Paradoxien des Zuschauens: Die Rolle des Publikums im zeitgenössischen Theater [1. Aufl.] 9783839408537

Gegenstand dieses Buches ist die Art und Weise, in der der Zuschauer in zeitgenössischen Theaterformen »eine Rolle spiel

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Paradoxien des Zuschauens: Die Rolle des Publikums im zeitgenössischen Theater [1. Aufl.]
 9783839408537

Table of contents :
INHALT
Vorwort
Zur Einleitung: Rollen des Zuschauers im postdramatischen Theater
Vom Zuschauer
Dialoge mit dem Publikum
There is a Word for People like you: Audience
Was ist das Besondere am Theater?
Von ferngesteuerten Zuschauern und einem mobilen Guckkasten. Interview von Jan Deck mit Stefan Kaegi
Expect Expectation – Gestaltung der Erwartungshaltung als Teil der „Over-All-Dramaturgy“
Zuschauer in Bewegung – Randgänge theatraler Praxis
Autorinnen und Autoren
Abbildungsverzeichnis

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Jan Deck, Angelika Sieburg (Hg.) Paradoxien des Zuschauens

T h e a t e r | Band 3

2008-07-15 10-48-22 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b2184013786688|(S.

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2008-07-15 10-48-22 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b2184013786688|(S.

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Jan Deck, Angelika Sieburg (Hg.) Paradoxien des Zuschauens. Die Rolle des Publikums im zeitgenössischen Theater

2008-07-15 10-48-22 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b2184013786688|(S.

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Gefördert mit den Mitteln des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Rimini Protokoll, »Cargo Sofia«, © Stefan Kaegi Lektorat: Karin Jung Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-853-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2008-07-15 10-48-22 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b2184013786688|(S.

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INHALT Vorwort ANGELIKA SIEBURG 7 Zur Einleitung: Rollen des Zuschauers im postdramatischen Theater JAN DECK 9 Vom Zuschauer HANS-THIES LEHMANN 21 Dialoge mit dem Publikum CHRISTEL WEILER 27 There is a Word for People like you: Audience FLORIAN MALZACHER 41 Was ist das Besondere am Theater? CARL HEGEMANN 55 Von ferngesteuerten Zuschauern und einem mobilen Guckkasten. Interview von Jan Deck mit Stefan Kaegi JAN DECK / STEFAN KAEGI 63 Expect Expectation – Gestaltung der Erwartungshaltung als Teil der „Over-All-Dramaturgy“ MAX SCHUMACHER 73 Zuschauer in Bewegung – Randgänge theatraler Praxis PATRICK PRIMAVESI 85 Autorinnen und Autoren 107 Abbildungsverzeichnis 111

VORWORT ANGELIKA SIEBURG In die Debatte über den Zuschauer im Theater ist wieder neuer Schwung gekommen. Dank zeitgenössischer Theaterformen wird die Frage nach der Rolle des Zuschauers wieder in den Fokus gerückt. Im klassischen Theater gelten die Zuschauer als passive Rezipienten, die sich mit dem Bühnengeschehen einfühlend identifizieren. Das Theater wurde in diesem Zusammenhang als Nachahmung von Wirklichkeit konzipiert. Seit Brechts epischem Theater rückt der Zuschauer jedoch immer mehr in den Mittelpunkt theatraler Diskussion und Praxis. Seitdem gilt das Ideal des „aktiven Zuschauers“, der Distanz zum Geschehen auf der „Bühne“ herstellt, es wach und kritisch betrachtet und hinterfragt. Im zeitgenössischen, sogenannten postdramatischen Theater ist der Zuschauer oft Hauptaugenmerk der Performance, nicht selten sogar Teilnehmer. Dabei wird auch vom Zuschauer eine neue Form der Offenheit verlangt. Es geht nicht darum, die berechtigten Erwartungen, für sein Geld unterhalten zu werden und dabei auch im Sinne von ästhetischer Bildung etwas „mitzunehmen“, über Bord zu werfen. Auch wenn man bisweilen angesprochen, beleidigt, bedrängt wird, geht es darum, die Grenzen zwischen Publikum und Performern neu auszuloten. Deshalb ist es gut, auf alles vorbereitet und nach allen Seiten offen zu sein, wenn man das Terrain des zeitgenössischen Theaters betritt. Diese Offenheit zu fördern und Lust auf Theaterexperimente zu machen ist das Ziel dieser Publikation. Ebenso wie die neuen und hohen Anforderungen der Theaterschaffenden an ihr Publikum aufzuzeigen. Die Beiträge sind größtenteils Referate, die auf dem Symposion „Leaving the route 2 – Die Rolle des Zuschauers“ gehalten wurden, bei einigen der vorliegenden Texte handelt es sich um leicht bearbeitete Versionen der eingereichten Transkripte. Veranstalter war der Landesverband Professionelles Freies Theater Hessen (laPROF), dem beide Herausgeber angehören. Unser Verband hat neben der Interessenvertretung freier darstellender Künstler auch das Ziel, zeitgenössische Theateransätze zu fördern und sie bei Publikum und Geldgebern 7

ANGELIKA SIEBURG

bekannt und verständlich zu machen. Verschiedene Ansätze des sogenannten postdramatischen Theaters wurden und werden in der freien Szene entwickelt. Deshalb sehen wir es als unsere Aufgabe, solchen Theaterkonzepten und ihren Akteuren eine Lobby jenseits der traditionellen Stadt- und Staatstheater zu schaffen. Bei der Realisierung von Symposion und Buch sind wir vielen zu Dank verpflichtet. Allen voran dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst für die finanzielle Unterstützung. Und dabei besonders dem Theaterreferenten Albert Zetzsche, der ein wichtiger Förderer der freien Szene in Hessen ist. Auch dem Künstlerhaus Mousonturm und hier besonders Johanna Milz und dem plateauxKurator Jan-Philipp Possmann sind wir dankbar für die Möglichkeit, in Kooperation mit dem Haus und dem Festival zu arbeiten. Außerdem danken wir Cornelia-Katrin von Plottnitz für ihre Unterstützung im Kontext des Frankfurter Römers. Wir danken auch unserer sehr zuverlässigen Lektorin Karin Jung. Und nicht zuletzt Dank an alle Autorinnen und Autoren dieses Buches.

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ZUR EINLEITUNG: ROLLEN

DES

POSTDRAMATISCHEN

ZUSCHAUERS

IM

THEATER

JAN DECK 1 . D e r Z u sc ha u e r al s T h e m a d e s T he at e r s Von der „Rolle des Zuschauers“ zu sprechen, scheint zunächst paradox. Dem klassischen Theaterliebhaber ist eine solche Sichtweise fremd. Hat nicht gerade das Theater immer wieder die Unterscheidung zwischen denjenigen, die mit einer „Rolle“ auf der Bühne stehen, und anderen, die ihnen beim Spielen zuschauen, kultiviert? Ist nicht das, was viele Besucher von Theateraufführungen erwarten, einfach abgeschottet vom Geschehen und anonym in der Masse zu sein und sich insgeheim zu identifizieren mit der Repräsentation gesellschaftlicher Prototypen? Ist es nicht gerade das Kennzeichen des Zuschauens, dass man in einer isolierten Beobachterposition „autonom“ und „objektiv“ auf die Geschehnisse blicken kann, um die Bedeutung des Werkes zu verstehen? Die Paradoxie, das Zuschauen als Rolle zu begreifen, ist Ergebnis weitreichender Veränderungen des Theaters selbst. Nicht selten ist dies auch in der Innenarchitektur von Spielorten performativer Künste auszumachen. Bretter, sofern sie noch existieren, bedeuten nicht mehr die Welt, Zuschauerränge weichen immer öfter einer lockeren Sitzordnung und die Fixierung auf baulich getrennte Bühnenräume lässt nach. Statt Repräsentation von Rollen, die zur Identifikation für das Publikum bestimmt waren und von Schauspielern dargestellt wurden, wird die Theater-Situation selbst zum Thema: die leibliche Kopräsenz von Akteuren und Zuschauern. Die darstellenden Künste sind darin einzigartig, dass bei ihnen Zuschauer und Akteure Raum und Zeit bis zur letzten Sekunde der Darbietung miteinander teilen. Das war sicher schon immer so, und so ist es auch in der kommerziellsten Musical-Aufführung. Dennoch ist es erst in den letzten Jahrzehnten wieder verstärkt ins Bewusstsein der Künstler und auch der Zuschauer vorgedrungen.

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JAN DECK

Vielleicht war es der Siegeszug des Blockbuster-Films, in dem mit wenigen Schnitten Realität so perfekt suggeriert werden kann, wodurch das Umdenken einer großen Zahl zeitgenössischer Künstler forciert wurde. Gegenüber den Erzählstrategien des Hollywoodfilms sieht das Theater in jedem Fall alt aus. Von den visuellen Medien und ihrer eigenen Zeitlichkeit werden heutzutage Zuschauererwartungen geprägt. Dagegen die Mittel des klassischen Theaters zu setzen, scheint eher ein Kampf gegen Windmühlen zu sein. Eine Konsequenz daraus ist der Versuch, sich auf die eigenen Stärken zu besinnen: Das Theater ist Live-Art. Zeitgenössische Theaterformen schaffen daher Barrieren ab, Zuschauer und Akteure begegnen sich auf Augenhöhe. Dies ermöglicht auch, den künstlerischen Prozess als solchen sichtbar zu machen, denn im Theater kann man live zusehen, wie es „gemacht wird“. In keiner anderen Kunstform ist die Gleichzeitigkeit von Rezeption und Produktion so unmittelbar. Das Theater kann „Situationen der Selbstbefragung und Selbsterfahrung der Beteiligten“ schaffen1 und so zu einem Kommunikationsakt werden. Und es kann dabei die Frage stellen, wie Kunstrezeption funktioniert. Eine Grundlage dafür ist die Reflexion über die „Rollen“ im Theater. Zeitgenössische Theaterformen reflektieren die Rollen von Darsteller und Zuschauer im Verhältnis zueinander und in Bezug auf Zeit und Raum. Das Nachdenken über die „Rolle des Zuschauers“ ist gewiss nichts grundsätzlich Neues. Bereits die Futuristen beschäftigten sich mit der Frage, wie Zuschauer aus ihrer passiven Rolle als „dumme Voyeure“ befreit werden könnten. Auch Brechts episches Theater wollte die Zuschauer aus ihrer „Splendid Isolation“ lösen und benutzte verschiedene theatrale Mittel, um sie zu einer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Verhältnissen zu zwingen. Er veränderte die Rolle des Zuschauers, indem er die Rolle des Darstellers als Schauspieler überwand, ihm eine Distanz zur dargestellten Figur auferlegte und damit den artifiziellen Charakter von Theater sichtbar machte. So öffnete Brecht einen wichtigen Reflexionsraum, schränkte ihn aber zugleich wieder ein, da er sich nicht von der Fixierung auf Text, Rolle und Erzählung (Fabel) löste. Viele Ansätze des sogenannten postmodernen oder postdramatischen Theaters gehen einen wichtigen Schritt über Brecht hinaus durch die Auseinandersetzung mit der Performance Art, die sich aus der bildenden Kunst entwickelt hat. Hier gibt es keine Geschichte zu erzählen, die Akteure spielen keine vorbereitete Theaterrolle. Ob Chris 1

Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 2005 (2. Auflage), S. 180 ff.

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ZUR EINLEITUNG

Burden sich an einen VW nagelte oder Yoko Ono sich von den Zuschauern Stück für Stück ihr Kleid zerschneiden ließ: Sie stellten nichts anderes dar außer sich selbst und es gab keine weitere Handlung außer derjenigen, die real mit ihnen geschah. In diesem Kontext entstand auch das politische „Mitmach-Theater“ mit Phänomenen wie dem Living Theatre oder den Happenings, wobei die Zuschauer aktiv mit einbezogen wurden und Authentizität durch das Auftreten „realer“ Personen und ihren persönlichen Geschichten geschaffen werden sollte. Von dieser Partizipation versprach sich die politisch-künstlerische Alternativbewegung in den sechziger und siebziger Jahren eine Einsicht des Zuschauers in die Zwänge gesellschaftlicher Verhältnisse mit der Zielsetzung gesellschaftlicher Befreiung. Die Partizipation des Zuschauers an der Entstehung des Theaterstücks schien ein erster Schritt zu ihrer psychologischen Emanzipation, zur Aufhebung gesellschaftlicher Konventionen und sozialer Schranken. Im postdramatischen Theater wird die Arbeit mit dem nichtprofessionellen Darsteller weiterentwickelt im Verzicht auf dramatische Rollen. Dennoch wäre es falsch zu behaupten, die Akteure stünden ausschließlich als Privatpersonen auf der Bühne. Ob es sich um „Experten des Alltags“, wie bei Rimini Protokoll oder um SelbstDarstellung, wie bei She She Pop handelt: Sie schaffen sich eine Bühnen-Identität, die bestenfalls „Authentizitätseffekte“ hervorbringt. So wird gezeigt, dass Authentizität im artifiziellen Kontext des Theaters immer schon eine inszenierte ist. Die Kritik richtet sich nicht vordergründig auf politische Ungerechtigkeiten, durch welche das freie Subjekt unterdrückt werde, sondern an Vorstellungen authentischer Subjektivität überhaupt.

2 . D e r Z u sc ha u e r al s M i t sp i e l e r : W a r u m t an z t I h r n i c h t ? ( S h e S he P o p ) 2 Um dies zu erläutern zunächst ein Beispiel: Man betritt den Theatersaal. Das Setting: Zuschauerränge mit kleinen Tischen, an dem kleine Gruppen Platz nehmen können, unten eine große freie Fläche, von Stuhlreihen eingerahmt. Doch schon, bevor man über seine Platzwahl nachdenken kann, kommt eine Frau auf einen Zuschauer zugelaufen 2

Die Ausführungen beziehen sich auf eine Performance der Gruppe She She Pop mit dem Titel „Warum tanzt Ihr nicht?“, die der Verfasser am 5.9.2006 im Künstlerhaus Mousonturm, Frankfurt am Main, gesehen hat.

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JAN DECK

und fragt charmant, ob er nicht mit ihr tanzen möchte. Dieser sagt spontan zu und befindet sich plötzlich auf der „Bühne“, auf welcher bereits zwei andere Paare tanzen. Einige Zuschauer beobachten ihn, erleichtert darüber, der Aufmerksamkeit des Rampenlichts entgangen zu sein. Die Tanzwillige ist Performerin der Gruppe She She Pop und der Zuschauer befindet sich gerade mitten in ihrer Performance Warum tanzt Ihr nicht? Später wird ihn die Tänzerin nach seiner Telefonnummer fragen, ihm mitteilen, dass sie nächste Woche bei ihm einziehen möchte. Er wird „mitspielen“ und noch einige Male auf der Tanzfläche landen. Doch zuletzt wirft sie ihm vor, eine andere angeschaut zu haben und „verlässt“ ihn. She She Pop hat eine Atmosphäre zwischen Theater und Disco als Spiel inszeniert. Das Flirten, das Begehren, das sich Annähern und wieder Distanzieren, die Enttäuschung, die Selbstzweifel sind Thema in den Monologen der Performerinnen, werden aber auch in persönlichem Kontakt mit einzelnen Zuschauern immer wieder durchgespielt. Dabei fordern die szenischen Selbst-Inszenierungen der Performerinnen eine Selbst-Reflexion des Zuschauers. „Tänzer und Publikum sind gemeinsam den Wechselfällen des besonderen BallSpiels ausgeliefert. Denn jedes Ja, jedes Nein zu einer Aufforderung verändert den Verlauf des Stücks“, heißt es in der Ankündigung.3 Tatsächlich werden die inszenierten Erlebnisse im Kontakt mit dem Publikum immer wieder zum Dreh- und Angelpunkt der Performance selbst. Eine Performerin klagt darüber, dass sie nie zum Tanzen aufgefordert werde, eine andere ist traurig, dass ihr „Angebeteter“ mit einer anderen Performerin getanzt hat. Zusätzlich sprechen die Darstellerinnen Monologe in eine Kamera, was man als Zuschauer über Leinwand außerhalb des Theatersaales verfolgen kann. Hier wird das „Erlebte“ reflektiert, in ironischer Referenz an Medienphänomene wie „Big Brother“. So wird man Zeuge geheimer Fantasien oder Selbstreflexionen. Insgesamt gelingt es, auf der Klaviatur der Sehnsüchte und Peinlichkeiten zu spielen, die wohl nahezu allen Theaterbesuchern aus ihrer Jugendzeit geläufig sind. Die Performerinnen von She She Pop verkörpern hier keine klassischen Theaterrollen, sie agieren aber auch nicht als „authentische Privatpersonen“. Ihre Rolle changiert in einem prekären Spiel zwischen „non-acting“ und „simple-acting“, wobei das Risiko des Scheiterns bewusster Teil der Inszenierung ist. Die Performerinnen sind keine professionellen Schauspielerinnen, sie stellen bewusst ihren 3

Heute noch nachlesbar auf der Webseite des Theaterhauses Stuttgart http://www.theaterhaus.com/tanzplattform2006.

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ZUR EINLEITUNG

„Dilettantismus“ zur Schau und geben sich nicht selten selbst Aufgaben, an denen sie scheitern müssen. Da sie keine professionellen Darsteller sind, senken sie aber auch die Hemmschwelle beim Zuschauer, selbst „mitzuspielen“. Die Performerinnen bei She She Pop sind gleichzeitig Spielfiguren und Spieler, wie die Theaterwissenschaftlerin und Performerin Annemarie M. Matzke es beschreibt. Als Spielfiguren sind sie Teil einer Regelstruktur.

Abbildung 1 und 2: She She Pop: Warum tanzt Ihr nicht? (Quelle: She She Pop) „Erst durch den Verlauf des Spiels, die strategischen Entscheidungen des Spielers, den Zufall und die Interaktion mit den anderen Spielfiguren bekommt die Spielfigur eine eigene Geschichte – eine Art „Spiel-Biografie“ für den Abend.“4

Der Zuschauer ist jedoch keine gleichwertige Spielfigur, selbst wenn er direkt angesprochen und einbezogen wird. Er ist „unterworfener Mitgestalter“, er wird als Teil der Aktion inszeniert, kann sich der

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Matzke, Annemarie M.: Testen Spielen Tricksen Scheitern. Formen szenischer Selbstinszenierung im zeitgenössischen Theater, Hildesheim 2005, S. 242 ff.

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Interaktion auch verweigern.5 Aber er erfährt die Grenzen seiner Einbeziehung in den künstlerischen Prozess. Im Gegensatz zu den Performances der siebziger Jahre geht es hierbei also nicht um eine Emanzipation durch aktives Mitgestalten, sondern um die Reflexion des komplizierten Verhältnisses von Zuschauer und Performer selbst.

Abbildung 3: She She Pop: Warum tanzt Ihr nicht? (Quelle: She She Pop) Die Performance bietet dem Zuschauer verschiedene Rollen an: Man kann sich in das Geschehen einbringen und sich wie die Performerinnen eine Art selbstinszenierte Spielidentität zulegen. Dabei besteht das Risiko, bloßgestellt zu werden, weil man als Zuschauer zwar Impulsgeber ist, She She Pop aber die Spielregeln in den Händen halten. Man kann sich als Beobachter, als Voyeur auf die Ränge zurückziehen. Doch auch dort wird man immer wieder persönlich angesprochen, bekommt das Etikett des Verweigerers. Gerade der Voyeurismus des Publikums wird von der Spielfläche aus immer wieder thematisiert, sei es durch demonstrative Nacktheit oder durch selbstentblößende Monologe der Darstellerinnen. Man kann sich außerdem ganz aus dem Theatersaal zurückziehen und sich im Foyer vor die Leinwand setzen, um sich die Monologe der Performerinnen 5

Matzke, Annemarie M.: Die Performance des Zuschauers. In: Kurzenberger, Hajo/Matzke, Annemarie M.: TheorieTheaterPraxis, Berlin 2003, S. 273 ff.

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ZUR EINLEITUNG

anzuschauen. Doch dabei sieht man von der Performance nahezu nichts. Somit gibt es hier drei verschiedene Grundtypen der Zuschauerschaft, die sich in unzählige Untertypen aufteilen können: den Mitspieler, den Voyeur und den Verweigerer. Und keine dieser Rollen ermöglicht ihnen ein geschütztes, passives Konsumieren eines Theaterabends aus sicherer Distanz. Die Zuschauer können ihre Rolle auch ständig wechseln, stoßen aber in jeder einzelnen auf die Grenzen der Spielregeln. Notwendig ist daher eine ständige Reflexion des eigenen Sehens, des eigenen Erlebens und Agierens. Somit sind die Zuschauer aktiver Bestandteil der Performance, in gewissem Maße auch Koautoren des Geschehens, insofern das Kunstwerk selbst ein offenes ist, seinen artifiziellen Charakter betont und die Rezeption von Kunst selbst thematisiert wird.

3 . T h e a t e r a l s E r f a h r u n g sr a u m Die Zuschauer müssen aber nicht unbedingt selbst körperlich Teil der Performance sein, um eine Rolle zu spielen und zu einem Teil der Inszenierung zu werden. Es gibt andere Formen einer Selbstreflexion der Kunstrezeption in zeitgenössischen Theaterformen. Nicht selten geschieht dies durch die Thematisierung von Raum und Zeit als Parametern von Kunst. Postdramatische Darstellungsformen beziehen sich auf reale Orte, indem sie den Theaterraum als solchen thematisieren oder an ungewöhnlichen Orten stattfinden. Und sie beziehen sich mit verschiedenen theatralen Mitteln auf die reale Zeit, indem sie keine fiktive Zeit suggerieren. Das gelingt dadurch, dass man die Zeit der Performance entweder langsam oder schnell erscheinen lässt. Zum Teil wird demonstratives Nichtstun praktiziert oder mittels Slow Motion die Zeit künstlich ausgedehnt. Zum anderen bekommen Performances eine so atemberaubende Geschwindigkeit, dass man ihnen unmöglich visuell folgen kann. Generell gilt, dass jede Aufführung ein Unikat ist, in einer spezifischen Dialektik zwischen Präsenz und Abwesenheit. Jede Geste, jede Bewegung existiert nur in dem Moment, in der sie praktiziert wird. So ist jede Performance, durch die Einmaligkeit des Zusammentreffens aller Beteiligten, radikale Präsenz und birgt gleichzeitig das Bewusstsein ihrer Abwesenheit. Diesen Zusammenhang reflektiert Performance in der Thematisierung von Zeit und Flüchtigkeit als eine eigene Qualität. Besonders im zeitgenössischen Tanz finden sich künstlerische Reflexionen der Zeit. Nicht selten sieht man Bewegungen in Slow Motion, demonstratives Zögern oder Untätigkeit, aber auch ständige 15

JAN DECK

Wiederholung. Dabei ist die Langeweile des Zuschauers einkalkuliert, weil sie Zeit spürbar macht, aber auch zu genauer Aufmerksamkeit zwingt. Wenn Xavier le Roy bei self unfinished längere Zeit auf dem Kopf steht oder bei David Weber-Krebs’ Performance Fade out zwei Performer für eine Bewegung 30 Minuten benötigen, ist es für den Zuschauer deswegen anstrengend, weil zwar nichts Besonderes passiert, man jedoch den entscheidenden Zeitpunkt der Veränderung nicht verpassen will. Solche Bewegungen sind weder „schön“ im Sinne klassischer Tanzästhetik, noch sind sie mit gewöhnlichen Alltagsbewegungen vergleichbar. Die Veränderung des Raums in Performances ist schon zumeist an der räumlichen Einrichtung von Spielorten zu erkennen: Statt Zuschauerrängen gibt es ungewöhnliche Sitzordnungen, Bühnen sehen nicht selten aus wie Labors oder Spielfelder. Dies ist bereits Ausdruck eines veränderten Raumverständnisses: Der theatralen Guckkastenbühne wird ein flexibler, nicht-hierarchischer, fragmentarischer und bewusst provisorischer Raum entgegengestellt. So versteht man unter Raum im postdramatischen Theater nicht nur den Ort, an dem die Performance stattfindet, sondern auch den Ort des Publikums und der Spieler und all dessen, was die Situation Theater hervorbringt. Der Raum „organisiert die Blicke“, macht etwas sichtbar oder unsichtbar.6 Der Umgang mit Raum im klassischen Theater ist ein utopischer. Über den realen Raum wird ein imaginärer projiziert, um Orte jenseits der Wirklichkeit zu suggerieren, selbst wenn sie den realen Orten oft ziemlich ähnlich sind. Solche Räume dienen einer Illusionsmaschine, die den Zuschauern die Möglichkeit lässt, das Gesehene nach der Aufführung wieder ins Reich der Fantasie zu verweisen. Demgegenüber erscheinen Räume im postdramatischen Theater als Heterotopie im Sinne von Foucault: „[…] wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte.“7

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Vgl. dazu das Kapitel Raum in Hans-Thies Lehmanns „Postdramatisches Theater“, a.a.O., S. 285 ff. Foucault, Michel: Andere Räume. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1998 (6.A), S. 39.

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ZUR EINLEITUNG

Postdramatisches Theater setzt an den realen Orten an, beschäftigt sich mit den ihnen eingeschriebenen Konventionen, Verhaltensweisen und Regeln, um ihnen andere Praktiken entgegenzustellen und das Verhältnis zwischen ihnen zu reflektieren. Der Raum der Performance ist eine Veränderung auf Zeit, eine temporäre autonome Zone, die jedoch immer wieder auf den realen Ort zurückverweist. Dies gilt sowohl für Aufführungen außerhalb des Theaters, etwa in Bahnhöfen, Bunkern oder Industriehallen als auch für den Ort Theater und den Umgang mit dessen Konventionen und Regeln. Das erweiterte Raumverständnis des postdramatischen Theaters begreift den Zuschauer jedoch nicht nur als wichtigen Bestandteil, als eine Art „teilnehmenden Beobachter“. Der Zuschauer selbst ist es, der durch seinen Blick auf das Geschehen den Raum immer neu herstellt. Sein Fokus trägt entscheidend zur Rezeption des Gesehenen bei. Theater wird zu einem Erfahrungsraum, in dem der Zuschauer sich seine eigene Bedeutung ständig neu schafft, indem er die wahrgenommenen Ereignisse zu seinem eigenen Rezeptions-Patchwork zusammenfügt.

4. Freiheit Die Rolle des Zuschauers definiert sich innerhalb des Erfahrungsraums auf zwei Ebenen: Als lebendiger Teil des Raumes ist er einerseits Teil von Theater als einer geteilten Zeit aller Anwesenden. Egal in welcher „Rolle“ er während der Performance spielt, ob er selbst aktiv ins Geschehen einbezogen wird oder lediglich zuschaut: Er ist Teil des Ganzen. Dennoch bleibt er auf Distanz, denn die Richtung des Prozesses bestimmen andere. Andererseits ist er es, der durch seinen Blick erst die Zusammenhänge herstellt. Er beobachtet damit sich und andere beim Beobachten. Der Erfahrungsraum Theater wird dadurch auch zum Laboratorium des Sehens, denn hier ist der Blick auf den Blick der andere Teil des Prozesses. Die Freiheit des Zuschauers bei der Wahrnehmung von Theater ist etwas anderes als die Befreiung durch Interaktion, wie man sie im „Mitmachtheater“ erreichen wollte. Es geht eher darum, das Zuschauen aus den Fesseln eines objektiven „Sinns“ zu befreien. Zuschauer sind konstitutiver Bestandteil des Theaters, auch wenn sie die Regeln des Prozesses nicht wirklich beeinflussen können. Ein Theater, das jenseits objektiver Sinnzusammenhänge, politischer Aufklärung oder ewiger Werte den Prozess der Wahrnehmung und die Grenzen der Mitgestaltung von Zuschauern zum Thema macht, 17

JAN DECK

erreicht einen eigenen Grad von Freiheit: Es verweist auf das Fragmentarische von Subjektivität und die Grenzen gesellschaftlicher Mitbestimmung, setzt aber auch diese Grenzen immer wieder aufs Spiel.

D i e A u f s ä tz e i n d i e se m B u c h Die in dieser Publikation veröffentlichten Beiträge beschäftigen sich mit der veränderten Rolle des Zuschauers anhand unterschiedlicher Aspekte: Der Text von Hans-Thies Lehmann über „Theater als Konflikterzeugung“ nähert sich dem Thema anhand der Schauspieler-Zuschauer-Relation, um angesichts eines veränderten Umgangs mit dem Zuschauer auch die Rolle des Performers zu reflektieren. Dabei sieht er den Zuschauer in einem Spiel zwischen einer am traditionellen Kunsttheater orientierten Haltung und einer offenen Wahrnehmungsposition. Und er stellt die Frage, ob nicht gerade die Unterbrechung des rein Ästhetischen durch die Involviertheit des Zuschauers diesem eine produktive Verunsicherung ermöglicht. Christel Weiler stellt drei Theaterprojekte vor, die auf unterschiedliche Weise den Dialog mit dem Publikum suchen. Sie befragt Projekte von Elena Kovilyna, Jochen Gerz und dem Stadt Theater Wien in Bezug auf die jeweiligen Gesprächssituationen. Im Gegensatz zu partizipatorischen Theaterexperimenten, bei denen letztendlich die Künstler bestimmen, welche Aktivitäten das Publikum ausführt, sieht sie hier Versuche, das konventionelle Schweigen des Publikums zu durchbrechen. Florian Malzacher beschreibt anhand der Performances von Forced Entertainment Rollen des Publikums in zeitgenössischen Theaterformen. Durch die Konfrontation mit dem Gesehenen überfordert, wird der Zuschauer zum schlechten Voyeur, schlechten Zeugen und schlechten Mitspieler. In dieser Verunsicherung sieht Malzacher neue Möglichkeiten politischen Theaters. Carl Hegemanns Text stellt Theater als Ort der Begegnung in den Mittelpunkt und begreift dies als sein Spezifikum. Als Konsequenz daraus kritisiert er die Vorstellung von Theaterspiel als abgeschlossenes und ständig exakt reproduzierbares Werk. Stattdessen beschreibt er die Spannung zwischen Darsteller und Figur im Theaterspiel als „innere Auseinandersetzung“ zwischen Schauspieler und Zuschauer, was die Aufmerksamkeit des Publikums erzeuge.

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ZUR EINLEITUNG

Beim Interview mit Stefan Kaegi geht es um Projekte, in denen der Zuschauer auf besondere Weise zum Thema gemacht wird. Bei Cargo Sofia in einem rollenden Zuschauerraum, bei Call Cutta als aus Indien „ferngesteuerter“ Berlintourist oder als Parlamentarier-Double bei Deutschland 2: Der Zuschauer ist als solcher Teil der Performance und kann beim Zuschauen beobachtet werden. Der Aufsatz von Max Schumacher skizziert das Spiel mit der Erwartungshaltung des Zuschauers. Den Zeitraum der „Pre-Performance“ von der ersten Kenntnisnahme bis zum Stückbeginn hält er für einen wichtigen Kommunikationsakt zwischen Künstlern und Publikum und damit für einen wesentlichen Teil der Performance selbst. Anhand verschiedener Beispiele umreißt er die Möglichkeiten dieser Kommunikation. Patrick Primavesis Aufsatz beschäftigt sich mit den „Randgängen theatraler Praxis“, mit den Entgrenzungen des Theaterraumes ebenso wie mit der Suche nach theatralen Räumen außerhalb des institutionalisierten Theaters. Dabei wirft er die Frage auf, wie das „Bewegen“ des Publikums, im wörtlichen wie übertragenen Sinn, neue Sichtweisen produziert.

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VOM ZUSCHAUER HANS-THIES LEHMANN Das Besondere am Theaterzuschauer wird, weil es so selbstverständlich ist, gern übersehen. Dass man da nämlich z.B. nicht nur Farbkleckse, sondern lebendige Menschen ansieht: Das künstlerische „Material“ im Theater ist selbst lebendig. Als Anregung will ich ein Stück weit in die Geschichte zurückgehen, um die Angebote zu bedenken, die in diesem Sinne vonseiten der Schauspieler an den Zuschauer gemacht wurden. Das ist deswegen so wichtig, weil heute der Zuschauer weniger denn je weiß, was ihn überhaupt erwartet, wenn er ins Theater geht. Er kann nicht sicher sein, ob überhaupt Theater stattfindet, Theater jedenfalls, wie er es sich vorgestellt und erwartet hat, um einen Titel von Jan Fabre zu zitieren. Theater ist in einer Situation des Experimentierens. Es kann vorkommen, dass die Zuschauer in ein Spiel verwickelt werden. Statt dass ihnen etwas vorgespielt wird, werden sie aufgefordert, an einem Spiel teilzunehmen. Statt dass der Zuschauer ein Stück über Börsenverhältnisse sieht, erlebt er, wie sein Eintrittsgeld live an der Börse online investiert wird und er den Theaterabend damit verbringt, das Wohl und Weh seiner investierten sechs Euro an der New Yorker Börse zu verfolgen. Oder er kommt ins Theater, der Titel lautet Deadline, und es geht um Beerdigungen, aber es sind keine Schauspieler auf der Bühne, sondern veritable Angestellte einer Firma, die Beerdigungen durchführen und auf der Bühne davon sprechen. Sie werden in einer gewissen Weise auch zu Schauspielern. Es ist auch hier durchaus so, dass Regie stattfindet, dass geübt wird, dass man vorher Abläufe und Dramaturgie durchdenkt usw. – doch eben nicht in dem Sinne, in dem wir es gewohnt sind. Oder die Schauspieler müssen auf alles, was ihnen eine Rolle (gleichsam als Maske) vorgibt und an Schutz bietet, verzichten, auf Kostüme, Texte, sodass sie auf der Bühne eine Form von Intimität ihrer selbst preisgeben, eine intime Kommunikation bis über den Rahmen der Peinlichkeit hinaus anbieten und dem Zuschauer zugleich zumuten, als auch ihm die Chance bieten, eine Erfahrung mit sich 21

HANS-THIES LEHMANN

selbst zu machen. Das scheint mir eine Formel für viele (nicht alle!) Aspekte des gegenwärtigen Theaters zu sein: Die Insistenz auf Theater als einer Möglichkeit für die Besucher vor allem sich selbst – ihr eigenes Verhalten, ihren Willen, ihren Unwillen, ihre Fähigkeit oder Unfähigkeit – zu erfahren und sich auf ein Spiel einzulassen, sich darin einzuklinken. Solche Angebote an die Zuschauer haben natürlich ihre Geschichte. Sie sind im ganzen 20. Jahrhundert in der Moderne und verstärkt seit dem Beginn der Mediengesellschaft, ein Gesichtspunkt, den man nicht mehr außer Acht lassen darf. Die Frage des Zuschauers ist für die Theaterleute ins Zentrum gerückt. Einfach deswegen, weil in der Mediengesellschaft Theater sich von anderen Medien darin unterscheidet, dass es live stattfindet und nicht geschnitten, bearbeitet oder vielleicht verspätet gesendet wird. Schon Benjamin sagte, das wesentliche Kriterium des Theaters, sei dies, was wir heute live nennen. Es hat natürlich keinen Sinn, vom antiken Theater als Live-Theater zu sprechen, es gab nichts anderes, aber aktuell benennt das Wort eine besondere Art der Wahrnehmung. Und deshalb wird gerade die Frage „Was mache ich aus der Live-Situation?“ für Theaterleute wichtiger als „Was stelle ich dar?“. Das hat seit Beginn der Medienkultur zu einer ganzen Reihe von Versuchen geführt, aus Theater etwas zu machen, was dieser seiner Eigenart entspricht. Dies werde ich jetzt nicht alles erwähnen, aber stichwortartig die Namen von Robert Wilson, Einar Schleef, Jan Fabre und anderen nennen und zum Schluss auf eine Entwicklung eingehen, die ich im Augenblick interessant finde. Ich habe den Eindruck, dass Stefan Kaegi oder Rimini Protokoll Beispiele dafür geben, dass im Theater der Wunsch nach Dokumentarischem – in einem gegenüber den 60er Jahren neuen Sinn – viel stärker geworden ist. Es geht um gesellschaftliche Wirklichkeit, und zwar in der Weise, wie es Brecht verlangt hat: Die Aufgabe des Theaters ist es laut Brecht, dem Zuschauer Material vorzuwerfen, es ihm nicht vorzukauen. Das scheint mir im Augenblick eine wichtige Entwicklung zu sein und ich möchte versuchen, etwas systematischer darüber nachzudenken, als die Stichworte es andeuten. Deswegen gehe ich ein paar Stationen durch, um für das, was diese Schauspieler-Zuschauer-Relation im Theater definiert hat, ein wenig den Horizont aufzumachen. Der Schauspieler ist genau wie der Zuschauer nicht mehr, was er einmal war. Er ist heutzutage grundsätzlich weniger Spieler einer Rolle, als Darsteller seiner eigenen Wirklichkeit. Er ist häufig mehr auf die Herstellung einer Spielsituation und auf die Anwesenheit der Zuschau-

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VOM ZUSCHAUER

er orientiert, als auf die Idee einer Darstellung einer anderen fiktiven Wirklichkeit, die er zu verkörpern hätte. Seine Entwicklung verlief, wenn man es auf einen schematischen Begriff bringen wollte, von der Repräsentation von etwas Anderem zu einer Präsenz seiner Selbst. Traditionell war der Schauspieler ein Medium, und in den Zeiten, als Massenmedien noch nicht gebräuchlich waren, das erstklassige Massenmedium. Von der Antike bis zum Beginn der modernen Kommunikationstechnologien war Theater das Massenmedium schlechthin. So wurde, da ja lange die Lesefähigkeit nicht weit verbreitet war, das Theater zu dem Ort, an dem der Schauspieler mit seinen Gesten und seinen Auftritten die Möglichkeit hatte, kulturelle Werte, Normen, Wirklichkeiten und auch politische Inhalte zu verbreiten. Dabei war der Zuschauer niemals persönlich gemeint. Es war öffentliche Bekundung, die den Zuschauer systematisch, aber eben nie persönlich ansprach. Zum Zweiten war der Schauspieler, und auch das hat sich bis heute stark verändert, ein Medium des Textes und also des Geistes, und also der Tradition, der Geschichte und letztlich auch der kulturellen Identität. Über den Schauspieler wurde der Text, das Bewusstsein, die Tradition und die kulturelle Einheit verkörpert. Er war verkörperte und verkörpernde Kultur. Gewöhnlich wird ja der Bote, das Medium, nicht hoch geschätzt, deswegen wurde auch der Schauspieler in den meisten Kulturen, nicht hoch angesehen. Im Allgemeinen schlug ihm die Verachtung der besseren Leute, der Hass, die Ablehnung der Priester, der Gesellschaft, der Moralprediger entgegen. Der Schauspieler stand immer im Zwielicht. Und das hieß, dass der Zuschauer diesem Medium gegenüber immer eine gewisse Distanz wahrte. Er konnte sich schön mit einer Rollenfigur identifizieren. Aber der Spieler als Spieler war immer etwas, zu dem ein Abstand blieb, von dem er sich gewissermaßen distanzierte, moralisch oder religiös. Er wurde sozusagen wie ein Instrument wahrgenommen. Und als ein Mediator des Geistes, aber dadurch gleichzeitig auch auf Distanz gehalten. Man muss natürlich hinzufügen, dass bereits früh eine parallele Entwicklung begann, im Laufe derer einzelne Schauspieler zu Stars wurden und in der Moderne der von den Massen geliebte Star zum beinahe konkurrenzlosen Identifikationsangebot wurde. Das ist im Wesentlichen über das Kino gelaufen, und insofern ist diese Zeit, in der das Theater seine Chancen auch über die Identifizierung mit dem Star suchen konnte, vorbei. Dafür gibt es eben jetzt ein anderes Medium, dem gegenüber das Theater in dieser Hinsicht chancenlos ist. Ich habe es eben schon angedeutet: Der Zuschauer, der sich identifiziert über den Star, identifiziert sich natürlich mit einem Phan-

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tasma – dies hat eine Art Entlastungsfunktion. In der Moderne beginnt aber nun eine Entwicklung, in der der Schauspieler sich immer öfter zu einer Art Koautor entwickelt. Das ist etwas, das wir als Theaterzuschauer heute erleben und wo sich unsere Wahrnehmungsgewohnheiten umstellen müssen. Wir können die Spieler, die wir heute auf der Bühne erleben, nicht mehr einfach als Medium einer Bedeutung oder einer sozialen Aussage nehmen, sondern wir sollen ihnen begegnen als Koautoren dessen, was da gerade geschieht. In manchen Theaterformen ist das offensichtlich. Regisseure, wie Rene Pollesch arbeiten ganz stark mit den eigenen Erfahrungen der Spieler. Ich soll mich daher als Zuschauer mit den Schauspielern als Koautoren des Theaters auseinandersetzen und auch Stellung beziehen. Es ist interessant – gerade wenn man bestimmte Bereiche des neuen Theaters, die der Performance nahe stehen, und PerformanceArt selbst ins Auge fasst – sich daran zu erinnern, dass der Schauspieler von früh an aus kultischen und rituellen Zusammenhängen heraus stets auch etwas von der Zweideutigkeit des Heiligen besaß. Dass der Schauspieler also immer gleichsam Anteil hatte an den Göttern und Boten und Geistern, die er darstellte und dadurch eine höhere Seinsstufe zu erreichen schien. Aber gerade deshalb stets in einer Gefährdung durch die Hybris, durch die Selbstüberhöhung und Übersteigerung gewesen ist, die zur Bestrafung und Erniedrigung führt. Der Schauspieler hat also gewissermaßen eine Opferrolle angeboten. Bei Performances stellt man aber überall fest, wie sehr Performance-Künstler gerade dieses Angebot einer Opferrolle unterbreiten, mit einem sehr zweischneidigen Ergebnis. Ich werde als Zuschauer in eine Situation gebracht, die mich vielleicht mehr involviert als ich wollte. Über den Grad der Involvierung kann ich in solchen Aufführungen oft nicht mehr allein entscheiden, werde vielmehr reflexartig, unwiderstehlich in eine Situation der Beteiligung, Verantwortung, gar Schuldhaftigkeit gebracht, in eine moralisch-ethische Problematik. Der Witz an der Sache ist, dass mir diese Problematik nicht mehr wie im früheren Theater einfach vorgespielt wird, sondern dass ich dabei mitspiele, dass diese Problematik mich nun selbst betrifft. Das heißt, die Performance involviert mich als Zuschauer auf eine Weise, die, wie ich vorhin formuliert habe, zum Anlass wird, eine Erfahrung mit mir selbst zu machen. Ich halte dies für eine produktive Formel für vieles, was jetzt im Theater geschieht, dass die Erfahrung, die ich mit dem Geschehen mache, das mir offeriert wird, von dem ich ein Teil werde, von Theaterleuten verstanden wird als eine Chance.

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Diese Erfahrung mit mir selbst wird sehr stark über Widerstände, Aggressionen und Dinge vermittelt, die ich gerade nicht sehen will. Ich meine nun, wir müssen uns tatsächlich mit dem Gedanken auseinandersetzen, ob das, womit wir schon sehr lange als mit Kunst umgegangen sind, überhaupt etwas Ewiges sein muss. Mit anderen Worten: Ob das, was wir jetzt noch als eine ästhetische Praxis, eine Kunstpraxis beschreiben, nicht längst auf dem Weg zu etwas anderem ist, für das uns eigentlich noch der Begriff fehlt. Es sind immer wieder Versuche zu beobachten, für den Zuschauer eine Situation herzustellen, in der er nicht mehr sicher sein kann, ob seine Einstellung zu dem Vorgang als einem Kunstvorgang, als einem rein ästhetischen Geschehen, im Grunde genommen die richtige ist. Der Zweifel, ob das, was ich da wahrnehme, Kunst ist oder nicht, ist jetzt konstitutiv für das, was wir Kunst nennen. Und man kann vielleicht sagen: Wenn ich ganz und gar sicher bin, dass etwas Kunst ist, so ist es wahrscheinlich keine. Dieses Zweifelsmoment – Ist es Kunst? Ist es nicht etwas anderes? Vielleicht weniger, vielleicht dadurch aber auch mehr – verlangt von mir als Zuschauer, mich ständig mit meiner eigenen Einstellung zu dem jeweiligen Medium zu konfrontieren. Nancy prägte die Formel von „Kunst als ihrem eigenen Rest“. Kunst ist dort interessant, wo sie sich als ihren eigenen Rest empfindet, als etwas, was gerade noch von ihr übrig geblieben ist. Dies ist, wie ich finde, eine sehr hilfreiche Überlegung, weil wir bei allen wichtigen Fragen mit Schwarz und Weiß, Plus oder Minus, A und B, Kunst oder Nichtkunst nirgends mehr weiterkommen. Also wären wir nun an einem Punkt angekommen, wo wir die Idee einer Kunst des Theaters, wie sie z.B. mit Edward Gordon Craigs „Über die Kunst des Theaters“, gerade erst als eigenständige Kunst entdeckt worden ist, schon wieder in Frage stellen. Traditionell war Theater im Grunde keine eigenständige Kunst. Eigentlich erst mit der Moderne, am Ende des 19. Jahrhunderts, mit Stanislawski und den Avantgardisten wie Meyerhold und Brecht wurde Theater als eigene Kunst erst entdeckt. Und kaum ist es hundert Jahre da, wird es schon wieder in Frage gestellt. Doch sollte es uns zu denken geben, dass wir diese Beobachtungen ja nur in Hinblick auf einen Typus von Theater anstellen, das es bei Lichte betrachtet, nur vom 17. bis zum 19. Jahrhundert gegeben hat. Und zwar nur in Europa. Dieses, im emphatischen Sinn dramatische und wesentlich literarisch orientierte Theater ist uns so geläufig, dass wir von ihm her glauben, den Kern dessen, was eigentlich „das“ Theater ist, definieren zu können und alles andere

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dann als mehr oder weniger sonderbare Abweichung von diesem Modell ansehen. Ich würde nun folgende Hypothese aufstellen: Der Zuschauer könnte jetzt in ein Spiel geraten zwischen einer Haltung, die sich an der Tradition von Kunsttheater orientiert, und einer sozusagen unbestimmten Position, im günstigsten Fall einer offenen Wahrnehmungseinstellung auf etwas hin, für das er noch keinen Begriff und keine genaue Vorstellung hat. In diesem Augenblick stellt sich die Frage, inwiefern es Theater als ästhetische Begebenheit – um es auf eine Formel zu bringen, die ich für hilfreich halte – zu tun hat gerade mit einer Unterbrechung des rein Ästhetischen, dass also die ästhetische Einstellung, wenn die Gesamtfiguration namens Theater recht wahrgenommen werden soll, selber unterbrochen werden muss durch die eine oder andere Weise der persönlichen Involvierung des Zuschauers. Worin aber besteht, positiv betrachtet, dann die Tätigkeit des Zuschauers? Wenn er die Schauspieler nicht mehr beurteilen kann nach ihrer Fähigkeit, einen Charakter zu verkörpern oder eine Rolle zu spielen, eine Verkörperung einer Figur zu leisten? Was ist dann eigentlich die Leistung des Schauspielers, und wie kann ich auf diese Leistung als Zuschauer reagieren? Wonach muss ich fragen, suchen, meine Wahrnehmung orientieren? Diese Frage werde ich hier nicht beantworten, aber ich glaube, dass genau diese, oft planvoll herbeigeführte Ungewissheit heute ganz wesentlich den Umgang mit Theater prägt: Dass man nicht genau weiß, wohin die Aufmerksamkeit zu orientieren ist, und schon der Akt, auf dieses oder jenes zu achten, zur Entscheidung und zum (Mit) Spielraum des Zuschauers wird. Es entsteht eine Verunsicherung, die zugleich große Chancen mit sich bringt. Der Zuschauer ist praktisch, mehr aber noch ästhetisch die zentrale Frage des Theaters, seiner Praxis und seiner Theorie geworden. (Es handelt sich bei diesem Text um die leicht bearbeitete Fassung eines mündlich gehaltenen Vortrags.)

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CHRISTEL WEILER Dass das Publikum stets ein wesentlich konstituierender Teil einer Aufführung ist und daher – mit Blick auf das Theater – zu Recht eher von einem gesamten Aufführungsgeschehen oder -ereignis zu sprechen ist, scheint so banal wie wesentlich. Als wolle man diese Selbstverständlichkeit noch einmal eigens betonen, inszeniert beispielsweise die Schweizer Gruppierung Mikeska:Plus:Blendwerk einen Theaterabend mit dem Titel Rashomon: Truth lies next door jeweils für nur eine Person; ähnlich verfahren Auftrag/Lorey in WMF (Wiedersehen macht Freude), wenn sie an einem Dutzend über den Bühnenraum verteilten Tischen jeweils einen Performer und einen Zuschauer sich gegenübersitzen lassen. In beiden Beispielen ist die Minimalbedingung dafür erfüllt, dass Theater überhaupt stattfinden kann: Jemand zeigt oder sagt etwas und ein anderer schaut und hört zu. Wir partizipieren also im Theater nicht an einem Ereignis, das ohne uns auch stattgefunden hätte. Wir tragen durch unsere Anwesenheit vielmehr wesentlich dazu bei, dass von einem Ereignis als etwas, was sich in einem gegebenen Raum zwischen uns und den Schauspielern, Performern, Akteuren allmählich heranbildet, überhaupt die Rede sein kann. Diese Grundvoraussetzung macht Theater immer schon zu einer „Beziehungskunst“ und seine Ästhetik zu einer „relationalen“. Auf diesem Fundament lassen sich freilich unterschiedliche Formen der Teilhabe bzw. Mitgestaltung des Ereignisses durch die Zuschauer denken und mit einem Blick auf das Theater der letzten Jahre kann man unschwer erkennen, dass nahezu alle Möglichkeiten, das Publikum am Aufführungsgeschehen über seine bloße Anwesenheit hinaus zu beteiligen, ausgeschöpft wurden. Als Zuschauer wurden wir eingeladen, uns frei im Raum zu bewegen, mitzutanzen, Kostüme zu basteln, Kommentare abzugeben. Die Gruppe She She Pop beispielsweise inszeniert in ihrer Relevanz Show allein vier unterschiedliche Formen der Partizipation: Die Zuschauer können wählen, ob sie auf der Bühne mitmachen (in diesem Fall tanzen) wollen, aus dem Zuschauersaal heraus mit rhythmischem Klatschen und Zurufen die 27

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Aufführung vorantreiben, mit kritischen, durchaus wörtlich zu nehmenden Einwürfen (Eier und Tomaten) das Geschehen kommentieren oder aus der Distanz schweigend verfolgen wollen. Die nahe liegende Frage danach, welche Funktionen diese Formen der Aktivierung des Publikums jeweils für die eine oder andere Seite erfüllen, ob sich daraus ein politisches Potenzial des Theaters entwickelt, lässt sich nicht generell beantworten. Die Freude am Mitgestalten, am sich Zeigen, ebenso wie die Lust am nicht Vorhergesehenen, an der Bereitschaft zum Risiko mögen gleichermaßen beteiligt sein. Für alle Arbeiten jedoch, die sich im Raum des Theaters als derart partizipatorische verstehen, ist festzustellen, dass es die Künstler sind, die im weitesten Sinne bestimmen, welche Aktivitäten das Publikum ausführt und in welchem Rahmen diese stattfinden können. Mit der Partizipation des Publikums einher geht also durchaus auch eine Bestimmungsmacht der Produzenten. Ich möchte im Folgenden drei Beispiele vorstellen und befragen, die das mit der üblichen Teilhabe verbundene konventionelle Schweigen des Publikums zu durchbrechen suchen, indem sie es auf unterschiedliche Weise zu einem Dialog mit den Akteuren einladen. Es handelt sich um drei sehr unterschiedliche Ereignisse, die sich theatraler Formen bedienen, um die ihnen eigenen Gesprächssituationen zu erzeugen. Nur ein einziges Mal findet die Begegnung tatsächlich im Theater statt; die beiden anderen Beispiele nutzen den öffentlichen Raum bzw. schaffen eine hermetische Situation, die nicht von Außen wahrgenommen werden kann. Im Einzelnen handelt es sich um den von der russischen Performancekünstlerin Elena Kovilyna mit Moskauer Jugendlichen erarbeiteten Theaterabend Vorstellung, um Jochen Gerz mit Pariser Obdachlosen vor Notre Dame durchgeführtes Projekt Les Mots de Paris und um ein von der Wiener Gruppierung Stadt Theater Wien initiiertes Experiment, das – unter Ausschluss von Zuschauern – gemeinsam mit einer Gruppe von Theaterwissenschaftlern praktisch der Frage nachging: Sind wir Leute mit Vergangenheit? Sind wir Leute mit Zukunft?

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B e i sp i e l 1 Elena Kovilyna, die Moskauer Performancekünstlerin, erarbeitete gemeinsam mit vier Moskauer Jugendlichen, die ihr Leben größtenteils auf der Straße verbringen, eine Aufführung, die sie Vorstellung nannte. Diese Arbeit wurde u.a. während der Berliner Festspiele im Oktober 2003 in Berlin präsentiert. Vorstellung war zu erleben als eine Vorstellung im mehrfachen Wortsinn: Zum einen stellten sich die vier jungen Männer dem anwesenden Publikum als eben solche vor – als auf der Straße lebende Jugendliche, deren Alltag von Drogenkonsum, Bettelei, Diebstahl, Philosophieren über den Sinn des Lebens und Träumen von einer besseren Zukunft geprägt ist. Gleichzeitig handelte es sich um eine Theatervorstellung im Rahmen der Festspiele. Es gab eine Bühne, einen den Zuschauern zugewiesenen Raum, Auftritte und Abgänge der Akteure, es wurde ein Lied gesungen, die Reden der Jugendlichen waren in Beziehung zu setzen zu Bildern aus ihrem Alltag und Szenen aus Quentin Tarantinos Film Pulp Fiction, die im Hintergrund auf einem Videoscreen zu sehen waren. Das Sprechen der Jugendlichen war – den Aussagen Elena Kovilynas zufolge – nicht festgelegt. Sie hatten also Raum zur Improvisation, folgten nicht einem vorgeschriebenen Script, sondern sprachen in ihrer eigenen Sprache (Russisch mit Simultanübersetzung) über ihre eigenen Belange. Die Rede war somit nur schwach inszeniert, d.h., es war lediglich ein Rahmen gesteckt für einzelne Handlungsverläufe bzw. Redeeinheiten. Der gesamte Raum war gleichmäßig beleuchtet, das Publikum konnte jederzeit fragend und kommentierend in den Verlauf des Abends eingreifen – was auch tatsächlich der Fall war – und wurde selbst auch immer wieder zum „Mitspieler“ gemacht, auf dessen Geld man es abgesehen hatte. Es wurde eine Mütze zum Sammeln von Geld herumgereicht, einer der Jugendlichen versuchte, mitgebrachte Holzlöffel bzw. Matroschkas zu verkaufen, ein Mann aus dem Publikum wurde nach vorne gebeten und aufgefordert, etwas zu spendieren bzw. zu legitimieren, weshalb er dies eben nicht tun wollte. Das Spiel war durchaus ernst gemeint. Die Jugendlichen verhielten sich so, wie es ihr Alltag erfordert: gewitzt, geschickt, mit krimineller Energie, durchaus sympathisch, partiell aggressiv, teils Mitleid erregend und anrührend. Also nicht anders als auf der Straße und doch davon verschieden. Verhielten sie sich so, wie wir uns vorstellen, dass sie leben müssten oder zu sein hätten? So, wie wir uns vorstellen, dass Theater hinsichtlich seiner Akteure funktionieren soll? Mit diesen durch die Aufführung vielfach evozierten Fragen standen unsere eigenen „Vor-

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stellungen“ auf dem Spiel: unsere Annahmen über das Leben von marginalisierten Jugendlichen, unsere eigene Haltung ihnen gegenüber, unsere Erwartungen an Kunst, an Theater, unsere Auffassungen davon, was Inszenierung und Realität ausmacht. Damit war auch der Horizont abgesteckt, in dem ein mögliches Gespräch mit den Jugendlichen hätte stattfinden können. Wenn man sich zu Beginn von Vorstellung noch gefragt haben mag, was inszeniert ist und was dem Augenblick geschuldet, ob diese jungen Männer als Schauspieler zu bezeichnen sind oder nicht, ob das, was da passiert, mit Kunst und Theater in Verbindung gebracht werden sollte oder nicht, so trat (bei der theaterwissenschaftlichen Zuschauerin) das Bedürfnis nach diesen Unterscheidungen im Laufe des Abends immer mehr in den Hintergrund. Die Frage nach dem Unterschied zwischen Lüge und Wahrheit, richtig und falsch, Kunst und Realität wich der Einsicht, dass alles zugleich möglich ist. Das Spiel, das diese Jugendlichen spielten, konnte in jedem Fall als eines ums Überleben gelten, sowohl in der Moskauer Realität als auch im Theater in der Berliner Schaperstraße. In der überzeugend vorgebrachten Lüge gewann es seine Authentizität ebenso wie in der anrührenden Geschichte aus dem Leben als Verlierer. Das (auch und gerade) auf der Straße erforderliche schauspielerische Vermögen der Jugendlichen erwies sich selbst noch im Raum des Theaters als existenziell gegründet. Seine Wirksamkeit, wie auch die potenzielle Vergeblichkeit, waren direkt erlebbar. Beides ließ sich messen am Geld, das in der Mütze lag, an der Empörung, die das Reden der Jugendlichen hinterließ, an der Enttäuschung der Zuschauer darüber, kein „richtiges“ Theater erlebt zu haben (wie dies in der nachträglichen Diskussion des Publikums mit Elena Kovilyna deutlich zum Ausdruck kam). Gleichzeitig mussten wir Zuschauer uns fragen, ob es jedoch nicht genau das ist, was wir vom Theater wollen: Die Uneindeutigkeit der Antwort, die anhaltende Irritation, das Vergnügen, die Belehrung, die Einsicht in andere Welten – und nicht zuletzt die volle Mütze, sprich: volle Kasse. Oder – so der Tenor einiger Besucher – haben Ereignisse wie dieses auf der Bühne nichts zu suchen? Unabhängig davon, wie die Antwort jeweils ausfallen mag, markiert sie eine Haltung zu einem Geschehen, das politische, moralische und ästhetische Fragen miteinander vermengt und dem mitspielenden Publikum eine Stellungnahme abverlangt. Jenseits aller Darstellung wird hier also eine Situation erzeugt, in der zunächst einmal einer Gruppe von jungen Leuten ein Forum gege-

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ben wird, sich vor Menschen zu artikulieren, die wahrscheinlich sonst nie direkt mit solchen Geschichten konfrontiert würden. Die Position der Jugendlichen ist klar: Sie wollen gehört werden und Geld bekommen – angesichts der von ihnen vorgestellten Lebenssituationen zwei durchaus berechtigte Wünsche. Was allerdings wollen wir als Zuschauer von ihnen? Was wollen wir ihnen geben? Was wollen wir von ihnen wissen? Worüber wollen wir mit ihnen sprechen? Konfrontieren sie uns nicht vielmehr mit unserer eigenen Sprach- und Ratlosigkeit? Müssen wir uns nicht eingestehen, dass wir uns gar nicht die Mühe machen wollen, ein Gespräch zu beginnen – also eine Beziehung aufzunehmen, die über die bloße Beobachtung hinaus geht? Wie kann somit die Einladung zum Dialog realisiert werden? In welcher Weise ist ein Dialog, ein Eingreifen mit sprachlichen Mitteln, in dieser Vorstellung/Vorstellung möglich? Fragen in der Art: „Wie stellt ihr euch eure Zukunft vor? Findet ihr das nicht kriminell? Was sagen eure Eltern dazu? Könnt ihr nicht etwas anderes tun?“ erweisen sich im Moment ihres Hervorbringens als Scheinfragen bzw. verweisen auf die Hilflosigkeit des Publikums, die sich angesichts solcher Lebensverhältnisse notwendigerweise zunächst einstellt. Wir müssen uns eingestehen, dass unsere Rolle als Zuschauer macht- und wirkungslos ist. Die Rettung des Zuschauers aus der unangenehmen Situation erfolgt letztlich über die grundsätzliche Infragestellung des gesamten Unternehmens. Am Ende wird gefragt: „Was hat das alles mit Theater (und damit auch mit uns, die wir hier Zuschauer sein wollen) zu tun?“ Zusätzlich wird der Vorwurf an Elena Kovilyna vorgebracht, sie beute die Jugendlichen für ihre Kunstabsichten aus. Das Gespräch erzeugt also Abwehrreaktionen und Distanzhaltungen. Damit bleibt zum Ende die Frage, die wir an uns selbst stellen müssen, was wir als – so ist anzunehmen und zu hoffen – informierte Zuschauer von einer solchen „Vorstellung“ erwarten. Sozialromantik und/oder Nervenkitzel?

B e i sp i e l 2 In der Konzeption ähnlich wie diese Arbeit von Elena Kovilyna lässt sich durchaus die von Jochen Gerz 2001 in der französischen Hauptstadt initiierte Aktion Les mots de Paris beschreiben, in der er eine Gruppe von Menschen ohne Obdach „anstellte“, um vor Notre Dame im Auftrag der Kunst professionell (d.h. durch ein Training mit dem Regisseur Thierry Roisin darauf vorbereitet) zu betteln. Gleichzeitig erhielten seine „Angestellten“ in den, den Prozess begleitenden 31

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Schreibwerkstätten die Möglichkeit, ihre Lebensgeschichte zu formulieren und sich auf ihren „Auftritt“ in der Öffentlichkeit vorzubereiten.1 Gerz Motivation für dieses Unterfangen verdankt sich einer Beobachtung, die er im Pariser Alltag machte. Entschlossen, den in der Metro bettelnden Obdachlosen etwas Geld zu geben, entdeckte der Künstler, dass seine Bereitschaft zur Spende davon abzuhängen scheint, wie gut die Bettelei durchgeführt wird. Ganz offensichtlich war seine Vorstellung von Großzügigkeit daran gebunden, dass ihm der Nehmende in einer bestimmten Art entgegen tritt oder anders formuliert: dass sich der Bittende in einer bestimmten Weise aufführt. Gerz bekennt: „Je voulais qu’ils correspondent à une image que je me faisais d’eux pour leur donner de l’argent.“

Neugierig geworden, welchen Mechanismen die Bettelei und die mögliche Spende oder deren Ausbleiben folgen, geht er den Obdachlosen nach und beobachtet sie. „J’ai commencé à les suivre de rame en rame pour voir s’ils conservaient ou changeaient leur boniment, et j’ai vu que ceux qui en changeaient le plus souvent étaient ceux qui recevaient le plus d’argent. […] J’ai aimé l’idée de les voir gagner un peu plus d’argent, tout en faisant ce qu’ils faisaient. […] Je ne voulais pas les transformer en autre chose.“2

So beginnt eine Arbeit des Künstlers mit Obdachlosen, die sich in verschiedenen Phasen über mehrere Monate erstreckt und an deren Ende die Beteiligten nicht nur für sich neue Perspektiven sahen, sondern auch 100.000 Francs „erwirtschaftet“ waren, die einem neuen, nichtkaritativen Projekt mit wohnungslosen Menschen zugutekommen sollten.3 Die im Umkreis der berühmten Kathedrale angesprochenen Passanten hatten die Wahl, Geld zu spendieren oder sich gemeinsam mit einem der Bettelnden an einen eigens dafür vorbereiteten Ort zu begeben – eine Bushaltestellen-Überdachung mit zwei Stühlen, direkt

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Siehe hierzu ausführlich die Berichte in: Gerz et al., L’Anti-Monument. Les Mots de Paris, Actes Sud 2002. Gerz, Jochen in Gerz et al., L’Anti-Monument. Les Mots de Paris, Actes Sud 2002, S. 100. Siehe hierzu: Kurt, Hildegard: Nachhaltigkeit – eine Herausforderung an die Kunst? In: Kulturpolitische Mitteilungen Nr.97, II/2002, S. 46-49.

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gegenüber von Notre Dame – um sich seine/ihre Lebensgeschichte erzählen zu lassen. Zum Beispiel Geschichten wie diese: „La rue m’a appris à tasser mes problèmes les uns sur les autres, m’a appris à être méchant, sans cœur, sans peur. La rue m’a appris à être un animal, un marginal, un anarchiste, un fasciste contre les riches, un rebut de l’insertion, un vrai con. Et aussi: un drogué, un menteur, un voleur, un solitaire, un fou dangereux qui pète un câble, tant il s’ennuie. Et c’est très long et très dur. Et être présent la nuit comme un loup. Normal. La nuit, dans la rue, mieux vaut faire le loup que le mouton.“4

Ähnlich wie im Projekt von Elena Kovilyna ging es also in dieser Aktion ebenfalls um den Zusammenhang von Geld/Bettelei und Kunst, um die Lebensgeschichten von Menschen, die aus der Gesellschaft ausgeschlossen sind. Gerz und seine Mitarbeiter schufen ein öffentlich wahrnehmbares Forum, das Obdachlosen die Möglichkeit gab, zu Wort zu kommen; den Passanten wiederum war die Möglichkeit gegeben, sich zu entscheiden, entweder Geld oder Zeit oder beides zu geben. Oder sich in einer bewusst gewählten Gleichgültigkeit oder Ablehnung zu entziehen. Zeit geben bedeutete gleichzeitig, sich in der Öffentlichkeit einem Obdachlosen gegenüber zu positionieren, ihm zuzuhören, zumindest für die Dauer einer Geschichte eine Beziehung zu etablieren, die sonst nie zustande gekommen wäre. Anders als in Vorstellung jedoch war dies die Situation, in der ein mögliches Gespräch stattfinden konnte. Das Zusammentreffen der Passanten mit den Obdachlosen erfolgte zwar durchaus in einer bühnenähnlichen Situation – beide waren in dem überdachten Häuschen für alle übrigen Passanten sichtbar – das Gespräch allerdings blieb unter vier Augen, es fand – einem Entschluss folgend – in einem öffentlich-intimen Rahmen statt, der gleichzeitig einen gewissen Schutz gewährte. Während in Vorstellung der theatrale Status der Veranstaltung am Ende in Frage gestellt wurde, konnte hier damit gerechnet werden, dass die um den künstlerischen Beitrag wissenden Passanten den Realitätsgrad der Erzählungen in Frage stellten bzw. die Geschichten der Obdachlosen zu „bloßem Theater“ degradierten und ihnen unterstellten, sie spielten lediglich eine Rolle. Während in Vorstellung plötzlich „zu viel Realität“ im Saal vorhanden war, wo man das Theater erwartet hatte, konnte es auf dem öffentlichen Platz vor Notre Dame geschehen, dass die Realität der Obdachlosen als zu theatral aufgeladen wahrgenommen wurde. Beide Argu-

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In: Gerz et al., a.a.O., S. 118.

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mente bzw. die damit verbundenen Haltungen dienen gleichermaßen dem Wunsch nach Distanz.

B e i sp i e l 3 Das dritte Beispiel unterscheidet sich sehr stark von den beiden vorausgegangenen. Während Vorstellung und Les Mots de Paris theatrale Mittel nutzen, um Aufmerksamkeit auf soziale Probleme zu lenken und den Zuschauern entsprechende Stellungnahmen abverlangten, reflektiert das dritte Beispiel auf das Theater selbst und seine möglichen Formen der Praxis. Initiiert war das Projekt Sind wir Leute mit Vergangenheit? Sind wir Leute mit Zukunft? von Stadt Theater Wien, genauer von Anne Mertin und Fred Büchel. Im Ganzen entsprach es dem Wunsch nach Begegnung zwischen Theaterleuten und -wissenschaftlern, um sich – primär auf der Ebene der Praxis – über die heutige Tauglichkeit des Lehrstückmodells zu verständigen. Ganz im Brecht’schen Sinne gab es – bis auf einen Videokünstler, der an zwei Nachmittagen das Geschehen mit seiner Kamera verfolgte – keine Zuschauer, es handelte sich also ausschließlich um ein Spielen für sich selbst. Die Dramaturgie, im Sinne des Ablaufs des Experiments, war weitgehend von den Wiener Theaterleuten vorgegeben. Sie lässt sich im Wesentlichen als Konzentration auf zwei inhaltliche Schwerpunkte beschreiben: Geschichte und Vorurteil. So wurden die Vormittage dazu verwendet, unterschiedliche Orte der Aufbewahrung von Geschichte zu besuchen: das Freud Museum, das Hutmuseum im Piaristenkeller, das Museum für Heeresgeschichte, die Werkstätten der Vereinten Wiener Bühnen, das Museum für Naturgeschichte und das anatomisch-pathologische Museum im „Guglhupf“, einer früheren Wiener Nervenheilanstalt. Die anschließende Mittagspause verbrachten die aus Berlin kommenden Theaterwissenschaftler in einem durchaus „typischen“ Wiener Restaurant, in dem sie dann auch entsprechend als „preußische Stammgäste“ gesehen wurden. Die Wiener bereiteten währenddessen den Nachmittag auf ihre Art vor. Die gesamte Gruppe traf sich danach wieder im nahe gelegenen „Fritzpunkt“, einem von Stadt Theater Wien gemieteten kleinen Ladenlokal, wo der Versuch unternommen wurde, sich auf der Ebene theatraler Kommunikation, sprich: miteinander sprechend im Raum zu begegnen. Dies geschah mittels einstudierter bzw. eigens dafür vorbereiteter Texte und konnte als Versuch gesehen werden, der Frage nach dem Vorurteil einerseits und der Frage: Sind wir Leute mit 34

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Vergangenheit? Sind wir Leute mit Zukunft? andererseits eine im Sprechen und Handeln erfahrbare Antwort zu geben. Was die verwendeten Texte betrifft, so nutzten die Wiener bereits im Spielen erprobtes Material aus Marianne Fritz’ Roman Naturgemäß I, während die Berliner sich selbst als Autoren und Autorinnen betätigt hatten, also eigens zu diesem Vorhaben verfertigte Prosa nutzten. In einem Text über Walter Benjamin, der bekanntlich dem Schaffen Brechts sehr zugetan war, schreibt Hans-Thies Lehmann, dass das bereits für das epische Theater zentrale Verhältnis von Aufführung und Aufgeführtem in seiner „Dialektik“ im Lehrstück „zur Radikalisierung […] trieb, wo Mimesis und die Darstellung von Erkenntnissen zugunsten der Mitwirkung (mit ihrer Unvorhersehbarkeit) und der im Ereignis stattfindenden „Gewinnung“ von Erkenntnissen (anstelle ihrer Darstellung) zurücktreten.“5 Genau im Sinne dieser Radikalisierung reflektierten sowohl die gesamte Aufführungssituation – zu der die Museumsbesuche ebenso zählten wie die Begegnung mit den „Einheimischen“ während der Mittagspause, das gemeinsame Agieren mit Stadt Theater Wien am Nachmittag ebenso wie die gemeinsam verbrachten Abende – als auch das Aufgeführte – nämlich die Facetten von Geschichte, die Rituale im Restaurant, das Spiel im „Fritzpunkt“, die Kommunikation der gesamten Gruppe in diversen Caféhäusern der Stadt – die zentrale Dialektik von „Geschichte und Vorurteil‘. Sie bildete sozusagen den allgemeinen Reflexionsrahmen, der das Tun bestimmte und von dem sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen auch begrenzen ließen bzw. den sie wiederum auch aktiv gestalteten, indem sie sich für die Dauer des Experiments kontinuierlich innerhalb dieser Setzung zu definieren versuchten. Das Lehrstück, das also in Wien stattfand, sprengte gleichzeitig den üblichen Rahmen eines Lehrstücks, indem es die Alltäglichkeit außerhalb des Theaters mit einbezog oder anders gesagt: die Theatralität des Alltags auch zum Thema erhob. Damit war die angesprochene dialektische Verflechtung von Theater und Realität der beiden vorher diskutierten Beispiele noch einmal um eine Stufe komplexer gestaltet. Doch nicht nur die Unterscheidung zwischen Theater und Realität/ Alltag stand im Wiener Experiment zur Diskussion, sondern ebenso die Frage nach den gegenseitigen Zuschreibungen – wer sind wir? Wer 5

Lehmann, Hans-Thies: Eine unterbrochene Darstellung. Walter Benjamins Idee des Kindertheaters, in: Szenarien von Theater und Wissenschaft, hrsg. von Christel Weiler und Hans-Thies Lehmann, Berlin 2003, S. 200.

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sind die anderen? Es wurden also im Spiel kontinuierlich Fragen der Identität verhandelt. Im Folgenden möchte ich einigen Elementen des gesamten experimentellen Settings etwas detaillierter nachgehen, um diesen komplexen Versuch eines Miteinandersprechens deutlich zu machen. Da ich selbst an diesem Experiment teilnahm, werde ich der Einfachheit halber aus der Ich-Perspektive schreiben.

D e r Ra u m u n d d i e M ac ht d e s T he a te r s Durch die vormittäglichen Museumsbesuche angefüllt mit Vor-UrteilInformationen und Gedanken zu Land und Leuten und ihren Geschichten – und gesättigt mit Wiener Mehlspeisen – fand eine tägliche Begegnung im „Fritzpunkt“ statt - einem alten Ladenlokal, welches für das Lehrstück zeichenhaft in ein Reisebüro umgerüstet wurde, in dessen Zentrum allerdings auch ein betretbarer Schiffsrumpf zu finden war. Schon der erste Rundblick im Raum machte deutlich: Dies sind Angebote zur Selbstdefinition. Wer sind wir in diesem Raum? Berliner in Wien? Theaterwissenschaftler? Touristen, die eine Reise buchen wollen? Wohin soll sie gehen? Hat sie nicht schon längst begonnen? Sind wir auf dem Schiff oder schwimmen wir nebenher? Treiben wir neben Tischen und Stühlen ins Offene? Sind wir blinde Passagiere, Matrosen? Wer sind die Anderen? Welche Rolle(n) spielen sie? Dass die Wiener als Schauspieler gesehen werden wollen, war vom ersten Moment an deutlich: Sie trugen alle schwarze Hosen mit weißen Hemden, hatten sich ordentlich aufgestellt und erwarteten ihre Gäste. Ob wir uns freiwillig auf die kleinen, neben dem Schiffsrumpf aufgestellten Hocker setzten oder man sie uns zuwies, erinnere ich nicht mehr; nur soviel: Wir saßen brav nebeneinander (wir, sitzend, unten und die Anderen, stehend, oben) und waren beeindruckt von der Macht des Theaters, von einem professionellen schauspielerischen Vermögen, klare Verhältnisse zu schaffen, indem man sich ein anderes Gewand anzieht, eine Haltung einnimmt und deutlich signalisiert: Jetzt wird ein anderes Spiel gespielt. Eines, in dem es um die Frage nach Form geht; in dem sich gesprochene Literatur an unseren hilflosen Artikulationsversuchen reibt, in dem die Fähigkeit zur Wiederholung und zur Gestaltung, in dem das Wissen ums eigene Tun und dessen Wert uns so deutlich vorgeführt wird, dass unsere Liebe zum Theater ins Wanken gerät. Wie werden wir bestehen mit unseren Texten? Was wird entstehen zwischen uns und den Anderen, zwischen ihrer und unserer Rede, in den Räumen, in denen wir gemeinsam anwesend sind 36

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und gemeinsam agieren? Wir fühlen uns angesprochen durch die Texte, die vorgetragen werden, und wissen gleichzeitig, dass wir nicht persönlich gemeint sind. Oder doch? Susanne Hahnl sieht uns an und spricht: „Schweigen, betretenes, peinliches Schweigen. Strenge Blicke. Wenn ich zurückblicke? Gut so, ich werde es trotzdem wagen. Ich werde nun erläutern, weswegen der Amerika-Agent zwar ein Schurke gewesen ist, eine Last, die ihm keiner abnimmt, sie ist aber nur die halbe Last, deswegen auch bloß die halbe Wahrheit, halbe Wahrheiten sind tückischer, und gefährlicher als deftige Lügen, schamlos Gelogenes schenkt uns die Erbitterung, halbe Wahrheiten legen uns aufs Kreuz, hinterhältig deswegen, weil sie unseren Erfahrungen so ähnlich sehen, verflucht ähnlich, sodass wir wie gefesselt sind von diesem Verdacht, etwas ist dran, so ganz gelogen ist das alles nicht, etwas ist dran und schon schwanken wir, und schon erlöst uns der Schnaps, denn, etwas ist dran, noch immer strenge Blicke, noch immer keine Vergebung? Gut so, ich werde es trotzdem zusammenfassen, was jeder weiß und niemand ausspricht, weil jeder weiß, wir sind Leute mit Zukunft, Leute mit Vergangenheit beschweren bloß die Gegenwart, die Leber weint, die Galle platzt, das Denken schmerzt, die Erinnerung peinigt.“ An wen richtet sich die Rede? Ist sie Antwort auf uns, auf unsere eigenen Reden? Für wen sind die Worte gemeint? Zirkulieren sie unter uns? Adressieren wir sie an die Anderen? Erwarten wir Antworten? Wer ist der Amerika-Agent? Sind wir Leute mit Vergangenheit? Sind wir Leute mit Zukunft? Wer lügt? Wer sagt die Wahrheit? Zuweilen retten wir uns in spontane Kommentare (vermeintliche Wahrheit) und merken sofort, dass wir damit den Boden unter den Füßen vollends verlieren. Für den nächsten Tag planen wir neue Strategien, verbieten uns spontane Äußerungen, üben uns ein in zu findende Form und akzeptieren den Wert der Reduktion. Wir ahnen, dass zwar eine Stärke darin bestehen kann, flexibel, wendig wie ein Fisch im Wasser zu sein, aber dass hier in diesem Raum ein starkes und ein schwaches Konzept der Selbstinszenierung aufeinandertreffen, und das spezifische Unwohlsein, das dadurch auf unserer Seite entsteht, auszuhalten ist. Wir sind nicht auf sicherem Terrain, die den Anderen zugeschriebene Stärke bringt uns in Schwierigkeiten. Wir können (und wollen) nicht aussteigen, da wir eine Verabredung zum Spiel eingegangen sind. Und zwar zu einem Spiel, das ernst genommen werden will, wollen wir uns selbst nicht vorab zum Scheitern verurteilt sehen. Jemand aus unserer Gruppe beginnt damit, eine Mauer aus Schaumstoffteilen im Raum zu errichten, ein anderer bedient sich der Sätze der Anderen, wir brechen

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die Regeln. Vielleicht sind wir uns gegenseitig eine Herausforderung? Doch die Mauern, die gebaut werden, sind solche, die auch uns einschließen. Die Sätze der Anderen klingen aus unseren Mündern wie unsere Sätze. Etwas ist dran am Vorurteil. Das zeigt uns das Lehrstück. Als Verzögerung, ständiger Aufschub von Gewusstem oder sicher Geglaubtem ließe sich seine Grundtendenz beschreiben. Oder auch als die permanente Zerstörung und damit Beglaubigung von Vorurteilen durch das Spiel. Die folgenden Nachmittage verlaufen ähnlich. Aus der Analyse der vorangegangenen Situation werden andere künftige Regeln festgelegt. Gewappnet mit neuen Strategien, neuen Versuchsanordnungen und neu verabredeten Handlungsmaximen (z.B. wir bewegen uns nicht im Raum, wir verweigern das Sprechen, wir benehmen uns wie Zuschauer, wir reduzieren unsere eigenen Texte, wir nehmen neues Textmaterial hinzu, wir tauschen die Instrumente usw.) treffen wir also wiederholt aufeinander – in variierter Abfolge, unsere Kommentare sprechend zur Frage danach, ob wir Leute sind mit Vergangenheit, Leute mit Zukunft – und erleben immer wieder eine Serie von Verunsicherungen, die sich dennoch in für uns klaren Sprech-Handlungen und körperlichen Aktionen artikulieren müssen. Ebenso variiert die Gegenseite ihre Strategien, sucht sich neue Spielräume und stellt uns somit fortgesetzt vor unerwartete Schwierigkeiten (sie bieten uns ihre Texte an, sie fragen uns allen Ernstes, was ein Lehrstück ist, sie werden in einer Weise emotional, dass wir nicht wissen, ob die Gefühle echt oder gespielt sind, usw.) – wie wir sicher auch dazu beitrugen, Ratlosigkeit zu erzeugen, die sich gleichwohl in präzisen Handlungen manifestierte. Für das Selbstverständnis der Berliner Gruppe ließ sich die anhaltende Irritation am ehesten schließlich darin zum Ausdruck bringen, dass wir beschlossen, alle mitgebrachten Musikinstrumente untereinander auszutauschen und somit jeder zögerlich dilettantisch versuchte, auf einem fremden Instrument Töne zu erzeugen. Dieses Spielen auf einem Instrument, auf einer Klaviatur, die man nicht beherrscht, von der man vielmehr bestimmt wird, die uns auf unsere Ratlosigkeit aufmerksam macht, eignet allen hier angeführten Beispielen. Eins ums andere konfrontieren sie den Zuschauer mit der Definitionsmacht des Theaters, einer theatralen Macht der Definition und damit der fragwürdigen/zu befragenden eigenen Position als Zuschauer/Passant/Mitwirkender. Sieht man jedoch aus der Perspektive dieses letzten Experiments noch einmal die vorausgegangenen Projekte, dann wird deutlich, dass der Lehrstück-Charakter, der ihnen

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DIALOGE MIT DEM PUBLIKUM

ebenfalls eignet, ihren nicht zu bestreitenden Wert ausmacht. Sowohl in Vorstellung als auch für Les mots de Paris wurde das Theater als ein Vehikel benutzt, um sozialen Gruppierungen, die üblicherweise kein Forum der Selbstdarstellung haben, die Möglichkeit zu geben, die eigene Situation zu transformieren und zu reflektieren. Jochen Gerz sagte mit Blick auf seine Arbeit, er habe beabsichtigt, den Obdachlosen einmal in ihrem Leben eine wirkliche Chance zu geben. Die Nachhaltigkeit seines Tuns, das Münden in einem neuen eigenständigen Projekt, bestätigt dies. Auch die Erfahrung der Moskauer Jugendlichen ist ähnlich zu bewerten. Was allerdings das Theater anbelangt, so bleibt letztendlich zu wünschen, dass wir hin und wieder auch Zuschauer bleiben dürfen. Anfangs war die Rede davon, dass Theater eine Beziehungskunst ist. Im herkömmlichen Sinne entfaltet sich diese Beziehung auf der Grundlage des Zuhörens, des Abwartens, des genauen Hinsehens. Es wird uns die Chance gegeben, nicht sofort sprechen zu müssen, schweigen zu dürfen, nachdenken zu können. Wir nehmen den Nachklang der Aufführung mit aus dem Theater hinaus und oft fällt uns erst nach Tagen eine Frage zum Erlebten ein. Wo anders wird uns so viel Zeit gewährt? Wie erleichternd, dass wir nicht immer und überall etwas sagen müssen. Diese Art von dialogischer Kunst des Zuschauens ist eine, die immer noch und immer wieder neu zu üben und zu erlernen ist.

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THERE

IS A

WORD FOR PEOPLE AUDIENCE

L I K E YO U :

FLORIAN MALZACHER R o l l e n d e s Z u sc h au e r s i m z e i tg e n ö s si sc he n T h e a t e r There is a word for people like you, and that word is audience. An audience comes to a theatre perhaps to see something which if they saw it in real life, they may find offensive… Perhaps you’ve come here this evening, because you want to see something you’ve only done in the privacy of your own homes, something perhaps you wished you’d done in the privacy of your own homes or something that you dreamed about doing in the privacy of your own homes. An audience likes to sit in the dark and to watch other people do it. Well, if you’ve paid your money – good luck to you. However, from this end of the telescope things look somewhat different – you all look very small, and very far away and there’s a lot of you. It’s important to remember that there are more of you than of us. So, if it does come to a fight, you will undoubtedly win.

Dass die Zuschauer in der Überzahl sind, das sollten sie – wie Richard Lowdon von der britischen Gruppe Forced Entertainment hier im Eröffnungsmonolog von Showtime bittet – nicht vergessen. Denn es bedeutet: Wir haben Verantwortung für das, was auf der Bühne geschieht, könnten es stoppen, wenn nötig, könnten es aber auch unachtsam zertrampeln. Allein die banale Tatsache, dass im Theater – anders als in anderen Künsten – die Produktion unabdinglich in derselben Raumzeit stattfindet wie die Rezeption, bringt uns in eine heikle Lage: nämlich mitverantwortlicher Teil eines Ganzen zu sein. 41

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Es ist dieses Phänomen, das Forced Entertainment spätestens seit Anfang der neunziger Jahre besonders interessiert und das seither in den meisten ihrer Arbeiten zumindest beiläufig thematisiert wird: Sterben wird vorgeführt, Menschen werden gedrängt, Privatestes zu offenbaren, verzweifelt suchen sie nach einem bisschen Würde, nach etwas Glück, stehen nackt vor aller Augen – immer sind wir anwesend, als Zuschauer, als Zeugen, als Voyeure. Die Achsenverschiebung von einer dramen- oder bühneninternen zu einer intratheatralen Kommunikation mit dem Publikum ist das, was seit rund hundert Jahren die unterschiedlichsten Theaterneuerer eint. Und sie zielt auf das Politische. Denn man kann an der Rolle des Publikums immer auch gesellschaftliche Verhältnisse oder Utopien ablesen. Egal, ob die Polis sich im Athener Theater traf, ob der barocke König zum Fluchtpunkt der Inszenierung wurde oder ob sich das erwachende Bürgertum Nationaltheater baute: Immer war die Theatersituation auch Spiegel gesellschaftlicher Modelle. Die Strategien und Ziele der Auseinandersetzung mit der Rolle des Publikums waren natürlich sehr verschieden: Die Futuristen beispielsweise wollten vor allem die Grenzen zwischen Parkett und Bühne reduzieren und den Zuschauer aktivieren.1 Antonin Artaud hingegen ging es darum, die Defizite abendländischer Kultur zu überwinden und einen vorrationalen Zustand (auch des Publikums) zu erzeugen, eine kollektive, quasi-kultische Erfahrung, die die Grenzen aufhebt. Im linken politischen Spektrum wiederum suchten Theatermacher von Meyerhold bis Brecht den mündigen Zuschauer, der aktiv und bewusst das Bühnengeschehen betrachtet, um anschließend politisch zu handeln: „Also, ich schlage vor, ihr seht es ein und druckt neue Plakate! Ihr ladet die Leute in den Zirkus ein! Und da dürfen sie in Hemdsärmeln dasitzen und Wetten abschließen. Und sie müssen nicht auf seelische Erschütterungen lauern und mit den Zeitungen übereinstimmen, sondern sie schauen zu, wie es mit einem Mann gut geht oder abwärts, wie er unterdrückt wird oder wie er Triumphe feiert, und sie erinnern sich an ihre Kämpfe vom Vormittag.“2

Seither sind viele Gefechte um (oder für) den Zuschauer ausgetragen worden; er wurde angeschrien, beschimpft, einbezogen, saß selbst auf der Bühne oder wurde auf der Straße vom Theater überrascht. Keiner1 2

Marinetti schlug z.B. vor, die Zuschauersitze mit Leim zu bestreichen oder zehnfach zu verkaufen, um Tumult zu erzeugen. Brecht, Bertolt: Das Theater als sportliche Anstalt, in Bertolt Brecht: Werke (Hg. Wolfgang Jeske) Frankfurt am Main 1991, S. 39.

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lei Garantie, dass jener theatrale Pakt noch eingehalten würde, der den Darsteller vom Publikum trennt. Um einen Einblick in das zu geben, dem man sich so aussetzen konnte, ein Augenzeugenbericht von Susan Sontag: „Der vielleicht auffälligste Zug des Happenings ist seine Behandlung (nur so kann man es nennen) des Publikums. Das Ereignis scheint darauf angelegt, das Publikum zu ärgern und zu beschimpfen. Es kann geschehen, dass die Darsteller das Publikum mit Wasser bespritzen oder Pennies und Reinigungsmittel, die wie Niespulver wirken, unter die Zuschauer werfen. Und es kann auch vorkommen, dass einer der Akteure einen ohrenbetäubenden Lärm auf einem Ölkanister macht oder eine Acetylfackel in Richtung auf die Zuschauer schwenkt [...]. Es wird keinerlei Versuch unternommen, dem Wunsch des Publikums, alles zu sehen, entgegenzukommen. Ja der Erfüllung dieses Verlangens wird oft bewusst entgegengearbeitet.“3

Auch wenn die Sicherheitslage des Zuschauers sich inzwischen wieder entspannt hat – die Rolle des Beobachters ist bis in die Stadttheater hinein aufgewertet wird wie nie zuvor. Dabei geht es längst meist weniger um die Überwindung der Rampe als Grenze, als vielmehr – durch die Verschiebung der Utopie vom konkreten Räumlichen ins abstrakt Semiotische – um die Ernennung des Zuschauers zum „unumschränkten Herrscher über alle möglichen Semiosen, ohne damit ein anderes, übergeordnetes Ziel zu verfolgen.“4 „Der Zuschauer hat die Freiheit, alles mit allem zu verknüpfen und unbegrenzt beliebige Semiosen zu vollziehen oder auch auf Bedeutungszuweisungen zu verzichten und die präsentierten Dinge einfach in ihrem konkreten Sein zu erfahren.“5

Nicht zum aktiven Handeln wird das Publikum im Theater aufgefordert, sondern zum aktiven Sehen und Denken. Wo Brecht vom „aktiven Zuschauer“ als Gegenstück zum aristotelischen „Furcht -und Mitleid“-Konzept noch erwartete, dass er das Gezeigte konkret als Modell auf die Gesellschaft übertragen sollte, soll dieser Zuschauer nun Sätze und Bilder mit sich selbst in Verbindung bringen, sie verknüpfen, ergänzen zu seinen eigenen Geschichten statt einer geschlossenen, linearen Narration zu folgen. Solchermaßen aktiviert und zum Herrscher ermächtigt, trägt er eine merkwürdige Verantwortung für das, was er sieht: 3 4 5

Sontag, Susan: Happenings: Die Kunst des radikalen Nebeneinanders in: Geist als Leidenschaft, Leipzig 1990, S. 74/75. Fischer-Lichte, Erika, S. 78. Ebd.

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„You are as responsible for everything you see as you were for everything you do. The problem was that you didn’t always know what you were seeing until later, maybe years later, it just stayed stored in your eyes.“6

Tim Etchells stellt in seinem Essayband „Certain Fragments“ dieses Zitat aus den Aufzeichnungen des Vietnam-Kriegsberichterstatters Michael Herr in den Zusammenhang mit der Arbeit Forced Entertainments: „We always loved the idea in this – of one’s responsibility for events only seen.“7 Es ist die Verantwortung desjenigen, der zum Zeugen eines Geschehens wird, eines Unfalls, eines Verbrechens, eines Unrechts – aber auch einer Liebesszene, einer Versöhnung oder einfach eines alltäglichen Vorgangs. Es ist die Verantwortung des Sehens – und der Haltung, die gegenüber dem Gesehenen eingenommen wird. So wird der Zuschauer zum Zeugen – und zum Gegenmodell jenes passiven Wesens in der Gesellschaft des Spektakels, von dem mit Guy Debord angenommen wird, dass es „von nichts eine Ahnung und auf nichts Anspruch hat“, das „stets nur zuschaut, um die Fortsetzung nicht zu versäumen“ und schon allein deshalb keinerlei Veranlassung zum Handeln hat.8 Der Theaterzuschauer sitzt nicht allein vorm Fernseher, er betrachtet kein fertiges Kunstwerk oder einen Film; er ist Teil eines Geschehens, im selben Raum, zur selben Zeit. Aktive Präsenz in einer gemeinsamen Situation. „Die Entfremdung des Zuschauers zugunsten des angeschauten Objekts (das das Ergebnis seiner eigenen bewusstlosen Tätigkeit ist) drückt sich so aus: Je mehr er zuschaut, um so weniger lebt er; je mehr er akzeptiert, sich in den herrschenden Bildern des Bedürfnisses wiederzuerkennen, desto weniger versteht er seine eigene Existenz und seine eigene Begierde.“9

Prototypisch für dieses Modell des passiv konsumierenden Zuschauers gilt Medienkritikern von Postman über Virilio bis Bourdieu der Mensch vorm Fernseher.10 Dessen Passivität liegt – so Samuel Weber

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Michael Herr zit. in Etchells, Tim: Certain Fragments, Contemporary Performance and Forced Entertainment, London 1999, S.20. 7 Ebd. S.20. 8 Debord, Guy, Die Gesellschaft des Spektakels, Hamburg 1978, S. 214. 9 Ebd. S. 26. 10 Der Spiegel berichtet, dass die zerebralen Gehirnströme im Elektronenzephalogramm (EEG) beim Fernsehzuschauer unabhängig vom Typ der Sendung als langwellige Alpha- oder Deltawellen gemessen werden – wie sie sonst in Tiefschlaf, Trance und Hypnose auftreten. „In diesem Phasenzustand“, so der Neurologe Alexander R. Luria, „ist kein orga-

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in seinen Überlegungen zur Darstellung des ersten Golfkrieges in den Medien – auch die Angst vor den Konsequenzen echter Zeugenschaft zugrunde: „Bleibt man Zuschauer, bleibt man brav dort, wo man ist, vor dem Fernsehgerät, so werden die Katastrophen immer draußen bleiben, immer „Objekt“ für ein „Subjekt“ sein – dies ist das implizite Versprechen des Mediums. Doch dieses tröstliche Versprechen fällt mit einer ebenso deutlichen, wenn auch zugleich unausgesprochenen, Bedrohung zusammen: Bleibe dort, wo Du bist. Denn, wenn Du Dich rührst, so kann es leicht zur Intervention kommen, ob humanitär oder nicht.“11

Folgt man Lehmanns Überlegungen, so gehört wesentlich zur Struktur medialer Wahrnehmung, dass zwischen Emission und Rezeption von Zeichen kein „Ansprache-Antwort-Verhältnis“ mehr erfahren wird. Die Aufgabe von Theater muss es daher sein, mit einer Wahrnehmung darauf zu reagieren, die Lehmann als „Ästhetik der Verantwortung“ umschreibt: „Anstelle der trügerisch beruhigenden Dualität von Hier und Dort, Innen und Außen kann es die beunruhigende wechselseitige Implikation von Akteuren und Zuschauern in der theatralen Bilderzeugung in den Mittelpunkt rücken und so den zerrissenen Faden zwischen Wahrnehmung und eigener Erfahrung sichtbar werden lassen.“12

Dieses Verfahren sieht Lehmann als Voraussetzung und einzige Möglichkeit eines „politischen“ Theaters an. Dem tumb konsumierenden Fernsehzuschauer wird ein Zeuge eigener Imagination entgegengesetzt: Wenn die Aufführung, wie mehrfach erwähnt, erst auf je unterschiedliche, immer originäre Weise auf der mentalen Bühne des Betrachters entsteht, so ist jeder auch der einzige Zuschauer seiner je eigenen Aufführung – und somit unersetzbar und zugleich verantwortlich für das Gesehene. Verantwortlich als Zeuge allerdings, nicht, wie z.B. in manchen Performances von Marina Abramovic, als Mittäter. Kann man bei einem einfachen Verkehrsunfall aufgrund der relativ kohärenten Zeichenstruktur noch davon ausgehen, dass bei genügend Aussagen der Vorgang befriedigend rekonstruiert werden kann, so ist nisiertes Denken möglich“. Das zielgerichtete Denken werde zeitweise abgeschaltet. (Hammerstein S. 97). 11 Weber, Samuel: Humanitäre Intervention im Zeitalter der Medien. Zur Frage einer heterogenen Politik. In Hans-Peter Jäck, Hannelore Pfeil (Hg.) Politiken des Anderen, Band 1, Frankfurt am Main 1995, S. 25-26. 12 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 2005, S. 471.

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bei zunehmender Komplexität des Geschehens (wie sie einer nichtnarrativen, nicht kausal verknüpften Theateraufführung in hohem Maße eignet) selbst bei einer ins Unendliche vergrößerten Anzahl von Beobachtern von einer ähnlichen Möglichkeit nicht mehr auszugehen. Jede einzelne Beobachtung ist nicht Kopie, sondern Unikat, für das der Beobachter in besonderem Maße verantwortlich ist. Jeder Zeuge ist der einzige Zeuge. Der Vorstellung, Fernsehen sei weit weg, aber wahr, Theater nah, aber unwahr, wird so die subjektive Wahrheit des Einzelnen entgegengestellt. Das avancierte Theater hat vielerlei Strategien entwickelt, diesen Aspekt gemeinsam verbrachter Lebenszeit zu betonen und so den Zuschauer für das sichtbare Entstehen jedes einzelnen Abends als einmaligen und neuen zu sensibilisieren: Strategien gegen die Routine des Spielens und die Routine des Sehens. Denn schließlich ist es ja so, wie Marten Spangberg gerne betont: „We rehearsed some months for this show and you rehearsed all your life being an audience.“ Zu den Strategien gehören zum Beispiel die der durational performances, wie sie Forced Entertainment, Lone Twin und andere – vor allem britische Künstler – auch hier im Mousonturm gezeigt haben: reale körperliche Erschöpfung oder Überdrehtheit in Ereignissen von sechs, zwölf oder gar vierundzwanzig Stunden.

B e i sp i e l : A n d o n th e t h o u sa n d t h n i g h t , Quizoola... Der Zuschauer hat Teil an diesen Strategien, an dieser – wie Kattrin Deufert im Hinblick auf John Cage sagt – „Dramaturgie der Präsenz“13 Er spürt die Anspannung, die Ermüdung oder den sportiven Ehrgeiz und er spürt sich selbst: angespannt, ermüdet oder sportiv, ehrgeizig durchzuhalten. Er ist Zeuge, aber nicht außen stehend. Er ist Teil des Geschehens, er fühlt sein Gewicht. Die Performancekunst der sechziger, siebziger Jahre hat solche Überlegungen zur Position des Zuschauers als Teil eines Ereignisses in vielerlei Hinsicht thematisiert und auf die Spitze getrieben. Auch die Bezeichnung „Zeuge“ statt „Zuschauer“ stammt aus dieser Zeit: Chris Burden etwa verwendete sie im Hinblick auf die Anwesenden bei seiner berüchtigten Performance Shoot von 1971, als er sich aus fünf 13 Deufert, Kattrin: John Cages Theater der Präsenz, Frankfurt am Main 2002, S. 13.

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Metern Entfernung mit einem Gewehr in den linken Oberarm schießen ließ. Theater soll uns beschäftigen, involvieren über den Moment des Ereignisses hinaus, so wie der juristische Zeuge sich beschäftigt, sich beschäftigen muss über den Moment des Ereignisses hinaus. Doch der Zeuge im zeitgenössischen Theater ist kein guter Zeuge, kann kein guter Zeuge sein. Gerade darin liegt seine spezifische, vielleicht auch politische Qualität. Denn er ist ein permanent überforderter Zeuge. Der Standpunkt seiner Zeugenschaft ist im Wanken. Er kann nicht alles wahrnehmen, vor allem aber kann er nicht alles einordnen. Wir sind hier natürlich bei einem Problem, unter dem auch die professionelle Zuschauerschaft, die Kritik, leidet. Eine Szene aus der Brüsseler Edition von Raffaelo Sanzios Tragedia Endogonida sollte dies etwas zu verdeutlichen: Ein schwarzhäutiges Zimmermädchen in einer großen weißen Marmorbühnenbox wischt den Boden, wischt und wischt, ihre Bewegung wird langsamer, wird Zeitlupe. Dann nach einer Pause, Dunkelheit, lautem Dröhnen: absolute Stille. Als wäre aller Ton abgedreht wie in einer Szene bei Kubrick. Und in der Stille, im grellen, nackten Marmorraum, sitzt allein ein Baby, gerade mal ein paar Monate alt, sitzt und schaut ungläubig. Langt zögernd, den Blick nicht von den Zuschauern lassend, nach einem schwarzen Becher, stößt ihn um und drei Würfel rollen über den weißen Boden. Ein surrealer Traum, eine Filmszene vielleicht, doch mit elektrisierender physischer Präsenz. Und das Publikum traut sich kaum zu atmen. Muss lachen, weil das alles so absurd ist, hört sofort auf zu lachen, um das Kind nicht zu erschrecken. Um das Bild nicht zu zerstören. Um keine Verantwortung auf sich zu laden. Nach welchen Kriterien bewertet man den Auftritt eines Kindes? Welche ethischen Prinzipien gelten für die Kunst? Darf man das? Muss man einschreiten? Wo ist unsere Position in einer solchen Aufführung?

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Wo ist unsere Position? Kein Punkt, von dem aus man die Welt betrachten könnte. Von dem aus man ungestört Kritik üben könnte, ungestört zuschauen könnte. Was ich damit meine, möchte ich kurz an zwei ziemlich prominenten Beispielen verdeutlichen: Denn zwei Großmeister der Öffentlichkeitsinszenierung nutzen dieses Phänomen besonders geschickt und erfolgreich: Der eine ist Christoph Schlingensief, der den Zuschauerraum, aber mehr noch die Medien, die gesamte Außenwelt stets als erweiterte Bühne gebraucht, sie zwar nicht eigentlich mitinszeniert, aber doch zum Teil seiner Inszenierung macht, seine Theaterarbeit verlängert in den öffentlichen Raum der Zeitungen und Fernsehsender. Sodass eine Zuschauerposition, die sich auf das Bühnengeschehen alleine konzentriert, zwangsläufig ins Leere läuft; ein Zusehen, das sich gleichzeitig selbst zusieht, allerdings konsequenterweise in einer FeedbackSchleife landen müsste. Der andere ist Harald Schmidt, der – in entgegengesetzter Richtung – die Rezeption, das frühere Außen, immer hineinholt in seine Shows. Der mit ihr spielt, sie vorwegnimmt, als wäre er immer einen Schritt voraus. Dass das nicht notwendig stimmen, sondern nur so scheinen muss, das wissen wir vom Hasen und vom Igel. Irgendwann hatte Schmidt die Taktik vervollkommnet, einfach unter den Erwartungshaltungen, unter der Überdeterminiertheit aller seiner Zeichen, inklusive seiner selbst, einfach hinwegzutauchen, sie locker zu unterlaufen. Einerseits zu tun, als wäre nicht und andererseits mit dem zu spielen, was natürlich doch war. Der Zuschauer ist also ein schlechter Zeuge – weil er, wie gesagt, einerseits überfordert ist, durch die Menge der Zeichen, durch die fehlenden Kriterien, durch nicht vorhandene, vorgegebene Narrationen und Interpretationen. Wir müssen permanent Entscheidungen treffen: Aktiv zu werten und auszuwählen ist unsere einzige Chance – und an ihr müssen wir gleichzeitig scheitern. So erzeugt zeitgenössisches Theater zuweilen ein Gefühl des Mangels. Einerseits. Andererseits ist das Sehen ja auch eine Lust, ein Reiz, dem man schwer widerstehen kann: Der Zuschauer ist nicht nur ein Zeuge, gut oder schlecht, er ist in vielen Stücken auch ein Voyeur. Ein Voyeur, dessen Blick aus dem Dunkel heraus etwas Unerlaubtes und Hierarchisierendes hat. Doch auch der Voyeur in diesen Stücken ist meist kein guter Voyeur, kann kein guter Voyeur sein. Immer wieder wird ihm die Dreistigkeit seines Blicks vor Augen geführt, genauer: sein Blick überhaupt erst zu einem dreisten gemacht.

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So werden wir in die Situation (und manchmal regelrecht in die Rolle) des Voyeurs gebracht und damit konfrontiert, diese Situation entweder zu mögen oder als unangenehm zu empfinden. Meist aber beides zusammen. Was bleibt, ist ein Gefühl des Zuviel. Das Gefühl der Verantwortung für das Gesehene resultiert also auch aus einem Gefühl der Schuld – Schuld des Versäumens, des Übersehens, des Überhörens einerseits, Schuld des Zuviel-Sehens, der Faszination des Blickes andererseits. (Kein Wunder, dass man hier an Motive der biblischen Paradiesvertreibung und der freudschen Urszene rührt.) Die Lust, zu sehen, die Skopophilie, ist, folgt man Freud, notwendig eine aktive. Sie ist der Motor für kleine Kinder, Privates oder Verbotenes sehen zu wollen. Aber der hierarchisierende Blick aus dem Dunkel heraus auf die Bühne kann umgekehrt werden. Dann wird der Zuschauer selbst vom Zeugen oder Voyeur zum Objekt des Blicks und des Spiels: Erst wird ihm in First Night die Demut der Bühnenfiguren, die doch eigentlich von seinem Wohlwollen abhängig sein sollten, durch ihr provozierendes Dauerlächeln förmlich um die Ohren gehauen, dann wird er auch noch ganz direkt angegriffen, dort, wo es ihn am tiefsten trifft: bei seiner eigenen Sterblichkeit. Eine andere Dimension tritt ins Spiel – der Tod. Der Tod, mit dem man auch in anderen Arbeiten Forced Entertainments immer wieder konfrontiert wird – doch spätestens in First Night bleibt kein Raum für Missverständnisse: Immer ist es der eigene Tod, auf den man letztlich zurückgeworfen wird, auf die eigene last night. „Das Spezifische am Theater ist“, wie Heiner Müller sagt, „eben nicht die Präsenz des lebenden Zuschauers, sondern die Präsenz des potenziell Sterbenden.“14 Eine Mischung aus Wahrsagung und Drohung, eine Verwünschung vielleicht. In jedem Fall eine unangenehme Situation, die uns in unserem „echten“ Leben zu bedrohen scheint. Das Theater wird übergriffig, holt uns hinein ins Spiel. Wir fühlen uns real bedroht und spielen zugleich – für einen Moment zumindest – eine Rolle im Stück; die Rolle eines Menschen, der bald sterben wird. Es ist die Rolle unseres Lebens. Einerseits. Andererseits – alles ein Spiel. Jedenfalls ist es fast schon wieder eine Beruhigung, wenn wir wenig später von der gesamten Mannschaft einfach nur beleidigt und beschimpft werden. Das sind wir schließlich gewohnt. Spätestens seit Handke. 14 Heiner Müller zitiert nach Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater: a.a.O. S.259-260.

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Schlechte (weil überforderte) Zeugen, schlechte (weil nicht genießende) Voyeure und schlechte (weil sich innerlich wehrende) Mitspieler: verschiedene Strategien, uns unserer Zuschauersituation bewusst zu machen. Die Unruhe, die sie erzeugen, weist tief in das Wesen des Theaters: hin auf seine Eigenschaft, politisch zu sein. Denn in einer Zeit, in der die Künste sich wieder mehr und mehr um das Politische bemühen, das der Politik selbst zu entgleiten scheint, ist ausgerechnet das Theater in die Defensive geraten: „Ein politisch gemeinter Diskurs geht schon deshalb ins Leere, weil ganz offensichtlich das Theater insgesamt seinen politischen Ort von einst verloren hat.“15

Mehr als andere Gattungen befindet sich das Theater in den Fängen eines unkritischen Glaubens an bloße Inhaltlichkeit und einem in die Krise geratenen Repräsentationssystem. Einfache Aussagen (von deren kräftiger Klarheit das politische Theater, wie auch die Politik selbst gelebt hat) sind schwierig geworden und werden unserer komplexen Realität nicht mehr gerecht – die Bretter, die die Welt nicht mehr bedeuten. Doch während dem Theater einerseits seine Rolle als Selbstverständigungsmedium der Gesellschaft abhandengekommen ist, gerät zeitgleich wieder in den Blick, auf welche Weise gerade ihm vor allen anderen Künsten das Politische eignet. Nämlich nicht primär in seinen Inhalten, sondern in seiner Struktur. „Die Tendenz, der Inhalt kann nur stimmen“, sagt Benjamin, „wenn auch die Form stimmig ist.“16 Das bedeutet, wie Hans-Thies Lehmann zuspitzt: „Im Wie der Darstellung ist die politische Wirkung des Theaters zu suchen.“17 Das zentrale, das wesentliche Wie im Theater aber ist die gemeinsam verbrachte Zeit von Zuschauern und Akteuren im selben Raum. Politisch stark ist das Theater vor allem da, wo deutlich wird, dass es nach wie vor der einzige künstlerische Ort der direkten Konfrontation mit sich selbst als Kollektiv sein kann. Wenn wir von Richard Lowdon in Showtime direkt darauf hingewiesen werden, aber auch, wenn in First Night Einzelne aus der Menge isoliert werden, dann werden wir als Zuschauer bewusst zu einem gesellschaftlichen Wesen.

15 Lehmann, Hans-Thies: a.a.O. 16 Benjamin, Walter: Der Autor als Produzent, in: ders., Aufsätze, Essays, Vorträge (in Gesammelte Schriften, Band II 2), Suhrkamp, Frankfurt/Main 1991, S. 690-701. 17 Lehmann, Hans-Thies: a.a.O.

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Politisches Theater ist ein Theater, das den Zuschauer zu einer Haltung oder gar zum Handeln anregen möchte. Doch im rein inhaltlichen, intentionalen („inhaltistischen“) Theater erschöpft sich diese Haltung schnell im wohlfeilen Einverständnis und der Identifikation mit den ethischen Handlungen und Haltungen auf der Bühne. Die eigene Haltung wird, quasi kathartisch, sofort abreagiert und verpufft, ohne aus dem Parkett hinaus ins Leben gerettet zu werden. Die Identifikation mit dem Guten ist sich selbst genug und führt zu nichts als einem guten Gefühl, das suggeriert, man habe bereits (gut) gehandelt. Das war schon Brechts Kritik an Aristoteles. Aber inzwischen funktioniert auch Brechts Vorstellung vom Theater als Modell für Handlungen außerhalb des Theaters nicht mehr; das Modell ist selbst zur affirmativen Wirklichkeitsabbildung geworden und scheitert als politisches Argument genau da, wo das bürgerliche Theater scheiterte, bevor Brecht es zu revolutionieren begann. Vielleicht also ist heutiges politisches Theater am ehesten gerade dies: Ein Theater, das den Zuschauer als Zeuge, Voyeur, Mitspieler, „das Gewicht der Dinge“ und seine Präsenz „auf eine grundlegend ethische Weise“ fühlen lässt, das ihm zeigt, dass er eine Haltung beziehen muss – und ihm diese Möglichkeit im selben Augenblick verweigert. Durch Verunsicherung, Irritation, Unterbrechung schafft es einen Möglichkeitsraum und erzeugt so einen „Haltungsdruck“ – ohne selbst als konkretes Objekt dieser Haltung oder gar eines Handelns zu taugen. Das ist ja auch etwas, was man gut von Schlingensief kennt: z.B. Quiz 3000, in dem er Zuschauern, aber auch der Crew seiner teils geistig behinderten Mitspieler so anmaßend auf den Leib rückte, dass man als Zuschauer einen fast körperlichen Druck spürte, sich verhalten zu müssen – aber gleichzeitig lieber ruhig im Parkett sitzen blieb, um nichts zu verpassen. Und vor allem: Was hätte man tun sollen? Tim Etchells erzählt in Instructions for Forgetting die Anekdote von einem kleinen Mädchen, das in einem Theaterstück zusammen mit anderen Kindern aufgefordert ist, zu klatschen, damit die Elfe wieder zum Leben erweckt wird. Es klatscht mit aller Kraft – und stellt beunruhigt fest, dass die Mutter nur halbherzig bei der Sache ist: Will sie der Elfe nicht helfen? Als wenig später im richtigen Leben die Tante des Mädchens stirbt, überlegt es, ob der Versuch lohnen würde, sie durch Klatschen wieder zum Leben zu erwecken. Das Mädchen entscheidet sich dagegen: Es würde wohl nichts nützen. Das Kunstwerk verweigert sich und verweist zugleich auf die Welt, die es nicht mehr repräsentiert: Weil dieses Theater nicht mehr

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primär inhaltlich funktioniert, kann der Druck nicht ausagiert werden, die Form verhindert die Identifikation und wird so zum eigentlich Politischen. „Das Problem ist“, um es noch mal mit Michael Herr zu sagen, „dass man nicht immer weiß, was man gesehen hat.“18

N a c h tr a g Wo also ist der Zuschauer? Gerade am letzten Wochenende habe ich in Bergen in Norwegen eine Aufführung von Hooman Sharifi und Jean Luc Ducourt gesehen. Eine Choreografie, die merkwürdig ungesichert blieb, auf schwankendem Boden sowohl für die Performer als auch für die Zuschauer: Hooman Sharifi ist ein ziemlich schwergewichtiger, massiver Iraner in den Dreißigern, ein Schiff von einem Mensch, Jean Luc Ducourt ein eher schlanker älterer Mann, der früher bei Rosas getanzt hat. Mit einerseits sehr bewusstem, andererseits fast naivem Tanz handelten die beiden offensichtlich auf der Bühne und öffentlich ihr Verhältnis zueinander aus. Anrührend, manchmal fast zärtlich, dann wieder schroff oder schlicht aneinander vorbei. Alle Tanzkriterien glitten ab, als Zuschauer griff man nach Anhaltspunkten und konnte sie nicht halten. Und plötzlich endete der Tanz und war zu einem Gespräch, mehr einer harschen Diskussion zwischen den beiden geworden, irgendwie privat, manchmal kaum zu hören und doch eindeutig öffentlich. Ein Gespräch über das Publikum, das man war, und wie man nun einzubeziehen sei in diese Auseinandersetzung. Und wie beim Tanz waren auch jetzt alle auf schwankendem Boden – die Performer, denen das Gespräch, das Gemeinsame, die Performance zu entgleiten schien – und das Publikum, über das gesprochen wurde, als wäre es nicht da, in einem Stadium der Ungewissheit: Ist die Aufführung vorbei? Kommt noch was? Wie hat man sich zu verhalten. Tatsächlich, wie Hooman Sharifi sagte: „In dieser Situation kann es kein gleichberechtigtes Gespräch geben, weil man sich seine Position in diesem Gespräch nicht frei wählen könne.“ Also sollten alle hinausgehen und wiederkommen. Und sich dann den Platz aussuchen, der für sie richtig wäre. Ein paar Minuten später waren alle wieder da, einige im großen Zuschauerraum, verteilt zwischen erster und letzter Reihe. Manche in der Mitte, manche am Rand, um schnell gehen zu können, manche in Gruppen, manche allein. Und viele auf der Bühne – stehend, sitzend, 18 Vgl.: Zitat von Michael Herr, in Certain Fragments, a.a.O. S. 20.

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hinten, vorne: eine Familienaufstellung für das Publikum. Und jeder an dem Platz, den er für seinen hält. Nah dran, weit weg, geschützt, ungeschützt, aufrecht, zusammengekauert... Es war einer der schönsten Momente, die ich in letzter Zeit im Theater hatte. Und zugleich das Ende der Vorstellung. Vielleicht weil man da ganz nah an der Utopie des Theaters war. Oder an seinem Ende. (Es handelt sich bei diesem Text um die leicht bearbeitete Fassung eines mündlich gehaltenen Vortrags.)

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WAS

IST DAS

BESONDERE

AM

THEATER?

CARL HEGEMANN Zunächst möchte ich mit einer kleinen Beobachtung beginnen. Sybille Berg hat in der Neuen Züricher Zeitung einen Kommentar geschrieben, in dem sie empfiehlt, dass niemand unter zwanzig ins Theater gehen sollte. Für Jugendliche sei das nichts. Meine Studenten in Leipzig, selbst gerade knapp über zwanzig, haben sich sofort gewehrt, als sie das gelesen hatten und als Folge eine Theaterliebe an den Tag gelegt, die ich so noch gar nicht von ihnen kannte. Sybille Bergs Intention lautete sinngemäß: „Im Theater werden so ernste Probleme behandelt – die sind für Kinder noch gar nicht geeignet.“ Und das wollen dann natürlich alle Kinder unbedingt sehen. Diese paradoxe Intervention scheint zu funktionieren. Ich habe mir vorgenommen, Ihnen ein paar grundlegende Erkenntnisse über die Spezifik des Theaters vorzutragen. Damit wir sehen, was wir mit ihm machen können angesichts der anderen Medien, die im Moment vielleicht reizvoller wirken, die kostengünstiger arbeiten oder ein ganz anderes Massenpublikum erreichen, wie der Film, das Fernsehen und die digitalen Kommunikationstechnologien. Wir müssen uns genau überlegen, was wir mit Theater überhaupt wollen, und wir sollten zusehen, dass es nicht nur um die Erinnerung an vormediale Zeiten geht. Vielleicht gibt es ja am Theater etwas, das es so signifikant macht, dass es sich lohnt, darüber nachzudenken – mit besonderem Blick auf die Position des Zuschauers und wie sie sich im Laufe der Zeit gewandelt hat. Die Rolle des Zuschauers hat eine Menge mit Leiden zu tun. Doch auch wer leidet, profitiert von dem Theaterabend. Und das Publikum verfügt über eine starke Leidensfähigkeit. Mancher schaut sich vier Stunden lang – das ist ein halber Arbeitstag – ein Stück an, von dem er kaum etwas versteht. Und ist danach begeistert. Das Leiden ist also durchaus ein Grund, ins Theater zu gehen. Aber der Reihe nach: Vielleicht fange ich bei Schillers Ausführungen an, die fälschlicherweise immer unter dem Titel „Das Theater als moralische Anstalt“ laufen. Der Begriff „moralische Anstalt“ kommt 55

CARL HEGEMANN

in diesem Text nicht einmal vor. Der ursprüngliche Titel lautet ja auch: „Was kann eine stehende Bühne eigentlich bewirken?“ Es handelt sich hierbei eher um einen „Marketing-Text“, mit welchem Schiller in Mannheim Sponsoren für seine weitere Arbeit finden wollte. Hier hat er alles, was man sich an Positivem vorstellen konnte, dem Theater zugeschanzt. Und er hat dies gerade nicht moralisch begründet, sondern das, was uns für Theater empfänglich macht, als den unwiderstehlichen Hang nach Neuem und Außerordentlichem beschrieben. Er äußert zum Beispiel: „Das Verlangen, sich in einem leidenschaftlichen Zustande zu fühlen, hat der Schaubühne ihre Entstehung gegeben.“1

Das heißt, es war für ihn das Neue, das Unterhaltsame, das Grandiose, das Überraschende, das Ungewöhnliche, was Theater interessant macht. Ähnlich hatte sich schon vor Schiller Denis Diderot (der Aufklärer und Enzyklopädist) geäußert: Das Höchste, wo die Zauberei des Theaters hingehen kann, schrieb er in seiner Abhandlung: „Von der dramatischen Dichtkunst“, ist es: „Das Volk in einen Stand der Unbehaglichkeit zu setzen, sodass Ungewissheiten und Kümmernis, Verwirrung in allen Gemütern herrschen, und eure Zuschauer, den Unglücklichen gleichen, die in einem Erdbeben die Mauern ihrer Häuser wanken sehen, und die Erde ihnen einen festen Tritt verweigern fühlen.“ 2

Also Neuartigkeit, Gefährlichkeit, Angst, Verwirrung, das sind die Aufgaben des Theaters, von Moral erstmal keine Rede. Schiller hat in einem späteren, meines Erachtens im Hinblick auf das gegenwärtige Theater sehr empfehlenswerten Text, den Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, in welchem er seine Theorie des Spiels entwickelt hat, geschrieben: „Der Mensch ist nur da Mensch, wo er spielt, nur wo er Mensch ist, spielt er.“ Das ist eine wunderbare Aufwertung unseres Berufs. Er wird unmittelbar mit der anthropologischen Bedingung des Menschseins verbunden. Die nega-

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Schiller Friedrich: Was kann eine stehende Schaubühne eigentlich wirken. In Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke, Band 8, Berlin 2005. S.87. Diderot, Denis: Von der dramatischen Dichtkunst. An meinen Freund Herrn Grimm. In: Der Hausvater, Ausgabe 1760, HAB Wolfenbüttel, S. 252, 253.

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tive Variante wäre dann, so der polnische Theaterdichter Withold Gombrowitch: „Mensch sein, heißt ein Schauspieler sein, Mensch sein heißt, einen Menschen spielen, Mensch sein heißt, sich benehmen wie ein Mensch, ohne einer zu sein“. In dieser Spannung bewegen wir uns, wenn wir Theater ernst nehmen. Der ästhetische Schein ist unser menschliches Lebenselixier. Die Welt des Spiels und des Scheins ist die eigentlich menschliche. Oder wie Schiller in den Briefen zur ästhetischen Erziehung schreibt: „Mitten im furchtbaren Reich der Kräfte und mitten im heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb an einem dritten fröhlichen Reich des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt und ihn sowohl von allem, was Zwang heißt, im Physischen als im Moralischen entbindet.“3

Jetzt frage ich Sie: Was für ein Theater hat Schiller da im Auge? Ein Theater, das sich von physischen und moralischen Gesetzen befreit hat. Es ist, von heute her betrachtet, nichts anderes als die digitale, virtuelle Realität, vergleichbar etwa dem Film Matrix, in dem eine Welt entsteht, fernab aller physikalischen und moralischen Gesetze, digital erzeugt, in welcher ein jeder in seiner eigenen Welt leben kann, in der nichts gilt, was er nicht will. Dies müsste bei allen Schillerenthusiasten einen Begeisterungssturm auslösen, da es plötzlich möglich wird, mithilfe digitaler Technologie die physische Welt zu überwinden, die Schwerkraft aufzuheben und die größten Verbrechen zu begehen, ohne jemandem zu schaden, weil es ja nur im dritten fröhlichen Reich des Spiels und nicht im physischen oder moralischen Reich der so genannten wirklichen Welt stattfindet. Wenn man also konsequent diesen Gedanken Schillers weiter denken würde, könnte man das Theater mit lebendigen Menschen fallen lassen, sich stattdessen seine Programme und Tools besorgen und ein grenzenloses Cybertheater im Cyberspace veranstalten, was aber offensichtlich keiner wünscht. In unserem Theater war niemand von diesem Hypertheater überzeugt, obwohl die Regisseure immer sagen: „Was könnte ich nicht alles machen, wenn ich könnte, wie ich wollte“, aber wenn man ihnen ein Medium zur Verfügung stellt, das ihnen keinen Widerstand mehr entgegensetzt, werden sie sofort fantasielos und verlieren die Lust. Dasselbe sieht man auch in der virtuellen Realität: Anstatt die technischen Möglichkeiten zu nutzen, 3

Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In sämtliche Werke, Berlin 2005, S. 406.

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Fantasiewelten und wunderbare Dinge zu kreieren, begnügt man sich mit der hyperrealistischen Reproduktion der Realität, die wir sowieso schon haben, oder geht mit kleinen Navigationsgeräten durch die Stadt und verdoppelt das Anwesende. Die widerständige Realität der Welt, wie sie nun einmal ist und wie sie uns quält, ist offenbar durch diese Scheinwelt, welche die digitale Realität bietet, nicht zu ersetzen. Man kann das, wenn man will, mit Kant und Hegel begründen, denn ohne den Widerstand eines Materials verschwindet nicht nur das Material selbst, sondern auch das Bewusstsein dessen, der damit umgeht. Eine reine fröhliche Fantasiewelt jenseits des Reichs der physischen Kräfte ist für uns Menschen also nicht möglich. Wir müssten dann schon göttlich sein und in der Lage zu „intellektueller Anschauung“. Um es kurz zu machen: Das Theater ist nicht durch den Cyberspace ersetzbar. Das Theater verfügt nämlich über eine Besonderheit, das Theater ist ein Ort der Begegnung zwischen Menschen und dieser existiert in virtuellen Welten nicht. Eine solche Erfahrung findet sich tatsächlich nur im Medium des Theaters: Es gibt dort einen Zuschauer- und einen Bühnenraum, voneinander abgetrennt durch eine Rampe, eine virtuelle Grenze, die aber von beiden Seiten überwindbar ist. Auf der Bühne stehen sowohl die Figur als auch der Darsteller, die beide von den Zuschauern wahrgenommen werden. Wichtig ist die Beziehung zwischen Besucher und Darsteller, im Gegensatz zu früheren Annahmen, die davon ausgingen, dass die Beziehung zwischen Zuschauer und Figur wesentlich sei. Es gibt Menschen mit Namen und Adressen auf der Bühne und im Zuschauerraum. Auf beiden Seiten sind Menschen, die etwas mit sich machen lassen. Die Figur ist nur noch als Medium der Selbstdarstellung notwendig. Und genau diese Möglichkeit fehlt in den anderen Medien. Entweder ist der Zuschauer oder der Darsteller anwesend, nie aber findet man beide zu gleicher Zeit. Im Cyberspace sind zwar die Figuren, nicht aber ihre Spieler anwesend. Die gleichzeitige körperliche Anwesenheit gibt es nur im Theater. Und das unterscheidet es von den neuen Medien. Die erste Konsequenz, die wir daraus ziehen müssten, wäre wegzukommen von der Idee, das Theaterspiel sei etwas, das drei oder sechs Monate geprobt wird und dann in einem endgültig fertigen Zustand auf die Bühne kommt. Und je genauer und je exakter die Reproduktion jeden Abend, desto gelungener sei die Aufführung. Diese Phase des Theaters ist in meinen Augen mit Peter Stein abgeschlossen. Er hat grandiose reproduzierbare Geschichten gemacht. Und er hat expressis verbis darauf bestanden, dass seine Darsteller die Texte auch

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reproduzieren, natürlich auch aus Narzissmus, weil es ihm als Regisseur wichtig war, dass ihm niemand aus einer Stimmung heraus den schönen Abend ruiniert. Und das erscheint uns heute anachronistisch. Wenn man etwas stets Gleichbleibendes reproduzieren will, dann sollte man das besser im Kino machen. Es macht keinen Sinn, das Gleiche im Theater zu versuchen. Das wirkt dann wie nachgemachtes Kino und degradiert die Schauspieler zu Automaten, indem sie einer Arbeitsnorm unterworfen werden, wie in der Autoindustrie, wo jedes Modell in immer gleicher Qualität vom Fließband rollt. Ich glaube, dass durch die konkurrierenden Medien diese Phase des Theaters am Ende ist. Und dass ein offener Akt der Begegnung an seine Stelle tritt, der von all den Dingen lebt, die im Theater passieren können und anderswo nicht. Das beginnt schon mit der Möglichkeit, dass die Schauspieler das Publikum anschauen können, nicht nur wie durch einen Nebel sondern direkt – und es geht dort weiter, wo dem Zuschauer klar wird: Die vierte Wand ist nicht wirklich, man kann sie überschreiten. Ganz real. Einar Schleef hat gesagt: „Das ist wie im Zirkus. Normalerweise bleiben die Löwen hinter dem Gitter, aber es gibt keine Garantie dafür.“ Im Theater weiß man grundsätzlich nie, was passiert und ob der Abend regulär verläuft. Das ist das Besondere. Meine Tochter war vorgestern in einer Inszenierung von Rene Polesch. Da ging zu einem völlig unpassenden Zeitpunkt eine Klingel los, die nicht in das Stück passte, und die Schauspieler mussten sich auf der Bühne orientieren und zusehen, wie sie mit dem unerwarteten Lärm umgingen. Das war für meine Tochter der größte Augenblick in der ganzen Aufführung, weil man da Leute bei einer spontanen Problemlösungsaktion beobachten konnte. Die ganze Technik war irgendwie verrutscht, alles war anders, aber die Schauspieler drehten auf und spielten etwas, das es vorher in keiner Aufführung dieses Stückes gegeben hatte. Solche Vorgänge scheinen mir paradigmatisch zu sein für das Theater. Ein weiteres Beispiel zeigt die Wallensteinaufführung von Rimini Protokoll in Mannheim, in der ein solches Modell so konsequent verfolgt wurde, dass man den Eindruck hatte, man nimmt an einer völlig neuen Form von Theater teil. Wenn einer der Schauspieler, zum Beispiel derjenige der den Wallenstein spielt, in seinem bürgerlichen Leben Bürgermeisterkandidat der CDU in Mannheim war und von seiner eigenen Partei verraten wurde, dann entsteht sofort eine abenteuerliche Situation. Bei Herrn Otto verhält es sich jedoch nicht so, dass er sich auf die Bühne stellt und sagt: „Ich will Ihnen mal erzählen, wie ich von der CDU betrogen wurde“, sondern er tritt auf als Wallenstein und

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spricht Schiller. Und langsam drückt sich seine persönliche Situation durch, denn er benutzt den Wallensteintext, um sein eigenes wallensteinähnliches Schicksal unter die Menschen zu bringen. In diesem Zwiespalt zwischen den beiden Ebenen entsteht eine Divergenz, die außerordentlich interessant ist und die dem Theater Möglichkeiten eröffnet, die es sonst nirgends gibt. Noch ein anderes Beispiel für solche Versuche: Bei Rene Polesch kommt es vor, dass die Schauspieler zwar seine Texte sprechen und seine Figuren spielen, sich aber mit ihren eigenen Namen anreden. Auch dadurch ist dieser Zwiespalt deutlich markiert, dass jeweils ein Schauspieler und eine Figur auf der Bühne stehen. Wenn man diesen Punkt, so harmlos er klingt, ernst nimmt, braucht man sich über die Zukunft des Theaters und seine Zuschauer keine Gedanken zu machen. Wenn solche Dinge geschehen, die sowohl eine Einheit als auch Getrenntheit zwischen dem Darsteller und der Figur evozieren, wenn das Eine nicht für das Andere aufgegeben wird und das Andere nicht für das Eine, sondern eine konstitutive Spannung bewusst gehalten wird, dann gehen Theaterschauspieler und Zuschauer eine innere Auseinandersetzung ein, die sie bei der Stange hält. Durch diese Möglichkeit kann das Theater als eigenständige Sparte neben den anderen Medien überleben und dies hat damit zu tun, dass wir uns immer in einem Widerspruch, in einer Spannung zwischen zwei sich gegenseitig ausschließenden Polen bewegen müssen. Ich möchte das an einem Philosophen und Poeten illustrieren, der zeigt, warum wir die einfache Lösung nicht umsetzen können, in der alles eins wird, in der wir über intellektuelle Anschauung das Reich der physischen Notwendigkeiten und das Reich der moralischen Gesetze beiseiteschieben können, um uns in einem völlig freien Spiel zu ergehen. Wir wollen diese Freiheit zwar, aber wenn wir auch nur im Geringsten in der Gefahr sind, etwas von ihr zu erhaschen, tritt als Gegenbewegung etwas in uns auf, das diese Fesseln behalten will. Und da möchte ich Ihnen gerne, meine Lieblingspassage aus Hölderlins metrischer Fassung des Hyperion vortragen. In diesem Text kommt die Spannung zum Ausdruck, die philosophisch diese vermeintlich triviale Theatersituation als ganz bedeutsam erscheinen lässt: „Am Tage, da die schöne Welt für uns Begann, begann für uns die Dürftigkeit Des Lebens und wir tauschten das Bewußtsein Für unsere Reinigkeit und Freiheit ein. – Der reine leidensfreie Geist befaßt Sich mit dem Stoffe nicht, ist aber auch

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Sich keines Dings und seiner nicht bewußt Für ihn ist keine Welt, denn außer ihm Ist nichts. - Doch, was ich sag’, ist nur Gedanke. – Nun fülen wir die Schranken unsers Wesens Und die gehemmte Kraft sträubt ungeduldig Sich gegen ihre Fesseln, und es sehnt der Geist Zum ungetrübten Aether sich zurük. Doch ist in uns auch wieder etwas, das Die Fesseln gern behält, denn würd in uns Das Göttliche von keinem Widerstande Beschränkt - wir fülten uns und andre nicht. Sich aber nicht zu fülen, ist der Tod, Von nichts zu wissen, und vernichtet seyn Ist Eins für uns.“ –4

Deshalb streben wir stets nach einer Harmonie, nach einem Paradies auf Erden, in dem Bewusstsein, dass wir es mit unserem eigenen Untergang erreichen. Mein Lieblingssatz in diesem Kontext stammt von Heinrich von Kleists „Prinz von Homburg“, der auf dieses Argument „es gibt aber auch noch eine schönere Welt im Jenseits“ erwidert: “nur schade, dass das Auge modert, das die Herrlichkeit erblicken soll.“5 Entweder haben wir Probleme, müssen das Theater im Schweiße unseres Angesichts machen und sind lebendig, oder wir stehen vor einem Schlaraffenland von Möglichkeiten und sind tot. Da müssen wir uns entscheiden, und weil wir ja sowieso sterben, entscheiden wir uns für das Theater. Ich darf nochmals mit Hölderlin zusammenfassen: „Wie sollten wir den Trieb Unendlich fortzuschreiten, uns zu läutern, Uns zu veredlen, zu befrein, verläugnen? Das wäre thierisch. Doch wir sollten auch Des Triebs, beschränkt zu werden, zu empfangen, Nicht stolz uns überheben, denn es wäre Nicht menschlich, und wir tödteten uns selbst. Den Widerstreit der Triebe, deren keiner Entbehrlich ist, vereinigt die Liebe.“6 4 5 6

Knaupp, Michael (Hg.): Friedrich Hölderlin: Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 1997, S.114. Kleist, Heinrich von: Prinz Friedrich von Homburg, Stuttgart S. 67. Knaupp, Michael (Hg.): Friedrich Hölderlin, Erläuterungen und Dokumente, a.a.O.

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Es gibt noch einen anderen schönen Satz aus der Vorrede des Hyperion: „Oft ist es uns, als wäre die Welt alles und wir selber nichts. Oft aber auch, als wären wir alles, und die Welt nichts.“ 7 Hölderlin sagt, dass wir uns in diesen Extremen aufhalten müssen. Und wenn wir durch diese beiden Extreme gehen, können wir gutes Theater machen und sogar ein ganzes Leben durchlaufen, auf „einer exzentrischen Bahn.“ Ich habe Ihnen hier kein neues Theatermodell vorgestellt, sondern bin zurückgegangen auf die Grundbestandteile dessen, was wir seit über 2500 Jahren kennen, und halte es mit dem Systemtheoretiker Dirk Baecker, der sagte: „Das Theater ist eine Einmalerfindung. Wenn man es verändert, macht man es immer auf eine Weise, die es letztlich in seiner Grundstruktur bestätigt.“ Die Sichtweise auf das Theater aber kann sich mit der Zeit verändern und solch einen Wandel innerhalb der Schwerpunktsetzung, wollte ich Ihnen an dieser Stelle vorführen. (Es handelt sich bei diesem Text um die leicht bearbeitete Fassung eines mündlich gehaltenen Vortrags.)

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Ebd.

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VON

F E R N G E S T EU E R T E N EINEM MOBILEN

ZUSCHAUERN

UND

GUCKKASTEN

INTERVIEW VON JAN DECK MIT STEFAN KAEGI

Wenn man von so etwas wie einem „Anliegen“ eurer Projekte sprechen kann, wo könnte man dieses vermuten? Es gibt kein generelles Anliegen. Wir benutzen Theater als „Guckloch“ von Menschen zu Menschen. Unser Hauptaufwand besteht darin, zu überlegen, wie man dem Zuschauer ein spezielles Feld, wie zum Beispiel das Gericht, vermitteln kann, weil dort grundlegende Theaterprinzipien eingehalten werden. Es gibt Verkleidung, die Roben der Richter, Anwälte und die vierte Wand als wichtiges Element. Es gibt eine Art fingierter Katharsis mittels Nahelegen von Reuebekenntnissen durch die Verteidiger, bevor das Gericht sich zur Beratung zurückzieht. Dein Projekt Cargo Sofia versucht den Zuschauern die Welt der Fernfahrer näherzubringen. Wie bist Du auf dieses Thema gestoßen? Das Projekt entstand in Bulgarien. In Sofia habe ich die größte Spedition Europas aus den neunziger Jahren entdeckt, mittlerweile ist sie wieder ein wenig kleiner geworden: Somat, ein nationales Transportunternehmen, noch aus den Zeiten des Kommunismus. Sie wurde in den neunziger Jahren vom Reutlinger Spediteur Willi Betz aufgekauft und so zur größten Spedition Europas mit über 7000 Zugmaschinen. Derzeit läuft ein Verfahren gegen Betz wegen Unterschlagung von Sozialabgaben und Bestechung. Alles begann mit der Frage, woher die Waren im Supermarkt kommen. Ich kannte die Fernfahrerthematik nur aus Zeitungsnotizen wie „Auffahrunfall wegen Übernächtigung“. Ich wollte wissen, was Menschen, die so viel und weit in Europa unterwegs sind, über Europa zu erzählen haben.

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JAN DECK / STEFAN KAEGI

Wie entstand die Idee, die Zuschauer in einem Lkw durch die realen Orte des Transportwesens zu befördern? Ich hatte mir überlegt, wie ich die Lastwagenfahrer zum Erzählen bekomme. Tatsache ist, dass Trucker eine starke Verbundenheit mit ihrer Maschine haben. Türkische Führerkabinen sind oft mit Teppichen ausgelegt und nur ohne Schuhe zu betreten. Mir war klar, dass ich diese Menschen so direkt nie auf eine Bühne bekomme. Ich wollte die Brachialität des Steuers, diese Sucht nach dem „Auf-der-Straße-Sein“ sehr direkt zeigen, was für mich bedeutete, einen Lastwagen so umzubauen, dass die Zuschauer mitfahren konnten. Es ging darum, die Zuschauer an Orte zu transportieren, wo die Welt geschieht. In einem mobilen Guckkasten. Das hat dann ein einjähriges TÜV-Prüfverfahren eingeleitet, weil Lastwagen eigentlich nur Waren und keine Menschen transportieren dürfen. In einem Jahr wurde so aus einem Fleischtransporter ein Zuschauerraum, der bis zu 62 km/h fahren darf.

Abbildung 4: Rimini Protokoll: Cargo Sofia (Quelle: Rimini Protokoll/Jan Deck)

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Cargo Sofia ist bislang in unterschiedlichen Städten zu sehen gewesen. Unterscheiden sich die Performances in den einzelnen Städten gewaltig? Das Stück ist immer wieder ein Neues, weil sich das Bühnenbild mit jeder neuen Stadt komplett austauscht. Alle neuen Orte er„fahren“ wir erst einmal aus der Sicht eines Lkw-Fahrers, weil wir an Orte wollen, an denen Lastwagenfahrer zuhause sind, Fußgänger sich aber nicht auskennen. Die interessantesten Orte sind dann diejenigen, an denen die Fahrer wirklich wohnen. Gerade die osteuropäischen Fahrer übernachten kaum in Hotels, sondern in diesen Schlafkojen über dem Fahrersitz, und sie kochen zwischen den Rädern auf einer dort eingebauten Küche. Die Türken haben Gewürze dabei, die Bulgaren viele Konserven. An jedem Ort finden sich spontane Darsteller für das Stück in örtlichen Speditionen, die wir persönlich aufsuchen und fürs Stück gewinnen. Zumeist sind die Reaktionen auf: „Wir kämen dann mit einer kompletten Zuschauerschaft zu Ihnen“, gezeichnet von Unverständnis, aber wenn sie den Truck sehen, leuchtet ihnen ein, worum es geht. Der Rest ist dann nur noch ein logistisches Problem. Und für uns beginnt die Inszenierungsarbeit: Wir haben einen Musiker an Bord, der die Reise immer neu vertont. Geht es bei Cargo Sofia im Gegensatz zu euren anderen Stücken darum, die „soziale Wirklichkeit“ ins Theater zu holen oder eher darum, diese selbst zu „theatralisieren“? Wie verändert das die Wahrnehmung der Zuschauer? Es gibt auch andere Riminiprojekte, die zeigen, dass es in fast jeder Stadt Orte gibt, die in sich schon derart theatralisiert oder von der ökonomischen Wirklichkeit transformiert sind, dass es sich lohnt, sie einfach nur einzurahmen, anzusehen und zu fragen, was hier eigentlich die Repräsentationsverhältnisse sind. Bei Cargo Sofia finden sich zwei Sorten von Zuschauern. Auf der einen Seite sitzt das Publikum im Lkw und schaut hinaus. Auf der anderen Seite sammeln sich die Mitarbeiter der jeweiligen Speditionen und schauen interessiert in den Lkw. So fährt dieses seltsame Vehikel mit der großen Glasfront voller Menschen durch die Gegend und erfüllt die Umgebung mit neuer Bedeutung.

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Unterstützt nicht auch die Auswahl nicht-professioneller Darsteller, so genannter „Experten des Alltags“, diese Bedeutungsverschiebung? Es gibt auch eine professionelle Darstellerin, die nicht aus dieser Transportwelt stammt, eine Balkansängerin nämlich, die an der Strecke steht und in ein Funkmikrofon singt. Sie befindet sich nach Möglichkeit auf einer Verkehrsinsel in einem Kreisverkehr, was dazu führt, dass auch die anderen Autofahrer sie sehen, ihre Fenster herunterkurbeln und so mit dem Truck zusammen um diese Frau kreisen, obwohl sie ohne Mikroverbindung nirgends außer im Truck zu hören ist. Aber trotz aller Spontaneität handelt es sich bei den Projekten von Rimini Protokoll um Inszenierungen? Der dokumentatorische Prozess bedingt natürlich eine gewisse Inszenierung der Spontaneität beider Fahrer, weil diese Aufführung schließlich nicht so funktioniert wie eine Fernsehdokumentation: Es gibt eine genau festgelegte dramaturgische Linie, aber den beiden Fahrern bleibt große improvisatorische Freiheit. Auch weil sie ja an ihrem Arbeitsplatz sind. Ich bitte sie oft: „Kannst du nicht das, was du da vorhin gesagt hast, noch einmal sagen?“ Und manchmal ist die Antwort: „Nein, dann fühle ich mich irgendwie nicht mehr echt.“

Abbildung 5: Rimini Protokoll: Cargo Sofia (Quelle:Mladi Levi Festival) 66

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Kommen wir zu einem anderen Projekt, das eine ungewöhnliche Zuschauersituation zum Ausgangspunkt hat, nämlich Deutschland 2. Was war hierbei euer Ausgangspunkt? Wir sollten in Bonn ein Projekt machen und haben uns für den Bundestag interessiert, weil dieses Gebäude so erhalten wurde, wie es war, als die Hauptstadt noch nicht in Berlin war. Die Leute dort zeigen noch immer eine große Verbundenheit mit der Politik. Daraufhin haben wir eine Anzeige in die Zeitung gesetzt: „Wir suchen Personen, die für einen Tag einen Abgeordneten oder eine Abgeordnete darstellen möchten.“ Es haben sich über 100 Menschen begeistert dafür gemeldet und wir haben gefragt, warum es sie interessiert, so eine spezielle Rolle einzunehmen. Diese Fragen haben wir aufgezeichnet. Dann wurden die Debatten von den Akteuren aus dem Bundestag live nachgesprochen. Wie kamt ihr simultan an die Texte? Es gibt eine Hotline, über die man in Berlin anrufen kann, um dort live zu hören, was gerade im Bundestag gesagt wird. Die Aufführung spielte sich also an einem Morgen ab, weil die Sitzung morgens um neun Uhr früh begann. Wir haben diese Hotline auf die Kopfhörer gelegt und diese an Anwesende im Saal verteilt. Die Darsteller sprachen also nach, was über die Kopfhörer gehört wurde, wie eine Simultanübersetzung, nur von Körper zu Körper statt von Sprache zu Sprache. Wir hatten dafür keine eigentlichen Proben, nur einzelne Probentage, an denen die Darsteller die Technik und das Sprechen ausprobieren konnten. Zu Anfang hatten wir eine Sprecherliste für den Tag festgelegt, konnten uns aber nicht an diese halten, weil eben manche der festgelegten Personen doch arbeiten mussten oder andere Termine hatten. Und es war auch nicht möglich, vorab eine konkrete Sprecherliste zu bekommen, weil die jeweiligen Sprecher immer erst 15 Minuten vorher feststanden. Haben einige der Abgeordneten auch Kontakt zu ihren „Doubles“ aufgenommen? Frau Däubler Gmelin war so freundlich, uns vorab ihren Text zu schicken, damit ihre Darstellerin sich gut einarbeiten konnte. So entstanden auch ein paar schöne Partnerschaften für diese Aufführung.

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Einer der Abgeordneten, der ursprünglich aus Bonn stammte, hat seinen Stellvertreter für einen Tag nach Berlin eingeladen. Es war auch möglich, sich diese Performance anzuschauen? Die Aufführung hat an diesem Tag 14 Stunden gedauert. Es gab hinter den Teilnehmern noch eine Zuschauertribüne. Zu Beginn wurde diese auch gut besucht, aber im Laufe der Zeit wurden es immer weniger Zuschauer, denn es war natürlich eine langweilige Aufführung. Was interessierte euch an dieser Situation in Bezug auf die Rolle der Zuschauer? Es war eine besondere Situation: Die Zuschauer waren die meiste Zeit über in der Minderheit und die Darsteller in der Mehrheit.

Abbildung 6: Hygiene Heute: Deutschland 2 (Quelle: Hygiene Heute/Thilo Beul) Es gibt ein anderes Projekt, bei dem die Zuschauer dagegen ganz „vereinzelt“ waren, nämlich Call Cutta. Hier wurde das Publikum durch ein Callcenter in Indien ferngesteuert. Wie kam es zu diesem Projekt? Es hat sich aus einem Besuch in Kalkutta ergeben. Wir waren eingeladen, in Indien ein Projekt zu realisieren. Dazu haben wir Kalkutta 68

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besichtigt und waren überfordert, bis wir dort einen Ort gefunden haben, der den Westen in einer gewissen Weise reproduzierte: ein Callcenter. Häufig ist es ja bei Callcentern so, dass man einen Gesprächspartner aus dem eigenen Land vermittelt bekommt, aber tatsächlich saßen in diesem Betrieb um die 100 Personen in einem Raum und redeten über Headsets mit Menschen auf der anderen Seite der Welt, um irgendetwas zu verkaufen. Wir haben uns gefragt, ob man diese Offshore-Lohnschere mit ihren Kommunikationsmöglichkeiten nicht für ein wechselseitigeres Projekt nutzen kann. Der erste Teil fand in Indien statt. Der Zweite in Berlin: Jeder Zuschauer hat sich eine Karte reserviert, für nachmittags um vier oder fünf, und hat dann ein Handy bekommen, über das man mit dem Callcenter in Kontakt trat. Wie entstanden die Stationen der Route? Die Mitarbeiter in dem Callcenter hatten sehr genaue Bilder und Karten von Berlin, sodass sie die Wege beschreiben konnten, als wären sie schon einmal dort gewesen. Aber die Zuschauer haben nicht nur über Wegbeschreibungen geredet. Subha Chandra Boses Berlinaufenthalt in den vierziger Jahren – als der indische Haudegen mit seiner Befreiungsbewegung eine Allianz mit Hitler einging und innerhalb der Wehrmacht eine kleine indische Streittruppe aufstellte – das war eine Einstiegsrecherche. Wir haben ein paar Orte, an denen er war, ins Callcenter durchgegeben. Die dortigen Mitarbeiter haben diese Geschichte gerne erzählt. Aber nicht alle. Manche wollten lieber singen und haben den Zuschauern eben vorgesungen. Wie viel Text habt ihr den Operatoren vorgegeben? So wenig wie in keinem anderen Stück. Von dem, was die Operatoren am Telefon gesprochen haben, waren ca. 20-30% von uns verfasst. Wir sind bei einigen Wegbeschreibungen sehr vorsichtig gewesen, damit es so wenig Missverständnisse wie möglich gab. Und dann haben wir ein paar Sätze vorgegeben, die eine gewisse Intimität beschleunigen sollten, wie „Did you ever fall in love on the phone?“ Das Flirten spielt bei vielen Hotlines eine wichtige Rolle. An diesen Punkten verselbstständigten sich die Dialoge.

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Abbildung 7: Rimini Protokoll: Call Cutta (Quelle: Rimini Protokoll) Konnten Operator und Zuschauer nach der Performance in Kontakt treten? Ganz am Ende der Reise, am Potsdamer Platz, haben die Operatoren die Zuschauer auf ein Schaufenster hingewiesen, in dem ein Monitor stand – hier konnten die Zuschauer den Menschen sehen, mit dem sie eine Stunde lang gesprochen hatten. Einige Teilnehmer schrieben den „Callern“ noch Monate nach der Show E-Mails, weil sich über dieses einstündige Gespräch so etwas wie eine Partnerschaft einstellte. Nur applaudieren konnte man nicht. Wie bei Cargo Sofia und Deutschland 2 gab es auch hier Zuschauer der Zuschauer, also Menschen, die dem „eigentlichen“ Publikum mit Eintrittskarte beim Durchleben der Performance zusehen konnten. Ja, weil natürlich die Leute mit den Telefonen immer wieder dieselbe Strecke gelaufen sind und so auch immer wieder von den Menschen in diesen Gegenden gesehen wurden. Manche Anwohner haben angefangen zu winken. Es gab sogar welche, die die „Walker“ angehalten und gefragt haben: „Kann ich dem Inder an ihrem Telefon schnell etwas sagen?“ Das Stück lief 2005 in Berlin und war auf drei Monate angelegt. Die Aufführungen waren immer auf eine Stunde angesetzt, aber viele haben bis zu zwei Stunden lang telefoniert. Pro Tag haben wir ca. 15 Zuschauer durchgeschleust. Insgesamt haben 1000 Personen das Stück 70

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Call Cutta erlebt. Und dabei hat jeder eine andere Aufführung gesehen.

Abbildung 8: Rimini Protokoll: Call Cutta (Quelle: Rimini Protokoll) Sind die Zuschauer der „zweiten Ordnung“, also die eigentlich unbeteiligten Beobachter, die eigentlichen Adressaten dieser Stücke oder spielen sie für euch nur eine untergeordnete Rolle? Wie sehr beschäftigt ihr euch mit ihnen? Wir haben sie ja selbst kaum gesehen. Das sind die Ränder, an denen sich solche Aufführungen verselbstständigen. Mittels ferngesteuerter oder mobiler Zuschauer schafft ihr jedenfalls Bilder im öffentlichen Raum, welche die Logik des Alltäglichen unterbrechen. Gibt das euren Performances auch den Charakter von Interventionen? Sicher, wobei selten eine Unterbrechung des Alltags entsteht, eher eine Verdeutlichung, eine Vergrößerung, aber auch Fiktionalisierung. Das konspirative Element eines solchen Projektes überlagert die Wirklichkeit mit einer zweiten Audiospur.

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Wenn eure Zuschauer selbst zum Teil der Performance im öffentlichen Raum werden, versteht ihr sie dann auch als „Experten des Alltags“? Sollte ich allen unseren Zuschauern einmal begegnen, würde ich vielleicht einen Grund finden, sie „Experten des Alltags“ zu nennen.

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EXPECT EXPECTATION – G E S T A L T U N G D ER E R W A R T U N G SH A L T U N G A L S T E I L E I N E R „O V E R -A L L -D R A M A T U R G Y “ MAX SCHUMACHER „Alles, was Sie von nun an innerhalb der folgenden acht Stunden sagen, kann von Ihnen genutzt werden.“ Nicht: „Kann gegen Sie verwendet werden.“ Bei Forced Entertainment beginnt das Stück Showtime mit dem Satz: „Die ersten 30 Sekunden einer Performance bestimmen, ob Sie ihr folgen werden.“ Der Videoclip mit dieser Szene wurde von Florian Malzacher am Anfang seines Vortrags vorgespielt. Auch Workshops sind Performances desjenigen, der sie anbietet. Der obige Eröffnungssatz meines Workshops Expect Expectation ist schon in sich ein Spiel mit Erwartungshaltungen und ein Beispiel für eine rhetorische Figur – die der erfolgreich enttäuschten Erwartungshaltung. Denn das Motto: „kann gegen Sie verwendet werden“ ist sehr stark – und wir sind froh, dass es nicht folgt, denn es wäre ein Klischee – zumal es hier auch gar nicht hinpasste. Stattdessen habe ich mit diesem Satz meine Workshop-Philosophie eingeführt, bei der nicht nur ich etwas (mit)zuteilen habe, sondern auch die Beiträge der Partizipanten („Teilhaber“) zum Ganzen beitragen. Dieser Artikel ist aber dennoch kein Protokoll dieses so Zusammengetragenen, sondern ein Aufsatz mit einer von mir formulierten simplen Kernthese: Es gibt kein Theatererlebnis ohne vorherige Erwartungshaltung beim Zuschauer. Zumindest, wenn man das Straßentheater beiseite lässt. Wenn diese Erwartungshaltung also unausweichlich ist, steht der Theaterkünstler in der Verantwortung, diese so weit es geht mitzugestalten. Etwas ausführlicher: Die Performance beginnt nicht, wenn der Vorhang zuckt oder das Saallicht ausgeht. Sie beginnt auch nicht, wenn wir das Theater betreten. Auch nicht, wenn wir unsere Wohnung verlassen gen Theater. Die Performance beginnt, wenn wir zuerst ein Fragment ihrer Existenz wahrnehmen. Wenn wir die ersten Informationen erhalten, die auf dieses Ereignis hinweisen – der Titel, die Namen

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MAX SCHUMACHER

der verantwortlichen oder mitwirkenden Künstler, den Ort, den Zeitpunkt oder sogar inhaltliche oder formale Details. Der Prozess der Informationsakkumulation beim Zuschauer ist komplex. Nennen wir ihn Pre-Performance – als ersten Akt vor dem ersten Akt. Zu oft wird diese Pre-Performance von den falschen Akteuren falsch gestaltet. Künstler kümmern sich um diesen Teil ihrer Performance oft nur unzureichend – wobei sie von vermeintlich hilfreichen Pressearbeitern und PR-Fachkräften unterstützt werden. Der folgende Text richtet sich nicht gegen diese Leute, sondern fordert eine bewusstere Zusammenarbeit. Es obliegt aber den Künstlern, sich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit in PR- und Marketingfragen zu befreien.

Over-All-Dramaturgy „Erweiterter“ Performance-Begriff – nicht räumlich, sondern zeitlich ausgedehnt: Carl Hegemann hat von den Diskursen über Schlingensief-Stücke in den Medien als „Erweiterungen der Performance“ gesprochen. Auch bei nicht-kontroversen Stücken werden die Medien genutzt – und sei es für die Listings in den Kalendern. Die Anzahl der Wege, wie Informationsfragmente von den Künstlern zum möglichen – und auch zum schlussendlich teilhabenden – Publikum kommen, ist groß. Auch unterliegen nicht alle Wege der Kontrolle durch die Theatermacher. Journalisten schreiben manchmal noch eigensinnige Kritiken und die berühmte Mund-zu-Mund-Propaganda ist auch nicht unbedingt direkt zu beeinflussen. Wir haben es hier mit einem interessanten Problem zu tun: der Vorstellung von der Vorstellung vor der Vorstellung – der Idee des Zuschauers von der Idee der Bühnenkünstler, bevor er sie umgesetzt wahrnimmt. Diese Vorstellung, diese Idee, diese Vorurteile, kurz: diese Erwartungshaltung, muss beim Zuschauer aufgebaut werden. Er mag denken, was er will, aber es sollte schon das sein, was der Künstler vorgibt. Die Manipulation funktioniert nur, wenn sie als solche nicht zu platt daher kommt. Der Zuschauer muss denken, dass seine Erwartungshaltung aufgrund seiner persönlichen Aufbereitung der Vorabinformationen entstanden ist. Die Kommunikationsprozesse „rund um“ ein Theaterstück oder eine Tanzperformance etc. lassen ein striktes „Vor“ und „Nach“ nicht mehr zu. Gerade das eben erwähnte Problem der Zeitungskritik zeigt, dass „nach der Performance vor der Performance“ ist. Ein „reines Vor“ gibt es dann nur vor einer Welturaufführungspremiere einer Perfor74

EXPECT EXPECTATION – GESTALTUNG DER ERWARTUNGSHALTUNG

mance von völlig unbekannten Künstlern. Wenn Dramaturgie die Organisation von Handlung auf einer Zeitachse ist, so wäre die Organisation von kommunikativen Aktionen auf einer Zeitachse diejenige, die mit der ersten Stückidee beginnt und mit dem endgültigen Vergessen einer Produktion (oder zumindest dem definitiven Absetzen vom Spielplan?) endet; etwas, das ich „Over-All-Dramaturgy“ nennen möchte, denn „Überdramaturgie“ geht nicht so recht. Die Gestaltung der gesamten Kommunikation zwischen Künstlern und Öffentlichkeit – aber auch zwischen den Künstlern selbst – vor, während und nach der eigentlichen „Show“ kann, und sollte dem Dramaturgen dieser Produktion zukommen – oder aber der künstlerische Leiter hat die Kompetenz, diese dramaturgische Aufgabe zu überblicken. Alle künstlerisch Verantwortlichen sollten aber in die Pflicht genommen werden, diese Prozesse gemeinsam zu bedenken – und im Zweifelsfalle eine durchdachte Kommunikationsstrategie nicht unbedacht konterkarieren. Pre-Performance Wann beginnt eine Performance? Was macht die Pre-Performance aus? Ich schlage ein Modell mit drei Phasen vor: I. Von vor der Kenntnis einer Performance bis zur Überlegung zum Theaterbesuch II. Vor dem Theaterbesuch mit der Aufmerksamkeit auf ein Stück, in Kenntnis seiner Existenz und mit Besuchsabsicht oder -erwägung III. Beim Theaterbesuch vor Stückbeginn, aber im Theatergebäude und davor Kommunikatoren Diese Personen zeichnen sich mehr oder weniger ernsthaft verantwortlich für und kommunizieren miteinander über die Pre-Performance: Zu ihnen gehören: Regisseure und Regisseurinnen, Dramaturgen und Dramaturginnen, andere involvierte Künstler/innen, Pressesprecher/innen, Grafiker/innen, Fotografen und Fotografinnen, Marketingmenschen, Journalisten und Journalistinnen.

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Kommunikationsmittel Welche Kommunikationsmittel spielen eine Rolle in der Pre-Performance? Vor dem Theaterbesuch (I und II)

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Poster/Postkarte/Einladungsbrief Pressemitteilung Preview in der Presse/Listing im Kulturkalender/Künstlerinterview Einladungsmail Einladungs-SMS Leporellotext des Theaters Aufkleber/Ankündigungstext auf der Website des Theaters/des Künstlers Freunde/Bekannte/Familie/Kollegen Kassenpersonal/Telefonist/in bei Reservierungsanfragen Review in der Presse Werbemittel (Streichhölzer, Kaffeetassen, etc.) Review auf der Website/das Platzieren von Presseartikeln auf der Website des Theaters/der Künstler Blogs/YouTube (Bild- und Textforen im Internet)

Sie alle entscheiden, ob ich gehe, aber auch, wann (wie bald etc.) und mit wem. Vor allem aber entscheiden sie, was ich erwarte. Alle diese Informationen bauen eine Erwartungshaltung auf. Alle Vorabinformationen können zu Gesprächen führen und die gegebenen Informationen modifizieren/ihre Relevanz beeinflussen („Welcher Kritiker hat den Verriss geschrieben?“ Bis zu: „Welcher Idiot hat den Pressetext verfasst – doch nicht der Künstler selbst …?“). Wir sehen: Es gibt eine heterogene Autorenschaft dieser Informationen. Die Nähe und/oder vermeintliche Nähe zum Autor der Vorabinformation, zum Autor des Kunstwerkes ist fließend und nicht immer eruierbar. Alle Vorabinformationen sind komplementär – in sich (Bild, Text, Grafik, Typografie, Format, Kontext im Stadtraum…) und mit anderen, denn oft kreuzt man mehrere der o.g. Informationswege. Doch der Prozess ist mit dem Besuch der Performance-Spielstätte noch nicht abgeschlossen:

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Vorabinformationen im Theater vor dem Stück (III)



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Alle oben genannten, vielleicht vom Betrachter bis dahin auch versäumten Kommunikationsmittel tauchen eventuell (wieder) auf: Plakate, Postkarten, Artikel an der Wand… nur nicht die OnlineMedien (es sei denn, ausgedruckt und aufgehangen). Außerdem gibt es möglicherweise: Stückfotografien Theaterpersonal assoziierte Kunstwerke Programmhefte Zuschauerprofil/Atmosphäre Musik etc. im Foyer Musik etc. im Saal Einführungsgespräche

Kommunikationswege Die Elemente der Kommunikation sind komplex: Verbalsprachlich:

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Zitate aus dem Stücktext Zitate der Macher Slogans//Kurzbotschaften Konzeptuelles Biografisches Entstehungsgeschichtliches Hinweise auf die bereits entstandene Wirkung Zitate aus der Presse Warnungen/Altersbeschränkungen

Visuell:

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Grafik/Layout Farbpalette Haptik des Papiers Logos/Zeichen Fotografie • aus der Probe • aus dem Stück

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aus der Produktion, aber außerhalb eines Bühnenraumes/inszeniert unabhängig von den Akteuren Illustration Typface – Schriftypen Format Kontext (z.B. Aufkleber auf dem WC versus Plakat in der Bushaltestelle)

Alle Printprodukte sollten in Abstimmung aufeinander hergestellt werden. Dabei werden die Prinzipien Wiedererkennung und Neuentdeckung beachtet. Auch Web- und Print-Design sollten aufeinander abgestimmt sein/aus einer Hand stammen. Jedes Medium hat sein Publikum und jede Performance hat ein ideales Publikum. Daraus resultiert eine zielgruppenorientierte Kommunikation nicht nur, um ihre „Sprache“ zu sprechen, sondern auch, um diese adäquat anzusprechen. Das hat nichts mit Anbiedern, sondern mit funktionaler Kommunikation zu tun. Beispielsweise ist Kuratorendeutsch (akademischer Sprachgebrauch, der Referenzen an herrschende Diskurse macht) für ein allgemeines Publikum meist eher unpassend und kann sogar arrogant wirken. Verantwortung Viele Kommunikationsmittel werden vom Zuschauer als solche identifiziert. Nicht immer und bei allen, vor allem nicht im gleichen Maße, werden die Künstler selbst für alles verantwortlich gemacht. Ein hässliches Poster kann auch als Kunstwerk eines von der Produktion unabhängigen Dilettanten verstanden werden. Die viel zu laute Rockmusik im Foyer kann auch den Haustechnikern zugeschrieben werden. Die seltsamen Slogans auf den Flyern oder die platten Texte im Programmheft können auf einen überflüssigen Dramaturgen geschoben werden. Aber erstens besteht das Risiko, dass die Zuschauer doch alles mit ein und demselben Werk verbinden, auch beeinflusst es dennoch – bewusst oder unbewusst – die Erwartungshaltung, die Stimmung beim Zuschauer und nichts entbindet die verantwortlichen Künstler – Regisseure und Regisseurinnen oder Choreografen und Choreografinnen – von der Pflicht, trotzdem alles im Sinne ihres Kunstwerkes und seiner Over-All-Dramaturgy zu gestalten. Wenn ein Künstler erst einmal den hier beschriebenen Prozess verstanden hat, will er sich auch gar nicht aus dieser Verantwortung stehlen. Denn diese ist Teil der künst-

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lerischen Aussage, der Grundmotivation, warum man Performances macht. Letztlich ist Performance „A spielt B vor C“ – das Zusammenkommen von Künstler (A), künstlerischer Aussage (B) und Publikum (C). Es ist immer auch das Einlösen einer Erwartungshaltung – ihr Bedienen oder ihr Enttäuschen. Erwartungshaltung In der Erwartung steckt das Warten – die Aktion vor der Aktion, eine Tätigkeit, die ihren Sinn erst in einer weiteren findet. Eine Haltung ist eine Einstellung, eine Meinung. Im Deutschen ist daher die „Erwartungshaltung“ der Prozess, in dem in der Vorbereitung auf eine weitere Tätigkeit bereits ein Urteil entsteht. Ein Vor-Urteil. Im Englischen spricht man von „expectation“ – worin „expectare“ steckt, es ist lateinisch für „vorausschauen“. In dieser Konzeption ist die Wahrnehmung auf das, was noch gar nicht wahrgenommen werden kann, zentral. Enttäuschung der Erwartungshaltung In dem Wort Enttäuschung steckt die Wegnahme einer Täuschung, genauso ist der (auch in der englischen Sprache gegebenen) DesIllusionierung die Reduktion der Illusion inhärent. Beide Begriffe drücken also in Wirklichkeit aus, dass wir die Täuschung oder die Illusion wollen. Die negativ besetzten Begriffe Desillusionierung und Enttäuschung zeigen also, dass eine Erwartung – obgleich vielleicht eine unreflektierte Erwartung – nicht erfüllt wurde. Bedienung der Erwartungshaltung Die Erwartungshaltung kann nicht nur enttäuscht werden – sie kann auch bedient werden. Und das impliziert den Dienstleistungscharakter des Künstlerstandes – und auch seine Verantwortung gegenüber dem Auftraggeber oder Nutzer der Dienstleistung Kultur. Wie das Tauschgeschäft zwischen Publikum und Künstler genau geregelt wird, unterliegt oft nicht hinterfragten Normen. Es obliegt aber einzig dem Veranstalter – in Kooperation mit dem Künstler –, diese Rahmenbedingungen des Tausches zu definieren. Dabei geht es nicht nur um den Kartenpreis, sondern auch um viele andere Dinge, die von beiden Seiten in den gemeinsamen Akt der Performance mitgebracht werden: Zeit, Konzentration, Geduld, physische Präsenz, Anreiseaufwand,

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Studium von Vorabinformationen – die Dienstleistung des Künstlers kann es umfassen, den Dienst- oder Arbeitsaufwand des Publikums zu definieren und somit vorzugeben – und einzufordern. Denn beide Seiten – Publikum und Performer – konstituieren die Performance – und dienen beide ihrem Entstehen. Die Kommunikation dieser Arbeitsteilung ist auch zum großen Teil die Pre-Performance. Die Pre-Performance soll die Neugier wecken. Damit es überhaupt zu einer Erwartungshaltung kommt, damit der Zuschauer überhaupt etwas erwarten möchte, muss man die Beweggründe kennen, warum Menschen sich Performances anschauen, warum sie Zuschauer spielen wollen. Diese Motivationsliste würde hier zu weit führen. Sie beinhaltet neben Bildungswünschen, diversen Sehnsüchten (nach Abwechslung, Erotik, Ferne, Andersartigkeit, Unterhaltung, Ablenkung…) vor allem aber auch ein besonderes Interesse: Neugier. Neugier heißt: Gier nach Neuem, dem Zuschauer bis dahin Unbekannten. Diese Gier schläft in uns – denn sie muss geweckt werden. Es wird also vom Zuschauer vorausgesetzt, dass er eigentlich gierig ist, diese Gier aber erweckt werden muss. Diese leicht paradoxe Annahme stellt die Rolle von Kulturangeboten in Frage: Ist Kultur Bedarfsweckung oder -deckung? Ist eine schlafende Gier etwas zu Weckendes? Im Englischen (und in vielen anderen europäischen Sprachen) spricht man von „curious“. Dieser Begriff ist kurios: Er bedeutet nämlich sowohl „neugierig“ als auch kurios, komisch, anders, abweichend. Er beschreibt sowohl Objekt als auch Subjekt. Bin ich anders, wenn ich das Andere will? I am curious to see something curious. In dieser Doppelbedeutung steckt eine tiefe postmoderne Weisheit: Derjenige, der die Andersartigkeit definiert, definiert auch seine eigene Andersartigkeit. Oder auf Kölsch: „Jeder Jeck is anders!“ Jeder ist ein Jeck (Narr), jeder ist „the Other“, jeder weicht ab – weswegen es keine Norm mehr gibt. Beispiele von post theater In meiner Arbeit als Regisseur und künstlerischer Kodirektor von post theater [new york/berlin/tokyo] versuche ich natürlich, all das, was ich hier predige, auch selbst bei meinen Produktionen anzuwenden.

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EXPECT EXPECTATION – GESTALTUNG DER ERWARTUNGSHALTUNG

Z w e i B e i sp i e l e The Real Forensic In Köln, Berlin und Singapur inszenierte ich (2000–2001) ein Theaterstück über den berühmten deutschen Kriminalbiologen Mark Benecke. Da dieser mit seinen Methoden ein TV- und Boulevard-Star ist, war es sehr einfach, in jeder dieser Städte Vorankündigungen in der Presse zu bekommen, auch in Publikationen, die sonst nicht unbedingt über Theater schreiben. Die Zuschauer wunderten sich meistens ein wenig über den seltsam gebrochenen, improvisierten Schauspielstil und die scheinbare Fachkompetenz des Schauspielers Murat Belcant. In Singapur boten wir nach jeder Vorstellung ein Publikumsgespräch an, bei dem ich dann, wenn das Thema auf den seltsamen Schauspielstil kam, Murat Belcant auf die Bühne bat und ihn als Mark Benecke vorstellte. Portraitierter und Portrait waren nämlich eins. Der Schauspieler war Fiktion. Die Zuschauer waren noch verwirrter, und erst nach souverän beantworteten Fachfragen wurde uns geglaubt, dass der Star-Wissenschaftler sich als „Schauspieler Murat Belcant“ hat ankündigen lassen. Die Zuschauer waren angenehm in ihrer Erwartungshaltung enttäuscht. Sie waren positiv ent-täuscht – die Täuschung war zu ihrem Gunsten entlarvt. Das Entscheidende aber war, dass das Ganze Sinn machte, da es ja um kriminologische Methoden ging. Der Mann auf der Bühne sah dem in den Videoprojektionen, die in der Performance zu sehen waren, äußerst ähnlich – war das perfekte Maske oder geniales Casting? Oder waren alle TV-Talkshows für die Performance ge„faked“? Die Zuschauer wurden selbst zu Forensikern, die den Körper auf der Bühne genauestens studieren mussten – in Abgleichung mit dem, was sie von der Postkarte, der Vorankündigungspresse (die meistens unsere Pressetexte fast wörtlich übernommen hatte) und dem Programmheft erfahren hatten. Colony out In Stuttgart, auf der Akademie Schloss Solitude, zeigte ich 2001 eine Maschinenvorführung einer Hinrichtungsmaschine der vormaligen französischen Kolonie „Ste Odule“, einer Insel im Pazifik. Auf der Postkarte war ein sepiafarbenes Foto dieser Insel zu sehen, und das Versprechen einer Demonstration, „spannender als jedes Theater“. Ein Offizier dieser Insel wollte eine ungewöhnliche Maschine erstmalig in Deutschland vorführen, natürlich ohne Hinrichtung. Die Stuttgarter

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Zeitung interviewte mich zu dem Projekt vor der Premiere. Der promovierte Germanist, der diesen Vorbericht schrieb, hatte nicht die leiseste Ahnung, dass fast alles, was ich erzählte, der Original-KafkaGeschichte „In der Strafkolonie“ entstammte. Diese gab es dann auch als Monolog, fast ungekürzt und im Originalwortlaut, zu sehen. Die Leute waren wieder enttäuscht – und schon früh im Stück wurde klar, dass es doch Kunst – und nicht Strafvollzugstechnik – zu sehen gab. An keiner Stelle wurde der Autor genannt – somit war es schön, die Geschichte in den lokalen Kritiken als „geschmacklos“ und „widerlich“ betitelt zu sehen. Ein halbes Jahr später wurde das Ganze dann in Stuttgart als Kafka-Stück angekündigt und bekam wunderbar positive Besprechungen. Für die Zuschauer war allerdings die zweite Staffel viel konventioneller und löste bei weitem nicht so viel Nachdenken aus. Die Solitude Version lockte mit dem Versprechen, kein Theater zu sein. Die Zuschauer erwarteten kein Theater und bekamen dennoch welches. Ab wann ist es legitim, die Zuschauer zu belügen? Ich hatte die groteske Brutalität von Kafkas „In der Strafkolonie“ auf meine Performance anwenden wollen. „Grotesk“ heißt dabei, dass es die Chance gibt, die übersteigerte Gewalt auch zu verlachen. Humor ist die Reaktion auf eine sonst unerträglich brutale Welt. Diese Lesart des Kafka-Textes bot sich den Zuschauern als Rezeptionsstrategie für Colony/Out. Beide Beispiele waren für die meisten Zuschauer und die involvierten Künstler erfolgreich, weil es einen Bruch zwischen PrePerformance und Performance gab. Beide Brüche waren sorgfältig geplant und wurden mit einer Post-Performance aufgelöst. Für die Singapurer – die zu 90 % zum Post-Performance-Talk blieben – ging die Over-All-Dramaturgy auf. In Stuttgart werden die wenigsten der Solitude-Zuschauer den Bezug der zweiten Staffel des Kafka-Stückes zu der ersten Maschinenvorführung hergestellt haben. Die PostPerformance war zu spät. Die „kathartische“ Auflösung erfolgte weder in der Performance noch unmittelbar danach. Das Angebot zur grotesken Rezeption wurde von nur wenigen Zuschauern begriffen/ genutzt. Vielleicht war die Vorankündigung durch die Presse zu gut, zu glaubwürdig – zu wenig ambivalent? Post theater arbeitet oft und weiterhin mit diesen Methoden – ich habe „historische“ Produktionen als Beispiele gewählt, weil diese nicht mehr touren. Ansonsten hätte ich ja mit dem Offenbaren ihrer „OverAll-Dramaturgy“ genau diese unterwandert – und unmöglich gemacht.

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EXPECT EXPECTATION – GESTALTUNG DER ERWARTUNGSHALTUNG

Kohärenz Der Hauptaspekt der beiden kurz skizzierten Projekte bringt mich zum Hauptpunkt dieses Aufsatzes: Es muss in der eigentlichen Stückaussage begründet sein, weshalb ich eine bestimmte Erwartungshaltung generiere und auf welche Weise ich diese verweigere oder einlöse. Man kann nur einen Mythos schaffen, wenn es um Mythen geht. Man kann nur eine kriminologische Betrachtungshaltung wollen, wenn es um eben diese geht. Alles andere wäre eitle Spielerei – zum Wohlgefallen des Spielers, auf Kosten des Publikums und schlimmer, auf Kosten der Kohärenz der künstlerischen Aussage. Einzige Ausnahme wäre hier ein Stück über genau so einen eitlen Spieler. War es Jan Lauwers (Needcompany), der über seinen Probenprozess sagte: „Kill your darlings?“ Als Künstler darf ich mich nicht in meine Ideen verlieben, wenn diese nicht auch anderen Menschen standhalten. Das, was mir selber am besten gefällt, muss nicht unbedingt zweckdienlich für das Ganze sein. Das gilt auch für schöne Bilder, die ein tolles Plakat machen würden, das mir, als Choreograf gefiele – nicht aber mit der Aussage meines Stückes zusammenhängt. Was für die vielen Teile einer Performance gilt – Musik, Licht, Kostüm –, gilt eben auch für alle Teile der Gesamt-Performance, der Over-All-Dramaturgy: Kohärenz. Stimmigkeit, Konsequenz. Evaluation von Pre-Performance Fassen wir zusammen: Was ist eine gute Pre-Performance? Eine, die im Kontext der eigentlichen Performance-Idee Sinn macht. Die PrePerformance ist nur so gut und so relevant, wie sie zum Erfolg der eigentlichen Performance und deren Wahrnehmung beiträgt. Erst das Gesamterlebnis einer Over-All-Performance erlaubt eine Bewertung der einzelnen Teile: Pre-Performance, Performance, Post-Performance. Vielleicht ist es sogar ein Qualitätszeichen, wenn eine Gliederung in diese Teile nicht auffällt. Wenn zu einer „tollen Aufführung“ eben auch der gesteuerte Prozess der Pre-Performance gehört. Wenn Menschen sagen: „Ich hatte ja das und das erwartet – dann aber kam jenes – und nun bin ich begeistert.“ Wie oft haben Interpretationen in Vorankündigungen das Denken beim Zuschauer gelähmt. Wie oft haben für Künstler und Kuratoren interessante Informationen eine eigentlich sehr viel sinnlichere Performance zu einem akademischen Lehrbeispiel degradiert – und ihrer Sinnlichkeit beraubt? Wie oft haben vorweggenommene, da abgedruckte, visuelle Wunder leider nur

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vorher auf Papier stattgefunden? Eine wachsende Industrie beschäftigt sich mit einem Areal, dass sie PR, Marketing oder sogar Kulturmanagement nennt. Es ist an der Zeit, dass Künstler diese Felder nicht als vulgär abtun und meiden, sondern dirigieren. Der künstlerische Leiter einer Performance instruiert seine Bühnenbildner und Licht-Designer – warum nicht (auch) all jene, die eine viel längere Kommunikation mit dem Publikum eingehen? In Hollywood werden mittlerweile annähernd gleich große Budgets für Marketing/PR ausgegeben wie für die Produktionskosten der Filme. Das muss kein Vorbild sein, zumal die Kampagnen oft besser sind als die eigentlichen Filme, was man oft aber erst zu spät herausfindet, nämlich erst im Kinosaal. Es zeigt aber, wie wichtig das Feld ist und wie naiv die live-darstellenden Künste oft noch dastehen. Die Staatstheater und die großen Gastspielhäuser sind oft sehr professionell, wenn es darum geht, ihr Haus zu präsentieren, zu positionieren. Gerade in Berlin tobt der Image-Krieg auf den Plakatwänden in Mitte und in Kreuzberg, zwischen HAU, Sophiensäle, Deutsches Theater und Schaubühne. Doch auch das kann kein Vorbild sein – denn diese Kampagnen stehen meist nicht im Interesse der einzelnen Produktion. Es sind Image-Kampagnen für die jeweiligen Institutionen, die sich der Künstlernamen für ihre Image-Positionierung bedienen. Der Besuch dieser Institutionen verspricht dem Zuschauer ein bestimmtes Lebensgefühl. Diese Plakate schaffen aber immer weniger eine Pre-Performance für eine spezifische Produktion. Im Falle der Sophiensäle sind es nur noch abstrakte Farbflächen mit dem Stücktitel und den Künstlernamen. Es ist eine uniforme Kampagne für das Haus – die Künstler werden zum intellektuellen Eigentum der Institution, äußern sich aber nicht selbst von den Plakatwänden. Zum Ende dieses Manifestes kann auch nur wieder die eingangs gestellte Forderung an die Künstler stehen: Übergebt nicht anderen das Faszinationspotenzial, das ihr als Künstler herstellt. Generiert selbst die Erwartungshaltung beim Publikum, die ihr bei ihm erzeugen wollt, damit das Gesamterlebnis Theater so wird, wie ihr euch das vorstellt! Gestaltet die totale Performance – selbst!

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ZUSCHAUER RANDGÄNGE

BEWEGUNG – THEATRALER PRAXIS IN

PATRICK PRIMAVESI So unterschiedlich gegenwärtige Theaterformen auch sein mögen, gemeinsam ist ihnen, dass sie häufig den Zuschauer und das Zuschauen auf neue Weise zum Thema machen. Gerade im Theater wird daran gearbeitet, auf Zuschauer anders einzuwirken, als sie es erwarten, und sie auf andere Weise zu bewegen, als es sonst geschieht, etwa im Kino, im Fernsehen oder im übrigen Leben, im „rasenden Stillstand“ des Alltags1, zwischen Konsum und (Selbst) Ausbeutung. Theater findet nicht etwa außerhalb dieses Zusammenhangs statt, vermag aber zumindest, ihn im Vorgang der Unterhaltung bewusst zu machen. Um die dazu erforderliche Differenz zwischen Nachfrage und Angebot geht es im Folgenden, um eine spezifische Enttäuschung, die untrennbar ist von dem Versprechen, das Theater als Überschreitung und Veränderung alltäglicher Verhaltensweisen bedeutet. Inwiefern diese Praxis der Enttäuschung produktiv, womöglich ebenso aufschlussreich wie irritierend sein kann, soll hier an einigen exemplarischen Produktionen gezeigt werden. Sie setzen ihre Zuschauer in Bewegung, konfrontieren sie im Theater oder außerhalb davon mit ihrer eigenen Präsenz, die ja stets geteilt ist, gemeinsam und unvollständig. Zuschauer und Publikum sind wieder verstärkt in den Blick geraten mit der Krise des Guckkastentheaters, in dem die Zuschauer aus dem dunklen Saal in einen erleuchteten Raum starren und die Akteure darin so tun, als wären sie unter sich, als spielten sie vor einer vierten Wand. Dass sich diese traditionelle Anordnung von Theater weiterhin großer Beliebtheit erfreut, hat wenigstens den Vorteil, dass sie in experimentellen Theaterformen auf immer wieder neue Weise aufgebrochen werden kann. Nun wäre es aber ein Irrtum, in diesen Neuansätzen nur die Wiederaufnahme der alten Programmatik vom aktivierten Zuschauer zu sehen, wie ihn die Mitspieltheater und Happenings der 1

Vgl. Virilio, Paul: Rasender Stillstand (L’inertie polaire), übers. von Bernd Wilczek, München 1992.

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PATRICK PRIMAVESI

siebziger Jahre in mehr oder weniger heftigem politischem Aktionismus forderten. Vielmehr geht es um die Auseinandersetzung mit aktuellen Wahrnehmungsweisen, die gerade die Unmöglichkeit ideologischer „Standpunkte“ reflektieren. Längst schon haben sich die Visionen von Marshall McLuhan und anderen bestätigt, die dem Leben in der Mediengesellschaft einen wachsenden Zwang vorhergesagt haben, ständig und überall dabei zu sein, sich daher einen Standpunkt oder eine individuelle Perspektive gar nicht mehr leisten zu können: „It’s impossible to have a point of view in the electric age. And (to) have any meaning at all. You’ve got to be everywhere at once, whether you like it or not, you have to be participating in everything going on at the same time, and that is not a point of view.“2

Man nimmt überall teil, ob man will oder nicht, ob man gerade online, vernetzt und erreichbar ist oder nicht. Der Imperativ der Partizipation, einer dauernden Beteiligung an den Kommunikationsnetzen ist als Kontext für neue Formen von Theater zu berücksichtigen, in denen die gewohnte frontale Perspektive, das Rollenspiel und die Einfühlung verweigert werden. Dazu gab es schon in den historischen Theateravantgarden Ansätze, die ich mit meinem ersten Beispiel streifen werde, einer neuen Produktion von Bertolt Brechts Ozeanflug. Davon ausgehend sollen einige Versuche betrachtet werden, den Zuschauer nicht nur emotional und virtuell, sondern auch körperlich in Bewegung zu versetzen. Für die Frage, inwieweit neuere Theaterformen die „Rollen“ von Zuschauern und Publikum verändern können, ist ein Denken von Randgängen aufschlussreich, wie es bereits Jacques Derridas Studien zu den Randgängen bzw. Randzonen (marges) der Philosophie vorgeführt haben.3 Im Verzicht auf alle Ansprüche des Systems, der Vollständigkeit und der Ganzheit sollten sie ermöglichen, eingespielte Diskurse auf ihre eigenen Voraussetzungen und Blindheiten hin zu befragen (insbesondere durch den Begriff der différance, durch die Untersuchung der Metapher im philosophischen Text und durch die Frage nach dem Verhältnis von Signatur, Ereignis und Kontext). Im

2

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McLuhan, Marshall: in einem Fernsehinterview, zit. nach einem Videoausschnitt in der Aufführung „Hier ist der Apparat“ von Chris Kondek, Berlin (Hebbel am Ufer) 2007. Derrida, Jacques: Randgänge der Philosophie (Marges de la philosophie), übers. von Gerhard Ahrens u.a., vollst. deutsche Ausgabe: Wien 1988.

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ZUSCHAUER IN BEWEGUNG – RANDGÄNGE THEATRALER PRAXIS

Unterschied zu Grenzgängen handelt es sich um Bewegungen, die sich nicht auf eine fixierte Demarkationslinie beziehen können, vielmehr zu tun haben mit Bereichen des Übergangs und der Veränderung von Zuständen. Ähnlich lassen sich auch mit gegenwärtigen Formen der Inszenierung Erfahrungen machen, die eine Erweiterung des Theaterbegriffs von den Randzonen her zugleich erfordern und ermöglichen. Gerade im Hinblick auf die räumlichen Gegebenheiten von Theater, seinen Ort und seine Verortung im städtischen Raum, geht es um Phänomene eher des Übergangs und der Schwelle als um Fixierungen. Denn wo genau beginnt der Raum des Theaters? An der Rampe zwischen Bühne und Publikum, an den Türen zum Zuschauerraum oder auf der Rückseite der Bühne, im Übergang zu den Räumen der Produktion und Verwaltung? Im Foyer oder an der Kasse? An der äußeren Begrenzungsmauer des jeweiligen Gebäudes oder an den Werbeflächen für theatrale Aktivitäten, wo immer sie zu finden sind? An welchem Ort spricht sich das Versprechen des Theaters eigentlich aus? Und wo endet dieses Versprechen, um in die Wirklichkeit einer Enttäuschung oder auch einer Rettung aus den Albträumen der Kunst überzugehen? Wie sehen Formen der szenischen Praxis aus, die mit der Erkundung all dieser Randzonen arbeiten und dabei auch die immer noch dominante Zentrierung unseres Blickes im Theater aufbrechen? Nicht mehr bloß in der emphatischen und pathetischen Geste des Verlassens, des Auszugs aus dem institutionalisierten Theater finden die auf neue Weise inszenierten Bewegungen statt, sondern zunehmend auch in einer marginalen, randständigen und beiläufigen Beziehung zum Theater, zum Teil sogar innerhalb seiner angestammten Räumlichkeiten, die vielleicht nur etwas anders gebraucht werden. Worum also geht es, wenn von Zuschauern in Bewegung die Rede ist? Der Begriff der Bewegung wird seit Jahrhunderten immer wieder verwendet, um die einheitsstiftende emotionale Wirkung des Theaters auf sein Publikum zu beschreiben, insofern stets im Modus der Metapher. Eine übertragene Redeweise, die eben das ausschließt, was eigentlich, wörtlich gesagt wird. Die Idee der metaphorischen Bewegung des Zuschauers im Theater reicht zurück auf die Verbindung beider Aspekte im lateinischen Wort movere – ein altes Konzept der Rhetorik, das im Kontext der Aufklärung wieder aufgenommen und zu einer Schauspieltheorie ausgebaut wurde. Im 18. Jahrhundert sollte die Beredsamkeit des Körpers, eloquentia corporis, nicht nur dem Ausdruck von Gefühlszuständen dienen, sondern zugleich ihrer Reproduktion im Zuschauer. Dazu wurde ein System von Gesten, Haltungen,

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Rede- und Spielweisen entwickelt. Der Idee der emotionalen Bewegung entsprach seither eine zweigeteilte Ästhetik der Täuschung: einerseits des Mitleids, der sentimentalen Einfühlung, andererseits der Bewunderung, des Erstaunens über heroische Tugendhaftigkeit. Gegen diese Programmatik des bürgerlichen Theaters und seine Fixierung auf Gefühlsausbrüche wandte sich schon Brecht mit dem Hinweis, ein entspannt distanzierter, womöglich bei der Aufführung rauchender Zuschauer sei viel eher in der Lage, die ihm gezeigten Vorgänge adäquat, durch eigene Stellungnahme zu reflektieren: „Ich behaupte sogar, dass ein einziger Mann mit einer Zigarre im Parkett einer Shakespeare-Aufführung den Untergang der abendländischen Kunst herbeiführen könnte. Er könnte ebenso eine Bombe als seine Zigarre in Brand setzen. Ich würde gern sehen, wenn das Publikum bei unseren Aufführungen rauchen dürfte. Und ich möchte es hauptsächlich der Schauspieler wegen. Es ist dem Schauspieler nach meiner Meinung gänzlich unmöglich, dem rauchenden Mann im Parkett ein unnatürliches, krampfhaftes und veraltetes Theater vorzumachen.“4

Die Theateravantgarden nach Brecht haben immer wieder versucht, auch seine Ideen zu einer veränderten Rolle des Publikums wieder aufzunehmen, weiterzudenken oder aber zu verwerfen – vom entspannt rauchenden Betrachter oder einem wie bei Sportveranstaltungen interessierten Experten über die aktiven Teilnehmer eines Lehrstücks bis hin zur Konzeption einer Zuschaukunst im Kontext von Brechts späterer Theaterarbeit und -theorie. Impulse für eine wirkliche Veränderung des Zuschauerverhaltens, etwa eine Kultivierung des Zwischenrufes oder die Idee, Zuschauer sollten eine Aufführung jederzeit verlassen können, sich in ihr womöglich frei bewegen wie in einer Ausstellung, kamen jedoch eher aus der Performance-Kunst, die sich außerhalb der traditionellen Theaterhäuser mit ihrer räumlich fixierten Trennung von Bühne und Zuschauerraum entwickelt hatte. Wenn das Publikum der Stadt- und Staatstheater nur selten noch aus seiner Reserve zu locken ist, so liegt dies nicht bloß an einer allgemeinen Tendenz zu konformen, affirmativen Verhaltensweisen, sondern spezieller an der Gewöhnung an eine Ökonomie der anonymen Medienbenutzung. Die Ausbreitung eines individuellen Voyeurismus und die Ideologie der Partizipation und Interaktivität gipfeln im Phantasma einer Kontrolle, die über Bildschirme von zu Hause aus, aus dem 4

Brecht, Bertolt: [Es gibt keine Großstadttheater] (1926/27), in: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Frankfurt, Berlin und Weimar 1986ff., Bd. 21, S. 134ff.

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ZUSCHAUER IN BEWEGUNG – RANDGÄNGE THEATRALER PRAXIS

privaten Raum über die gesamte globale Umgebung auszuüben wäre. Gleichzeitig ist dieser private Raum Objekt der Beobachtung und Kontrolle von außen, sodass sich mit der weitgehenden Privatisierung öffentlicher Räume zugleich eine Veröffentlichung des Privaten abspielt, beide Bereiche in einer Zwischensphäre der Medien aufgehen.5 Der Frage nach aktuellen Funktionen des Zuschauens kommt aber eine besondere Bedeutung zu, wenn sie im Hinblick auf das Theater gestellt wird. Ist dessen Voraussetzung doch nicht nur die raumzeitliche Kopräsenz von Betrachtern und Akteuren, sondern zunehmend gerade das Spiel mit dem Mangel, der Teilung und Störung von Präsenz. So ist gegenwärtig die Erfahrung zu machen, dass sich die für Theater immer schon konstitutive Verschränkung von Anwesenheit und Abwesenheit, Zeigen und Verbergen durch die mediale Reflexion des Zuschauens verschiebt und dass hier kaum mehr von einer Balance oder einem dialektischen Verhältnis zwischen stabilen Positionen auszugehen ist. Zu fragen bleibt umso mehr nach theatralen Strategien, die räumliche Fixierung des Betrachters, seine Stillstellung und Disziplinierung aufzubrechen. Das metaphorische Konzept einer psychischen Bewegung hat selbst im Kontext neuerer Performance-Theorie Anwendung gefunden, etwa in Richard Schechners Versuch, den Effekt einer Performance (im umfassenden Sinne einer jeglichen Praxis von Darstellung oder Aufführung, rituellem und zeremoniellem Verhalten) daran zu messen, ob die Beteiligten einen umkehrbaren Transport oder eine substantielle Transformation erfahren: „I call performances where performers are changed „transformations“ and those where performers are returned to their starting places „transportations“. „Transportation“ because during the performance the performers are “taken somewhere“ but at the end, often assisted by others, they are “cooled down“ and re-enter ordinary life just about where they went in“.6

Bei der Übertragung dieser Unterscheidung zwischen theatralem Rollenspiel und ritueller Verwandlung auch auf die Zuschauer bleibt Schechner auf den metaphorischen Gebrauch von „Transport“ beschränkt, der ebenso wie die Transformation eher als ein „innerer“,

5

6

Vgl. dazu auch Hrvatin, Emil: The terminal spectactor, in: Martina Hochmuth u.a. (Hg.): It takes place when it doesn’t. On dance and performance since 1989, Frankfurt am Main, 2006, S. 17-26. Schechner, Richard: Performers and Spectators transported and transformed, in: The Kenyon Review, New Series, 3 (1981), H. 4,S. 83-113.

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mentaler und psychischer Vorgang erscheint. Transformation wird zugleich im Hinblick auf eine rituelle Gemeinschaft gedacht, die nicht mehr bloß aus Zuschauern, sondern aus Teilnehmern besteht (darin ähnlich dem bürgerlichen Theater, das gerade durch emotionale Bewegung und moralische Läuterung sein Publikum zu einer Gemeinschaft verbinden wollte). Der von Schechner konstatierte Übergang von Prozessen des Transports in solche der Transformation legt aber nahe, auch die die Veränderung des räumlichen Dispositivs von Aufführung und Betrachtung zu thematisieren. So weist zumindest die Formel „Performers and Spectators – Transported and Transformed“ über ichren Kontext hinaus, berührt zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung oszillierend auch das Potenzial einer Entgrenzung und damit Transformation des Theaterraumes. Dem entspräche eine Praxis, die ein körperliches Bewegen des Zuschauers ausprobiert, ohne doch damit auf eine zeremonielle und spirituelle Vereinigung von Zuschauern und Akteuren hinzuarbeiten. Im Gegenteil – gerade in der Durchbrechung der gewohnten Distanz spielt sich jene Enttäuschung ab, die vielleicht das eigentliche Risiko (und auch die Chance) vieler aktueller Projekte an den Rändern des Theaters ausmacht.

A p p a r a te u n d M e d i e n : D i e v i r t u e l l e F l u c ht a u s d e m W o hn z i m m e r „Hier ist der Apparat, steig ein.“ So beginnt Brechts Lehrstück Der Ozeanflug, mit der Aufforderung eines Gemeinwesens an jedermann, den Flug des Fliegers zu wiederholen: „Durch das gemeinsame/ Absingen der Noten/Und das Ablesen des Textes.“7 Der Apparat dient einer virtuellen Reise durch die Medien. Brecht wollte die Begeisterung für technische Pionierleistungen darstellen und für eine radikale Veränderung von Theater und Rundfunk nutzen. Die Uraufführung 1929 war vor allem ein Medienexperiment – mit der Idee, den Rundfunk aus einem Distributionsapparat in einen Apparat der Kommunikation zu verwandeln, Hörer und Zuschauer zu aktivieren, das im bürgerlichen Theater von Illusion und Einfühlung geprägte, passiv konsumierende und voyeuristische Verhalten des Theaterzuschauers aufzubrechen. Die Vorführung war selbst das Experiment, sodass sich auch das Publikum als Teil der Versuchsanordnung begreifen konnte. 7

Das Stück hieß zunächst Flug der Lindberghs, später dann Der Lindberghflug, seit 1950 aber, aufgrund von Lindberghs Kollaboration mit den Nazis, Der Ozeanflug. Hier zitiert nach Werke, Bd. 3, S. 9.

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Heute, knapp 80 Jahre später, ist mehr denn je die Erfahrung zu machen, dass die räumlichen und zeitlichen Randzonen des Theaters von technischen Medien markiert werden und gleichsam besetzt sind. Umso näher liegt ein Rückblick auf das Radiolehrstück gerade für die Frage nach der Bewegung des Zuschauers. Nach der in vieler Hinsicht unzulänglichen Uraufführung (bei den Baden-Badener Kammermusiktagen, am 27. Juli 1929) demonstrierte Brecht am Tag darauf seine Ideen zu einer neuen Verwendung von Rundfunk und Theater, indem er Radio und Hörer einander konfrontierte. Auf einem Podium war ein Zimmer aufgestellt, worin ein Mann mit der Partitur am Tisch saß und den Part des Fliegers bzw. des Hörers übernahm (markiert durch ein Schild mit der Aufschrift „Der Hörer“). Daneben ein kleines Orchester und in der Mitte ein Lautsprecher für die von Schallplatten abgespielten Geräusche, also alle im Stücktext mit „Radio“ bezeichneten Stimmen, Nebel, Motor etc. Auf eine Leinwand projiziert wurden einige mit „Radiotheorie“ überschriebene Anweisungen zur Funktion von Rundfunk und Musik als Übung: „tun ist besser als fühlen, indem er [der Hörer] die musik mitliest und in ihr fehlende stimmen mitsummt oder im buch [der Partitur] mit den augen verfolgt oder im verein mit anderen laut singt. so gibt der staat eine unvollkommene musik, aber der einzelne macht sie vollkommen.“8

Das Radio sollte dem Hörer nach Hause liefern, was er selbst nicht produzieren konnte, um dadurch seine Teilnahme an dem Flug zu erleichtern. Das entsprach der späteren Idee der Lehrstücke, den Zuschauer abzuschaffen, das Publikum vom Adressaten der Aufführung zum Teilnehmer einer Übung zu machen. Der Hörer und Zuschauer wurde durch diese Versuchsanordnung zugleich ausgestellt und virtuell in Bewegung versetzt. Schon das „Einsteigen in den Apparat“ versprach einen Prozess der Mobilisierung, einen gegenüber der gewohnten Stillstellung im dunklen Zuschauerraum veränderten Erfahrungsraum. Die utopischen Hoffnungen, die sich einst an solche Versuche knüpfen konnten, sind allerdings aufgebraucht, wo räumliche Distanzen nicht nur durch Billigflüge, sondern vor allem durch elektronische Medien leicht zu überwinden sind. Die Desillusionierung betrifft auch die Medien selbst, Radio, Fernsehen und Internet. Mit dieser neuen Perspektive auf den alten Text arbeitet die Theaterproduktion Hier ist 8

Zitiert nach Steinweg, Reiner (Hg.): Brechts Modell der Lehrstücke, Frankfurt am Main, 1976, S. 38.

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der Apparat von Chris Kondek (Brüssel 2006 und Berlin 2007). Zuvor hat Kondek Dead Cat Bounce gezeigt, eine szenische Einführung in die Börsenwelt, bei der über Internetverbindung live am New Yorker Stock Exchange mit dem Eintrittsgeld der Zuschauer spekuliert wurde. Ansonsten ist er aber vor allem als Videokünstler bekannt, der nicht nur längere Zeit mit der Wooster Group zusammengearbeitet, sondern auch viele neuere Produktionen im deutschen Theater geprägt hat, u.a. von Stefan Pucher und Meg Stuart, Jossi Wieler und Armin Petras. Kondeks Inszenierung von Brechts Ozeanflug ist eine Art Talkshow, die in drei Teilen (Radio, TV und digital section) das Lehrstück mit der Geschichte der Massenmedien konfrontiert. Noch bei Arbeitslicht kommt zuerst Kondek selbst als Moderator „Gary“ auf die Bühne, erzählt beiläufig von Brechts Ozeanflug und der Begeisterung für das neue Medium Rundfunk als gemeinschaftsstiftenden Apparat, schildert aber zugleich die Entstehung seines eigenen Projekts. Weitere Akteure treten auf und gehen an ihre Tische: Christiane Kühl als Produzentin „Jane Seymour“ und Victor Morales als „Side Kick“. Während Dias von der Uraufführung gezeigt werden, taucht Julie Bougard9 als Talkshowgast „Veronika del Fuego“ auf. Sie stellt sich (entsprechend Brechts späterer Textfassung) als „der Flieger Derundder“ vor, übernimmt die Aufforderung des Apparats an jedermann, während sie ein altes Tonbandgerät einschaltet, mit dem Mikrofon bearbeitet und dadurch ein lautes Propellergeräusch hervorbringt. Im Dialog mit den anderen entfaltet sie die in den zwanziger Jahren verbreitete, auch von Thomas A. Edison geäußerte Idee, dass durch Rundfunkgeräte die Stimmen der Toten aus dem Jenseits zu empfangen wären. Der erste Teil zum Thema Radio ist denn auch eine Art magischer Seance, weitgehend im Dunkeln ausgetragen, begleitet von extremen Geräuscheffekten. Einer der Anrufe, die auf diese Weise aus dem Jenseits empfangen werden, ist der von Brecht selbst, der Beginn der Aufnahme des Verhörs vor dem Ausschuss für unamerikanische Tätigkeiten: „My name is Bertolt Brecht, I’m living in 34 West 73rd Street New York […].“ Dazwischen die Szenen des Ozeanflugs, öfters auch ins Englische übersetzt, bis zum Übergang in den zweiten Teil des Abends, einen Schnelldurchlauf durch die Geschichte des Fernsehens (TV). Wieder gibt Kondek eine Einführung, in der er die Ideologie des Fernsehens als Weg zu einer Gemeinschaft der Massen erörtert. Der Ton dieser Statements schlägt immer mehr in Komik um, wenn auf der 9

In der Premiere beim Kunstenfestival in Brüssel (2006) spielte Astrid Endruweit diesen Part.

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Leinwand die Welt zum „global village“ erklärt wird. Umgeben von Kameras beginnt die Late-Night-Show: „Hier ist der Apparat!“, als deren erster Gast Marshall McLuhan eingeblendet wird. Seine Ansichten über den Imperativ der Partizipation im Medienzeitalter korrespondieren hier auf vielfältige Weise mit Brechts Lehrstück. Momente, in denen man auf einer projizierten Seekarte den Flug durch den Schneesturm verfolgen kann, wechseln mit Filmmaterial aus den sechziger und siebziger Jahren, Bilder von Panzern, Demonstrationen, Polizei, während im Vordergrund weiter Theater gespielt wird. Die auf der Bühne inszenierte Talkshow wird von eingeblendetem Gelächter und Beifall begleitet. So erlebt das Theaterpublikum, dass „seine“ Reaktionen im Fernsehen verfügbar sind, jederzeit eingeblendet werden können. In diesem Kontext wird der Abschnitt „Ideologie“ aus Brechts Text vorgetragen, konfrontiert mit einem Zitat von McLuhan zur Idee des Fernsehens: „TV turns us all into a big tribe, we read a book alone, but watch TV together.“ Das Gegenteil behauptet Talkshowgast Veronica, die sich an ihre Kindheit erinnert: Fernsehen sei der einzige Weg gewesen, aus dem Wohnzimmer und damit aus dem täglichen Familienkrieg zu entfliehen. Diese private Geschichte vom Ende des Privaten umkreist auf melancholische und zugleich komische Weise die paradoxe Relation von Stillstand und totaler Mobilisierung, die das Zuschauen im Zeitalter der Medien prägt. Wie Hrvatin den „terminal spectactor“ beschreibt, werden soziale Verhaltensweisen immer mehr zu telematischen, über Bildschirme und Schnittstellen geprägt durch die Fiktion einer panoptischen Allgegenwart sowie durch eine verantwortungslose Teilnahme an Spektakeln aller Art. Daher richten sich Strategien der Beteiligung in gegenwärtigen Theaterformen oft gerade auf den Entzug des theatralen Spektakels: „participation is only possible when there is nothing to participate in, when the public becomes a theatre event and perceives itself as such“.10

Kondek weist mit seiner Deutung des Lehrstücks in die gleiche Richtung, auch wenn sich die spielerische Analyse medialer Wahrnehmungsbedingungen mitunter verselbstständigt. So führt der dritte Teil des Abends in einen Cyberspace, wo die Akteure als Klone bzw. Avatare ihrer selbst auftauchen und immer wieder durch das Zielfernrohr eines Ego-Shooters erledigt werden. Diese in Computerspielen für Jugendliche gängige Technik wird aber auch dazu eingesetzt, ein rotes 10 Hrvatin, The terminal spectactor, S. 25.

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Sofa mit Rädern und Flügeln auszustatten. Ein wunderbares Bild, vielleicht ein versteckter Hinweis auf Walter Benjamins Kommentar zum epischen Theater, das (hierin orientiert an der Erfahrung des Romanlesens auf dem Sofa) ein „entspanntes, der Handlung gelockert folgendes Publikum“ verlangt,11 oder auf Virilios Hinweis, dass ein am Straßenrand geparktes Fahrzeug „nichts als ein Sofa mit vier oder fünf Plätzen“ ist und seine Bedeutung erst im eigentlich unsichtbaren „Hier und Jetzt der Geschwindigkeit und der Beschleunigung“ erhält.12 Die aus Brechts Ideologie-Szene übernommene Vision, dass durch Beherrschung der Technik eine neue Form von Natur zu erfinden sei, wird hier verkörpert durch Kunstfiguren, die auch ohne sichtbare Apparate fliegen und tanzen können, beim Einsatz des Ego-Shooters aber Ziele für ein großes Massaker abgeben. So erhellt Kondeks Apparat-Projekt nicht zuletzt die oft übersehene Bedeutung des Asozialen und Destruktiven für die Lehrstücke. Brecht hat in dieser Versuchsreihe, insbesondere im Fatzer-Fragment, die Auseinandersetzung mit dem Asozialen gefordert: „gerade die darstellung des asozialen durch den werdenden bürger des staates ist dem staate sehr nützlich.“13 Das Durchspielen und Ausagieren der asozialen Triebe wird dabei sogar als Grundlage für die Verknüpfung von Theater und Pädagogik verstanden. An diesem Punkt (und nicht etwa bei einer abgestandenen Belehrungsdramatik) hat auch die Analyse der gegenwärtig wieder produktiven Impulse von Brechts Lehrstücken für postdramatische Theaterformen anzusetzen.14 Brechts Ozeanflug lässt sich auch als ein szenisches Ritual lesen, mit dem das Theater auf dem Podium, gerade im Zeitalter von Wissenschaft und Technik, als zeremonieller Prozess vorgeführt wird, der das Verhalten der Zuschauer mit reflektiert. Wie schon Benjamin zum Lindberghflug angemerkt hat, kommt es nach Brechts Selbstkorrektur bei der Uraufführung darauf an, nicht die Erregung des Publikums über die Heldentat, sondern eine Erfahrung von Arbeit für das Theater zu 11 Benjamin, Walter: Was ist das epische Theater? (zweite Fassung, 1939), in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main, 1980, Bd. 2, 532-539, hier: S. 532. 12 Virilio, Paul: Fahren, Fahren, Fahren, übers. von Ulrich Raulf, Berlin 1978, S. 19. 13 Brecht, Bertolt: Theorie der Pädagogien, zitiert nach Steinweg (Hrsg.), Brechts Modell der Lehrstücke, S. 70ff. 14 Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main, 1999, u.a. 44ff., 239f., S. 396.

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nutzen, die Erschöpfung und Scheitern einschließt.15 Mit der Masse, aus der sich der Flieger erhebt und in die er zurückkehrt, geht es auch um den Tod, den der Flug als Rite de passage symbolisch durchquert. Wichtig dafür ist eine Stelle, deren Bedeutung als unaufgelöster „Rest“ der dialektischen Ökonomie schon Rainer Nägele bemerkt hat,16 die Ankunft, Szene 16, wo die Flieger rufen: „Ich bin Lindbergh. Bitte tragt mich/ In einen dunklen Schuppen, dass/ Keiner sehe meine/ Natürliche Schwäche.“17 In dem Moment, da der Flug geglückt ist, soll der Flieger verschwinden. Die „Natürliche Schwäche“ könnte für Erschöpfung stehen und für den Anflug einer Scham, die das medial vorausgeeilte Bild des Helden nicht mit dem realen, womöglich beschmutzten Körper des Fliegers beschädigen will. Vielleicht auch eine Art Bestrafungsfantasie, da dem Flieger in den kommentierenden Gesängen des Lehrstücks die Überwindung Gottes, der Nachweis seiner Nichtexistenz oder Ohnmacht, zugesprochen wird. Oder der Schatten Nungessers, des anderen, kurz zuvor auf dieser Strecke abgestürzten Fliegers, hat ihn eingeholt, verlangt seinen Anteil am Ruhm des Pioniers. Offenkundig ist diese 1930 nachgetragene Szene verknüpft mit dem Sturz der Flieger im Badener Lehrstück, das einen Prozess gegen die Gestürzten führt, bis hin zu der Szene „Die Austreibung“, wo der Flieger die Bühne verlassen muss.18 Wenn die Trümmer des Apparats beseitigt werden, hat der Flieger sein Gesicht verloren. Sein Urteil ist, dass er Amt und Menschlichkeit eingebüßt hat und deshalb sterben soll. Dieser Vorgang betrifft aber zugleich die Funktion der Zuschauer, in deren Namen sowohl der Flug als auch schließlich die Austreibung des Fliegers vollzogen wird. Schon mit dem Ozeanflug geht es nicht nur um eine Veränderung symbolischer Räume (den von Flugzeugen und Radiowellen durchkreuzten und damit profanierten Himmel ebenso wie das Theater auf dem Podium des Lehrstücks), sondern gleichzeitig um einen Prozess über das Individuum im technischen Zeitalter. Nicht von ungefähr steht die Szene 16 am Schluss von Kondeks Inszenierung: „My name is So and So. Carry me to the dark shed so no one could see my natural weakness.“ Der Moderator fährt fort: „But 15 Benjamin, Walter: Was ist das epische Theater?, in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 537. 16 Nägele, Rainer: Brechts Theater der Grausamkeit: Lehrstücke und Stückwerke, in: Brechts Dramen. Neue Interpretationen, hg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1984, 300-320, hier: S. 309. 17 Brecht, Bertolt: Werke Bd. 3, S. 23. 18 Ebd., S. 44.

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tell the boys in San Diego their work was good. The machine was without any faults.“ Gerade im Verweis auf die Arbeit des Kollektivs erscheint die Leistung des Individuums immer noch unzulänglich. Im Umgang mit der Produktivität der eigenen Fehler versteht sich aber auch Kondeks Projekt weniger als abgeschlossenes Werk, als fertige Inszenierung von Brechts Text, vielmehr als ein Weiterarbeiten an den von ihm aufgeworfenen Problemen aus einer gegenwärtigen Perspektive. So hat er im Sommer 2007 mit Theaterwissenschafts- und Dramaturgiestudenten in Frankfurt am Main auch eine Produktion des Badener Lehrstücks erarbeitet. Dabei wurde die zentrale Frage nach dem Verhältnis von Gewalt und Einverständnis verknüpft mit der Thematik der Snuff-Movies und der von Medien gesteigerten Faszination an „live“ dokumentierter Gewaltausübung. Im Moment der Aufführung wurden die Zuschauer nicht mehr nur als Voyeure oder Teilnehmer angesprochen, sondern ebenso als Zeugen, die mit ihrer eigenen Verantwortung für das Geschehen konfrontiert waren – nicht etwa zur Belehrung über vorgefasste Einsichten, vielmehr in einem Versuch mit offenem Ausgang. Gegenwärtige Theaterarbeit, die Brechts Lehrstückprojekt ernst nimmt, hat jedenfalls von der Infragestellung des eigenen Apparats auszugehen – Theater im Stadium seiner produktiven Selbstentfremdung. Als Ort gemeinsamer Erfahrungen ist Theater keineswegs mehr selbstverständlich. Auch damit hat es zu tun, dass viele Theatermacher versuchen, ihre Zuschauer tatsächlich, körperlich in Bewegung zu versetzen.

Rundgänge als Randgänge – P ar c o u r s i m T h e a t e r Die Tendenz, jenseits der Ausgestaltung der Bühne zum Kunstraum das Theater insgesamt als einen Ort öffentlichen Spielens und Verhaltens bewusst zu machen, zeigt sich besonders an der Form des internen Parcours, den eine Reihe unterschiedlicher Projekte in den letzten Jahren verwirklicht haben. Exemplarisch war 1996 Christoph Marthalers Revue Straße der Besten, die unter Leitung des Schauspielers Graham Valentine durch das Gebäude der Berliner Volksbühne führte, dabei den Gestus sozialistischer Arbeitshelden-Verklärung ironisierte. Stationen mit jeweils als „skurriles Inventar“ ausgestellten Akteuren waren die verstaubten Garderoben im obersten Rang ebenso wie die alte Mechanik der Unterbühne, der Heizungskeller und eine Kammer, in der sorgfältig beschriftete Einmachgläser mit Geruchsproben für die Spürhunde der Stasi ausgestellt waren. Auf 96

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dem Programmzettel war ein kalifornischer Gruß des gerade verstorbenen Heiner Müller zum 80jährigen Bestehen der Institution Volksbühne abgedruckt: „Theater, wenn es lebt, ist eine alte Schreibmaschine, wenn es gut ist, mit löchrigem Farbband, in den Löchern wohnt das Publikum, und manchmal reißt es, dann freut sich die Kritik. […] Theater, denen es nicht mehr gelingt, die Frage WAS SOLL DAS zu provozieren, werden mit Recht geschlossen. […] Eure historische Leistung ist die Befreiung aus der programmierten Sinnschleife, in der die Stimme erstickt.“19

Die Volksbühne hat die Selbstreflexion ihrer Spielorte immer wieder zum produktiven Arbeitsprinzip gemacht, durch die zwischen Alltag und Utopie, Innen und Außen, Gegenwart und Vergangenheit changierenden Räume von Anna Viebrock ebenso wie in Bert Neumanns Raumkonstruktionen, besonders die im Prater-Raum aufgebaute Holzkopie des runden Globe-Theaters (für die Shakespeare-Reihe Rosenkriege 1999) oder auch die Bühne und Zuschauerraum des großen Hauses völlig überdeckende „Neustadt“. Als Spurensuche in der von Geistern und Phantasmen bevölkerten Geschichte eines Theatergebäudes erwies sich auch die 2001 am Hamburger Schauspielhaus gezeigte Aktion Die tausend Tode der Anna Magdalena Brettschneider – eine Schauspielhausdurchsuchung des Geschichtenerfinders Hans-Peter Litscher. Ausgehend von einer „bei Renovierungsarbeiten“ aufgetauchten Kladde rekonstruierte Litscher auf einem Rundgang durch das Schauspielhaus mit großer Leidenschaft für kleinste Details das 99-jährige Leben dieses Faktotums. Die Brettschneider hätte heimlich im Haus gewohnt, fast alle Aufführungen des Jahrhunderts gesehen und – mit besonderem Interesse an Sterbeszenen – alle Schauspieler/innen gekannt: „Sie hat Taschentücher mit den Worten „Furcht“ und „Mitleid“ bestickt und sie den Schauspielern geschenkt; Gründgens soll eins mit „Furcht“, Wildgruber eins mit „Mitleid“ geschenkt bekommen haben.“ Ihr eigener Tod sei nach der letzten Vorstellung von Marthalers Stunde Null oder die Kunst des Servierens eingetreten, in der Gründgens-Loge. Der von vielen Requisiten und Dokumenten unterstützte Rundgang endete unter dem Kuppeldach des Hauses, wo Tonbänder mit heimlichen Mitschnitten von Todesseufzern und -schreien angehört werden konnten –

19 Müller, Heiner: „Stöhnend unter der Last meines Versprechens…“, in: Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (Hrsg.), „Straße der Besten“ (Programm), Berlin 1996.

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Rückblick auf die Theatergeschichte und Selbsterfahrungstrip für Zuschauer. Einen ganz anderen Parcours bot am schauspielfrankfurt 2002/03 die Choreografin und Regisseurin Wanda Golonka, acht Performances unter dem Titel An Antigone. Material der Arbeit war Hölderlins Übersetzung von Sophokles’ Antigone, vor allem aber eine Folge von Räumen im gesamten Gebäude der Städtischen Bühnen. Dabei ging es auch um eine Recherche zu Motiven des Politischen, die in Hölderlins Text angelegt sind und die schon von Sophokles reflektierte Krise des Staates im Raum des Theaters vorantreiben: die Frage nach dem Ort des Zuschauers, die Dekonstruktion konventioneller Körperbilder sowie die Störung von Wahrnehmungsgewohnheiten und überkommenen Denkweisen, als eine „Umkehr aller Vorstellungsarten und Formen“. Obwohl Hölderlins Text nur fragmentarisch zu hören war, variierten die Performances alle das von der Tragödie aufgeworfene Problem einer paradoxen Gegenwart des Todes und der Toten, ließen das Theater insgesamt als einen Komplex von Grabkammern erscheinen. Dabei wurde mit der räumlichen Situation der Zuschauer als einem Potenzial der Störung und Verunsicherung gearbeitet, die gewohnte Raumstruktur des Stadttheaters von innen her aufgebrochen. Teil #1 spielte im dunklen Zuschauerraum, wo man auf der Treppe neben den Sitzreihen stand oder saß, die überdeckt waren mit einem großen, rot gefärbten Tuch. Über diese Schräge stolperte Hilke Altefrohne, zwischen den senkrecht von der Decke herab hängenden Neonröhren, in den Reihen einbrechend oder auf dem unsicheren Grund rollend. Später, im Malersaal, saß Jennifer Minetti, das Gesicht mit Masken bedeckt, an einem langen Holztisch und las Klagegesänge sowie das zweite Chorlied aus Antigone: „Ungeheuer ist viel. Doch nichts/Ungeheuerer, als der Mensch.“ Die Zuschauer sahen vor allem sich gegenseitig, irgendwie deplatziert herumstehend oder -sitzend. Daraufhin wurde der Blick in einen länglichen Transportschacht freigegeben, von dessen einer Wand sich ein Körper abzulösen begann. Der Tänzer – William Forsythe in einer monströsen Filzperücke – tastete sich durch den Gang, immer in Kontakt mit Wänden und Boden, wie ein Tier beim Durchqueren seines unterirdischen Baus. Auch die folgenden Teile arbeiteten gegen die Betriebslogik ihrer Räume an, bis zum Schluss auf der Hauptbühne, als sich viele schwarze Lautsprecher mit Neonröhren aus dem Schnürboden herabsenkten; zu hören waren alltägliche Stimmen, Interviews mit Frankfurter Passanten: „Sind Sie zufrieden mit Ihrer Verfassung?“ Nachdem die Zuschauer, nun selbst beleuchtet, in kleinen Gruppen über die Antworten diskutiert hatten,

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tickten aus den Lautsprechern Metronome nach einer Komposition von Ligeti. Der Eiserne Vorhang gab zuletzt den Blick auf den erleuchteten Zuschauerraum frei, das rote Tuch immer noch über den Sitzen. So hat dieser interne Parcours das Theater gerade insofern zum „öffentlichen“ Ort gemacht, als er das Fehlen von Öffentlichkeit (nicht nur im Sinne antiker Demokratie) spürbar werden ließ. Bei einem erneuten Rundgang durch das schauspielfrankfurt unter dem Titel For Sale (Oktober 2005) ließ Golonka die Zuschauer mehrfach die Erfahrung von Enge, Nähe und Berührung machen, indem als Spielorte vor allem Gänge, Treppenabsätze, Arbeits- und Lagerräume dienten. Für die jeweils nur zwölf Teilnehmer eines solchen Parcours war die Berührung untereinander wie auch mit den Akteuren kaum zu vermeiden, wenn man sich in kleinen, engen Räumen zusammendrängte, um die dortigen Aktionen, Installationen oder Videoarbeiten zu sehen oder unverhofft an einer Art Weinprobe teilzunehmen. Oder ein Flur im Verwaltungstrakt, der mit Gras ausgelegt zum Schauplatz für ein seltsam riechendes Spektakel wurde: Zwei Akteure, deren Köpfe in breite Fleischstücke eingewickelt waren, führten eine Art blinden Tanz auf, bei dem sie immer wieder an die Zuschauer stießen. Zwei andere vor einer Wand von Perücken, die sie ständig wechselten, bevor sie den Zuschauern damit durch eine halb geöffnete Tür entgegen grinsten. Durch solche Eindrücke erschien das Gebäude der Städtischen Bühnen eher als Geheimwelt voll merkwürdigen, unverhofften Lebens. Die Zuschauer waren Teil der Inszenierung, die ihnen dafür noch im entlegensten Winkel des Gebäudes Freiräume eröffnen konnte, die Überschreitung aller vermeintlichen Grenzen von Theater. Der Rundgang als ein Randgang: Die Auslotung der Extreme demonstrierte, dass unsere Vorstellungen von Theater der ständigen Überprüfung bedürfen. Einer Erweiterung des Theaters in den städtischen Raum diente Golonkas Projekt Wenn ich mich umdrehe. EINLADEN (2006/07). In einem ehemaligen Laden wurden eher intime Begegnungen bei Performances, Konzerten und Lesungen inszeniert. Damit wurde die Frage nach der Öffentlichkeit des Theaters abermals an seinen Rändern ausgetragen, durch einen körperlich erfahrbaren, von der Erprobung ungewohnter Situationen getragenen Prozess. Die Hausdurchsuchungen und internen Parcours zeigen bereits, dass postdramatische Theaterformen immer wieder auf die elementare Bedeutung des Theaters als einer Situation zurückkommen, die ja bereits im griechischen Wort theatron angelegt ist, das soviel wie Schauplatz, Ort des Sehens meint. Entscheidend ist nicht bloß, was es

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zu sehen gibt, sondern auch, wie dieses Sehen als Prozess organisiert wird. Vor allem handelt es sich um ein gemeinsames Sehen (und Hören), für das die Situation des Zuschauers selbst zum Material wird. An die Stelle der auf ein imaginäres, kosmisches oder gesellschaftliches „Draußen“ gerichteten Utopien sind die beunruhigenden Heterotopien20 von Inszenierungen getreten, die auch im Inneren der Theater das gewohnte Verhalten von Zuschauern und Akteuren stören. So erweisen sich ganz unterschiedliche performative Strategien – in Reaktion auf die Krisen und das Verschwinden vieler Theater-Institutionen ebenso wie auf die allgemeine Veränderung von „Öffentlichkeit“ – als Arbeit an neuen Wahrnehmungsweisen, mit denen die Zuschauer selbst, für sich und füreinander, zum Ort des Theaters werden.

W al k i n g p e r f o r m a n c e s , G e h e n u n d Ü b e r sc h r e i t u n g Der Vorgang des Gehens ist in jeder Hinsicht elementar, als Fortbewegung, als spielerische Aneignung und Veränderung des Raumes, zugleich aber als Erfahrung von Verlust und Distanz, als eine Verfehlung des Ortes des Eigenen. Diese Dialektik hat Michel de Certau im Rahmen seiner Kunst des Handelns ausgeführt: „Gehen bedeutet, den Ort zu verfehlen. Es ist der unendliche Prozess, abwesend zu sein und nach einem Eigenen zu suchen. Das Herumirren, das die Stadt vervielfacht und verstärkt, macht daraus eine ungeheure gesellschaftliche Erfahrung des Fehlens eines Ortes.“21

Die mit der Wahrnehmung der Großstadt verknüpfte Verlusterfahrung gewinnt noch an Sichtbarkeit, wenn man sie von der Geschichte des modernen Theaters her betrachtet, wo sie stets eine besondere Rolle gespielt hat – vom langen Marsch des braven Soldaten Schwejk auf Piscators Laufband über die Bühnendemonstranten des politisch agitierenden Theaters der Weimarer Republik bis zur hartnäckig ihren Karren ziehenden Mutter Courage auf der Drehbühne des Berliner En20 Vgl. Foucault, Michel: Andere Räume, in: Aisthesis, hg. von Karlheinz Barck u.a., Leipzig 1990, 34-46. Was in diesem inzwischen kanonisch gewordenen Text bloß von dem heterotopischen Potenzial der Bühne gesagt wird, wäre zu erweitern auf Theater insgesamt als Praxis der Entgrenzung und Aufspaltung von Räumen. 21 De Certeau, Michel: Kunst des Handelns (1980), übers. von Ronald Voullié, Berlin 1988, S. 197.

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sembles. Nach wie vor ist das bloße Gehen auf der Bühne die schwer zu bewältigende Basis schauspielerischen Agierens. Sind Auf-tritte und Ab-gänge doch primär eine Sache von Füßen und Beinen, und aus dem Tritt zu kommen oder gar zu stolpern, heißt fast schon aus der Rolle zu fallen. Auf andere Weise riskant ist die Praxis des Gehens in walking performances, die kaum mehr etwas mit Rollenspiel und dramatischer Handlung zu tun haben. Hier hat sich das Gehen längst verselbständigt als erschöpfender physischer Akt, wie in den Arbeiten des britischen Performance-Duos Lone Twin (Gregg Whelan und Gary Winters). Wie weit noch werden sie gehen (laufen, hüpfen oder schlurfen) müssen, konnte man sich in der mittlerweile schon legendären Aufführung Ghost Dance fragen, als auch nach vielen Stunden noch kein Ende oder Ziel in Sicht kam. Durch endlose Wiederholung hatte der Bewegungsablauf für die Ausführenden wie auch für die Betrachter etwas von einer Droge. Das Weitergehen konnte damit buchstäblich als Überschreitung (Transzendenz) erscheinen, als Manifestation rasenden Stillstands auf der Bühne oder in der Landschaft, als spirituelle Form von Erfahrung im intensiven Bezug des Körpers zum Raum, jenseits aller planmäßigen, nützlichen Fortbewegung. Um zu verstehen, was die radikalen Geher derzeit umtreibt und auch von den traditionellen Theatern eher fernhält, muss man aber wohl noch weiter zurückdenken als an die Märsche proletarischer Bühnenhelden. Schon in den Anfängen der Moderne, im Schrittrhythmus von Schuberts Liederzyklus Die Winterreise, fand die Erfahrung des ziellos wandernden, jeder Heimat verlustig gegangenen Bürgers ihren Niederschlag: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.“ Oder Hölderlin, der seinen gesunden Menschenverstand auf dem Fußweg durch Südfrankreich verloren haben soll: „Geht auf Wahrem Dein Fuß nicht wie auf Teppichen?“ Und Büchner, der seinen Lenz wie verrückt und doch gleichgültig durchs Gebirg gehen ließ – „nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte.“ Dieser aus einer nüchtern gewordenen Romantik ins 20. Jahrhundert stolpernde Marsch des unglücklichen, trotzig blöden und widerspenstigen Subjekts hat schließlich die Grundform großstädtischer Fortbewegung hervorgebracht, das Flanieren. Marcel Proust, Franz Hessel und Walter Benjamin, Archäologen der frühen Massenkultur, haben im Flaneur ein seltsames Wesen aufgespürt, das sich etwa mit einer Schildkröte an der Leine möglichst langsam zu bewegen suchte und dabei in den glasüberdachten Passagen bequeme Asyle fand – aber nicht mehr als Kunde und Käufer, eher in der

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Transformation des Bürgers zur Ware unter anderen. Etwa gleichzeitig mit dem Fließband der Fabriken wurden, um bei den ersten Weltausstellungen den Besucherstrom zu regulieren, die rollenden Bürgersteige erfunden, die noch heute im Pariser Untergrund zu finden sind, in den endlosen Gängen von Messen und Flughäfen oder, stufenlos regelbar, als Laufband bei der Fitness-Produktion. Das Flanieren war aber immer schon zweideutig als Grenzgang und derive, Abdrift: Mimikry des Fußgängers an den Lauf der Dinge und zugleich eine Form der Subversion, demonstrativ langsames Gehen als letzter Widerstand gegen eine beschleunigte Warenzirkulation. Wenn alles fährt, rollt oder fliegt, kann der eigene, womöglich kollektiv verlangsamte Schritt plötzlich wieder zu einem Akt der Ausschweifung werden. Ein Jahrhundert nach dem Flanieren kamen die „SloMoDemos“ auf, die durch ein Gehen in Slow Motion das Getriebe des urbanen Lebens störten. Wer sich in Zeitlupe durch die Stadt bewegt, hält den Verkehr auf, stört die Normalgeschwindigkeit, das Prinzip der durchschnittlichen Effektivität. So kann die theatrale Aktivität des Gehens zugleich als Feldforschung im öffentlichen Raum betrieben werden, wo einschneidende Veränderungen zu registrieren und durch bestimmte Praktiken sichtbar zu machen sind. Auf kameraüberwachten Straßen und Plätzen, von denen alle Nicht-Konsumenten vertrieben werden, finden Theatermacher heute weniger denn je das pulsierende Leben oder gar die revolutionsbereiten Massen. Bleibt nur die Störung des Normalzustands, die Herstellung neuer Formen von Aufmerksamkeit. Indem unzweckmäßige Handlungen sofort die Überwachungskameras auf sich ziehen, können sie das Verschwinden öffentlicher Räume und den Zwangscharakter des Konsumverhaltens bewusst machen. Seit Jahren ist das die Strategie der Surveillance Camera Players, die in Metrostationen und Fußgängerzonen den Passanten ihre eigene Rolle als Akteure eines großen Sicherheitsszenarios vorspielen. Ähnlich hat seit mehreren Jahren das aus der Gruppe Brith Goph in Wales hervorgegangene Performancekollektiv von Mike Pearson und Mike Brookes daran gearbeitet, die Privatisierung des öffentlichen Raumes sichtbar zu machen und zugleich das Theater als Ort städtischen Lebens zu reaktivieren. Bei den Aktionen Polis und Carrying Lyn wurden einige Besucher zu kollektiven Erkundungsgängen in die Stadt Cardiff geschickt, während die anderen das Dokumentationsmaterial im Theater zu sehen bekamen, bis die Performer sich immer mehr näherten und schließlich im Theater eintrafen. Dabei entstand ein prozessionaler Raum, wie ihn das Theater schon in der Antike oder im Mittelalter

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kannte. Im Unterschied aber zur traditionell religiösen Sinngebung der Prozession verweist das performative Gehen nicht mehr auf einen erfüllten Kosmos, vielmehr auf die Diskontinuität und radikale Fragmentarität der eigenen Wahrnehmung. An die Stelle eines zweckgerichteten Gehens, das bloß dazu dient, mal wieder etwas Besonderes zu sehen, an einem bestimmten Ort ein Spektakel mitzuerleben, tritt ein Gehen, das selbst jederzeit zum Ereignis werden kann. Ob alleine oder in Gruppen: Gehen setzt den Körper in Beziehung zum städtischen Raum und zur Landschaft, indem er sich selbst spürbar verausgabt. Durch Erschöpfung entsteht mitunter eine Leere, die neue Wahrnehmungen möglich macht, indem sie die gewohnten Kontroll- und Selektionsleistungen außer Kraft setzt. Auch damit hat es zu tun, dass walking performances allerlei Grenzen verunsichern und unterlaufen, Grenzen zwischen privaten und öffentlichen Erfahrungsräumen ebenso wie zwischen künstlerisch geplantem Ereignis und alltäglichem Verhalten. Gehen als Bewegungsart, die sich selbst vorführt und als solche bereits performativen Charakter hat, zählt mittlerweile zum Repertoire postdramatischer Theaterformen. Diese stellen ja nicht nur das Prinzip von Rollenspiel und Einfühlung in Frage, sondern ebenso den institutionellen Rahmen der Kunst, sei es im Rekurs auf ihre Umgebung, durch den Auszug aus dem Theater in den städtischen Raum oder durch den Versuch, das Theater insgesamt als Spielort zu gebrauchen und auch die Zuschauer in Bewegung zu setzen, auf einen Parcours zu schicken. Als temporäre Aneignung öffentlicher Räume ist Gehen zum Modell für eine veränderte Auffassung von Theater geworden, wie nicht zuletzt die Projekte von Stefan Kaegi mit der Gruppe Rimini Protokoll (Helgard Haug und Daniel Wetzel) zeigen, etwa Call Cutta, wo man über Mobiltelefon ein indisches Call-Zentrum anrufen und sich von dort aus ferngesteuert durch deutsche Städte bewegen konnte. Bereits die 2000 entstandene Audiotour System Kirchner (Hygiene Heute) schickte ihre Teilnehmer einzeln, mit einem Walkman ausgestattet, auf einen Rundgang, etwa durch die Gießener Innenstadt, das Frankfurter Ostend oder die Gegend um das Münchener Gasteig-Zentrum. Die vom Band kommende Stimme ließ sie zu Akteuren in einer imaginären Verfolgungsjagd werden, die sich aus kleinsten Details der vorgefundenen Umgebung zusammensetzte und so den Blick für ansonsten übersehene Wege, Perspektiven und Räume öffnete. Gehen steigert die Einbildungskraft. Ein Theater auf Straßen oder Hinterhöfen, in leeren Parkdecks oder Einkaufzentren, das nicht nur die real existierende städtische Umgebung als Kulisse benutzt, sondern

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vor allem die Fantasie des Gehenden aktiviert, die Inszenierung im Kopf in Gang gesetzt hat. Weitere Beispiele wären zu nennen – die Theateraktionen von Josef Szeiler (Mitbegründer der Gruppe Angelus Novus), Christoph Schlingensiefs spektakuläres, als Fußwanderung durch Deutschland zelebriertes Church of Fear-Projekt, und aktuelle Projekte wie die „Walks in Progress“ beim steirischen herbst, Spaziergänge mit offenem Ausgang: Spurensuchen zwischen alltäglichen, kontrollierten, verbotenen und imaginären Räumen. Solche Rundgänge durch Stadtlandschaften machen nicht zuletzt eine Überlagerung von historischen Schichten und konträren Nutzungsweisen sichtbar, die in der offiziellen Selbstdarstellung und Vermarktung öffentlicher Räume gar nicht vorkommt. Immer wieder zeigt sich, dass ein Herausgehen aus den angestammten Institutionen des Theaters oder der Kunst nicht nur ein anderes Publikum (und auf andere Weise) erreicht, sondern dass diese Wanderungen, Rundgänge, Touren und Parcours auch dazu beitragen können, Schauplätze des „öffentlichen“ Lebens neu zu entdecken und wenigstens vorübergehend symbolisch zu besetzen. An die Stelle des zweckgerichteten Gehens treten neue Beziehungen des Körpers zur Stadt und zur Landschaft, durch Grenzgänge zwischen privaten und öffentlichen Erfahrungsräumen wie zwischen Kunst und alltäglichem Verhalten. Gehen eröffnet Potenziale theatraler Bewegung, die das Zuschauen über sich selbst hinausführen, zum aktiven Prozess machen, ohne dass dazu noch Erklärungen oder Aufforderungen nötig wären: „Eine Kunst ohne Anstrengung, der Schritt pflanzt den Weg“ – wie Heiner Müller einmal das Theater Robert Wilsons beschrieben hat.22

On the road again – im Lkw mit „Cargo Sofia“ Auch das Fahren kann zur Erfahrung von Zuschauern werden, wie Stefan Kaegi bei einer seiner vielen Arbeiten an internationalen GoetheInstituten gezeigt hat. Postdramatisches Theater, nach Brecht: „Hier ist der Apparat, steig ein.“ In Cargo Sofia. Eine bulgarische LastKraftWagen-Fahrt (2006) besteigen 47 Besucher einen umgebauten Lastwagen, der durch eine Glaswand auf der einen Seite durchsichtig ist, den Blick auf die jeweils befahrene Stadt freigibt. Diese schon an sich faszinierende Form des Zuschauens in Bewegung 22 Müller, Heiner: Taube und Samurai, in: Heiner Müller Material. Texte und Kommentare, hg. von Frank Hörnigk, Berlin 1988, S. 50.

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wird noch intensiviert, indem die beiden den Lkw steuernden Fernfahrer aus ihrem Berufsalltag erzählen: „Sie haben alle Länder Europas gesehen, aber kennen die Städte nur von ihren Ausfahrtsschildern. Bulgaren haben den Osten mit Jeans, den Iran mit Technik und den Westen mit Yoghurt versorgt. Seit den neunziger Jahren werden sie von Westspeditionen zu Ostlöhnen eingestellt. Sie arbeiten und wohnen auf zehn mobilen Quadratmetern vor ihren 40 Tonnen Fracht. Im Hafen laden sie um, und an der Tankstelle wärmen sie ihr Essen auf.“23 Gelegentlich wird vor der Glaswand eine Projektionsfläche für Filme herabgelassen. So ist gleich zu Beginn die Fahrt auf einer Straße in Sofia zu sehen, während der Lkw beispielsweise durch das Frankfurter Ostend rollt. Indem die Projektion dem Tempo der realen Fahrt angeglichen wird, beim Halten an der Ampel ebenfalls still steht, kommt es nach kurzer Zeit zu Realitätsverlusten. Wenn die Leinwand wieder hochgezogen wird und die wirkliche Stadt zu sehen ist, gibt es weitere Verfremdungseffekte. Die Stationen der etwa zweistündigen Fahrt sind ausgesuchte Orte des Lkw-Betriebs: Verladerampen, ein Containerhafen, Lagerhallen, eine Recycling-Fabrik, eine Raststätte. Draußen vor dem Wagen stehen dann häufig Fachkräfte, die über ihre Tätigkeit erzählen, Maschinen und ihren Arbeitsplatz als Elemente dieses Realitätstheaters vorführen. So erfahren die Zuschauer als Passagiere auch etwas über den Arbeitsalltag unterbezahlter Fernfahrer und über den Milliardengewinn der Speditionsfirma Willi Betz. Oder mitten auf einem Autobahnkreisel steht eine Sängerin und singt hörbar für die Mitfahrenden ein bulgarisches Lied. Spätestens in der Begegnung mit anderen, nicht informierten und vom Anblick des fahrenden Zuschauerraumes verblüfften Fahrern oder Fußgängern erweist sich dieser Lkw als eine komplexe Versuchsanordnung, die nicht nur die Zuschauer mobilisieren, sondern auch das gewohnte Verhältnis von Theater und Wirklichkeit nachhaltig verändern kann. Indem Fahren, Arbeiten und Wahrnehmen sich einander annähern, werden nicht nur Einblicke in die tägliche Ausbeutung auf europäischen Straßen gegeben, sondern zugleich Grundfragen der Theaterwahrnehmung aufgeworfen. Der in der Geschichte des bürgerlichen Theaters auf den Innenraum fixierte Blick des Zuschauers begegnet plötzlich sich selbst. Auch bei den übrigen hier (stellvertretend für viele andere) betrachteten Theaterprojekten werden die Zuschauer mit neuen Schauanordnungen und mit ihrer eigenen Tätigkeit zwischen Voyeurismus, 23 Kaegi, Stefan: Cargo Sofia, Programmzettel zur Aufführung am Künstlerhaus Mousonturm, Frankfurt am Main, 2006.

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Teilnahme und Zeugenschaft auf neue Weise konfrontiert. Randgänge, Entgrenzungen des Theaterraumes ebenso wie die derzeit wieder verstärkte Suche nach theatralen Räumen außerhalb des institutionalisierten Theaters reflektieren bereits ein weitgehendes Verschwinden des öffentlichen Raumes in den Medien. Demgegenüber erscheint das Zuschauen wieder als eine szenische Praxis, sobald es aus seiner institutionellen Fixierung gelöst und in Bewegung versetzt wird.

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AUTORINNEN

UND

AUTOREN

Jan Deck, Studium der Politikwissenschaften, Germanistik und Geschichte in Mainz, Bonn und Frankfurt am Main; seit 2003 freier Regisseur, Dramaturg, Kurator und Produktionsleiter in Frankfurt am Main; 2006 mit Katja Kämmerer Gründungsmitglied von Profi Kollektion, einem Ensemble mit Projekten an der Schnittstelle zwischen Theater, Performance und anderen Künsten. Seit 2006 Geschäftsführer des Landesverbandes Professionelles Freies Theater Hessen (laPROF); Mitglied im Vorstand des Bundesverbandes Freier Theater und der Fachjury zur Förderung freier Theaterprojekte der Stadt Stuttgart. Seit 2005 mit Angelika Sieburg Kurator von Symposien für laPROF. Seit 2008 mit Natalie Driemeyer Aufbau und Koordination des Forum Diskurs Dramaturgie in der Dramaturgischen Gesellschaft. Carl Hegemann, Studium der Philosophie, Gesellschafts- und Literaturwissenschaften im Frankfurt am Main, dort Promotion 1979 mit einer Arbeit über Deutschen Idealismus und Amerikanische Soziologie; Chefdramaturg an den Stadttheatern in Freiburg im Breisgau [1989-92] und Bochum [1995-96], am Berliner Ensemble [1996-98]. Zuletzt Chefdramaturg an der Volksbühne Berlin (1998-2006), dabei regelmäßige Zusammenarbeit u.a. mit Rene Pollesch und Christoph Schlingensief. Außerdem Lehrtätigkeit an Universitäten und Hochschulen in Frankfurt am Main und Berlin. Unter anderem Herausgeber von „Kapitalismus und Depression“. Seine gesammelten Aufsätze sind 2005 unter dem Titel „Plädoyer für die unglückliche Liebe“ erschienen. Seit 2006 Professor für Dramaturgie an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig. Stefan Kaegi, Studium der bildenden Kunst in Zürich und der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen. Gemeinsam mit Bernd Ernst 1998 Gründung des Labels Hygiene Heute, das sich 2003 auflöste. Gemeinsam mit Helgard Haug und Daniel Wetzel Inszenierung unter dem Label Rimini Protokoll auf Bühnen und anderswo, welches unter anderem den Mühlheimer Dramatikerpreis und den 107

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Faust Theaterpreis bekam; Kaegis Mnemopark erhielt 2005 den Preis des Festivals „Politik im freien Theater“. Weitere Projekte unter Beteiligung von Kaegi u.a.: Call Kutta (2005), Cargo Sofia (seit 2006), Chácara Paradiso (2007), Uraufführung: Besuch der alten Dame (2007), Call Kutta in a box (2008). Hans-Thies Lehmann, Studium der Germanistik und Philosophie, wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin, dort Promotion. Lehraufträge für Ästhetik an der Hochschule der Künste Berlin; Gastprofessuren für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Amsterdam. Hochschulassistent am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Universität Gießen, Mitarbeit am Aufbau dieses praxisbezogenen Studiengangs zusammen mit Prof. Andrzej Wirth. Nach der Habilitation 1988 Universitätsprofessor für Theaterwissenschaft an der J. W. Goethe-Universität Frankfurt am Main, dort führend am Aufbau des Hauptfach-Studiengangs Theater-, Film- und Medienwissenschaft beteiligt. 2002 gründete er hier den Aufbaustudiengang „Dramaturgie“, Gastprofessor für Theaterwissenschaft an den Universitäten Paris III (Sorbonne Nouvelle), Paris VIII (St. Denis), Paris X (Nanterre), an der Universität Kaunas/Litauen, der Jagellonen-Universität Krakau (Polen) und der University of Virginia (USA) sowie Stipendiat der Japan Society for the Promotion of Science. Gründung und Kodirektion der „Frankfurter Internationalen Sommerakademie“, Sprecher des von der DFG geförderten Graduiertenkollegs „Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung“ in Frankfurt am Main sowie die Mitgliedschaft in verschiedenen TheaterJurys. Unter verschiedenen Publikationen gilt „Postdramatisches Theater“ als internationales Standardwerk zu zeitgenössischen Theaterformen. Florian Malzacher, Studium der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen; Ab 2000 vor allem als Theaterkritiker und Kulturjournalist für Tageszeitungen (u.a. Frankfurter Rundschau, taz) und Fachmagazine (Theaterheute, Balletttanz etc.) tätig; Leiter und Ko-Kurator der Internationalen Sommerakademie am Künstlerhaus Mousonturm, 2002 & 2004; Div. Dramaturgien und kuratorische Arbeiten; Herausgabe des Buches „Not Even a Game Anymore“ über die britische Theatergruppe Forced Entertainment und gemeinsam mit Miriam Dreysse „Experten des Alltags“, einem Buch über Rimini Protokoll. Lehraufträge u.a. an den Universitäten Wien und Frankfurt am Main.

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Seit Winter 2005 Leitender Dramaturg/Kurator des Festivals steirischer herbst in Graz. Patrick Primavesi, Studium der Theaterwissenschaft und der Germanistik in Berlin, Gießen und Frankfurt am Main. Dissertation: „Kommentar, Übersetzung, Theater in Walter Benjamins frühen Schriften“, 1998. Habilitationsschrift zu Fest, Theater und Repräsentationskritik um 1800; Postdoktorand/Koordinator am Graduiertenkolleg „Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung“ der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main (1998-2000); wissenschaftlicher Assistent am Frankfurter Institut für Theater-, Filmund Medienwissenschaft (2000-2008); dort gemeinsam mit Hans-Thies Lehmann Aufbau und Leitung des Masterstudiengangs Dramaturgie. Derzeit Vertretung einer Professur für Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig. Weitere Arbeits- und Publikationsschwerpunkte: antike Tragödie, Bertolt Brecht, Heiner Müller, Theorie und Praxis des Gegenwartstheaters, Theater und Film, Rhythmus und Stimme, Theater und öffentlicher Raum. Max Schumacher, Studium Dramaturgie Humboldt Universität Berlin und Performance-Wissenschaften an der New York University; 2001 Stipendium Akademie Schloss Solitude Stuttgart; 1999 Gründungsdirektor von post theater (new york/tokio/berlin), einer Theaterkompanie, die nicht über ein festes Ensemble verfügt, sondern auf die Zusammenarbeit mit Künstlern und Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen gegründet ist; Posttheater ist nach eigenen Angaben „das erste dezentrale Theater der Welt“ und versucht Grenzen zwischen klassischem Theater, moderner Videokunst und zwischen den Kulturen zu verwischen; 2003-2006 Kurator für darstellende Kunst des Festivals „Rohkunstbau“ in Brandenburg; 2007 Residenzen in Zagreb, Kunstraum Syltquelle und Taipei Artist Village . Angelika Sieburg, Bereits als Kind erste Schauspielerfahrungen, u.a. bei Filmen von Franz Antl und G.W. Pabst; Nach Schauspielschule und Buchhändlerlehre Ensemblemitglied am Theater am Turm in Frankfurt am Main; Nach der Schließung des TAT Ende der siebziger Jahre Gründungsmitglied der „Schlicksupp Theatertrupp“, die zu den Gründungsvätern der freien Theaterszene in Deutschland gehörten; 1989 Gründungsmitglied des „Wu Wei Theaters“ in Frankfurt am Main, das zunächst mit epischem Theater, später auch mit postdramatischem Theater experimentiert; Tourneen & Festivals in den

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USA, China, Türkei, Frankreich, Belgien, Italien, Österreich und der Schweiz; Seit Jahrzehnten engagiert sie sich für die freie Theaterszene, seit 2006 ist sie Vorsitzende des Landesverbandes Professionelles Freies Theater Hessen (laPROF); seit 2005 mit Jan Deck Kuratorin von Symposien für laPROF. Christel Weiler, 1982-1987 wissenschaftliche Assistentin von Prof. Dr. Erika Fischer-Lichte am Institut für Deutsche Sprache und Literatur (Schwerpunkt Theaterwissenschaft) der J. W. Goethe Universität in Frankfurt am Main; 1988-1994 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen unter der Leitung von Prof. Dr. Andrzej Wirth; 1994-1996 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Johannes Gutenberg Universität-Mainz; Seit 1996 Akademische Rätin am Institut für Theaterwissenschaft, Mitarbeit im Sonderforschungsbereich 447 „Kulturen des Performativen“; seit 2006 Geschäftsführung IZ „Kunstwissenschaften und Ästhetik“. Diverse dramaturgische Arbeiten und Gastdozenturen; 2004-2006 Mitglied in der Jury des Hauptstadtkulturfonds. Arbeits- und Publikationsschwerpunkte: Theorie und Ästhetik des Gegenwartstheaters, Untersuchungen zur Arbeit des Schauspielers (insbesondere Methoden des Trainings), Verfahren der Aufführungsanalyse.

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ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1 und 2: She She Pop: Warum tanzt Ihr nicht? (QUELLE: SHE SHE POP) 13 Abbildung 3: She She Pop: Warum tanzt Ihr nicht? (QUELLE: SHE SHE POP) 14 Abbildung 4: Rimini Protokoll: Cargo Sofia (QUELLE: RIMINI PROTOKOLL/JAN DECK) 64 Abbildung 5: Rimini Protokoll: Cargo Sofia (QUELLE: MLADI LEVI FESTIVAL) 66 Abbildung 6: Hygiene Heute: Deutschland 2 (QUELLE: HYGIENE HEUTE/THILO BEUL) 68 Abbildung 7: Rimini Protokoll: Call Cutta (QUELLE: RIMINI PROTOKOLL) 70 Abbildung 8: Rimini Protokoll: Call Cutta (QUELLE: RIMINI PROTOKOLL) 71

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Theater Kati Röttger, Alexander Jackob (Hg.) Theater und Bild Inszenierungen des Sehens Dezember 2008, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-706-6

Franziska Weber Dimensionen des Denkens Der raumzeitliche Kollaps des Gegenwärtigen. Geistesund naturwissenschaftliche Entwürfe – verifiziert an Martin Kusejs »Don Giovanni«

Julia Pfahl Zwischen den Kulturen – zwischen den Künsten Medial-hybride Theaterinszenierungen in Québec Juni 2008, 390 Seiten, kart., 41,80 €, ISBN: 978-3-89942-909-1

November 2008, ca. 210 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-8376-1010-9

Bettine Menke Das Trauerspiel-Buch Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen November 2008, ca. 120 Seiten, kart., ca. 14,80 €, ISBN: 978-3-89942-634-2

Natascha Siouzouli Wie Absenz zur Präsenz entsteht Botho Strauß inszeniert von Luc Bondy Oktober 2008, 216 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-891-9

Jan Deck, Angelika Sieburg (Hg.) Paradoxien des Zuschauens Die Rolle des Publikums im zeitgenössischen Theater September 2008, 116 Seiten, kart., 15,80 €, ISBN: 978-3-89942-853-7

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften

Birgit Althans, Kathrin Audem, Beate Binder, Moritz Ege, Alexa Färber (Hg.)

Kreativität. Eine Rückrufaktion Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2008 März 2008, 138 Seiten, kart., 8,50 € ISSN 9783-9331

ZFK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über Kultur und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.

Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen die Ausgaben Fremde Dinge (1/2007), Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft (2/2007) und Kreativität. Eine Rückrufaktion (1/2008) vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected] www.transcript-verlag.de