprechenden endlichen Strecken beliebig klein werden können. Hier steht also ganz richtig die Grenzwertauffassung im Hintergrund. – Bolzano weist ausdrücklich darauf hin, dass sehr viele paradoxe Formulierungen einzig aufgrund der Annahme der Existenz unendlich kleiner Linien

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anmerkungen des herausgebers

oder Flächen entstanden sind, etwa dass eine krumme Linie aus unendlich kleinen geraden Linien zusammengesetzt sei. Zu §. 46 (S. 124): Bolzano behandelt Galileis berühmten Scheinbeweis, dass die Umfangslinie eines Kreises gleich groß wie sein Mittelpunkt sei. Bolzanos Klärung ist dabei vor allem sprachlicher Natur: Konvergiert eine Folge immer kleinerer Kreise gegen den Mittelpunkt, so dürfe man doch nicht davon sprechen, die Kreise hätten sich zu einem Punkt zusammengezogen. Oder konvergiert eine Folge von Kreisringen gegen einen Kreisumfang, so werden die Kreisringe nicht zu einer Umfangslinie. Bolzano war der Prozess eines Grenzübergangs sehr klar. Die Formel π ⋅ pn 2 = π ⋅ pr 2 − π ⋅ pm 2 b

ergibt sich unter den gegebenen Voraussetzungen am einfachsten, wenn man das rechtwinklige Dreieck apm betrachtet. Der Satz des Pythagoras für dieses Dreieck liefert: ap2 + pm 2 = am 2 . Nach dem Strahlensatz ist aber ap pn = , ad cd wobei die beiden Quadratseiten ad und cd gleich sind. Daher folgt daraus: ap = pn. Außerdem liegen nach Konstruktion m und b auf demselben Kreis um a, d. h. am = ab = pr. Aus diesen drei Gleichungen folgt schließlich: pn 2 + pm 2 = pr 2 , und daraus ergibt sich die gesuchte Formel durch Äquivalenzumformung. Diese Formel stellt einen Zusammenhang her zwischen den

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Flächeninhalten des Kreises mit dem Radius pn um p und dem Kreisring um p mit Innenradius pm und Außenradius pr. Der Grenzübergang für pn → 0 ist hier relativ unproblematisch, zeigt aber nur, dass sowohl der Mittelpunkt p als auch die Umfangslinie des Ausgangskreises um a denselben Flächeninhalt haben, nämlich 0. Die Paradoxie entsteht hier entweder dadurch, dass der Ausdruck »Größe« doppeldeutig verwendet wird (einmal für den Flächeninhalt, einmal für etwas anderes, vielleicht die Länge einer Kurve), oder dadurch, dass wieder die irrige Auffassung im Hintergrund steht, die Größe oder der Flächeninhalt einer Punktmenge sei ein Maß für die Anzahl der darin enthaltenen Punkte. Zu §. 47 (S. 127): Die gemeine Zykloide ist die Kurve, die ein Punkt auf einem Kreis beim Abrollen des Kreises über die x-Achse zurücklegt. Bolzano bespricht die Paradoxie, dass diese Zykloide in (0, 0) eine unendlich große Steigung und einen unendlich kleinen Krümmungshalbmesser hat. Er löst das Problem, modern gesprochen, durch die Differenzierung dazwischen, dass die Zykloide in (0, 0) (wie in allen Punkten der Form (0, n ⋅ 2π)) nicht differenzierbar ist, die erste Ableitung an diesen Stellen eine Polstelle mit Vorzeichenwechsel von − nach + und die zweite eine Polstelle ohne Vorzeichenwechsel hat. Statt zu sagen, der Krümmungshalbmesser des Krümmungskreises (= Kreis mit gleicher Tangente und gleicher Krümmung wie die Kurve) sei unendlich klein, müsste man eigentlich sagen, dass die Kurve dort gar keinen Krümmungskreis hat, während der Radius des Krümmungskreises für x → 0 den Grenzwert 0 hat – was Bolzano auch beweist. Zu §. 48 (S. 129): In diesem § behandelt Bolzano geometrische Paradoxien, die mit der Größe eines geometrischen Objekts und seiner räumlichen Erstreckung zu tun haben. Er teilt sie in drei Klassen ein, die er getrennt bespricht:

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anmerkungen des herausgebers

1. Dass sich ein endlich großes Objekt unendlich weit erstrecken kann. – Bei unzusammenhängenden Objekten ist das genauso unproblematisch wie, dass eine unendliche Reihe eine endliche Summe hat. Bei zusammenhängenden Objekten muss man differenzieren: Bei Linien kann es nicht vorkommen, da Geraden kürzeste Linien sind, deren Länge aber gegen unendlich geht, wenn ihre Erstreckung gegen unendlich geht. Dazu dass Geraden, die in einem euklidischen Raum vorausgesetzt werden, kürzeste Linien sind, gibt Bolzano einen längeren Beweisansatz in der Fußnote S. 131 (s. dazu unten). Bei Flächen und Körpern hingegen kann es vorkommen, da dort die unendliche Erstreckung in einer oder zwei Dimensionen durch eine überproportionale Abnahme der Erstreckung in einer weiteren Dimension aufgehoben werden kann (z. B. eine Art Pyramide aus Quadern, deren Grundfläche mit dem Faktor 4 ins Unendliche wächst, während ihre Höhe mit dem Faktor 8 abnimmt). 2. Dass ein sich nur endlich weit erstreckendes Objekt unendlich groß sein kann. – Auch hier ist zu differenzieren: Das Phänomen kann bei Körpern nicht auftreten (da sich endlich weit erstreckende Körper innerhalb einer Kugel mit endlichem Volumen liegen). Wohl aber kann man unendlich lange Linien innerhalb einer begrenzten Fläche oder eines begrenzten Körpers haben oder auch unendlich große Flächen innerhalb eines begrenzten Körpers. Bolzano weist auch hier wieder auf seine Theorie hin, wonach in einer Fläche unendlichmal mehr Punkte als in einer Linie sind usw. 1 3. Dass sich ein endlich großes Objekt unendlich oft um einen Punkt herumwickeln kann. – Ein Beispiel ergibt sich 0 hier aus den Spiralen um einen Punkt: Die Anzahl der Umrundungen des Zentral-1 -1 0 1 2 punktes ist unbeschränkt, weil die Länge einer Umrundung beliebig klein werden kann. Dieses Beispiel erweitert Bolzano zu einem für Flächen, indem er eine Strecke, die senkrecht auf der Spiralebene steht, sozusagen über die ganze Spirale laufen lässt. Und dies erweitert er zu einem Beispiel für Körper, indem er eine im Lauf der Spirale abnehmende Tiefe einführt, die jedenfalls höchstens die Hälfte des Abstands zum nächsten Umlauf beträgt.

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Der Beweis in der Fußnote S. 131, dass im euklidischen Raum Geraden die kürzesten Verbindungslinien sind, hat den Defekt, dass er schon voraussetzt, dass es kürzeste Verbindungslinien gibt. Anders ausgedrückt: Bolzano zeigt zwar, dass es zu jeder von der Geraden ab abweichenden Linie eine kürzere gibt. Daraus folgt aber erst unter der weiteren Annahme, es gebe überhaupt eine kürzeste (also eine nicht weiter verkürzbare) Linie, dass ab diese Linie sein muss, weil alle anderen Linien ja, wie gezeigt, verkürzbar sind.

b

b

b

n Einheiten

n-1 Linien doppelt

Zu §. 49 (S. 136): In diesem § entwickelt Bolzano seine Lehre von unendlichen Größen anhand einer Reihe von 19 Beispielen. Manche davon geben Anlass zu positiven Aussagen seiner Theorie, andere nur zu negativen, d. h. zur Vermeidung von Aussagen. Positiv lässt sich Folgendes sagen: 1. Die Menge der Punkte auf einer beliebigen Strecke ist unendlich größer als eine abzählbare Folge von Punkten (weil diese Punkte die Strecke in Teilstrecken aufteilen, in denen man wieder abzählbare Folgen von Punkten finden kann). 2. Geometrische Gleichheit (nicht bloße Ähnlichkeit) impliziert gleichgroße Punktmengen (bei gleichem Umgang mit den Grenzpunkten). 3. Fügt man eine Strecke n-fach hintereinander zusammen und hat diese Strecke die unendliche Menge von Punkten E, so hat die Summe die Menge von Punkten nE −(n −1). Bei n Stücken muss man n-mal die Länge eines Stückes nehmen und die n−1 doppelt vorhandenen Endpunkte abziehen. 4. Das Quadrat über eine Strecke, die E-viele Punkte hat, hat E 2 viele Punkte. 5. Die Menge der Punkte m Einheiten in einem Rechteck ergibt sich als natürliche Fortsetzung dieser Vorschriften: Man multipliziert die Mengen von Punkten der erzeugenden Geram-1 Linien doppelt den (=n oder m-mal die (m-1)(n-1) Punkte doppelt abgezogen jeweilige Einheitsgerade N bzw. M) und zieht davon die n(m −1)+ m(n −1) doppelt vorhandenen Grenzlinien

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anmerkungen des herausgebers

mit E Punkten ab und addiert die (m − 1)(n − 1) nun doppelt abgezogenen Eckpunkte hinzu. 6. Die Menge der Punkte in einem Würfel von der Kantenlänge der Einheitslinie, die E Punkte hat, ist E 3 . 7. Die Menge der Punkte des Parallelepipeds (= ähnlich einem Quader, aber mit Parallelogrammen statt Rechtecken als Seitenflächen) ergibt sich in Verallgemeinerung der Berechnung beim Rechteck. 8. Eine beiderseits ins Unendliche gehende Gerade soll unendlichmal mehr Punkte haben als die Einheitsstrecke. 9. Ein Flächenstreifen zwischen zwei Parallelen muss einen unendlich großen Flächeninhalt haben; die Menge der Punkte in diesem Flächenstreifen muss unendlichmal größer sein als die Menge der Punkte im Einheitsquadrat (= E 2 ). 10. Eine (unbegrenzte) Ebene hat einen unendlichen Flächeninhalt, eine Menge von Punkten, die unendlichmal größer ist als die eines Parallelstreifens; alle solche Ebenen haben die gleiche Menge von Punkten. 11. Jeder der vier Winkelräume zweier sich schneidender Geraden enthält unendlich viele Flächenstreifen, die nach einer Seite hin unbegrenzt und damit unendlich groß sind. 12. Der Zwischenraum zwischen zwei parallelen Ebenen ist unendlich groß. Nur wenn zwei solche Zwischenräume denselben Abstand zwischen den Ebenen aufweisen, darf man sagen, dass sie eine gleichgroße Menge von Punkten enthalten. 13. Schneiden sich zwei Ebenen, sind die zwei sich jeweils gegenüberliegenden Räume geometrisch ähnlich. Andere Aussagen hält Bolzano jedoch für problematisch, weil sie auf Widersprüche führen: 9. Auf einer beiderseits unbegrenzten Geraden darf man keinen Punkt als Mittelpunkt auszeichnen. 11. Von keiner der lotrechten Verbindungen zwischen zwei Parallelen darf man sagen, sie zerlege die Fläche zwischen den Parallelen in zwei geometrisch gleiche Teile. 13. Auf einer unbegrenzten Ebene darf man keine Gerade als Mittellinie auszeichnen; d. h. man darf von keiner Geraden sagen, sie zerlege die Ebene in zwei geometrisch gleiche Teile. 14. Die sich gegenüberliegenden Winkelräume bei zwei sich schneidenden Geraden darf man nicht als geometrisch gleich ansehen.

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16. Bei einem von zwei parallelen Ebenen aufgespannten Zwischenraum darf man von keinem Parallelstreifen, der auf ihnen senkrecht steht, sagen, dass er den Zwischenraum in zwei gleichgroße Teile zerlege. 17. Schneiden sich zwei Ebenen, sind die zwei sich jeweils gegenüberliegenden Räume nicht geometrisch gleich groß zu nennen. 19. Eine Ebene zerlegt den Raum in zwei Teile, die man weder vom Rauminhalt her als gleich groß bezeichnen darf noch von der Menge ihrer Punkte her. Überhaupt vermeidet Bolzano es, Halbgeraden, Halbebenen oder Halbräume in den Vergleich der Punktemengen einzubeziehen – wohl im Bewußtsein dessen, dass dann ebenfalls die in 9., 11. und 19. diskutierten Widersprüche drohen würden. Van Rootselaar hält Bolzanos Größenvergleiche für »nicht falsch, aber unbegründet«. Im Verhältnis zur späteren Cantorschen Theorie mag das zutreffen. Danach hat zwar die in 1. ausgehobene Menge von Punkten einer Strecke, da sie abzählbar ist, eine kleinere Mächtigkeit als die Strecke selbst. Ob bei einer Strecke aber die Endpunkte mit einbezogen werden oder nicht, macht kardinalitätsmäßig keinen Unterschied. Überraschend mag sein, dass auch Strecke und unendliche Gerade sowie die Menge aller Punkte einer Ebene oder des gesamten Raumes dieselbe Mächtigkeit haben wie die Strecke. Bolzano hat jedenfalls schon gesehen, dass man verschiedene unendliche Größen unterscheiden muss. Und er hat das wichtigste Ingredienz der späteren mathematischen Standarddefinition unendlicher Mengen, nämlich die Äquivalenz mit einer echten Teilmenge, als Spezifikum unendlicher Mengen erkannt. Den Durchbruch zu einer befriedigenden mathematischen Theorie unendlicher Größen hat er jedoch nicht geschafft. Die beiden wichtigsten Hinderungsgründe waren wohl sein Festhalten am euklidischen Axiom, dass das Ganze größer als sein Teil ist, und seine damit verbundene Weigerung, den Größenbegriff als Invariante der ein-eindeutigen Abbildbarkeit anzusehen (vgl. dazu die Anmerkungen zu §. 20f., S. 184f., und zu §. 42, S. 203). Mit diesem § endet die Auseinandersetzung mit den Paradoxien der Mathematik bzw. der Größenlehre. Zu §. 50 (S. 143): Mit §. 50 beginnt Bolzano die Diskussion von physikalischen und metaphysischen Paradoxien. Diese beiden Disziplinen darf man sich im

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frühen 19. Jahrhundert nicht so getrennt vorstellen wie heute üblich. Bolzano behauptet hier drei ontologische Prinzipien: 1. Es gibt keine zwei völlig gleichen Dinge, also auch keine zwei völlig gleichen Atome oder einfache Substanzen (entspricht dem Leibnizschen Prinzip der identitas indiscernibilium). 2. Aus der Existenz von zusammengesetzten Körpern folgt notwendigerweise die Existenz von einfachen Substanzen. 3. Einfache Substanzen verändern sich fortwährend. Den stärksten Widerstand gegen diese Ansichten vermutet Bolzano unter Physikern, die gegenüber ontologischen Überlegungen auf die reine Erfahrung pochen. Daher folgt eine recht interessante Auseinandersetzung mit einigen empiristischen Thesen: 1. Erfahrung lehre, dass es bei den kleinsten Teilen der Körper keine Unterschiede gebe. – Nach Bolzano kann bloße Erfahrung nur lehren, dass man gewisse Anschauungen oder Vorstellungen hat. Alles darüber Hinausgehende wie Fragen nach Herkunft, Ursachen und Beschaffenheit dieser Anschauungen ergibt sich daraus nicht ohne »reine Begriffswahrheiten«, die zur Erfahrung hinzukommen müssen. Bolzano bietet überdies einen Beweisansatz für das Prinzip der identitas indiscernibilium. Wenn er darin annimmt, dass es zu zwei Dingen A und B schon eine Vorstellung an sich V geben müsse, so dass A unter V fällt, B aber nicht, scheint er auf einer anderen Ebene schon ein ähnliches Prinzip vorauszusetzen wie das, was er beweisen will. 2. Erfahrung lehre, dass Körper zusammengesetzt sind. – Dem stimmt Bolzano grundsätzlich zu und fügt hinzu, dass wir auch die Ansicht, dass es mehrere Dinge gibt, aus der Erfahrung haben. Allerdings auch hier nicht aus der bloßen Erfahrung, sondern aus Erfahrung plus Begriffswahrheiten. 3. Erfahrung zeige keine permanente Veränderung alles Wirklichen. – Manches erfahren wir unmittelbar als permanent sich verändernd, etwa unsere Seele. Anderes erst durch Erfahrung plus Vernunfteinsicht. Zentral für das Folgende ist schließlich das Argument dafür, dass man die makroskopischen Veränderungen nur erklären kann, wenn man nicht nur Änderungen in den äußeren Verhältnissen der einfachen Substanzen annimmt, sondern auch Veränderungen ihrer inneren Beschaffenheiten, wie speziell ihrer Kräfte, d. h. ihrer Fähigkeiten, aufeinander einzuwirken.

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Man sollte noch bemerken, dass Bolzano den Atomismus verteidigt, der im 19. Jahrhundert stark gelitten hat, u. a. unter dem von Bolzano diskutierten Einwand, dass niemand die Atome je wahrgenommen habe. Noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts konnte Boltzmann nach Aufstellung seiner kinetischen Gastheorie sehr enttäuscht sein über die geringe Resonanz, die seine atomare Theorie unter Physikern gefunden hat. Erst die Rutherfordschen Experimente haben das Blatt gewendet. Teile der von Bolzano in den §§. 50–69 dargestellten physikalischen Theorien findet man in MM S. 1848–1855 (Zur Physik, den 5. Okt. 1827); vgl. auch die Aphorismen zur Physik, an denen Bolzano um 1840 arbeitete;12 sowie Prihonsky, Atomenlehre [2003]. Seine Monadenlehre entfaltet Bolzano in der Athanasia. Zu §. 51 (S. 147): Bolzano geht an die Ende §. 50 angekündigte Widerlegung von sieben sog. »Schulmeinungen«, die er durchnummeriert auf die §§. 51– 57 verteilt. Die erste Schulmeinung besagt, dass die Materie außer der Trägheit keine »Kräfte« besitze. Für ihn ist es im Gegenteil ein begrifflicher Bestandteil von »Wirklichkeit«, dass etwas Wirkliches wirkt, also die entsprechenden Kräfte haben muss. Solche Kräfte gibt es »in Wirklichkeit« unendlich viele. Die kontrafaktische Hypothese, es gäbe nur einige wenige Kräfte, die auf eine Substanz an einem Ort einwirken, könne durchaus sinnvoll sein, um sich in bestimmten Situationen einen ersten Überblick zu verschaffen. Man dürfe nur nicht vergessen, dass es sich dabei um eine Fiktion handelt. Die Ausführungen Bolzanos hierzu klingen fast wie eine rudimentäre Theorie von Gedankenexperimenten, wenn er davon spricht, sich »Körper und Beschaffenheiten derselben zu denken, die in der Wirklichkeit gar nicht vorhanden sind, um zu bestimmen, was diese hervorbringen würden«. Zu §. 52 (S. 148): Die zweite Schulmeinung ist die Ablehnung jeglicher unmittelbaren Einwirkung von Substanzen aufeinander. Für Bolzano ist es geradezu unvorstellbar, dass alle Einwirkungen vermittelt wären. Und daraus scheint sich zu ergeben, dass zumindest manche Einwirkungen unmittelbar sein müssen. 12

Berg, Bolzano’s Logic [1962], 25.

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anmerkungen des herausgebers

Dass dies nicht der Fall ist, hat van Rootselaar deutlich gemacht. Daraus, dass alle Einwirkungen vermittelt sind, ergibt sich nur Folgendes: Eine vermittelte Einwirkung von a auf b setzt ein Mittel b 1 voraus, auf das a einwirkt und das seinerseits auf b einwirkt. Für diese Einwirkungen bräuchte es weiterhin ein b 11 , das das Mittel zwischen a und b 1 ist, und ein b 12 , das das Mittel zwischen b 1 und b ist. Damit auch diese Vermittlungen wieder mittelbare sind, bräuchte es ein b 111 zwischen a und b 11 , ein b 112 zwischen b 11 und b 1 , ein b 121 zwischen b 1 und b 12 und ein b 122 zwischen b 12 und b, usw. Man hätte also etwa folgende kontinuumsartige Struktur: a ↝ b1 ↝ b a ↝ b 11 ↝ b 1 ↝ b 12 ↝ b a↝b 111 ↝b 11 ↝b 112 ↝b 1 ↝b 121 ↝b 12 ↝b 122 ↝b ⋮ Wie Bolzano weiß, kann es eine solche Struktur geben (z. B. ein Intervall der rationalen Zahlen), ohne dass es zwei Punkte darin geben müsste, die in der unvermittelten Relation stehen. Man vgl. nur seine Ausführungen in §. 38, dass es zwischen zwei Punkten in Zeit/Raum (zwei reellen Zahlen) unendlich viele weitere Punkte gibt und es keine zwei Punkte gibt, die sich direkt berühren. Bolzano ist also gegen eine apriorische Ablehnung unmittelbarer Einwirkungen, obwohl er den mittelbaren wissenschaftstheoretische Priorität zubilligt: Würde man vorschnell Einwirkungen zu unmittelbaren erklären, könnte das notwendige wissenschaftliche Forschung verhindern. Man sollte unmittelbare Einwirkungen daher nicht ohne Beweis akzeptieren, sie aber auch nicht a priori ablehnen. Bolzano hielt die Hypothese der prästabilierten Harmonie für einen kosmologischen »Unfall«. Der von ihm sehr verehrte Leibniz habe darauf nur aufgrund seiner apriorischen Ablehnung unmittelbarer Einwirkungen zurückgegriffen und weil er sich keine Vermittlung der Wirkungen einfacher Substanzen vorstellen konnte. Zu §. 53 (S. 148): Die dritte Schulmeinung betrifft die Ablehnung der Fernwirkung (actio in distans). Bolzano hält dem entgegen, dass ganz im Gegenteil jede Einwirkung einer Substanz auf eine andere eine Fernwirkung sei, weil zwei einfache Substanzen zu einer bestimmten Zeit nicht am selben Ort sein können. Instantane Fernwirkungen waren in der

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klassischen Physik lange umstritten, wurden dann mit der Relativitätstheorie aus der Physik ausgeschieden (da sich Wirkungen danach nur höchstens mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten können), später aber durch die Theorie der Quantenverschränkung wieder neu aufgegriffen. Die überaus positive Haltung Bolzanos zu Fernwirkungen könnte zur Vermutung Anlass geben, dass er die Ätherhypothese abgelehnt hätte. Dem ist aber nicht so, siehe §. 63. Zu §. 54 (S. 149): Die vierte Schulmeinung betrifft den Versuch, die Natur chemischer Verbindungen mittels einer gegenseitigen Durchdringung von Substanzen zu erklären. Van Rootselaar zufolge vertraten eher Chemiker und Experimentalphysiker diese Theorie, während theoretische Physiker eher Bolzanos Ansicht waren, dass Substanzen sich nicht durchdringen können. Nach Bolzanos Theorie ist der Raum nichts anderes als der Grund dafür, dass die dort befindlichen Substanzen mit den ihnen eigenen Beschaffenheiten gerade so und nicht anders aufeinander einwirken, wie sie es tun (vgl. §. 40). Wären also zwei Substanzen an einem Ort, wäre ihre Einwirkung aufeinander unbestimmbar – im Gegensatz zum Prinzip der durchgängigen Bestimmtheit alles Wirklichen (vgl. §. 26; zum Verhältnis zum modernen Atombegriff vgl. auch die Anmerkung zu §. 59, S. 217). Zu §. 55 (S. 149): Nach der fünften, nun eher philosophischen Schulmeinung sind geistige Wesen nicht-räumlich. Bolzano führt dies auf Descartes’ Dualismus aus res cogitans und res extensa zurück, sowie auf Kants Lehren von Zeit und Raum als bloßen Anschauungsformen und der Gegenüberstellung von intelligibler Welt und Sinnenwelt. Seine Gegenargumente führt er hier nicht aus, sondern verweist auf die Ausführungen in WL und Athanasia, einem Werk, in dem es u. a. um die Unsterblichkeit der Seele geht. Bolzanos Formulierung, dass nach Descartes ein geistiges Wesen nicht als »auch nur einen einzigen Punkt im Raume durch seine Gegenwart erfüllend« angesehen werden dürfe, lässt vermuten, dass hinter seiner Theorie hier auch philosophisch-theologische Motive stecken, etwa die Möglichkeit offenzuhalten, dass Gott als ein rein geistiges Wesen im Raum allgegenwärtig ist. Vgl. dazu auch RW I

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anmerkungen des herausgebers

§ 80, III § 105–109, worin »gegenwärtig sein« für geistige und materielle Wesen verschieden gedeutet wird: als »ausfüllen« (materiell) und als »wirksam sein« (geistig). Zu §. 56 (S. 150): Die sechste Schulmeinung betrifft das Leib-Seele-Problem bzw. speziell die Frage, wie der Dualist das Interaktionsproblem lösen kann. Da Bolzano hier keine kategorische Grenze zwischen zwei Arten von Substanzen sieht, stellt sich das Problem von seiner monistischen Theorie her so gar nicht. Während gewisse Wirkungen (z. B. die Wirkung unseres Willens, einen Stein zu werfen, auf den Stein) durch Organismen wie unseren Körper vermittelt sind, seien andere eben unmittelbar (z. B. die Wirkung unseres Willens, einen Stein zu werfen, auf unser zentrales Nervensystem, das seinerseits den motorischen Wurf veranlasst). Merkwürdig ist die Behauptung, dass, während es über die vermittelten Einwirkungen noch viel zu forschen gäbe, die unmittelbaren Einwirkungen nichts Geheimes und Verborgenes an sich hätten. Haben nicht Gottes Einwirkungen, die doch wenigstens teilweise unmittelbar sind (RW I § 79), viel für uns Geheimes und Verborgenes an sich (van Rootselaar)? Zu §. 57 (S. 151): Die siebte und letzte Schulmeinung, der Bolzano entgegentritt, ist der Dynamismus, d. h. die Lehre, das Universum bestehe aus bloßen Kräften ohne Substanzen. Dies vertrat etwa Boskovich in seiner Theoria. Bolzano zufolge ist nicht alles, was Beschaffenheiten hat, eine Substanz. Auch Beschaffenheiten (Adhärenzen) haben Beschaffenheiten (Adhärenzen), ohne dass sie Substanzen wären (vgl. Athanasia 22). Eine Substanz ist vielmehr etwas Wirkliches, das keine Beschaffenheit ist (vgl. RW I § 70).13 Eine Kraft zu haben ist der Grund dafür, dass etwas etwas Anderes bewirkt. Wäre eine Kraft daher nicht eine Beschaffenheit einer Substanz, dann müsste sie, weil sie als etwas Bewirkendes etwas Wirkliches (= Wirksames), eine Substanz sein. Bolzanos Ausführungen sind nicht vollkommen eindeutig in Bezug auf die Frage, ob er tatsächlich eine Theorie trägerloser Kräfte bzw. von Kräften-als-Substanzen für möglich gehalten hat. Van 13

Zu Bolzanos Lehre von Substanz und Adhärenz siehe Schnieder, Substanz [2002].

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Rootselaar hat auf Spannungen aufmerksam gemacht, die zwischen einer solchen Auffassung und Bolzanos sonstiger Theorie bestehen. So können zwei Substanzen nicht zugleich an einem Ort sein (vgl. §. 54), während es erlaubt ist, zwei oder mehr Kräfte an einem Ort zusammenzusetzen. Als unmittelbarer Ausweg wäre denkbar, dass nur die nicht-substanzialen Kräfte zusammengesetzt sein können. Außerdem müsste man unterscheiden, ob man den Ort einer Kraft meint oder den Ort ihrer Wirkung. Da Bolzano mit Fernwirkungen rechnet, sind beide Orte in der Regel verschieden. Während das Durchdringungsverbot sich auf den Ort der Kräfte, also den Ort der Ursache einer Veränderung bezieht, bezieht sich die Zusammensetzung von Kräften wohl eher auf den Ort von deren Wirkungen. Es liegt daher nahe, die Ausführungen dieses § als Reductio ad absurdum zu lesen. Eine trägerlose Kraft wäre dann ein »hölzernes Eisen«. Zu §. 58 (S. 152): Bolzano nimmt eine qualitative Stufung der Schöpfung mit unendlich vielen Stufen nach oben und nach unten an. Trotz der tatsächlich stattfindenden Entwicklung habe es zu jeder Zeit auf all diesen Stufen schon Geschöpfe gegeben. Dass es dann weder eine niedrigste noch eine höchste Stufe gibt und dass manche Geschöpfe trotz der Ewigkeit der Welt, mit der Bolzano rechnete, noch auf den unteren Stufen stünden, ist nur scheinbar paradox, denn jede Stufe könnte trotz ihrer vertikalen Endlichkeit in einer anderen Dimension unendlich sein und daher einem unbegrenzten Fortschreiten auf ein und derselben Stufe Raum geben (vgl. §. 38 u. ö.). Zu §. 59 (S. 152): Hier geht Bolzano auf ein Paradoxon ein, das mit der Veränderbarkeit der Dichte von Stoffen zu tun hat. Noch im frühen 19. Jahrhundert nahmen Physiker an, die Porosität von Stoffen erkläre, wohin sich die scheinbar überzähligen Atome beim Komprimieren auf ein geringeres Volumen flüchten. Dass ein und dieselbe Menge von Atomen zwei verschiedene Raumvolumina ganz ausfüllen kann, ist nun das Paradoxon. Bolzano kann es dadurch erledigen, dass er eine unendliche Menge von Atomen annimmt. Diese kann man dann auf verschiedene Weise umgruppieren. Spätestens in diesem § wird deutlich, dass Bolzano einen anderen Atombegriff hatte als die heutige Physik: Ein aus Elektronen und ei-

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anmerkungen des herausgebers

nem Kern aufgebautes Atom ist in kleinere Bausteine zerlegbar und in diesem Sinne nicht unteilbar, wie es der Ausdruck »atomos« eigentlich fordern würde. Insbesondere sind moderne Atome keine einfachen Substanzen. Zu §. 60 (S. 153): Eine global wirkende Kraft muss in einem unendlichen Universum auf unendlich vieles wirken. An dem Begriff einer solchen Kraft, durch die jede Substanz auf jede andere einwirkt und deren Stärke irgendwie mit dem Abstand zwischen den Substanzen abnimmt, findet Bolzano nichts Widersprüchliches. Ein Beispiel aus der modernen Physik wäre die Gravitation (die genauer mit dem Quadrat des Abstandes abnimmt). Zu §. 61 (S. 154): Hier geht Bolzano auf seine Theorie der beherrschenden Substanzen ein, wie er sie in der Athanasia (1829) entwickelt hat. In einer solchen Theorie drohte eine Paradoxie, falls eine bestimmte Substanz eine Vielheit anderer Substanzen nur dann beherrschen könnte, wenn ihre Kraft die Summe aller Kräfte dieser Substanzen übersteigt. Dann könnte es vorkommen, dass sie die anderen unendlichfach übersteigen würde. Der Fall tritt jedoch gar nicht ein, da sich der Kräftevergleich zwischen den Kräften einer beherrschenden und einer beherrschten Substanz abspielt und nicht zwischen jener und der Summe aller beherrschten Substanzen. Da nach Bolzano eine doppelt so starke Substanz auch doppelt so stark auf die schwächere einwirkt wie diese schwächere auf die doppelt so starke, lehnt er anscheinend das 3. Newtonsche Axiom von Kraft und Gegenkraft (actio et reactio) ab. Zu §. 62 (S. 155): Aus der Definition von beherrschten Substanzen folgt nur im Fall endlicher Mengen von Substanzen, dass es eine Substanz mit maximaler Kraft und somit eine beherrschende Substanz geben muss. (Wenn überhaupt, denn es könnte auch zwei Substanzen mit maximaler Kraft geben – dann wäre die Bedingung, dass die Beherrschende alle Umliegenden beherrscht, nicht erfüllt.) Im Fall unendlicher Mengen von Substanzen kann jede jedoch dominiert werden, ohne dass es ein Maximum geben müsste.

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Zu §. 63 (S. 155): Körper sind nach Bolzanos Theorie Haufen endlicher Größe von herrschenden Substanzen samt einer Hülle aus dienenden Substanzen. Den »übrigen Weltstoff, der, ohne ausgezeichnete Atome zu besitzen, alle sonstwo vorhandenen Räume erfüllt und somit alle Körper der Welt verbindet«, nennt er »Äther«. Mittels eines Prinzips, das Leibnizens identitas indiscernibilium ähnelt, – nämlich dass zwei Substanzen sich in ihren Kräften unterscheiden müssen – argumentiert Bolzano für eine sog. »Empfindungsfähigkeit« der Substanzen. Abstoßungs- und Anziehungskräfte, also relationale Größen, will er auf die Beschaffenheiten der beteiligten Substanzen zurückführen, nämlich die sog. »Genehmheit«: Zwei ausgezeichneten Substanzen sei nicht jede Entfernung voneinander »gleichgenehm« oder »gleichwohltuend«. Nach längeren Erwägungen verschiedenster Art kommt er zu dem »wichtigen Schlußsatze, dass zwischen allen Körpern, wenn ihre Entfernung voneinander erst eine hinreichende Größe besitzt, eine Kraft der Anziehung bestehe, die sich gerade wie die Summe ihrer Massen (d. h. die Menge ihrer Atome), und umgekehrt wie das Quadrat ihrer Entfernung verhält« – ein Theorem, das stark an das Gravitationsgesetz erinnert, auch wenn hier von Summen und nicht dem Produkt der Massen die Rede ist. Vgl. zu dieser Theorie auch die sehr ähnliche Theorie in Boskovich, Theoria. Man sieht auch, wie stark die Theorie der chemischen Elemente zur damaligen Zeit selbst bei so naturwissenschaftlich orientierten Denkern wie Bolzano noch mit größter Skepsis bedacht wurde. Bolzano weist in diesem Zusammenhang auf eine Erklärungslücke in der klassischen Mechanik hin, nämlich die Gleichheit von träger und schwerer Masse (bzw. die Äquivalenz von Masse und Gewicht), wie sie in der Relativitätstheorie quasi axiomatisch vorausgesetzt wird. Zu §. 64 (S. 159): Bolzano erklärt gewisse Abstoßungseffekte, die hier nicht näher spezifiziert werden, durch eine erhöhte Dichte von beherrschten Atomen in der Umgebung einer herrschenden Substanz. Dadurch seien die beherrschten Atome dichter beieinander als sonst und entwickelten das Bestreben, sich voneinander zu entfernen. Eine ursprüngliche Abstoßungskraft zwischen Ätheratomen müsse man dazu nicht fordern.

220

anmerkungen des herausgebers

Zu §. 65 (S. 159): Aus seiner Äthertheorie leitet Bolzano hier die Folgerung ab, dass ausgezeichnete Substanzen immer einen Teil ihrer nächsten Ätherumgebung behalten – egal wie sie bewegt werden. Zu §. 66 (S. 160): Mögliche Paradoxien im Zusammenhang mit den Außengrenzen von Körpern löst Bolzano mittels seiner Theorie, dass bestimmte Ätheratome noch zu dem Körper selbst gehören, und zwar dann, wenn sie von ihm stärker angezogen werden als von anderen herrschenden Atomen, d. h. wenn sie beim Wegbewegen des Körpers mit ihm fortziehen würden (ggf. mit anderer Geschwindigkeit, aber doch so, dass nichts dazwischen kommen kann). Grenzen eines Körpers sind damit von äußeren Einwirkungen abhängig und sehr wandelbar. Bolzano bemerkt auch, dass manche Körper dann an gewissen Stellen gar keine Grenzatome haben können, denn – so könnten wir mit der heutigen Mathematik argumentieren – wenn ein Grenzatom ein äußerstes sein muss, muss es zum topologischen Rand eines Körpers gehören. Bei echter Berührung zwischen den beiden Körpern kann daher mindestens ein Körper an der Berührungsstelle kein Grenzatom haben – es würde sonst zu beiden Körpern gehören. Zu §. 67 (S. 161): Bolzano entwickelt hier seine physikalischen Ansichten weiter, nach denen es kein absolutes Vakuum gibt. Daraus folgt, dass sich jeder Körper an all seinen Außenflächen mit Anderem berührt: anderen Körpern, Luft oder dem »bloßen Äther« – wenn man unter »berühren« versteht, dass manche Atome des einen mit manchen des anderen eine »stetige Ausdehnung« bilden. Zu §. 68 (S. 162): Da der Weltraum zwar nicht leer, aber doch unterschiedlich dicht gefüllt ist (vgl. §. 59), ist nach Bolzanos Theorie eine Vielzahl von Bewegungen der Körper im Raum möglich und nicht nur gleichförmige, bei denen Teile immer nur mit anderen die Orte wechseln. Insbesondere gibt es nach Bolzano Schwing- und Drehbewegungen. In einer Schwingbewegung befänden sich alle Ätheratome und fast alle dominanten Atome. – Den Grund hierfür findet Bolzano jedoch zu offensichtlich (!), um ihn anzugeben.

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Zu §. 69 (S. 163): Bolzano geht davon aus, dass mathematische Beschreibungen von Bahnen physikalischer Gegenstände in dem Sinne Idealisierungen sind, dass man aufgrund verschiedenster Störungen kaum je einen Körper antreffen wird, der sich genau auf solchen Bahnen bewegt. Das bedeutet jedoch nicht, dass perfekt gradlinige oder kreisförmige Bewegungen etwas in sich Unmögliches wären – sie treten nur so gut wie nie auf. Im Gegensatz dazu ist es jedoch unmöglich, dass sich etwa eine Kugel in endlicher Zeit auf einer logarithmischen Spirale auf ein Zentrum zu bewegt oder gar dieses Zentrum erreichen würde. Aufgrund der unbeschränkt wachsenden Winkelgeschwindigkeit müssten dabei nämlich die Beschleunigungskräfte unbeschränkt wachsen. Da das unmöglich ist, wäre es ein unerlaubter Grenzübergang, zu behaupten, dass die Kugel jemals tatsächlich das Zentrum erreichen würde. Ähnlich beantwortet Bolzano die »neckende Frage«, ob ein unendliches Universum als Ganzes sich drehen oder irgendwohin bewegen könne. Dies sei nicht aufgrund irgendeines Widerspruchs zwischen der Geometrie der Bewegung und der unendlichen Ausdehnung unmöglich, sondern weil dazu eine unendliche Kraft aufgewendet werden müsste, die keine Substanz im Universum besitzt. Zu §. 70 (S. 165): Bolzano beschließt sein Werk mit zwei Paradoxien von Boscovich und Euler. Die erste ist folgende: Ein Massepunkt, der bei a in Bewegung nicht auf c hin ist, aber von c aus angezogen wird, wird eine elliptische Kurve um c beschreiben. Geht nun der Anteil seiner Bewegung, der nicht in Richtung c ist, gegen 0, so müsste die elliptische in eine oszillierende Bewegung umschlagen, wie Euler unter Berufung auf Stetigkeitsprinzipien schließt. Bolzano tadelt diesen Schluss, da seiner Ansicht nach Stetigkeitsprinzipien hier nichts austragen. Der Fehlschluss Eulers liege darin, dass er eine Kraft ins Unendliche wachsen lässt, was grundsätzlich unmöglich sei (im Gegensatz zur ausdrücklichen Annahme eines unendlichen Raumes). Bolzanos Behandlung der ersten Paradoxie ist nicht völlig befriedigend. Man kann sie besser als Beispiel eines unerlaubten Grenzüberganges auffassen. Vgl. auch Boskovich, Theoria, Supplement IV; Bolzano MM, S. 1870.

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anmerkungen des herausgebers

Ein zweites Paradoxon besteht in der Pendelbewegung durch einen unendlich kleinen Bogen. Auch hier sieht Bolzano einen reinen Fehlschluss. Abstrakt gesprochen besteht er darin, dass sich Eigenschaften von einer Folge von Gegenständen (hier: Bögen und Sehnen), die gegen einen Grenzgegenstand konvergiert (hier: Bogen und Chorde), nicht auf diesen Grenzgegenstand übertragen müssen. Bolzanos Aufklärung der zweiten Paradoxie ist durchaus treffend. Der Grenzwert für die halbe Schwingungszeit (= 41 Periode) eines einfachen Pendels der Länge r für eine Auslenkung α, die gegen Null π √ geht, ist 2 ⋅ rg (g ist die Erdbeschleunigung). Der Grenzwert für die Fallzeit auf der schiefen Ebene, die der Sehne durch den halben Schwingungskreis entspricht, berechnet sich wie folgt: Auf einer im Winkel α gegen die Horizontale geneigten schiefen Ebene ist die Beschleunigung g ⋅sin α. Der Zusammenhang zwischen Weg s und Fallzeit t ist daher: g ⋅ sin α ⋅ t 2 s= . 2 Der Weg s aber ist die zum Zentralwinkel 2α gehörige Sehne des Kreises vom Radius r, also s = 2r ⋅ sin α. Daraus folgt: √ t =2⋅ √

√ nicht wie Bolzano schreibt

2⋅

r , g

r . g

Die angebliche Paradoxie, dass beide Werte nicht übereinstimmen, löst Bolzano völlig zufriedenstellend auf: Es gibt keinen Grund, warum die Differenz der Werte beim Übergang zu den Grenzwerten für Auslenkung gegen Null verschwinden sollte, wie ja auch andere Unterschiede zwischen Kreis und Sehne nicht verschwinden, z. B. die Krümmung des Kreises r1 und die Krümmung 0 der Sehne. Das Beispiel zeigt recht anschaulich, zu welchen Fehlern es führen kann, mit Identitäten unendlich kleiner Größen zu operieren, anstatt sorgfältige Grenzwertbetrachtungen anzustellen. Dies gilt insbesondere dann, wenn Verhältnisse zwischen den Grenzobjekten aus den Verhältnissen zwischen den gegen sie konvergierenden endlichen Objekten abgeleitet werden sollen.

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