Aspekte des Unendlichen bei Kant und Wittgenstein 9783534403998, 9783534404018, 9783534404001

Wie ist Erkenntnis des Unendlichen möglich und worin besteht sie? Wie lässt sich der Begriff des Unendlichen sinnvoll ve

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Aspekte des Unendlichen bei Kant und Wittgenstein
 9783534403998, 9783534404018, 9783534404001

Table of contents :
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Impressum
Inhaltsverzeichnis
Danksagung
Sigel
0 Endlichkeit und Unendlichkeit
1 Unendlichkeit und Erfahrung – Kant
1.2 Die Unmöglichkeit der Vorstellung einer unendlichen Reihe
1.2.1 Der transzendentale Begriff des Unendlichen...
1.2.2 ... eine epistemisch-ontologische Verwechslung?
1.3 Konsequenzen für die Erkenntnis des Unendlichen.
2 Zwischenspiel: Die Mengenlehregegen ihren Schöpfer verteidigt
3 Unendlichkeit und Mathematik –Wittgenstein
3.1 Präliminarien: Der Zahlbegriff im Tractatus
3.1.1 Formaler Begriff und Operation
3.1.2 Zahlbegriff und Allgemeinheit
3.2 Unendlichkeit: Möglichkeit und Allgemeinheit
3.2.1 Mathematik und Spiel
3.2.2 Unendliche Reihe und Grammatik des usw.
3.2.3 Quantifikation und Allgemeinheit
3.3 Diagonalisierung und Überabzählbarkeit
4 Unendlichkeit und Endlichkeit
Literatur
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Jann Paul Engler

Aspekte des Unendlichen bei Kant und Wittgenstein Frank Kell

Demokratie und Sozialismus und Freiheit Die DDR-Bürgerrechtsbewegung und die Revolution von 1989/90

Jann Paul Engler

Aspekte des Unendlichen bei Kant und Wittgenstein

Diese Arbeit wurde unter dem Titel „Aspekte des Unendlichen bei Kant und Wittgenstein“ Fakultät für Philosophie, Religionswissenschaft und Wissenschaftstheorie der Ludwig-Maximilians-Universität München als Masterarbeit eingereicht und mit der Höchstnote bewertet. Auf Empfehlung von Herrn Prof. Dr. Axel Hutter (Ludwig-Maximilians-Universität München) und Herrn Prof. Dr. Andreas Schmidt (Friedrich-Schiller-Universität Jena) wurde die Arbeit in das Programm von wbg Young Academic aufgenommen.

„Dieser [zweite] Teil ist nicht nur gedanklich brillant, sondern zugleich auch besonders innovativ, weil er die systematische Verwandtschaft zwischen Kant und Wittgenstein auf einem Gebiet zeigt (Mathematik), das offenkundig für beide Denker zentral gewesen ist.“ Prof. Dr. Axel Hutter

„Herrn Engler ist eine ausgezeichnete Arbeit gelungen. Die Argumentation ist innovativ, gut durchdacht und zeugt von exzellenter Literaturkenntnis. Besonders die ausgesprochen klare und konzise Darstellung der Philosophie der Mathematik Wittgensteins, die die Kontinuität von Früh- und Spätphilosophie auf bemerkenswerte Weise hervorhebt, habe ich mit allergrößtem Interesse gelesen.“ Prof. Dr. Andreas Schmidt

Jann Paul Engler

Aspekte des Unendlichen bei Kant und Wittgenstein

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar

wbg Young Academic ist ein Imprint der wbg © 2022 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Satz und eBook: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40399-8 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-40401-8 eBook (epub): 978-3-534-40400-1

Inhaltsverzeichnis Danksagung

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Sigel

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0 Endlichkeit und Unendlichkeit

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Unendlichkeit und Erfahrung – Kant 1.1 Präliminarien: Der Begriff der Welt . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Verstand und Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Die Welt in Raum und Zeit . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Unmöglichkeit der Vorstellung einer unendlichen Reihe 1.2.1 Der transzendentale Begriff des Unendlichen... . . . 1.2.2 ... eine epistemisch-ontologische Verwechslung? . . 1.3 Konsequenzen für die Erkenntnis des Unendlichen. . . . .

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Zwischenspiel: Die Mengenlehre gegen ihren Schöpfer verteidigt

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Unendlichkeit und Mathematik – Wittgenstein 3.1 Präliminarien: Der Zahlbegriff im Tractatus . . . . . 3.1.1 Formaler Begriff und Operation . . . . . . 3.1.2 Zahlbegriff und Allgemeinheit . . . . . . . 3.2 Unendlichkeit: Möglichkeit und Allgemeinheit . . . 3.2.1 Mathematik und Spiel . . . . . . . . . . . 3.2.2 Unendliche Reihe und Grammatik des usw. 3.2.3 Quantifikation und Allgemeinheit . . . . . 3.3 Diagonalisierung und Überabzählbarkeit . . . . . .

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67 . 68 . 68 . 75 . 83 . 83 . 87 . 91 . 100

4 Unendlichkeit und Endlichkeit

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Literatur

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Danksagung In erster Linie möchte ich mich bei Prof. Axel Hutter bedanken, von dem ich während meiner Zeit an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München lernen durfte, und dessen Hinweise entscheidend zum Aufbau und zur Ausarbeitung dieser Arbeit beigetragen haben. Ihm habe ich es ebenfalls zu verdanken, dass die Arbeit für die Reihe young academic der wissenschaftlichen Buchgesellschaft vorgeschlagen wurde. Ein weiterer Dank geht and Prof. Andreas Schmidt, in dessen Forschungskolloquium ich einen Teil der Arbeit vorstellen durfte, und der die Veröffentlichung dieser Arbeit ebenfalls mit einem Gutachten unterstützt hat. Viele der Ideen zu Wittgensteins Philosophie der Mathematik haben ihren Ursprung in einem Seminar zum Zahlbegriff bei Kant, Frege, Dedekind und Wittgenstein, welches im Wintersemester 2017 von Dr. Christian Martin and der LMU gehalten wurde, und an dem ich das große Glück hatte, teilnehmen zu können. Weitere wertvolle Hinweise verdanke ich meinen Kommilitonen aus dem Master Theoretische Philosophie, insbesondere Thomas Enthofer, Konstanty Kuzma, Quirin Oberrauch, Max Emmanuel Pointner und den Kolloquiumsteilnehmern aus Jena, insbesondere Moritz Hellmich. Ein weiterer Dank geht an Joschua Schößler für die sorgsame Korrektur von Grammatik und Zeichensetzung sowie für seine stilistischen Anmerkungen.

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Sigel BGM

Ludwig Wittgenstein (2013). Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik. Hrsg. von G.E.M Anscombe, Rush Rhees und G.H. von Wright. Berlin: Suhrkamp Verlag.

BuG

Gottlob Frege (2008a). „Begriff und Gegenstand“. In: Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien. Hrsg. von Günther Patzig. Vandenhoeck und Ruprecht, S. 47–60.

FuB

Gottlob Frege (2008b). „Funktion und Begriff“. In: Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien. Hrsg. von Günther Patzig. Vandenhoeck und Ruprecht, S. 2–22.

GdA

Gottlob Frege (2011). Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch mathematische Untersuchung zum Begriff der Zahl. Stuttgart: Philipp Reclam jun.

GG

Gottlob Frege (2009). Grundgesetze der Arithmetik Begriffsschriftlich abgeleitet Band II. In moderne Formelnotation transkribiert. Hrsg. von Thomas Müller, Bernhard Schröder und Rainer Stuhlmann-Laeisz. Paderborn: mentis.

KpV

Immanuel Kant (2012). Kritik der praktischen Vernunft. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

KrV

Immanuel Kant (1998). Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. von Jens Timmermann. Hamburg: Felix Meiner Verlag.

KU

Immanuel Kant (2009). Kritik der Urteilskraft. Hrsg. von Heiner F. Klemme. Hamburg: Felix Meiner Verlag.

LFM

Ludwig Wittgenstein (1976). Lectures on the Foundations of Mathematics. Cambridge, 1939. Hrsg. von Cora Diamond. New York: Cornell University Press.

Logik

Immanuel Kant (2014). „Logik“. In: Schriften zur Metaphysik und Logik 2. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Berlin: Suhrkamp Verlag, S. 417–582.

9

Sigel PB

Ludwig Wittgenstein (1984). Philosophische Bemerkungen. Hrsg. von Rush Rhees. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

PG

Ludwig Wittgenstein (2015). Philosophische Grammatik. Hrsg. von Rush Rhees. Berlin: Suhrkamp Verlag.

PU

Ludwig Wittgenstein (2009). Philosophical Investigations. The German text, with an English translation by G.E.M. Anscombe, P.M.S. Hacker and Joachim Schulte. Hrsg. von P.M.S. Hacker und Joachim Schulte. 4. Auflage. WileyBlackwell.

TLP

Ludwig Wittgenstein (2006). Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

WWK

Ludwig Wittgenstein (1993). Wittgenstein und der Wiener Kreis. Hrsg. von B.F. McGuinness. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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0 Endlichkeit und Unendlichkeit Der Mensch ist – als erkennender betrachtet – ein endliches Vernunftwesen. Die Rede von der Endlichkeit in dieser Bestimmung soll im Folgenden näher erläutert werden, indem ausgehend von ihr nach der Möglichkeit der Erkenntnis des Unendlichen gefragt wird. Unendlichkeit wurde in der Philosophiegeschichte unter zwei dominierenden aber sich entgegenstehenden Paradigmen diskutiert. Adrian Moore bezeichnet diese als metaphysisches und mathematisches Unendliches. Dem metaphysischen Unendlichen (oder der metaphysischen Unendlichkeit) werden gemeinhin die Attribute der Abgeschlossenheit und Vollständigkeit zugeschrieben, dem mathematischen Unendlichen (oder der mathematischen Unendlichkeit) die diesen entgegengesetzten Attribute der Unabschließbarkeit, der unaufhörlichen Vermehrbarkeit und des Regesses.1 Es war eine Leistung Kants, diese beiden Paradigmen in der Bestimmung der Endlichkeit des Menschen miteinander zu verbinden, und die so scheinbar entgegengesetzten Auffassungen als gleichberechtigte Aspekte desselben Unendlichkeitsbegriffes auszuweisen. Nach Kant ist der Mensch als metaphysisch endlich bestimmt, was sich darin äußert, dass alle unsere Vorstellungen unter dem Aspekt der mathematischen Endlichkeit gegeben sind. Die metaphysische Endlichkeit des Menschen ist der Ausgangspunkt und Rahmen seines kritischen Projektes. So steht im ersten Satz der Einleitung der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (KrV ): Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen, und so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt?2

Unser Erkenntnisvermögen wird „zur Ausübung erweckt“, und zwar durch einen ihm externen Impuls, durch etwas außerhalb desselben, durch die Gegenstände, die diesem 1 Moore 1988, 205f. 2 KrV, B1.

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0 Endlichkeit und Unendlichkeit in der Sinnlichkeit gegeben sind. Darin sind wir metaphysisch endlich. Wir benötigen Material mit dem unser Verstand arbeiten kann, auf das er sich beziehen kann, und dieses Material liegt nicht im Verstand selbst, wie Kant zu Beginn der Transzendentalen Ästhetik betont. Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, so ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselbe unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung. Diese findet aber nur statt, so fern uns der Gegenstand gegeben wird; dieses aber ist wiederum, uns Menschen wenigstens, nur dadurch möglich, daß er das Gemüt auf gewisse Weise affiziere.3

Erfahrung ist also nur möglich, indem wir affiziert werden und uns Gegenstände als Anschauungen gegeben werden. Diese Angewiesenheit des Denkens auf die in der Erfahrung gegebenen Gegenstände zeichnet die metaphysische Endlichkeit des Menschen aus.4 Wie im Verlauf der KrV nun gezeigt wird, ist dasjenige, was uns in der Erfahrung gegeben ist, was Gegenstand unserer Verstandeserkenntnis ist, selbst wieder notwendig bedingt. Es wird in Zusammenhang und Abhängigkeit von Anderem (Bedingtem) vorgestellt. Der Verstand hat „nur mit Gegenständen einer möglichen Erfahrung zu tun [...], deren Erkenntnis und Synthesis jederzeit bedingt ist.“5 Dass alle Verstandeserkenntnis bedingt ist, und zwar wiederum von anderen Verstandeserkenntnissen, baut einen Regress der Bedingungen auf. Dieser Regress der Bedingungen, auf den jede einzelne Verstandeserkenntnis verweist (und den sie voraussetzt), ist die mathematische Unendlichkeit. Sie wird in der Transzendentalen Dialektik in Bezug auf die Funktion der Vernunft in unserem Erkenntnisapparat behandelt, in dessen Zusammenhang die Frage nach dem Regress der Bedingungen gestellt wird. In Bezug auf jede einzelne Verstandeserkenntnis, die auf diesen Regress verweist, lässt sich die mathematische Endlichkeit des Menschen festmachen. Sie besteht darin, dass wir nicht unendlich lange leben, nur endlich viele Dinge erfassen können, dass wir unsere Begriffe nicht unendlich fein zergliedern können und – was insbesondere in Bezug auf die Mathematik relevant wird – dass wir nur eine begrenzte Menge an Zeichen zur Verfügung haben. Zu Allem, was wir so erfassen gibt es ein Mehr, das wir nicht erfassen. Hierin besteht also die Verbindung der beiden Unendlichkeitsaspekte: Die metaphysische Unendlichkeit, die Angewiesenheit unseres Verstandes auf etwas außerhalb desselben, gibt uns dieses Ex3 KrV, A19/B33. 4 Das

Gegenmodell hierzu, also das eines metaphysisch unendlichen Verstandes bezeichnet Kant als intellektuelle Anschauung bzw. denkenden Verstand. Vgl. KrV, B138 und B159. 5 KrV, A308/B365.

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terne unter dem Aspekt der mathematischen Unendlichkeit, die wiederum auf unsere mathematische Endlichkeit verweist.6 Nun ist mit der metaphysischen (und mathematischen) Endlichkeit zwar der Rahmen des kritischen Programms gegeben, das heißt aber nicht, dass sich unsere Erkenntnis zwangsläufig auf die Erfahrung beschränken muss. Dies erwähnt Kant sogleich im zweiten Absatz der Einleitung: Denn es könnte wohl sein, daß selbst unsere Erfahrungserkenntnis ein Zusammengetztes aus dem sei, was wir durch Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes Erkenntnisvermögen, (durch sinnliche Eindrücke bloß veranlaßt) aus sich selbst hergibt.7

Erkenntnis desjenigen, „was unser eigenes Erkenntnisvermögen [...] aus sich selbst hergibt“ ist Erkenntnis a priori. Sie ist in ihrer Geltung unabhängig von Erfahrung. Davon gibt es im Rahmen der theoretischen Vernunft zweierlei: metaphysische Erkenntnis, die die Bedingungen der Möglichkeiten der Erfahrung enthält, sowie mathematische Erkenntnis, deren Erkenntnisgehalt ebenfalls unabhängig von Erfahrung ist. Die Frage ist nun, ob wir trotz unserer mathematischen und metaphysischen Endlichkeit a priori nicht doch Erkenntnis von etwas mathematisch Unendlichem haben können.8 Einerseits insofern wir im Rahmen desjenigen, was die Verstandeserkenntnisse ermöglicht, den Regress der Bedingungen jeder einzelnen Verstandeserkenntnisse a priori erkennen und andererseits insofern es uns im Bereich der Mathematik, im Umgang mit den transfiniten Zahlen in der Mengenlehre, nicht doch möglich ist, unendliche Reihen konzeptionell zu erfassen.

Damit ist die Aufgabe dieser Arbeit vorgegeben: Ausgehend von dem Rahmen der metaphysischen und mathematischen Endlichkeit des Menschen stellt sich die Frage: Wie ist Erkenntnis des mathematisch Unendlichen erstens in Bezug auf die Erfahrung und zweitens im Rahmen der Mathematik möglich? Die Antwort auf diese Frage muss selbstverständlich auch innerhalb des Rahmens der menschlichen Endlichkeit gegeben werden, wobei hier vor allem die mathematische Endlichkeit relevant ist. Da es von nun an nur noch um die mathematische Unendlichkeit geht, wird im Folgenden schlicht von Unendlichkeit die Rede sein. 6 Für die Verknüpfung von metaphysischer und mathematischer Endlichkeit siehe: Moore 1988, S. 210. 7 KrV, B1. 8 Die

Antwort auf die Frage nach einer Erkenntnis des metaphysisch Unendlichen muss an ganz anderer Stelle gesucht werden. Der Leser sei hierfür auf das letzte Kapitel verwiesen.

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0 Endlichkeit und Unendlichkeit Es ergeben sich also zwei Fragen: Wie ist Erkenntnis des unendlichen Regresses der Bedingungen möglich, obwohl wir diesen nicht durchlaufen können; und wie ist das Rechnen mit unendlichen Zahlen möglich, obwohl wir nur endlich viele Zeichen zur Verfügung haben?

Diese Fragen sollen anhand Kants Antinomie der Vernunft und Wittgensteins Bemerkungen zum Unendlichen in der Mathematik entwickelt werden. Hierbei liefert Kant, anhand dessen die Anwendung des Unendlichkeitsbegriffs auf den Gegenstandsbereich unserer Erfahrung diskutiert wird, durch obige Charakterisierung unseres Erkenntnisvermögens und unserer Endlichkeit den systematischen Rahmen dieser Untersuchung. Innerhalb dieses Rahmens findet dann die Artikulation mathematischer Erkenntnis mit Wittgenstein statt. Sie stellt ebenfalls eine systematische Entwicklung einiger Fragen dar, die im Kapitel zu Kant aufkommen werden. Der Übergang zu Wittgenstein ist hierbei aus zwei Gründen motiviert: Zum Einen stand ihm die Entwicklung der modernen Mengenlehre und Logik zur Verfügung und damit dasjenige, was heutzutage paradigmatisch für den Umgang mit dem Unendlichen steht. Zum Anderen bietet er mit seiner an der Sprache und der Möglichkeit sinnvoller Aussagen orientierten Herangehensweise eine methodische Ergänzung und neue Perspektive auf die erkenntnistheoretische Untersuchung Kants. Die Frage „Ist das Unendliche erkennbar?“ lässt sich somit auch in der Formulierung „Können wir sinnvoll über das Unendliche sprechen?“ diskutieren. Das ist ein methodischer Gewinn aus der Kombination beider Ansätze. Da es sich aber in Bezug auf die Erfahrung und in Bezug auf die Mathematik um zwei verschiedene Aspekte des Unendlichen handelt, werden die Teile zu Kant und Wittgenstein nicht konsekutiv aufeinander aufbauen. Vielmehr werden sie sich systematisch ergänzen. Es soll gezeigt werden, dass beide im Hinblick auf ihren jeweiligen Untersuchungsbereich ein analoges und sich gegenseitig ergänzendes Verständins von Unendlichkeit haben. Trotz der Differenzen der beiden Anwendungsfelder des Unendlichkeitsbegriffs drohen in beiden Fällen im Umgang mit demselben aus ähnlichen Gründen Widersprüche. Der Umgang mit diesen Widersprüchen ist die zentrale Hürde in der Beantwortung der Fragestellung dieser Arbeit. Zur Beantwortung der Frage „Wie ist Erkenntnis des Unendlichen möglich?“ sind wir also gezwungen eine Antwort auf die Frage „Wie lässt sich das Unendliche kohärent denken?“ zu geben. Denn der unendliche Regress der Bedingungen der Verstandeserkenntnisse, gegeben als die Gesamtheit aller Verstandeserkenntnisse, die von Kant mit „Welt“ bezeichnet wird, führt zu den vier Widersprüchen, die Kant in der Antinomie der reinen Vernunft entfaltet hat. Analog hierzu sieht

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sich auch der Umgang mit dem Unendlichen in der Mengenlehre mit Paradoxien konfrontiert. So lässt sich in der naiven Mengenlehre beispielsweise die Menge aller Mengen bilden, von der man nun fragen kann, ob sie Teil ihrer selbst ist, worauf man genötigt ist mit ja und mit nein zu antworten. Problematisch wird es nun, wenn sich die Existenz der Welt bzw. der Menge aller Mengen gleichzeitig als unabdingbar erweist. Die Existenz der Menge aller Mengen gilt für Cantor in Gestalt seines Absolut-Unendlichen als notwendige Bedingung dafür, allgemeine Aussagen über Mengen treffen zu können. Ähnlich stellt sich die Frage, wie der Regress der Bedingungen, in denen ein jeder Gegenstand des Verstandes steht, gedacht werden kann, ohne ebenfalls den Begriff der Welt in den Bereich der Verstandeserkenntnis zu rücken. Das Ziel dieser Arbeit ist eine Antwort auf diese Probleme zu formulieren. Es soll einerseits gezeigt werden, dass obiger Befund in einer Hinsicht stimmt: Das Unendliche kann nicht wie das Endliche gedacht werden; die Welt (und der unendliche Regress der Bedingungen) kann nicht Gegenstand der Verstandeserkenntnis sein, und mit der Menge aller Mengen kann nicht auf dieselbe Art umgegangen werden, wie mit anderen Mengen. In anderer Hinsicht gilt es jedoch das Obige zu präzisieren. Das Unendliche ist nicht inkohärent, sondern kategorial vom Endlichen verschieden. Es ist die Missachtung dieses Unterschiedes, welche erst dazu verleitet, die Welt als Gegenstand der Verstandeserkenntnis aufzufassen und in ähnlicher Weise auch zur Annahme eines Absolut-Unendlichen führt. Das Unendliche ist aber kein Mehr des Endlichen, das mit dem Endlichen in Bezug auf seine Größe verglichen werden kann. Denn das würde bedeuten, es mit dem Endlichen auf dieselbe logische Stufe zu stellen. Das Unendliche ist, wie im Folgenden gezeigt werden soll, die Form des Endlichen. Der Regress der Bedingungen in dem die Gegenstände des Verstandes stehen, führt nicht zu der Vorstellung der Welt als existierende Gesamtheit aller Verstandeserkenntnisse, sondern er ist die Form der Einzelerkenntnisse, d.h. das Prinzip, nach dem uns jede Einzelerkenntnis gegeben ist. Und das Unendliche in der Mathematik ist die logische Form bestimmter mathematischer Kalküle, mit anderen Worten: die interne Eigenschaft eines Systems mathematischen Zeichengebrauchs. Somit ist es in Form von gewissen Regeln gegeben, die von dem Gebrauch dieser Zeichen gelten. Diese Situierung des Unendlichen in der Form des Endlichen, welche in beiden Bereichen parallel verläuft, sichert dessen Unterschied zum Endlichen, vermeidet aber gleichzeitig die negativen Konsequenzen.

Der Gang der Untersuchung Die Erkenntnis des Unendlichen in Bezug auf die Erfahrung und in Bezug auf die

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0 Endlichkeit und Unendlichkeit Mathematik werden nacheinander untersucht. Gegenstand des ersten Kapitels ist die Antinomie der Welt in der Kritik der reinen Vernunft. Hierbei wird zuerst der Begriff der Welt und die damit verbundene Vorstellung einer unendlichen Reihe von Zeitpunkten eingeführt (1.1). Im Anschluss zeigt sich im Beweis der ersten Antithetik, dass diese Vorstellung tatsächlich widersprüchlich ist, was gegenüber zwei Einwänden verteidigt wird (1.2). Zuletzt wird auf die daraus resultierenden Konsequenzen für die Vorstellung des Unendlichen im Bereich der Verstandeserkenntnis eingegangen (1.3). Im zweiten Kapitel geht es um Cantors Mengenlehre und dessen Theorie des AbsolutUnendlichen. Diese war als philosophische Fundierung der Mengenlehre angedacht, kann aber als solche nicht überzeugen. Zur Theorie des Absolut-Unendlichen wird Wittgensteins Philosophie der Mathematik als Alternative vorgestellt und zum dritten Kapitel übergeleitet. Dort geht es um die Frage, wie sich Unendlichkeit in der Mathematik zeigt. Hierzu wird zunächst auf die Erläuterungen zum Zahlbegriff eingegangen, wobei gezeigt wird, dass mathematische Sätze sich nicht auf bestimmte (mathematische) Entitäten beziehen, sondern die Mathematik in die Art und Weise unseres sprachlichen Wirklichkeitsbezuges eingliedert ist (3.1). Unendlichkeit kann nunmehr ebensowenig etwas sein, worauf sich mathematische Sätze beziehen, sie zeigt sich vielmehr im Zeichengebrauch gewisser Kalküle. Das wird anhand der unendlichen Reihe und des Induktionsbeweises exemplarisch dargestellt (3.2). Das Kapitel endet mit einer Diskussion von Cantors Verfahren der Diagonalisierung, dem Rückgrat der Mengenlehre und der damit zusammenhängenden Antinomie der Menge aller Mengen. Zum Schluss werden diese Ergebnisse nochmals auf die metaphysische Endlichkeit des Menschen bezogen.

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1 Unendlichkeit und Erfahrung – Kant In diesem Kapitel wird der Begriff des Unendlichen und dessen Verbindung zu unserer Erfahrung anhand des Beweises der These der ersten Antithetik der Antinomie der reinen Vernunft untersucht. Es wird gezeigt, dass die Idee der Welt, an der die Vorstellung des Unendlichen Teil hat, nicht selbst Erkenntnisgegenstand sein kann und Unendlichkeit stattdessen als Form endlicher Gegenstandserkenntnis aufzufassen ist. Die Antinomie ist ein Widerstreit der Vernunft mit sich selbst, der sich in vier Antithetiken ausdifferenziert und sich obendrein notwendig einstellt. Er fußt darauf, dass wir aufgrund unseres Erkenntnisvermögens Begriffe des Unbedingten (von Kant Ideen genannt) annehmen müssen, die wir nicht auf die gleiche Art und Weise behandeln dürfen, wie die Begriffe, von deren Gegenständen wir im üblichen Sinne Erkenntnis haben. Einer dieser problematischen Begriffe ist der Begriff der Welt. In Bezug auf diesen, d.h. in Bezug auf seine vier Aspekte ergeben sich die vier Antithetiken. Für den Begriff des Unendlichen ist hierbei vor allem die erste Antithetik von Interesse. Sie besteht im Widerstreit der Thesen: „Die Welt hat einen Anfang in der Zeit“ (These) und „Die Welt hat keinen Anfang in der Zeit“ (Antithese). Insbesondere im Beweis der These zeigt sich dann, inwiefern das Unendliche nicht Gegenstand unserer Erkenntnis sein kann. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels (1.1) wird die Kantische Theorie der Vernunft und der Begriff der Welt vorgestellt. Es wird gezeigt, wie der Weltbegriff zur Vorstellung einer unendlichen Reihe von Zeitpunkten führt. Im zweiten Abschnitt (1.2) wird Kants Beweis der These der ersten Antithetik gegen zwei Einwände verteidigt. Unendlichkeit, in obiger Vorstellung als unendliche Reihe von Zeitpunken, kann nicht Gegenstand unserer Verstandeserkenntnis sein und wir können daher auch keine sinnvollen Aussagen über sie treffen. Im letzten Abschnitt (1.3) wird dann darauf eingegangen, wie die Vorstellung des Regresses der Bedingungen in denen eine jede Verstandeserkenntnis steht, denoch denkbar ist.

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1 Unendlichkeit und Erfahrung – Kant

1.1 Präliminarien: Der Begriff der Welt Nach Kant ist unser Erkenntnisapparat durch die funktionale Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft gekennzeichnet. Ziel dieses Abschnittes ist eine Hinführung zur Kantischen Konzeption der Vernunft und deren Begriffen, den transzendentalen Ideen. Das soll dazu dienen, den Weltbegriff angemessen im System der KrV zu verorten und damit die Notwendigkeit des Begriffs des Unendlichen, welcher in Zusammenhang mit dem Begriff der Welt steht, für unseren Erkenntnisapparat aufzuzeigen.

1.1.1 Verstand und Vernunft Die Untersuchung beginnt mit Kants Begriff der Vernunft, welcher zunächst vom Verstand in formaler und transzendentaler Hinsicht unterschieden wird.1 In Bezug auf die Wirkungsweise der Vernunft werden dann die transzendentalen Ideen thematisiert.

Kant bezeichnet die Vernunft als das „Vermögen der Prinzipien“2 und nennt eine „Erkenntnis aus Prinzipien diejenige [...], da ich das Besondere im Allgemeinen durch Begriffe erkenne“.3 Das „im“ in der Formulierung „im Allgemeinen“ ist hier wörtlich zu verstehen: Das Besondere wird als zu einer Allgemeinheit gehörig erkannt. Ferner erfolgt diese Erkenntnis „durch Begriffe“, d.h. nicht alternativ durch die Erfahrung. Durch letztere ist es nämlich durchaus auch möglich, etwas als zu einer Allgemeinheit gehörig zu erkennen. Wenn ich Gaius sterben sehe, weiß ich, dass er unter den Begriff „sterblich“ fällt, und damit zu der durch diesen Begriff ausgedrückten Allgemeinheit gehört. Dieselbe Erkenntnis kann ich jedoch ebenfalls „durch Begriffe“ gewinnen, d.h. 1 Kants Theorie der Vernunft wird in der Forschung oft gesondert von den einzelnen dialektischen Schlüs-

sen der Vernunft betrachtet. Besonders in Bezug auf die Deduktion der transzendentalen Ideen und die Erklärung der transzendentalen Illusion ist vor allem die angelsächsische Rezeption nicht sehr wohlwollend. Zu nennen wäre hier vor allem Bennett 1974, für den die Theorie einfach nicht gut ist und für den Rest der Transzendentalen Dialektik auch nicht benötigt wird. Sie reflektiert „not the structure of reason but the preoccupations of German academic philosophers at the time when Kant was writing“(ebd., S.261). Neuere und positivere Interpretationen finden sich in Allison 2004 und in Grier 2004. Letztere macht Kants Konzeption der transzendentalen Illusion sogar zur Grundlage ihrer (Gesamt)Interpretation der Kritik der reinen Vernunft. Im deutschsprachigen Raum sind hier vor allem Liebrucks 1968 und Heimsoeth 1966 zu nennen. Etwas neueren Datums ist der Kommentar von Schmucker 1990, der besonders im Vergleich zum Antinomiekapitel Einflüsse (und Spannungen) verschiedener Entwicklungsstadien von Kants Philosophie herausarbeitet. 2 KrV, A299/B356. 3 KrV, A300/B357.

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1.1 Präliminarien: Der Begriff der Welt durch einen Schluss, der den Satz „Gaius ist sterblich“ aus anderen Sätzen ableitet.4 In diesem Fall wird Gaius, mithilfe des Prädikats „Mensch“, unter die allgemeine Bedingung „Alle Menschen sind sterblich“ subsumiert. Diese allgemeine Bedingung fungiert als Principium (d.h. als Erstes, als Grundsatz) für die Zuschreibung des Prädikates „sterblich“ zum Subjekt „Gaius“. Hierin wird das Prinzip der Vernunft selbst deutlich, welches besagt: „Was unter der Bedingung einer Regel steht, das steht auch unter der Regel selbst“.5 In diesem Fall ist die „Regel“ das Sterblichsein und deren Bedingung das Menschlichsein. Entscheidend für das Prinizip der Vernunft ist nun die Verwendung des Mittelsatzes „Gaius ist ein Mensch“. Sie ermöglicht die Inferenz und damit die Zuordnung von Gaius zum (logischen) Bereich derjenigen, die sterblich sind – also die Erkenntnis des Besonderen im Allgemeinen. In der Verwendung eines Mittelsatzes unterscheidet sich die Vernunft rein formal vom Verstand, d.h. dem Vermögen zu Urteilen und der Begriffe. Seine Schlüsse bedürfen keines Mittelsatzes6 (bzw. seine Mittelsätze sind Tautologien7 ). Da der Verstand also kein Verhältnis zwischen zwei Urteilen mittels eines dritten ausdrückt8 , sondern bloß aus einem einzelnen Urteil (plus Tautologie) folgert, entsprechen den einzelnen Verstandesschlüssen die Urteilsformen der Quantität, Qualität, Relation und Modalität.9 Die Vernunftschlüsse wiederum, welche aus drei Gliedern bestehen, drücken, wie in der Verbindung von „Gaius“ und „sterblich“ eine nicht-tautologische Beziehung zwischen zwei Begriffen aus. Dementsprechend lassen sie sich nach dem „Verhältnis [...], welches der Obersatz, als die Regel, zwischen einer Erkenntnis und ihrer Bedingung vorstellt“,10 einteilen. Bei dem Obersatz ist vor allem dessen Urteilsform der Relation relevant, also ob es sich bei diesem um ein kategorisches, ein hypothetisches oder ein disjunktives Urteil handelt. Ist der Obersatz ein kategorisches Urteil (z.B. „Alle Menschen sind sterblich“), dann ist der Vernunftschluss kategorischer Art („Gaius ist sterblich“), ist der Obersatz ein hypothetisches Urteil („Angenommen: Alle Menschen sind sterblich“), dann ist der Vernunftschluss hypothetischer Art („Wenn alle Menschen sterblich sind, dann ist Gaius sterblich“), und ist der Obersatz ein disjunktives Urteil („Menschen sind sterblich oder Menschen sind nicht sterblich“), dann ist der Vernunftschluss ebenfalls disjunktiv („Gaius ist sterblich oder nicht“).11 Bezüglich der anderen Urteilsformen gilt: Die Quantität des Obersatzes ist immer die der Allgemeinheit, die Quali4 Vgl. Logik, §41. 5 Logik, §57. 6 KrV, A303/B360. 7 Vgl. Logik, §44. 8 In Kants Worten verändert sich in diesem Falle die „Materie“ des Urteils nicht. Vgl. Logik, §44. 9 Für eine genauere Exposition dieses Zusammenhangs vgl. Logik, §§17-30. 10 KrV, A304/B361. 11 Vgl. Logik, §61.

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1 Unendlichkeit und Erfahrung – Kant tät, also die Frage, ob die Konklusion bejahend, verneinend oder limitierend ist, spielt für den Schluss selber keine Rolle, und die Modalität ist (da es sich hierbei um einen logischen Schluss handelt) die der Notwendigkeit.12 Zu diesen logischen Funktionen finden sich nun in transzendentalem Gebrauch einige Entsprechungen. Während der Verstand im transzendentalen Gebrauch die Einheit in der Anschauung zur Aufgabe hatte, richtet sich die Vernunft auf die Einheit des Verstandesgebrauches. Erkenntnis aus Prinzipien zeichnet sich durch ihr systematisierendvereinheitlichendes Moment aus. Durch Vernunftschlüsse werden einzelne (Verstandes)Erkenntnisse unter allgemeine Bedingungen gestellt. In Kants Worten heißt dies: So bezieht sich die Vernunft nur auf den Verstandesgebrauch, [...] um ihm die Richtung auf eine gewisse Einheit vorzuschreiben, von der der Verstand keinen Begriff hat, und die darauf hinaus geht, alle Verstandeshandlungen, in Ansehung eines jeden Gegenstandes, in ein absolutes Ganzes zusammen zu fassen.13

Durch das Vorgehen der Vernunft in Bezug auf den Verstandesgebrauch werden dessen Urteile systematisiert und erhalten dadurch erst ihre (eigentliche) Bestimmung. Kant spricht hierbei von einer „Forderung der Vernunft, um den Verstand mit sich selbst in durchgängigen Zusammenhang zu bringen“.14 Für diesen Zusammenhang ist es also erforderlich, dass das Gegebene des Verstandes unter die Bedingung einer allgemeinen Regel, d.h. eines Obersatzes gestellt wird. Der Gedanke ist hier, dass eine einzelne Erkenntnis erst dann als vollständig bestimmt gelten kann (und das heißt auch erst die Erkenntnis sein kann, die sie ist), wenn sie mit allen anderen Erkenntnissen in Zusammenhang steht, und zwar dadurch, dass sie unter denselben allgemeinen Begriff fallen. Diese Zusammennahme der Einzelerkenntnisse unter einen allgemeinen Begriff ist die Aufgabe der Vernunft. Henry Allison nennt sie in diesem Sinne auch eine „secondorder faculty“.15 Obgleich jedoch die funktionale Unterscheidung von Verstand und Vernunft für den argumentativen Aufbau der Transzendentalphilosophie notwendig ist, sollte nicht auf einer radikalen Trennung der beiden als distinkte Vermögen bestanden werden. Eine radikale Trennung zweier grundlegender Vermögen würde nämlich wiederum die Frage nach einem vereinheitlichenden Prinzip dieser beiden nach sich ziehen. Aus diesem Grund sollten sie eher als eine funktionale Ausdifferenzierung eines einzigen Vermögens betrachtet werden, das auf zwei verschiedene (ineinander-greifende) Weisen arbeitet. Heinz Heimsoeth spricht in diesem Sinne mit Blick auf das Ende der KrV von 12 Vgl. Logik, §60. 13 KrV, A326/B383. 14 KrV, A305/B362. 15 Allison 2004, S.310.

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1.1 Präliminarien: Der Begriff der Welt einer „menschlichen Vernunft (im weitesten Sinne: beide Felder umfassend)“,16 und Bruno Liebrucks weist darauf hin, „daß Kant sehr wohl weiß, daß Vernunft nicht ein auf dem Verstand aufstockendes zweites Vermögen ist“.17 In deutlicher Nähe, wie wir noch sehen werden, zum Antinomiekapitel charakterisiert er die Wirkungsweise der Vernunft mit folgenden Worten: Vernunft hat allenfalls das Vermögen der Loslösung von der Erfahrung, auf die hin die Verstandesbegriffe ihre Bestimmung vornahmen. Daß die Begriffe in dieser Loslösung ihren Sinn verlieren, halte ich für eines der bedeutendsten Resultate der Kantischen Kritik.18

Um die Einzelerkenntnisse in einen Zusammenhang zu bringen, muss die Vernunft im Gebrauch ihrer Begriffe über die Erfahrung hinausgehen. Die Begriffe, die sie auf diese Art bildet, werden transzendentale Ideen genannt und der Verlust ihres Sinns, den sie durch die Loslösung von der Erfahrung erleiden, wird das gesamte Kapitel über Thema sein. Damit ist aber nicht gemeint, dass ihnen nicht auf andere Weise Sinn gegeben werden kann, noch, dass sie nicht trotzdem eine wichtige Rolle in unserem Erkenntnisvermögen spielen. Entscheidend jedoch ist, dass sie nicht ihrerseits als Gegenstände der Verstandeserkenntnis betrachtet werden können und sie, wie es für Gegenstände unserer Erkenntnis sonst üblich ist, nicht in Bezug zur Erfahrung gesetzt werden können. Im Folgenden wird zunächst erläutert, um welche Begriffe es sich hierbei handelt, wie diese ihre Aufgabe erfüllen und warum sie dadurch in obiger Manier ihren Sinn verlieren.

Um den besonderen Status der transzendentalen Ideen zu verstehen, setzen wir wieder bei der Aufgabe der Vernunft in der Systematisierung der Verstandeserkenntnisse an. Diese geschieht dadurch, dass mittels der Vernunft einzelne Verstandeserkenntnisse unter allgemeine Bedingungen gestellt werden. Diese allgemeinen Bedingungen gehören ihrerseits allerdings nicht mehr zum Verstandesgebrauch, denn es liegt im Wesen einer jeden Verstandeserkenntnis, dass sie als unter gewissen Bedingungen stehend gedacht wird.19 Der Prozess des unter allgemeine Bedingungen Stellens führt nun zu immer höheren Vereinheitlichungen – bis hin zu einer „höchsten Einheit“,20 nämlich derjenigen, die selbst nicht wieder unter eine Bedingung gestellt werden kann. Sie ist 16 Heimsoeth 1966, S.64. 17 Liebrucks 1968, S.81. 18 Ebd., S.82. 19 Vgl. KrV, A333/B390 und A409/B436. 20 KrV, A305/B361.

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1 Unendlichkeit und Erfahrung – Kant das Unbedingte. Die Vernunft sucht also das Unbedingte zu gegeben Bedingungen. Daraus folgert Kant nun: Diese logische Maxime kann aber nicht anders ein Principium der reinen Vernunft werden, als dadurch, daß man annimmt: wenn das Bedingte gegeben ist, so sei auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben, (d.i. in dem Gegenstande und seiner Verknüpfung enthalten).21

Zur Bestimmung des Verstandes, d.h. zur systematischen Vereinheitlichung desjenigen Vermögens, das die Einheit der Vorstellung in der Erfahrung zur Aufgabe hat, ist also eine Annahme22 vonnöten, welche selbst über jeglichen Erfahrungsgehalt hinausgeht und jenen nur als einen Teil von sich enthält. Das Unbedingte kann selbst nicht wieder Erfahrung sein, denn dann wäre es im Bereich der Verstandeserkenntnis und gerade dadurch wiederum bedingt. Es handelt sich bei ihm also um einen Begriff der reinen Vernunft, um eine transzendentale Idee. Eine transzendentale Idee ist ein „notwendiger Vernunftbegriff, dem kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann“.23 Er ist notwendig aufgrund der Einheit, die er für den Verstand stiftet und er ist unsinnlich, weil er als Sinnliches, d.h. als Erfahrungsgegenstand selbst wieder bedingt wäre. Unterschied und Zusammenwirken von Verstandes- und Vernunftbegriffen ergibt sich nun folgendermaßen. Da die Verstandesbegriffe die Einheit in der Erfahrung ausmachen, muss „ihre Anwendung jederzeit in der Erfahrung [...] gezeigt werden können.“24 Diese Option fällt in Bezug auf die Ideen weg, wurde doch gerade betont, dass sie ihrem Wesen nach die Sinnlichkeit übersteigen. Ein gutes Beispiel ist an dieser Stelle der Vergleich der Kategorie der Allheit (manchmal auch Totalität genannt) und der transzendentalen Idee der Totalität der Bedingungen zu einem Bedingten. Ein Beispiel: Das Urteil „Alle Menschen sind sterblich“, im Bereich des Verstandes gedacht, rührt von den Menschen her, bei denen die Eigenschaft der Sterblichkeit festgestellt wurde, von denen also, die bisher gestorben sind. Die hierdurch ausgedrückte Allgemeinheit lässt sich auch als induktive Allgemeinheit bezeichnen. Hierdurch gilt jedoch das Urteil „Alle Menschen sind sterblich“ noch nicht als vollständig bestimmt. Die Totalität der Bedingungen ist erst erreicht, und das bemerkt auch Bruno Liebrucks, „wenn vorausge21 KrV, A307/B364. 22 Im

modernen Gebrauch des Wortes könnte man auch von einem Postulat sprechen. Dieses Wort wurde hier jedoch vermieden, da es in Kants Philosophie einen speziellen Gebrauch hat, der dem modernen wissenschaftlichen nicht entspricht. Vgl. Logik, §38. 23 KrV, A327/B384. 24 KrV, A310/B367.

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1.1 Präliminarien: Der Begriff der Welt setzt wird, daß alle Menschen, die je gelebt haben, und die jetzt leben, sterblich sind.“25 Das ist nämlich der ganze Umfang der Bedingung des Urteils, d.h. hier des Begriffs des Menschen. Während die Allheit also vom Vorhandensein einer Eigenschaft an einer Menge von Individuen darauf schließt, dass diese Eigenschaft allen Individuen desselben Typs zukommt, wird dieses Merkmal von der Idee her als Teil (kantisch: Merkmal) des Begriffs gedacht, welches damit allen und nicht nur den derzeit unter ihn fallenden Individuen zukommt. Wird Sterblichkeit induktiv dem Begriff des Menschen beigelegt, kann es einen unsterblichen Menschen geben; wird sie als Teil des Begriffsinhalts gedacht, kann jemand Unsterbliches kein Mensch sein. In den Worten von Henry Allison: „[T]he former requires nothing more than an empirical, inductively based universality, while the latter includes all conceivable conditions“.26 Insofern hat das Urteil „Alle Menschen sind sterblich“ einen Bezug zur Erfahrung (Menschen sind gestorben), der Gebrauch der Idee geht jedoch über diese hinaus (Es gibt auch Menschen, die noch nicht gestorben sind). Bereits die volle Bestimmtheit des Satzes „Gaius ist sterblich“ setzt also den Bezug zu einer Allgemeinheit voraus, die die Erfahrung übersteigt. Obwohl aber in der Bestimmtheit der Urteile, welche die Begriffe ‚Mensch‘ und ‚sterblich‘ enthalten, die Vernunft bereits am Werk ist, sind beide noch nicht genuin transzendentale Ideen. Das zeigt sich auch daran, dass diese Begriffe (noch) in Bezug zur Erfahrung stehen und von dieser her auch ihren Sinn gewinnen. Obwohl diese Begriffe dann im Rahmen der Vernunft den Gehalt einer einzelnen Erfahrung bereits übersteigen, sind sie wiederum von einer höheren Allgemeinheit aus bedingt. Diejenigen Begriffe, für die das nicht zutrifft, die in keinerlei Erfahrungsbezug mehr stehen, sind die drei ursprünglichen Ideen der reinen Vernunft: Seele, Welt und Gott. Von diesen wird im Rest der Arbeit des Kapitels nur die Idee der Welt relevant sein. Allerdings sollen der Vollständigkeit halber hier noch ein paar Bemerkungen zur systematischen Deduktion der drei gemacht werden. Über den genauen Vorgang ihrer Ableitung gibt es in der Sekundärliteratur größere Uneinigkeit und auch viel Kritik an Kant.27 So wurden allein im Ersten Buch der Transzendentalen Dialektik zwei verschiedene Ableitungen der Ideen identifiziert.28 Auf den näheren Zusammenhang dieser beiden Herleitungen und die Probleme von Kants Theorie der Ideen kann hier nicht näher eingegangen werden. Für die Untersuchung des Begriffs der Unendlichkeit ist auch nur der Begriff der Welt von Interesse. Für diesen (oder besser: für die damit verbundenen kosmologischen Ideen) gibt es im Antinomiekapitel zudem noch eine 25 Liebrucks 1968, S.90. 26 Allison 2004, S.316. 27 Für

eine Diskussion verschiedener Kritikpunkte siehe ebd., S.317-322 und Grier 2004, S. 130–139 sowie Schmucker 1990, S.41f. 28 Vgl. die Stellen A323/B379, A330/B386f und A334/B391.

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1 Unendlichkeit und Erfahrung – Kant zusätzliche separate Ableitung, die sich durch ihren expliziten Bezug auf Raum und Zeit von der ‚generellen‘ Ableitung aus dem Ideenbuch unterscheidet. Hierauf wird im nächsten Abschnitt eingegangen.

Zusammenfassung Eine Erkenntnis gilt nur dann als vollständig bestimmt, wenn sie mit allen anderen Erkenntnissen in Zusammenhang gestellt wird. Hierfür bildet die Vernunft Begriffe des Unbedingten, die sämtliche Bedingungszusammenhänge umfassen. Diese Begriffe entspringen selbst nicht den Sinnen, d.h. wir erkennen sie nicht auf dieselbe Weise wie diejenigen Erkenntnisse, deren Zusammenhang sie herstellen sollen. Einer dieser Begriffe ist der der Welt. Er wird nun untersucht.

1.1.2 Die Welt in Raum und Zeit Im Folgenden wird es nur noch um die kosmologischen Ideen, und zwar genauer um den Begriff der Welt gehen. Wir beginnen mit der Herleitung des Weltbegriffes im Antinomiekapitel, die sich von der Herleitung im Ideenbuch durch den expliziten Bezug zu Raum und Zeit unterscheidet. Nach einer anschließenden Erläuterung des Weltbegriffes und seiner Notwendigkeit, werden wir dementsprechend noch auf die Zeitvorstellung eingehen, die ihm zugrunde liegt. Denn von dieser Zeitvorstellung ist dann in den Beweisen der Antithetik in Bezug auf den Unendlichkeitsbegriff die Rede.

Zuerst gilt es, auf eine leichte Homonymie hinzuweisen: Im Ideenbuch wurden die drei bereits erwähnten Begriffe von Seele, Welt und Gott herausgestellt. Im Antinomiekapitel, welches sich auf die Idee der Welt bezieht, ist nun von vier kosmologischen Ideen die Rede, von denen Kant wiederum die ersten zwei mit „Welt“ und die anderen beiden mit „Natur“ bezeichnet. Die vier kosmologischen Ideen sind daher als Aspekte des einen (weiten) Weltbegriffes aufzufassen, von Kant definiert als „Inbegriff aller Erscheinungen“29 sowie „im transzendentalen Verstande, die absolute Totalität des Inbegriffs existierender Dinge.“30 Wie kommt es nun dazu, dass die Vernunft in ihrer Funktion der Systematisierung unserer Verstandeserkenntnis, d.h. in ihrer Suche nach dem Unbedingten, den Begriff der Welt ausbildet? Das Unbedingte wird zunächst durch 29 KrV, A419/B447. 30 KrV, A419/B447.

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1.1 Präliminarien: Der Begriff der Welt die Totalität aller Bedingungen zu fassen gesucht, denn diese Totalität muss entweder selbst unbedingt sein, oder das Unbedingte enthalten. Da nun die Bedingungen von Erscheinungen selbst wiederum Erscheinungen sind, sind wir in der Suche nach dem Unbedingten auf deren Gesamtheit verwiesen. Die Einheit des Verstandesgebrauches wird also dadurch geleistet, dass deren Einzelerkenntnisse in ihren größtmöglichen Zusammenhang gestellt werden, um so das Unbedingte einzuholen. Zur Herleitung und näheren Bestimmung des Weltbegriffes gehen wir abermals von der Maxime der Vernunft aus: „Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte gegeben.“31 Da Bedingung und Bedingtes beides Erscheinungen sind, ist deren Verhältnis ein raum-zeitliches. Die Summe aller Bedingungen, besser charakterisiert als die „aufsteigende Reihe“32 derselben, kann daher auch als eine regressive sukzessive Synthesis gedacht werden. Damit is ebenfalls ein Bezug zur Zeit hergestellt: Um nun nach der Tafel der Kategorien die Tafel der [kosmologischen] Ideen einzurichten, so nehmen wir zuerst die zwei ursprünglichen quanta aller unserer Anschauung, Zeit und Raum. Die Zeit ist an sich selbst eine Reihe (und die formale Bedingung aller Reihen), und daher sind in ihr, in Ansehung einer gegebenen Gegenwart, die antecedentia als Bedingungen (das Vergangene) von den consequentibus (dem Künftigen) a priori zu unterscheiden. Folglich geht die transzendentale Idee, der absoluten Totalität der Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten, nur auf alle vergangene Zeit.33

Folgende Überlegung ist hier zentral: Die Reihe der Bedingungen zu einem Bedingten ist anhand der Zeitreihe gegeben, in der vergangene Zeitpunkte als Bedingungen des Gegenwärtigen angesehen werden. In der Ableitung der kosmologischen Ideen im Antinomiekapitel wird also von der Synthesis (der Reihe der Bedingungen) in der Sinnlichkeit ausgegangen und diese über die Grenzen derselben hinweg erweitert. Damit ist ein Bezug zur Sinnlichkeit und zu den Anschauungsformen gegeben, der die kosmologischen Ideen als Erweiterungen bestimmter Verstandeskategorien über die Grenzen der Sinnlichkeit hinaus aufweist.34 31 KrV, A409/B436. 32 KrV, A409/B436. 33 KrV, A411f/B438f. 34 Hierin

unterscheiden sie sich von den Begriffen „Seele“ und „Gott“, welche sich gerade dadurch auszeichnen, dass ihr Objekt von vornherein von allem Sinnlichen getrennt ist. Josef Schmucker bemerkt zu diesem Unterschied, dass die Herleitung der kosmologischen Ideen im Antinomiekapitel werksgeschichtlich vor und unabhängig von der gemeinsamen Ableitung der drei im Ideenbuch erfolgte. Vgl. Schmucker 1990, S. 93–102. Da es Raum und Zeit sind, an denen die Reihe vorgestellt wird, folgert er: „Das eigentliche Prinzip der Ableitung der kosmologischen Ideen sind demnach jene grundlegenden Dimensionen oder Aspekte des Erfahrungsgegenstandes, die eine Reihe einander untergeordneter Bedin-

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1 Unendlichkeit und Erfahrung – Kant Die Suche nach dem Unbedingten in Form der kosmologischen Ideen ist also die Frage nach der Totalität der Bedingungen von Erscheinungen, sofern diese Bedingungen selbst wieder eine Reihe von Erscheinungen ausmachen. Hierbei expliziert Kant die Idee der absoluten Totalität entsprechend der Tafel der Kategorien in vierfacher Hinsicht. Die daraus resultierenden vier kosmologischen Ideen können als vier Aspekte aufgefasst werden, unter denen die Totalität der Erscheinungen betrachtet wird. Für die Diskussion der ersten Antithetik ist nur die Idee der „absoluten Vollständigkeit der Zusammensetzung des gegebenen Ganzen aller Erscheinungen“35 von Interesse. Kant bezeichnet diese und die „absolute Vollständigkeit der Teilung eines gegebenen Ganzen in der Erscheinung“36 ebenfalls mit „Welt“, um sie von den anderen beiden kosmologischen Ideen abzugrenzen, für die er den Begriff „Natur“ reserviert. Wenn im Folgenden von Welt die Rede ist, ist damit nun in erster Linie dieser enge Weltbegriff gemeint. Für diesen gilt: Die aufsteigenden Bedingungen zu jeweiligem Bedingten, welche die absolute Vollständigkeit der Zusammensetzung der Erscheinungen ausmachen, wird als regressive sukzessive Synthesis gedacht, für die die Vorstellung der Zeit als Reihe grundlegend ist. Eine Reihe kann nun auf zwei Weisen als unbedingt gedacht werden: Durch ein unbedingtes erstes Glied oder als eine unendliche Reihe. An dieser Stelle taucht bei Kant also der Begriff der Unendlichkeit auf: Er ist im Begriff der unendlichen Zeitreihe Teil der Vorstellung des Weltbegriffes und spielt, wie sich im nächsten Kapitel herausstellen wird, eine zentrale Rolle darin, dass die Welt nicht Gegenstand der Verstandeserkenntnis sein kann.

Wenn jedoch die Zeitreihe der entscheidende Aspekt der Vorstellung von Welt in Zusammenhang mit dem Unendlichen ist, ist folgender Einwand naheliegend: Laut der Transzendentalen Ästhetik wissen wir bereits, dass die Zeit unendlich ist. Steht also aufgrund des eben herausgestellten Zeitbezuges nicht die Unendlichkeit der Welt, die doch zu Disput stehen soll, außer Frage? In Bezug auf diesen Einwand ist es wichtig, die Zeit als Form der Anschauung von der Vorstellung der Zeit als Reihe zu unterscheiden. Beide sind für das Zustandekommen der Antithetik gleichermaßen notwendig, weswegen wir hier auf ihr Verhältnis eingehen werden. Die besagte Unendlichkeit der Zeit gungen implizieren, die die Vernunft bis um Unbedingten hinausführt. Das allgemeine Schema der vier Kategorienarten ist nur ein Rahmen, in den Kant sie einordnet, um dadurch angeblich eine systematische Vollständigkeit der Ableitung zu gewinnen“ (Schmucker 1990). Trotz der angemerkten Unabhängigkeit stellt er jedoch auch fest, dass beide Herleitungen, die aus dem Ideenbuch und dem Antinomiekapitel, sich stellenweise doch entsprechen, was eine Lektüre derselben erschwert. 35 KrV, A415/B443. 36 KrV, A415/B443.

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1.1 Präliminarien: Der Begriff der Welt wird von Kant mit folgenden Worten eingeführt: Die Unendlichkeit der Zeit bedeutet nichts weiter, als daß alle bestimmte Größe der Zeit nur durch Einschränkungen einer einigen zugrunde liegenden Zeit möglich sei.37

Der Schlüssel ist hier die Rede von einer „bestimmten Größe“. Um eine Größenangabe zu machen, sind wir auf die Anschauung verwiesen. Das heißt, wenn es darum geht, eine bestimmte Zeit (oder Zeitspanne) zu bestimmen, zu messen, ist hierfür die unendliche Zeit als konstitutive Gesamtheit in Anspruch genommen. Eine naheliegende aber, wie wir später sehen werden, irreführende Metapher wäre, diese unendliche Zeit als die Schienen eines Zuges aufzufassen, der beliebig weit fahren kann – was voraussetzt, dass dessen Schienen bereits vorhanden sind. Diese unendliche Zeit ist die Zeit als Form der Anschauung. Ihre Begrenzung gibt uns die Vorstellung einer bestimmten Zeit – wobei an dieser Stelle noch außen vor gelassen wird, ob diese endlich, oder nicht auch unendlich sein kann. Von der Zeit als Vorstellung ist die Rede, wenn Kant davon spricht, eine Größenangabe der Zeit zu machen. Die vorgestellte Zeit, die gemessen werden kann, ist die Zeit als formale Anschauung; in ihr werden die Zeitverhältnisse sinnlich vorgestellt. Das Bild der Zeit, das man gewinnt, indem man sich ihre relationalen Eigenschaften anhand einer Linie in der Anschauung vorstellt, ist Gegenstand der Sinne – die Zeit selbst aber nicht. Ersteres ist nun die Grundlage der Vorstellung der Welt, sofern von dieser im Bereich der Verstandeserkenntnis die Rede sein soll. Die Vorstellung der Zeit (oder die Zeit als formale Anschauung) wird von Kant im Schematismus der reinen Verstandesbegriffe näher bestimmt, d.h. im Rahmen dessen, wo die Verbindung zwischen Sinnlichkeit und Verstandeskategorien, die in der Transzendentalen Deduktion zunächst nachgewiesen wurde, nun in Bezug auf die einzelnen Kategorien näher entfaltet wird. Das bedeutet, dass die Zeitvorstellung, von der im folgenden Zitat die Rede sein wird, eine Bestimmung des Verstandes und damit als Verstandeserkenntnis den Kategorien gemäß sein wird. Auf den ersten Blick überraschend, geht die Bestimmung der Zeit, sofern sie den Kategorien gemäß und damit ein möglicher Erkenntnisgegenstand sein soll, mit Kants Erörterung des Zahlbegriffs einher. Also ist die Zahl nichts anderes, als die Einheit der Synthesis des Mannigfaltigen einer gleichartigen Anschauung überhaupt, dadurch, daß ich die Zeit selbst in der Apprehension der Anschauung erzeuge.38 37 KrV, A32/B48. 38 KrV, A143/B182.

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1 Unendlichkeit und Erfahrung – Kant Der Grund für den Zusammenhang zwischen Zahl und Zeitvorstellung und das entscheidende an diesem Zitat ist die Bestimmung der „gleichartigen Anschauung“, also die Gleichartigkeit der Glieder der vorgestellten Zeitreihe. Was darunter zu verstehen ist, wird in der Jäsche-Logik näher erläutert. Gleichartigkeit bezieht sich auf unsere begriffliche Differenzierungsleistung. Der höhere Begriff heißt, in Rücksicht seines niederen, Gattung (genus); der niedere Begriff, in Ansehung seines höhern, Art (species).39

Zwei Dinge, die von gleicher Art sind, fallen unter denselben Begriff – und werden darüber hinaus nicht weiter begrifflich differenziert, denn sonst wären sie bloß gattungsgleich. Daraus folgt: Es lassen sich im Rahmen dessen, worin sie gleichartig sind, keine zusätzlichen Eigenschaften anführen, um zwei Gleichartige zu unterscheiden. Mit anderen Worten: Sie lassen sich begrifflich nicht weiter differenzieren. Die Möglichkeit einer Unterscheidung ist somit nur noch in der Anschauung gegeben. Auf die Zeitreihe angewandt heißt dies: Die Glieder der vorgestellten Zeitreihe sind qualitativ nicht verschieden, sondern unterscheiden sich nur in ihrer Relation zu einander. Dieses Merkmal der Gleichartigkeit der Zeitvorstellung ist ebenso ein Wesensmerkmal der Welt, also der ersten beiden kosmologischen Ideen. Nicht ohne Grund wird die Welt von Kant außerdem als „das mathematische Ganze aller Erscheinungen und die Totalität ihrer Synthesis“40 bezeichnet. Das Adjektiv „mathematisch“ verwendet Kant nämlich u.a. dann, wenn es um den eben herausgestellten Aspekt der Gleichartigkeit geht.41 Der Gegenbegriff zur Welt ist hier der bereits erwähnte Begriff der Natur, um den es in der dritten und vierten Antithetik geht. Die sukzessive Vorstellung der Natur, z.B. als Kausalreihe, verlangt nicht die Gleichartigkeit der Glieder ihrer Reihe. Wenn von Welt in Raum und Zeit die Rede ist, dann geht es also um die Vorstellung derselben als Reihe gleichartiger Zustände – und das ist genau die Vorstellung der Zeit als Reihe. Und von dieser Vorstellung der Zeit als Reihe, von der nun auch eine Größenangabe gemacht werden kann, stellt sich die Frage nach ihrer Unendlichkeit. Grundlage dafür, überhaupt diese Frage stellen zu können, ist die unendliche Zeit, als deren Einschränkung die Vorstellung der Zeit als Reihe erst gegeben ist. Die Unendlichkeit der Zeit in der Transzendentalen Ästhetik entscheidet also nicht, sondern ermöglicht erst die Antithetik. 39 Logik, §10. 40 KrV, A418/B446. 41 Nach

Daniel Sutherland steht hinter diesem Zusammenhang Kants Versuch, eine Theorie mathematischer Erkenntnis der euklidischen Geometrie zu liefern, laut der in der Anschauung Konstruktionen von gleichartigen Bausteinen, wie z.B. Konstruktionen aus Linien, aus Flächen o.ä erfolgen. Das Zusammenspiel zwischen Gleichartigkeit der Linien als Linien etc. und deren Verbindung in der Anschauung ist hierfür die epistemische Grundlage. Vgl. Sutherland 2004

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1.1 Präliminarien: Der Begriff der Welt Zusammenfassung Die Vernunft in ihrer Funktion der Systematisierung unserer Verstandeserkenntnisse bildet den Begriff der Welt als die Gesamtheit (Totalität) der Erscheinungen. Er wird als Erweiterung der Verstandeserkenntnis über die Grenzen der Sinnlichkeit hinaus gewonnen und anhand der Zeitreihe vorgestellt. Der Begriff der Welt findet also in Raum und Zeit Anwendung. Die Zeitreihe, anhand der er vorgestellt wird, kann nun einerseits durch ein unbedingtes erstes Glied, oder als unendliche vorgestellt werden. Diesen beiden Möglichkeiten entsprechen jeweils These und Antithese der ersten Antithetik, die im nächsten Kapitel Thema sein wird. Dort wird sich dann zeigen, welchen Limitationen der hier eingeführte Unendlichkeitsbegriff unterliegt.

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1 Unendlichkeit und Erfahrung – Kant

1.2 Die Unmöglichkeit der Vorstellung einer unendlichen Reihe In diesem Unterkapitel wird zunächst eine einleitende Analyse des Beweises der These gegeben und anschließend zwei prominente Einwände diskutiert, anhand derer der Begriff des Unendlichen und dessen Epistemologie eine nähere Analyse erfährt. Das Ergebnis dieses Abschnittes wird sein, dass Unendlichkeit nicht Gegenstand der Verstandeserkenntnis und damit auch nicht Gegenstand sinnvoller Aussagen sein kann.

Dem Leser mag im letzten Abschnitt bereits eine Spannung aufgefallen sein. Zuerst wurde das Unbedingte als unsinnlich charakterisiert, dann wurde es aber auf die Vorstellung der Zeitreihe angewandt, die wiederum als sinnlich und im Bereich der Verstandeserkenntnis vorgestellt wurde. Die Antinomie ist Resultat dieses Vorgehens. Sie entsteht dadurch, dass die transzendentale Idee „Welt“ anhand der Zeit als Reihe vorgestellt wird und daher fälschlicherweise dem Rahmen der Verstandeserkenntnisse zugeordnet wird. Als solche korrespondiert ihr ein Gegenstand als Objekt der Erfahrung, was jedoch im Falle der Ideen prinzipiell ausgeschlossen ist. Für den engen Begriff der Welt können hierbei die sich widersprechenden Aussagen „Die Welt hat einen Anfang (sie ist endlich)“ und „Die Welt hat keinen Anfang (sie ist unendlich)“ abgeleitet werden. Die Endlichkeit der Welt besteht darin, dass die Totalität der Reihenvorstellung nicht in Form einer unendlichen Reihe gegeben sein kann. Die Unendlichkeit der Welt besteht darin, dass jede Grenze einer Reihe selbst wiederum Teil derselben sein muss und als solche keine Grenze sein kann.42 Die Kantische Antinomie unterscheidet sich von den klassischen logischen und semantischen Antinomien43 darin, dass bei ihr ein epistemischer Aspekt im Vordergrund steht. Es ist daher hilfreich im Vorfeld drei Aspekte der Antinomie zu unterscheiden.44 Der epistemische Aspekt, der den entstehenden Widerspruch ebenfalls als epistemisch charakterisiert, entsteht zwischen dem Begriff der Welt (als Vorstellung der Zeit als Rei42 Die

Gleichartigkeit der Reihenvorstellung liefert in gewisser Weise bereits ein Argument für deren Unendlichkeit, denn ein unbedingtes erstes Glied widerspricht derselben, weil nunmehr Glieder derselben in bedingt und unbedingt differenziert werden. So schreibt Kant in der Schlussanmerkung: „[E]s war immer eine Reihe, in welcher die Bedingung mit dem Bedingten, als Glieder derselben, verknüpft und dadurch gleichartig waren, da denn der Regressus niemals vollendet gedacht, oder, wenn dieses geschehen sollte, ein an sich bedingtes Glied fälschlich als ein erstes, mithin als unbedingt angenommen werden müßte.“(KrV, A528/B556) 43 Vgl. Fraenkel, Bar-Hillel und Levy 1973, 1-8. Auf eine dieser Antinomien wird auch im Zwischenspiel (Kapitel 2) noch eingegangen. 44 Vgl. Falkenburg 2000, 215f.

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1.2 Die Unmöglichkeit der Vorstellung einer unendlichen Reihe he) und der Beschaffenheit unserer Verstandeserkenntnis. In Verbindung der beiden werden der Welt als Erfahrungsgegenstand sich widersprechende Prädikate angefügt, nämlich einmal endlich zu sein und unendlich zu sein. Der semantische Aspekt ist eine Voraussetzung dafür; er besteht darin, dass in den Beweisen der These und Antithese derselbe Weltbegriff Anwendung findet. Dies verweist wiederum auf einen logischen Aspekt, nämlich die darin liegende Äquivokation des Weltbegriffes. Wird die Welt als Totalität gedacht, geht der Verlust der Abhängigkeitsstruktur der einzelnen Glieder einer Reihe voneinander mitsamt der Reihenvorstellung selbst verloren. Eine Rückbindung der Totalität an die Reihenvorstellung ist daher unzulässig. In diesem Sinne greifen semantischer und logischer Aspekt ineinander, um den Widerspruch auf Basis der Struktur unseres Erkenntnisvermögens zu konstruieren. Brigitte Falkenburg bezeichnet die Antinomie daher als einen „epistemischen Zustand der Vernunft, in dem sich [...] die Vernunft [...] im Streit mit sich selber befindet“.45 Nach dieser kurzen Übersicht wird nun der Beweis der These, dass die Welt endlich ist, erläutert. Im Rest dieses Abschnitts wird es ausschließlich um diesen gehen, da dort die Anwendung des Unendlichkeitsbegriffs auf die Erfahrung thematisiert wird. Im ersten Teil des Beweises der These soll gezeigt werden, dass die Welt einen Anfang in der Zeit hat. Hierzu wird das Gegenteil angenommen und ein Widerspruch erzeugt. Kants Formulierung ist wie folgt: [1] Denn, man nehme an, die Welt habe der Zeit nach keinen Anfang: so ist zu jedem gegebenen Zeitpunkte eine Ewigkeit abgelaufen, und [2] mithin eine unendliche Reihe auf einander folgender Zustände der Dinge in der Welt verflossen. [3] Nun besteht aber eben darin die Unendlichkeit einer Reihe, daß sie durch sukzessive Synthesis niemals vollendet sein kann. [4] Also ist eine unendliche verflossene Weltreihe unmöglich, mithin ein Anfang der Welt eine notwendige Bedingung ihres Daseins; welches zuerst zu beweisen war.46

Die Endlichkeit der Welt in der Zeit wird also auf einen Widerspruch im Begriff einer unendlich verflossenen (Zeit)Reihe zurückgeführt [4]. Denn das Verfließen, d.h. der Abschluss eines sukzessiven Abfolgens unendlich vieler diskreter Zeitpunkte, gibt uns eine Unendlichkeit, die „vollendet“ ist [2]. Das ist der Widerspruch im Begriff der unendlichen Reihe, wie er in [3] nochmals angeführt wird. Der zweite Teil der These und ihres Beweises bezieht sich auf den Anfang der Welt im Raum. Die Endlichkeit der Welt im Raum wird jedoch auf die Bestimmungen der Zeit zurückgeführt: Die Welt im Raum kann nicht unendlich sein, da die sukzessive Synthesis ihrer Teile niemals vollen45 Ebd., S. 183. 46 KrV, A427/B455.

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1 Unendlichkeit und Erfahrung – Kant det werden kann. Aufgrund dieses Zusammenhangs kann der Beweis in Bezug auf die Zeit als der Kern der Argumentation Kants angesehen werden.47 Gegen diesen Beweis wurde zweierlei eingewandt: Zum einen, dass es in der Mengenlehre durchaus Mittel gibt, Unendlichkeit zu fassen, die nicht auf den Begriff der Reihe rekurrieren und damit die Rede von einer Unendlichkeit von Zuständen konsistent formulierbar machen würden. Zum anderen hält man Kant vor, besonders durch den Verweis auf die sukzessive Synthesis auf Basis rein menschlicher Limitationen ungerechtfertigter Weise ontologische Konsequenzen zu ziehen. Im Folgenden werden diese beiden Einwände diskutiert. Dabei bauen die Antworten auf diese beiden aufeinander auf. Die Erwiderung auf den mathematischen Einwand ist im wesentlichen eine nähere Erläuterung des bereits erwähnten erkenntnistheoretischen Charakters der Antinomie, während die Erwiderung auf den zweiten Einwand eine Verteidigung dieses Charakters darstellt.

1.2.1 Der transzendentale Begriff des Unendlichen... Die Frage dieses Abschnitts lautet: Gibt es eine andere Definition von Unendlichkeit, nach welcher sie nicht als das Nichtaufhören eines endlichen Prozesses dargestellt wird und – vor allem – ist sie hier anwendbar? Als Paradebeispiel einer derartigen Definition würde der Umgang des Unendlichen in der modernen Logik und Mathematik fungieren. Könnte es also sein, dass Kant einfach nicht die entsprechenden mathematischen Mittel gehabt hat, um die Gesamtheit der Erscheinungen zu erfassen? Hat Kant einen ungerechtfertigten Begriff des Unendlichen vorausgesetzt? Obgleich Kant nicht die moderne Mathematik zur Verfügung stand, nimmt er in seiner Erläuterung des Beweises doch auf einen mathematischen Umgang mit dem Unendlichen Bezug. Dieser findet in der Argumentation des Beweises selbst allerdings keine Anwendung, da es dort um die Vorstellung der Zeitreihe geht, auf die er nicht anwendbar ist und von einem anderen Unendlichkeitsbegriff unterschieden wird.

Einen ausführlichen Kritikpunkt am Beweis der These vonseiten der modernen Logik hat Jonathan Bennett formuliert, der sich wiederum auf Frege bezieht. Mithilfe von Freges Analyse des Zahlbegriffes lässt sich eine unendliche Anzahl folgendermaßen definieren: „Die Anzahl, welche dem Begriffe «endliche Anzahl» zukommt, ist ei47 Die

Rückführung der Argumentation in Bezug auf den Raum betont hier nochmals den vorherigen Punkt: Für die prinzipielle Erkennbarkeit desselben wird ebenfalls ein sukzessives Durchschreiten desselben erfordert, was wiederum auf die Struktur unseres Erkenntnisvermögens verweist.

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1.2 Die Unmöglichkeit der Vorstellung einer unendlichen Reihe ne unendliche“.48 Anzahl wird in diesem Sinne als Antwort auf die Frage „wieviel?“ gebraucht und damit als Kardinalzahl aufgefasst. Diese Definition verwendet eine Instanz des Ausdrucks „Anzahl welche dem Begriffe F zukommt“,49 die von Frege wiederum eigens eingeführt wird. Informal könnte man sagen: Die Bedeutung dieses Ausdrucks ist eine Äquivalenzklasse von Mengen, die alle genauso viele Elemente enthalten, wie Gegenstände unter den Begriff F fallen. Die Gleichzahligkeit ist hierbei grundlegender als der Zahlbegriff, denn man kann durch 1-zu-1 Zuordnung angeben, dass zwei Mengen gleich viele Elemente enthalten, ohne anzugeben, wie viele sie enthalten. Die Anzahl, die dem Begriff „unendlich“ (auch genannt ℵ0 ) zukommt, entspricht also allen Mengen, die genauso viele Elemente enthalten, wie die Menge der natürlichen Zahlen. Die Anzahl der Elemente einer Menge nennt man ihre Kardinalität und die entsprechende Zahl ihre Kardinalzahl. ℵ0 ist somit die Kardinalzahl der Menge der natürlichen Zahlen. Entscheidend an dieser Definition ist nun, dass die Bedeutung des Unendlichkeitsbegriffes analog zu den Definitionen der anderen Zahlen erfolgte. Hierauf bezieht sich Jonathan Bennett, wenn er schreibt: „Freges account of cardinality shows that the statement ‚There are infinitely many Fs‘ is an absolutely satisfactory cardinality-statement, that is, that ‚infinitely many‘ is just as numerical as is ‚three‘ in ‚I have tree children‘.“50 Es ist also möglich, auch über die Anzahl der natürlichen Zahlen hinaus wohldefinierte Zahlangaben zu machen.51 Allerdings liegt in der Definition ein weiteres wichtiges Detail: Die unendliche Anzahl lässt sich nicht in die Reihe der natürlichen Zahlen eingliedern. Somit gilt außerdem: „that ‚number‘ is wider than ‚natural number‘; but earlier thinkers, not surprisingly, thought that a highest number would have to lie enormously far along the series of natural numbers.“52 Die Vorstellung, die Bennett hier Kant zuschreibt, und aufgrund derer er ihn durch Frege widerlegt sieht, ist die (fälschliche) Vorstellung, dass wir das Unendliche am anderen Ende der natürlichen Zahlenreihe finden würden. In etwa so: ℵ0 , ..., −3, −2, −1, 0 Wenn aber nun ℵ0 gar nicht Teil der unendlichen Reihe der natürlichen Zahlen ist, dann muss auch keine unendliche Reihe durchgeschritten sein, um über eine Unendlichkeit von Zuständen eine sinnvolle Aussage machen zu können. Diese Vorstellung 48 GdA, §84. 49 GdA, §68. 50 Bennett 1974, S.129. 51 Russell 2010, S. 465, macht im wesentlichen denselben Punkt: „It is true that enumeration of an infinite

series is practically impossible. But the series may be none the less perfectly definable, as the class of terms having a specified relation to a specified term.“ 52 Bennett 1974, S. 130.

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1 Unendlichkeit und Erfahrung – Kant wurde durch die Frege’sche Zahldefinition behoben. Stattdessen bezieht sich ℵ0 auf die Gesamtheit der Reihe, deren Glieder wiederum rekursiv definiert werden. ℵ0 z }| { ..., −3, −2, −1, 0 Dies bedeutet nun auch, auf die Vorstellung der Zeitreihe angewandt, dass der Abstand zweier beliebiger Zeitpunkte immer endlich ist – und dass, obwohl die Reihe selbst unendlich ist.53 Der aus der Perspektive der Mengenlehre problematische Satz des Beweises ist also [2] „eine unendliche Reihe aufeinander folgender Zustände der Dinge in der Welt [ist] verflossen“, verstanden als: Es gibt Zeitpunkte zwischen denen liegt eine Unendlichkeit. Bennett sieht dies als zentralen Fehler Kants und entgegnet ihm: Auch bei einer unendlichen Reihe ist jeder beliebige vergangene Zeitpunkt nur endlich viele Schritte entfernt. Mir ist allerdings nicht bekannt, dass Kant in seiner Argumentation jemals von der Unmöglichkeit einer an beiden Enden geschlossenen diskreten unendlichen Reihe gesprochen hat. M.E. ist dieser letzte Punkt zwar eine erwähnenswerte Eigenschaft des Unendlichen, aber in Bezug auf Kant ein Strohmann. Allerdings gilt nach wie vor das Vorherige. Es ist auf konsistente Art und Weise möglich, von einer unendlichen Menge von Zuständen zu reden. Warum sollte also nicht die Alternative gewählt werden, welche uns durch die moderne Mathematik gegeben wird?

Weil die erkenntnistheoretische Ausrichtung der Antinomie eine rein mathematische Lösung nicht zulässt! Wie wir sehen werden, ist der Begriff der Reihe einer sukzessiven Synthesis kein Zukurzkommen Kants, sondern wesentlicher Bestandteil der Antithetik. Er findet daher nicht aus mathematischen, sondern aus erkenntnistheoretischen Gründen Anwendung. In dem Kontext, in dem die Antinomien entstehen, hält Kant bereits die Vorstellung einer Gesamtheit von ..., −3, −2, −1, 0 53 Eine

andere Möglichkeit ist, auf die Mengelehre Cantors und dessen Definition der ersten transfiniten Ordinalzahl als Limes der Zahlenreihe 1, 2, 3, . . . hinzuweisen. In diesem Fall ließe sich die unendliche Reihe mittels ihres Limits angeben, welches ebenfalls nicht selbst ein Teil der Reihe ist. Für eine nähere Erläuterung hierzu siehe Kapitel 2. Interessanterweise scheint ein Einwand dieser Art vielen Kommentatoren als so selbstverständlich, dass sie gar nicht näher darauf eingehen, sondern bloß das Faktum Mengenlehre erwähnen, um Kants Beweis zurückzuweisen. So zum Beispiel Priest 1995, S. 97f. und auch Cantor 1985, S. 375 sowie Kreis 2015, S. 80, der zwar an andere Stelle (S. 365) auf den hierfür relevanten Punkt eingeht, die entsprechende Verbindung jedoch auch nicht zieht. Aus diesem Grunde beschäftigen wir uns hier auch mit einem vergleichsweise älteren Kommentar.

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1.2 Die Unmöglichkeit der Vorstellung einer unendlichen Reihe für problematisch. Dies zeigt sich genauer in seinen Bemerkungen zum verwendeten Unendlichkeitsbegriff.54 Sie werden in zwei Schritten entwickelt. In der Anmerkung zum Beweis der These unterscheidet er in einem ersten Schritt zwischen einer Größe (die in der Anschauung gegeben ist) und einer Menge (an Zahlen). Letztere ist für Kant nun unendlich, da immer noch weitere Elemente hinzugefügt werden können.55 Die bloße Rede einer Menge von Einheiten lässt jedoch noch keine Größenangabe zu, denn dafür wird die Größe der zugrunde gelegten Einheit benötigt. Unendlichkeit wird hier also in Bezug auf die Einheiten gedacht, während der Größenbegriff (und die gewählte Einheit) einen Anschauungsbezug erfordert. Im Begriff des Unendlichen wird „nicht vorgestellt, wie groß es sei,[...] sondern es wird dadurch nur sein Verhältnis zu einer beliebig anzunehmenden Einheit, in Ansehung deren dasselbe größer ist als alle Zahl, gedacht.“56 „Größer als alle Zahl“ meint daher: größer als durch jede Anzahl einer bestimmten Einheit angebbar. Wenn etwas mit dem Begriff „unendlich“ belegt ist, heißt dies, es ist aus unendlich vielen Einheiten zusammengesetzt. In diesem Sinne ist aber noch keine Angabe über die Größe der Einheiten gemacht – und daher auch nicht über die Größe desjenigen, das als unendlich bezeichnet wird. Die Rede von einem unendlichen Ganzen ist also unabhängig von der Größe desselben, sie liegt ausschließlich in der Anzahl der Einheiten. An dieser Stelle sind zwei kritische Bemerkungen aus der Perspektive der (Cantor’schen) Mengenlehre angebracht. Es lässt sich dort nämlich zeigen, dass allein aufgrund der unendlichen Einheiten alle Größen gleich groß sein müssen. Das liegt daran, dass die Einheiten selbst wieder Größen sind und daher größere Einheiten aus kleineren zusammengesetzt sind. Betrachte folgende Gegenüberstellung: 54 Dass Kant selbst zwischen einem mathematischen Begriff und Umgang mit dem Unendlichen und dem

philosophischen, d.h. erkenntnistheoretischen Unendlichkeitsbegriff unterschied, zeigt sich auch in seiner Korrespondenz mit seinem Freund, dem Mathematiker Johann Schultz. Vgl. Büchel 1987, S. 185–220. Schultz schrieb zum einen eine Theorie des Unendlichen, deren Besonderheit darin lag, dass dort – und zwar für seine Zeit äußerst ungewohnt – mit unterschiedlich ‚großen‘ Unendlichkeiten gearbeitet wird. Eine übersichtliche Darstellung dieser Theorie mit Bezug zu Kant findet sich in Schubring 1982. Zum anderen führte Schultz eine Prüfung der Kantischen Critik der reinen Vernunft/ Zweyter Teil durch, in der er Kants Theorie des Unendlichen in den Antinomien mit seiner mathematischen Theorie des Unendlichen in Vereinbarung brachte – was bei Kant auf großes Einvernehmen stieß. Vgl. einen Brief vom 29.7 1797 in Kant 1922b, S. 367–368. Kant selbst schrieb in einem Brief an Schultz vom 2.8.1790 „[I]ch glaube, daß beiliegendes Blatt b, wie ich mir schmeichle, einigen neuen Stoff darbieten möchte, um Ihre Theorie mit dem, was die Kritik in dem Stücke von der Antinomie in Ansehung des Unendlichen im Raume sagt, in Übereinstimmung zu bringen“, Kant 1922a. Blatt b ist meines Wissens jedoch leider verschollen, weswegen hier nicht näher darauf eingegangen werden kann. Dennoch liefert dieser Zusammenhang einen wertvollen exegetischen Hinweis, denn er zeigt, dass Kant sehr wohl mit einer äußerst innovativen mathematischen Behandlung von Unendlichkeit vertraut war und darin dennoch keinen Widerspruch zu seiner Philosophie sah. 55 Vgl. KrV, A431f/B459f. 56 KrV, A431f/B459f.

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1 Unendlichkeit und Erfahrung – Kant ...

ad Inf.

...

ad Inf.

Nun kann man oben jeweils zwei Einheiten zusammenführen und bekommt dieselbe Einheit wie unten. Da nun |N| = |{2n|n ∈ N}| folgt, dass es sich bei beiden um dieselbe Anzahl einer gleichen Größe handelt und damit beide auch gleich groß sind. Kant entspricht hier der basalen mereologischen Intuition, nach der der Teil kleiner ist als das Ganze. Diese ist jedoch in der Cantor’schen Mengenlehre aufgehoben, in der eine unendliche Menge (wie N) gerade dadurch ausgezeichnet ist, dass sie eine gleichmächtige Teilmenge besitzt. Man spricht hierbei auch von einer reflexiven Menge.57 Außerdem ist Kant in der Definition einer unendlichen Menge als derjenigen, zu der immer noch weitere Einheiten hinzugefügt werden können, zu restriktiv. Hierfür wird er von Bennett zurecht kritisiert. Denn, wie oben gezeigt wurde, gibt es gerade auch unendliche Mengen, die als Limit oder Gesamtheit einer solchen „Hinzunahme“ definiert sind.58 In Bezug auf diese Mengen ist aber der Größenbegriff nicht anwendbar und somit ein Anschauungsbezug in obigem Sinne nicht mehr gegeben – und zwar nicht einmal nur als (strukturerhaltende) Erweiterung „ins Unendliche“, sondern in einem kategorialen Sinne. Das heißt freilich nicht, dass hierfür nicht auch die Anschauung in Form der Verwendung gewisser Zeichen vonnöten ist, sondern, dass es sich bei dieser Anschauung dann um Symbole handelt, die keinen Bezug mehr zu den Längen hat, bei denen noch von einem Messen die Rede sein kann. Nach der Trennung der Begriffe des Maximums (Bereich der Größen) und der Unendlichkeit (Anzahl der Einheiten), gibt Kant nun in einem zweiten Schritt eine Erörterung des transzendentalen (metaphysischen) Unendlichkeitsbegriffs. Der wahre (transzendentale) Begriff der Unendlichkeit ist: daß die sukzessive Synthesis der Einheit in Durchmessung eines Quantum niemals vollendet sein kann.59

Hierbei ist nun überraschend, dass abermals von Größe (in Form von Messung) die Rede ist. Im transzendentalen Bereich, d.h. die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung betreffend, liegt allerdings auch der Anschauungs- und Größenbezug enthalten. Ein Quantum ist immer in der Anschauung gegeben. So ist zum Beispiel der Raum und 57 Diese Tatsache hat so allgemeine Anwendung gefunden, dass sie selten als problematisch diskutiert wird.

Siehe Mancosu 2016, S. 130-145 für eine Alternative. Punkt ist augenscheinlicher in Bezug auf Cantors Definition der ersten transfiniten Ordinalzahl. Vgl. Fußnote 53. 59 KrV, A432/B460. 58 Dieser

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1.2 Die Unmöglichkeit der Vorstellung einer unendlichen Reihe die Zeit als Form der Anschauung ein Quantum und es folgt definitorisch, dass Raum und Zeit unendlich sind. Denn wenn jede Größe nur als Einschränkung derselben gegeben ist,60 dann sind sie selber nicht messbar. Die Rede der „sukzessiven Synthesis“ ist nun dezidiert erkenntnistheoretisch. Für den transzendentalen Begriff des Unendlichen geht es darum, eine Größenangabe eines Quantum zu machen, bei dem die gewählte Einheit (das gewählte Maß) unendlich oft genommen wird. Die Bedingungen der Möglichkeit der Angabe einer Größe als unendlich ist daher an die sukzessive Synthesis ihrer Einheiten gebunden. Und diese Synthesis muss, da es unendlich viele Einheiten betrifft, unendlich oft angewandt werden. Aus diesem Grunde kann die Durchmessung niemals vollendet sein. Der Unendlichkeitsbegriff ist hier also in Verbindung mit den Bedingungen der Möglichkeiten der Erfahrung gedacht. In einer Fußnote ergänzt Kant dann: Dieses [das Quantum] enthält dadurch eine Menge (von gegebener Einheit), die größer ist als alle Zahl, welches der mathematische Begriff des Unendlichen ist.61

Nicht überraschend ist an dieser Stelle der Größenbezug vollständig verschwunden. Die Rede von „größer als alle Zahl“ ist eine Homonymie. Außerdem ist hier nur noch von einer Menge die Rede und nicht mehr von einer Reihung der Elemente. Einzig die Formulierung „enthält dadurch“ verbindet die beiden und ermöglicht m.E. zwei Lesarten: Verfügen wir nur über den mathematischen Begriff des Unendlichen, wenn wir bereits den transzendentalen anwenden? In diesem Sinne würde das „dadurch“ eine gewisse logische Abhängigkeit des Ersteren vom Letzteren anzeigen. Allerdings würde das Enthaltensein dann als Resultat eines nicht endenden Prozesses interpretiert werden müssen.62 Oder ist der mathematische Unendlichkeitsbegriff bereits mit im transzendentalen Begriff der Unendlichkeit involviert? In dieser Lesart wird das „dadurch“ (zugegeben: leicht kontraintuitiv) als „deswegen“ und zwar im Sinne einer notwendigen Bedingung gedeutet. D.h. gerade weil es unendlich viele Einheiten enthält, kann es nicht vollständig durchschritten worden sein. In diesem Sinne wäre das mathematisch Unendliche für die Rede vom transzendental Unendlichen (als konstitutive Gesamtheit) bereits präsupponiert. Dieses Fragen mag vielleicht aber auch überflüssig sein. Denn in jedem Falle lässt sich sagen, dass im transzendentalen Unendlichkeitsbegriff die Unendlichkeit der Einheiten, also die mathematische Definition des Unendlichen, 60 Vgl. KrV, A32/B48. 61 KrV, A432/B460. 62 Das

ist freilich weniger problematisch, wenn es um die unendliche Teilbarkeit eines gegebenen Ganzen geht (Zweite Antithetik). Eine unendlich teilbare gegebene Ganzheit kann durchaus unendlich Einheiten enthalten, ohne, dass wir ihre unendliche Teilung vollziehen müssen.

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1 Unendlichkeit und Erfahrung – Kant mit der sukzessiven Synthesis in Verbindung gebracht wird („enthalten“ ist). Wenn nun also die Welt in Raum und Zeit gegeben sein soll, d.h. die Zeit als Reihe vorgestellt werden soll, dann ist der Begriff der Größe und im Zuge dessen der Begriff der Reihe zwangsläufig mit involviert. Aus diesem Grund sind wir auf den transzendentalen Unendlichkeitsbegriff festgelegt: Die Frage, die die Antithetik stellt, ist, ob in der Vorstellung der Welt die aufeinander folgenden Weltzustände einen Anfang haben oder nicht. Diese Vorstellung ist durch die Vorstellung der Zeitreihe gegeben. Und in Bezug auf diesen Begriff, den Begriff der Reihe, erfolgt dann die Anwendung des (transzendentalen) Unendlichkeitsbegriffes. Diesen Zusammenhang macht Satz [3] nochmals deutlich. Brigitte Falkenburg deutet ihn als „ein analytisches Argument, d.h. als Folgerung aus einem Begriff durch ein analytisches Urteil: Der ordinale [=transzendentale] Unendlichkeitsbegriff ist im Begriff einer unendlichen Zeitreihe enthalten, weil jede unendliche Reihe oder Folge ihrem Begriff nach ordinal [=transzendental] und nicht kardinal [=mathematisch] unendlich ist.“63 Wenn man sich nun vor Augen führt, dass der Widerspruch in den Antinomien daraus folgt, dass der Begriff der Welt als Gegenstand der Verstandeserkenntnis in den Bereich möglicher Erfahrung gestellt wird, dann zeigt sich, dass der mathematische Begriff von Unendlichkeit hier nicht angewandt werden darf. Denn von diesem ist keine Erfahrung möglich. Und zwar nicht, weil die Synthesis niemals aufhören würde, sondern weil er gar nicht im Bereich der Synthesis gegebener Größen gedacht wird. In diesem Sinne wird die Mathematik und ihre Behandlung des Unendlichkeitsbegriffes gar nicht berührt, was an dieser Stelle jedoch auch heißt, dass die bestimmte Art dieser Erkenntnis noch zu erklären ist. Zusammenfassung Kant unterscheidet zwischen einem transzendentalen Unendlichkeitsbegriff mit explizitem Anschauungsbezug und einem mathematischen. Da es im Beweis der These um die Vorstellung der Zeit anhand der Reihenvorstellung geht, die von den Prinzipien der Verstandeserkenntnis stammt und somit in den Bereich der Größen fällt, findet der transzendentale Unendlichkeitsbegriff Anwendung. Aus diesem Grund ist eine mathematische Auflösung im Sinne Freges oder Cantors nicht zulässig, denn sie trifft nicht den Gehalt der zu Grunde gelegten Reihenvorstellung.

1.2.2 ... eine epistemisch-ontologische Verwechslung? Eben wurde gezeigt, dass die mathematische Lösung nicht zu dem erkenntnistheoretischen Rahmen des Beweises passt. Allerdings könnte man nun den erkenntnistheore63 Falkenburg

2000, 222. Der Gebrauch dieser Begriffe ist hierbei nicht mit der Unterscheidung der Ordinalzahlen und Kardinalzahlen der Mengenlehre gleichzusetzen.

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1.2 Die Unmöglichkeit der Vorstellung einer unendlichen Reihe tischen Ausweg selbst als problematisch ansehen. Dieser Einwand ist nun Thema.

Damit Erkenntnis als Erfahrung von einer unendlichen Reihe vergangener Weltzustände möglich ist, muss diese durchlaufen werden. Dass dieses Durchlaufen im Falle des Unendlichen für uns jedoch unmöglich ist und dahingehend eine Erkenntnis desselben ebenso, darin sind sich Kant und seine Kritiker einig. Unverständnis wird Kant nun entgegengebracht, wenn aufgrund dessen geschlossen wird, dass die Vorstellung einer unendlichen Vergangenheit inkonsistent ist und es sie daher auch nicht geben kann. Eine viel zitierte Bemerkung Kemp Smiths lautet hierzu: „From a subjective impossibility of apprehension he infers an objective impossibility of existence“.64 Nur weil es für einen endlichen Verstand nicht möglich sein soll, eine unendliche Reihe sukzessiv zu durchschreiten, heißt das noch nicht, dass es sie nicht geben könnte (und es für einen unendlichen Verstand nicht doch möglich wäre65 – ganz besonders dann, wenn er auch unendlich Zeit dafür hat66 .) Nur weil wir Menschen beispielsweise nicht 360◦ Rundumsicht haben und deswegen unsere Umgebung nicht als ein Ganzes erfassen können, heißt das nicht, dass es 360◦ um uns herum keine Dinge gibt. In diesem Abschnitt soll gezeigt werden, dass dieser Einwand entweder verfehlt oder sinnlos ist, denn er obliegt einer Ambiguität im Begriff der Erfahrung. Diese Ambiguität soll mithilfe von sprachphilosophischen Mitteln aufgelöst werden. Hierbei werden zwei Auffassungen von ‚endlich‘ unterschieden, von denen eine die Verbindung von Erkennbarkeit und Existenz plausibel werden lässt. Es ist bereits erwähnt worden, dass die Antinomie maßgeblich durch den Bezug auf unser Erkenntnisvermögen zustande kommt. Diese Beobachtung macht auch Jonathan Bennett: „[W]hat creates the problem in the first place, by making infinities look troublesome, is the mildly phenomenalistic view that any statement about an infinity involves some thought of an infinite ’synthesis’ or enumeration.“67 Gegen dieses Vorgehen, die Existenz einer unendlichen Reihe an die Möglichkeit ihrer sukzessiven Synthesis zu binden, wendet Bennett nun ein: „Someone who allowed no connection between what there is and what one in principle could discover would not have the problem in the first place.“68 Interessant ist nun, dass Bennett im ersten Zitat das Wort „statement“ gebraucht, während im zweiten die Formulierung „in principle could discover“ steht. 64 Smith 2003, S. 485. 65 Vgl.

ebd., S. 485 und Guyer 1987, S. 407. Für eine Diskussion siehe Allison 2004, S. 367–372 und Grier 2004, S. 184–189. 66 Dieser zusätzliche Punkt findet sich noch in Russell 1999, 160f und Kreis 2015, S. 82 67 Bennett 1974, S. 124. 68 Ebd., S. 125.

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1 Unendlichkeit und Erfahrung – Kant Damit wird implizit eine Verbindung zwischen den Gegenständen unserer Erfahrung, also demjenigen, dem eine suzkessive Synthesis zugrunde liegt, und dem Bereich dessen angenommen, worüber sinnvolle Aussagen gemacht werden können. Eine Aussage gelte als sinnvoll, wenn sie wahrheitsfunktional ist, d.h. wenn sie etwas behauptet, das der Fall sein kann; wobei der einfachste Fall hier der empirisch beobachtbare Sachverhalt ist. Da Verstandeserkenntnisse im Kant’schen Sinne sich auf den Bereich der Erfahrung beziehen, können wir festhalten: Über Gegenstände des Verstandes (=Erfahrungsgegenstände) können sinnvolle Aussagen getroffen werden, über alles dasjenige, was nicht Gegenstand der Verstandeserkenntnis ist (und damit keinerlei Bezug zu den Sinnen hat), kann zumindest nicht auf dieselbe Art eine Aussage getroffen werden (was auch immer das an dieser Stelle heißen mag). Und dasjenige, worüber keine sinnvollen Aussagen getroffen werden können, hat zumindest auch einen problematischen ontologischen Status. Die Annahme des Zusammenhangs zwischen Erkenntnisvermögen und Ontologie erfolgt bei Kant ohne sprachphilosophische Parallele. Diese Verbindung erscheint jedoch um einiges plausibler, wenn man sie im Lichte bedeutungstheoretischer Überlegungen betrachtet.

Bennetts Formulierung „could discover“ lässt nun zwei Lesarten und damit auch zwei mögliche Interpretationen des Beweises der These zu. Und nur in einem Sinne ist es plausibel, die Verbindung zwischen prinzipieller Erkennbarkeit und Existenz zu kappen. Die Unterscheidung, um die es geht, ist die zwischen „erfahrbar/entdeckbar“ und „prinzipiell erkennbar“. Sie kann als synonym für zwei Redeweisen von „endlich“ gesehen werden, deren Unterscheidung aber oft nicht beachtet wird. Interessanterweise war dies auch in der Debatte über die Grundlagen der Mathematik zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Fall. Ein prominentes Beispiel hierfür finden wir in David Hilberts epistemischer Rechtfertigung seines metamathematischen Programms. Die Idee hinter diesem Programm besteht darin, Mathematik als ein System von Axiomen anzusehen, welche u.a. auch einen unendlichen (idealen) Gegenstandsbereich einfangen, der in Ergänzung zu einem erfahrbaren (realen) Gegenstandsbereich eingeführt wird. Die Vorsilbe Meta- kommt nun daher, dass von diesem Axiomensystem selbst bewiesen wird, dass sich keine Widersprüche aus ihm ableiten lassen, wodurch die Erweiterung des realen zum idealen Gegenstandsbereich legitimiert wird.69 Da es Hilbert hierbei darum geht, ein sicheres Fundament für den mathematischen Umgang mit unendlichen Mengen zu schaffen, ist die Frage, inwiefern Erkenntnis des Unendlichen von unserer endlichen Sinnlichkeit aus möglich ist, für ihn ebenfalls zentral. Es bietet sich 69 Vgl. z.B. Kleene 1952, S. 53–59.

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1.2 Die Unmöglichkeit der Vorstellung einer unendlichen Reihe also an, die gewünschte Differenzierung anhand seiner epistemologischen Überlegungen vorzunehmen. Die Unterscheidung beider Sinne von Endlichkeit erfolgt nun zwar am Beispiel der Zahlen, diese sind allerdings nach Hilbert in einer Reihe oder Kette von Strichen erkenntnistheoretisch fundiert – und damit ein Beispiel derjenigen (Reihen)Vorstellung, um die es Kant auch geht. Es gibt nun zum einen ein Verständnis davon, was jemand prinzipiell erfahren oder entdecken kann, das durch bestimmte natürliche Gegebenheiten festgelegt wird. Diese sind z.B das Alter oder die Größe des Gesichtsfeldes, innerhalb dessen sich die zu zählenden Gegenstände befinden. Man kann dies die psychologisch-physiologischen oder kurz: medizinischen Faktoren nennen. Im Ausgangspunkt von genau derartigen Gegenständen sieht Hilbert nun die epistemologische Grundlage seines metamathematischen Programms. Er nennt dies die „finite Einstellung“.70 Soll das logische Schließen sicher sein, so müssen sich diese Objekte vollkommen in allen Teilen überblicken lassen und ihre Aufweisung, ihre Unterscheidung, ihr Aufeinanderfolgen oder Nebeneinandergereihtsein ist mit den Objekten zugleich unmittelbar anschaulich gegeben [...]. Und insbesondere in der Mathematik sind Gegenstand unserer Betrachtung die konkreten Zeichen selbst, deren Gestalt unserer Einstellung zufolge unmittelbar deutlich und wiedererkennbar ist.71

Die Rede ist hier von Zahlen, die bspw. als Folgen von Strichen (||| = 3, etc.) übersichtlich bzw. überblickbar dargestellt werden. In Bezug auf diese Überblickbarkeit, zu der m.E auch ein zeitlich ausgedehnter Zählprozess gehört, mag es durchaus möglich sein, eine größtmögliche Zahl anzugeben, über die hinaus niemand zählend weitere Zahlen erreichen kann. Welche Zahl genau das ist, spielt hierbei keine Rolle. Sie ist durch die Endlichkeit des Lebens und eine Grenze, wie schnell jemand zählen kann, limitiert. 10

1010

Und wenn es nicht 1010 ist, so ist es eben 1010 . Alle weiteren Zahlen würden dann darüber hinaus bereits in den Bereich des nicht Erfahrbaren gehören. Dies ist eine mögliche Lesart der Verbindung, und zwar hier zwischen prinzipieller Erfahrbarkeit/Entdeckbarkeit und ontologischer Festlegung. Hier wird die Rede einer Synthesis im Sinne des empirischen Subjektes gedacht, dass jede einzelne Zahl zählt oder, mit den Worten Hilberts, einzelne Strichketten zeichnet und manipuliert. In diesem Falle wäre es durchaus plausibel zu sagen, dass es etwas gibt, das ich in meinem Leben in diesem Sinne prinzipiell nicht erfahren/entdecken kann. Dass eine derartige Restriktion der Gegenstände der Mathematik diese selbst dermaßen radikal einschränken würde, muss Hilbert in gewisser Weise bewusst gewesen 70 Hilbert 1925, S.171. 71 Ebd., S.171.

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1 Unendlichkeit und Erfahrung – Kant sein, denn er geht in der Rede davon, was „Gegenstand unserer Betrachtung ist“72 über diesen Bereich hinaus.73 Sobald nämlich ein Beweis mit allgemeiner Gültigkeit geführt werden soll, ist es unabdingbar, Variablen für beliebige Strichketten einzuführen. Also statt |||| + | zu schreiben a + |, wobei a für beliebig viele Striche stehen kann. Damit drückt ein Ausdruck wie a + | (symbolisch) eine Form der Allgemeinheit aus. Aber dieser Ausdruck von Allgemeinheit bezieht nun Zahlen/Strichketten mit ein, die über 10 den Bereich der finiten Einstellung hinausgehen. a könnte eben auch für 1010 stehen. Dies ist unweigerlich dann der Fall, wenn etwas rekursiv definiert, wie die natürlichen Zahlen mittels der Nachfolgerfunktion, oder etwas durch Induktion bewiesen wird. Das heißt nun wiederum nicht, dass die finite Einstellung hier gänzlich verlassen wird – ihr Gegenstandsbereich erfährt nur eine subtile Transformation. Zwar sind die Strichketten, über die durch Induktion etwas ausgesagt wird, nicht mehr gemäß der finiten Einstellung erkennbar, aber das Verfahren der Induktion ist in einer übersichtlichen Anzahl von Schritten durchführbar– denn sonst könnten wir ihn nicht verstehen. Es gibt hier also zwei Konzeptionen von Endlichkeit, die laut Sören Stenlund von Hilbert zusammengeworfen wurden und auf diese Weise über Tarski und Carnap auch in der analytischen Philosophie Einfluss gewonnen haben:74 Die medizinische Endlichkeit und die Endlichkeit, die durch die Allgemeinheit der verwendeten Symbole ausgedrückt wird. Beide Auffassungen lassen jedoch keine Aussagen über einen unendlichen Gegenstandsbereich als Ganzes zu. Durch die symbolische Verwendung von Zeichen wird zwar der psychologisch-physiologische Bereich verlassen, aber gleichzeitig deren Bestimmungen mit aufrechterhalten. Denn jede einzelne Erweiterung einer Strichkette ist eine endliche Operation, die gemäß der finiten Einstellung in übersichtlicher Weise dargestellt werden kann. Sie liefert immer nur eine einzelne (beliebig lange) Strichkette. Inwiefern hilft diese Unterscheidung nun im Verständnis von Kants Argumentation? Bezogen auf Kant und die Vorstellung der Zeitreihe entspricht der medizinischen Endlichkeit die empirische Synthesis und der symbolischen Allgemeinheit die dieser zugrunde liegenden strukturellen Eigenschaft unseres Erkenntnisvermögens. Jede Reihe, die wir uns vorstellen, stellen wir uns prinzipiell bedingt – und das heißt über die Grenzen dieser Bedingung heraus erweiterbar – vor. In diesem Sinne (für den das englische „discoverable“ nicht mehr ganz treffend zu sein scheint) muss die Rede von „erkennbar“ – und dementsprechend eine „sukzessive Synthesis“ einschließend – verstanden werden. Etwas ist prinzipiell erkennbar, wenn es den Strukturen unseres Erkenntnisvermögens entspricht, d.h. wenn die diesem entsprechenden Operationen (setzte 72 Hilbert 1925, S.171. 73 Vgl. Stenlund 2012. 74 Vgl. ebd., 352f.

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1.2 Die Unmöglichkeit der Vorstellung einer unendlichen Reihe ein weiteres Glied/Strich) ohne psychologisch-physiologisches Limit ausgeführt werden können. Kant geht es in der Rede der Unmöglichkeit einer abgeschlossenen unendlichen Synthesis also nicht darum, dass wir im Vollziehen einer Tätigkeit wie dem Zählen bestimmten empirischen Gesetzen unterliegen, die dazu führen, dass dieser Tätigkeit ein Maximum gegeben ist. Es geht ihm um die strukturellen (konzeptionellen) Eigenschaften, welche aufgrund dessen, wie wir erkennen, jedem Gegenstand unserer Erkenntnis gegeben sein müssen.75 Mit den uns gegeben Mitteln können wir nur Erkenntnisse über einzelne Strichketten gewinnen, und zu jeder Strichkette, die wir auf diese Weise erkennen können, gibt es eine längere, die wir ebenfalls erkennen können. Aus diesem Grunde funktioniert es nicht, bei Strafe des Widerspruchs, die Ganzheit dieser Strichketten (gegeben als die unendliche Strichkette) als Strichkette als prinzipiellen Erkenntnisgegenstand aufzufassen.

Dieser Punkt mag noch etwas deutlicher werden, wenn die Rede von einer prinzipiellen Erkennbarkeit auf die Möglichkeit sinnvoller Aussagen bezogen wird. Es ist möglich, Aussagen über eine Reihe oder eine Zahl zu treffen, die kein Mensch zählend durchschreiten kann. Hierzu dient der endliche Symbolismus in Form von rekursiven Definitionen und Induktionsbeweisen. Mit dem Induktionsbeweis gibt es ein Verfahren, das die Methodik der Verifikation analog zur strukturellen Erweiterung unseres Erkenntnisvermögens fortführt. Durch einen Induktionsbeweis kann man – in Hilberts Sinne – eine wahre Aussage über eine jede Strichkette machen. Aber ist es möglich, eine sinnvolle Aussage über eine unendliche Reihe als Ganzes, wie z.B. die komplette Dezimalentwicklung von π, zu treffen? Um eine unendliche Strichkette oder Reihe zu bezeichnen, kann man keine Variable verwenden, denn diese bezeichnet eine endliche Strichkette. Zur Bestimmung einer unendlichen Strichkette kann man bei keiner endlichen Strichkette stehen bleiben; man kann nicht aufhören Striche anzufügen. In dieser zusätzlichen Bestimmung des Nicht-Aufhörens entsteht nun allerdings ein Widerspruch zur genuinen Bedeutung des Reihenbegriffs, welche sich anhand des Begriffs des Prozesses wohlmöglich noch deutlicher darlegen lässt. Ein Verfahren oder ein Prozess zum durchschreiten einer Reihe, der nicht aufhört, ist kein Prozess. In diesem Sinne erscheint folgende Bemerkung Wittgensteins geradezu als Reformulierung von Kants Beweis: Stellen wir uns einen Mann vor, der seit unendlicher Zeit lebt und der uns sagt: ‹Jetzt schreibe ich die letzte Ziffer von π hin, nämlich die 2›. Er hat an jedem Tag 75 Vgl. hierzu auch Allison 2004, S. 370, der denselben Punkt mithilfe der Unterscheidung zwischen totum

syntheticum und totum analyticum aus Kants unveröffentlichten Schriften macht.

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1 Unendlichkeit und Erfahrung – Kant seines Lebens eine Ziffer hingeschrieben und hat niemals damit angefangen; jetzt ist er fertig geworden. Das scheint völliger Unsinn und eine ad-absurdum-Führung des Begriffes einer unendlichen Totalität.76

Adrian Moore rezipiert diese Stelle nun in folgenden Worten, welche dem Wortlaut nach auch von anderen Rezipienten übernommen wird:77 Wittgenstein in a lecture once asked his audience to imagine coming across a man who is saying, ‘...5, 1, 4, 1, 3–finished!’, and, when asked what he has been doing, replies that he has just finished reciting the complete decimal expansion of p backwards–something that he has been doing at a steady rate for all of past eternity78

Entgegen der 2 im Originalzitat stehen hier in umgekehrter Reihenfolge die ersten Ziffern von π. Das ist besser als im Original, denn dort wurde die Vorstellung einer unendlich weit entfernten letzten Ziffer von π suggeriert (π = 3, 1415...2). Diese wurde bereits mit Bennett und auch im Sinne Kants zurückgewiesen.79 Allerdings lässt Moore die m.E. wichtigste Formulierung außen vor, nämlich den Widerspruch zwischen „hat niemals angefangen“ und ist „fertig geworden“. Diesen Widerspruch mag auch derjenige als solchen akzeptieren, der eine unendliche Reihe für möglich hält. (Entgegen der Kantischen Formulierung, nach der die Welt keinen Anfang hat, geht es hier nämlich um eine konkrete menschliche Praxis.) Allerdings kann man den Begriff der unendlichen Reihe gerade dafür benutzen, diesen Widerspruch herzuleiten. Hierfür geht man aus von einem unendlichen Prozess in die Zukunft, der anfängt, aber nicht aufhört. Diesen Prozess bildet man nun auf die Vergangenheit ab. Hierbei wird von der unendlichen Reihe, woran sich dieser Prozess abarbeitet, Gebrauch gemacht. So ergibt sich die Aussage „Der unendliche Prozess hat keinen Anfang in der Zeit“.80 Im Begriff des Prozesses liegt aber bereits, dass er einen Anfang hat. Jeder Prozess (der beendet wird,) muss einen Anfang gehabt haben. Also hat der unendliche Prozess als Prozess einen Anfang und als unendlicher keinen Anfang bzw. er ist fertig geworden und nicht fertig geworden (weil er nicht angefangen hat). 76 PB, §145. 77 So z.B. Dawson 2016, S. 319. 78 Moore 2001, S. 44. 79 Wie Bennett richtig betont, bedeutet eine unendliche Reihe keineswegs, dass zwei Glieder derselben auch

unendlich weit voneinander entfernt sind. dieses Vorgehen ist Kant ebenfalls kritisiert worden. Vgl. Bennett 1974, 123f. Allerdings ist mir nicht klar, wie man die Vorstellung einer unendlichen Vergangenheit anders gewinnen könnte, als am Modell der Zukunft.

80 Für

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1.2 Die Unmöglichkeit der Vorstellung einer unendlichen Reihe Der Prozess ohne Anfang gilt somit als äquivalent zu dem Begriff einer unendlichen Reihe. Der Widerspruch entsteht hier, indem der Begriff des Unendlichen in Bezug auf die alltagssprachliche (oder intuitive) Bedeutung des Wortes „Prozess“ gebraucht wird. In der Alltagssprache oder im normalen Gebrauch des Wortes ist die Bedeutung des Wortes ‚Ende‘ durch den Zusammenhang zu ‚Anfang‘ gegeben. Und jede Aussage, die vom Ende eines Prozesses handelt, gewinnt auch ihre Bedeutung erst durch diesen Zusammenhang. Dies ist die Parallele zu unserem Erkenntnisvermögen: Gilt das Unendliche als Totalität oder als Gegenstand, dann treffen auch die auf (endliche) Gegenstände zutreffenden Prädikate bzw. (nicht psychologischen) Bedingungen prinzipieller Erkennbarkeit zu – und erzeugen einen Widerspruch. Und im Hinblick dessen stellt sich ebenfalls die Frage, wie sich eine positive ontologische Aussage über eine derartige Gesamtheit formulieren lässt. In diesem Sinne können Wittgensteins Bemerkungen als sprachphilosophische Erläuterungen von Kants sogenanntem analytischen Argumentationsschritt [3] verstanden werden.81 Zusammenfassung Im Rahmen der Verstandeserkenntnis ist zwischen der medizinischen Endlichkeit unserer Erfahrung und einer systematischen Erweiterung derselben mittels symbolischer Konstruktion zu unterscheiden. Über den Bereich letzterer hinaus sind keine sinnvollen Aussagen mehr möglich. Das schließt ontologische Behauptungen über die Existenz der Welt als unendliche Reihe mit ein.

81 Um noch eine Bemerkung technischer Natur anzufügen: Der Widerspruch der vollendeten unendlichen

Reihe aus Kants Beweis ist ein Widerspruch, der sich an einem Begriff zeigt, indem zunächst analytisch eines seiner Merkmale expliziert wird (z.B. vollendet) und dem dann in synthetischer Manier ein weiteres Merkmal (unendlich) angefügt wird. Der Widerspruch, den wir in Wittgensteins Bemerkung finden, ist, der modernen Logik gemäß, ein Widerspruch zwischen zwei Sätzen. So gesehen dient der sprachphilosophische Weg an dieser Stelle auch dazu, Kants Beweis in einem modernen Rahmen zu reformulieren.

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1 Unendlichkeit und Erfahrung – Kant

1.3 Konsequenzen für die Erkenntnis des Unendlichen. Während der letzte Abschnitt versuchte, eine affirmative Lesart des Beweises zu liefern, gilt es nun, die Konsequenzen aus diesem Ergebnis zu ziehen und auf die reformulierte Bedeutung des Begriffs der Welt und dessen Anwendung einzugehen. Anschließend stellt sich abermals die Frage, in welchem Sinne doch Erkenntnis des Unendlichen möglich bzw. ein Wissen desselben geradezu vorausgesetzt ist.

Da in dem Vorhergehenden nicht die gesamte erste Antithetik angeschaut, sondern nur der Begriff des Unendlichen (und korrespondierende Begriff des Endlichen) extrahiert wurde, ist es auch nur begrenzt gewinnbringend, auf die Auflösung der Antinomie einzugehen. Genau genommen könnte mit den Ergebnissen dieses Abschnittes der Satz „Wenn die Welt existiert (bzw. eine Größe hat) dann ist diese endlich“ bewiesen werden. Denn, wie gezeigt wurde, ist die Vorstellung einer unendlichen Reihe nicht möglich, weswegen auch keine sinnvollen Aussagen über sie getroffen werden können. Der Beweis der Antithese schließt nun aus, dass die Welt endlich sein kann, da der Begriff eines Anfangs einer (unbedingten) Reihe ebenfalls inkonsistent ist.82 Damit wäre dann gezeigt, dass die Annahme der Existenz der Welt zu einem Widerspruch führt. Konsequenz ist, dass die Welt nicht existieren kann oder, äquivalent, dass die Welt keine Größe ist. Es ist an dieser Stelle hilfreich, sich Brigitte Falkenburgs Analyse der drei Aspekte der Antinomie vom Beginn des vorigen Abschnittes nochmals in Erinnerung zu rufen. Der Widerspruch entsteht auf Basis unseres Erkenntnisvermögens bzw. der Bedeutung des Wortes „Prozess“; dies ist der epistemische Aspekt. Der semantische Aspekt besteht darin, den Begriff der Welt als Idee der Vernunft und gleichzeitig als ebenjenen Gegenstand der Verstandeserkenntnis aufzufassen und der logische Aspekt darin, aufgrund dessen einen Schluss zu tätigen. Wenn semantischer und logischer Aspekt zusammengreifen und so auf Basis unseres Erkenntnisvermögens den Widerspruch zu erzeugen, dann gilt es, diese Äquivokation aufzulösen.83 Genauer besagt dies, dass der Begriff des Unbedingten, wie er in der Idee gedacht wird, überhaupt nicht auf den Begriff der Reihe angewandt werden darf. Die Synthesis des Bedingten mit seiner Bedingung und die ganze Reihe der letz82 Vgl. KrV, A528/B556. 83 Vgl. KrV, A499/B528.

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1.3 Konsequenzen für die Erkenntnis des Unendlichen. teren (im Obersatze) führte gar nichts von Einschränkung durch die Zeit und keinen Begriff der Sukzession bei sich. Dagegen ist die empirische Synthesis und die Reihe der Bedingungen in der Erscheinung (die im Untersatze subsumiert wird,) notwendig sukzessiv und nur in der Zeit nach einander gegeben.84

Aus diesem Grund darf der Begriff des Unbedingten und, damit inbegriffen, der einer unendlichen Totalität gar nicht als Verstandeserkenntnis angesehen werden. Allerdings darf an dieser Stelle genauso wenig das Ergebnis des ersten Abschnitts dieses Kapitels vergessen werden. Die Verortung des Weltbegriffes im System der KrV hat ebenso gezeigt, dass dieser eine notwendige Funktion in unserem Erkenntnisvermögen ausübt. Als Idee der Vernunft hat er nämlich nach wie vor die Einheit des Verstandesgebrauchs zur Aufgabe, welche in dem (systematischen) Gesamtzusammenhang der einzelnen Verstandeserkenntnisse besteht. Dieser wiederum wird durch den Weltbegriff vorgestellt, indem dieser die Gesamtheit aller Bedingungen, unter denen die einzelnen Verstandeserkenntnisse stehen, in Form der Gesamtheit aller Erscheinungen enthält. In diesem Zusammenhang erfüllte dann auch der Begriff des Unendlichen, der für die Vorstellung der Welt zentral ist, eine erkenntnistheoretische Funktion. Nun stellt sich aber im Hinblick auf die Ergebnisse des vorherigen Abschnitts die Frage, was denn Welt und Unendlichkeit sind, sofern sie nicht Gegenstand unserer Verstandeserkenntnisse sein können? Wie haben wir mit diesen Begriffen umzugehen? Laut Kant sind sie nicht direkt Objekte unserer Erkenntnis, sondern sie fungieren als „regulatives Prinzip“85 für die systematische Entwicklung und Erweiterung unserer Erkenntnisse. Das bedeutet: Die Vernunftidee wird also nur der regressiven Synthesis in der Reihe der Bedingungen eine Regel vorschreiben, nach welcher sie vom Bedingten, vermittels aller einander untergeordneten Bedingungen, zum Unbedingten fortgeht, obgleich dieses niemals erreicht wird. Denn das Schlechhinunbedingte wird in der Erfahrung niemals angetroffen.86

Dass das „Schlechthinunbedingte“ niemals in der Erfahrung angetroffen wird, involviert auch, dass keine Erfahrungserkenntnis des Unendlichen möglich ist – jeder beliebige Erfahungsbereich, jede Reihe von Zuständen oder Strichen ist notwendigerweise endlich. In diesem Sinne können wir keine sinnvollen Aussagen über eine unendliche Größe machen, wohl aber über jede beliebige (endliche) Größe. Der Begriff der Welt, sofern er nicht im Bereich der Verstandeserkenntnis gedacht wird, setzt auch nicht 84 KrV, A500/B528. 85 KrV, A509/B537. 86 KrV, A510/B538.

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1 Unendlichkeit und Erfahrung – Kant mehr eine derartige unendliche Größe als ihr Objekt. Seine Konzeption schickt uns lediglich an, zu jedem Bedingten in der Erfahrung nach dessen Bedingung zu suchen und leitet somit den Verstandesgebrauch auf die systematische Einheit aller Verstandeserkenntnisse hin, ohne die Gesamtheit derselben selbst als Gegenstand zu betrachten. Der Regress des Schreitens von Bedingung zu Bedingung ist also weder endlich, noch bildet er eine unendliche Reihe, denn beides wäre falsch. Er geht schlicht „in unbestimmte Weite (in indefinitum)“87 und man könnte sagen er ist, ohne damit in seiner Gänze gegeben zu sein, bloß durch das Fehlen einer Schranke bestimmt. Was bedeuted diese Auflösung im Begriff des Indefiniten nun für den Begriff des Unendlichen? Zur Beantwortung dieser Frage ist es hilfreich, einen sehr reizvollen Einwand von Guido Kreis zu diskutieren. Kreis beschreibt ein Problem, das sich am klarsten in der Betrachtung der Möglichkeit sinnvoller Aussagen stellt: Wenn mit den Formulierungen des vorherigen Absatzes etwas Sinnvolles behauptet werden soll, dann muss erklärt werden, wie sie in Anbetracht dessen, was sie behaupten, formulierbar sind.88 Wenn gesagt wird, dass das Schlechhinunbedingte niemals in der Erfahrung angetroffen wird, dass jede Größe endlich ist, und dass kein Glied der Reihe der Bedingungen eine Schranke darstellt, wird dann nicht durch die Partikel „niemals“, „jede“, und „kein“ auf die Gesamtheit aller Verstandeserkenntnisse Bezug genommen? Ruft man sich die Metapher der unendlichen Schienen, mit der die unendliche Zeit charakterisiert wurde, ins Gedächtnis, erscheint für die Möglichkeit der Fahrt des Zuges das Vorhandensein derselben bis ins Unendliche eine Voraussetzung zu sein. Analog wäre also in der Behauptung, dass eine Reihe sich unbegrenzt fortsetzen lasse, bereits ein unendlicher Bereich als Möglichkeit des Fortsetzens in Anspruch genommen. Derselbe Punkt lässt sich auch erkenntnistheoretisch fassen: Wie können wir wissen, dass das Hinzusetzen von Gliedern immer möglich ist, wenn wir nicht wissen können, wie groß die Reihe werden kann? Führt all das aber nicht dazu, dass – entgegen der Ergebnisse des vorherigen Abschnittes – nicht doch eine unendliche Reihe als ebenjener Bereich des Fortsetzens postuliert wird? Zum Umgang mit diesem Einwand gibt es nun zwei Möglichkeiten. Zum einen kann man tatsächlich eine grundlegende Gesamtheit als Bedeutungsträger derartiger allgemeiner Aussagen annehmen. Diese Gesamtheit fungiert dann quasi als uneigentlicher Definitionsbereich des Quantors „jede“ in „jede Reihe“ bzw. „jede Größe“, sie kann jedoch selbst nicht wieder auf konsistente Weise in den Zusammenhang unserer Erkenntnisse gestellt werden. Damit hätten wir aber ein genuin widersprüchliches Ergebnis. Eine unendliche Totalität müsste zwecks theoretischer Formulierung allgemeiner 87 KrV. 88 Vgl. Kreis 2015, S. 144-147 und insbesondere S. 389.

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1.3 Konsequenzen für die Erkenntnis des Unendlichen. Erkenntnisse (wie z.B. dass kein Gegenstand der Verstandeserkenntnis als unbedingt vorgestellt werden kann) gedacht werden, sie ist aber für uns schlicht nicht konsistent denkbar. Ein Beispiel hierfür wäre die unendliche Zeit, die als konstitutive Gesamtheit jeder Zeitvorstellung zwar ebenfalls als Zeitreihe vorgestellt, aber aufgrund ihrer Unbedingtheit gerade nicht Gegenstand der Vorstellung sein kann. Die unendlichen Schienen müssen freilich bereits da sein, damit wir entlang derselben von Bedingung zu Bedingung zurückgehen können; aber ihr Vorhandensein zu behaupten setzt bereits voraus, dass wir an ihnen entlang gefahren sind. Das führt jedoch zu dem Problem, dass selbst der indefinite Regress der Bedingungen, der doch gerade eine Alternative zur Vorstellung einer unendlichen Reihe darstellen sollte, deren Vorstellung nun doch voraussetzt – und daher nicht konsistent zu denken ist.

Ich möchte hierzu mit Wittgenstein eine Alternative anbieten, die durchaus im Sinne Kants und mit Entsprechungen zu dessen transzendentaler Ästhetik zu verstehen ist und die ohne die widersprüchliche Vorstellung des Unendlichen, wie sie in der ersten Antithetik aufgezeigt wurde, auskommt. Darin lässt sie auch die Unmöglichkeit der Vorstellung des Unendlichen in einem ganz anderen Licht erscheinen. Hierfür wird nochmals bei den beiden Auffassungen von Endlichkeit angesetzt, die vorhin getrennt wurden, und versucht, sie zwecks näherer Bestimmung wieder aufeinander zu beziehen. Betrachten wir zunächst den Fall von Hilberts Strichketten. Auf Basis der medizinischen Endlichkeit lassen sich mittels symbolischer Allgemeinheit sinnvolle Aussagen über beliebige endliche Strichketten generieren, selbst wenn ihre Länge unsere Erfahrungsspanne übersteigt. Außerdem wurde festgestellt, dass es – bei Strafe des Widerspruchs – sinnlos ist, die Gesamtheit dieser endlichen Strichketten selbst als Strichkette zu behandeln (d.h. Aussagen über diese Gesamtheit als Objekt zu treffen). Doch trotz dieser Einschränkung liegt in der symbolischen Darstellung die nötige Allgemeinheit, die zur Bildung von Sätzen der Form „Für jedes beliebige X gilt Y “ erforderlich ist. Schaut man sich nun ferner den Beweis eines derartigen Satzes an, so stellt man ebenfalls fest, dass dort dieselben Operationen angewandt werden, die in der Erfahrung der finiten Einstellung gemäß durchgeführt werden. Ein jeder Beweis hat übersichtlich viele Schritte, schafft es aber dennoch, die für obige Aussage nötige Allgemeinheit auszudrücken. Das gelingt, da die in den Beweisen verwendenten Operationen als prinzipiell unbegrenzt wiederholbar verstanden werden. Das heißt aber auch, dass das Unendliche bereits im endlichen Bereich der finiten Einstellung, in dem diese Operationen durchgeführt werden, gegeben sein muss – und zwar nicht als etwas, das mehr als dieses Endliche ist, sondern anhand oder mittels des Endlichen.

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1 Unendlichkeit und Erfahrung – Kant Lässt sich etwas Vergleichbares auch in Bezug auf die Reihe der Bedingungen sagen, in denen eine jede Verstandeserkenntnis steht? Wittgenstein liefert hierzu folgende Bemerkung89 Die Erfahrung als Erleben der Tatsachen gibt mir das Endliche; die Gegenstände enthalten das Unendliche. Natürlich nicht als eine mit der endlichen Erfahrung konkurrierende Größe, sondern intentional.90

Inwiefern enthalten die Gegenstände nun das Unendliche? Ich möchte vorschlagen, das intentionale Enthaltensein analog zur prinzipiellen Wiederholbarkeit einer Operation zu verstehen, zum Beispiel im Falle der Vorstellung der Zeitreihe als Hinzusetzbarkeit eines weiteren Reihenglieds. Diese Hinzusetzbarkeit ist uns in jeder Reihenvorstellung gegeben, sie ist nämlich dasjenige Moment, das ihre (raum-zeitliche) Bedingtheit charakterisiert. Und dieser Zusammenhang gilt freilich nicht nur für die Reihenvorstellung, sondern für alle Erfahrungsgegenstände. (Analog könnte man sagen, dass jeder Erfahrungsgegenstand, da er in Raum und Zeit vorgestellt wird, auch eine Vorstellung der Zeitreihe inklusive deren prinzipieller Verlängerbarkeit mit enthält.) Die Krux ist also, das Unendliche nicht als etwas unendlich Großes zu denken, denn dann stünde es in Konkurrenz zum Endlichen. Das Unendliche kann nur mit dem Endlichen konkurrieren, wenn es derselben logischen Kategorie angehört, d.h. wenn es als Größe begriffen wird. Das führt aber, wie die erste Antithetik gezeigt hat, zu Widersprüchen. Vielmehr kann das Unendliche daher als ein transzendentales Prinzip einer jeden Größenbestimmung angesehen werden, welches besagt: Zu jeder Reihenvorstellung, sei es eine Kette von Strichen, oder sei sie in der Erfahrung eines einfachen Gegenstandes gegeben, lässt sich immer ein zusätzliches Glied anfügen. Und weil diese Hinzufügbarkeit die Bedingungen der Möglichkeit derselben betrifft, ist sie bereits in der Vorstellung einer jeden Reihe gegeben – und das heißt in jedem noch so kleinen Reihenstück. Das aber wiederum ist nichts anderes, als eine Form der Bedingtheit, mit der jede Verstandeserkenntnis vorgestellt wird. Dieser Gedanke findet sich ebenfalls bei Wittgenstein, zugespitzt auf die Vorstellung von Gegenständen in Raum und Zeit: Denn was ich sehe, präsuponiert die Möglichkeit eines Sehens in größere Entfernung. D.h., ich könnte, was ich sehe, korrekt nur durch eine unendliche Form darstellen. Aber das alles heißt schon, daß die Zeit nicht im Sinne der primitiven Auffassung der unendlichen Menge unendlich ist.91 89 Auf

den engen Zusammenhang der nun folgenden Bemerkungen Wittgensteins zur Antinomie Kants wurde bereits von Moore 1992 hingewiesen und die folgenden Überlegungen können auch als Weiterführung dieser Deutung verstanden werden. 90 PB, §138. 91 PB, §140.

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1.3 Konsequenzen für die Erkenntnis des Unendlichen. Mit „primitiver Auffassung der unendlichen Menge“ ist vermutlich Cantors Definitionsversuch einer Menge als „Zusammenfassung M von bestimmten wohlunterschiedenen Objekten m unserer Anschauung oder unseres Denkens zu einem Ganzen“92 gemeint. Man könnte hier auch genau so gut die Vorstellung einer unendlichen Zeitreihe, wie sei in der ersten Antithetik diskutiert wurde, einfügen. Dieser Auffassung von Unendlichkeit als einer Menge von Gegenständen bzw. geordneten Zeitpunkten entspricht nicht die Unendlichkeit, wie sie uns in der Vorstellung der (endlichen) Zeitreihe gegeben ist. Stattdessen ist von einer unendlichen Form die Rede. An anderer Stelle schreibt Wittgenstein prägnant: „Die Unendlichkeit ist eine innere Qualität der Zeitform“.93 Unendlichkeit ist die Qualität einer Form, sie ist die Art und Weise, wie uns die Zeit (als Reihe) gegeben ist. Man könnte auch sagen: Unendlichkeit ist die Qualität der Quantität.

Diese Rede von der unendlichen Form hat ihre Entsprechung in der Bestimmung von Raum und Zeit als Formen der Anschauung in der transzendentalen Ästhethik. Die unendliche Zeit als Form der Anschauung ist genau dies: Form und kein vorausgesetzter Bereich, wie Kants Formulierung es nahelegt. Denn wenn eine kleine Reihe nur als Einschränkung der unendlichen da ist, dann liegt bereits in dieser kleinen das Unendliche – und die Rede von einer „Einschränkung“ ist bereits irreführend. Insofern nun ein Gegenstand der Erfahrung gegeben ist, und damit auch raum-zeitlich vorgestellt wird, kann man also sagen, dass mit ihm auch die unendliche Zeit als dessen Form angeschaut wird. Damit ist nun nicht gesagt, dass die unendliche Zeitreihe selbst Gegenstand unserer Verstandeserkenntnis ist – sie wird als Form schlicht angeschaut und damit nicht selbst wieder zu einem Gegenstand gemacht. Dadurch ist nun auch die Allgemeinheit denkbar, die beispielsweise in der Formulierung steckt, dass jeder Gegenstand des Verstandes als bedingt vorgestellt wird. Ihre Sinnhaftigkeit muss nicht durch das Postulat der Existenz einer Gesamtheit aller Gegenstände garantiert werden, sondern liegt in jedem einzelnen Gegenstand als die Art und Weise, wie er uns gegeben ist. Kurzum: Unendlichkeit konstituiert als deren Form eine Bedingung der Möglichkeit endlicher Gegenstandserkenntnis.

92 Cantor 1895, S. 282. 93 PB, §143.

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1 Unendlichkeit und Erfahrung – Kant Zusammenfassung Als Schlussfolgerung aus der Antithetik und als Gegenvorschlag gegen die Annahme einer prinzipiellen Inkonsistenz in unserem Denken des Unendlichen, wurde vorgeschlagen Unendlichkeit als die Form des Endlichen aufzufassen. In dieser Auffassung ist die Behauptung, Unendlichkeit kann nicht Gegenstand der Verstandeserkenntnis sein (resp. man kann nicht sinnvoll darüber sprechen), mit der Rede von der unendlichen Zeit und dem regulativen Prinzip vereinbar.

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Mit diesem Ergebnis ist die Untersuchung zu Kant und zur Anwendbarkeit des Unendlichkeitsbegriffes auf den Bereich der Erfahrungsgegenstände an ein vorläufiges Ende gelangt. Im Rahmen dieser Untersuchung wurde aber auch eine Unterscheidung eingeführt, die bisher nur einseitig beleuchtet wurde: In Abschnitt 1.2.1 wurde mit Kant zwischen einem transzendentalen Unendlichkeitsbegriff und einem mathematischen Unendlichkeitsbegriff unterschieden. Während der transzendentale Unendlichkeitsbegriff dann weiter untersucht wurde, blieb der mathematische außen vor. An diesem Punkt setzen die nun folgenden zwei Kapitel ein. Dort wird die Frage gestellt, wie eine mathematische Auseinandersetzung mit dem Unendlichen, losgelöst von einer direkten Anwendung desselben auf die Strukturen unseres Erkenntnisvermögens, uns nicht doch Einsichten in das Unendliche gewinnen lässt, die über den bisherigen Bereich unserer Untersuchung hinausgehen. In Abschnitt 1.2.1 wurde bereits darauf hingewiesen, dass Kants Auseinandersetzung mit dem Begriff des Unendlichen sehr wohl Raum für eine derartige Behandlung des Unendlichen in der Mathematik lässt und damit Erkenntnis des Unendlichen in Form von mathematischer Erkenntnis ebenfalls einen Platz innerhalb des kritischen Programms hat. Allerdings ist Kants eigene Philosophie der Mathematik nicht ausreichend die bahnbrechenden Neuerungen abzudecken, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts durch die Mengenlehre in der Behandlung des Unendlichkeitsbegriffes eingeführt wurden. Problematisch wird es hierbei dann auch, wenn derartige moderne mathematische Verfahren nun den Anschein machen, Einsichten in Erkenntnisbereiche zu versprechen, die den von Kant gesteckten kritischen Rahmen zu verlassen drohen. Diese Gefahr besteht insbesondere in Bezug auf die Hierarchien der transfiniten Zahlen, welche im nächsten Kapitel eingeführt werden. Interessanterweise sahen sich anfängliche mathematische Definitionsversuche in der Mengenlehre und auch eine von Georg Cantor versuchte philosophische Grundlegung

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1.3 Konsequenzen für die Erkenntnis des Unendlichen. derselben mit ähnlichen Problemen konfrontiert, wie sie im Rahmen der Antinomie diskutiert wurden – die Antinomien werden vom Blickwinkel der modernen Mathematik gerne auch als eine Art Vorläufer der Mengenparadoxien betrachtet.94 In diesem Zusammenhang gilt es also einen philosophischen Ansatz zu finden, der der Behandlung des Unendlichen in der Mathematik und insbesondere in der Mengenlehre vom Standpunkt der Endlichkeit des Menschen aus Rechnung trägt, d.h. der die moderne Mathematik weder in weiten Teilen beschneidet, noch dieselben von einer erkenntnistheoretischen oder ontologischen Begründung abhängig macht, welche den Rahmen übersteigt, der von Kant durch die kritischen Analyse unseres Erkenntnisvermögens gesteckt wurde. Diesen Ansatz finden wir in Wittgensteins Bemerkungen zum Unendlichen in der Mathematik, welche im Anschluss an die nun folgende Darstellung der transfiniten Zahlen der Mengenlehre und als Alternative zu Cantors Theorie des Absolut-Unendlichen im dritten Kapitel dieser Arbeit entwickelt wird.

94 Vgl. hierzu De Bianchi 2015 wo Ernst Zermelos Kant Rezeption mit dessen Axiomatisierung der Mengen-

lehre in Beziehung gesetzt wird.

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2 Zwischenspiel: Die Mengenlehre gegen ihren Schöpfer verteidigt Die Mathematik, so scheint es, gibt uns ein Werkzeug an die Hand, das Unendliche in Gestalt unendlicher Zahlen sicher zu fassen. Diese Zahlen lassen sich rein logisch definieren und verlangen daher nur insofern Bezug zu unserem sinnlichen Erkenntnisvermögen, als dass die Zeichen, mit denen derartige Definitionen vollzogen werden, im Bereich der medizinischen Endlichkeit gegeben werden. In diesem Rahmen wurde bereits Freges Definition der Unendlichen Zahl angeführt und Cantors Definition der transfiniten Zahlen erwähnt; und auch Kant lässt ein mathematisches Unendliches in Abgrenzung zum transzendental Unendlichen zu. In Bezug auf das Unendliche in der Mathematik ist hier neben der Unendlichkeit der einzelnen Zahlenbereiche (und der Möglichkeit mittels vollständiger Induktion auf die Gesamtheit dieses Bereichs Bezug zu nehmen) vor allem die Mengenlehre interessant, in der uns die Werke Cantors das Gebiet des Transfiniten als Untersuchungsgegenstand eröffnet haben. Doch die mathematischen Überlegungen (oder besser: die Möglichkeit derselben) ziehen einige philosophische Probleme nach sich. Cantor war sich dessen bewusst und entwickelte daraufhin seine Theorie des Absolut-Unendlichen, welche jedoch aus philosophischer Sicht nicht überzeugen kann. Diese Theorie wird im Folgenden so weit entwickelt, dass Wittgensteins Bemerkungen zur Mengenlehre und zur Unendlichkeit in der Mathematik als sinnvolle Alternative dazu vorgestellt werden können.

Der Mengenlehre sind im Umgang mit dem Unendlichen zwei entscheidende Schritte gelungen, die als solche ein ganz neues Feld der Untersuchung eröffneten. Dies ist zum einen die Entdeckung der transfiniten Ordinal- und Kardinalzahlen, sowie die Messung der Kardinalität einer Menge mittels 1-zu-1 Zuordnungen über den endlichen Bereich hinaus. Sowohl Ordinal-, als auch Kardinalzahlen werden in Bezug auf Mengen definiert: Während Kardinalzahlen soetwas wie die Anzahl der Elemente einer Menge angeben, wird in Bezug auf die Ordinalzahl auch noch die Ordnung der Elemente mit einbezogen. Diese Unterscheidung fällt jedoch nur in Zahlenbereichen größer als ℵ0

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2 Zwischenspiel: Die Mengenlehre gegen ihren Schöpfer verteidigt ins Gewicht. Einer endlichen Menge kommt daher immer dieselbe Kardinal- und Ordinalzahl zu. Den Ordinalzahlen unterliegen zwei Erzeugungsprinzipien, welche hier informal und in moderner Notation gegeben werden: (I) Für jede Ordinalzahl α gibt es einen Nachfolger α + 1. Dieses Prinzip gibt eine unendliche Reihe von Ordinalzahlen. Den Sprung ins Transfinite schafft nun das zweite Prinzip: (II) Als Limes einer Reihe von Ordinalzahlen ist nun eine weitere Zahl ω, genannt Limesordinalzahl, gegeben. Anders formuliert: α ist Limes einer Ordinalzahlreihe, falls α 6= 0 und α kein Nachfolger ist.1 Angefangen bei den natürlichen Zahlen, die als die ersten Ordinalzahlen aufgefasst werden, gilt also: 1, 2, 3, . . . , ω Doch da auf ω wiederum (I) angewandt werden kann usw. ergibt sich folgende Reihe der transfiniten Ordinalzahlen: 1, 2, 3, . . . , ω, ω + 1, . . . , 2ω, 2ω + 1, . . . , ωω, . . . Die andere bahnbrechende Neuerung Cantors ist, die Kardinalität oder Mächtigkeit einer Menge (geschrieben als |M |) mittels der Möglichkeit einer 1-zu-1 Zuordnung zu einer anderen Menge zu messen. Im endlichen Bereich kann Kardinalität als Anzahl der Elemente verstanden werden. Die Möglichkeit einer 1-zu-1 Zuordnung, und damit der Begriff der Kardinalität, kann aber auch auf den transfiniten Bereich übertragen werden. Ein bedeutendes Resultat ist hier die Ungleichung |R| > |N| sowie der Satz |P(M )| > |M | für eine beliebige Menge M , wobei P(M ) die Potenzmenge, d.h. die Menge aller Teilmengen von M bezeichnet. Beide Ungleichungen werden mittels Diagonalisierung bewiesen, einem Verfahren, welches am Ende dieser Arbeit diskutiert wird. Aus argumentativen Gründen wird hier nicht darauf eingegangen. Diese Beispiele mögen an dieser Stelle einen Eindruck vermitteln, wie Unendlichkeit durch mathematische/mengentheoretische Mittel gehandhabt wird. Allerdings treten, ausgehend von einem naiven Verständnis dessen, was eine Menge ist, an dieser Stelle bereits Widersprüche auf. Mengen werden extensional verstanden, d.h. sie sind durch ihre Elemente individualisiert. Gleichzeitig werden sie selber als Objekte aufgefasst, insofern sie selbst Elemente von Mengen sein können.2 Das Zusam1 Die Ordinalzahlen können im Sinne Cantors und auch Hausdorffs als Abstraktionen von Wohlordnun-

gen aufgefasst werden oder nach von Neumann direkt mit bestimmten Mengen identifiziert werden. Falls α im Sinne von Neumanns als Menge aufgefasst wird, dann ist: (I) α + 1 = α ∪ {α} und (II) αS eine Limesordinalzahl, wenn sie ihr eigenes Supremum ist, d.h. gdw. α = sup(α), wobei sup(A) = A für beliebige A. Vgl. Deiser 2004, S. 260. 2 Der Begriff der Menge gilt als nicht definierbar. Während Cantor noch eine Definition an den Beginn

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menspiel dieser beiden Faktoren kann nun durch folgende intuitiv einsichtige Überlegung zu Problemen führen: Zu jedem Begriff P(x) müsste es nun eine Menge derjenigen Gegenstände geben, die unter diesen Begriff fallen. Es gibt die Menge aller Gegenstände in diesem Raum, die Menge aller Teilchen in diesem Universum, die Menge aller natürlichen Zahlen. Aber diese Überlegung, auch naive Komprehension genannt, ermöglicht auch die Bildung der Mengen: V = {x | x ist eine Menge} Ω = {α | α ist eine Ordinalzahl} Sowohl V , von der Russells Antinomie3 ein Sonderfall ist, als auch Ω sind allerdings widersprüchlich. Aus V lässt sich P(V ) bilden für das gilt |P(V )| > |V |. Da V aber die Menge aller Mengen ist und P(V ) auch wiederum eine Menge, gilt P(V ) ⊂ V , woraus folgt |P(V )| < |V |. Die Menge aller Ordinalzahlen Ω hat selbst wieder eine Ordinalzahl. Da diese Ordinalzahl nun in Ω enthalten ist, muss sie kleiner als die Ordinalzahl von Ω, also kleiner als sich selbst sein.4 Diese Widersprüche werden umgangen, indem man die Bildung derartiger Mengen verhindert. Obiges intuitives Prinzip wird nun gegen das Prinzip eingetauscht, dass die Bildung einer Menge durch Angabe eines Begriffs nur dann zulässig ist, wenn die Elemente, die unter den Begriff fallen, bereits Teil einer vorher gebildeten Menge sind. Nach diesem Prinzip lässt sich das Mengenuniversum schichtweise aufbauen, wobei jeweils neue Mengen aus den vorigen gebildet werden. Dementsprechend entsteht die kumulative Mengenhierarchie: Angefangen bei der leeren Menge ∅, die als Grundobjekt gilt5 , lässt sich die Menge {∅} bilden, und dann die Mengen {{∅}} und {∅, {∅}} usw. Der Mengenbegriff wird nun auf dieses Bildungsprinzip eingeschränkt: Menge ist all das, was an einer Stelle dieser Hierarchie erzeugt wird.6 Dieses Prinzip und dessen Axiomatisierung in ZFC7 unterbindet die Möglichkeit, Mengen wie V und Ω zu bilden. Sie kommen nämlich an keiner Stelle seiner Mengenlehre stellte, die jedoch zu den nachfolgenden Problemen führte, ist es heutzutage üblich, den Mengenbegriff nicht eigens zu definieren und stattdessen auf bestimmte Axiome zu verweisen, die dessen Bedeutung implizit enthalten. Für eine Übersicht zu klassischen Positionen zum Grundbegriff der Mengenlehre Vgl. ebd., S. 15–26 3 R = {x | x ∈ V und x ∈ / x}. Für eine ausführlichere Darstellung dieser und weiterer Antinomien siehe Fraenkel, Bar-Hillel und Levy 1973, S. 1–8. 4 Vgl. Deiser 2004, S. 401. 5 In der Mengenlehre werden nur sogenannte reine Mengen betrachtet. Das sind Mengen, deren Elemente selbst wiederum Mengen sind. Auf der untersten Stufe einer solchen Mengenhierarchie steht dann die leere Menge ∅. 6 Vgl. ausführlicher Boolos 1983, S. 489–495. 7 Zermelo-Fraenkel Axiomensystem inklusive Auswahlaxiom. Dies ist das gängigste Axiomensystem der Mengenlehre. Vgl. Fraenkel, Bar-Hillel und Levy 1973, §§3-5.

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2 Zwischenspiel: Die Mengenlehre gegen ihren Schöpfer verteidigt der Hierarchie vor. So weit, so mathematisch. Mit der Axiomatisierung der Mengenlehre wurden obige Paradoxien vermieden, sodass sich innerhalb von ZFC widerspruchsfrei Mengenlehre betreiben lässt. Allerdings scheint das Problem aus philosophischer Sicht noch nicht gelöst. Die Frage, die sich nun stellt, ist dieselbe Frage, die auch unter Bezugnahme auf Guido Kreis an Kant und dessen regulatives Prinzip gerichtet wurde. Wie lässt sich dasjenige, was behauptet wird, im Hinblick dessen, was es behauptet, formulieren?8 Wie können wir von allen Mengen sprechen, wenn die kumulative Hierarchie unendlich ist? Denn um allgemeine Aussagen über alle Mengen zu tätigen, was in der Mengenlehre ohne weiteres geschieht, muss auf die gesamte Hierarchie verwiesen und somit deren Existenz vorausgesetzt werden. Ist das jedoch eine sinnvolle Aussage? Für dieses Problem hatte Cantor noch ein Gespür, sodass er auch eine Reihe von philosophischen Versuchen in Bezug auf das Unendliche unternahm. Über das potentielle Unendliche, also das ins Unendliche wachsende Endliche, schreibt er: Damit eine solche [ins Unendliche wachsende] Größe in einer mathematischen Betrachtung verwertbar sei, muß strenggenommen das „Gebiet“ ihrer Veränderlichkeit durch eine Definition vorher bekannt sein; dieses Gebiet kann aber nicht selbst wieder etwas veränderliches sein, da sonst jede feste Unterlage der Betrachtung fehlen würde; also ist dieses Gebiet eine bestimmte aktual-unendliche Wertemenge.9

Dieses Prinzip, auch Bereichsprinzip genannt, ist äußerst einfach und gleichzeitig fundamental, wie Graham Priests bemerkt: „Cantor’s argument is a simple and ingenious one. It is based on the equally simple observation that for a statement about some variable quantity to have determinate sense, the domain of its variability must be determinate.“10 In dieser Formulierung gibt das Bereichsprinzip also eine notwendige Bedingung sinnvoller Aussagen: Damit allgemeine Aussagen sinnvoll sind, muss der Bereich ihrer Allgemeinheit vorher bestimmt sein. Auf die Mathematik angewandt bedeutet dies nun Folgendes: Jede Reihe von Ordinalzahlen, die als anwachsend begriffen wird, setzt bereits ihr Limit voraus als dasjenige, wohin sie anwächst. So setzten z.B. die natürlichen Zahlen die erste transfinite Ordinalzahl (oben: ω) voraus.11 Diese Limits lassen sich aber ohne weiteres in ZFC angeben. Was aber ist mit der gesamten Hierarchie der transfiniten Zahlen? Diese wird nach oben genannten Konstruktionsprinzipien ebenfalls als anwachsend begriffen und erfordert 8 Vgl. Kreis 2015, S. 348–393. 9 Cantor 1887, S. 410f. 10 Priest 1995, S. 138. 11 Vgl. Cantor 1887, S. 406.

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daher ebenfalls die Vorhandenheit ihres anwachsenden Bereichs. Diesen Bereich bezeichnet Cantor nun als das Absolut-Unendliche. Hierzu schreibt er: Das Transfinite mit deiner Fülle von Gleichungen und Gestalten weist mit Notwendigkeit auf ein Absolutes hin, auf das „wahrhaft Unendliche“, an dessen Größe keinerlei Hinzufügung oder Abnahme statthaben kann und welches daher quantitativ als absolutes Maximum anzusehen ist. Letzteres übersteigt gewissermaßen die menschliche Fassungskraft und entzieht sich namentlich mathematischer Determination.12

Das Transfinite wird als anwachsende Reihe von aktual unendlichen Zahlen aufgefasst. Hierfür wird aber wiederum eine Grenze benötigt, zu der sie hin entwickelt werden. Im Fall der Ordinalzahlen wäre dies die Menge aller Ordinalzahlen, deren Existenz entgegen der Restriktion in ZFC angenommen werden muss, einfach aus dem Grunde, damit wir sinnvoll von Ordinalzahlen sprechen können. Cantor nennt derartige Gebilde wie die Menge der Ordinalzahlen „absolut unendliche oder inkonsistente Vielheiten“.13 Er erkennt ihnen zwar nicht den Status einer Menge zu, leugnet ihre Existenz aber aus obigen Gründen auch nicht. Das Absolut-Unendliche kann als Kulminationspunkt dieser Überlegung verstanden werden, welches infolgedessen auch V und Ω enthält. Es gibt also laut Cantor ein Absolut-Unendliches, welches wir erstens aus mathematischen(!) Gründen annehmen müssen,14 und welches sich zweitens unserer „Fassungskraft“ entzieht. Es zeigt sich uns negativ als erfüllte Voraussetzung der Mengenlehre. Cantor berührt an dieser Stelle die Gefilde der negativen Theologie, denn für ihn haben die transfiniten Zahlen auch ihre Entsprechung in der Welt,15 wodurch sie die Allmacht Gottes ausdrücken.16 In diesem Sinne schreibt Guido Kreis zu Recht: „Damit verlangt Cantor von der Mathematik den Übergang zur Theologie. Der Mathematiker soll das Transfinite als Zeichen der Offenbarung, als Symbol oder Allegorie des Absoluten lesen lernen und sich die Existenz des Absoluten am Transfiniten zeigen lassen.“17 Das Absolut-Unendliche kann jedoch kaum überzeugen.18 Die ontologische Annahme desselben und die gleichzeitige Behauptung, dass es für unser Erkenntnisvermögen nicht zugänglich sei (und stattdessen offenbart werden müsste) führt in eine vorkritische Metaphysik zurück. Laut den Ergebnissen des letzen Kapitels sind wir nicht in der Lage, hierüber eine sinnvolle Aussage zu treffen. 12 Ebd., S. 405. 13 Cantor 1899, S. 443. 14 Vgl. auch Kreis 2015, S. 396 und 198. 15 Vgl. Cantor 1883, §8. 16 Vgl. Cantor 1887, S. 385-387, 400 und 406. 17 Kreis 2015, S. 402. 18 Vgl. ebd., S. 404-406.

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2 Zwischenspiel: Die Mengenlehre gegen ihren Schöpfer verteidigt Und auch der Mathematiker wird an dieser Stelle wohl kaum zufrieden sein, denn schlussendlich wird so die Grundlage seiner Theorie aus seinem Geltungsbereich herausgenommen und damit seine Deutungshoheit über den Gegenstand der eigenen Disziplin infrage gestellt. Cantor war dieses Problem durchaus bewusst, weswegen er eine Übereinkunft der Ergebnisse der Mathematik mit der Realität der transfiniten Zahlen postulierte, sodass sich der Mathematiker um diese nicht zu kümmern habe. Aus der Perspektive des Mathematikers sei also die Entsprechung seiner Ergebnisse mit der Realität der Zahlen immer gegeben und die Autonomie seiner Disziplin auf diese Weise erhalten.19 Ein solches Postulat hat aber bestenfalls den Charakter einer ad hoc Lösung und es ist fragwürdig, wie eine überzeugende Rechtfertigung desselben aussehen würde.

Angefangen bei einer durchaus präzisen Fassung des Begriffs einer unendlichen Zahl wurde in einer tour de force die Brücke zur Offenbarungstheologie als philosophische Fundierung der Mengenlehre geschlagen. Es hat sich jedoch relativ bald herausgestellt, dass dieser Fundierungsversuch denkbar ungeeignet ist, und zwar aus zweierlei Gründen: Zum einen war er aus metaphysischer Sicht unzufriedenstellend, zum anderen führte er zu einer Vermischung der Grenze der Gegenstandsbereiche von Mathematik und Philosophie bzw. Theologie. In Anbetracht dieses Ergebnisses lassen sich nun eine Reihe von Schlüssen ziehen: Aus philosphischer Sicht setzt Guido Kreis seine Überlegungen dahingehend fort, dass er die Paradoxie des Weltbegriffes, die im ersten Teil mit Kant entwickelt wurde, und die Cantor’sche Paradoxie des Absolut-Unendlichen unter Zuhilfenahme des Bereichsprinzips in verschiedenen Variationen weiter ausarbeitet und eine Reihe von Lösungsversuchen zurückweist. Das Ergebnis ist, dass die bis hierhin aufgetauchten Paradoxien bestehen bleiben. Das führt schlussendlich zu der Feststellung, dass sich das Unendliche schlicht nicht konsistent denken lasse.20 Aus mathematischer Sicht gibt es in der Konfrontation mit dem Unendlichen – und zwar auch ohne, dass sie sich damit auf Cantors philosophische Theorie beziehen, Positionen, die die mathematische Praxis und deren als zulässig anerkannte Beweisverfahren einschränken. Ein entscheidender Punkt ist hierbei, dass Beweise von Existenzaussagen nur dann zulässig sind, wenn sie eine Konstruktion des entsprechenden Objektes enthalten. Damit sind Beweisverfahren ausgeschlossen, welche lediglich zeigen, dass die Annahme der Nicht-existenz eines derartigen Objektes zu einem Widerspruch führt. In diesem Sinne argumetiert z.B. L.E.J. Brouwer, dass das Gesetz des ausgeschlossenen 19 Vgl. Cantor 1883, §8. 20 Vgl. Kreis 2015, S. 407–465.

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Dritten, das in Bezug auf derartige indirekte Beweisverfahren angewandt wird, in Bezug auf unendliche Gegenstandsbereiche keine Gültigkeit mehr hat.21 Seine intuitionistische Mathematik, die er auf Basis eigener philosophischer Überlegungen entwickelte, widerspricht der klassischen Mathematik aber nicht nur darin, dass bestimmte klassische Resultate nicht länger beweisbar sind und Teile der Mengenlehre ihre Bedeutung verlieren, sondern auch, dass bestimmte nicht-klassische Sätze bewiesen werden können.22 Modernere Versionen konstruktiver Mathematik lassen sich – im Gegensatz dazu – einem Teilbereich der klassischen Mathematik zuordnen.23 Neben philosophischen Beweggründen können hier auch praktische Überlegungen zur Einschränkung auf konstruktive Beweisverfahren führen; so lässt sich aus jedem konstruktiven Beweis (prinzipiell) auch ein Algorithmus generieren. Eine Position, die noch radikalere Konsequenzen aus der Endlichkeit des Menschen zieht, ist der Finitismus, der nur diejenigen Beweise zulässt, die auch tatsächlich eine Konstruktion darstellen, anstatt sie nur im Prinzip als möglich zu erweisen.24 In dieser Hinsicht wird die Gültigkeit des Prinzips des ausgeschlossenen Dritten dann auf den Bereich Hilberts finiter Einstellung eingeschränkt.25 All diese Positionen haben jedoch gemein, dass sie den Gebrauch legitimer Mathematik enschränken, und daher nicht der gesamten mathematischen Praxis Rechnung tragen können. Sofern dies aus philosophischen Beweggründen geschieht, scheinen jedoch einerseits die Grenzen der beiden Wissenschaften auf problematische Weise ineinander zu laufen, und andererseits eine derartige Kritik an weiten Teilen der lang etablierten mathematischen Praxis schlicht zu radikal. Was als gültiger Beweis akzeptiert wird, sollte den Mathematikern überlassen bleiben. In diesm Sinne schreibt nun auch Wittgenstein: Die Philosophie darf den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten, sie kann ihn am Ende also nur beschreiben. Denn sie kann ihn auch nicht begründen. Sie lässt alles, wie es ist. Sie lässt auch die Mathematik, wie sie ist, und keine mathematische Entdeckung kann sie weiterbringen. Ein »führendes Problem der mathematischen Logik« ist für uns ein Problem, wie jedes andere.26

In der Vorstellung seiner Philosophie der Mathematik und insbesondere in Bezug auf 21 Dummett

1983 entwirft ebenfalls eine philosophische Position zur Rechtfertigung insbesondere der intuitionistischer gegenüber der klassischer Logik, die sich jedoch in ihrer Begründung von der Brouwers stark unterscheidet. 22 Vgl. Brouwer 1967b und Brouwer 1967a. 23 Vgl. Bishop 1967. 24 Iemhoff 2019. 25 Vgl. Wright 1982, 204f. 26 PU, §124.

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2 Zwischenspiel: Die Mengenlehre gegen ihren Schöpfer verteidigt die Mengenlehre möchte ich diesen Grundsatz beibehalten. Obwohl die Philosophie also die Beweise der Mathematiker so lässt, wie sie sind, kann es dennoch vorkommen, dass die Beschäftigung mit denselben zu fragwürdigen nicht-mathematischen Annahmen führt, wofür die Annahme des Absolut-Unendlichen ein Beispiel ist. Wittgenstein spricht im Hinblick dessen auch davon, dass uns im Umgang mit gewissen Theoremen der Mengenlehre ein „Schwindel erfasst“.27 Dies liegt nicht zuletzt an dem einschlägigen Sprachgebrauch, mit dem diese Resultate umschrieben werden. Die Annahmen, zu denen dieser Sprachgebrauch verleitet, können nun wiederum zu unliebsamen philosophischen Konsequenzen führen, wie der zuvor vorgestellten Position von Guido Kreis, nach der sich das Unendliche schlicht nicht kohärent denken lasse. Damit wäre also ein dritter möglicher Weg aufgezeigt, welcher schlussendlich darauf hinausläuft, philosophische Begründungsversuche wie den von Cantor (und den damit einhergehenden Sprachgebrauch) auf eine falsche (philosophische) Deutung mathematischer Sätze zurückzuführen. Wittgensteins Bemerkungen zur Mengenlehre gelten jedoch gemeinhin als durch und durch ablehnend – und zwar in vergleichbarer Art und Weise, wie die oben vorgestellten Positionen – und zudem noch in den Augen mancher nicht gerade von mathematischem Sachverstand geprägt. Seine Kritik an der Mengenlehre ist an vielen Stellen dermaßen harsch, dass die Vermutung, Wittgenstein würde ebenfalls die Mathematik der Mengenlehre, d.h. die Gültigkeit gewisser Beweise in Frage stellen, durchaus berechtigt ist. Ein Beispiel hierfür ist seine Diskussion von Cantors Diagonalverfahren, auf das am Ende des nächsten Kapitels noch näher eingegangen wird.28 In Bezug auf derartige Stellen wurde verschiedenes behauptet: Wittgenstein sei auch hier genuin philosophisch29 ; Wittgenstein stelle gleichermaßen auch aus mathematischer Sicht Überlegungen an30 ; bis hin zu der Auffassung, Wittgenstein habe eigene mathematische Verbesserungsvorschläge.31 In Anbetracht dieser Fülle an Interpretationen ist es ratsam, sich in Erinnerung zu rufen, dass es das philosophische Interesse am Unendlichen war, welches zur Mengenlehre geführt hatte. Aus diesem Grund wird der Fokus 27 PU, §412. 28 Vgl. BGM, Teil II. 29 So behauptet z.B. A.W. Moore, Wittgenstein verstoße zwar in den Stellen zur Diagonalisierung gegen sein

eigenes Paradigma nur zu beschreiben, aber nur, um den Leser auf einen philosophischen Punkt hinzuweisen. Im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen sagen und zeigen (siehe hierzu das folgende Kapitel 3.1) soll sich dem Leser dadurch etwas offenbaren, was sich als solches nicht aussagen lässt. Vgl. Moore 1987, S. 495f. 30 Laut V. Rodych vertritt Wittgenstein durchaus eine revisionistische Position zur Mengenlehre, diese sei aber auch in Übereinstimmung mit innermathematischen Positionen zu derselben. Vgl. Rodych 2000 31 In diesem Sinne interpretiert Timm Lampert Wittgensteins Bemerkungen zum Beweis der Unendlichkeit der Primzahlen als Verbesserungen der Beweise von Euklid und Euler. Vgl. Lampert 2008b.

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dieser Arbeit darauf liegen, inwiefern diese Aufschluss über die Bedeutung des Unendlichkeitsbegriffes liefern kann, was auf zweierlei Weisen geschehen kann: Erstens, insoweit sie selbst Einsichten in das Unendliche gewährt, oder zweitens, wenn sie vermeintliche Einsichten in das Wesen des Unendlichen liefert, die sich jedoch als „Gedankennebel“ herausstellen. Diesbezüglich gilt es dann, mittels Wittgensteins Bemerkungen die mathematischen Probleme und Ergebnisse der Mengenlehre von den philosophischen zu trennen. Und nur insofern wird dann auch auf die Mathematik selbst eingegangen. Die Frage, inwiefern Wittgenstein selbst Mathematiker war, tritt dabei soweit es geht in den Hintergrund, ohne jedoch vollkommen ignoriert zu werden. In diesem Sinne gilt es also auch hier, Wittgensteins methodischer Einstellung zu folgen und eine strikte Trennung zwischen mathematischen und philosophischen Fragen vorzunehmen. Diese methodische Einstellung hatte er bereits in seiner sogenannten mittleren Schaffensphase und insobesondere auch in Bezug auf seine kritischen Bemerkungen zur Mengenlehre hin formuliert: [E]s ist sonderbar, zu glauben, daß dieser Teil der Mathematik durch irgend welche philosophische (oder mathematische) Untersuchung gefährdet ist.[...] Was der Mengenlehre verloren gehen muss, ist vielmehr die Atmosphäre von Gedankennebeln, die den bloßen Kalkül umgibt.32

Eine philosophische Kritik trifft die Mathematik und also auch die Mengenlehre nicht und zwar aus dem Grunde, dass diese auch keiner philosophischen Rechtfertigung bedarf. Eine philosophische Kritik trifft nur eine philosophische Position. Aus dieser Perspektive erscheinen Wittgensteins Bemerkungen – und das ist wirklich ironisch – geradezu als eine Vindizierung der Mengenlehre, indem sie unnötigen philosophischen Ballast entfernen. Allerdings ist es nicht immer leicht, in Bezug auf die Mengenlehre diese Möglichkeiten auseinanderzuhalten, denn dort stellt sich die Frage, ob und inwiefern das, was Wittgenstein mit „Gedankennebel“ bezeichnet, nicht doch Teil des Kalküls sein könnte, oder jedenfalls wesentlich das Interesse der Mathematiker an diesem Kalkül ausmacht. In dem Falle, in dem die Mengenlehre selbst als philosophischer Ballast abgeschrieben wird, kann aber dann von einer reinen Beschreibung auch nicht mehr die Rede sein. Die Aufgabe einer Philosophie der Mathematik besteht infolgedessen darin, anzugeben, was Mathematik ist, und wobei es sich lediglich (in Wittgensteins Worten) um Prosa handelt, die die mathematischen Kalküle umgibt. Hierin besteht die im ersten Zitat erwähnte Parallele zur Sprache. Die Sprache selbst ist nicht unvollständig oder unvollkommen und müsste daher durch eine logischere oder vollkommene Sprache 32 PG, S. 470.

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2 Zwischenspiel: Die Mengenlehre gegen ihren Schöpfer verteidigt ersetzt werden, wie in einer Assimilierung aller Sätze an die prädikatenlogische Form. Stattdessen müssen die logischen Formen (oder die Grammatik der Wörter) aufgezeigt werden, indem deren Gebrauch beschrieben wird. In der Mathematik ist dieser Gebrauch aber gerade nicht die Alltagssprache, die den Kalkül begleitet. Was die Mathematik ausmacht und was daher beschreiben werden muss, ist die Verwendung mathematischer Zeichen in den Kalkülen. Mit Kalkül ist an dieser Stelle jedoch kein formales System wie die Principia Mathematica oder das Prädikatenlogische Kalkül gemeint, sondern jedweder regelgeleitete Gebrauch mathematischer Symbole, d.h. die gängigen mathematischen Verfahren in gängiger Praxis. Von philosophischem Interesse ist daher kein Axiomensystem, sondern die vorhergehende lose Entwicklung der mathematischen Ideen, worunter auch die Mengenlehre fällt, wie sie im Ausgang von Cantor praktiziert wird. Die Fixierung dieser Ideen in einem Axiomensystem wie ZFC ist daher weniger problematisch, aber auch weniger interessant. Axiome können schlicht als Regeln verstanden werden, die bestimmte Inferenzen zulassen oder nicht. Das gilt insbesondere für (anscheinend) philosophisch problematische Kandidaten wie das Auswahlaxiom oder Axiome unerreichbarer Kardinalzahlen.33 Dieser Ansatz widerspricht also Cantors Vorgehen insofern, dass er dessen gescheiterten philosophischen Fundierungsanspruch als unnötig und irreführend ausweist. Was gegen Ende von Cantors Argumentation klar erscheinen mag, ist in seinem Ursprung jedoch nicht so offensichtlich. Die Frage ist, wo setzt die philosophische Kritik an? Wo wird eine metaphysische Annahme getroffen, die über die Mathematik hinausgeht? Diese philosophischen Annahmen müssen nun identifiziert und anschließend gezeigt werden, dass für sie erstens kein Grund besteht und sie zweitens zu irrigen Theorien führen. In Bezug auf Cantor ist letzteres bereits erfolgt, es ist jedoch noch nicht klar, was genau der Ursprung von Cantors Problem war und wie sich dafür vonseiten Wittgensteins eine Alternative geben lässt. Grund für die Annahme des AbsolutUnendlichen bei Cantor war das Bereichsprinzip, in der Formulierung Priests, dass Aussagen mit Variablen die Angabe des Gegenstandsbereiches erfordern, über den diese variieren. Daran soll hier auch nicht gerüttelt werden. Das Problem ist vorgängig. Es liegt in der stillschweigenden Auffassung, mathematische Sätze seien genuine Aussagesätze, die auf mathematische Entitäten referieren, wie empirische Sätze auf empirische Entitäten. Wenn mathematische Sätze aber genau genommen gar keine Sätze sind (und also nur eine vage, aber gefährliche Analogie besteht), stellt sich die Frage, ob das Bereichsprinzip überhaupt angewandt werden muss. Damit ist die Aufgabe des nächsten Kapitels vorgezeichnet: Eine alternative, nicht-referentielle Bedeutungserklärung mathematischer Sätze zu finden und diese dann insbesondere im Hinblick auf den 33 Vgl. Dawson 2016, S. 329ff.

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Umgang mit dem Unendlichen in der Mathematik zu entwickeln. Eine solche Bedeutungserklärung wird von Wittgenstein bereits in den Erläuterungen zum Zahlbegriff im Tractatus34 vorgeführt. Diese erfährt dann, aufbauend und in Auseinandersetzung mit dem Tractatus und in direktem Bezug zum Unendlichen, in den späteren Bemerkungen Wittgensteins eine Ausdifferenzierung und tiefere Fundierung. Und diese Auffassung ist dann wiederum auf konkrete mathematische Phänomene wie die unendliche Reihe, die vollständige Induktion und das Verfahren der Diagonalisierung anwendbar. Das ist das Thema des nächsten Kapitels. Zusammenfassung Die Antinomie der Menge aller Mengen und der Menge aller Ordinalzahlen lässt sich mathematisch durch ein Axiomensystem mit entsprechenden Restriktionen unterbinden. Aus philosophischer Sicht hatte es jedoch den Anschein, dass die Existenz eines inkonsistenten Absolut-Unendlichen angenommen werden musste, um die Sinnhaftigkeit allgemeiner Aussagen über Mengen zu gewährleisten. Der Grund hierfür lag jedoch in der Auffassung, dass mathematische Sätze eine referentielle Bedeutung haben.

34 TLP, im Folgenden zitiert mit Angabe der Satznummer nach dem Satz.

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3 Unendlichkeit und Mathematik – Wittgenstein In diesem Kapitel wird Wittgensteins Auffassung des Unendlichen in der Mathematik entwickelt. Es wird gezeigt, dass das Unendliche, das in Form von unendlichen Reihen, der vollständigen Induktion und zuletzt im Verfahren der Diagonalisierung untersucht wird, die logische Form bestimmter Kalküle kennzeichnet. Diese Erklärung unterbindet die Anwendung des Bereichsprinzips im Sinne Cantors und vermeidet dahingehend auch dessen Konsequenzen. Wittgensteins Philosophie der Mathematik lässt sich am besten in Kontrast zu den Ansichten Freges verstehen, für den die Zahlen eine ontologisch eigenständige Existenzweise hatten und die Bedeutung der Zahlzeichen analog zur Aufassung empirischer Gegenstände (Personen) als Bedeutung von Eigennamen zu verstehen ist. Diese Auffassung auf die Mengenlehre angewandt, führt, indem sie so einen Gegenstandsbereich von Zahlaussagen postuliert, erst zu dem Problem, mit dem sich auch Cantor konfrontiert sah. Das Ziel ist daher mit Wittgenstein eine alternative Erklärung der Bedeutung mathematischer Sätze zu liefern, welche die Mathematik selbst zwar unverändert lässt, aber derartige ontologisch fragwürdige Resultate vermeidet. Diese neue Bedeutungserklärung soll dann Aufschluss über die Bedeutung des Unendlichen in der Mathematik geben. Hierzu wird zunächst Wittgensteins Erläuterung zum Zahlbegriff im Tractatus vorgestellt (3.1), welche, indem sie die formalen Begriffe einführt, die Grundlage für die Untersuchung des Unendlichen in den nachfolgenden Werken bildet. Anschließend werden diese Ergebnisse in die post-Tractatus Philosphie überführt, indem sie auf Wittgensteins Analogie zwischen Mathematik und Spiel bezogen, und sodann auf die Untersuchung des Unendlichen in der Mathematik angewandt werden (3.2). Die hierbei zunächst untersuchten „Vorkommen“ des Unendlichen, die unendliche Reihe der natürlichen Zahlen und der Beweis mittels vollständiger Induktion, geben ein Verständnis des Unendlichen als Möglichkeit: Im regelgeleiteten Gebrauch mathematischer Zeichen wird gewissen Operationen (wie der Hinzunahme von 1 zu einer natürlichen Zahl) keine Grenze gesetzt. Diese Idee wird dann (3.3) auf die transfiniten Ordinalzahlen, so-

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3 Unendlichkeit und Mathematik – Wittgenstein wie auf das Verfahren der Diagonalisierung übertragen.

3.1 Präliminarien: Der Zahlbegriff im Tractatus Ziel dieses Abschnittes ist, Wittgensteins Auffassung des Zahlbegriffes zu erläutern und die daraus wachsende Unterscheidung zwischen wesentlicher und zufälliger Allgemeinheit herauszuarbeiten. Sie ist ein zentraler – und anhaltender – Kritikpunkt Wittgensteins an der Mengenlehre und daher auch für die Untersuchung des Unendlichen entscheidend. Ein wesentliches Moment der Erläuterung Wittgensteins ist die Unterscheidung von formalen und materialen Begriffen sowie zwischen Operationen und Funktionen, auf die im Folgenden zuerst eingegangen wird. Im Anschluss erfolgt die Erläuterung zum Zahlbegriff und zur wesentlichen Allgemeinheit und es wird abschießend auf ein damit zusammenhängendes Problem des Tractatus eingegangen.

3.1.1 Formaler Begriff und Operation Das Paar Begriff und Gegenstand ist bereits durch Frege bekannt. Von einem Begriff kann man sinnvoll fragen, ob etwas unter ihn fällt. Das Wort „sterblich“ bedeutet z.B. einen Begriff, da man sinnvoll fragen kann, ob Gaius darunter fällt, d.h., ob der Satz „Gaius ist sterblich“ wahr ist. Allgemeiner lassen sich laut Frege Begriffe als besondere Klasse von Funktionen auffassen: „Ein Begriff ist eine Funktion, deren Wert immer ein Wahrheitswert ist.“1 Die Funktion f (x) = x2 gibt für die Eingabe 3 die Ausgabe 9. Ebenso kann man nun die Gleichung 9 = x2 als Funktion und besonders als Begriff auffassen, der für die Eingabe der Zahlen −3, +3 „wahr“ und für alle übrigen Zahlen „falsch“ ausgibt. Hierbei ist die Eingabe entscheidend dafür, überhaupt von einem vollständigen, d.h. wahrheitsfunktionalen Satz sprechen zu können. Laut Frege ist „eine Funktion für sich allein [...] unvollständig, ergänzungsbedürftig oder ungesättigt zu nennen.“2 Das Komplement, also dasjenige, was die Funktion zu einem Satz hin ergänzt, ist der Gegenstand, nämlich „alles, was nicht Funktion ist, dessen Ausdruck also keine leere Stelle mit sich führt.“3 Hierbei sind Gegenstand und Begriff bzw. Funktion als logische Typen zu verstehen. Auf sprachlicher Ebene entsprechen diesen Subjekt (oder Eigenname) und Prädikat. So schreibt Frege: „Begriff ist Bedeutung eines Prädikats, Gegenstand ist, was nie die ganze Bedeutung eines Prädikats, wohl aber die Bedeutung eines Subjekts sein kann.“4 1 FuB, S. 11. 2 FuB, S. 5. 3 FuB, S. 13. 4 BuG, S. 53.

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3.1 Präliminarien: Der Zahlbegriff im Tractatus Die Formulierung „keine leere Stelle“ kann als Hinweis auf die charakteristische Notationsweise einer Funktion aufgefasst werden, nach der sie durch ein Funktionssymbol f () mit einer durch eine Variable x bezeichneten Leerstelle dargestellt wird: f (x). Eine Besonderheit dieses Zusammenhangs ist nun, dass die Gegenstände, d.h. der Wertebereich dieser Funktion, als von der Funktion selbst unabhängig aufgefasst werden. Dieser Sachverhalt ist in Bezug auf empirische Begriffe klar: Der Begriff „Apfel“ und die Gegenstände, die von ihm bezeichnet werden, besitzen eine Unabhängigkeit voneinander. Die Äpfel sind Objekte in der Welt, welche Bestandteile von Sachverhalten sein können, die allerdings unabhängig davon bestehen, dass auf sie durch ein bestimmtes sprachliches System, wie mittels des Begriffs „Apfel“, hingewiesen wird. Die Bedeutung des Begriffs „Apfel“ würde Wittgenstein daher auch als externe Tatsache bezeichnen.5 Dass Gaius unter den Begriff „sterblich“ fällt, liegt daran, dass er sterblich ist und nicht daran, dass oder wie er als sterblich bezeichnet wird. Die Frage ist nun, ob dasselbe auch im mathematischen Fall, also für die Zahlen gilt. Sind die Zahlen unabhängig von dem mathematischen System der Funktionen gegeben? Frege antwortete mit Ja, Wittgenstein mit Nein. Freges Auffassung stützte sich auf eine Analyse arithmetischer Sätze anhand der Prädikat-Subjekt Struktur. Wittgenstein muss daher eine Alternative zu dieser Analyse und damit auch eine Alternative zum Begriffspaar Begriff bzw. Funktion und Gegenstand anbieten. Diese Alternative liefert seine Ausführung zu formalem Begriff und Operation. Das, was Frege Begriffe („sterblich“, etc.) nennt, enthält im Tractatus nun die zusätzliche Bezeichnung „materiale“ Begriffe, oder „eigentliche“ Begriffe. Dies dient dazu, einen anderen Typ von Begriff von diesen abzutrennen: den formalen Begriff. Ein formaler Begriff bezeichnet formale oder auch interne Eigenschaften seines Gegenstandes. Damit sind Eigenschaften gemeint, die sich auf ein (Zeichen)System beziehen und die nur durch und innerhalb dieses Systems gegeben sind. Ein Beispiel im Tractatus ist hierfür das System der Farben, innerhalb dessen die (formale) Relation „heller als“ gilt.6 In Diskussion mit dem Wiener Kreis führt Wittgenstein das System der Längen und die Relation „größer als“ an.7 In beiden Fällen ist es – und das charakterisiert die internen Eigenschaften – undenkbar, dass Farben und Längen nicht in der entsprechenden Relation zueinander stehen (denn sonst wären es keine Farben, bzw. keine Längen). Der Zusammenhang zu obigen externen Eigenschaften oder Tatsachen ist nun der Folgende: Wir können die internen Eigenschaften dieser Systeme dazu benutzen, um Aussagen über externe Gegenstände zu treffen. Wir können sagen: „Der rote Gegenstand ist 5 Vgl. [4.122] und WWK, S. 54f. 6 Vgl. [4.123] 7 WWK, S. 54f.

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3 Unendlichkeit und Mathematik – Wittgenstein heller als der blaue“ sowie „die 2m Strecke ist länger als die 1.5m Strecke“ und indem wir diese Aussagen treffen, machen wir von den internen Eigenschaften des Farb- bzw. Längensystems Gebrauch, nämlich von „2 > 1, 5“ und „rot heller als blau“. Interne Eigenschaften sind in unseren sprachlichen Wirklichkeitsbezug involviert, d.h. sie sind Teil der Sprache und deswegen auch nicht selbst auf dieselbe Art und Weise Gegenstand dieses Wirklichkeitsbezuges. Wir können nicht in demselben Sinne sagen: „2 > 1, 5“, wie wir sagen „der eine Gegenstand ist größer als der andere“; wir können nicht sagen „rot ist heller als blau“, wie wir sagen, „der rote Gegenstand ist heller als der blaue“. Die ersten Sätze der beiden Paare sind keine Tatsachenfeststellungen, sondern gelten, sofern sie geäußert werden, bestenfalls als Festsetzung eines Regelgebrauches, d.h. als Festsetzung des Gebrauchs eines der Wörter „rot“, „heller“, oder „blau“. Damit ist nun ein gewichtiger Unterschied zwischen den formalen und den materialen Begriffen angeführt worden. Wir können nicht über formale Begriffe sprechen, wie wir über materiale Begriffe und deren Gegenstände sprechen. Man kann nicht sinnvoll fragen, ob etwas unter einen formalen Begriff fällt, denn, so schreibt Wittgenstein: Daß etwas unter einen formalen Begriff fällt, kann nicht durch einen Satz ausgedrückt werden. Sondern es zeigt sich an dem Zeichen dieses Gegenstandes selbst. (Der Name zeigt, dass er einen Gegenstand bezeichnet, das Zahlzeichen, daß es eine Zahl bezeichnet etc.) Die formalen Begriffe können ja nicht, wie die eigentlichen Begriffe, durch eine Funktion dargestellt werden. Denn ihre Merkmale, die formalen Eigenschaften werden nicht durch Funktionen ausgedrückt. Der Ausdruck der formalen Eigenschaft ist ein Zug gewisser Symbole.[4.126]

Bereits im ersten Absatz des Zitates wurden zwei zentrale Unterscheidungen des Tractatus erwähnt. Der Unterschied zwischen Zeichen und Symbol sowie der Unterschied zwischen sagen und zeigen. Die Bedeutung der formalen Eigenschaften hängt wesentlich an diesen beiden. Zeichen definiert Wittgenstein als „das sinnlich Wahrnehmbare am Symbol“[3.32]. Verschiedene Zeichen können dasselbe Symbol und verschiedene Symbole dasselbe Zeichen haben. In der Unterscheidung zwischen den beiden geht es jedoch nicht um semantische Ambiguität oder Koextensionalität von Wörtern, wie Wittgenstein mit einem kurzen Beispiel zeigt: Im Satze »Grün ist grün« – wo das erste Wort ein Personenname, das letzte ein Eigenschaftswort ist – haben diese Worte nicht einfach verschiedene Bedeutung, sondern es sind verschiedene Symbole.[3.323]

Mit Symbol ist vielmehr eine gewisse logische Form (oder grammatische Kategorie) gemeint, wie in diesem Fall der Unterschied zwischen Eigenname und Eigenschaftswort

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3.1 Präliminarien: Der Zahlbegriff im Tractatus – versteht man „Grün“ als den Nachnamen einer Person und „grün“ als Farbwort. Auf die Erkenntnis dieser logischen Form (oder grammatischen Kategorien) zielt nun auch die anschließende Bemerkung Wittgensteins: „Um das Symbol am Zeichen zu erkennen, muss man auf den sinnvollen Gebrauch achten.“[3.326] Ein Zeichen wird zum Symbol, indem es von einem kompetenten Sprecher gelesen bzw. verwendet wird.8 Die Frage ist also, auf welche Art und Weise wird ein Zeichen gebraucht, um einen sinnvollen Satz zu konstruieren; was ist dessen logisch-syntaktische Verwendungsweise? Ist es gesättigt, oder hat es eine Leerstelle? Das bringt die internen Eigenschaften, sowie die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen ins Spiel. Es wurde bereits erwähnt, dass wir nicht über formale Begriffe und deren Gegenstände sprechen können, wie wir es in Bezug auf die materialen Begriffe können. Vielmehr benutzen wir interne Eigenschaften gewisser Systeme (Farben-, Längensystem), um auf externe Objekte sprachlich Bezug zu nehmen. Und indem wir auf diese Art und Weise Bezug herstellen, „zeigt sich an dem [verwendeten] Zeichen“ – und zwar durch dessen logisch-syntaktischen Gebrauch, durch die Art und Weise, wie es verwendet wird, – welche formale (=interne) Eigenschaft es ausdrückt. Ein formaler Begriff bezeichnet also in diesem Fall etwas, über das jeder Sprechende verfügt, auch wenn es nicht explizit ist. Die Idee der Beschreibung des Sprachgebrauches, wie sie Wittgenstein erwähnt, zielt also darauf ab, derartiges Implizites explizit zu machen und erfolgt damit im Sinne der Aufgabe, die im Zwischenspiel gestellt wurde. Somit zeigt das obige Beispiel auch, obgleich es zunächst komisch klingt, dass Begriff bzw. Funktion und Gegenstand selbst formale Begriffe sind. Indem wir oben über externe Objekte (Gaius) und deren Eigenschaften (sterblich) gesprochen haben, haben wir ein sprachliches System in Anspruch genommen, welches sich der logischen Form von Begriff und Gegenstand bedient und diese insofern artikuliert. Indem wir die sinnvolle Aussage „Gaius ist sterblich“ treffen, nehmen wir die logische Unterscheidung von Begriff und Gegenstand bereits in Anspruch, genauso wie wir die Relation „2 > 1, 5“ in Anspruch nehmen, wenn wir sagen „der eine Gegenstand ist größer als der andere“. Hierbei zeigt sich nun auch, dass wir bereits einen weiteren formalen Begriff kennen: Den Begriff des Satzes selbst. Dass etwas ein Satz ist, kann man nicht behaupten, sondern nur indem ein Satz etwas behauptet, und nur insofern er dies tut, zeigt er (oder zeigt sich), dass er ein Satz ist. Oben wurde erwähnt, dass zwischen Gegenständen wie einem Apfel oder Gaius und den materialen Begriffen „Apfel“ und „sterblich“, unter die sie fallen, eine Unabhängigkeit besteht. Bei formalen Begriffen und ihren Gegenständen ist diese Unabhängigkeit nicht mehr gegeben: 8 Vgl. Potter 2000, S. 164f.

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3 Unendlichkeit und Mathematik – Wittgenstein Der formale Begriff ist mit dem Gegenstand, der unter ihn fällt bereits gegeben. Man kann also nicht Gegenstände des formalen Begriffes und den formalen Begriff selbst als Grundbegriffe einführen. Man kann also z.B. nicht den Begriff der Funktion, und auch spezielle Funktionen (wie Russell) als Grundbegriffe einführen; oder den Begriff Zahl und bestimmte Zahlen.[4.12721]

Gegenstand eines formalen Begriffes ist, was eine interne Eigenschaft ausdrückt. Dies ist nur insofern möglich, als das Zeichen korrekterweise innerhalb eines Systems gebraucht wird. Aber insofern dieser korrekte Gebrauch bereits vorhanden ist, verfügen wir über den ihm entsprechenden Begriff, denn dieser ist nichts anderes als die logische bzw. grammatische Rolle seines Gegenstandes, des Zeichens. So ist der Begriff des Längenverhältnisses nicht durch bestimmte Merkmale ausgezeichnet, die dann den Gegenständen, die unter ihn fallen, zukommen, sondern er ist nichts anderes, als der sinnvolle Gebrauch eines Zeichens wie 10 ist sinnvoll, aber nicht |0, ξ, ξ + 1| > 10, denn die Unendlichkeit, die im Symbol |0, ξ, ξ + 1| gegeben ist, ist keine Zahl. Genauso wie die Begriffsbestimmung „größer als“ in Bezug auf endliche Mengen einen klaren Sinn hat, der sich aber in Bezug auf unendliche Mengen ändert, gilt dasselbe nun von den natürlichen Zahlen im Verhältnis 70 Vgl. Mühlhölzer im Erscheinen, S. 153-155. 71 BGM, Teil II §19.

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3.3 Diagonalisierung und Überabzählbarkeit zu den reellen Zahlen. Sowohl im Falle von endlich – unendlich, als auch im Falle von abzählbar – überabzählbar handelt es sich nicht um einen Vergleich von Eigenschaften, sondern um verschiedene logische Kategorien.72 Ein Verweis auf die transfinite Reihe der Ordinalzahlen ändert daran auch nichts. Zwar lässt sich mit Verweis auf diese ein Zeichengebrauch der Form 3 < 2ω einführen, dieser Zeichengebrauch gilt dann aber nur in Bezug auf diese Reihe. Und während 3 < 4 dazu verwendet werden kann, zu sagen: „Der 3m Stab ist kürzer als der 4m Stab“ stellt sich die Frage, für welche Aussage der Zusammenhang von 3 < 2ω Bestandteile liefert. Aus diesem Grunde sollte auch eine gewisse Vorsicht in Bezug auf Aussagen wie „Die Menge der reellen Zahlen ist größer als die Menge der natürlichen Zahlen“, und „Es gibt verschieden große Unendlichkeiten“ zugegen sein. Die Begriffsbestimmung, die mittels der Diagonalisierung vorgenommen wird, bestimmt die logische Form zweier Begriffe (natürliche und reelle Zahl) und der Beweis zeigt gerade, wie unähnlich diese logischen Formen sind. Aufgrund der Diagonalisierung also zu sagen, die Menge der reellen Zahlen sei größer als die Menge der natürlichen Zahlen und dadurch „größer“ im Sinne endlicher Größenvergleiche zu verstehen, kommt schon einem Kategorienfehler gleich. In gewisser Weise ist diese Interpretation gerade das Gegenteil dessen, was das Verfahren zeigt. Es zeigt nämlich, wie weit sich reelle Zahlen und natürliche Zahlen unterscheiden und damit gerade nicht derselbe Größenbegriff unreflektiert auf sie angewandt werden kann.73 Eine derartige Interpretation als Aussage über Größenverhältnisse ist nun ebenfalls eine Verwechslung der zufälligen mit der wesentlichen Allgemeinheit, womit sich Wittgensteins Bemerkungen zur Diagonalisierung auch in dessen generelle Kritik der Mengenlehre einordnen lassen. Die Größe der Menge der reellen Zahlen ist keine Eigenschaft der reellen Zahlen, man kann nicht sagen, es fallen so und so viele Zahlen unter den Begriff reelle Zahl, wie man sagen kann, es fallen so und so viele Gegenstände unter den Begriff Apfel – und zwar aus einem bereits bekannten Grund: Es liegt hier immer der Fehler vor, der in der Mathematik allgemeine Begriffe und besondere Fälle sieht. In der Mengenlehre treffen wir auf Schritt und Tritt diese verdächtige Allgemeinheit. Man möchte immer sagen: «Kommen wir zur Sache!» Jene allgemeinen Betrachtungen haben stets nur Sinn, wenn man einen bestimmten Anwendungsbereich im Auge hat. Es gibt eben in der Mathematik keine Allgemeinheit, deren Anwendung auf 72 Vgl. zum Unterschied zwischen endlich und unendlich auch PG, S. 463-464, deren Überlegung hier auf

den Unterschied zwischen abzählbar und überabzählbar angewandt wird. 73 Vgl. BGM, Teil II §21.

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3 Unendlichkeit und Mathematik – Wittgenstein spezielle Fälle sich noch nicht voraussetzen ließe.74

Dieser Anwendungsbereich ist in diesem Fall der der reellen Zahlen und von diesen „speziellen Fällen“ ergibt sich erst der Sinn der Aussage. Man kann nicht sagen, der obige Beweis zeigt, dass es verschiedene Unendlichkeiten gibt, nämlich abzählbar und überabzählbar unendlich, unter die jeweils die natürlichen und die reellen Zahlen fallen. Abzählbar und überabzählbar sind keine Zahlen, die angeben, wie viele Gegenstände unter die Begriffe natürliche und reelle Zahl fallen. Überabzählbarkeit, wie sie mittels Diagonalisierung ‚bewiesen‘, d.h. eingeführt wird, ist eine Bestimmung der logischen Form der reellen Zahlen. Sie zeigt, dass es sinnlos ist, „von einer «Reihe aller reellen Zahlen» zu reden, weil man ja auch die Diagonalzahl der Reihe eine «reelle Zahl» nennt.“75 Hiermit liegt also genau die Bestimmung vor, mittels derer auch die formalen Begriffe im Tractatus charakterisiert wurden. So, wie ein formaler Begriff durch den Gegenstand, der unter ihn fällt, bereits gegeben ist, so ist auch der Begriff der Überabzählbarkeit nur mittels der reellen Zahlen gegeben und zwar als die logische Form derselben. Die Grundlagen, die im Tractatus geschaffen und mittels der Spielanalogie in die post-Tractatus Philosophie eingegliedert wurden, finden daher konsequenterweise in der allgemeinen Kritik der Mengenlehre und somit auch in der Diskussion des Diagonalverfahrens Anwendung. Ein interessanter abschließender Punkt lässt sich anführen, wenn diese Ergebnisse wiederum auf die allgemeine Auffassung Wittgensteins bezogen werden, nach der jeder Beweis eines mathematischen Satzes die Bedeutung desselben (mit)bestimmt. Insbesondere wird nun das Phänomen interessant, dass ein Satz mehrere Beweise haben kann. So ist z.B. das Verfahren der vollständigen Induktion nicht die einzige Möglichkeit Allaussagen in Bezug auf natürliche Zahlen zu beweisen. Dieser Umstand ist insofern unproblematisch, dass die Allgemeinheit dort auf die Zahlvariable zurückgeführt wurde, die wiederum auf die induktive Struktur der natürlichen Zahlen verweist. In diesem Sinne konnte der Induktionsbeweis auch als ein Verfahren verstanden werden, das die induktive Struktur der natürlichen Zahlen explizit macht. Im Falle des Diagonalverfahrens allerdings wurde in einem noch stärkeren Sinne behauptet, dass die Aussage |R| < |N| vor der Erfindung des Verfahrens sinnlos ist bzw. war (und nicht einmal so etwas wie einen Verweis auf eine zugrundeliegende induktive Struktur enthält). Mit anderen Worten: Die Grundlage für einen Vergleich der natürlichen mit den reellen Zahlen war vor der Einführung des Verfahrens noch gar nicht gelegt worden. Dies führte dann zu der These, dass das Diagonalverfahren den Sinn des Begriffs „überabzählbar“ aller erst bestimmt. 74 PG, S. 467. 75 BGM, Teil II §16.

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3.3 Diagonalisierung und Überabzählbarkeit Allerdings gibt es mittlerweile mehrere Beweise der Überabzählbarkeit der reellen Zahlen und es stellt sich die Frage, ob sich diese allesamt des Verfahrens der Diagonalisierung bedienen. Ein Nein als Antwort würde mitsamt ihrer Aktualität auch die Gültigkeit von Wittgesteins Bemerkungen infrage stellen, denn dann wäre die mathematische Entwicklung soweit vorangeschritten ist, dass sie nicht mehr den Untersuchungsbereich bildet, auf den Wittgenstein sich bezogen hat – und damit auch der Begriff der Überabzählbarkeit nunmehr eine reichere Bedeutung hat. Eine Antwort auf diese Frage ist allerdings nicht leicht zu geben, da Diagonalisierung in gewisser Weise auch versteckt zur Anwendung kommen kann.76 Hierzu müssten also alle anderen Beweise (und womöglich auch deren Prämissen) im Hinblick auf Diagonalisierung untersucht werden. Und das würde zunächst eine konzeptionelle Bestimmung des Beweisverfahrens (anstelle der in dieser Arbeit gegebenen illustrativen Erörterung) erfordern. Ein derart umfangreiches Unterfangen muss daher einer anderen Gelegenheit überlassen bleiben. An dem metapyhsischen Punkt, nach welchem die Bedeutung des Unendlichkeitsbegriffes in den Kalkülen zu finden ist, würde dies aber nichts ändern. Die Untersuchung zum Unendlichen in der Mathematik und damit der zweite Teil der Frage nach der Erkenntnis des mathematisch Unendlichen ist dahingehend abgeschlossen. Es bleibt also nur, diese Ergebnisse nochmals auf die metaphysische Endlichkeit zu beziehen.

76 Cantor

selbst hatte insgesamt drei Beweise für die Überabzählbarkeit der reellen Zahlen formuliert, von denen der letzte erst das Diagonalargument in obiger Form enthält. Allerdings lassen sich auch in den vorherigen Beweisen wesentliche Bestandteile des Diagonalargumentes aufweisen, vgl. Franks 2010.

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3 Unendlichkeit und Mathematik – Wittgenstein Zusammenfassung Die Reihe der transfiniten Ordinalzahlen ist auch ohne die Annahme einer Menge aller Ordinalzahlen sinnvoll. Ihre Unendlichkeit zeigt sich, ähnlich dem Falle der natürlichen Zahlen, in den Regeln, die vom Gebrauch des Zeichens „. . . “ gelten. Das Verfahren der Diagonalisierung ist genuin begriffsbildend. Auch die Überabzählbarkeit ist daher keine Charakterisierung ontologisch fragwürdiger Entitäten, sondern der Unterschied in den logischen Formen der natürlichen und der reellen Zahlen.

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4 Unendlichkeit und Endlichkeit Der Mensch ist – als erkennender betrachtet – ein endliches Vernunftwesen. Als solches ist er für sein Denken auf etwas außerhalb von ihm angewiesen, auf etwas, das sein „Gemüt affiziert“.1 Jegliche Erkenntnis geht von der Erfahrung aus. Darin besteht seine metaphysische Endlichkeit. Jegliche Verstandeserkenntnis, die ausgehend davon gewonnen wird, stellt immer ein Bedingtes unter Bedingungen vor. Darin besteht die mathematische Endlichkeit des Menschen. Ausgehend von diesem Befund wurde nun gefragt, inwiefern Erkenntnis des mathematisch Unendlichen möglich ist und worin sie bestehe. Hierzu wurden in Bezug auf zwei Gebiete, in denen das mathematisch Unendliche zu Sprache kommt, jeweils eine Antwort gegeben: Auf die Vorstellbarkeit der unendlichen Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten und auf den Umgang mit unendlichen Zahlen und verschieden großen Unendlichkeiten in der Mathematik. Die Untersuchung des Beweises der These der ersten Antithethik der Antinomie der reinen Vernunft hat ergeben, dass eine unendliche Reihe von Zeitpunkten nicht Gegenstand der Verstandeserkenntnis sein kann. Es ist gleichermaßen nicht möglich, sinnvoll über sie zu sprechen. Im Zuge dieser Untersuchung wurde ebenfalls gezeigt, dass ein mathematischer Umgang mit dem Unendlichen (wie z.B. in Gestalt unendlicher Zahlen) nicht ohne weiteres auf die Vorstellung der Zeitreihe angewandt werden darf und somit auch Raum und Notwendigkeit geschaffen wurden, Unendlichkeit im Bereich der Mathematik gesondert zu untersuchen. Allerdings wurde in der Hinführung zur Antinomie bereits aufgezeigt, dass dieselbe Vorstellung einer unendlichen Zeitreihe von unserem Erkenntnisapparat notwendigerweise gebildet wird. Die Vernunft bildet den Begriff einer unendlichen Reihe aller Bedingungen, um jede einzelne (Verstandes)Erkenntnis in einen Gesamtzusammenhang von Erkenntnissen einzuordnen und dieselben so zu systematisieren. Anstatt jedoch diese unendliche Reihe von Zeitpunkten, anhand derer die Reihe der Bedingungen modelliert wird, als Ganze vorzustellen, geschieht die Systematisierung vermittels des regulativen Prinzips, welches uns auffordert, zu jedem bedingt vorgestellten die Bedingung zu suchen. Die Unendlichkeit qua Indefinitheit dieses Bedingungsregresses wird ebenfalls anhand der Zeitrei1 KrV, A19/B33.

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4 Unendlichkeit und Endlichkeit he vorgestellt, allerdings nicht als Gegenstand der Verstandeserkenntnis, sondern als Form einer jeden Reihenvorstellung. Da jeder Gegenstand der Verstandeserkenntnis als raum-zeitlich bedingt vorgestellt wird, enthält die Vorstellung dieses Gegenstandes ebenfalls die Möglichkeit des Regresses zu seinen (ebenfalls raum-zeitlichen) Bedingungen. Mit einem Wort: Unendlichkeit ist die transzendentale Form endlicher Gegenstandserkenntnis. Eine analoge Problemkonstellation und ein Lösungsvorschlag wurde in der Behandlung des Unendlichen in der Mathematik gefunden. Ausgangspunkt war hier, dass die unendlichen Zahlen und die verschieden großen Unendlichkeiten ebenso an unsere Endlichkeit gebunden sind, denn der Umgang mit denselben in der Mathematik ist nur mittels endlich vieler Zeichen möglich. Das Problem, das sich im Umgang mit dem Unendlichen in der Mengenlehre stellte, bestand darin, dass die Existenz eines inkonsistenten Absolut-Unendlichen als Garant sinnvoller allgemeiner Aussagen über (alle) Mengen allem Anschein nach angenommen werden musste. Dieses Problem bestand jedoch nur insoweit, als dass Aussagen über Mengen (und generell mathematische Sätze) als Aussagen über Gegenstände aufgefasst wurden. Insofern es nämlich um Aussagen über Gegenstände geht, ist es für die Bedeutung allgemeiner Aussagen erforderlich, dass ihre Gesamtheit als gegeben angenommen wird. Eine Alternative hierzu bietet Wittgensteins Theorie der formalen Begriffe und deren Situierung in der Auffassung mathematischer Sätze in Analogie zum Spiel. Mathematische Zeichen werden bedeutungsvoll (zu Symbolen) nicht aufgrund der Entitäten, auf die sie referieren, sondern aufgrund des Regelzusammenhanges, in dem sie stehen. Dieser Regelzusammenhang ermöglicht es uns auch, mathematische Zeichen zu gebrauchen, um uns auf die Wirklichkeit zu beziehen. Im Gebrauch dieser Zeichen, d.h. in den erlaubten Zeichenverbindungen (wie in der Verwendung des Zeichens „usw.“) zeigt sich die Unendlichkeit und zwar insofern, als das der Möglichkeit gewisser Zeichenverknüpfungen (wie der Hinzufügung um Eins) durch die von ihnen geltenden Regeln selbst keine Grenzen gesetzt werden. Hierauf aufbauend lassen sich auch allgemeine Aussagen in der Mathematik erklären. Ihr Sinn besteht gerade in dem Bezug auf die in den Zeichen liegende unendliche Möglichkeit. So zeigt ein Induktionsbeweis anhand der Struktur der natürlichen Zahlen, dass eine gewisse Eigenschaft in derselben Weise weitergegeben wird, wie die Hinzufügung um eins. Diese Idee kann sodann auf die Mengenlehre und deren Unendlichkeitshierarchie übertragen werden. Für die unendliche Reihe der Ordinalzahlen gilt dasselbe, wie für die natürlichen Zahlen und die verschieden großen Mächtigkeiten unendlicher Zahlenmengen haben sich als Verschiedenheit der logischen Form erwiesen. Damit ist die Möglichkeit der Mengenlehre auch ohne die Vorstellung eines Absolut-Unendlichen gegeben.

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Somit wurde gezeigt, wie die mathematische Endlichkeit des Menschen durchaus einen Umgang mit der mathematischen Unendlichkeit zeitigt und wie Erkenntnis des Unendlichen, sofern sie im oben explizierten Sinne als die Form des Endlichen verstanden wird, auch für endliche Vernunftwesen möglich ist. *

*

*

Da wir nun gesehen haben, dass die Erkenntnis des mathematisch Unendlichen möglich ist, ist es nun auch naheliegend nach einer Erkenntnis des metaphysisch Unendlichen zu fragen. Die Antwort auf diese Frage lautet: Ja, denn wir sind trotz unserer mathematischen und metaphysischen Endlichkeit in anderer Hinsicht doch auch metaphysisch Unendlich – und zwar sofern wir uns nicht als erkennende sondern als moralisch handelnde Vernunftwesen verstehen. Damit ist die Einschränkung auf die Betrachtung des Menschen als erkennendes Wesen, die den Rahmen der bisherigen Untersuchung stellte, gehoben. Bemerkenswerter Weise spielt aber auch für die Betrachtung des Menschen als handelndes Wesen die mathematische und metaphysische Endlichkeit unseres Erkenntnisvermögens eine zentrale Rolle. Diese Verbindung sollte noch erwähnt werden. Um sie nachzuvollziehen, wird nochmals bei der metaphysischen Endlichkeit angesetzt. Sie wurde dadurch charakterisiert, dass uns etwas von außerhalb gegeben werden musste, von dem der Verstand dann Erkenntnis bildet. Hierbei wurde nun ein zentrales Detail zwar nicht erwähnt, aber doch als Voraussetzung bereits erfüllt: Die Tatsache, dass ich mir dessen bewusst bin!2 Ich bin mir bewusst, ein endliches Vernunftwesen zu sein, ich bin mir bewusst, dass mein Verstand auf die Erfahrung angewiesen ist und vor allem, dass ich Teil einer Welt bin, die nach gewissen (Natur)Gesetzen funktioniert. Dass ich mir all dessen bewusst bin, hat einerseits, wie in der Transzendentalen Deduktion3 gezeigt wird, eine zentrale Position in der theoretischen Fundierung der Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung. Was aber in Bezug auf das Unendliche von noch größerem Interesse ist, sind dessen praktische Konsequenzen. Ich bin mir nämlich in meiner metaphysischen Endlichkeit ebenso bewusst, dass ich ein moralisch handelndes Wesen bin und ich mich aufgrund dessen als frei begreifen muss.4 Doch das ist nur möglich, insofern ich, und hier muss nun im Hinblick auf das Folgende ergänzt werden: in theoretischer Hinsicht, metaphysisch und mathematisch endlich bin. Dieser Zusammenhang ergibt sich wie folgt: Ich handele frei, insofern ich nach der Autonomie des moralischen Gesetzes handele, denn die Bestimmung meines 2 Vgl. Moore 2001, 220f. 3 Vgl. KrV, B116-B169. 4 Vgl. KpV, A53.

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4 Unendlichkeit und Endlichkeit Willens nach dem moralischen Gesetz geschieht außerhalb bzw. unabhängig vom Kausalitätszusammenhang der Welt.5 Darin unterscheide ich mich zunächst von der Welt, auf die ich für meinen theoretischen Verstandesgebrauch angewiesen bin, wie Kant in der Kritik der Urteilskraft anführt. Weil nun aber hier die objektive Notwendigkeit der Handlung, als Pflicht, derjenigen, die sie als Begebenheit haben würde, wenn ihr Grund in der Natur und nicht in der Freiheit (d.i. der Vernunftkausalität) läge, entgegengesetzt, und die moralisch-schlechthin-notwendige Handlung physisch als ganz zufällig angesehen wird [...], so ist klar, daß es nur von der subjektiven Beschaffenheit unseres praktischen Vermögens herrührt, daß die moralischen Gesetze als Gebote vorgestellt werden müssen, ...6

Das, was in der Welt geschieht, geschieht nach Naturgesetzen und ist daher in Bezug auf das moralische Gesetz, das mich als freier Mensch in meinem Handeln leitet, zufällig. Denn manchmal handeln Menschen nach dem moralischen Gesetz, aber manchmal auch nicht. Aus diesem Grunde kann das Moralische nicht in der Welt liegen, sondern muss im Subjekt liegen, das, insofern es sich selbst als unter dem moralischen Gesetz stehend begreift, nicht innerhalb des Kausalzusammenhangs der Welt stehend gedacht werden kann. Eine ähnliche Stelle findet sich auch in Wittgensteins Tractatus, der jedoch in Bezug auf die moralische Bestimmung des Menschen etwas wortkarger ist: Der Sinn der Welt muß außerhalb ihrer liegen. [...] Es gibt in ihr keinen Wert. Wenn es einen Wert gibt, der Wert hat, so muß er außerhalb alles Geschehens und So-Seins liegen. Denn alles Geschehen und so sein ist zufällig.[6.41]

Diese bemerkenswerten letzten Stellen des Tractatus stehen m.E. im Geiste des eben Gesagten, denn hier wird dieselbe Trennung zwischen dem Kausalzusammenhang der Welt und dem vollzogen, was Wittgenstein „Wert“ nennt und was m.E. auch in einem moralischen Sinne verstanden werden sollte.7 Das moralische Gesetz ist ein Gebot für unser Handeln, dem wir folgen, es aber auch unterlassen können. Unsere Handlungen erfolgen zwar in der Welt, aber das moralische Gesetz, was sie anleiten sollte, muss außerhalb derselben stehen. Hierbei ergibt sich nun eine Besonderheit, die einen intimen Zusammenhang zum Thema der metaphysischen und mathematischen Unendlichkeit aufzeigt. Das moralische Gesetz ist ohne unsere metaphysische und mathematische Endlichkeit gar nicht denkbar, denn nur diese ermöglicht, dass es in der für es charakteristischen Form des 5 Vgl. KpV, A52. 6 KU, B343 (§76). 7 Für die Zusammenführung dieser Ansätze vgl. ausführlicher Moore 2001, Kapitel 15.

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Sollens auftreten kann. Die oben zitierte Stelle aus der Kritik der Urteilskraft, setzt sich folgendermaßen fort: ... und die Vernunft diese Notwendigkeit [der moralischen Gebote] nicht durch ein Sein (Geschehen), sondern Sein-Sollen ausdrückt; welches nicht stattfinden würde, wenn die Vernunft ohne Sinnlichkeit [...] ihrer Kausalität nach, mithin als Ursache in einer intelligibelen, mit dem moralischen Gesetz durchgängig übereinstimmenden Welt betrachtet würde, wo zwischen Sollen und Tun, zwischen einem praktischen Gesetze von dem, was durch uns möglich ist und dem theoretischen von dem, was durch uns wirklich ist, kein Unterschied sein würde.8

Ein in theoretischer Hinsicht metaphysisches Unendliches, von Kant intellektuelle Anschauung bzw. anschauender Verstand genannt, hat nicht die Beschränkung einer ihm externen Welt, die dessen „Gemüt affizieren“ muss, um die Verstandestätigkeit „zu wecken“.9 Als solche stellt sich die Welt einem derartigen Verstand auch nicht als mathematisch unendlich gegenüber der eigenen mathematischen Endlichkeit dar. Das schließt nun auch die Unterscheidung von Wirklichkeit und Möglichkeit ein. Einem anschauenden Verstand ist das, was gedacht wird, notwendig das, was geschieht.10 Aber ohne die Möglichkeit etwas zu Tun, kann sich auch die Forderung nach selbigem Tun nicht ergeben. Und damit kann auch nicht mehr von einem moralischen Gesetz die Rede sein. Es ist also gerade die mathematische Endlichkeit – hier nicht bloß in Form einer gleichartigen Reihe, sondern in Form des Kausalzusammenhanges vorgestellt11 – die eine Bedingung davon ist, dass wir uns als moralische Akteure, die nach der Autonomie der Vernunft handeln (können), auffassen. Und in dieser Formulierung deutet es sich schon an: Als moralische Akteure sind wir, insofern wir nach den Geboten einer autonomen praktischen Vernunft handeln, gerade nicht mehr bedingt – diese Vernunft gibt sich ihre Gesetze selbst. Also ist auch der Mensch, insofern er unter dem Aspekt seiner praktischen Vernunft begriffen wird, metaphysisch Unendlich. Diesen Kontrast zwischen der mathematischen Unendlichkeit der Welt aus theoretischer Sicht und der Unendlichkeit des moralischen Gesetzes aus praktischer Sicht stellt Kant in der Schlusspassage der Kritik der praktischen Vernunft vor. Sie ist wohl eine seiner populärsten Stellen. Mit dem Ergebnis dieser Arbeit sollte Kants Erwähnung der „wahren Unendlichkeit“ hierbei nun einen besonderen Klang bekommen. 8 KU, B343 (§76). 9 KrV, A19/B33. 10 Vgl. KU, B340f. 11 Vergleiche hierzu auch die Unterscheidung zwischen Welt und Natur als jeweilige Aspekte des umfassen-

den Weltbegriffes in 1.1.2

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4 Unendlichkeit und Endlichkeit Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt, oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise, suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz. Das erste fängt von dem Platze an, den ich in der äußern Sinnenwelt einnehme, und erweitert die Verknüpfung, darin ich stehe, ins unabsehlich-Große mit Welten über Welten und Systemen von Systemen, überdem noch in grenzenlose Zeiten ihrer periodischen Bewegung, deren Anfang und Fortdauer. Das zweite fängt von meinem unsichtbaren Selbst, meiner Persönlichkeit, an, und stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstande spürbar ist, und mit welcher (dadurch aber auch zugleich mit allen jenen sichtbaren Welten) ich mich nicht, wie dort, in bloß zufälliger, sondern allgemeiner und notwendiger Verknüpfung erkenne.12

12 KpV, A289.

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Jann Paul Engler

Jann Paul Engler studierte Philosophie, Mathematik und Computerlinguistik in Jena, Wien und München. Zur Zeit promoviert er an der University of St Andrews in Schottland zu aktuellen Fragen in der Philosophie der Mathematik. Darüber hinaus interessiert er sich für die Philosophie Kants und Wittgensteins.

Aspekte des Unendlichen bei Kant und Wittgenstein

Der Mensch ist endlich und doch besitzt er Erkenntnis des Unendlichen. Wie ist das möglich? Und worin besteht diese Erkenntnis? Kann unsere Erfahrungswelt unendlich sein? Warum können wir in der Mathematik scheinbar problemlos mit unendlichen Zahlen rechnen? Diese Fragen werden anhand einer Interpretation von Texten Immanuel Kants und Ludwig Wittgensteins untersucht.

www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40399-8

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Jann Paul Engler

Aspekte des Unendlichen bei Kant und Wittgenstein Frank Kell

Demokratie und Sozialismus und Freiheit Die DDR-Bürgerrechtsbewegung und die Revolution von 1989/90