Normung und Rechtsangleichung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft [1 ed.] 9783428477470, 9783428077472

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Normung und Rechtsangleichung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft [1 ed.]
 9783428477470, 9783428077472

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Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft

Band 75

Normung und Rechtsangleichung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft

Von

Günter Breulmann

Duncker & Humblot · Berlin

GÜNTER

BREULMANN

Normung und Rechtsangleichung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft

Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft Herausgegeben im Auftrag der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster durch die Professoren Dr. Hans-Uwe Erichsen Dr. Helmut Kollhosser Dr. Jürgen Welp

Band 75

Normung und Rechtsangleichung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft

Von

Günter Breulmann

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Breulmann, Günter: Normung und Rechtsangleichung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft / von Günter Breulmann. Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft ; Bd. 75) Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 1992/93 I S B N 3-428-07747-4 NE: G T

D 6 ©

Alle Rechte vorbehalten 1993 Duncker & Humblot G m b H , Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany I S S N 0935-5383 I S B N 3-428-07747-4

Vorwort

Die vorliegende Arbeit hat im Wintersemester 1992/93 der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität als Dissertation vorgelegen. Kleinere nachträgliche Änderungen sowie Ergänzungen gehen auf entsprechende Anregungen der Berichterstatter im Promotionsverfahren zurück. Die für die Untersuchung maßgebliche Rechtsprechung und Literatur konnte in den meisten Fällen noch bis Herbst 1992 berücksichtigt werden. Zu großem Dank verpflichtet bin ich Prof. Dr. Dirk Ehlers, der nicht nur die Bearbeitung der Thematik angeregt hat, sondern der die Fertigstellung der Arbeit auch durch meine Beschäftigung als wissenschaftliche Hilfskraft an seinem Institut für Wirtschaftsverwaltungsrecht unterstützte. Ferner danke ich Prof. Dr. Erichsen und den Mitherausgebern für die Aufnahme der Arbeit in die Schriftenreihe "Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft" sowie der Westfälischen Wilhelms-Universität für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Gewidmet ist die Arbeit meinen Eltern.

Münster, im März 1993 Günter Breulmann

Inhaltsverzeichnis

Einführung

19

1. Kapitel Zur Normung im Europäischen Wirtschaftsraum

§ 1

Der Begriff „Technische Normen"

29

I.

Definition des Begriffes „Norm"

29

II.

Die einzelnen Begriffsmerkmale

31

1.

Technische Spezifikation

31

2.

Annahme durch eine anerkannte Normungsorganisation

33

3.

Bestimmt zur wiederholten oder ständigen Anwendung

37

4.

Freiwilligkeit

38

5.

Der Öffentlichkeit zugänglich

39

§2

Die Träger der Europäischen Normung

I.

Die Europäischen Normungsverbände

41

1.

41

2.

II.

CEN

40

a)

Überblick

41

b)

Entwicklung des CEN

41

CENELEC

43

a)

Überblick

43

b)

Entwicklung des CENELEC

44

Die Organisationsstruktur von CEN / CENELEC

45

1.

45

2.

Vorbemerkung Entscheidungszuständigkeiten innerhalb der Normungsverbände

46

a)

46

Die Generalversammlung

nsverzeichnis b)

Der Präsident

47

c)

Lenkungs- bzw. Verwaltungsrat

48

d)

Generalsekretär

48

e)

Technisches Büro

49

f)

g)

Technische Komitees

50

aa) Arbeitsgruppen

52

bb) Unterkomitees

52

Programmkomitees

53

§3

Arbeitsergebnisse der Europäischen Normung

I.

Europäische Dokumente

54

1.

54

II.

Die Europäische Norm

. 54

2.

Harmonisierungsdokumente

55

3.

Europäische Vornormen

57

4.

Exkurs: Euronormen

59

Das Normaufstellungsverfahren

60

1.

Projektauswahl

60

2.

Entwurfs verfahren

61

a)

„Fragebogenverfahren"

62

b)

„CEN / CENELEC-Umfrage"

63

c)

Stillhaltevereinbarung

64

3.

Zum Ablauf des AbstimmungsVerfahrens

65

4.

Berufungsverfahren

67

§4

Die Rechtsnatur Europäischer Normen

68

I.

Normen keine Bestandteile des geschriebenen Gemeinschaftsrechts

69

II.

Normen keine Bestandteile des ungeschriebenen Gemeinschaftsrechts

70

1.

Langandauernde, einheitliche Übung

71

2.

Überzeugung der beteiligten Verkehrskreise von der rechtlichen Verbindlichkeit

III.

Normen keine „Usancen der Technik"

. . 73 74

2. Kapitel Zur Reichweite der Rechtsangleichungsmöglichkeiten im Bereich technischer Regeln nach Art. 100 a E W G V § 1

Vorbemerkung

76

nsverzeichnis

9

§ 2 Zur Reichweite der Rechtsangleichung im Anwendungsbereich des Art 100 a EWGV

77

I.

Begriffsmerkmale des Art. 100 a EWGV als „echte" Tatbestandsvoraussetzungen

78

II.

Vorliegen der Voraussetzungen für eine Rechtsangleichung nach Art. 100 a EWGV . . . 80 1.

Rechts- und Verwaltungsvorschriften

80

a)

Begriffe

80

aa) Rechtsvorschriften

80

bb) Verwaltungsvorschriften

82

b)

Ausreichen einer Vorschrift zur Aktivierung des Art. 100 a EWGV

82

c)

Zur Angleichungsmöglichkeit im Bereich technischer Handelshemmnisse . . . . 83 aa) Angleichung technischer Vorschriften

83

bb) Angleichung technischer Normen 84 (1) Stellungnahmen der EG-Kommission zu Art. 30 EWGV kein Beleg für eine Einbeziehung technischer Normen 84 (2) Stellungnahmen von Rat und Kommission als Belege für die Ausklammerung technischer Normen aus dem Harmonisierungskonzept 89 (3) Die „Informationsrichtlinie" als Beispiel für die Differenzierung zwischen technischen Normen und Vorschriften (4) Ergebnis

2.

92

dd) Ergebnis

95 96

a)

„Binnenmarkt"

96

aa) Vorbemerkung

96

bb) Begriffsbestimmung Errichtung oder Funktionieren

Ergebnis

§ 3 Das Konkurrenzverhältnis des Art. 100 a EWGV zu anderen Vorschriften des E WG-Vertrages I.

92

cc) Angleichung staatlich rezipierter Normen

Errichtung oder Funktionieren des Binnenmarktes

b) 3.

90

97 101 102

102

Art. 100 EWGV

102

1.

Fragestellung

102

Subsidiarität des Art. 100 EWGV gegenüber Art. 100 a EWGV?

103

2.

a)

Art. 100 a Absatz 1 Satz 1 EWGV als Beleg für die Subsidiarität des Art. 100 EWGV

104

b)

Verweis auf Art. 8 a EWGV kein Indiz für die weitere Anwendbarkeit des Art. 100 EWGV

105

10

nsverzeichnis c)

Umgehung der Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses 106

d)

Möglichkeit des Art. 100 a Absatz 4 EWGV kein Argument für den Rückgriff auf Art. 100 EWGV 107

e)

Ergebnis

112

II.

Art. 101 EWGV

113

III.

Art. 30 EWGV

116

1.

Problemstellung

116

2.

Keine alternative Anwendbarkeit der Art. 30, 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV . . . .

117

3.

Zielrichtung der Art. 30, 100 a EWGV

118

4.

Bedeutung für die „Neue Konzeption"

121

IV.

Art. 235 EWGV

123

§4

Ergebnis

124

3. Kapitel Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände in die Rechtsangleichungsmaßnahmen im Bereich der „Neuen Konzeption" § 1

Vorbemerkung

125

§ 2

Die Verweisung auf Normen als Mittel zur Rechtsangleichung

126

I.

Die Verweisung

126

1.

Begriff

126

2.

Erscheinungsformen

127

a)

Statische und dynamische Verweisung

128

b)

Die rechtsnormergänzende Verweisung

132

c)

Die rechtsnormkonkretisierende Verweisung

136

II.

Die Verweisungstechnik der „Neuen Konzeption"

138

1.

Verweisung als rechtsnormkonkretisierende Verweisung

138

2.

Verweisung als dynamische Verweisung

140

§3

Die rechtliche Bedeutung Europäischer Normen nach der „Neuen Konzeption" . . 141

I.

Fragestellung

141

II.

Mögliche Rechtswirkungen einer Inbezugnahme von Normen

142

nsverzeichnis III.

11

Zur Übertragbarkeit der Ansätze auf die Rechtslage nach der „Neuen Konzeption" . . .

144

1.

Gesetzliche Sicherheitsvorschriften

145

2.

Gesetzliche Fiktion

146

3.

Unwiderlegbare Vermutung

148

4.

Widerlegbare Vermutung

151

a)

151

Vorbemerkung

b)

Der Begriff „widerlegbare Vermutung"

c)

Die rechtliche Bindung der Mitgliedstaaten an die harmonisierten Normen

154 . . 156

aa) Zur Bindung der Verwaltungsbehörden (1) Auslegung der „Modellrichtlinie"

158

(2) Bedeutung des Schutzklauselverfahrens

161

(3) Sinn und Zweck der Verweisungstechnik

162

bb) Zur Bindung der Gerichte

d)

158

164

(1) Auslegung der „Modellrichtlinie"

164

(2) Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache 815/79

168

cc) Ergebnis

173

Abschließende Stellungnahme

173

§ 4 Die Verweisungstechnik der „Neuen Konzeption" als unzulässige Delegation von Hoheitsbefugnissen?

175

I.

Fragestellung

175

II.

Vorliegen einer Delegation

177

1.

2.

Der Delegationsbegriff

177

a)

Auslegung des EWG-Vertrages

177

b)

Die „Meroni-Rechtsprechung" des EuGH

178

aa) Der den Urteilen zugrundeliegende Sachverhalt

179

bb) Der Delegationsbegriff des EuGH

182

(1) Abgrenzung zur Ermächtigung

182

(2) Formen einer Delegation

184

cc) Ergebnis

186

c)

Im Schrifttum vertretener Delegationsbegriff

186

d)

Stellungnahme

188

Ausübung hoheitlicher Aufgaben durch die europäischen Normungsverbände? . . .

192

a)

Die Rechtswirkung der bezogenen Normen als entscheidendes Kriterium . . . .

192

b)

Bedeutung für die „Neue Konzeption"

195

12

nsverzeichnis 3.

Eigenverantwortliche Wahrnehmung hoheitlicher Befugnisse durch die Normungsverbände 199 a)

Mandate der EG-Kommission

b)

Mitwirkungsmöglichkeiten der EG-Kommission im Verfahren der Normenaufstellung 202

c)

Veröffentlichung der Normenfundstellen durch die Kommission

203

aa) Merkmal der „Abänderbarkeit"

204

bb) Fehlen einer formellen Rezeption der Normen vor der Veröffentlichung

d)

200

. 206

(1) Auslegung der „Modellrichtlinie"

207

(2) Vergleich mit der Rl. 91 / 263 / EWG

209

(3) Sinn und Zweck der Veröffentlichung der Normenfundstellen

210

cc) Ergebnis

211

Verwaltung der Normenliste und Schutzklauselverfahren

212

aa) Einleitung des Verfahrens vor Veröffentlichung der Normenfundstellen . . 213 bb) Einleitung des Verfahrens nach Veröffentlichung der Normenfundstellen . 215 4. III.

Abschließende Stellungnahme

Vereinbarkeit einer „faktischen Delegation" von Rechtsetzungsbefugnissen auf private Verbände mit dem EWG-Vertrag

215

217

1.

Art. 100 a EWGV als vertragliche Rechtsgrundlage für die Anordnung einer Delegation? 217

2.

Erforderlichkeit einer vertraglichen Rechtsgrundlage für die Anordnung einer Delegation? 221 a)

222

b)

2. These: Delegation nur aufgrund einer ausdrücklichen Handlungsermächtigung zulässig

223

c)

Relevanz des Meinungsstreits für die vorliegende Untersuchung

225

d) 3.

1. These: Vertragliche Handlungsermächtigung in den Grenzen der „MeroniRechtsprechung" nicht erforderlich

aa) Bewertung der Thesen

225

bb) Zusammenfassung

229

Ergebnis

230

Exkurs: „Faktische Delegation" unter Zugrundelegung der „Meroni-Rechtsprechung" vertragskonform? a)

230

Vertragswidrigkeit aufgrund Fehlens einer ausdrücklichen Delegationsanordnung

231

Vertragswidrigkeit aufgrund des Umfangs der übertragenen Befugnisse

234

§ 5 Vereinbarkeit der Harmonisierungsrichtlinien mit den Art. 190,191 EWGV

238

I.

239

b)

Bekanntgabe

nsverzeichnis

II.

13

1.

Umfang der Verpflichtung aus Art. 191 Absatz 2 EWGV

239

2.

Vorliegen der Voraussetzungen

241

Begründung

244

1.

Sinn und Zweck

244

2.

Umfang der Begründungspflicht

247

3.

Vorliegen der Voraussetzungen

251

§ 6 Abschließende Zusammenfassung

255

4. Kapitel Reformüberlegungen

§ 1

Vorbemerkung

257

§ 2

Mögliche Ansatzpunkte

258

I.

Beseitigung der den Normen zufallenden Rechtswirkungen

258

II.

Formelle Rezeption der Normen durch die Kommission

262

1.

Ausgestaltung dieser Konzeption

262

2.

Vertragskonformität

266

a)

Keine Delegation von Hoheitsbefugnissen auf außervertragliche Stellen

266

b)

Keine Verletzung des institutionellen Gleichgewichts im Verhältnis des Rates zur Kommission

268

Art. 190, 191 EWGV

273

Abschließende Bewertung

275

c)

3.

Literaturverzeichnis

279

Abkürzungsverzeichnis A.A.

anderer Ansicht

a.a.O.

am angegebenen Ort

ABl. EG

Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften

A.F.

alte Fassung

AK

Alternativkommentar

Anm.

Anmerkung

AÖR

Archiv des öffentlichen Rechts

Art.

Artikel

AT BGB

Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches

BayVBl

Bayerische Verwaltungsblätter

BayVGH

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

BB

Betriebsberater

Bd.

Band

BGBl.

Bundesgesetzblatt

BGH

Bundesgerichtshof

BGHZ

Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen

BImSchVO

Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes

BR-DrS.

Drucksache des Deutschen Bundesrates

BT-DrS.

Drucksache des Deutschen Bundestages

BullEG

Bulletin der Kommission der Europäischen Gemeinschaften

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

Entscheidunges des Bundesverfassungsgerichtes

BVerwG

Bundesverwaltungsgericht

BVerwGE

Entscheidungen des Bundesveraltungsgerichtes

CEN

Comité Européen de Normalisation

CENEL

Comité Européen de Normalisation Électrotechnique

CENELCOM

Comité Européen de Coordination des Normes Électriques des Pays Membres de la Communauté Européenne

CENELEC

Comité Européen de Normalisation Électrotechniques

CMLR

Common Market Law Report

Abkürzungsverzeichnis CMLRev.

Common Market Law Review

COCOR

Commission de Coordination

ders.

derselbe

DIN

Deutsches Institut für Normung

DIN-Mitt.

Mitteilungen des Deutschen Instituts für Normung

DKE

Deutsche Elektrotechnische Kommission

DÖV

Die öffentliche Verwaltung

DVB1

Deutsches Verwaltungsblatt

DVGW

Deutscher Verband des Gas- und Wasserfaches e.V.

DVO

Durchführungsverordnung

EAGV

Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft

15

ECE / UNO

Economic Commision for Europe / United Nations Organization

EEA

Einheitliche Europäische Akte

EFTA

European Free Trade Association

EG

Europäische Gemeinschaft

EGKSV

Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaften für Kohle und Stahl

ELR

European Law Report

EN

Europäische Norm

ENV

Europäische Vornorm

EnWG

Energiewirtschaftsgesetz

EP

Europäisches Parlament

ETSI

European Telecommunication Standards Institute

EuGH

Europäischer Gerichtshof

EuGRZ

Europäische Grundrechte Zeitschrift

EuR

Europarecht

EurArch

Europa-Archiv, Zeitschrift für internationale Politik

EURATOM

Europäische Atomgemeinschaft

EuZW

Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht

EWGV

Vertrag zur Gründung der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft

Fn.

Fußnote

FS.

Festschrift

GA

Generalanwalt

GATT

General Agreement on Tariffs and Trade

GeschO

Geschäftsordung

GG

Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland

G / Β/ Τ / E

Groeben / Bock / Thiesing / Ehlermann

16

Abkürzungsverzeichnis

GVB1. NW

Gesetzes- und Verordnungsblatt des Landes Nordrhein-Westfalen

HD

Harmonisierungsdokument

HessBauO

Hessische Bauordnung

HessGVBl

Hessisches Gesetzes- und Verordnungsblatt

IEC

International Electrotechnical Commission

ISO

International Organization for Standardization

JA

Juristische Ausbildung

JUS

Juristische Schulung

JZ

Juristenzeitung

KSE

Kölner Schriften zum Europarecht

M/D/H/S

Maunz / Dürig / Herzog / Scholz

MDR

Monatsschrift für Deutsches Recht

Min.

Minister

Nds. GVB1.

Niedersächsisches Gesetzes- und Verordnungsblatt

n.F.

neue Fassung

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

Nr.

Nummer

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

OGH BrZ

Oberster Gerichtshof für die Britische Zone

OLG

Oberlandesgericht

OVG

Oberverwaltungsgericht

Pkt.

Punkt

RAL

Ausschuß für Lieferbedingungen und Gütesicherung

RdErl.

Runderlaß

RecDalloz

Recueil Dalloz Sirey

RevTrimDrEur

Revue trimestrielle de droit européenne

RIW

Recht der Internationalen Wirtschaft

Rl.

Richtlinie

RMC

Revue de Marché Commun

Rn.

Randnummer

RS.

Rechtssache

S.

Seite

Slg.

Sammlung

SMB1. N W

Sammlung der Ministerialblätter Nordrhein-Westfalen

St. Rspr.

ständige Rechtsprechung

StVZO

Straßenverkehrszulassungsordnung

TRAC

Telecommunications Regulations Applications Committee

Abkürzungsverzeichnis UPR

Umwelt- und Planungsrecht

Urt.

Urteil

VDE

Verband Deutscher Elektrotechniker e.V.

VDI

Verband Deutscher Ingenieure e.V.

VerwR

Verwaltungsrecht

Vgl.

vergleiche

17

VO

Verordnung

V V BauO N W

Verwaltungsvorschriften zur Bauordnung Nordrhein-Westfalen

VwGO

Verwaltungsgerichtsordnung

WSA

Wirtschafte- und Sozialausschuß

ZaöRV

Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

z.B.

zum Beispiel

ZHR

Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht

ZPO

Zivilprozeßordnung

ZRP

Zeitschrift fur Rechtspolitik

2 Breulmann

Einführung

Eine der zentralen Aufgaben der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft besteht gemäß Art. 2 EWGV in der Errichtung eines Gemeinsamen Marktes. Zur Verwirklichung dieser Aufgabe wird die Gemeinschaft nach Art. 3 lit. a EWGV unter anderem mit dem Ziel tätig, die Zölle und mengenmäßigen Beschränkungen bei der Ein- und Ausfuhr von Waren sowie alle sonstigen Maßnahmen gleicher Wirkung zu beseitigen. Während diese Zielsetzung bezüglich der Zölle und mengenmäßigen Beschränkungen bereits mit dem Ablauf der Übergangsfrist am 31.12.1969 umgesetzt werden konnte, ergaben und ergeben sich auch heute noch teilweise erhebliche Probleme bei der Beseitigung der Maßnahmen gleicher Wirkung, speziell bei der Bewältigung der sogenannten technischen bzw. nichttarifären Handelshemmnisse. Unter diesen Begriff fallen zum einen solche in den einzelnen Mitgliedstaaten bestehende Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die die Produktion, den Import, die Vermarktung sowie die Verwendung von Waren von der Einhaltung bestimmter, sicherheitsspezifischer technischer Anforderungen abhängig machen. Zum anderen erfaßt dieser Begriff aber auch sämtliche Verwaltungsmaßnahmen, die, wie beispielsweise behördliche Zulassungen und Kontrollen von Erzeugnissen, die Einhaltung dieser Regelungen durch die Hersteller sicherstellen sollen1. Mit derartigen Vorschriften bezwekken die Mitgliedstaaten den Schutz der öffentlichen Sicherheit, insbesondere den der Menschen und der Umwelt vor dem Inverkehrbringen und der Verwendung solcher Produkte, die nicht dem jeweils gegenwärtigen Stand der Sicherheitstechnik entsprechen und die aus diesem Grund unter Umständen ein Sicherheitsrisiko darstellen können. Entsprechende Regelungen beeinträchtigen aber wegen ihrer oftmals unterschiedlichen nationalen Inhalte den freien Waren-

1 Vgl. die grundlegende Definition von Beuve-Méry , KSE Bd. 11, S. 704 (714); im Anschluß hieran auch Seidel, Beseitigung technischer Handelshemmnisse, KSE Bd. 11, S. 733; ders., Rechtsangleichung, S. 13; Rohling, S. 1; Starkowski, S. 29; Marburger, Regeln der Technik, S. 122; Mohr y Technische Normen, S. 1; Böshageny Normung, § 10 Rn. 2; vgl. auch EG-Kommission, Allgemeines Programm zur Beseitigung der technischen Hemmnisse im innergemeinschaftlichen Warenverkehr, die sich aus der Unterschiedlichkeit der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften ergeben, Programm v. 05.03.1968, BT-DrS V / 2743, S. 3.

20

Einführung

austausch innerhalb der Europäischen Gemeinschaft und sind damit als Handelshemmnisse zu qualifizieren. So sind exportwillige Produzenten gezwungen, ihre Produktion je nach Absatzland den jeweiligen nationalstaatlichen Produktsicherheitsvorschriften anzupassen. Durch diesen Zwang entfallen wesentliche mit einer Massenproduktion verbundene Vorteile. Insbesondere scheidet eine Verringerung der Produktionskosten über eine Maximierung der Stückzahlen aus. Darüber hinaus haben sich die Hersteller auch auf höhere Kosten für die Lagerhaltung und den Vertrieb ihrer Produkte einzurichten 2. Eine vergleichbare handelshemmende Wirkung weisen auch die in den einzelnen Mitgliedstaaten geltenden überbetrieblichen technischen Normen auf 3. Solche Normen werden in Europa von zahlreichen, privatrechtlich organisierten Normungsverbänden 4 aufgestellt und enthalten ebenso wie Rechtsvorschriften Bestimmungen über die Herstellung, Beschaffenheit und Verwendung von Erzeugnissen5. Da diese Normen eben von Privatrechtsvereinigungen erarbeitet werden, entfalten sie im Unterschied zu den technischen Vorschriften eo ipso keine die Hersteller unmittelbar bindende Wirkungen. Überbetriebliche technische Normen besitzen mithin keine Rechtssatzqualität, sondern es handelt sich bei ihnen ausschließlich um unverbindliche Empfehlungen privatrechtlicher Na-

2 Vgl. zum Problem EG-Kommission, Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarktes an den Europäischen Rat, Kom (85) 310 endg. v. 14.06.1985, Rn. 60. Aus der Literatur vgl. Röhling, S. 93; Starkowski, S. 26 f.; Scharnhoop, S. 12 ff.; Mohr, Technische Normen, S. 2. 3 So ausdrücklich auch die Begründung zur Rl. 83 / 189 / EWG des Rates über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften v. 28.03.1983, ABl. EG Nr. L 109 v. 26.04.1983, S. 8. 4 Die Starrheit und die damit verbundene Ineffektivität einer administrativen Normungstätigkeit hat auch in Staaten, in denen die Normung ursprünglich staatlichen Organen oder Einrichtungen oblag, zu einem Umdenken geführt. So hat Spanien nach seinem EG-Beitritt mit der Überführung des vormals staatlichen Instituto Espanol de Normalización (IRANOR) in das private Normungsinstitut Asociacón Espanola de Normalización y Certificación (AENOR) den Schritt zu einer Privatisierung der Normung vollzogen. Vgl. hierzu Kaiser, DIN-Mitt. Bd. 67 (1988), S. 103 ff.; Wenig später ist Portugal diesem Schritt durch die Umwandlung des staatlichen Direccao General da Qualidade (DPQ) in das privatrechtlich organisierte Instituto Português da Qualidade (IPQ) gefolgt. 5

Zum Begriff der Norm vgl. im einzelnen unten S. 29 ff. Ein Überblick über ausgewählte Normungsverbände findet sich bei Lukes , Überbetriebliche Normung, S. 5 ff. und bei Röhling, S. 5 ff. Im Bereich der Bundesrepublick Deutschland werden Normen in erster Linie vom Deutschen Institut für Normung e.V. (DIN), vom Verband Deutscher Elektrotechniker e.V. (VDE), vom Verband Deutscher Ingenieure e.V. (VDI), vom Ausschuß für Lieferbedingungen und Gütesicherung (RAL) sowie vom Deutschen Verband des Gas- und Wasserfaches e.V. (DVGW) erstellt und veröffentlicht. Vgl. auch Marburger, Regeln der Technik, S. 195 ff.; Müller-Foell, S. 63 ff.

Einführung

tur 6 . Die handelshemmende Wirkung dieser Normen beruht dementsprechend auch nicht auf einem rechtlichen, sondern auf einem faktischen Befolgungszwang. Die Ursache für die Existenz eines derartigen Befolgungszwangs liegt in dem aufeinander abgestimmten Verhalten der Hersteller und der Verbraucher. Letztere sehen die Vorteile normgemäßer und als normgemäß auch gekennzeichneter Produkte in der Gewährleistung der Kompatibilität, der Verfügbarkeit von Ersatzteilen sowie der höheren Produktqualität. Bei einer nicht normgemäßen Produktion setzt sich ein Hersteller der Gefahr aus, daß die Verbraucher sein Produkt im Vergleich zu den normgerechten Produkten als in technischer Hinsicht minderwertig ansehen und deshalb auf den Ankauf verzichten. Gleiches gilt auch für den grenzüberschreitenden Handel für Produkte, die zwar den technischen Normen des Herkunftlandes, nicht aber denen des Importlandes entsprechen. Wegen des mangelnden Bekanntheitsgrades ausländischer Normungsverbände und der bei den Verbrauchern oftmals bestehenden Befürchtungen, daß die ausländische Normung gegenüber der inländischen qualitativ weniger hoch entwickelt ist, ist auch hier der Absatz in Drittländer erschwert. W i l l ein Hersteller also den Markt eines anderen EG-Mitgliedstaates für sein Erzeugnis erschließen, so dürfte er de facto bereits aus Wettbewerbsgründen gezwungen sein, seine Produktion dem im Importland gültigen Normenwerk anzupassen. Hierdurch gehen aber wiederum Produktionsvorteile, die sich aus der Errichtung eines einheitlichen europäischen Binnenmarktes gerade ergeben sollen, wieder verloren. Inhaltlich voneinander abweichende Normen wirken sich mithin als indirekte technische Handelshemmnisse aus7. Insgesamt gesehen sind die durch technische Vorschriften und Normen verursachten Handelshemmnisse von einer erheblichen ökonomischen Bedeutung. Verdeutlicht werden mag dies an dem sogenannten „Cecchini-Bericht", einer im Auftrag der EG-Kommission erarbeiteten und unlängst veröffentlichten Studie, in der erstmals der Versuch unternommen worden ist, die Kosten einer „Nichtverwirklichung Europas" zu quantifizieren. Nach dieser Studie, der eine Befragung von 11000 Unternehmen in ganz Europa zugrundeliegt, könnte europaweit jährlich ein Betrag von bis zu 163 Mrd. D M eingespart werden, wenn unein-

6 7

Zur Rechtsnatur vgl. unten S. 68 ff.

Zur handelshemmenden Wirkung technischer Normen vgl. Kommission, Weißbuch, Kom (85) 310 endg. v. 14.06.1985, Rn. 60 ff.; Kommission, Mitteilung zum Ausbau der europäischen Normung - „Grünbuch" - v. 16.10.1990, Kom (90) 456 endg., ABl. EG Nr. C 20 v. 28.01.1991, S. 1 (7 Rn. 7 ff.). Aus der Literatur auch Lukes , Schadensersatz, S. 22 (45); Starkowski, S. 34; Brinkmann, Verbraucherorganisationen, S. 64 ff.; Marburger, Regeln der Technik, S. 590; Joerges / Falke / Micklitz / Brüggemeier, S. 250 f.; Böshagen, Normung, § 12 Rn. 10.

22

Einführung

heitliche nationale Normen oder unterschiedliche technische Vorschriften zum Warenverkehr effektiv abgebaut werden würden 8. Obwohl aufgrund der allgemeinen Problematik derartiger Prognosen eine gewisse Skepsis gegenüber der Höhe der angegebenen Zahlen angebracht erscheint 9, so zeigt dieser Bericht doch deutlich auf, daß das Ausmaß der durch technische Handelshemmnisse direkt oder indirekt verursachten Kosten erheblich ist 10 . Dieses bestätigt letztlich auch ein im „Cecchini-Bericht" enthaltener Überblick, nach dem die befragten Unternehmen die Beseitigung der durch voneinander abweichende nationale technische Normen und Vorschriften entstandenen Handelsbarrieren als zweitwichtigste Aufgabe nach der Beseitigung der administrativen Schranken ansehen11. Die EG-Kommission hat die handelshemmende Wirkung jedenfalls der technischen Vorschriften bereits früh erkannt. Schon im Jahr 1968 legte sie dem Rat ein „Programm zur Beseitigung der technischen Hemmnisse im innergemeinschaftlichen Warenverkehr, die sich aus der Unterschiedlichkeit der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften ergeben" 12, vor. In diesem Programm setzte sich die Kommission erstmals mit der Problematik der technischen Handelshemmnisse auseinander und schlug dem Rat mehrere Harmonisierungsmodelle vor. In seiner Entschließung vom 28.05.1969 über ein „Programm zur Beseitigung der technischen Hemmnisse im Warenverkehr mit gewerblichen Erzeugnissen, die sich aus den Unterschieden in den Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten ergeben" 13 entschied sich der Rat für eine in drei Phasen zu verwirklichende Rechtsangleichung nach Art. 100 EWGV.

8

Vgl. Cecchini , Europa 1992, Der Vorteil des Binnenmarktes, S. 122.

9

Vgl. auch Böshagen, Normung, § 12 Rn. 9; Viewegs Technische Normen, S. 57 (67 f.).

10

Vgl auch Hartlieb / Krieg, DIN-Mitt. Bd. 66 (1987), S. 125 (126), die darauf hinweisen, daß im Januar 1986 eine Schätzung des Dänischen Normungsverbandes über die durch technische Handelsbarrieren in Dänemark hervorgerufenen Kosten ergab, daß diese mit einer Höhe von 5% gemessen am gesamten Industrieumsatz zu veranschlagen sind. Übertragen auf die Bundesrepublik Deutschland würde dies bedeuten, daß die deutsche Wirtschaft jährlich mit annähernd 87 Mrd. D M belastet ist, wenn man den im Statistischen Jahrbuch von 1989 genannten Industrieumsatz von 1739 Mrd. D M zugrundelegt. 11

Cecchini , Europa 1992, Der Vorteil des Binnenmarktes, S. 26.

12

Programm v. 05.03.1968, ABl. EG Nr. C 48 v. 16.05.1968, S. 24 ff.; vgl. auch die Entschließung des Europäischen Parlaments zu diesem Programm v. 03.10.1968, ABl. EG Nr. C 108 v. 19.10.1968, S. 39, sowie die Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses, ABl. EG Nr. C 132 v. 06.12.1968, S. 1 (4). Vgl. zur Entwicklung auch Scharnhoop, S. 12 ff. 13

ABl. EG Nr. C 76 v. 17.06.1969, S. 1 ff.

Einführung

Im Laufe der Zeit zeigte sich jedoch immer deutlicher, daß die Problematik mit diesem Konzept nicht gelöst werden konnte 14 . Eine der Hauptgründe hierfür bestand in dem in Art. 100 EWGV vorgesehenen Prinzip der Einstimmigkeit bei einer Beschlußfassung des Rates über den Erlaß von Harmonisierungsrichtlinien. Eine positive Beschlußfassung war bereits dann blockiert, wenn zwar über sämtliche Grundsatzfragen einer Rechtsangleichungsmaßnahme unter den Mitgliedstaaten Einvernehmen herrschte, jedoch Meinungsverschiedenheiten über eigentlich eher als nebensächlich zu bezeichnende Detailfragen bestanden. Im übrigen erwies sich auch die bei einer Totalharmonisierung erforderliche Ausarbeitung und Regelung sämtlicher Detailfragen in Richtlinien als viel zu zeitaufwendig und unflexibel 15 . Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür bildet der nahezu 80 Druckseiten lange Kommissionsvorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten „über vor dem Fahrersitz montierte Umsturzvorrichtungen mit zwei Pfosten für Schmalspurzugmaschinen mit Luftbereifung" 16 . Bedenkt man, daß über sämtliche der in derartigen Vorschlägen enthaltenen Detailregelungen Einvernehmen erzielt werden muß, so ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß das Erlaßverfahren für derartige Harmonisierungsrichtlinien nicht selten eine mehr als zehnjährige Beratungsdauer erforderte 17. Schließlich trug auch die Tatsache, daß eine

14

Das spärliche Ergebnis einer 18-jährigen Harmonisierungsarbeit besteht denn auch aus 117 Richtlinien des Rates und weiteren 56 Richdinien der EG-Kommission, vornehmlich auf den Gebieten des Kraftfahrzeug- und Meßwesens sowie der Elektrogeräte, vgl. Kommission, in: Bull. EG 1 / 1985, S. 15. 15

Vgl. auch Sauer, DIN-Mitt. Bd. 66 (1987), S. 600; Anselmann, Bezugnahme, S. 101 (102 f.); Böshagen, Normung, § 13 Rn. 13; ders. y Binnenmarkt, S. 133 (137); Vieweg, Technische Normen, S. 57 (63). 16

Kom (84) 400 endg. v. 23.11.1984, ABl. EG Nr. C 222 v. 02.09. 1985, S. 1 ff.; vgl. auch die Rl. 76 / 763 / EWG des Rates v. 27.07.1976 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Beifahrersitze von land- und forstwirtschaftlichen Zugmaschinen auf Rädern, ABl. EG Nr. L 262 v. 27.09.1976, S. 135 ff. 17

Vgl. beispielsweise Rl. 84 / 525 / EWG des Rates v. 17.09.1984 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über nahtlose Gasflaschen aus Stahl, ABl. EG Nr. L 300 v. 19.11.1984, S. 1 ff. - Dauer des Erlaßverfahrens nahezu 11 Jahre; Rl. 84 / 526 / EWG des Rates v. 17.09.1984 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über nahtlose Gasflaschen aus unlegiertem Aluminium und Aluminiumlegierungen, ABl. EG Nr. L 300 v. 19.11.1984, S. 20 ff. - Dauer des Erlaßverfahrens mehr als 10 Jahne; Rl. 84 / 531 / EWG des Rates v. 17.09. 1984 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Warmwasserbereiter für sanitäre Zwecke, die mit gasförmigen Brennstoffen beheizt sind, ABl. EG Nr. L 300 v. 19.11.1984, S. 106 ff. - Dauer des Erlaßverfahrens mehr als 10 Jahre; Rl. 84 / 539 / EWG des Rates v. 17.09. 1984 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die in der Humanmedizin und der Veterinärmedizin eingesetzten elektrischen Geräte, ABl. EG Nr. L 300 v. 19.11.1984, S. 179 ff. — Dauer des Erlaßverfahrens nahezu 10 Jahre. Allgemein zur Problematik vgl. auch Mat-

24

Einfhrung

verbindliche Festschreibung technischer Maßstäbe auf einen bestimmten Stand der Sicherheitstechnik in der Regel zu einem Nachlassen der Innovationsfreudigkeit führt, zum Scheitern der Totalharmonisierung bei. Bei ihrer Verabschiedung waren die zu weit ins Detail gehenden Richtlinien teilweise bereits durch die technische Entwicklung eingeholt und überholt worden. Der Stand der Technik hätte mithin nur über das wiederum zeitaufwendige Verfahren der Richtlinienänderung fortgeschrieben werden können 18 . Die Untauglichkeit des Harmonisierungskonzeptes führte dazu, daß die Beseitigung der technischen Handelshemmnisse und damit verbunden die Sicherung des freien Warenverkehrs praktisch nur durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes erfolgte. Nach dem Grundsatzurteil „Cassis de Dijon" ist ein Produkt grundsätzlich in allen Mitgliedstaaten verkehrsfahig, wenn es in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden ist 19 . Die Einführung von Erzeugnissen kann nach dieser Rechtsprechung grundsätzlich nicht mehr mit dem Argument verhindert werden, daß das betreffende Produkt nicht den sicherheitstechnischen Anforderungen des Einfuhrlandes entspricht. Nur soweit eine Produktsicherheitsvorschrift zum Schutz eines der in Art. 36 EWGV genannten Rechtsgüter oder aufgrund anderer Erfordernisse zwingend notwendig ist, bleibt den Mitgliedstaaten auch weiterhin

thies, Rechtsentwicklungen, S. 25 (35 f.); Sauer, DIN-Mitt. Bd. 66 (1987), S. 600; Anselmann, Bezugnahme, S. 101 (102); Wieweg, Technische Normen, S. 57 (63). 18 Vgl. Weißbuch, Kom (85) 310 endg. v. 14.06.1985, Rn. 64; Matthies, Rechtsentwicklungen, S. 25 (36); Völker, S. 119 (122); Mohr, Technische Normen, S. 4; Anselmann, Bezugnahme, S. 101 (102 f.); Vieweg, Technische Normen, S. 57 (63). Ausführlich zu den allgemein mit einer Totalharmonisierung verbundenen Problemen vgl. Starkowski, S. 71 ff. 19 EuGH RS. 120 / 78, Rewe. / .Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, Urt. v. 20.02.1979, Slg. S. 649 (664 Rn. 14). Das Herkunftslandprinzip ist mittlerweile st. Rspr. vgl. RS. 1 5 2 / 7 8 , Kommission. / .Frankreich, Urt. v. 10.07.1980, Slg. 2299 (2315 Rn. 14) - „Werbung für alkoholische Getränke" - ; RS. 104 / 81, Kommission. / .Vereinigtes Königreich, Urt. v. 08.02.1983, Slg. S. 203 (234 Rn. 8) - „sterilisierte Milch" - ; RS. 54 / 85, Ministère Public. / .Mirepoix, Urt. v. 13.03.1986, Slg. S. 1067 (1078 Rn. 12); RS. 179 / 85, Kommission. / .BR Deutschland, Urt. v. 04.12.1986, Slg. S. 3879 (3896 Rn. 8 f.) - „pétillant de raisin" - ; RS. 1 7 8 / 8 4 , Kommission. / .BR Deutschland, Urt. v. 12.03.1987, Slg. S. 1227 (1270 Rn. 28) - „Reinheitsgebot für Bier" - ; RS. 274 / 87, Kommission. / .BR Deutschland, Urt. v. 02.02.1989, Slg. S. 229 (253 Rn. 4) - „Fleischereierzeugnisse" - ; RS. 76 / 86, Kommission. / .BR Deutschland, Urt. v. 11.05.1989, Slg. S. 1021 (1040 Rn. 13).

Einführung

die Möglichkeit, technische Vorschriften aufrechtzuerhalten, selbst wenn diese den freien Warenaustausch einschränken oder gar verhindern 20. Auch wenn durch diese Rechtsprechung erhebliche Fortschritte beim Abbau der technischen Handelshemmnisse erzielt wurden, so konnte sie doch eine gesetzgeberische Rechtsangleichung im Bereich der nationalen Produktsicherheitsvorschriften nicht ersetzen. Zum einen blieben immer Befürchtungen bestehen, daß die „Cassis de Dijon-Rechtsprechung" zu einer Harmonisierung nur auf einem vergleichsweise niedrigen Schutzniveau führen würde. Zum anderen vermochte diese Rechtsprechung eine Vereinheitlichung auf den Gebieten nicht zu bewirken, in denen nationale Produktsicherheitsvorschriften gemessen an den vom EuGH aufgestellten Kriterien eine zulässige Einschränkung des Warenverkehrs darstellten. Aus diesen Gründen legte die EG-Kommission in ihrem Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarktes ein Harmonisierungskonzept vor, daß von ihr selbst als „neue Strategie" bezeichnet wird 21 . Aufbauend auf die „Cassis de DijonRechtsprechung" sollen Rechtsangleichungsmaßnahmen über Art. 100 EWGV nach diesem Konzept nur noch in solchen Bereichen erfolgen, in denen nicht bereits die konsequente Anwendung des in Art. 30 EWGV enthaltenen Verbots der Maßnahmen gleicher Wirkung zu einer hinreichenden Harmonisierung führt 22 . Soweit danach eine gesetzgeberische Rechtsangleichung überhaupt stattfindet, soll diese sich darauf beschränken, jeweils die produktsicherheitsspezifischen Grundvoraussetzungen für die Verkehrsfähigkeit eines Erzeugnisses positivrechtlich festzulegen. Die Ausarbeitung technischer Spezifikationen, bei deren Einhaltung die in den Anwendungsbereich einer Harmonisierungsrichtlinie einbezogenen Produkte als den gesetzlich festgelegten Erfordernissen gemäß gelten, soll dagegen durch die anerkannten europäischen Normungsverbände, insbesondere durch CEN 2 3 und CENELEC 24 erfolgen.

20 Ein Beispielsfall, in dem der EuGH die Berufung eines Mitgliedstaates auf Art. 36 EWGV gebilligt hat, bildet die Entscheidung in der RS. 53 / 80, Kaasfabriek Eyssen. / .Niederlande, Urt. v. 05.02. 1981, Slg. S. 409 ff. - „Verbot von Zusatzstoffen" In diesem Urteil hat der Gerichtshof das in den Niederlanden geltende Verbot bestätigt, Nisin als Konservierungsmittel in für den Absatz in den Niederlanden selbst bestimmten Schmelzkäse zu verwenden, obwohl der Zusatz von Nisin in für den Export bestimmten Schmelzkäse erlaubt war. Vgl. auch EuGH RS. 188 / 84, Kommission. / .Frankreich, Urt. v. 28.01.1986, S. 431 ff. — „Holzbearbeitungsmaschinenfall" —. 21 Weißbuch der Kommission an den Europäischen Rat, Kom (85) 310 endg. v. 14.06.1985, S. 17 ff. Rn. 60 ff. 22

Weißbuch, a.a.O., S. 17 ff. Rn. 65, 68, 70.

23

Comité Européen de Normalisation

26

Einführung

Rechtlich eingebunden wurden die Vorstellungen der Kommission in den „Leitlinien einer neuen Konzeption für die technische Harmonisierung und Normung" 25 . Diese sogenannte „Modellrichtlinie" oder „Neue Konzeption" 26 wurde vom Rat im Anschluß an die von ihm am 16.07.1984 gebilligten „Schlußfolgerungen zur Normung" in einer Entschließung vom 07.05.1985 genehmigt27. Zwar handelt es sich bei dieser Entschließung nur um eine politische Willensbekundung, die als solche juristisch unverbindlich ist 28 . Tatsächlich bildet sie jedoch eine politische ijeitentscheidung, die sämtliche in den Folgejahren zur Beseitigung der technischen Handelshemmnisse verabschiedete Rechtsangleichungsmaßnahmen des Rates entscheidend prägte. So orientierten und orientieren sich auch heute noch die einzelnen Harmonisierungsrichtlinien sowohl am Aufbau als auch am Inhalt der „Modellrichtlinie". In dieser „Modellrichtlinie" wurde eine Rechtsangleichungstechnik wieder aufgenommen, die bereits in der sogenannten „Niederspannungsrichtlinie" 29 mit Erfolg praktiziert worden war und die von der EG-Kommission lange Zeit als ein „einmaliger Sündenfall" bezeichnet worden ist 30 . Das entscheidende Kennzeichen dieser Technik besteht darin, daß sich der Rat in den Richtlinien auf die in Form einer mehr oder weniger präzise erfolgenden, generalklauselartigen Festlegung der „grundlegenden Anforderungen" beschränkt. Diese Sicherheitsanforderungen sind für die Hersteller uneingeschränkt verbindlich. Vom Anwendungsbereich einer Richtlinie erfaßte Produkte dürfen mithin nur dann in den Verkehr gebracht werden, wenn sie den gesetzlich beschriebenen Voraussetzungen genü-

24

Comité Européen de Normalisation Électrotechnique

25

Vgl. ABl. EG Nr. C 136 v. 04.06.1985, S. 2 ff.

26

Vgl. zur „Neuen Konzeption" auch die Ausführungen von Matthies, Rechtsentwicklungen, S. 25 (35 ff.); Bruha, ZaöRV Bd. 46 (1986), S. 1 (6 ff.); Anselmann, RIW 1986, S. 936 (938); ders., Bezugnahme, S. 101 (102 ff.); Joerges / Falke / Micklitz / Brüggemeier, S. 341 ff.; Orth, DIN-Mitt. Bd. 67 (1988); S. 129 (131); Reihten, DIN-Mitt. Bd. 68 (1989), S. 449 ff.; ders., EuZW 1990, S. 444 ff.; Mohr, Technische Normen, S. 122 ff.; Böshagen, Normung, § 13 Rn. 12 f., § 15 Rn. 5; Vieweg, Technische Normen, S. 57 (64 f.); Langeheine, in: Grabitz, EWGV, Art. 100 Rn. 56 ff. 27

Entschließung des Rates über eine neue Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und Normung, ABl. EG Nr. C 136 v. 04.06. 1985, S. 1. 28

Vgl. auch Zachmann, DIN-Mitt. Bd. 65 (1986), S. 201; Mohr, Technische Normen, S. 13.

29

Rl. 73 / 23 / EWG des Rates v. 19.02.1973 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend elektrische Betriebsmittel zur Verwendung innerhalb bestimmter Spannungsgrenzen, ABl. EG Nr. L 77 v. 26.03.1973, S. 29 ff. Vgl. hierzu Orth, DIN-Mitt. Bd. 63 (1984), S. 376 ff.; Hass, Binnenmarkt, S. 115 ff.; Schmatz / Nöthlichs, Gerätesicherheitsgesetz, Kz. 1610 S. 8 ff. 30

Zu letzterem vgl. Sauer, DIN-Mitt. Bd. 66 (1987), S. 600.

Einführung

gen. Hinsichtlich der Detailregelungen verweisen die Richtlinien auf harmonisierte Europäische Normen, die von CEN und CENELEC im Auftrag der EGKommission erarbeitet werden und die die Richtlinienvorgaben konkretisieren sollen. Dabei wird in der „ M o d e l l r i c h t l i n i e " ausdrücklich hervorgehoben, daß die in Bezug genommenen technischen Normen keinerlei obligatorischen Charakter erhalten, sondern freiwillige Normen bleiben 31 . Gleichzeitig werden jedoch die Verwaltungen der Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, bei Erzeugnissen, die nach harmonisierten Normen hergestellt worden sind, eine Übereinstimmung mit den in der Richtlinie aufgestellten „grundlegenden Anforderungen" anzunehmen. Dieses soll bedeuten, daß der Hersteller zwar die Wahl hat, nicht nach den Normen zu produzieren, daß aber in diesem Fall die Beweislast für die Übereinstimmung seines Erzeugnisses mit den „grundlegenden Anforderungen" bei ihm liegt 32 . Insgesamt ist die „Neue Konzeption" in der Literatur, insbesondere von den mit Fragen der Normung unmittelbar beschäftigten Praktikern, begrüßt worden 33 . Vereinzelt wird sogar darauf hingewiesen, daß sich eine privatrechtlich organisierte Normung geradezu anbiete, im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten gestaltend auf die Errichtung eines europäischen Binnenmarktes Einfluß zu nehmen34. In der Tat kann die faktische Effektivität der „Neuen Konzeption" angesichts der erzielten Harmonisierungserfolge nicht in Frage gestellt werden 35. Obwohl die ,,Neue Konzeption" mittlerweile so neu nicht mehr ist, fehlt es aber an einer eingehenden juristischen Unterschung, ob die gewählte Harmonisierungsstrategie überhaupt mit den Vorgaben des EWG-Vertrages zu vereinbaren ist. Dies ist umso verwunderlicher, als auch nach dem Gemeinschaftsrecht eine Einbeziehung privater Verbände in den Rechtsetzungsprozeß keine Selbstverständlichkeit sein kann, da nach Art. 4 EWGV die der Gemeinschaft zugewiesenen Aufgaben nur durch die in dieser Regelung genannten Organe wahrgenommen werden. Aus diesem Grund soll im folgenden die Vertragskonformität der

31

Vgl. 3. Grundprinzip der „Neuen Konzeption", ABl. EG Nr. C 136 v. 04.06.1985, S. 2.

32

4. Grundprinzip der „Neuen Konzeption", a.a.O.

33 Vgl. nur Mohr, DIN-Mitt. Bd. 67 (1988), S. 535 ff.; Orth, DIN-Mitt. Bd. 67 (1988), S. 129 (130, 132); Reihlen, DIN-Mitt. Bd. 67 (1989), S. 449 ff. 34 35

Schlecht, DIN-Mitt. Bd. 68 (1989), S. 10 (11).

Vgl. zu den bisherigen Erfolgen nur den Überblick der Kommission über den Stand der Rechtsangleichung vom 31.12.1990, in: Eine neue gemeinsame Normungspolitik — Das neue Konzept für die Harmonisierung, Brüssel, Luxemburg 1991.

28

Einführung

„Neuen Konzeption" einer kritischen Untersuchung unterzogen werden. In einem ersten Kapitel wird dabei zunächst der Frage nach der Stellung der Norm im europäischen Wirtschaftsraum nachgegangen. Im Anschluß hieran soll im zweiten Kapitel im einzelnen geprüft werden, welche Vertragsvorschrift — Art. 100 oder Art. 100 a EWGV — nach dem Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte in welchem Umfang die Rechtsangleichung im Bereich der technischen Handelshemmnisse ermöglicht. Schließlich erfolgt im dritten Kapitel eine Untersuchung der Verweisungstechnik der „Modellrichtlinie", insbesondere im Hinblick auf die Frage, ob sie nicht eine — zulässige oder unzulässige — Delegation von Hoheitsbefugnissen auf die europäischen Normungsverbände beinhaltet. Abschließend sollen dann in einem vierten Kapitel einige mögliche Ansätze für eine Reform der bisherigen Rechtsangleichungspraxis aufgezeigt werden.

L Kapitel

Zur Normung im Europäischen Wirtschaftsraum

§ 1 Der Begriff „Technische Normen" /. Definition

des Begriffes

„Norm"

Der Begriff „Norm" ist im europarechtlichen Bereich in einer Richtlinie des Rates über ein „Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und der technischen Vorschriften" 1 legaldefiniert. Nach Art. 1 Ziffer 2 dieser Richtlinie handelt es sich bei einer Norm um eine „technische Spezifikation, die von einer anerkannten Normenorganisation zur wiederholten oder ständigen Anwendung angenommen wurde, deren Einhaltung jedoch nicht zwingend vorgeschrieben ist" 2 . Diese Definition ist inhaltlich weitgehend identisch mit der Begriffsbestimmung, die in der deutschen Literatur entwickelt worden ist und im nationalen Bereich überwiegend Anwendung findet. Nach dieser besteht das Abgrenzungskriterium einer Norm darin, daß sie eine von interessierten Kreisen in Gemeinschaftsarbeit aufgestellte technische Bestimmung oder Regel für die Herstellung oder die Errichtung, die Beschaffenheit oder Verwendung von Gegenständen enthält. Gegenstand in dem genannten Sinne kann dabei sowohl eine körperliche Sache als auch ein Verhalten oder Verfahren sein3. Ziel einer so

1

Richtlinie des Rates Nr. 83 / 189 v. 28.03.1983, Abi. EG Nr. L 109 v. 26.04.1983, S. 8 ff.

2

Eine gleichlautende Definition findet sich bereits im GATT-Kodex von 1979, der von 30 Staaten, darunter den EG-Mitgliedstaaten, unterzeichnet worden und am 01.01.1980 in Kraft getreten ist. Vgl. hierzu auch Nicolas / Repussard, Gemeinsame Normen, S. 11; Völker, S. 128; Böshagen, Normung, § 11 Rn. 2. 3 Lukes, Urheberrechtsfragen, S. 7; ders., Überbetriebliche technische Normen, S. 157; Brinkmann, Verbraucherorganisationen, S. 57; Marburger, Regeln der Technik, S. 40 ff.; Mohr, Technische Normen, S. 7. Die vom D I N verwendete Definition ist dagegen wesentlich kürzer. Nach dem D I N ist eine Norm das herausgegebene Ergebnis der Normungsarbeit. Letztere besteht aus der planmäßigen auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene durch die interessierten Kreise gemeinschaftlich durchgeführten Vereinheitlichung von materiellen und immateriellen Gegenständen zum Nutzen der Allgemeinheit. Vgl. D I N 820 Teil 3, S. 2, Nr. 1, 5 u. 6 sowie D I N 820 Blatt 1 Normungsarbeit, Grundsätze — Febr. 1974, Abschnitt 2.

30

1. Kapitel: Zur Normung im Europäischen Wirtschaftsraum

erstellten Norm ist die Vereinheitlichung, die dadurch erreicht werden soll, daß für eine sich ständig wiederholende gleichartige Aufgabe aus einer Vielfalt der theoretisch vorhandenen Möglichkeiten eine oder mehrere Lösungen ausgewählt und schriftlich fixiert werden 4. Eine andere, von nahezu allen nationalen Normungsorganisationen übernommene oder zumindest akzeptierte 5 Definition stammt von der internationalen Normungsorganisation ISO 6 sowie von der Europäischen Wirschaftskommission der Vereinten Nationen ECE / UNO 7 . Dieser Definition zufolge ist eine Norm eine „technische Beschreibung oder ein anderes Dokument, das für jedermann zugänglich ist und unter Mitarbeit und im Einvernehmen oder mit allgemeiner Zustimmung aller interessierten Kreise erstellt wurde". Sie beruht auf abgestimmten Ergebnissen von Wissenschaft, Technik und Praxis und erstrebt einen größtmöglichen Nutzen für die Allgemeinheit und ist von einer auf nationaler, regionaler oder internationaler Ebene anerkannten Organisation gebilligt worden 8. Die Unterschiede in der Terminologie zwischen dieser und der von dem Europäischen Rat bevorzugten Begriffsbestimmung beruhen nicht auf inhaltlichen Abweichungen. Entscheidend hierfür sind vielmehr die jeweils unterschiedlichen Zielsetzungen, die mit der jeweiligen Definition verbunden werden. So zielt die von der ISO und der ECE / UNO gewählte Definition darauf ab, diejenigen Kriterien zu umschreiben, die erfüllt sein müssen, damit das Ergebnis eines Normaufstellungsverfahrens international einheitlich als „Norm" bezeichnet werden kann. Demgegenüber ist die Begriffsbestimmung des Rates

4

Vgl. auch Marburger, Regeln der Technik, S. 42; Fischer, Regeln der Technik, S. 5 f.; Mohr, Technische Normen, S. 7. 5

Vgl. Nicolas / Repussard, Gemeinsame Normen, S. 11.

6

International Organization for Standardization. Diese Organisation, die im Oktober 1946 gegründet wurde und den Status einer privatrechtlichen Körperschaft schweizerischen Rechts besitzt, beschäftigt sich mit der Aufstellung internationaler Normen, die den internationalen Austausch von Gütern und Dienstleistungen erleichtern und die Zusammenarbeit auf wissenschaftlichem, technischem und wirtschaftlichem Gebiet entwickeln helfen soll. Mitglied im ISO ist für die Bundesrepublik Deutschland das DIN. Vgl. insoweit sowie zum Aufbau, zur Organisation und zur Arbeitsweise Marburger, Regeln der Technik, S. 236 ff.; Schulz, DIN-Mitt. Bd. 63 (1984), S. 365 ff. 7 8

Economic Commission for Europe / United Nations Organization.

Der Text ist abgedruckt in D I N 820 Teil 3 - Normungsarbeit, Begriffe - März 1975, S. 8 sowie bei Holm, Grundlagen, S. 78.

§ 1 Der Begriff „Technische Normen"

31

nicht Verfahrens-, sondern ergebnisorientiert zu verstehen9. Ziel des Rates ist es, diejenigen Kriterien festzulegen, die eine technische Regel haben muß, damit sie als technische Norm zur Beseitigung der technischen Handelshemmnisse beitragen kann 10 . Deutlicher wird diese Unterscheidung, wenn man die einzelnen Begriffsmerkmale der Definition des Rates auf ihren Bedeutungsgehalt untersucht. Verfährt man dementsprechend, so läßt sich feststellen, daß neben den vier ausdrücklich genannten Tatbestandsmerkmalen noch ein weiteres Merkmal hinzutreten muß, damit von einer Norm im Sinne der Rl. 83/ 189 die Rede sein kann. Dieses Merkmal wird in der Richtlinie zwar nicht ausdrücklich erwähnt. Seine Existenz folgt jedoch notwendigerweise aus den mit der Normaufstellung verbundenen Zielsetzungen und erschließt sich im übrigen auch mittelbar aus dem Sinnzusammenhang der geschriebenen Begriffsmerkmale. Dementsprechend besteht eine Norm aus einer — technischen Spezifikation, die — — — —

von einer anerkannten Normungsorganisation angenommen worden und zur wiederholten oder ständigen Anwendung bestimmt ist, deren Einhaltung allerdings nicht zwingend vorgeschrieben und die der Öffentlichkeit, insbesondere jedoch den von der Norm betroffenen

Kreisen allgemein zugänglich ist.

//.

Die einzelnen Begriffsmerkmale 1. Technische Spezifikation

Der Begriff „technische Spezifikation" ist in der Rl. 83/ 189 legaldefiniert als eine „Spezifikation, die in einem Schriftstück enthalten ist, das Merkmale eines Erzeugnisses vorschreibt, wie Qualitätsstufen, Gebrauchstauglichkeit, Sicherheit oder Abmessungen, einschließlich der Festlegungen über Terminologie, Bildzeichen, Prüfung und Prüfverfahren, Verpackung, Kennzeichnung oder Beschrif-

9

So auch Nicolas / Repussard, Gemeinsame Normen, S. 11; Böshagen, Normung, § 11 Rn. 2; unklar dagegen Mohr, Technische Normen, S. 8 Fn. 4, der die Definition der ECE / UNO als „ausführlicher" beschreibt, dabei aber die jeweils unterschiedlichen, strukturell bedingten Zielsetzungen beider Definitionen übersieht. 10

So ausdrücklich der Text der „Informationsrichtlinie", Rl. 83 / 189 des Rates v. 28.03.1983, Abi. EG Nr. L 109 v. 26.04.1983, S. 8.

32

1. Kapitel: Zur Normung im Europäischen Wirtschaftsraum

tung" 11 . Dieser Definitionsversuch ist insofern mißglückt, als der Begriff „Spezifikation" zur Erläuterung des zu definierenden Begriffes verwendet wird, es sich hier also um eine definitio per idem handelt. Die Bedeutung des Terminus „technische Spezifikation" läßt sich allerdings zumindest mittelbar zum einen aus dem Wortsinn dieses Begriffes und zum anderen aus der in der Definition ebenfalls verwendeten Umschreibung „Merkmale eines Erzeugnisses" ermitteln. Seinem Wortsinn nach bedeutet „Spezifikation" zunächst 4iur soviel wie eine Aufschlüsselung oder auch Aufzählung. In dem vorliegenden Zusammenhang bezieht sich diese Aufzählung jedoch nur auf die Merkmale eines Erzeugnisses. Da die Bezeichnung Erzeugnis im Europäischen Recht in verschiedenen Bereichen auftaucht 12, präzisiert die Rl. 83/ 189 diesen Begriff dahingehend1, daß er nur solche Produkte umfaßt, die gewerblich hergestellt worden sind 13 . Bei einer Spezifikation handelt es sich demnach also um eine Aufzählung einzelner oder verschiedener Merkmale eines gewerblich hergestellten Erzeugnisses. Vereinzelt wird die Bezeichnung Spezifikation aber auch in einem anderen Sinnzusammenhang verwendet und zwar als eine selbständige Kategorie solcher Regeln, die im Unterschied zur Norm nur in einem beschränkten Bereich zur Anwendung gelangen. So soll es sich bei einer Spezifikation gerade nicht um eine Norm handeln, da die Ausarbeitung von Spezifikationen nur einem begrenzten Kreis vorbehalten sei, der auch nur einen begrenzten Teil der Interessen vertrete. Sinn und Zweck einer solchen Spezifikation bestünden gerade nicht darin, wie eine allgemeingültige Norm oder technische Vorschrift im gesamten Wirtschaftsgefüge, sondern nur von einem Unternehmen oder einer bestimmten, wirtschaftlich aktiven Gruppe angewendet zu werden 14.

11

Vgl. Art. 1 Ziff. 1 Rl. 83 / 189, a.a.O., Fn. 10.

12

Vgl. zum einen Art. 38 Abs. 1 EWGV („landwirtschaftliche Erzeugnisse"), zum anderen Art. 58, 59 EAGV („Erzeugnis als das Produkt der Verarbeitung von Erzen, Ausgangsstoffen oder besonderen spaltbaren Stoffen") oder Art. 59 § 1 Abs. 1, § 3 Abs. 3 EGKSV („Erzeugnis als Ergebnis der Herstellung, Förderung, Verarbeitung oder Bearbeitung von Kohle und Stahl"). 13 Vgl. Art. 1 Abs. 7 Rl. 83 / 189, a.a.O., Fn. 10, S. 13. Ausgenommen vom Anwendungsbereich der Informationsrichtlinie waren ursprünglich nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Regelung landwirtschaftliche Erzeugnisse im Sinne von Art. 38 I EWGV, alle Nahrungs- und Futtermittel, Arzneimittel im Sinne der Richtlinie 65 / 65, Abi. EG Nr. 22 v. 27.09.1965 S. 369 / 65 sowie kosmetische Mittel im Sinne der Richtlinie 7 6 / 7 6 8 EWG, Abi. EG Nr. L 262 v. 27.09.1976, S. 169. Diese Beschränkungen sind inzwischen allerdings beseitigt worden. Vgl. für landwirtschaftliche Erzeugnisse Art. 1 Ziff. 3 Rl. 88 / 182 / EWG des Rates v. 22.03.1988, Abi. EG Nr. L 81 v. 26.03.1988, S. 75.

14

So Nicolas / Repussard, Gemeinsame Normen, S. 12 f.

§ 1 Der Begriff „Technische Normen"

33

Diese These ist insoweit zutreffend, als nicht jede technische Spezifikation eine Norm zu sein braucht. Es müssen vielmehr noch weitere Merkmale hinzukommen, damit eine Spezifikation den Charakter einer Norm erhält. Andererseits enthält nach der in der Rl. 83/ 189 verwendeten Definition jede Norm zugleich auch eine technische Spezifikation. Aus diesem Grund ist die begriffliche Reduzierung der Bezeichnung „Spezifikation" auf solche Regeln, die nur begrenzt Gültigkeit beanspruchen können, nicht mit der Definition des Begriffes „Norm" zu vereinbaren. Darüber hinaus dürfte auch die zusätzliche Verwendung des Terminus „Spezifikation" in dem von Nicolas / Repussard genannten Sinn nicht notwendig sein. So fallen nämlich solche Regeln, die nur innerhalb eines Betriebes oder Konzerns gelten bzw. von bestimmten Verbänden ausschließlich für ihren Interessenbereich aufgestellt werden, bereits unter den Begriff „Werks- oder Verbandsnorm" 15. Ein Rückgriff auf die Bezeichnung „Spezifikation" wäre insoweit also überflüssig.

2. Annahme durch eine anerkannte Normungsorganisation Bei den regionalen bzw. europäischen Normungsorganisationen 16 handelt es sich um solche Zusammenschlüsse, deren satzungsmäßige Aufgabe darin besteht, Normen zu erstellen, unterschiedliche Normen der einzelnen Mitgliederverbände zu harmonisieren sowie bestehende Normen in regelmäßig wiederkehrenden Abständen auf ihre Aktualität zu überprüfen und gegebenenfalls dem neuesten Stand der Technik anzupassen17. Unter Normungsarbeit ist dabei die planmäßige Arbeit für die Entwicklung oder Harmonisierung von Normen zu

15 So ausdrücklich die Definition des D I N in D I N 820 Teil 3, Normungsarbeit, Begriffe, Nr. 47. Vgl. im übrigen zum Begriff Werksnorm Hönning, Umweltschutz, S. 60; Zemlin, Überbetriebliche Normen, S. 85; Marburger, Regeln der Technik, S. 43 f.; Fischer, Regeln der Technik, S. 6 Fn. 27; Mohr, Technische Normen, S. 8. 16

Untersucht wird der Begriff „anerkannte Normungsorganisation" hier nur im Zusammenhang mit dem europäischen Wirtschaftsraum. Vgl. allgemein auch Böshagen, Normung, § 11 Rn. 4. 17 Nach D I N ist eine nationale Normungsorganisation eine national anerkannte Organisation, deren Hauptaufgabe es ist, auf nationaler Ebene auf Grund ihrer nach Landesrecht erstellten Satzung nationale Normen zu erstellen und / oder zu veröffentlichen und / oder die von anderen Organisationen erarbeiteten Normen anzuerkennen. Internationale Normungsorganisationen sind nach D I N Organisationen, deren Mitgliedschaft allen Ländern der Welt offensteht und deren Hauptaufgabe aufgrund ihrer Satzung es ist, Normen zu erstellen und / oder zu veröffentlichen und / oder Normen ihrer Mitglieder zu harmonisieren. Vgl. D I N 820 Teil 3, Ausgabe März 1975, Normungsarbeit, Begriffe, Anhang A, Pkt. 11 (S. 11).

3 Breulmann

34

1. Kapitel: Zur Normung im Europäischen Wirtschaftsraum

verstehen 18. Hierfür ist es erforderlich, daß die Normungsorganisation über eine geeignete personelle und technische Infrastruktur verfügt. Das entscheidende Wesensmerkmal eines Normungsverbandes besteht dabei darin, daß dieser sowohl die staatlichen Behörden als auch die betroffenen Kreise, insbesondere die Hersteller, Benutzer und die Verbraucher nach Möglichkeit an den Normungsarbeiten beteiligt 19 . Diese Beteiligung von Behörden und anderen betroffenen Kreisen ist erforderlich, um die erstrebte tatsächliche Akzeptanz der harmonisierten Europäischen Normen sowohl bei den nationalen Behörden als auch bei den Herstellern und Verbrauchern sicherzustellen. Eine solche Akzeptanz läßt sich auf Dauer nur dann erreichen, wenn das Ergebnis der Normungsarbeit nicht einseitig etwa nur die Interessen der Hersteller widerspiegelt, sondern wenn sich die Norm als das Ergebnis eines Konsenses aller von der Normung betroffenen Interessengruppen darstellt 20. Auf europäischer Ebene wurde die Notwendigkeit der Beteiligung aller interessierten Kreise an der Normsetzung ebenfalls erkannt. So haben sich die europäischen Normungsverbände CEN und CENELEC in einem Kooperationsabkommen mit der EG-Kommission verpflichten müssen, staatliche Behörden, Industrie, Anwender, Verbraucher und Gewerkschaften auf deren Wunsch an der Normung zu beteiligen 21 . Ob dieses ehrgeizige Ziel in der Praxis aber tatsächlich erreicht wird, ist zweifelhaft. So können aufgrund der Entscheidungsstrukturen 22 in den europäischen Normungsverbänden die von der Nor-

18

Vgl. für den Bereich der Bundesrepublik Deutschland die Formulierung des D I N in D I N 820 Teil 3, Ausgabe März 1975, Anhang A, S. 11 19 So Pkt. Β. V. 4 der Leitlinien einer neuen Konzeption für die technische Harmonisierung und Normung, vom Rat als politische Leitlinie genehmigt in der Entschließung v. 07.05.1985, Abi. EG Nr. C 136 v. 04.06.1985, S. 1 u. 6. Umfangreicher ist dagegen die Beschreibung der interessierten Kreise durch das DIN. Als „Fachleute aus den interessierten Kreisen" nennt D I N 820 Teil 1, Normungsarbeit, Grundsätze in Punkt 3.4: »Anwender, Behörden, Berufsgenossenschaften, Berufs-, Fach- und Hochschulen, Handel, Handwerkswirtschaft, industrielle Hersteller, Prüfinstitute, Sachversicherer, selbständige Sachverständige, Technische Überwacher, Verbraucher, Wissenschaft". Die interessierten Kreise sollen in den Arbeitsausschüssen „angemessen vertreten" sein. Anders als der Rat der EG klammert das D I N allerdings die Gewerkschaften aus den „interessierten Kreisen" aus. 20 Die Notwendigkeit einer Einbeziehung der verschiedenen Interessengruppen wurde von CEN bereits früh als Problem erkannt. So beschloß der CEN-Lenkungsausschuß auf seiner Tagung im Juni 1975 in Dublin, neben Regierungsvertretern in Zukunft auch Vertretern der Verbraucherorganisationen die aktive Beteiligung an der Erarbeitung von CEN-Normen zu ermöglichen. Vgl. Schlösser, in: DIN, Arbeitsunterlagen, S. 28 ff.; Schnieder, Rechtsangleichung, S. 83. Verwirklicht wurde dieser Beschluß bezüglich der Verbraucher bislang aber noch nicht. 21 Vgl. Vereinbarung CEN / CENELEC-EG-Kommission, geschlossen am 13.11.1984 in Brüssel, abgedruckt in DIN-Mitt. Bd. 64 (1985), S. 78 f.

22

Vgl. hierzu ausführlich S. 60 ff.

§ 1 Der Begriff „Technische Normen"

35

mung betroffenen Kreise, also Hersteller, industrielle und private Verbraucher, Behörden etc., ihre Interessen allenfalls auf nationaler Ebene über sogenannte „Spiegelausschüsse" zu den einzelnen Normungsvorhaben einbringen 23. Auch die EG-Kommission sieht in diesem Bereich Handlungsbedarf. So hat sie in einer „Empfehlung betreffend die Einbeziehung und stärkere Mitwirkung der Verbraucher bei den Normungsarbeiten" 24 den Mitgliedstaaten angeraten sicherzustellen, daß eine Auswahl von Verbrauchervertretern, die von den nationalen Verbraucherorganisationen benannt werden sollen, als Delegationsmitglieder der nationalen Normungsgremien in den betreffenden technischen Ausschüssen von CEN / CENELEC auftreten können. Viel geändert hat dieser Vorstoß der EG-Kommission bislang noch nicht. Entgegen ihrer Vereinbarung mit CEN und CENELEC sind auf der Gemeinschaftsebene auch heute noch die Verbraucher nicht bei den Normungsarbeiten repräsentiert 25.

Im übrigen werden in der Literatur auch Zweifel geäußert, ob die Normungsausschüsse angesichts der Dominanz der Herstellerseite überhaupt den Erfordernissen der Unabhängigkeit und gleichmäßigen Repräsentanz aller Interessengruppen genügen26. Eine faktische Überrepräsentanz insbesondere der wirtschaftlich starken Großunternehmen ist insofern bedenklich, als es diesen in den Normungsverbänden unter Umständen gelingen könnte, ausschließlich auf ihre Interessenlage fixierte Normen durchzusetzen, deren Erfüllung den Kleinund Mittelbetrieben, denen technische Umstellungen in der Regel ohnehin schwerer fallen, gegebenenfalls kaum möglich ist. Umgekehrt besteht die Gefahr, daß auf Serienproduktion ausgerichtete Großunternehmen an der Anpassung von Normen an den neuesten Stand der Technik solange kein Interesse haben, wie sich ihre „veralteten" Produktionsanlagen noch nicht amortisiert haben27.

23 Hartlieb / Krieg, DIN-Mitt. Bd. 66 (1987), S. 125 (129); Vieweg, Technische Normen, S. 57 (69 Fn. 65). 24

Empfehlung der Kommission, 88 / 41 / EWG, v. 10.12.1987, Abi. EG Nr. L 23 v. 28.01. 1988, S. 26. 25

Viewegs Technische Nonnen, S. 57 (69 Fn. 65).

26

Vgl. die kritischen Äußerungen von Stefener, S. 105; Harming, S.105 f.; Nicklisch, NJW 1983, 841 (847); Rittstieg, NJW 1983, 1098 (1099); Mohr, Technische Normen, S. 65 Fn. 193. 27 Zu diesem Problem sowie zum Problem der Vertretung der Behörden und der nicht gewerblichen Verbraucher in den Normungsverbänden vgl. Bericht der Bundesregierung über Änderungen des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, BT-DrS IV / 617, S. 12; Lukes, Überbetriebliche technische Normen, S. 149 (165, 171); Brinkmann, Verbraucherorganisationen, S. 66, 94, 97 ff.;

36

1. Kapitel: Zur Normung im Europäischen Wirtschaftsraum

Gemindert wird die Dominanz einzelner Großunternehmen bei den Normungsaktivitäten auf europäischer Ebene allerdings dadurch, daß zur Beschlußfassung über das Zustandekommen einer Norm jedenfalls eine qualifizierte Mehrheit der in dem jeweiligen Normungsverband vertretenen nationalen Normungsverbände erforderlich ist 28 . Dieses bedeutet im Ergebnis, daß der Einfluß einzelner nationaler Großhersteller bzw. der nationalen Herstellerseite in ihrer Gesamtheit auf das Zustandekommen bzw. NichtZustandekommen einer Norm insofern abgeschwächt wird, als zur Annahme eines Normenentwurfes ein Konsens sämtlicher oder zumindest des überwiegenden Teils der nationalen Mitgliederverbände, die ihrerseits wiederum unterschiedliche nationale Eigeninteressen verfolgen, erforderlich ist. Schließlich steuert auch der Umstand, daß eine Normungsorganisation anerkannt sein muß, um Normen aufstellen zu können, der Gefahr einer zu einseitigen Berücksichtigung der Interessen bestimmter Verbände entgegen. Ziel der Anerkennung ist es, die Normenproduktion auf möglichst wenige Normungsverbände zu konzentrieren und dadurch sicherzustellen, daß ein mit der Normung befaßter Verband bestimmte Regeln im Verfahren der Normenaufstellung beachtet. Eine Normungsorganisation kann entweder durch eine staatliche Stelle im Wege der Übereinkunft, eines Vertrages oder einer Rechts- bzw. Verwaltungsvorschrift oder aber, mit oder ohne förmliche Anerkennung, im Wege der faktischen Akzeptanz durch die verschiedenen Wirtschaftspartner erfolgen 29. Die europäischen Normungsverbände CEN und CENELEC sind vom Rat in der Informationsrichtlinie ausdrücklich als für die Normung zuständige Verbände auf der Gemeinschaftsebene anerkannt worden 30 . In Anhang 1 dieser Richtlinie werden CEN und CENELEC in der Liste der für die Normung zuständigen Gremien aufgeführt. Außerdem ist die Zuständigkeit von CEN und CENELEC für Fragen der Normung auch im Anhang I I der Entschließung des Rates über eine neue Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisie-

Roßnagel, UPR 1986, S. 46 (50); Jarass, NJW 1987, S. 1225 (1230 f.); Mohr, Technische Normen, S. 15 Fn. 44; zurückhaltender dagegen Marburger, Regeln der Technik, S. 202 f. 28

Zur Beschlußfassung und zu weiteren Einzelheiten vgl. unten S. 65 ff.

29

Vgl. auch Nicolas / Repussard, Gemeinsame Normen, S. 12.

30

Vgl. Art. 6 Abs. 3 Pkt. 1 Rl. 83 / 189 des Rates v. 28.03.1983, Abi. EG Nr. L 109 v. 26.04. 1983, S. 10.

§ 1 Der Begriff „Technische Normen"

37

rung und Normung nochmals ausdrücklich bestätigt worden 31 . Schließlich wurde CEN und CENELEC auch in ihrer Vereinbarung mit der EG-Kommission ausdrücklich die Aufgabe übertragen, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten Normen für die Europäischen Gemeinschaften zu erarbeiteten 32. Allerdings haben sich Rat und Kommission das Recht vorbehalten, in besonderen Bereichen industrieller Aktivitäten auch auf andere europäische Normungsorganisationen zurückzugreifen, sofern diese im Bereich der Ausarbeitung technischer Spezifikationen kompetent sind. Sollten Rat oder Kommission auf diese Verfahren zurückgreifen, so ist für die endgültige Annahme der auf diese Art und Weise harmonisierten Normen aber ebenfalls die Zustimmung von CEN und CENELEC erforderlich 33.

3. Bestimmt zur wiederholten oder ständigen Anwendung Der Umstand, daß eine Regel zur wiederholten oder ständigen Anwendung bestimmt sein muß, um begrifflich vom Vorliegen einer Norm sprechen zu können, dient als Abgrenzungsmerkmal gegenüber solchen technischen Regeln, die für einen bestimmten Spezialfall entwickelt worden sind und dementsprechend auch nur in einem Einzelfall zur Anwendung gelangen sollen. Dieses Abgrenzungsmerkmal erklärt sich aus der Funktion der Normungsverbände, eine möglichst große Zahl an Herstellern zu veranlassen, die von ihnen aufgestellten Regeln als Leitlinien für die technische Ausgestaltung der Produktion zu übernehmen. Dieses Ziel kann nur dadurch erreicht werden, daß eine technische Regel so abgefaßt ist, daß sie auch tatsächlich eine Vielzahl an unterschiedlichen Fallgestaltungen erfaßt. Insoweit handelt es sich bei den Normen um technische Regeln, die, bezogen auf ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte

31 Entschließung v. 07.05.1985, Abi. EG Nr. C 136 v. 04.06.1985, S. 3. Im Unterschied zu CEN und CENELEC ist der dritte Normungsverband, das European Telecommunication Standards Institute (Europäisches Institut für Telekommunikationsnormen) ETSI bislang noch nicht als europäische Normungsorganisation anerkannt. Allerdings ist eine solche Anerkennung beabsichtigt und dürfte in absehbarer Zeit auch erfolgen. Vgl. auch Schlecht, DIN-Mitt. Bd. 68 (1989), S. 10 (11); Vieweg, Technische Normen, S. 57 (68). Allgemein zu ETSI auch Amory, EuZW 1992, S. 75 (77 f.). 32 Vereinbarung CEN / CENELEC-EG-Kommission v. 13.11.1984, abgedruckt in DIN-Mitt. Bd. 64 (1985), S. 78 f. 33

S. 6.

So Anhang I I zur Entschließung des Rates v. 07.05.1985, Abi. EG Nr. C 136 v. 04.06.1985,

38

1. Kapitel: Zur Normung im Europäischen Wirtschaftsraum

Produktpalette, den jeweils größtmöglich zu erzielenden gemeinsamen Nenner in einem zu definierenden Wirtschaftsraum darstellen 34.

4. Freiwilligkeit Das Merkmal der Freiwilligkeit unterscheidet Normen von den sogenannten technischen Vorschriften. Letztere sind definiert als technische Spezifikationen, deren Beachtung — gleichgültig ob als Rechts- oder als Verwaltungsvorschrift — de jure oder de facto für die Vermarktung oder Verwendung in einem Mitgliedstaat oder aber jedenfalls in einem großen Teil eines Staates verbindlich vorgeschrieben ist 35 . Im Unterschied zu den technischen Vorschriften besteht bei den technischen Normen nicht so sehr die Gefahr, daß durch sie der technische Fortschritt auf einer bestimmten Stufe festgeschrieben wird. Ein Hersteller ist, rechtlich gesehen, nicht zur Befolgung der technischen Normen verpflichtet. Selbst wenn er sich grundsätzlich entschieden hat, normgemäß zu produzieren, so kann er jederzeit von den inhaltlichen Festlegungen der Normen abweichen, etwa dann, wenn eine Norm nicht mehr dem neuesten Stand der technischen Entwicklung entsprechen sollte. Das Merkmal der Freiwilligkeit ist eines der entscheidenden Abgrenzungskriterien. Normen sollen, da bei ihrer Aufstellung die verschiedensten Kriterien zu berücksichtigen sind, einen Konsens aller am Wirtschaftsleben beteiligten Gruppen beinhalten. Je größer die Übereinstimmung mit einem in einer Norm festgelegten Inhalt ist, desto wahrscheinlicher ist es, daß eine Norm in tatsächlicher Hinsicht akzeptiert wird. Ihre Wirkung entfalten Normen demnach dadurch, daß sie sich als Ausdruck gebündelten Sachverstandes erweisen.

34 35

Vgl. zum Ganzen auch Nicolas / Repussard, Gemeinsame Normen, S. 13.

Ausgeklammert aus diesem Begriff bleiben allerdings die von örtlichen Behörden festgelegten technischen Spezifikationen, vgl. Art. 1 Ziff. 5 Rl. 83 / 189 des Rates v. 28.03.1983, Abi. EG Nr. L 109 v. 26.04.1983, S. 9.

§ 1 Der Begriff „Technische Normen"

39

5. Der Öffentlichkeit zugänglich Anders als die Definition der ISO / ECE UNO nennt die Definition des EGRates die Notwendigkeit einer Veröffentlichung und damit verbunden einer allgemeinen Zugänglichkeit von Normen nicht als zwingende Voraussetzung für das tatbestandsmäßige Vorliegen einer Norm. Die Ursache hierfür ist darin zu finden, daß die in der RL 83/ 189 enthaltene Definition in erster Linie auf die Tätigkeit der europäischen Normungsverbände zugeschnitten ist. Diese Verbände veröffentlichen die von ihnen harmonisierten Normen aber nicht selber. Eine eigenständige Publikation der Ergebnisse der Normungsarbeit ist deshalb nicht erforderlich, weil auf europäischer Ebene verabschiedete Normen immer erst von den Mitgliederverbänden von CEN bzw. CENELEC in nationale Normen umgesetzt werden müssen, bevor sie „offiziell Gültigkeit" erlangen 36. Die in das nationale Normenwerk transformierten Europäischen Normen sind von den nationalen Normungsverbänden als „harmonisierte Normen" zu kennzeichnen 37 . Mit Aufnahme in das nationale Regelungswerk sind diese Normen aber ohnehin in den jeweiligen Veröffentlichungsorganen abzudrucken und werden so der Allgemeinheit, insbesondere aber den an der Normung interessierten Kreisen, bekannt gemacht38. Darüber hinaus hat sich die EG-Kommission CEN und CENELEC gegenüber verpflichtet, zwar nicht den Text der von diesen Verbänden harmonisierten Normen, wohl aber deren Titel und Fundstelle in den Amtsblättern der Europäischen Gemeinschaften zu veröffentlichen 39.

36 Ausführlich zum Verfahren sowie zum Umfang der den nationalen Normungsverbänden obliegenden Transformationspflicht die Darstellung unten S. 54 f. Die EG-Kommission sieht in der Notwendigkeit einer Umsetzung Europäischer in nationale Normen eine erhebliche zeitliche Verzögerung ihrer Harmonisierungsbestrebungen und drängt daher darauf, die Anwendung Europäischer Normen nicht länger von der Transformation in nationale Normen abhängig zu machen. Vgl. Mitteilung der EG-Kommission zum Ausbau der Europäischen Normung — „Grünbuch" — K O M (90) 456 endg., Abi. EG Nr. C 20 v. 28.01.1991, S. 1 (14). 37 In der Bundesrepublik Deutschland erfolgt diese Kennzeichnung durch den Zusatz „DIN-ENNormen". 38 39

Das D I N veröffentlicht Normen in den DIN-Mitteilungen.

Zusätzlich sollen in regelmäßigen Abständen die den Normungsverbänden von der Kommission übertragenen Normungsprogramme auf diese Weise veröffentlicht werden, vgl. Kooperationsvereinbarung Kommission und CEN / CENELEC, abgedruckt in DIN-Mitt. Bd. 64 (1985), S. 78 f. Soweit ersichtlich, hat die Kommission im Zuge der Verwirklichung der „Neuen Konzeption" bislang erst ein einziges Mal die Fundstellen harmonisierter Normen veröffentlicht. Vgl. Mitteilung der Kommission im Rahmen der Durchführung der Rl. 88 / 378 / EWG (sog. „Spielzeugrichtlinie" des Rates v. 03.05.1988, Abi. EG Nr. L 187 v. 16.07.1988), Abi. EG Nr. C 155 v. 23.06.1989, S. 2.

40

1. Kapitel: Zur Normung im Europäischen Wirtschaftsraum

Im Ergebnis zeigt diese Veröffentlichungspraxis, daß die von den europäischen Normungsorganisationen erarbeiteten Normen jedermann zugänglich sind. Die prinzipielle Notwendigkeit einer Veröffentlichung erschließt sich unmittelbar aus den anderen Definitionsmerkmalen des Begriffes „Norm" sowie aus den mit der Normung verbundenen Zielen. Wenn nämlich Normen zur wiederholten oder ständigen Anwendung bestimmt sind und wenn das Ziel regionaler Normung darin besteht, technische Handelshemmnisse durch die Festlegung eines sowohl von den Verbrauchern als auch von den Herstellern akzeptierten einheitlichen Qualitätsstandards abzubauen bzw. vollständig zu beseitigen, dann muß sichergestellt sein, daß die betroffenen Personenkreise über Normungsaktivitäten sowie deren Ergebnisse informiert werden. Auch ohne ausdrückliche Aufnahme in die Definition des Rates versteht sich daher das Publikationserfordernis von selber. Normungsverbände veröffentlichen bzw. sorgen jedenfalls für die Veröffentlichung von Normen, weil diese von denen entwickelt werden, die dies wünschen, damit diejenigen sie anwenden können, die dies auch tatsächlich wollen 40 .

§ 2 Die Träger der Europäischen Normung Die Erkenntnis, daß unterschiedliche technische Normen den freien Warenaustausch im grenzüberschreitenden Warenverkehr behindern, führte bereits früh zur Ausbildung supranationaler Normungsorganisationen 41. Ziel dieser Organisationen ist es, über eine Harmonisierung technischer Normen zum Abbau technischer Handelshemmnisse beizutragen. Im folgenden soll ein Überblick über die Entwicklung sowie die Organisationsstruktur der wichtigsten Normungsgremien im europäischen Wirtschaftsraum gegeben werden.

40 41

Vgl. zum Ganzen auch Nicolas / Repussard, Gemeinsame Normen, S. 12.

Dieses Phänomen blieb nicht auf den europäischen Wirtschaftsraum beschränkt. So bestehen auch im außereuropäischen Raum zahlreiche regionale Normungsverbände. Als Beispiele hierfür seien für Lateinamerika die panamerikanische Normenkomission COPANT (Comisión Panamericana de Normas Technicas), für Afrika die ARSO (African Organization for Standardization), für Asien das Normberatungskomitee ASAC (Asian Standards Advisory Comittee), für die Länder des pazifischen Raums der pazifische Normenkongress PASC (Pacific Area Standards Congress) oder für die Länder des karibischen Raumes der Normungsrat des Karibischen Gemeinsamen Marktes CARICOM (Caribbean Common Market Standards Council) genannt.

§

i e r g e der Europäischen Normung

41

/. Die Europäischen Normungsverbände 1. CEN (Comité Européen de Normalisation) a) Überblick Das CEN ist ein internationaler, privatrechtlich organisierter Verein des belgischen Rechts mit wissenschaftlich technischem Charakter 42. CEN setzt sich mittlerweile zusammen aus den 18 nationalen Normungsverbänden der EGMitgliedstaaten sowie der Europäischen Freihandelszone EFTA 4 3 . Der Sitz des CEN befindet sich gemäß Art. 3 der Satzung seit 1975 in Brüssel. Das satzungsmäßige Ziel des CEN besteht darin, die Normung auf europäischer Ebene durchzuführen, um die Entwicklung des Austausches von Waren und Dienstleistungen durch die Beseitigung solcher Hemmnisse zu fördern, die durch technische Anforderungen verursacht werden 44. Dabei umfaßt das Arbeitsgebiet des CEN in sachlicher Hinsicht sämtliche Bereiche der Technik mit Ausnahme der Elektrotechnik 45 .

b) Entwicklung

des CEN

CEN wurde auf einer Tagung der nationalen Normenausschüsse der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sowie der Europäischen Freihandelszone am 2 2 / 2 3 . März 1961 in Paris gegründet 46. Ursprünglich lautete der Name dieser Normungsorganisation „Comité Européen de Coordination des Normes". Der Sitz dieses Vereins befand sich bis 1975 in Paris.

42

Art. 1 Satzung / CEN i.d.F. v. 13. Juni 1975; vgl. auch Anselmann, RIW 1986, 936; Nicolas / Repussard, Gemeinsame Normen, S. 28; Mohr, Technische Normen, S. 12. 43

Die Bundesrepublik Deutschland wird im CEN durch das D I N vertreten.

44

Vgl. Art. 4 Satzung / CEN. Zum Aufgabenkreis vgl. auch die Darstellungen von Röhling, S. 29; Mohr y Kurzinformation, S. 9; Marburger, Regeln der Technik, S. 240; Nicolas / Repussard, Gemeinsame Normen, S. 28; Mohr, Technische Normen, S. 12 f. 45 Reihten, DIN-Mitt. Bd. 51 (1972), S. 347; Liebig / Mierschy Pkt. 9.2.1.; Marburger, Regeln der Technik, S. 241. 46 Stefenery S. 240.

S. 24; Brinkmann Verbraucherorganisationen, S. 97; Marburger, Regeln der Technik,

42

1. Kapitel: Zur Normung im Europäischen Wirtschaftsraum

Der Gründung vorausgegangen waren bereits seit 1957 Kontakte der jeweiligen Direktoren der nationalen Normungsverbände 47. Ausgangspunkt für die Gründung von CEN waren die Römischen Verträge. Mit dem Inkrafttreten des Vertrages über die Gründung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft am 01.01.1958 entwickelte sich mehr und mehr der Gedanke, verstärkt die Harmonisierung technischer Normen jedenfalls in den damaligen Mitgliedstaaten der EWG voranzutreiben. Eine Beschränkung der Harmonisierungsbemühungen ausschließlich auf die Mitgliedstaaten hätte jedoch eine Aufspaltung Westeuropas in zwei Sphären auch im Bereich der technischen Normung zur Folge gehabt. Da eine solche Aufspaltung den technischen und handelspolitischen Vorstellungen der nationalen Normungsverbände widersprach, setzte sich die Idee durch, durch eine Einbeziehung auch der EFTA-Staaten eine unabhängige und einheitliche Normenorganisation in das Leben zu rufen 48 . Verwirklicht werden konnte diese Idee mit der Gründung des CEN im Jahre 1961. Bis 1970 beschränkte sich die Tätigkeit von CEN darauf, Vorschläge zur Harmonisierung der nationalen technischen Normen zu entwickeln 49 . Erst seit 1970 umfaßt das Arbeitsprogramm von CEN auch die eigenständige Aufstellung Europäischer Normen 50 . Diese Aufgabenerweiterung durch die Aufnahme einer eigenen Normungsarbeit war letztlich auch Ausgangspunkt der im Jahre 1974 erfolgten Namensänderung 51. Mit dem neuen Namen „Comité Européen de Normalisation" wollten die Mitgliederverbände deutlich zum Ausdruck bringen, daß es im CEN nicht mehr nur um die Erarbeitung von Koordinierungsdokumenten ging, sondern daß von CEN entwickelte Normen nunmehr dieselbe — allerdings grenzüberschreitende — Wirksamkeit beanspruchen können wie die von den nationalen Normungsverbänden aufgestellten Normen. Über die selbständige Normungsarbeit hinaus umfaßt das Aufgabengebiet von CEN die Unterstützung der weltweiten Normung im Rahmen der ISO, die Sicherstellung und Kontrolle einer einheitlichen Einführung von ISO-Normen in den Mitgliederverbänden, die Zusammenarbeit mit politischen, wirtschaftli-

47 Vgl. hierzu sowie zur Geschichte Ludwig, DIN-Mitt. Bd. 48 (1969), S. 14; Reihlen, DIN-Mitt. Bd. 51 (1972), S. 347; Rohling, S. 28; Young, DIN-Mitt. Bd. 51 (1972), S. 230; Liebig / Miersch, Pkt. 9.2.1.; Marburger, Regeln der Technik, S. 240. 48

Ludwig, DIN-Mitt. Bd. 48 (1969), S. 14; Liebig / Miersch, Pkt. 9.2.1.

49

Vgl. Marburger, Regeln der Technik, S. 241 Fn. 43; zu Einzelheiten vgl. auch Ludwig, DINMitt. Bd. 48 (1969), S. 14 ff.; Reihlen, DIN-Mitt. Bd. 51 (1972), S. 347; Young , DIN-Mitt. Bd. 51 (1972), S. 230 ff. 50

Schnieder, S. 82; Marburger,

51

Brinkmann, Verbraucherorganisationen, S. 97.

Regeln der Technik, S. 241 Fn. 43.

§ 2 Die Träger der Europäischen Normung

43

chen und wissenschaftlichen Organisationen auf dem Gebiet der Normung sowie die Abfassung von Berichten über den Stand der Harmonisierung technischer Normen in den EG-Mitgliedstaaten52. Seit der Entwicklung der „Neuen Konzeption auf dem Gebiet der technischen Normen" durch die EG-Kommission 53 , der grundsätzlichen Annahme dieser Konzeption durch den Europäischen Rat 54 und seit dem Beginn der Umsetzung dieses Konzeptes durch den Erlaß von Harmonisierungsrichtlinien 55 besteht die nunmehr wichtigste Aufgabe des CEN darin, harmonisierte Europäische Normen im Auftrag der EG-Kommission zu erarbeiteten 56.

2. CENELEC (Comité Européen de Normalisation Electrotechnique) a) Überblick Beim Europäischen Komitee für die elektrotechnische Normung handelt es sich ebenso wie beim CEN um eine privatrechtlich organisierte Vereinigung belgischen Rechts mit Sitz in Brüssel 57. CENELEC ist im westeuropäischen Raum die einzige regionale Normungsorganisation, die für die Harmonisierung elektrotechnischer Normen zuständig ist. CENELEC setzt sich aus den nationalen elektrotechnischen Normungsverbänden der Mitgliedstaaten der EG und der EFTA zusammen, ist von seiner Verbandsstruktur also eine Schwester-

52 Vgl. hierzu sowie allgemein zum Aufgabenkreis die Ausführungen von Reihlen, DIN-Mitt. Bd. 51 (1972), S. 347 ff.; ders., DIN-Mitt. Bd. 53 (1974), S. 150 ff.; Young , DIN-Mitt. Bd. 51 (1972), S. 230 ff.; Worch, DIN-Mitt. Bd. 54 (1975), S. 297 (299 f.); Schnieder, S. 81 f.; Marburger, Regeln der Technik, S. 241. 53

Vgl. Weißbuch der Kommission an den Europäischen Rat, Kom. (85), 310 endg. v. 14.06. 1985, Rn. 60 ff. 54

Entschließung v. 07.05.1985, Abi. EG Nr. C 136 v. 04.06.1985, S. 1.

55

Vgl. z.B. Rl. des Rates v. 03.05.1989 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die elektromagnetische Verträglichkeit, Abi. EG Nr. L 139 v. 23.05.1989, S. 9 ff.; Rl. des Rates v. 14.06.1989 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für Maschinen, Abi. EG Nr. L 183 v. 29.06.1989, S. 9 ff. 56 Vgl. Kooperationsvereinbarung CEN / CENELEC-EG-Kommission v. 13.11.1984, insoweit abgedruckt in DIN-Mitt. Bd. 64 (1985), S. 78 f.

57

Vgl. Mohr, Technische Normen, S. 12.

44

1. Kapitel: Zur Normung im Europäischen Wirtschaftsraum

organisation des CEN 58 . Deutsches Mitglied im CENELEC ist die Deutsche Elektrotechnische Kommission DKE 5 9 . Die Ziele des CENELEC korrespondieren im wesentlichen mit denen des CEN. Auch CENELEC soll durch eine Harmonisierung von Normen speziell im elektrotechnischen Bereich zum Abbau technischer Handelshemmnisse beitragen und so den angestrebten freien grenzüberschreitenden Warenverkehr auf dem Gebiet der Elektrotechnik fördern 60. Ebenso wie CEN ist auch CENELEC durch eine Kooperationsvereinbarung mit der EG-Kommission 61 als europäische Normungsorganisation anerkannt und dadurch in das Konzept des Rates und der Kommission zum Abbau der nichttarifären Handelshemmnisse eingebunden.

b) Entwicklung

des CENELEC

CENELEC wurde erst im Dezember 1972 durch einen Zusammenschluß von CENEL 6 2 und CENELCOM 6 3 gegründet und nahm im Januar 1973 seine Tätigkeit als Europäische Normungsinstitution auf 64 . Bei CENEL handelte es sich um den Zusammenschluß der nationalen Normungskomitees sowohl der EG- als auch der EFTA-Staaten. Gegründet wurde CENEL 1959, die endgültige

58

Vgl. auch Marburger,

Regeln der Technik, S. 243; Mohr, Technische Normen, S. 12.

59

Die DKE wurde durch Vertrag v. 13.10.1970 zwischen dem Deutschen Normenausschuß, dem heutigen DIN, und dem Verband Deutscher Elektrotechnicker, VDE, zum Zwecke der Erarbeitung von Normen auf dem Gebiet der Elektrotechnik gegründet. Beim DKE handelt es sich sowohl um einen Fachnormenausschuß im D I N als auch um einen Hauptausschuß für das Vorschriftenwesen im VDE. Alleiniger Träger der DKE ist der VDE. Die Arbeitsergebnisse der DKE werden als DINNormen und, soweit sie sicherheitstechnische Festlegungen enthalten, gleichzeitig auch als VDEBestimmungen herausgegeben. Vgl. zu den Aufgaben und Arbeitsergebnissen der DKE auch Brinkmann, Verbraucherorganisationen, S. 120 ff.; Loew, DIN-Mitt. Bd. 62 (1983), S. 73 ff.; Orth, DIN-Mitt. Bd. 63 (1984), S. 308. 60

Liebig / Miersch, Pkt. 9.3.1.; Marburger, Regeln der Technik, S. 243; Mohr, Technische Normen, S. 12 f. 61

Abgedruckt in DIN-Mitt. Bd. 64 (1985), S. 78 f.

62

„Comité Européen de Normalisation Électronique — Europäisches Komitee für die Koordinierung elektrotechnischer Normen". 63 „Comité Européen de Coordination des Normes Électriques des Pays Membre de la Communauté Européenne — Europäisches Komitee für die Koordinierung elektrotechnischer Normen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft". 64

Brinkmann, Verbraucherorganisationen, S. 123; Marburger, Regeln der Technik, S. 243; Mohr, Technische Normen, S. 12.

§

i e r g e der Europäischen Normung

45

Bildung eines eigenständigen Normungsverbandes vollzog sich allerdings erst 196365. Aus CENEL ging mit CENELCOM eine besondere Organisation hervor, deren Gründung bereits 1958 beschlossen wurde, die sich aber ebenfalls erst im Jahre 1963 endgültig konstituierte 66. CENELCOM vereinigte ausschließlich die elektrotechnischen Komitees der EG-Mitgliedstaaten in sich. Der Zusammenschluß von CENEL und CENELCOM zu einem einheitlichen Normungsverband erfolgte im Zuge des 1972 vollzogenen Beitritts Großbritanniens, Irlands und Dänemarks in die bis dahin aus sechs Mitgliedstaaten bestehende Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 67. Seit seiner Gründung unterstützt CENELEC neben seiner Tätigkeit auf dem Gebiet der europäischen Normung im Bereich der Elektrotechnik die Bemühungen um eine international einheitliche Normung 68 durch aktive Mitarbeit in der IEC 6 9 .

II. Die Organisationsstruktur

von CEN / CENELEC

1. Vorbemerkung Die Organisationsstrukturen von CEN und CENELEC sind im wesentlichen identisch. Die wichtigsten Organe sind jeweils die Generalversammlung, der Lenkungs- bzw. Verwaltungsrat, das Präsidium sowie der Generalsekretär 70. Neben diesen Organen bestehen in beiden Organisationen jeweils ein Zentralsekretariat, ein Technisches Büro, Technische Komitees und Unterkomitees, die von den Verbänden zur Erfüllung der ihnen obliegenden Aufgaben einge-

65

Lukes , Urheberrechtsfragen, S. 11; Stefener,

66

Vgl. Holm, S. 121; Stefener,

S. 24.

S. 24.

67

Vgl. zum Zusammenschluß auch Deringer / Sedemund, NJW 1973, S. 940 (942).

68

Liebig / Miersch, Pkt. 9.3.1.; Mohr, Kurzinformation, S. 9.

69 International Electrotechnical Commission. Die IEC ist die älteste internationale Normungsorganisation. Gegründet wurde die IEC auf der Internationalen Elektrotechnischen Konferenz in St. Louis (USA) im Jahre 1904. Ihr Sitz befindet sich in Genf. Die Aufgabe der EEC besteht in der Vereinheitlichung nationaler Normen und der Schaffung eines internationalen Normenwerkes auf dem Gebiet der Elektrotechnik. Vgl. Brinkmann, Verbraucherorganisationen, S. 122; Marburger, Regeln der Technik, S. 239 insbes. Fn. 25 m.w.N.; Mohr, Technische Normen, S. 11 f., der allerdings als Gründungsjahr fälschlicherweise das Jahr 1906 angibt. 70 Daneben gibt es im CEN gemäß Art. 6 der Satzung noch einen Buchprüfer, im CENELEC einen Schatzmeister sowie einen oder mehrere Rechnungsprüfer. Vgl. GeschO CENELEC, Teil 1, Organisation und Verwaltung, S. 6. Auf die Funktion und die Tätigkeit dieser Organe wird im folgenden nicht weiter eingegangen.

46

1. Kapitel: Zur Normung im Europäischen Wirtschaftsraum

setzt werden. Die im CEN und CENELEC geltenden verbindlichen Amtssprachen sind Deutsch, Englisch und Französisch 71.

2. Entscheidungszuständigkeiten innerhalb der Normungsverbände a) Die Generalversammlung Die Generalversammlung bildet die jeweils höchste Entscheidungsinstanz von CEN bzw. CENELEC. Sie wird vom Generalsekretär auf Weisung des Verwaltungsrates einberufen. Die ordentliche Generalversammlung tagt zwischen April und November eines jeden Jahres. Bei der Generalversammlung handelt es sich um eine Dauereinrichtung, die sich aus den Vertretern der Mitgliederorganisationen sowie dem Präsidenten und dem bzw. den Vizepräsidenten zusammensetzt. Sie vertritt die Gesamtheit der angeschlossenen Normungsverbände 72. Zu den Sitzungen der Generalversammlung werden Vertreter der Europäischen Gemeinschaft, des EFTA-Sekretariats, von CEN bzw. CENELEC sowie Vertreter des ISO bzw. der IEC als Gäste eingeladen. Stimmberechtigt sind aber nur die Vertreter der nationalen Komitees, wobei jedes Komitee über eine Stimme verfügen kann 73 . Die Generalversammlung trifft ihre Beschlüsse grundsätzlich mit einfacher Mehrheit, es sei denn, die Satzungen von CEN oder CENELEC oder die von beiden Verbänden entwickelten internen Regeln für eine gemeinsame Normungsarbeit schreiben für bestimmte Abstimmungsgegenstände das Vorliegen eines besonderen Quorums vor 74 . Eine Versammlung ist bei Anwesenheit von zwei Dritteln der Vereinsmitglieder beschlußfahig. Von der Generalversammlung auf der Grundlage der Satzung oder der internen Regeln getroffene Beschlüsse sind für alle Mitgliederverbände verbindlich, auch für diejenigen, die im Zeitpunkt der

71

Vgl. Pkt. 3.2. GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, S. 20.

72

Vgl. Art. 16, 17 Satzung des CEN v. 13.06.1975; Pkt. 2 GeschO CENELEC, Teil 1, Organisation und Vèrwaltung, S. 6. 73

Delegationen der nationalen Komitees dürfen nicht mehr als fünf Personen umfassen, von denen eine der ständige Delegierte des Nationalen Komitees beim Technischen Büro ist. Die Delegierten müssen ihre Stimme einheitlich für den betreffenden Mitgliederverband abgeben. 74

Vgl. Art. 16 der Satzung des CEN.

§

i e r g e der Europäischen Normung

47

Beschlußfassung abwesend oder geschäftsunfähig waren oder einem Beschluß die Zustimmung verweigert haben75. Die Generalversammlung verfugt über die weitestgehenden Machtbefugnisse. Sie kann sämtliche Handlungen vornehmen oder bestätigen, die die Vereine CEN bzw. CENELEC betreffen.

b) Der Präsident Der Präsident führt jeweils den Vorsitz im CEN bzw. CENELEC. Gewählt wird er von der Generalversammlung für eine Amtszeit von mindestens zwei, höchstens aber drei Jahren. Ihm zur Seite stehen ein oder mehrere Vizepräsidenten, die von der Generalversammlung unter den gleichen Bedingungen wie der Präsident in ihr Amt berufen werden. Den Vizepräsidenten fallt insbesondere die Aufgabe zu, den Präsidenten im Falle einer Verhinderung zu vertreten 76. Der Präsident führt im CEN den Vorsitz in der Generalversammlung. Dort entscheidet im Falle der Stimmengleichheit seine Stimme, sofern nicht abweichend vom Grundsatz der einfachen Mehrheitsentscheidung eine Beschlußfassung mit qualifizierter Mehrheit erforderlich ist 77 . Abweichend von dieser Regelung ist der Präsident von CENELEC in jedem Falle verpflichtet, sein Amt gegenüber den Mitgliederverbänden unparteiisch auszuüben. Aus diesem Grunde besitzt der Präsident in der Generalversammlung auch kein Stimmrecht, es sei denn, er oder der Vizepräsident ist zugleich Leiter einer nationalen Delegation. In diesem Falle sind beide ausnahmsweise befugt, in dieser Funktion, keinesfalls aber in ihrer Eigenschaft als Präsident bzw. Vizepräsident, an der Abstimmung teilzunehmen78. Im Unterschied zum CEN kommt dem Präsidenten des CENELEC auch insofern eine besondere Stellung zu, als er nach der Geschäftsordnung ausdrücklich ermächtigt ist, in jeder sich als dringend entscheidungsbedürftig darstellenden Situation die insoweit erforderlichen Maßnahmen in eigener Zuständigkeit selbst vorzunehmen. Die nationalen Mitgliederverbände sind von den getroffenen Maßnahmen

75

Vgl. für CEN Art. 16 I I der Satzung.

76

Art. 24 der Satzung des CEN.

77

Vgl. Art. 21 der Satzung des CEN.

78

Vgl. GeschO CENELEC, Teil 1, Organisation und Verwaltung, S. 9.

48

1. Kapitel: Zur Normung im Europäischen Wirtschaftsraum

zu unterrichten. Außerdem müssen Eilentscheidungen des Präsidenten, soweit dies den Mitgliederverbänden erforderlich erscheint, von der Generalversammlung bestätigt werden 79. In beiden Organisationen sind der Präsident sowie seine Vizepräsidenten von Amts wegen Mitglieder des Lenkungs- bzw. Verwaltungsrats.

c) Lenkungs- bzw. Verwaltungsrat Sowohl CEN als auch CENELEC werden von einem Lenkungsrat geleitet und verwaltet. Dieser vertritt den Verein offiziell in allen Rechtsfällen und außerrechtlichen Angelegenheiten80. Die Mitglieder dieses Organs werden entsprechend den internen Regeln von CEN / CENELEC durch die Generalversammlung für die Dauer von mindestens zwei, höchstens aber drei Jahren mit der Möglichkeit der Wiederwahl berufen. Sie sind kraft Satzung Bevollmächtigte der Generalversammlung 81. Die Hauptaufgabe des Verwaltungsrates besteht darin, neben der Leitung der im Verein jeweils anfallenden Arbeiten die Aktionen der anderen Vereinsorgane aufeinander abzustimmen. Im Verwaltungs- bzw. Lenkungsrat, dem in jedem Falle zumindest ein Mitglied belgischer Nationalität angehören muß, verfügt jedes Mitglied bei Abstimmungen über eine Stimme. Beschlüsse werden wie in der Generalversammlung grundsätzlich mit einfacher Stimmenmehrheit gefaßt. Im CEN entscheidet dabei im Falle der Stimmengleichheit die Stimme des Vorsitzenden der Sitzung. Vorsitzender ist kraft Satzung immer der Präsident 82 .

d) Generalsekretär Der Generalsekretär wird auf Vorschlag des Lenkungsrates von der Generalversammlung ernannt. Der Lenkungsrat legt insoweit auch die Voraussetzungen bzw. Einstellungsbedingungen für eine Berufung zum Generalsekretär fest.

79

Vgl. GeschO CENELEC, a.a.O., S. 9.

80

Vgl. GeschO CENELEC, a.a.O., S. 8; Ait 25 der Satzung des CEN. Vgl. auch den Überblick bei Rohling, S. 29. 81

Für CEN vgl. Art. 25 I I der Satzung.

82

Vgl. Art. 30 II 1 i.V.m. Art. 24 III 1 der Satzung.

§ 2 Die Träger der Europäischen Normung

49

Dieser ist mit der laufenden sowie mit der täglichen Geschäftsführung des Vereins beauftragt und übt die ihm eingeräumten Befugnisse in eigener Verantwortung aus. Darüber hinaus ist ihm kraft Satzung die Aufgabe zugewiesen, darüber zu wachen, daß die Tätigkeit der Organe sowie der auf der Grundlage der Satzung bzw. der internen Regeln eingesetzten Institutionen in dem Rahmen ausgeübt werden, der von der Satzung, den internen Regeln und allen entsprechend der Satzung oder internen Regeln rechtmäßig ergangenen Entscheidungen vorgegeben ist 83 . Da der Generalsekretär für die Durchführung der Beschlüsse des Lenkungsrates und der Generalversammlung verantwortlich ist, nimmt er üblicherweise auch mit beratender Stimme an den Sitzungen dieser Organe teil. Die Tätigkeit des Generalsekretärs wird unterstützt durch ein Zentralsekretariat, das insbesondere Vorbereitungs- und Routinearbeiten leistet 84 . Der Generalsekretär leitet das Zentralsekretariat mit allen Befugnissen, zum Beispiel hinsichtlich der Einstellung oder Entlassung von Mitarbeitern.

e) Technisches Büro Dem Technischen Büro obliegt die Aufgabe, das Normungsprogramm von CEN bzw. CENELEC zu steuern und zu koordinieren. Insbesondere hat es darüber zu wachen, daß geplante Normungsvorhaben durch das Zentralsekretariat, die Technischen Komitees sowie andere Gremien zügig ausgeführt werden 85 . Eine der wichtigsten Aufgaben des Technischen Büros in diesem Arbeitsbereich besteht in der Einsetzung und Auflösung der Technischen Komitees sowie in der Bildung der diesen Komitees zugewiesenen Sekretariate. Das Technische Büro besteht aus dem Präsidenten und bzw. oder aus den Vizepräsidenten sowie einem ständigen Delegierten eines jeden Mitgliederverbandes. Letzterer hat die notwendigen Kontakte auf nationaler Ebene herzustellen, damit er seinen Normungsverband möglichst effektiv vertreten kann 86 .

83

Für das CEN vgl. Art. 33 I der Satzung.

84

Zum Umfang der Aufgaben vgl. im einzelnen GeschO CEN / CENELEC, Teil 1, S. 9 f. Der allgemeine Aufschwung der Normungsarbeit zeigt sich bereits daran, daß die Zahl der Mitarbeiter im Zentralsekretariat des CEN von Nicolas / Repussard, Gemeinsame Normen, S. 28, im Jahre 1988 noch mit 30 angegeben wurde, während diese Zahl nach eigenen Aussagen des CEN 1990 bereits bei 64 lag. 85

Zu den mit dieser Aufgabe verbundenen Funktionen des Technischen Büros vgl. GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 2.1.1.1., S. 7.

GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 2..2., S. . 4 Breulmann

50

1. Kapitel: Zur Normung im Europäischen Wirtschaftsraum

Sitzungen des Technischen Büros werden vom Zentralsekretariat auf Anweisung des Vorsitzenden, bei dem es sich entweder um den Präsidenten oder um einen Vizepräsidenten handeln kann, oder aber auf Antrag mindestens zweier Mitgliederverbände einberufen. Zu den Sitzungen werden Vertreter der EG-Kommission, des EFTA-Sekretariats und, soweit besondere vertragliche Verpflichtungen bestehen, auch Vertreter anderer Organisationen eingeladen. Diesen Vertretern ist in den Sitzungen allerdings nur ein Beobachterstatus eingeräumt. Das Technische Büro ist der Generalversammlung bzw. dem Lenkungsrat zur Berichterstattung verpflichtet. Darüber hinaus bleibt die Entscheidung über Fragen von besonderer Bedeutung der Generalversammlung bzw. dem Lenkungsrat vorbehalten 87.

f)

Technische Komitees

In den Technischen Komitees vollzieht sich die eigentliche Normungsarbeit 88 . Eingesetzt werden diese Komitees vom Technischen Büro unter genauer Angabe des jeweiligen Namens und des Aufgabengebiets. Ihre Aufgabe besteht im wesentlichen in der Aufstellung von CEN / CENELEC-Normen. Dabei sind sie grundsätzlich verpflichtet, alle ISO- bzw. IEC-Arbeiten, die in ihr Sachgebiet fallen, ebenso zu berücksichtigen 89 wie solche Unterlagen, die dem Technischen Büro von den nationalen Normungsverbänden oder von anderen internationalen Organisationen zur Verfügung gestellt werden 90. Jedes Technische Komitee hat ein Arbeitsprogramm zu erstellen, das für jedes Projekt detaillierte Angaben über Titel, Anwendungsbereich und Zieldaten für die einzelnen Verfahrensstufen enthält. Nach Erstellung eines solchen Programms ist die Zustimmung des Technischen Büros einzuholen. Soweit ein Technisches Komitee sämtliche ihm zugewiesene Aufgaben erfüllt hat, bleibt es formell verantwortlich für Fragen, die unter Umständen im Hin-

87

GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 2.1.4., S. 9.

88

Vgl. zu den Technischen Komitees auch Nicolas / Repussard, Gemeinsame Normen, S. 28. Die Anzahl der Technischen Komitees im CEN lag nach eigenen Angaben des CEN 1990 bei 212. 89 Zur Unterstützung dieser Arbeit sind sogenannte „Berichter-Sekretariate" eingerichtet worden. Diese informieren das Technische Büro über solche ISO / IEC-Arbeiten, die für CEN / CENELEC gegebenenfalls von Bedeutung sein könnten. Vgl. zur Aufgabe, Funktion und Zusammensetzung GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 2.6., S. 17.

90

Vgl. GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 2.3.1., S. 11.

§ 2 Die Träger der Europäischen Normung

51

blick auf Änderungen oder die Auslegung der von ihm erarbeiteten Normen bis zu ihrer periodischen Überprüfung auftreten. In der Zwischenzeit erklärt das Technische Büro das betreffende Komitee regelmäßig für ,muhend". Jedes Technische Komitee setzt sich aus den CEN / CENELEC-Mitgliedern zusammen. Diese sollen zu den einzelnen Sitzungen nicht mehr als drei Vertreter entsenden. Außerdem haben sie beim Zusammenstellen und Vorbereiten einer Delegation darauf zu achten, daß diese in den Arbeitssitzungen einen einheitlichen nationalen Standpunkt vertritt, der die Meinung aller von dem Normungsprojekt betroffenen Fachkreise berücksichtigt. An der Spitze der Technischen Komitees steht ein Vorsitzender. Dieser wird vom jeweiligen Sekretariat eines Technischen Komitees nominiert und vom Technischen Büro für eine Zeitspanne von nicht mehr als sechs Jahren ernannt, wobei in Ausnahmefällen eine Verlängerung um weitere drei Jahre möglich ist 91 . Der Vorsitzende leitet die Sitzungen des Komitees und lenkt dessen Sekretariat. Bei der Wahrnehmung dieser Pflichten hat der Vorsitzende strikte Unparteilichkeit zu wahren und auf die Berücksichtigung nationaler Standpunkte zu verzichten. Aus diesem Grund ist er bei Abstimmungen auch nicht stimmberechtigt. Insbesondere ist der Vorsitzende verpflichtet, „alles in seiner Macht Stehende zu tun", damit es im Komitee zu einstimmigen Beschlußfassungen kommt. Sollte eine einmütige Entscheidung über bestimmte Fragen nicht erreichbar sein, so muß der Vorsitzende versuchen, unter den Mitgliedern des Komitees einen „Konsens" herzustellen; Kampfabstimmungen mit einfachen Mehrheitsbeschlüssen sollen auf diese Weise möglichst vermieden werden 92. Unter dem Begriff „Konsens" ist insoweit eine möglichst breite Unterstützung zu verstehen. Konsens bedeutet nicht, daß alle einem Projekt zustimmen müssen, sondern, daß keine Partei Wesentliches einzuwenden hat 93 . Zur Vorbereitung der Beschlüsse im Technischen Komitee ist der Vorsitzende berechtigt, Arbeitsgruppen und Unterkomitees einzurichten.

91 Die Bedeutung der deutschen Normungsverbände im Rahmen der europäischen Normung läßt sich bereits daran ablesen, daß D I N und DKE 36% der Sekretariate im CEN bzw. CENELEC betreuen. Vgl. D I N Geschäftsbericht 1988 / 89, abgedruckt als Anhang zu DIN-Mitt. Bd. 68 (1989), S. 13. 92

Vgl. hierzu GeschO CEN / CENELEC, Teil 1, Pkt. 2.3.3., S. 12.

93

Mohr, DIN-Mitt. Bd. 67 (1988), S. 535 (536).

52

1. Kapitel: Zur Normung im Europäischen Wirtschafitsraum

aa) Arbeitsgruppen Arbeitsgruppen dürfen eingerichtet werden, um eine bestimmte kurzfristige Aufgabe innerhalb einer vorgegebenen Zeitspanne auszuführen 94. Sobald diese Aufgabe beendet ist, wird die Arbeitsgruppe vom Technischen Komitee in der Regel aufgelöst. Derartige formell eingerichtete Arbeitsgruppen sind von den sogenannten „ad-hoc Gruppen" zu unterscheiden. Diese setzen sich aus Mitgliedern übergeordneter Gremien zusammen und werden informell eingerichtet, um Vorbereitungsaufgaben durchzuführen 95.

bb) Unterkomitees Die den Technischen Komitees nunmehr eingeräumte Möglichkeit zur Bildung von Unterkomitees stellt eine Neuerung dar, die erst 1990 in Kraft getreten ist 96 . Grundsätzlich sollen Technische Komitees nur über Arbeitsgruppen verfügen können. Ausnahmsweise kann ein Unterkomitee jedoch dann eingerichtet werden, wenn ein großes Arbeitsprogramm zu bewältigen ist und hierbei zum einen unterschiedliche Fachkenntnisse für unterschiedliche Teile dieser Arbeit notwendig sind und zum anderen der Umfang der speziellen Arbeiten eine Koordinierung über einen längeren Zeitraum hinweg erfordert 97. Das Unterkomitee ist in jeder Hinsicht dem Technischen Komitee, das letztendlich auch die Verantwortung trägt, untergeordnet. Vor der Einrichtung eines Unterkomitees ist die Zustimmung des Technischen Büros einzuholen. Das Verfahren ist dabei so ausgestaltet, daß das Technische Komitee dem Büro einen Antrag zusammen mit einer eingehenden Begründung für die Notwendigkeit eines Unterkomitees sowie dessen genauen Namen und Aufgabenbereich vorzulegen hat.

94

Vgl. auch Rohling, S. 29; Marburger,

Regeln der Technik, S. 241.

95

Vgl. hierzu sowie zur Organisation GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 2.5., S. 16. Eine Besonderheit der Arbeitsgruppen besteht darin, daß sie auch solche Fachleute einschließen können, die in einem übergeordneten Gremium lediglich über einen Beobachterstatus verfügen. 96

Vgl. zur Motivation auch den Bericht über die CEN-Generalversammlung v. 27. / 28.09.1989 in Helsinki, DIN-Mitt. Bd. 68 (1989), S. 638. Bis zu diesem Zeitpunkt vertraten CEN / CENELEC die Auffassung, daß die Bildung von Unterkomitees allenfalls zu einer weiteren Biirokratisierung durch den Aufbau einer neuen Hierarchiestufe führen würde. Vgl. hierzu Mohr, DIN-Mitt. Bd. 67 (1988), S. 535 (536). 9

GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 2..1., S. 1 .

§ 2 Die Träger der Europäischen Normung

53

Hinsichtlich der Dauer der Tätigkeit sowie der mitgliedschaftlichen Organisation der Unterkomitees gelten dieselben Bedingungen wie für die Technischen Komitees 98 .

g) Programmkomitees Auch die Programmkomitees sind erst aufgrund einer Neufassung der gemeinsamen Geschäftsordnung von CEN / CENELEC im Jahre 1987 eingeführt worden. Sie werden, soweit dies für erforderlich gehalten wird, durch die Generalversammlung, das Technische Büro oder durch den CEN / CENELEC-Präsidialausschuß99 eingerichtet. Die Aufgabe dieser Programmkomitees besteht darin, eine zusammenhängende Koordination, Planung und Programmgestaltung innerhalb eines bestimmten Projektbereichs zu gewährleisten 100. Diese Funktion üben sie als Berater aus, die Empfehlungen an die jeweils übergeordneten Gremien richten. Jedem CEN / CENELEC-Mitgliederverband steht das Recht zu, einen Vertreter in ein Programmkomitee zu entsenden. Diese Vertreter sollen der höheren Managementebene angehören. Den Grund hierfür gibt die Geschäftsordnung damit an, daß die Programmkomitees bereits aufgrund ihrer personellen Zusammensetzung befähigt sein sollen, den Bedarf an europäischer Normung aufzudecken und die Folgen zu bewerten 101 . Für die Normungsarbeit als solche sind Programmkomitees dagegen nicht zuständig. Auf ihren Sitzungen oder aber auch auf schriftlichem Wege müssen die Programmkomitees das Normungsprogramm in ihrem Aufgabengebiet aufstellen und zumindest einmal jährlich fortschreiben. Soweit hierfür Beschlüsse erforderlich sind, soll unter den Mitgliedern grundsätzlich ein Konsens ange-

98

Vgl. auch GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 2.4.1. 2.4.6., S. 14 ff.

99

Dieser Ausschuß besteht aus den Präsidialausschüssen von CEN und CENELEC. Jeder Präsidialausschuß setzt sich aus fünf Mitgliedern zusammen. Mitglieder sind jeweils der Präsident, der Vizepräsident (im CENELEC zwei Vizepräsidenten), der Altpräsident sowie zwei weitere Personen (im CENELEC nur eine), die vom Lenkungs- bzw. Verwaltungsrat für eine Amtszeit von zwei Jahren gewählt werden. Aufgabe des CEN / CENELEC-Präsidialausschusses ist die Beratung über Themen von gemeinsamem Interesse sowie die Abgrenzung der Aufgabenbereiche hinsichtlich einzelner Normungsvorhaben. Vgl. GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 3.4.1., 3.4.2., S. 22 f. 100

GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 2.2.1., S. 9; vgl. zum Sinn und Zweck von Programmkomitees auch Nicolas / Repussard, Gemeinsame Normen, S. 30. 101

GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 2.2.2., S. 10.

54

1. Kapitel: Zur Normung im Europäischen Wirtschaftsraum

strebt werden. Ausnahmsweise kann aber auch mit einfacher Mehrheit entschieden werden.

§ 3 Arbeitsergebnisse der Europäischen Normung /. Europäische Dokumente Unter den Begriff „ E u r o p ä i s c h e Dokumente" faßt man die Ergebnisse der europäischen Normungsarbeit zusammen. Zu diesen Dokumenten zählen neben den Europäischen Normen und den Harmonisierungsdokumenten als Normen im Sinne der Richtlinie 83/ 189 102 auch die sogenannten „Europäischen Vornormen" 103 . Die Unterschiede zwischen diesen verschiedenen, aus der Harmonisierungstätigkeit von CEN und CENELEC hervorgehenden Dokumenten bestehen in erster Linie in dem jeweiligen Grad an Verbindlichkeit, den sie den einzelnen nationalen Normungsverbänden gegenüber entfalten.

1. Die Europäische Norm (EN) Bei der Europäischen Norm handelt es sich um eine regional gültige Norm, die in den drei offiziellen Sprachen von CEN bzw. CENELEC, nämlich in Deutsch, Englisch und Französisch, nach einem einheitlichen System der Gestaltung und Bezifferung verfaßt wird 1 0 4 . Wird ein Normenentwurf von CEN oder CENELEC in dem dafür vorgesehenen Verfahren als Norm angenommen, so sind alle Mitgliederverbände verpflichtet, diese Europäische Norm innerhalb einer festgelegten Frist 105 sachlich und redaktionell unverändert — abgesehen von einer Übersetzung in die jeweilige Landessprache — in das eigene nationale Normenwerk aufzunehmen und der harmonisierten Norm den

102

Rl. des Rates v. 28.03.1983., Abi. EG Nr. L 109 v. 26.04.1983, S. 8 ff.

103

Vgl. zu dieser Einordnung auch Mohr, DIN-Mitt. Bd. 67 (1988), S. 535 (536); Nicolas / Repussardy Gemeinsame Normen, S. 21. 104

Vgl. auch Orth, DIN-Mitt. Bd. 67 (1988), S. 129 (130).

105

Diese Frist beträgt in der Regel sechs Monate. Vgl. Mohr, Technische Normen, S. 13.

§ 3 Arbeitsergebnisse der Europäischen Normung

55

Status einer nationalen Norm einzuräumen 106. Jede der Europäischen Norm widersprechende nationale Norm ist zurückzuziehen. Da CEN und CENELEC die von ihnen aufgestellten Normen nicht selber veröffentlichen sind die Mitgliederverbände zusätzlich verpflichtet, den Text der harmonisierten Norm oder aber zumindest ein Anerkennungsblatt bzw. eine Ankündigung in dem jeweiligen nationalen Mitteilungsorgan zu veröffentlichen 107. Die unbedingte Verpflichtung zur Übernahme Europäischer Normen stellt für die Mitglieder von CEN eine noch relativ neue Regelung dar. Während im CENELEC die nationalen Mitgliederverbände, mit Ausnahme derjenigen der EFTA-Staaten, seit jeher auch dann zur Übernahme verpflichtet waren, wenn sie gegen eine Europäische Norm abgestimmt hatten, bestand für die Mitglieder von CEN bis 1986 eine Übernahme Verpflichtung nur bezüglich solcher Dokumente, denen sie auf europäischer Ebene ausdrücklich zugestimmt hatten 108 .

2. Harmonisierungsdokumente (HD) Ebenso wie bei den Europäischen Normen besteht für die Mitglieder von CEN und CENELEC auch bei den Harmonisierungsdokumenten die Verpflichtung, diese nach ihrer Annahme durch CEN oder CENELEC unabhängig von dem eigenen Abstimmungsverhalten in das nationale Normenwerk zu übernehmen 109 . Die Übernahme muß nach außen zumindest durch die öffentliche Bekanntmachung der Nummer sowie des Titels der Harmonisierungsdokumente erfolgen 110 . Im Unterschied zu den für die Übernahme Europäischer Normen geltenden Bedingungen sind die nationalen Normungsverbände allerdings nicht zu einer wörtlichen Übernahme der in den drei offiziellen Sprachen Deutsch,

106 Vgl. GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 5.2.2.1., S. 40. Vgl. im übrigen auch Mohr, Kurzinformation, S. 11; ders., DIN-Mitt. Bd. 67 (1988), S. 535 (536); Nicolas / Repussard, Gemeinsame Normen, S. 31; Orth, DIN-Mitt. Bd. 67 (1988), S. 129 (130); Völker, S. 126. 107

Vgl. Nicolas / Repussard

y

Gemeinsame Normen, S. 31.

108

Vgl. auch Mohr, Kurzinformation, S. 11; Marburger, Regeln der Technik, S. 242, 244; Micklitz, NJW 1983, S. 483 (485); Nicolas / Repussard, Gemeinsame Normen, S. 31. 109

Eine abweichende Regelung gilt auch hier für die Mitgliederverbände der EFTA-Staaten. Harmonisierungsdokumente nehmen nach ihrer Transformation in der Bundesrepublik Deutschland ebenso wie Europäische Normen den Status von DIN-Normen ein. Vgl. auch Mohr, DIN-Mitt. Bd. 67 (1988), S. 535 (536). 110

Nicolas / Repussard, Gemeinsame Normen, S. 31.

56

1. Kapitel: Zur Normung im Europäischen Wirtschaftsraum

Englisch und Französisch verfaßten Harmonisierungsdokumente verpflichtet. Insoweit reicht es vielmehr aus, daß diese Dokumente inhaltsgetreu in irgendeiner Form in das nationale Normenwerk eingegliedert werden. Entgegenstehende nationale Normen sind grundsätzlich zurückzuziehen oder anzupassen 111 . Ausnahmsweise können vom Inhalt der Harmonisierungsdokumente abweichende nationale Normen auch aufrechterhalten werden. Vorgesehen ist diese Möglichkeit in zwei Fällen. Im Rahmen der sogenannten ^-Abweichungen" können solche Verpflichtungen Berücksichtigung finden, die auf nationalen Rechts- oder Verwaltungsvorschriften beruhen 112. Dagegen umfaßt die Gruppe der ,3-Abweichungen" nationale Besonderheiten, die auf unterschiedliche technische Anforderungen eines Produktes zurückzuführen sind und deren Weitergeltung für eine bestimmte Übergangsfrist noch als zulässig angesehen wird 1 1 3 . Zu Beginn der europäischen Harmonisierung schien die Aufstellung von Harmonisierungsdokumenten die beste Möglichkeit zu sein, nationale Normenwerke zu einer inhaltlichen Annäherung zu bringen, ohne gleichzeitig die im Laufe der Zeit gewachsenen nationalen Normstrukturen und Normungstechniken zu stören. Außerdem erlaubten Harmonisierungsdokumente sowohl eigenständige Normungsarbeiten im Rahmen von CEN und CENELEC als auch die Übernahme ganzer ISO- bzw. IEC-Publikationen. So blieb es im Ergebnis nämlich den Mitgliederverbänden vorbehalten, selber über die Art der Einführung von Harmonisierungsdokumenten in das nationale Normen werk zu entscheiden114. In der Praxis zeigten sich dann aber schnell die Nachteile dieses Systems. Insbesondere fehlte es an der Vergleichbarkeit der auf diese Weise harmoni-

111

GeschO CEN / CENELEC, Teil 2; Pkt. 5.2.3., S. 41. Vgl. auch Orth, DIN-Mitt. Bd. 67 (1988), S. 129 (130 f.). 112 Bei Normen, die als Verweisungsobjekte in EG-Richtlinien Verwendung finden, folgt nach Auffassung der EG-Kommission aus dem Urteil des EuGH in der RS 815 / 79 (Urt. v. 02.12.1980, Slg. S. 3583 ff. - „Cremonini u. Vrankovich"), daß die Einhaltung der A-Abweichungen nicht mehr zwingend ist und daß die Freiverkehrsföhigkeit von Erzeugnissen, die den europäischen Harmonisierungsdokumenten entsprechen, innerhalb der EWG nicht mehr unter Berufung auf das Vorliegen einer solchen A-Abweichung eingeschränkt werden darf. Eine Einschränkung des freien Warenverkehrs kann nach Ansicht der Kommission nur noch unter Einhaltung des in der jeweiligen Richtlinie vorgesehenen Schutzklauselverfahrens zulässig sein. Vgl. EG-Kommission, Abi. EG Nr. C 59 v. 09.03.1982, S. 2 (5). Dieser Auffassung dürfte im Ergebnis zuzustimmen sein. Vgl. nunmehr auch den Hinweis in der GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 3.1.9., S. 19. 113 GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 3.1.10., S. 19. Vgl. auch Nicolas / Repussard, Gemeinsame Normen, S. 31. 114

Vgl. auch die Darstellung von Orth, DIN-Mitt. Bd. 67 (1988), S. 129 (131).

§ 3 Arbeitsergebnisse der Europäischen Normung

57

sierten nationalen Normenwerke, da Titel und Anwendungsbereich der harmonisierten Normen in den einzelnen nationalen Normungsverbänden in der Regel voneinander abwichen. Außerdem enthielten auch die harmonisierten nationalen Normen häufig noch weitere Verweisungen auf andere Normen, die ihrerseits wiederum auf andere Normen Bezug nahmen. Nach wie vor erwies es sich daher für exportwillige Produzenten als schwierig, die bei der Herstellung eines bestimmten Produktes in den jeweiligen Absatzländern konkret anzuwendenden technischen Normen komplett zu ermitteln. Im übrigen konnte aufgrund der unterschiedlichen nationalen Transformationsmöglichkeiten nur schlecht und häufig auch gar nicht geprüft werden, ob der Inhalt von Harmonisierungsdokumenten überhaupt in das nationale Normenwerk übernommen worden war. Selbst wenn diese Kontrolle aber im Einzelfall gelang, so erwies sich die Beurteilung als problematisch, ob unterschiedliche nationale Formulierungen tatsächlich noch einen identischen Inhalt aufwiesen 115 . Aufgrund der aufgezeigten Nachteile sind Harmonisierungsdokumente im Ergebnis nicht geeignet, ein einheitliches und durchschaubares Normenwerk in einem Gemeinsamen Markt zu begründen. Da der mit diesen Dokumenten zu erzielende Harmonisierungseffekt erheblich geringer als der Europäischer Normen zu bewerten ist, dürften Harmonisierungsdokumente in Zukunft aufgrund der Bestrebungen nach einer umfassenden Angleichung der technischen Normen nur noch eine untergeordnete Nebenrolle spielen 116 .

3. Europäische Vornormen (ENV) Mit den Europäischen Vornormen haben CEN und CENELEC ein Instrument geschaffen, das auch auf innovativen Gebieten eine europäische Normung ermöglichen soll. Mit dieser Art der Normung wird auf europäischer Ebene eine „entwicklungsbegleitende", in manchen Fällen sogar eine der technischen Entwicklung „voraneilende" 117 Harmonisierung angestrebt. Bei der Aufstellung Europäischer Vornormen soll versucht werden, einen Sachverhalt technisch zu umschreiben, von dem man noch nicht mit letzter Sicherheit weiß, ob er sich

115

Vgl. zur Problematik Orth, DIN-Mitt. Bd. 67 (1988), S. 129 (131).

116

Vgl. zu dieser Einschätzung auch Nicolas / Repussard, Gemeinsame Normen, S. 31; Orth, DIN-Mitt. Bd. 67 (1988), S. 129 (131). 117

Vgl. zu diesen Begriffen Orth, DIN-Mitt. Bd. 67 (1988), S. 129 (131).

58

1. Kapitel: Zur Normung im Europäischen Wirtschaftsraum

in der Realität tatsächlich so darstellt, wie man dies glaubt. Allerdings soll die Verabschiedung einer Europäischen Vornorm nur dann erfolgen, wenn unter Berücksichtigung aller Erkenntnisse aus Wissenschaft, Entwicklung, Erfahrung und Versuchen davon ausgegangen werden kann, daß die gewählte Richtung und die zugrundegelegten Parameter richtig sind 118 . Aufgrund der trotz dieser Einschränkungen letztlich immer noch verbleibenden Unsicherheiten sollen Europäische Vornormen als Harmonisierungsinstrumente nur dann eingesetzt werden, wenn ein dringender Bedarf für die Entwicklung europäischer Leitlinien besteht und Fragen der Sicherheit von Personen oder Sachen nicht berührt sind. Als mögliches Anwendungsgebiet ist hier insbesondere an den Bereich der Informationstechnik gedacht, in dem wegen des besonders hohen Innovationsgrades das Erfordernis der Schnelligkeit ausnahmsweise dem Gebot der inhaltlichen Fehlerfreiheit übergeordnet wird 1 1 9 . Die Notwendigkeit, Europäische Vornormen möglichst unbürokratisch und kurzfristig entwickeln zu müssen, hat dazu geführt, daß CEN und CENELEC für diese Dokumente einen sehr viel geringeren Grad an Verbindlichkeit als bei den Europäischen Normen oder den Harmonisierungsdokumenten vereinbart haben. Die nationalen Normungsverbände sind zwar gehalten, Europäische Vornormen auf nationaler Ebene unverzüglich in geeigneter Weise verfügbar zu machen und sie in gleicher Weise wie Europäische Normen und Harmonisierungsdokumente anzukündigen120. Bis zu einer abschließenden Entscheidung über die Umwandlung einer Vornorm in eine Europäische Norm oder in ein Harmonisierungsdokument dürfen bereits vorhandene, dem Inhalt der Vornorm entgegenstehende nationale Normen aber auch weiterhin aufrechterhalten werden. Die Geltungsdauer einer Vornorm ist auf drei Jahre beschränkt. Diese Laufzeit kann ein einziges Mal um zwei weitere Jahre verlängert werden. Spätestens nach Ablauf dieser Frist muß die Vornorm, wenn und soweit dies nicht bereits früher geschehen ist, entweder in eine Europäische Norm bzw. ein Harmonisierungsdokument umgewandelt oder aber ganz zurückgezogen werden 121 .

118

Vgl. auch Orth, a.a.O., S. 131.

119

GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 7.1.1., S. 45; Zachmann, DIN-Mitt. Bd. 65 (1986), S. 201 (202); Nicolas / Repussard, Gemeinsame Normen, S. 32. 120 121

Vgl. GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 7.6., S. 46.

So ausdrücklich GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 7.7., S. 47. Vgl. auch Nicolas / Repussard, Gemeinsame Normen, S. 32.

§ 3 Arbeitsergebnisse der Europäischen Normung

59

4. Exkurs: Euronormen Bei den Euronormen, die nicht mit den Europäischen Normen zu verwechseln sind, handelt es sich um überbetriebliche technische Normen für den Eisen- und Stahlsektor. Die Harmonisierung der insoweit bestehenden nationalen Normen erfolgt weder im CEN noch im CENELEC, sondern in einer speziellen Normungsorganisation, die den Gemeinschaftsorganen organisatorisch angegliedert ist. Hierbei handelt es sich um die Koordinierungskommission COCOR 122 der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl für die Nomenklatur von Eisen- und Stahlerzeugnissen 123. Eingesetzt wurde dieser Koordinierungsausschuß bereits im Jahre 1953 durch die damalige Hohe Behörde, die heutige EG-Kommission. Der Ausschuß setzt sich aus je drei Vertretern der Normungsverbände, der Produzenten und der Verbraucher aus einem jeden EG-Mitgliedsland zusammen124. Seit 1955 entwickelt COCOR Euronormen für Stahlprodukte, die ebenso wie C E N / C E NELEC-Normen für die Rechtsanwender keine verbindlichen Regeln enthalten. Der Ausschuß setzt für solche Probleme, die ihm wichtig erscheinen, Arbeitsgruppen ein. Der Vorsitz und das Sekretariat in diesen Arbeitsgruppen wird jeweils auf die Normungsorganisation eines Mitgliedstaates übertragen. Die Arbeitsgruppen erarbeiten auf ihren Sitzungen den Entwurf einer Euronorm, der dann an den Koordinierungsausschuß zur abschließenden Beschlußfassung weitergeleitet wird. Sofern dieser dem Text des Vorschlags zustimmt, wird dieser in den vier Sprachen der Gemeinschaft als Euronorm veröffentlicht 125 . Diese Euronormen erhalten nicht automatisch den Status nationaler Normen, sondern bedürfen ebenso wie die CEN / CENELEC-Normen der Transformation in nationale Normen. Allerdings besteht für die nationalen Normungsverbände keine Übernahmeverpflichtung, so daß sie von den inhaltlichen Vorgaben der Euronormen, sofern sie sich überhaupt grundsätzlich für ihre Umsetzung in nationale Normen entschieden haben, auch abweichen können. Die EG-Kommission ist an der Entwicklung von Euronormen insofern unmittelbar beteiligt, als sie den Präsidenten des Koordinierungsauschusses stellt und das Sekretariat für diesen Ausschuß unterhält 126 . Direkten Einfluß auf die Normenaufstellung als solche

122

„Commission de Coordination"

123

Vgl. hierzu auch Schnieder, S. 82.

124

Röhling, S. 27 f.; Schnieder, S. 82.

125

Vgl. zum Verfahren auch die Darstellung von Starkowski,

126

Vgl. Starkowski,

S. 136.

S. 135 f.

60

1. Kapitel: Zur Normung im Europäischen Wirtschaftsraum

kann die Kommission allerdings bereits deshalb nicht ausüben, weil der Vorsitz in den Arbeitsgruppen durch einen Vertreter eines nationalen Normungsverbandes geführt wird und der entsprechende Verband gleichzeitig mit der Betreuung des der Arbeitsgruppe zuarbeitenden Sekretariats beauftragt ist. Das Aufgabengebiet des Koordinierungsausschusses ist verhältnismäßig eng begrenzt. COCOR befaßt sich insoweit lediglich mit der Aufstellung von Produktionsnormen für Eisen- und Stahlerzeugnisse. Konstruktionsnormen werden dagegen vom Koordinierungsausschuß nicht entwickelt. Der Zweck der Euroiiormen besteht darin, zugunsten eines Gemeinsamen Marktes für Kohle und Stahl einheitliche Vergleichsmaßstäbe für die Preise und Lieferungsbedingungen von Stahlerzeugnissen festzulegen 127.

IL Das Normaufstellungsverfahren Das von CEN und CENELEC bei der Aufstellung europäischer Dokumente zu beachtende Verfahren ist in erster Linie in der gemeinsamen Geschäftsordnung beider Normungsverbände geregelt. Wegen der Dominanz der Europäischen Normen im europäischen Wirtschaftsraum beschränkt sich die folgende Darstellung auf den Bereich eben dieser Normen. Es kann allerdings darauf hingewiesen werden, daß die entsprechenden Regelungen für die Aufstellung von Harmonisierungsdokumenten weitgehend mit den für die Normenerstellung geltenden Bestimmungen identisch sind 128 . Inhaltlich läßt sich das Normenaufstellungsverfahren im wesentlichen in vier Abschnitte aufteilen und zwar in die Abschnitte Projektauswahl, Entwurfsverfahren, Abstimmung und ein gegebenenfalls stattfindendes Berufungsverfahren.

1. Projektauswahl Sowohl CEN als auch CENELEC beschäftigen sich nur mit klar abgegrenzten Gegenständen, die ihrer Einschätzung nach dringend der Normung bedürfen. Dabei zeigt sich die Subsidiarität der regionalen, daß heißt der europäischen

127 128

Schmedes S. 82; Starkowski,

S. 136 f.

Die Darstellung konzentriert sich auf die Wiedergabe der wichtigsten Grundzüge. Detail- bzw. Ausnahmeregelungen finden daher nur insoweit Berücksichtigung, als sie für das Verfahren insgesamt von Bedeutung sind.

§ 3 Arbeitsergebnisse der Europäischen Normung

61

gegenüber der internationalen Normung bereits daran, daß sich die Tätigkeit von CEN / CENELEC ausschließlich auf die Transformation bzw. unter Umständen auch die Überarbeitung von ISO- bzw. EEC-Arbeiten beschränkt, wenn und soweit ein zu normender Gegenstand bereits in diesen Gremien behandelt worden ist oder aber gerade behandelt wird 1 2 9 . In den nicht von der ISO bzw. IEC abgedeckten Bereichen können Anträge auf Normung zum einen nationalen Ursprungs sein. In diesem Fall werden die Anträge zunächst von dem betreffenden CEN / CENELEC-Mitglied begutachtet und im Falle einer positiven Stellungnahme an das Technische Büro als Vorschlag für ein Normprojekt weitergeleitet. Im übrigen ist aber auch jedes CEN / CENELEC-Fachgremium, die EG-Kommission oder das EFTA-Sekretariat, eine internationale Organisation oder eine europäische Wirtschafts-, Berufs-, Fach- oder Wissenschaftsvereinigung befugt, Vorschläge für neue Normungsprojekte einzureichen 130. Vorschläge anderer als der genannten Organisationen oder Verbände brauchen dagegen nicht berücksichtigt werden 131 . Die von den vorschlagsberechtigten Vereinigungen bzw. Organen eingereichten Anträge auf Aufnahme der Normungsarbeit werden vom Zentralsekretariat an das Technische Büro weitergeleitet. Dieses entscheidet dann darüber, ob ein Projekt weiterverfolgt werden soll und, soweit diese Entscheidung positiv ausfällt, wie sich die nachfolgende Vorgehensweise im einzelnen darstellt. Nicht abgelehnt werden können solche Projektvorschläge, für die CEN / CENELEC seitens der EG-Kommission oder des EFTA-Sekretariats ein Mandat erhalten haben. Außerdem genießen diese Projektvorschläge Vorrang gegenüber anderen Normungsvorhaben.

2. Entwurfsverfahren Nach Annahme eines Normungsprojektes durch das Technische Büro kann dieses zur Aufnahme der eigentlichen Normungsarbeiten entweder die Durch-

129

So ausdrücklich GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 4.1.1., S. 25.

130

Vgl. GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 4.1.2., 4.1.3., S. 25; vgl. auch die Darstellungen von Röhling, S. 29; Liebig / Miersch, Pkt. 9.2.4.; Marburger, Regeln der Technik, S. 241. 131

Allerdings besteht insoweit die Möglichkeit, daß sich ein Gremium von CEN oder CENELEC den Vorschlag zu eigen macht und ihn dann seinerseits als Normungsprojekt vorschlägt. Im Unterschied zu der hier vorliegenden Regelung kann im D I N »jedermann" offiziell einen Normungsantrag stellen. Vgl. hierzu Hartlieb / Krieg, DIN-Mitt. Bd. 66 (1987), S. 125 (129).

62

1. Kapitel: Zur Normung im Europäischen Wirtschaftsraum

führung eines „Fragebogenverfahrens" oder aber einer „CEN / CENELEC-Umfrage" veranlassen.

a) „ Fragebogenverfahren

"

Das Fragebogenverfahren soll dem Technischen Büro die Entscheidung darüber erleichtern, ob zum einen innerhalb der Mitgliederverbände überhaupt genügend Interesse an einer Harmonisierung der Normung für den vorgeschlagenen Gegenstand besteht und ob zum anderen der eingereichte Entwurf als Europäische Norm, Harmonisierungsdokument oder als Europäische Vornorm annehmbar erscheint 132. Zur Anwendung gelangt das Fragebogenverfahren, wenn es sich bei dem Normungsvorhaben beispielsweise um den Vorschlag eines europäischen Verbandes, um eine neu erarbeitete ISO- bzw. IEC-Norm oder aber eine amerikanische oder eine andere nationale Norm handelt, wenn mit anderen Worten also bereits in irgendeiner Form ein Bezugsdokument vorliegt 133 . Die Fragebögen versendet das Zentralsekretariat an die nationalen Mitgliederverbände, die dann ihrerseits das vorgeschlagene Normenprojekt innerhalb von drei Monaten zu prüfen haben 134 . In ihren Antworten können die nationalen Normungsorganisationen Vorschläge für gemeinsame Änderungen machen oder auf das Vorliegen besonderer nationaler Bedingungen hinweisen, die ihrer Ansicht nach bei der Festlegung der technischen Spezifikationen zu berücksichtigen sind. Hält das Technische Büro aufgrund der nationalen Stellungnahmen eine Harmonisierung des vorgeschlagenen Gegenstandes auch weiterhin für erforderlich, so kann es das Dokument entweder zur sofortigen formellen Abstimmung stellen oder, sofern weitere Fachabeit, wie im Regelfall üblich, als notwendig

132 GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 4.2.1., S. 26; vgl. zum Verfahren auch Mohr, DINMitt. Bd. 67 (1988), S. 535 (536). 133 Vgl. auch Mohr, a.a.O., S. 536. Handelt es sich bei dem Bezugsdokument um ein völlig neues Projekt, so verwendet das Technische Büro den sogenannten „ E r s t f r a g e b o g e n " , wird dagegen ein bereits überarbeitetes Bezugsdokument verwendet, dessen vorhergehende Ausgabe bereits als EN oder als HD angenommen worden war, dann findet der sogenannte „Fortschreibefragebogen" Anwendung. Vgl. GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 4.2.2., S. 26. 134 Im Unterschied zu der CEN / CENELEC-Umfrage (vgl. hierzu unten) ist die Frist zur Stellungnahme hier verkürzt, da man davon ausgeht, daß ein Meinungsbildungsprozeß bereits bei Erarbeitung des Bezugsdokuments, z.B. einer internationalen Norm oder einer DIN-Norm, stattgefunden hat. Vgl. zu dieser Motivation Mohr, a.a.O., S. 536.

§ 3 Arbeitsergebnisse der Europäischen Normung

63

angesehen wird, es zur weiteren Ausarbeitung an ein bereits bestehendes oder erst noch zu gründendes Technisches Komitee weiterleiten. Die Beurteilung, ob überhaupt ein Harmonisierungsinteresse unter den Mitgliederverbänden besteht, ist dabei nicht in das freie Ermessen des Technischen Büros gestellt. Vielmehr ist es verpflichtet, ein solches Interesse als gegeben anzusehen, wenn zumindest drei Mitgliederverbände eine Harmonisierung während des Fragebogenverfahrens schriftlich beantragen 135.

b) „CEN / CENELEC-Umfrage" Die CEN / CENELEC-Umfrage dient ebenso wie das Fragebogenverfahren dem Ziel, das Interesse an einer Harmonisierung im Hinblick auf einen bestimmten Gegenstand zu ermitteln bzw. zu klären, ob sich nach der Auffassung der Mehrheit der Mitgliederverbände ein Normungsvorschlag als Europäisches Dokument eignet. Anders als das Fragebogenverfahren bezieht sich die Umfrage jedoch nur auf solche Projektvorschläge, die von CEN oder CENELEC in eigener Regie entwickelt worden sind 136 . Eine Umfrage kann erst dann stattfinden, wenn sich in einem Technischen Komitee eine überwiegende Zustimmung zu einem bestimmten Arbeitsentwurf abzeichnet. In diesem Fall wird der im Technischen Komitee angenommene Text zusammen mit seiner Entstehungsgeschichte in deutscher, englischer und französischer Fassung an das Zentralsekretariat weitergeleitet. Das Zentralsekretariat übermittelt diesen Normenentwurf dann an die einzelnen nationalen Normungsverbände und fordert diese zur Stellungnahme auf. Dabei soll auf nationaler Ebene die Öffentlichkeit, insbesondere aber sollen die von dem Normungsvorhaben betroffenen Fachkreise über den Inhalt des Entwurfs unterrichtet werden. Letztere haben dann innerhalb einer Ausschlußfrist von sechs Monaten die Gelegenheit, sich kritisch mit dem Entschließungstext auseinanderzusetzen und etwaige Bedenken oder Anregungen zu äußern 137. Die Aufgabe der nationalen Normungsorganisationen besteht darin, die Ergebnisse der Befragung in die eigene Stellungnahme einzubeziehen. Stimmen die CEN / CENELEC-Mitglieder dem Normenentwurf im Ergebnis überwiegend zu, so erarbeitet das Sekretariat unter Aufsicht

135

So ausdrücklich GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 4.2.8., S. 27.

136

Vgl. auch Mohr, DIN-Mitt. Bd 67 (1988), S. 535 (536).

137

Im CENELEC nennt man diese Vorgehensweise auch „Konsens-Verfahren", da alle interessierten Kreise in sämtlichen EG- bzw. EFTA-Mitgliedstaaten im Wege eines öffentlichen Einspruchverfahrens befragt werden.

64

1. Kapitel: Zur Normung im Europäischen Wirtschaftsraum

des Technischen Büros einen endgültigen Text für das abschließende, formelle Abstimmungsverfahren. Deuten dagegen die Stellungnahmen der Mitgliederverbände auf eine nur unzureichende Zustimmung, besteht für das mit der Normung beauftragte Technische Komitee, gegebenenfalls nach einer Überarbeitung des Normenentwurfes, die Möglichkeit, die Durchführung einer zweiten Umfrage zu beantragen. Diese muß in der Regel innerhalb von zwei, höchstens aber innerhalb von drei Monaten abgeschlossen werden. Eine weitere Umfrage ist selbst dann ausgeschlossen, wenn auch weiterhin unter den nationalen Verbänden Uneinigkeit über den Normenentwurf bestehen sollte 138 . In diesem Falle ist das Vorhaben, die entsprechende Vorlage als Europäische Norm herauszugeben, gescheitert. Die im Entwurfsverfahren erarbeiteten Ergebnisse können allerdings, sofern ein entsprechender Konsens feststellbar ist, als Harmonisierungsdokument Geltung erlangen.

c) „ Stillhaltevereinbarung

"

Bei der Stillhaltevereinbarung handelt es sich um eine das Entwurfsverfahren flankierende Maßnahme 139 . Die Stillhaltevereinbarung beruht auf einer Verpflichtung der Mitgliederorganisationen von CEN und CENELEC, während der Dauer der Ausarbeitung einer Europäischen Norm keine nationalen Alleingänge zu unternehmen, die die angestrebte Harmonisierung in irgendeiner Form beeinträchtigen könnten 140 . Insbesondere dürfen keine neuen oder überarbeiteten Normen veröffentlicht werden, die nicht vollständig mit dem Inhalt der harmonisierten Europäischen Norm übereinstimmen 141. Die Stillhalteverpflichtung tritt nicht bereits automatisch mit dem Beginn europäischer Normungsarbeiten in Kraft, sondern die Entscheidung über ihr Inbzw. Außerkrafttreten obliegt dem Technischen Büro. Regelmäßig ordnet das Büro eine Stillhalteverpflichtung in dem Zeitpunkt an, in dem ein Technisches Komitee die Harmonisierungsarbeiten an einem Projekt aufnimmt. Bei solchen

138

GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 4.3.8., S. 28.

139

Zur Stillhaltevereinbarung allgemein vgl. auch Marburger, Regeln der Technik, S. 242, Nicolas / Repussard, Gemeinsame Normen, S. 30; Orth, DIN-Mitt. Bd. 67 (1988), S. 129 (130). 140 Gleiches gilt auch für ein Harmonisierungsdokument, während ähnliche Beschränkungen im Zeitraum der Aufstellung Europäischer Vornormen nicht bestehen.

GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. . 1 . , S.

.

§ 3 Arbeitsergebnisse der Europäischen Normung

65

Vorhaben, die auf einem Mandat der EG-Kommission oder des EFTA-Sekretariats beruhen, darf die Stillhalteverpflichtung nicht später als in dem Zeitpunkt in Kraft treten, in dem das Technische Büro das Mandat annimmt und damit dem fraglichen Normungsvorhaben zustimmt 142 .

3. Zum Ablauf des AbstimmungsVerfahrens Über den endgültigen Wortlaut eines europäischen Normenentwurfs kann nur im Wege einer formellen Abstimmung entschieden werden. Zu diesem Zweck verteilt das Zentralsekretariat Abstimmungsformulare zusammen mit dem endgültigen Wortlaut des Abstimmungstextes in den drei offiziellen Sprachfassungen an die Mitgliederverbände. Die Abstimmungsfrist beträgt in der Regel zwei Monate. Auf Antrag kann sie allerdings um einen Monat verlängert werden 143 . Damit die unter den nationalen Normungsverbänden über einen Normenentwurf tatsächlich bestehende Akzeptanz mit hinreichender Bestimmtheit ermittelt werden kann, dürfen die einzelnen Stimmen nicht unter Bedingungen abgegeben werden. Zulässig sind allenfalls redaktionelle Stellungnahmen. Versagt ein Mitglied einem Normenentwurf seine Stimme, so hat es seine Ablehnung ausführlich zu begründen. Bei der Auswertung des Abstimmungsergebnisses werden die Stimmen der einzelnen nationalen Normungsorganisationen gewichtet 144 . Die Gewichtungskoeffizienten sind für die Verbände aus den EG-Mitgliedstaaten denjenigen des Art. 148 EWGV angeglichen, während sie für die Verbände aus den EFTAStaaten unter Zugrundelegung wirtschaftlicher und politischer Erwägungen ein-

142 GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 6.3., S. 44. Handelt es sich um ein Mandat, das einem Vorschlag des Ständigen Ausschusses gemäß der Rl. 83 / 189 / EWG (Rl. v. 28.03.1983, ABl. EG Nr. L 109 v. 26.04.1983, S. 8 ff.) entspricht, dann wird diese Stillhalteverpflichtung zusätzlich ergänzt durch die nach Art. 7 der Rl. 83 / 189 / EWG einzuleitenden Maßnahmen. Ähnliches gilt auch für die Mitgliedstaaten der EFTA. Diese sind nach dem EFTA-Ratsbeschluß v. 24.10.1984 (insoweit abgedruckt als Anhang F zur GeschO CEN / CENELEC) verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, daß nationale Normen so lange nicht veröffentlicht werden, wie Europäische Normen auf den betreffenden Gebieten auf Antrag der EFTA durch CEN oder CENELEC erarbeitet werden. 143

Vgl. GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 4.5.1., S. 31.

144

Das Prinzip der gewichteten Abstimmung hat CEN im Anschluß an die Verständigung zwischen CEN / CENELEC und der EG-Kommission v. 13.11.1984 von CENELEC übernommen und im Jahre 1986 verbindlich eingeführt. Vgl. auch Mohr, DIN-Mitt. Bd. 67 (1988), S. 535 (536). Zum vorher im CEN geltenden Abstimmungsverfahren vgl. die Ausführungen von Mohr, Kurzinformation, S. 10; Liebig / Miersch, Pkt. 9.2.5.; Schnieder, S. 82; Marburger, Regeln der Technik, S. 242. 5 Breulmann

66

1. Kapitel: Zur Normung im Europäischen Wirtschaftsraum

vernehmlich festgelegt worden sind 145 . Für die Annahme eines Normenentwurfes müssen die nachfolgenden vier Mindestbedingungen erfüllt sein 146 . Zunächst müssen mehr Mitglieder einem Entwurf zustimmen als ablehnen, es muß insoweit also eine einfache Mehrheit vorhanden sein. Stimmenenthaltungen finden hierbei keine Berücksichtigung. Außerdem müssen 25 gewichtete »JaStimmen" bei höchstens 22 gewichteten „Nein-Stimmen" vorliegen, wobei die Zahl der ablehnenden Mitgliederverbände bei maximal drei liegen darf 147 . Ist eine der genannten Bedingungen nicht erfüllt, so werden die Stimmen der dem Bereich der Europäischen Gemeinschaften angehörigen Verbände gesondert gezählt. In diesem Fall ist ein Normenentwurf bereits dann angenommen, wenn allein unter Berücksichtigung dieser Stimmen die obengenannten Bedingungen erfüllt sind. Ergibt diese gesonderte Auszählung ein positives Abstimmungsergebnis, dann sind neben den Normungsverbänden der EG-Mitgliedstaaten 148 allerdings nur diejenigen Verbände aus dem EFTA-Bereich zur Übernahme der harmonisierten Norm verpflichtet, die dem Entwurf auch tatsächlich zugestimmt haben. Das Technische Büro stellt in einem Protokoll die Annahme eines

145 Mohr, DIN-Mitt. Bd. 67 (1988), S. 535 (536), Nicolas / Repussard, Gemeinsame Normen, S. 30. Die Stimmengewichtung erfolgt dabei im einzelnen folgendermaßen: Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien je 10; Spanien 8; Belgien, Griechenland, Niederlande, Portugal, Schweden und Schweiz je 5; Dänemark, Finnland, Irland, Norwegen und Österreich je 3; Luxemburg 2 und Island 1. Vgl. GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 5.1.4., S. 38. 146

Es sei allerdings darauf hingewiesen, daß sich CEN und CENELEC bereits aus Gründen der faktischen Akzeptanz der erarbeiteten Normen in der Regel um eine einstimmige Beschlußfassung bemühen. Dieses gelingt auch in den meisten Fällen. Ein Beispiel, in dem eine Norm mit qualifizierter Mehrheit beschlossen worden ist, bildet die Norm EN 228 über unverbleite Ottokraftstoffe (Mindestanforderungen) v. 14.05.1987. Ihre Zustimmung zu dieser Norm haben nur 10 der 16 Verbände, nämlich die Verbände Belgiens, Deutschlands, Finnlands, Frankreichs, Griechenlands, Italiens, der Niederlande, Österreichs, Portugals und der Schweiz erklärt. 147 GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Tabelle 1, S. 39. Vgl. hierzu auch Bericht über die CENGeneralversammlung 1987, DIN-Mitt. Bd. 67 (1988), S. 44; Hartlieb / Krieg, DIN-Mitt. Bd. 66 (1987), S. 125 (128); Nicolas / Repussard, Gemeinsame Normen, S. 30 f.; Reihlen, DIN-Mitt. Bd. 68 (1989), S. 449 (452). Zu den gegenwärtig bestehenden Bestrebungen, die letzte Bedingung (drei Mitgliederverbände können das Zustandekommen einer Europäischen Norm verhindern) streichen zu wollen, vgl. den Bericht über die 22. Generalversammlung von CENELEC, DIN-Mitt. Bd. 67 (1988), S. 102. 148 Im Ergebnis ähnelt dieses im Rahmen von CEN / CENELEC praktizierte Mehrfachstimmrecht zwar dem Verfahren nach Art. 148 EWGV, ohne daß es ihm aber gänzlich entspricht. Insbesondere die Tatsache, daß nicht mehr als drei Mitglieder gegen die Annahme eines Vorschlages stimmen dürfen, stellt gegenüber Art. 148 EWGV eine erheblich größere Einschränkung dar. Derzeit ist die EG-Kommission daher bestrebt, CEN und CENELEC zur Streichung dieser Bedingung zu bewegen; bislang blieben diese Bemühungen jedoch ohne Erfolg. Vgl. Mitteilung der EG-Kommission zum Ausbau der europäischen Normung, Kom (90) 456 endg., Abi. EG Nr. C 20 v. 28.01.1991, S. 1 (9 Fn. 1).

§ 3 Arbeitsergebnisse der Europäischen Normung

67

Vorschlags als Europäische Norm fest, gibt das Datum der Verfügbarkeit an 149 und bestimmt die Termine für die nationale Übernahme. Die Frist beträgt dabei sechs Monate nach dem Verfügbarkeitsdatum einer Europäischen Norm 1 5 0 .

4. Berufungsverfahren Mit der Einrichtung eines Berufungsverfahrens haben CEN und CENELEC die Möglichkeit geschaffen, einmal gefaßte Beschlüsse nochmals in einem gesonderten Verfahren auf ihre Sachdienlichkeit hin überprüfen zu lassen. Jedes CEN / CENELEC-Mitglied kann eine Berufung gegen jede Tätigkeit oder Unterlassung eines Technischen Komitees, eines anderen Gremiums oder auch eines einzelnen Funktionärs einlegen. Der Gegenstand des Verfahrens ist dabei nicht auf die Überprüfung von Entscheidungen auf ihre fachliche Richtigkeit beschränkt, sondern kann auch die Nichtbeachtung von Verfahrensbestimmungen umfassen. Voraussetzung für die Durchführung der Berufung ist aber, daß der Antragsteller sich auf die Behauptung stützt, die gerügte Tätigkeit oder Unterlassung entspreche nicht der Satzung, der Geschäftsordnung oder, ganz allgemein, den Zielen des CEN bzw. des CENELEC, insbesondere dem Interesse an der Errichtung eines einheitlichen europäischen Wirtschaftsraumes oder anderen öffentlichen Belangen wie beispielsweise Sicherheit, Gesundheit oder Umweltschutz. Sofern sich der Einspruch gegen eine Abstimmung richtet, muß er innerhalb von zwei Monaten eingelegt werden, nachdem dem betreffenden Mitgliedsverband das Abstimmungsergebnis mitgeteilt worden ist 1 5 1 . Wendet sich der Beschwerdeführer gegen einen zur Abstimmung gestellten Normenentwurf, dann ist die Ratifizierung der Norm bis zum Ende des Berufungsverfahrens auszusetzen. Unabhängig vom Beschwerdegegenstand ist der jeweilige Einspruch ausführlich zu begründen. Entschieden werden die Einsprüche grundsätzlich vom Technischen Büro. Ausgenommen sind hier allerdings solche Beschwerden, die sich gegen Beschlüsse eines Technischen Komitees oder des Verwaltungsrates

149 Hierbei handelt es sich um den Zeitpunkt, in dem die endgültigen offiziellen Sprachfassungen einer angenommenen EN vom Zentralsekretariat an die nationalen Normungsorganisationen verteilt werden. Vgl. GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 3.1.12., S. 19. 150

Vgl. den Nachweis in Fn. 147 sowie GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 5.2.14, S. 40.

151

Vgl. GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Anhang A, Pkt. A. 1., S. 51.

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1. Kapitel: Zur Normung im Europäischen Wirtschaftsraum

richten. In diesen Fällen trifft die Generalversammlung eine abschließende, allen Mitgliederverbänden gegenüber verbindliche Entscheidung152. Ob die gerügte Angelegenheit sofort entschieden werden kann oder ob insoweit noch eine weitere Bearbeitung erforderlich ist, entscheidet der Vorsitzende des Technischen Büros oder, im Falle einer an die Generalversammlung gerichteten Berufung, der Präsident von CEN bzw. CENELEC. Soweit eine sofortige Bescheidung des Antragstellers nicht möglich ist, wird ein unabhängiger Schiedsausschuß einberufen, der den Beschwerdeführer anhört und versucht, die bestehenden Meinungsverschiedenheiten einvernehmlich zu beseitigen. Über die Ergebnisse des Schiedsausschußverfahrens berichtet der Vorsitzende dem Technischen Büro bzw. der Präsident der Generalversammlung. Bei der abschließenden Entscheidung über die Begründetheit des Einspruchs sind dabei die Berichte und Empfehlungen des Schiedsausschusses zu berücksichtigen 153. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß das Berufimgsverfahren in jedem Fall immer nur den CEN / CENELEC-Mitgliedern offensteht. Auch wenn daher die Aufstellung einer Europäischen Norm durch ein Mandat der EG-Kommission veranlaßt worden ist, besitzen nach der Geschäftsordnung von CEN und CENELEC weder die Hersteller noch die Mitgliedstaaten oder die Kommission selbst die Möglichkeit, im Berufungsverfahren Einsprüche geltend zu machen. Dieses gilt selbst dann, wenn etwa die Kommission die Ansicht vertritt, daß die in einer Norm festgelegten technischen Spezifikationen nicht den sicherheitstechnischen Vorgaben einer Harmonisierungsrichtlinie entsprechen.

§ 4 Die Rechtsnatur Europäischer Normen Die Stellung Europäischer Normen im Rechtssystem der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hängt zunächst allein davon ab, wie ihre Rechtsnatur zu bestimmen ist. Dabei sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die an dieser Stelle erfolgende Bestimmung der Rechtsnatur Europäischer Normen ausschließlich anhand der Normen und der Tätigkeit der europäischen Normungsverbände als solcher erfolgt. Ausgeklammert bleibt daher insbesondere die Frage, ob und gegebenenfalls wie sich die nach der „Neuen Konzeption" vorgesehene Verknüpfung der Europäischen Normen mit den Harmonisierungs-

152

GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Anhang A, Pkt. A.4., S. 51.

153

GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Anhang A, Pkt. A.5., S. 51.

§ 4 Die Rechtsnatur Europäischer Normen

69

richtlinien auf die den Normen zuzuschreibenden Rechtswirkungen rechtlich auswirkt 154 .

/. Normen keine Bestandteile des geschriebenen Gemeinschaftsrechts Problemlos läßt sich die Frage verneinen, ob die Europäischen Normen dem Bereich des geschriebenen Gemeinschaftsrechts zuzuordnen sind. Dieses Ergebnis folgt bereits zwingend aus der Tatsache, daß es sich bei den europäischen Normungsverbänden um außerhalb der Organisationsstruktur der Europäischen Gemeinschaften stehende, privatrechtlich organisierte Vereinigungen handelt. Das sekundäre Gemeinschaftsrecht, dessen Umfang hier allenfalls in Frage stehen könnte, bezeichnet nach den Artikeln 189 EWGV, 161 EAGV jedoch nur die von den Organen der Gemeinschaften auf der Grundlage der Gründungsverträge erlassenen Rechtsakte als Gemeinschaftsrecht 155. Im übrigen sei ergänzend darauf hingewiesen, daß eine Klassifizierung Europäischer Normen als geschriebenes Gemeinschaftsrecht und die damit verbundene originäre Rechtswirksamkeit der Normen der ihnen definitionsgemäß innewohnenden Typik widerspräche. Europäische Normen sind, für sich betrachtet, im Zeitpunkt ihrer Entstehung unverbindlich. Sie enthalten lediglich Aussagen über die optimale Lösung sich wiederholender technischer Aufgabenstellungen. Insoweit ist ihre Wirkung nicht auf eine rechtliche Verpflichtung zur Anwendung, sondern auf eine faktische Akzeptanz zur Anwendung unter den Herstellern, Verbrauchern und mitgliedstaatlichen Organen gerichtet. Den Normen als solchen fallt daher in keinem Falle der Charakter geschriebenen Gemeinschaftsrechts zu 1 5 6 .

154

Vgl hierzu ausführlich S. 141 ff.

155

Vgl. auch Schweitzer / Hummer, Europarecht, S. 49.

156

Die fehlende Rechtssatzqualität überbetrieblicher technischer Normen ist auch für den Bereich der Bundesrepublik Deutschland unstreitig. Vgl. hierzu BVerwG NJW 1962, S. 506 (507); BGH BB 1987, S. 922 (923); Hammer, M D R 1966, S. 977; Stefener, S. 26; Brinkmann, Verbraucherorganisationen, S. 59; Hönning, Umweltschutz, S. 61 ; Starkowski, S. 34 f.; Backherms, S. 62; Marburger, Regeln der Technik, S. 330 ff.; Sonnenberger, BB Beilage 4 / 1985, S. 3 (7); Mohr, Technische Normen, S. 21.

70

1. Kapitel: Zur Normung im Europäischen Wirtschaftsraum

IL Normen keine Bestandteile des ungeschriebenen Gemeinschaftsrechts Eine andere Ebene betrifft dagegen die Frage, ob Europäische Normen vielleicht dem Bereich des ungeschriebenen Gemeinschaftsrechts zuzuordnen sind. Dieses könnte allerdings nur dann der Fall sein, wenn ihre Geltung gewohnheitsrechtlich anerkannt wäre. Ebenso wie in den nationalen Rechtsordnungen ist auch im Recht der Europäischen Gemeinschaften die Existenz von Gewohnheitsrecht bekannt 157 . Gewohnheitsrecht kann nicht nur durch die Praxis der Mitgliedstaaten und der Organe der Europäischen Gemeinschaften, sondern auch durch eine bestimmte Praxis der Individuen entstehen, die in die europäischen Rechtsordnung integriert sind 158 . Insoweit erscheint es daher auch nicht von vornherein ausgeschlossen, daß die von CEN und CENELEC aufgestellten Europäischen Normen unter Umständen gewohnheitsrechtliche Geltung beanspruchen könnten. Voraussetzung für die Entstehung von Gewohnheitsrecht ist eine langandauernde tatsächliche Geltung und Anwendung verbunden mit der Überzeugung der beteiligten Verkehrskreise, durch Anwendung der bestehenden Übung geltendes Recht zu befolgen 159 . Allerdings ist zu beachten, daß wegen der Besonderheiten des europäischen Gemeinschaftsrechts keine übersteigerten Anforderungen an die Bildung von Gewohnheitsrecht gestellt werden dürfen. Insbesondere muß insoweit eine im Vergleich zu den einzelnen Mitgliedsländern kürzere Entstehungszeit genügen160.

157 Vgl. die grundlegende Untersuchung von Bleckmann, EuR 1981, S. 101 ff. Vgl. im übrigen auch Beutler / Bieber / Pipkorn / Streil, Pkt. 6.2.1.2., S. 174 f.; Schwarze, Europäisches Gemeinschaftsrecht, Bd. 1, S. 55 f.; Bleckmann, Europarecht, Rn. 270 ff.; Schweitzer /Hummer, Europarecht, S. 51; Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 100 Rn. 16; Oppermann, Europarecht, Rn. 401. 158 Vgl. Bleckmann, Europarecht, Rn. 278, der es für denkbar hält, daß eine grenzüberschreitende Praxis der Individuen, etwa im internationalen Kaufrecht, nicht dem einen oder anderen nationalen Recht, sondern unmittelbar dem europäischen Gemeinschaftsrecht zuzuordnen ist. Unklar dagegen Oppermann, Europarecht, Rn. 401. 159

Vgl. Schweitzer / Hummer, Europarecht, S. 51; Oppermann, Europarecht, Rn. 401. Für den Bereich der Bundesrepublik Deutschland vgl. auch BVerwGE 8, S. 317 (321); BGHZ 37, S. 219 (222); Forsthoff, VerwR. Bd. 1, § 7, S. 146; Wolff / Bachof, VerwR. I, § 25; Ossenbühl, in: Erichsen / Martens, § 7 V I I 1, Rn. 73; Mohr, Technische Normen, S. 21 f.; Maurer, VerwR., Rn. 19. 160

Zutreffend Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 5 Rn. 125; Oppermann-, Europarecht, Rn. 401.

§ 4 Die Rechtsnatur Europäischer Normen

71

1. Langandauernde, einheitliche Übung Wendet man diese Maßstäbe auf die hier zur Entscheidung stehende Fragestellung an, so können die Europäischen Normen bereits deshalb nicht den Status von Gewohnheitsrecht erlangen, weil sie als Europäische Normen in den Mitgliedstaaten niemals unmittelbare Anwendung finden. Europäische Normen sind ausschließlich an die Mitgliederverbände von CEN bzw. CENELEC gerichtet. Ihre Wirkung können sie daher frühestens dann entfalten, wenn sie von den nationalen Mitgliederverbänden übernommen und als zwar harmonisierte, aber nationale Normen bekanntgemacht worden sind. Aufgrund der Verpflichtung der nationalen Normungsorganisationen, Europäische Normen wortgetreu in das nationale Normenwerk einzugliedern 161 , könnte daher allenfalls der Inhalt transformierter Europäischen Norm gewohnheitsrechtliche Geltung beanspruchen. Insoweit fehlt es jedoch, selbst unter Zugrundelegung weniger strenger Anforderungen, an einer in der gesamten europäischen Gemeinschaft nachweisbaren langandauernden Übung. Der permanente technische Fortschritt ist ein Wesenselement der Technik. Diese Tatsache bildete gerade den im Ergebnis ausschlaggebenden Grund dafür, warum der Rat und die Kommission die Europäischen Normungsorganisationen überhaupt in ihr Harmonisierungskonzept im Bereich der Produktsicherheit einbezogen haben. Beide Organe sahen sich nicht dazu in der Lage, technische Detailbeschreibungen in regelmäßigen Abschnitten durch Richtlinien dem sich stetig wandelnden technischen Entwicklungsprozeß anzupassen162. Technische Normen stehen insoweit immer unter dem Vorbehalt sich ändernder technischer Entwicklungen und bedürfen, wenn sie ihren Zweck erfüllen sollen, der Anpassung an den jeweils fortschreitenden Stand der Technik 163 . Aus diesem Grund müssen auch die CEN / CENELEC-Normen in Abständen von nicht mehr als fünf Jahren inhaltlich überprüft und gegebenenfalls bei fehlender Aktualität der iîi ihnen festgelegten technischen Spezifikationen an den jeweiligen Stand der

161

Vgl. hierzu oben S. 54 f.

162

Vgl. die Stellungnahme der Kommission im Weißbuch der Kommission, Kom (85) 310 endg., v. 14.06.1985, Rn. 67 ff. 163

Vgl. auch Hammer, MDR 1966, S. 977 (978); Stefener, Regeln der Technik, S. 338.

S. 28; Röhling, S. 15; Marburger,

72

1. Kapitel: Zur Normung im Europäischen Wirtschaftsraum

technischen Entwicklung angepaßt werden 164 . Aufgrund dieser Tatsache läßt sich bereits im nationalen Recht die für die Bildung von Gewohnheitsrecht erforderliche langandauernde Übung nicht nachweisen165. Existiert aber nicht einmal in den Mitgliedstaaten eine langandauernde und, was im Ergebnis sehr viel entscheidender sein dürfte, eine einheitliche Übung, so dürfte eine solche erst recht nicht auf einem europäischen Markt aufzufinden sein. Was die notwendige Dauer der Übung angeht, so ist selbst unter Zugrundelegung eines großzügigen Maßstabes darauf zu achten, daß der Beginn einer Übung nicht ohne weiteres mit dem Ausgabedatum eines Normblattes gleichgesetzt werden kann. Da die Entstehung von Gewohnheitsrecht nämlich voraussetzt, daß eine bestimmte Verhaltensweise jedenfalls in den beteiligten Verkehrskreisen mit großer Regelmäßigkeit gleichförmig eingehalten wird, kann die Berechnung erst dann einsetzen, wenn eine technische Norm sich in der Praxis so weit durchgesetzt hat, daß die große Mehrheit der Normadressaten sich normgemäß verhält und Abweichungen von diesem Grundsatz die Ausnahme bilden 166 . Das Erscheinungs- bzw. Ausgabedatum einer Norm könnte mithin allenfalls dann maßgebend sein, wenn die Normfestlegungen bereits allgemeinverbindliche Verfahrensfragen beschreiben 167. Dies dürfte im Bereich der europaweiten Normung bereits deshalb nie der Fall sein, weil Normungsarbeiten immer nur dann aufgenommen werden, wenn eine Harmonisierung bestimmter nationaler Normen als erforderlich angesehen wird 1 6 8 . CEN und CENELEC harmonisieren Normen nicht um der Normung willen. Das Produkt der Nor-

164

Vgl. GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Pkt. 4.9.3., S. 37. Gleiches gilt auch für die bundesdeutschen DIN-Normen sowie fur die VDE-Vorschriften, die sämüich zugleich als DIN-Normen erscheinen. Vgl. D I N 820, Teil 4, „Normungsarbeit, Geschäftsgang", Januar 1986, insoweit abgedruckt bei Mohr, Technische Normen, S. 22 Fn. 89. Nach Angaben von Backherms, S. 64 erreichen DIN-Normen ein Durchschnittsalter von 8,3 Jahren. 165

Die Bildung von Gewohnheitsrecht wird deshalb auch nahezu einmütig abgelehnt. Vgl. Stefener, S. 28; Röhling, S. 15; Backherms, S. 64 f.; Marburger, Regeln der Technik, S. 338; Mohr, Technische Normen, S. 28. Eine andere, in sich aber widersprüchliche Auffassung vertritt Herschel, Technische Überwachung, S. 119 einerseits und S. 131 andererseits; vgl. auch dens., NJW 1968, 617 (622); für einzelne Normen wohl auch Hammer, MDR 1966, S. 977 (978). 166

Vgl. hierzu auch Marburger,

167

a.a.O., S. 239.

Vgl. aber für den nationalen Bereich auch Brinkmann, Rechdiche Aspekte, S. 18, der darauf verweist, daß es im Einzelfall zwar nicht ausgeschlossen sei, daß eine Norm eine allgemein anerkannte Regel der Technik darstelle. Dieses könne insbesondere im direkten zeitlichen Zusammenhang mit ihrem Erscheinen der Fall sein. Brinkmann weist jedoch ausdrücklich daraufhin, daß diese Beurteilung nicht zwingend sei, technische Normen mithin also nicht eo ipso die allgemein anerkannten Regeln der Technik wiedergeben. 168

Vgl. hierzu auch oben S. 60 f.

§ 4 Die Rechtsnatur Europäischer Normen

73

mungsarbeit, die Europäische Norm, bildet einen Kompromiß zwischen unterschiedlichen nationalen Ansichten und Interessen. Soweit die nationalen Normenwerke nur redaktionelle Unterschiede aufweisen, inhaltlich jedoch übereinstimmende Regeln und Festlegungen enthalten, erübrigt sich eine europäische Normung und findet aus diesem Grunde erst gar nicht statt. Im Ergebnis ist daher bereits das erste Merkmal für die Bildung von Gewohnheitsrecht, das Vorliegen einer langandauernden Übung, zu verneinen.

2. Überzeugung der beteiligten Verkehrskreise von der rechtlichen Verbindlichkeit Darüber hinaus fehlt es auch an dem zweiten Erfordernis, nämlich an der Überzeugung, daß der Inhalt der Normen rechtlich geboten sei. Selbst wenn man davon ausginge, daß europaweit unter den Technikern und den anderen an der Normung interessierten Fachkreisen die Fehlvorstellung vorherrscht, Normen als solche und damit auch die Inhalte der transformierten Europäischen Normen seien von Gesetzes wegen verbindlich, so könnte eine derartige subjektive Einstellung bzw. Überzeugung die Entstehung von Gewohnheitsrecht nicht begründen 169. Der Grund für eine entsprechende Ansicht läge gerade nicht in einer ständigen gewohnheitsmäßigen Befolgung der in den technischen Normen vorgegebenen technischen Spezifikationen, sondern in der rechtsirrigen Vorstellung, die Beachtung der Normen sei bereits mit ihrer Aufstellung zwingend vorgeschrieben. Wer aber annimmt, daß die Beachtung technischer Normen in den Rechtssätzen der kodifizierten Rechtsordnung verbindlich vorgeschrieben ist, geht nicht von einer als verbindlich empfundenen Gewohnheit aus 170 . Fehlt es aber jedenfalls an der Vorstellung, daß das geübte Verhalten aufgrund langer Tradition aus sich heraus verbindlich ist, dann liegt auch die zweite für die Entstehung von Gewohnheitsrecht erforderliche Voraussetzung nicht vor. Dem entspricht es auch, daß es den Herstellern nach der „Neuen Konzeption" ausdrücklich freigestellt ist, normgemäß zu produzieren oder nicht,

169 Die Auffassung von der rechtlichen Verbindlichkeit technischer Normen ist unter Technikern im Bereich der Bundesrepublik Deutschland nicht selten anzutreffen. Vgl. Lukes , Überbetriebliche technische Normen, S. 174 m.w.N. in Fn. 90; Marburger, Regeln der Technik; S. 338. 170

So zutreffend auch Marburger, Rechtsprobleme, S. 27 (32).

Regeln der Technik, S. 339; ders., Formen, Verfahren und

74

1. Kapitel: Zur Normung im Europäischen Wirtschaftsraum

und daß in diesem Zusammenhang davon die Rede ist, daß es sich bei den Normen um „freiwillige Normen" handelt 171 . Abschließend läßt sich festhalten, daß die Europäischen Normen weder dem Bereich des geschriebenen noch dem des ungeschriebenen Gemeinschaftsrechts zuzurechnen sind. Die Normen entfalten aus sich heraus demnach keine gesetzlichen Rechtswirkungen.

///.

Normen keine „Usancen der Technik"

Vereinzelt ist in der Literatur versucht worden, Normen als eine Zusammenschau dessen darzustellen, was auf dem von der Norm erfaßten Gebiet der Technik als das jeweils Übliche angesehen wird. Insoweit soll es sich bei den Normen um eine mehr oder weniger systematische Zusammenschau dessen handeln, was jeder in dem entsprechenden Bereich anerkennt und als herkömmlich ansieht. Aus diesem Grund beinhalteten Normen, jedenfalls in noch genauer zu bestimmenden Teilbereichen der Technik, die auf diesem Gebiet bestehende Verkehrssitte, die Usancen172. Selbst wenn man Europäische Normen aber tatsächlich als Verkehrssitte bzw. als Usancen der Technik klassifizieren wollte, so müßte man sich die Frage stellen, welchen rechtlichen Stellenwert eine derartige Klassifizierung besitzen würde. Eine Verkehrssitte ist definitionsgemäß kein Gewohnheitsrecht und damit auch keine Rechtsquelle. Bei ihr handelt es sich ausschließlich um eine tatsächliche Übung, die allenfalls eine Vorstufe zur Bildung von Gewohnheitsrecht darstellen kann 173 . Eine entsprechende Klassifizierung hätte mithin keinen Einfluß auf die Klärung der Frage, wie die Rechtsnatur der Europäischen Normen zu bestimmen ist.

171 Vgl. die Leitlinien einer neuen Konzeption für die technische Harmonisierung und Normung, Anhang I I zur Entschließung des Rates v. 07.05.1985, Abi. Nr. C 136 v. 04.06.1985, S. 2 / 3. Dazu, daß sich das Merkmal der Freiwilligkeit ausschließlich auf die Hersteller, jedoch nicht auf die Mitgliedstaaten bezieht, vgl. die Ausführungen unten S. 156. 172

Vgl. Lukes , Tragweite, S. 213 (219); ders., NJW 1973, S. 1209 (1214); ders., Industrielle Normen und Standards, S. 17 (18 f.). Lukes geht insbesondere davon aus, daß Normen der Elektrotechnik derartige Usancen darstellen. 173 Vgl. für das deutsche Recht Enneccerus / Nipperdey, AT BGB, 1. Halbband, § 4 1 I V (S. 272); Flume , AT BGB, Bd. 2, § 16, 3 d (S. 312); Hübner, AT BGB, Rn. 28; Lorenz, AT BGB, § 1 I c (S. 12).

§ 4 Die Rechtsnatur Europäischer Normen

75

Im übrigen bestehen gegen eine Beschreibung der Normen als Verkehrssitte oder als Usancen nahezu dieselben Bedenken, die im Ergebnis dazu geführt haben, Normen nicht dem Bereich des Gewohnheitsrechtes zuzuordnen. Gerade auf europäischer Ebene dürften Normen gerade nicht eine Zusammenstellung des jeweils Üblichen darstellen. Europäische Normen enthalten regelmäßig Bestimmungen oder Beschreibungen, die sich in der europäischen Praxis noch nicht durchgesetzt haben, etwa weil sie den neuesten technischen Erkenntnissen entsprechen 174. Hiergegen läßt sich auch nicht einwenden, neueste technische Erkenntnisse würden ausschließlich in Europäischen Vornormen, die eben keine Normen darstellen, Verwendung finden. Sind bestimmte wissenschaftliche Erkenntnisse nämlich wissenschaftlich nachgewiesen, so können diese auch in Europäische Normen umgesetzt werden. Nur in den Fällen, in denen dieser wissenschaftliche Nachweis noch nicht zweifelsfrei erbracht ist, beschränken sich CEN und CENELEC auf die Erarbeitung und Publikation Europäischer Vornormen 175 . Es ist daher nicht auszuschliessen und im Regelfall auch gar nicht anders zu erwarten, daß Europäische Normen Spezifikationen enthalten, die erst mit Hilfe der Normung praktische Verbreitung und Anerkennung finden sollen, die sich also jedenfalls nicht aus einer Zusammenstellung des bereits Üblichen zusammensetzen. Schließlich dürfte auch hier das entscheidende Argument gegen die von Lukes für bestimmte Normen vorgeschlagene Klassifizierung darin zu sehen sein, das eine Harmonisierung von Normen auf europäischer Ebene überflüssig wäre, wenn diese Normen doch nur das enthielten, was in allen EG- bzw. EFTA-Mitgliedstaaten ohnehin als praktizierte Verkehrssitte vorzufinden ist 1 7 6 . Im Ergebnis läßt sich daher festhalten, daß die Europäischen Normen auch nicht die Verkehrssitte auf einem Gebiet der Technik widerspiegeln, es sich bei ihnen also nicht um die Usancen der Technik handelt. Normen entfalten mithin aus sich heraus keinerlei Rechtswirkungen. Die in ihnen festgelegten technischen Spezifikationen sind aus sich heraus nicht verbindlich. Ihrer Rechtsnatur nach sind Normen ausschließlich Empfehlungen der europäischen Normungsverbände zur Lösung sich wiederholender technischer Probleme 177 .

174

Vgl. für den nationalen Bereich auch Starkowski,

175

Vgl. oben S. 57 f.

176

Zur Kritik vgl. im übrigen auch Stefener,

177

S. 35.

S. 28 f.; Hönning, S. 62 Fn. 28; Starkowski,

S. 35.

Vgl. für die DIN-Normen auch BGH NJW 1972, S. 2300 (2301); BGH BB 1987, S. 922 (923); Brinkmann, Verbraucherorganisationen, S. 60; Sonnenberger, BB 1985, Beil. 4; S. 3 (7); Mohr, Technische Normen, S. 23.

2. Kapitel

Zur Reichweite der Rechtsangleichungsmöglichkeiten im Bereich technischer Regeln nach Art. 100 a EWGV § 1 Vorbemerkung Die Grundlagen der „Neuen Konzeption", die vom Rat in Form einer politischen Leitentscheidung in der Entschließung vom 07.05.19851 gebilligten „Leitlinien einer neuen Konzeption für die technische Harmonisierung und Normung" 2 , nennen als Rechtsgrundlage für die Harmonisierung der nichttarifaren Handelshemmnisse noch Art. 100 EWGV. Nach Einführung des Art. 100 a EWGV durch die Einheitliche Europäische Akte 3 stellt sich nunmehr die Frage, auf welcher dieser beiden vertraglichen Ermächtigungsgrundlagen die Harmonisierung technischer Regeln in Zukunft zu erfolgen hat. Bereits in ihrem Weißbuch4 hatte die EG-Kommission darauf hingewiesen, daß die Anwendung des Art. 100 EWGV unter einer Reihe verfahrenstechnischer Mängel leide, die einer zügigen und effektiven Rechtsangleichung im Wege stünden5. Als das größte Problem bezeichnete die Kommission dabei das von Art. 100 EWGV geforderte Prinzip einer einstimmigen Beschlußfassung. Insoweit stellte die Kommission fest, daß sich die Handlungsfähigkeit des Rates entscheidend verbessern, insbesondere beschleunigen Hesse, wenn sich die Mitgliedstaaten darauf verständigen könnten, daß mögliche Fortschritte nicht aufgrund der Erforderlichkeit einstimmiger Abstimmungsergebnisse vereitelt würden 6. Die von der EG-Kommission in diesem Bereich aufgestellte Forderung, Rechtsangleichungsmaßnahmen in Zukunft auch mit qualifizierter Mehrheit be-

1

Abi. EG Nr. C 136 v. 04.06.1985, S. 1.

2

Anhang I I zur Entschließung des Rates v. 07.05.1985, a.a.O., S. 2. ff.

3

Abi. EG Nr. L 169 v. 29.06.1987, S. 1 ff. Die EEA ist am 01.07.1987 in Kraft getreten.

4

Weißbuch der Kommission, Dok. Korn. (85) 310 endg. v. 14.06.1985.

5

Weißbuch, a.a.O., Rn. 67.

6

Weißbuch, a.a.O., Rn. 61.

§ 2 Rechtsangleichung im Anwendungsbereich des Art. 100 a EWGV

77

schliessen zu können, ist durch die Einführung des Art. 100 a EWGV verwirklicht worden. Folgerichtig zeigen denn auch neuere, nach dem Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte seitens der Kommission und des Rates im Anwendungsbereich der „Neuen Konzeption" beschlossene Harmonisierungsmaßnahmen, daß als Rechtsgrundlage nunmehr ausdrücklich auf Art. 100 a EWGV Bezug genommen wird 7 . Aus diesem Grund soll im folgenden untersucht werden, in welchem Umfang Art. 100 a EWGV eine Rechtsangleichung auf dem Gebiet der technischen Handelshemmnisse ermöglicht. Die Beantwortung dieser Frage hängt zum einen davon ab, welche Rechtsangleichungsmaßnahmen überhaupt vom Tatbestand dieser Vorschrift gedeckt sind. Im Anschluß an diese Prüfung ist zum anderen zu klären, wie das Konkurrenzverhältnis des Art. 100 a EWGV zu anderen, gegebenenfalls spezielleren vertraglichen Regelungen zu bestimmen ist und ob sich aus diesen unter Umständen Einschränkungen im Hinblick auf die Zulässigkeit einer Rechtsangleichung nach Art. 100 a EWGV ergeben.

§ 2 Zur Reichweite der Rechtsangleichung im Anwendungsbereich des A r t 100 a E W G V Nach Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV erläßt der Rat auf Vorschlag der Kommission, in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses mit qualifizierter Mehrheit die Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben.

7 Vgl. z.B. den Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Rl. 70 / 220 / EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Maßnahmen gegen die Verunreinigung der Luft durch Abgase von Kraftfahrzeugmotoren mit Fremdzündung, Kom. (87), 303 endg., dem Rat vorgelegt am 07.07.1987, ABl. EG Nr. C 257 v. 28.09.1987, S. 1 ff.; Rl. 89 / 336 / EWG des Rates v. 03.05.1989 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die elektromagnetische Verträglichkeit, Abi. EG Nr. L 139 v. 23.05.1989, S. 19; Rl. 89 / 392 / EWG des Rates v. 14.06.1989 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für Maschinen, ABl. EG Nr. L 189 v. 29.06.1989, S. 9.

78

2. Kapitel: Rechtsangleichung im Bereich technischer Regeln

/. Begriffsmerkmale des Art. 100 a EWGV als „echte" Tatbestandsvoraussetzungen Im Hinblick auf Art. 100 EWGV wird innerhalb der Literatur die Ansicht vertreten, daß die Prüfung, ob und gegebenenfalls welche Grenzen der Rechtsangleichung durch den Rat im Rahmen des Art. 100 EWGV gesetzt sind, überflüssig oder aber jedenfalls nicht von praktischer Bedeutung sei8. In der Praxis läuft diese These darauf hinaus, daß es sich bei den einzelnen Begriffsmerkmalen des Art. 100 EWGV nicht um „echte" Tatbestands Voraussetzungen handelt. Dieses hätte zur Folge, daß Art. 100 EWGV de facto ohne sachliche Einschränkung immer dann als Grundlage für eine Rechtsangleichung herangezogen werden könnte, wenn es an einer spezielleren vertraglichen Ermächtigungsvorschrift fehlt. Begründet wird diese Ansicht im wesentlichen mit den Schwierigkeiten bei der Auslegung der einzelnen Merkmale des Art. 100 EWGV sowie mit der Behauptung, daß aufgrund des in dieser Regelung verankerten Einstimmigkeitsprinzips bei der Beschlußfassung durch den Rat die umfassende Berücksichtigung der Interessen und Argumente sämtlicher Mitgliedstaaten in jedem Falle gewährleistet sei9. Bereits für den Bereich des Art. 100 EWGV erwies sich diese Auffassung als nicht haltbar 10. Erst recht aber kann diese These nicht auf Art. 100 a EWGV übertragen werden. So erlaubt Art. 100 a EWGV eine Beschlußfassung mit qualifizierter Mehrheit. Daher ist es jedenfalls nicht zwingend erforderlich, daß immer alle Interessen sämtlicher Mitgliedstaaten bei einer Rechtsangleichungsmaßnahme auch Berücksichtigung finden. Ein überstimmter Mitgliedstaat wird daher durch Art. 100 a EWGV grundsätzlich 11 gezwungen, seine eigenen nationalstaatlichen Interessen hinter die der Europäischen Gemeinschaften zurückzustellen. Aus diesem Grunde ist davon auszugehen, daß die im Art. 100 a EWGV im einzelnen aufgeführten Kriterien „echte" Tatbestandsvoraussetzungen

8

So Zweigert,

in: FS. f. Dölle, Bd. II, S. 402 (407).

9

Vgl. Zweigert, a.a.O., S. 406 f. Die Ansicht von Zweigert ist angelehnt an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 72 Absatz 2 GG im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebungstätigkeit des Bundes. Diese Rechtsprechung kann nach Zweigert mit der Maßgabe auf Art. 100 EWGV übertragen werden, daß eine Überprüfung der vom Rat auf der Grundlage dieser Regelung beschlossenen Richtlinien nur auf ihre „äußersten Grenzen hin" möglich ist. Als Beispiel für eine nach Art. 100 EWGV ausnahmsweise unzulässige Rechtsangleichungsmaßnahme nennt Zweigert die Harmonisierung des Ehescheidungsrechts. 10 Vgl. hierzu jeweils mit ausfuhrlicher Begründung Röhling, S. 62 f.; Grabitz, Harmonisierung, S. 9 ff. 11

Vgl. 100 a Absatz 4 EWGV.

§ 2 Rechtsangleichung im Anwendungsbereich des Art. 100 a EWGV

79

sind 12 . Eine Rechtsangleichung, die sich beispielweise nicht auf die Harmonisierung von Rechts- oder Verwaltungsvorschriften beschränkt, ist demnach auf der Grundlage des Art. 100 a EWGV ausgeschlossen. Im übrigen entspricht diese Auslegung auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes. Nach dieser richtet sich die Beurteilung der Voraussetzungen einer Befugnisnorm nicht nach den Intentionen des Gemeinschaftsgesetzgebers, sondern nach objektiven Gesichtspunkten, insbesondere aber nach dem Inhalt und der Wirkung des jeweiligen Rechtsaktes13. Die Klärung der Frage, ob die Voraussetzungen für die Vornahme einer Rechtsangleichungsmaßnahme erfüllt sind, ist demnach nicht in das Ermessen des Gemeinschaftsgesetzgebers gestellt. Abschließend läßt sich insoweit festhalten, daß Harmonisierungsmaßnahmen ihrem Umfang nach durch die in den einzelnen Ermächtigungsgrundlagen des EWG-Vertrages enthaltenen materiellen Tatbestandsvoraussetzungen begrenzt sind. Dieses bedeutet im Hinblick auf solche Rechtsetzungsakte, die sich auf die Umsetzung der „Neuen Konzeption" beziehen, daß diese ihre Rechtsgrundlage nur dann in Art. 100 a EWGV finden können, wenn es bei ihnen im Einzelfall um die Angleichung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften geht, die die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben.

12 Die formellen Voraussetzungen, wie z.B. die Beteiligung des Europäischen Parlaments oder die Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses, müssen ohnehin in jedem Fall erfüllt sein. 13 Vgl. EuGH RS. 45 / 86, Urt. v. 26.03.1987, Kommission. / .Rat, Slg. S. 1493 (1520 Rn. 11) - „Zollpräferenzen" - ; RS. 68 / 86, Urt. v. 23.02.1988, Vereinigtes Königreich. / . Rat, Slg. S. 855 (898 Rn. 24) - „Hormone" - ; RS. 131 / 86, Urt. v. 23.02.1988, Vereinigtes Königreich. / .Rat, Slg. S. 905 (933 Rn. 29) - „Legehennen" - ; zuletzt bestätigt durch EuGH, RS. C 300 / 89, Urt. v. 11.06.1991, Kommission. / .Rat, EuR 1991, S. 175 (177). In den zitierten Urteilen ging es jedesmal um die Frage nach der Zulässigkeit einer Praxis des Rates, Rechtsetzungsakte in bestimmten Bereichen auf eine doppelte Rechtsgrundlage zu stützen, wobei eine der beiden Rechtsgrundlagen jeweils eine einstimmige Beschlußfassung vorschrieb, während die andere eine Beschlußfassung auch mit qualifizierter Mehrheit vorsah. Der EuGH hat diese Praxis des Rates in allen Fällen für vertragswidrig erklärt. Die diesbezüglichen Ausführungen des Gerichtshofes sind auch auf andere Vertragsvorschriften übertragbar.

80

2. Kapitel: Rechtsangleichung im Bereich technischer Regeln

IL Vorliegen der Voraussetzungen für eine Rechtsangleichung nach Art. 100 a EWGV 1. Rechts- und Verwaltungsvorschriften Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV ermöglicht eine Angleichung von Rechtsund Verwaltungsvorschriften. Unter Angleichung 14 ist die Beseitigung solcher die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarktes beeinträchtigender oder störender nationalen Regelungen zu verstehen, die die Bedingungen des Binnenmarktes ursprünglich nicht berücksichtigten, sondern ausschließlich auf nationale Interessen zugeschnitten waren. Mit der Beseitigung dieser Bestimmungen verbunden ist deren Ersetzung durch neue, europäische Vorschriften, die den Erfordernissen eines europaweiten Binnenmarktes zu entsprechen haben15.

a) Begriffe aa) Rechtsvorschriften Zu den Rechtsvorschriften im Sinne des Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV zählen neben sämtlichen Gesetzen im formellen wie im materiellen Sinn auch die Organisationsregelungen autonomer Träger öffentlicher Gewalt, wie z.B. in

14 Der EWG-Vertrag verwendet die Begriffe Angleichung (vgl. Art. 3 lit. h, 100, 100 a), Koordinierung (vgl. Art. 54 Absatz 3, 56 Absatz 2, 57 Absatz 2), Harmonisierung (vgl. Art. 99) und Vereinheitlichung (vgl. Art. 111 Absatz 1 Nr. 1, 112 Absatz 1), ohne daß diesen unterschiedlichen Formulierungen allerdings ein bewußtes Unterscheidungssystem zugrundeliegt. Insoweit besteht weitgehend Einigkeit darüber, daß die Vertragsverfasser diese Begriffe willkürlich gewählt haben, so daß sie beliebig gegeneinander austauschbar sind. Vgl. EG-Kommission, Allgemeines Programm zur Beseitigung der technischen Hemmnisse im innergemeinschaftlichen Warenverkehr, die sich aus der Unterschiedlichkeit der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften ergeben v. 05.03.1968, BT-DrS V / 2743, S. 3 Fn. 2. Aus der Literatur vgl. Zweigert, in: FS. f. Dölle, Bd. II, S. 405; Seidl-Hohenveldern, KSE Bd. 11, S. 170 f.; Rohling, S. 57 f.; Schnieder, S. 5; Taschner, in: G / Β / Τ / E, EWGV, 3. Auflage, Art. 100 Rn. 1; Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1509 f.; Langeheine, in: Grabitz, EWGV, Art. 100 Rn. 8. Bezüglich der Koordinierung a.A. Steindorff, Grenzen, S. 90, der unter Berufung auf die Judikatur des EuGH in der Koordinierung ein „aliud" zur Rechtsangleichung sieht, da die Koordinierung die staatlichen Vorschriften unverändert lasse. Steindorff weist aber darauf hin, daß „die Macht des Faktischen die Grenzen überwunden hat, die der Kompetenz der Gemeinschaft durch die Unterscheidung von Angleichung, Harmonisierung und Koordinierung gesetzt sein können". 15

Vgl. Taschner, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 100 Rn. 4.

§ 2 Rechtsangleichung im Anwendungsbereich des Art. 100 a EWGV

81

der Bundesrepublik Deutschland die Satzungen öffentlichrechtlicher Körperschaften und Anstalten 16 . Ebenso fallen sowohl das nationale Gewohnheitsrecht als auch solche ungeschriebenen Rechtssätze unter diesen Begriff, die sich aus bindenden Präzedenzfallen 17 mitgliedstaatlicher Rechtsprechungsorgane ergeben. Diese weite Auslegung ist insbesondere aufgrund des 1973 erfolgten Beitritts Großbritanniens und Irlands, also zweier „common-law" Staaten geboten. Beide Länder kennen mit den „statutes" zwar durchaus auch Gesetze. Die wesentlichen Teile des geltenden Rechts sind jedoch durch Gerichtsentscheidungen entwickelt worden und werden auch auf diese Weise fortentwikkelt. Obwohl sich die Einbeziehung dieser Gerichtsentscheidungen in den Anwendungsbereich des Art. 100 a EWGV nur schwer mit dem Wortlaut dieser Vorschrift, der ausdrücklich „Rechtsvorschriften" als Gegenstand der Rechtsangleichung nennt, in Einklang bringen läßt, ist diese Auslegung geboten. Bedenkt man nämlich, daß auch die durch Gerichtsurteile mit präjudizierender Wirkung entstandenen ungeschriebenen Rechtsregeln sich negativ auf die Errichtung oder das Funktionieren eines gemeinsamen Binnenmarktes auswirken können, so ist eine Harmonisierung auch solcher Gerichtsurteile über den Art. 100 a EWGV erforderlich, wenn man nicht das Ziel, nämlich einen europaweiten Binnenmarkt ohne Handelsschranken, gefährden will 1 8 .

16

Rohling, S. 61; Starkowski, S. 47; Taschner, in: G / Β / Τ / E, EWGV, 3. Auflage, Art. 100 Rn. 19; Eiden, Rechtsangleichung, S. 16; Langeheine, in: Grabitz, EWGV, Art. 100 Rn. 16. 17 Eiden, Rechtsangleichung, S. 17; Langeheine, in: Grabitz, EWGV, Art. 100 Rn. 16; Taschner, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 100 Rn. 23. Die Ausdehnung der Rechtsangleichung auf Gerichtsentscheidungen muß allerdings auf solche Fälle beschränkt bleiben, deren gerichtliche Entscheidung für die Entscheidung gleichgelagerter zukünftiger Fälle verbindlich ist. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, scheidet eine Harmonisierung von Gerichtsurteilen über Art. 100 a EWGV aus, da es in diesen Entscheidungen dann nur um konkrete Einzelfalle geht, es insoweit also an der für eine Rechtsangleichung erforderlichen generell-abstrakten Regelung fehlt. In diesen Fällen können aber u.U. die im EWG-Vertrag verbrieften Grundfreiheiten verletzt sein, so daß sich, jedenfalls in krassen Fällen, bei bewußter Verletzung von Vertragsfreiheiten, die Mitgliedstaaten über Art. 169 EWGV zur Verantwortung ziehen lassen müßten. So zutreffend für den Bereich des Art. 30 EWGV GA Warner, RS. 30 / 77, Schlußantrag v. 28.09.1977, Slg. S. 2015 (2019 f.) ,3oucherau"; allgemein auch GA Gand, RS. 77 / 69, Kommission. / .Belgien, Schlußantrag v. 14.04.1970, S. 245 (246 f.) - „pauschale Umsatzsteuer für Holz" - ; aus der Literatur vgl. Wägenbaur, in: G / Β / Τ / E, EWGV, 3. Auflage, vor Art. 30-37, Rn. 29 (im Hinblick auf die Freizügigkeit von Personen); Müller-Graff, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 30 Rn. 122; a.A. Matthies, in: Grabitz, EWGV, Art. 30 Rn. 5. 18 Vgl. auch Behrens, S. 242 f.; Taschner, in: Gedächtnisschrift f. Constantinesco, S. 765 (777 ff.); Eiden, Rechtsangleichung, S. 17. Die Auffassung von Eiden geht allerdings insofern zu weit, als Eiden dem durch eine ständige Rechtsprechung entstandenen Richterrecht generell eine „rechtsetzende Kraft" zuschreibt und hieraus folgert, daß auch die Rechtsangleichung über Art. 100 a EWGV möglich sein muß (a.a.O. S. 16). Dieser Forderung kann nur für den Fall zugestimmt

6 Breulmann

82

2. Kapitel: Rechtsangleichung im Bereich technischer Regeln

bb) Verwaltungsvorschriften Zu den Verwaltungsvorschriften zählen die allgemeinen Richtlinien für die Tätigkeit von Verwaltungsbehörden 19. Einzelanordnungen, wie beispielsweise Verwaltungsakte im Verhältnis des Staates zum Bürger oder Einzelanweisungen innerhalb der Behördenhierarchie, scheiden dagegen aus dem Anwendungsbereich des Art. 100 a EWGV aus. Soweit entsprechende Einzelfallentscheidungen allerdings auf der Grundlage einer ständigen Verwaltungsübung getroffen werden, kann zwar nicht die Einzelanordnung als solche, wohl aber die Verwaltungspraxis als Grundlage für eine Angleichung nach Art. 100 a EWGV in Betracht kommen. Insoweit kann es keinen Unterschied machen, ob eine bestimmte Verwaltungspraxis in kodifizierten Vorschriften geregelt ist oder aber auf gleichförmigem Verwaltungshandeln beruht, zumal letzteres sich regelmäßig sehr viel nachhaltiger auf den freien Warenverkehr auswirken kann als eine Verwaltungsvorschrift, die, jedenfalls für sich allein genommen, noch keine einheitliche Verwaltungsübung zu garantieren vermag 20.

b) Ausreichen einer Vorschrift

zur Aktivierung

des Art. 100 a EWGV

Die Begriffe „Rechts- und Verwaltungsvorschriften" umfassen alle wie auch immer gearteten Vorschriften hoheitlichen Charakters, die von einer staatlichen bzw. unter staatlicher Kontrolle stehenden, zum Erlaß solcher Vorschriften befugten Stelle geschaffen worden sind. Gleichgültig ist dabei, ob die Vorschriften ihre Rechtswirkungen nur mittelbar über eine verwaltungsinterne Bindung oder aber unmittelbar im Außenbereich entfalten. Trotz des auf eine andere Auslegung hindeutenden Wortlautes besteht eine Rechtsangleichungsbefugnis des Rates bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen bereits dann, wenn in einem einzigen Mitgliedstaat ein Sachverhalt durch eine einzige Vorschrift geregelt ist. Der Grund für diese These ist darin zu sehen, daß Art. 100 a EWGV nach seinem Sinn und Zweck eine Beseitigung solcher unterschiedlicher Rechtsregelun-

werden, daß sich eine ständige Rechtsprechung zu Gewohnheitsrecht verdichtet. Sollte diese Voraussetzung im Einzelfall einmal erfüllt sein, ist aber ohnehin das Gewohnheitsrecht, nicht aber die Judikatur als solche Gegenstand einer Rechtsangleichung nach Art. 100 a EWGV. In allen anderen Fällen bleibt es dabei, daß· die Rechsvereinheitlichung mangels Vorliegens generell-abstrakter Regelungen auszuscheiden hat. 19

Röhling, S. 61; Behrens, S. 242; Taschner, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 100 Rn. 22.

20

Vgl. Rohling, S. 61; Behrens, S. 242; a.A. dagegen Starkowski,

S. 48.

§ 2 Rechtsangleichung im Anwendungsbereich des Art. 100 a EWGV

83

gen ermöglichen soll, die sich negativ auf den freien Warenaustausch unter den EG-Mitgliedstaaten auswirken können. Derartige Handelshemmnisse bestehen jedoch schon dann, wenn in nur einem Mitgliedstaat eine Vorschrift existiert, die in dieser oder einer ähnlichen Form in den anderen Mitgliedstaaten nicht vorhanden ist. Auch in einem solchen Fall ist die Rechtslage nicht in allen Mitgliedstaaten identisch. Ist beispielsweise die Vermarktung eines bestimmten Produktes in einem Mitgliedstaat von der Einhaltung bestimmter, gesetzlich vorgeschriebener Voraussetzungen etwa hinsichtlich der technischen Produktsicherheit abhängig und bestehen in den übrigen Mitgliedstaaten entsprechende Regelungen nicht, so erschwert bzw. beeinträchtigt diese bestehende Vorschrift den Handel eben mit dem betreffenden Mitgliedstaat. Die hieraus resultierenden Folgen können von ihrer handelshemmenden Wirkung her ebenso schwerwiegend ausfallen, als wenn in sämtlichen oder in einem Großteil der Mitgliedstaaten unterschiedliche Produktionsvorschriften bestehen. Aus diesem Grund muß im Ergebnis bereits die Existenz einer Rechtsvorschrift in nur einem Mitgliedsland ausreichen, um dem Rat über den Art. 100 a EWGV die Möglichkeit zur Rechtsangleichung zu eröffnen 21.

c) Zur Angleichungsmöglichkeit

im Bereich technischer Handelshemmnisse

aa) Angleichung technischer Vorschriften Die Definition des Begriffes „technische Vorschriften" als technische Standards, die in einem oder in mehreren Mitgliedstaaten kraft Gesetzes verbindlich vorgeschrieben sind 22 , bedeutet für das Harmonisierungskonzept von Rat und Kommission, daß der Anwendungsbereich des Art. 100 a EWGV, soweit es um eine Angleichung technischer Vorschriften geht, ohne weiteres eröffnet ist. Technische Vorschriften sind in jedem Falle Rechtsvorschriften im Sinne des Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV.

21

Allgemeine Auffassung vgl. nur Starkowski,

22

Vgl. hierzu oben S. 38.

S. 48; Behrens, S. 243 f.

84

2. Kapitel: Rechtsangleichung im Bereich technischer Regeln

bb) Angleichung technischer Normen Wesentlich problematischer ist dagegen die Frage, ob auch technische Normen als solche unter den Begriff „Rechts- und Verwaltungsvorschriften" gefaßt werden können. Normungsverbände verfügen als privatrechtlich organisierte Vereinigungen nicht über Rechtsetzungsbefugnisse. Die Normen selbst beschreiben Idealzustände. Bei einer Abweichung von den in ihnen festgelegten Spezifikationen drohen keinerlei Sanktionen, so daß es sich bei ihnen ihrer Rechtsnatur nach weder um Rechtssätze im formellen wie im materiellen Sinn, sondern um unverbindliche Empfehlungen privatrechtlicher Natur handelt23. Angeglichen werden können über Art. 100 a EWGV jedoch nur solche Vorschriften, die hoheitlichen Charakter haben. Daher erscheint die Annahme zwingend, daß Normen aufgrund ihrer privatrechtlichen Natur nicht unter die Begriffe „Rechtsund Verwaltungsvorschriften" fallen, ihre Vereinheitlichung über Art. 100 a EWGV demnach also ausgeschlossen ist 24 .

(1) Stellungnahmen der EG-Kommission zu Art. 30 EWGV kein Beleg für eine Einbeziehung technischer Normen Zweifel an einer solchen Auslegung des Art. 100 a EWGV ergeben sich allerdings, wenn man neuere Stellungnahmen der Kommission zum Begriff „Maßnahmen gleicher Wirkung" in Art. 30 EWGV untersucht. Nach der Auffassung der Kommission erfaßt das Verbot des Art. 30 EWGV nur Maßnahmen staatlicher Herkunft, da sich diese Vorschrift unmittelbar nur an die Mitgliedstaaten richtet25. Dieses Ergebnis folgt unmittelbar aus der

23

Vgl. hierzu oben S. 68 ff. Die Ausführungen über die Rechtsnatur Europäischer Normen gelten entsprechend auch für die von den nationalen Normungsverbänden verabschiedeten und herausgegebenen Normen. 24 So im Ergebnis Röhling, S. 61; Starkowski, S. 54; unklar dagegen Langeheine, in: Grabitz, EWGV, Art. 100 Rn. 48, der diese Frage unbeanwortet läßt. 25

Dies ist auch die im Schrifttum überwiegend vertretene Meinung. Danach kann eine Maßnahme gleicher Wirkung nur dann vorliegen, wenn es um die Ausübung hoheiüicher Gewalt geht, wenn ein Handelshemmnis als solches also öffentlich-rechtlichen Charakter hat. Beschränkungen des freien Warenverkehrs durch Private sollen dagegen nicht vom Verbot des Art. 30 EWGV umfaßt sein. Deren Zulässigkeit soll sich vielmehr ausschließlich nach den Wettbewerbsregeln der Art. 85 ff. EWGV richten. Vgl. Seidel, NJW 1967, S. 2081 (2083); Ehle / Meier, B, Rn. 105; Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 589; Röhling, S. 37; Ehlermann, in: FS. f. Ipsen, S. 579 (580); Hefermehl / Fezer, in: Hefermehl / Ipsen / Schluep / Sieben, S. 1 (28 ff.); Dauses, RIW 1984, S. 197 (202); MöscheU RIW 1984, S. 524 (526); Homann, JA 1985, S. 381 (384); Mohr,, Technische Normen,

§ 2 Rechtsangleichung im Anwendungsbereich des Art. 100 a EWGV

85

Richtlinie der Kommission 70 / 50 vom 22.12.1969 „über die Beseitigung von Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen, die nicht unter andere, aufgrund des EWG-Vertrages erlassene Vorschriften fallen" 26 . Nach dieser Richtlinie sind Maßnahmen im Sinne des Art. 30 EWGV „Rechts- und Verwaltungsvorschriften, Verwaltungspraktiken sowie alle Akte, die von einer öffentlichen Behörde ausgehen, einschließlich Anregungen" 27 . Bezogen auf die von privaten Normungsverbänden erarbeiteten Normen würde dies bedeuten, daß diese nicht als Maßnahmen gleicher Wirkung dem Verbot des Art. 30 EWGV unterfallen können 28 . Im Ergebnis wird diese Schlußfolgerung bestätigt durch die Antwort auf eine parlamentarische Anfrage des Abgeordneten Schwarzenberg 29 betreffend die Vertragsgemäßheit einer angeblichen Praxis deutscher Versicherungsgesellschaften, bestimmte Erzeugnisse nur dann zu versichern, wenn der Benutzer und potentielle Versicherungsnehmer den Nachweis der Übereinstimmung der zu versichernden Erzeugnisse mit bestimmten technischen (DIN-)Normen erbringt. In der Antwort der Kommission heißt es hierzu wörtlich 30 : „Die Besonderheit des Problems liegt darin, daß die Normen in vielen Fällen von privaten Institutionen aufgestellt werden und als solche nicht rechtsverbindlich sind. Wird allerdings die Übereinstimmung der aus anderen Mitgliedstaaten eingeführten Erzeugnisse nur mit den deutschen Normen durch das Einwirken des Staates „de jure" oder „de facto" verbindlich vorgeschrieben, so fallen diese Vorschriften oder Praktiken unter die Bestimmungen des EWG-Vertrages über den freien Warenverkehr (Art. 30-36)".

s. 101 ff.; MatthieSy in: Grabitz, EWGV, Art. 30 Rn. 5,40. Eine im Vordringen begriffene Mindermeinung will dagegen auch handelshemmendes Verhalten Privater am Maßstab des Art. 30 EWGV prüfen. Begründet wird diese Aufassung damit, daß dieses Verbot die Beseitigung aller nicht gerechtfertigten Handelshemmnisse zum Ziel habe. Außerdem nenne der Wortlaut des Art. 30 EWGV weder den Urheber des Handelshemmnisses noch dessen Adressaten und schliesse daher die Einbeziehung von privatrechtlichen Handlungen nicht aus. Vgl. Moench, NJW 1982, S. 2689 (2690); Wägenbaur, in: G / Β / Τ / E, EWGV, 3. Auflage, vor Art. 30-37, Rn. 52a, 54; Beutler/ Bieber / Pipkorn / Streil, Pkt. 7.2.5.4. (S. 231 f.), Pkt. 8.6.3. (S. 287); Schaefer, Unmittelbare Wirkung, S. 167 ff.; Bleckmann, Europarecht, Rn. 1037; Müller-Grajf, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 30 Rn. 128 (jedenfalls bei privatem Kollektivverhalten). 26

Abi. EG Nr. L 13 v. 19.01.1970, S. 29 ff.

27

Vgl. Rl. 70 / 50, a.a.O., 1. u. 2. Erwägungsgrund.

28

So im Ergebnis auch Rohling, S. 37; Joerges / Falke / Micklitz / Brüggemeier, S. 318 f.; Mohr, Technische Normen, S. 116. 29

Anfrage Nr. 835 / 82 v. 05.07.1982, ABl. EG Nr. C 93 v. 07.04.1983, S. 1.

30

Antwort der Kommission v. 08.02.1983, ABl. EG Nr. C 93 v. 07.04.1983, S. 1.

86

2. Kapitel: Rechtsangleichung im Bereich technischer Regeln

Dieser Formulierung läßt sich im Umkehrschluß entnehmen, daß technische Normen als solche jedenfalls nicht dem Verbot des Art. 30 EWGV unterliegen, eben weil es sich bei ihnen nicht um staatliche Maßnahmen handelt. Fallen technische Normen aufgrund fehlender „Staatlichkeit" aber nicht einmal in den Anwendungsbereich des Art. 30 EWGV, so kann es sich bei ihnen erst recht nicht um Rechts- oder Verwaltungsvorschriften im Sinne des Art. 100 a EWGV handeln. Die Stellungnahme der Kommission dient insoweit als Beleg für die These, daß eine Angleichung technischer Normen trotz ihrer handelshemmenden Wirkung über Art. 100 a EWGV auszuscheiden hat. Nach dem Erscheinen des Weißbuches31 ist dieses, aufgrund der Argumentation der Kommission zumindest naheliegende Ergebnis allerdings in Frage gestellt. So äußert sich die Kommission bezüglich der Reichweite des Harmonisierungskonzeptes der „Neuen Konzeption" wie folgt 32 : Bei künftigen Initiativen zur Verwirklichung des Binnenmarktes muß deutiich unterschieden werden zwischen den Bereichen, in denen eine Harmonisierung unerläßlich ist, und den Bereichen, bei denen man sich auf eine gegenseitige Anerkennung der nationalen Regelungen und Normen verlassen kann; das bedeutet gleichzeitig, daß die Kommission bei Gelegenheit jeder Rechtsangleichungsinitiative aufzeigt, ob bestehende Vorschriften und Normen außer Verhältnis zu den zwingenden Erfordernissen stehen, die sie zu erfüllen trachten und die deshalb ungerechtfertigte Handelsschranken im Sinne der Art. 30-36 EWGV darstellen; ..." Aus dem Umstand, daß die Kommission auch im Hinblick auf Normen im Einzelfall jeweils aufklären will, ob es sich bei diesen um ungerechtfertigte Handelsschranken handelt, kann nur geschlossen werden, daß nach Auffassung der Kommission auch Normen als solche in das Verbot des Art. 30 EWGV miteinzubeziehen sind. Dabei ist zu berücksichtigen, daß im Unterschied zu der oben zitierten Antwort auf die parlamentarische Anfrage des Abgeordneten Schwarzenberg im Weißbuch keine Rede mehr davon ist, daß dies nur für solche Normen gelten soll, die in einem oder in mehreren Mitgliedstaaten „de facto" oder „de jure" verbindlich vorgeschrieben sind. Geht man davon aus, daß sich die Kommission über die Tragweite ihrer Äußerung im klaren war, so bedeutet dies letztlich, daß, jedenfalls nach Ansicht der Kommission, auch Nor-

31

Dok. Kom (85) 310 endg. v. 14.06.1985.

32

Weißbuch, a.a.O., Rn. 65.

§ 2 Rechtsangleichung im Anwendungsbereich des Art. 100 a EWGV

87

men als solche, also unverbindliche Empfehlungen privatrechtlicher Verbände, Maßnahmen im Sinne des Art. 30 EWGV darstellen können 33 . Da die Kommission selbst ihren Standpunkt in keiner Weise näher erläutert, ist nach den Gründen zu suchen, warum technische Normen nunmehr als „Maßnahmen" angesehen werden können. Im Hinblick auf die Auslegung der Begriffe „Rechts- und Verwaltungsvorschriften" ist in diesem Zusammenhang eine theoretisch denkbare Deutung von besonderem Interesse. Geht man einmal davon aus, daß die Kommission bei der Auslegung des Begriffes „Maßnahme" an dem Merkmal der „Staatlichkeit" festhält, so würde die Einbeziehung der Normen in den Anwendungsbereich des Art. 30 EWGV darauf hinweisen, daß die Kommission die Normen den Mitgliedstaaten zurechnet. Wäre diese Auffassung zutreffend, so könnte man einen entsprechenden, am Maßstab des Art. 30 EWGV entwickelten Grundsatz gegebenenfalls aber auch auf Art. 100 a EWGV übertragen. Dieses würde bedeuten, daß auch Normen als solche angleichbar wären, weil die Tätigkeit der privaten Normungsverbände den einzelnen Mitgliedstaaten zugerechnet werden könnte und über diese Zurechenbarkeit auch das Merkmal der „Staatlichkeit" erfüllt wäre. Es erscheint allerdings zweifelhaft, ob die Aussage der Kommission tatsächlich in diesem Sinne verstanden werden kann. Insoweit sprechen die besseren Argumente vielmehr dafür, daß die Kommission technische Normen deshalb in den Anwendungsbereich des Art. 30 EWGV einbezieht, weil sie, jedenfalls auf diesem Gebiet, auf das Erfordernis des Vorliegens eines staatlichen Handelshemmnisses verzichtet. In diesem Fall würden nämlich auch die Handlungen Privater ohne weiteres dem Verbot des Art. 30 EWGV unterfallen. Für die Richtigkeit dieser These spricht bereits die oben zitierte Anwort auf die parlamentarische Anfrage. In dieser hatte die Kommission ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die Normen häufig von privaten Verbänden erarbeitet und als solche nicht rechtsverbindlich, daß heißt also den Mitgliedstaaten gerade nicht zurechenbar sind. An der Organisationsstruktur der Normungsverbände und an ihrem Verhältnis zu den einzelnen Mitgliedstaaten hat sich in dem Zeitraum zwischen der Beantwortung der Anfrage und der Veröffentlichung des Weißbuches aber nichts geändert, so daß die Normen als solche auch weiterhin als ausschließlich private Empfehlungen zu charakterisieren sind. Im übrigen wäre

33

Diese Stellungnahme der Kommission übersieht Mohr, Technische Normen, S. 81, wenn er allein aus der Rl. 70 / 50 folgert, daß aufgrund der Erforderlichkeit der Staatlichkeit von Handelshemmnissen nach Ansicht der Kommission die von den privaten Normungsverbänden erstellten technischen Normen nicht als „Maßnahmen" i.S.d. Art. 30 EWGV in Betracht kommen.

88

2. Kapitel: Rechtsangleichung im Bereich technischer Regeln

die Einbeziehung dieser Normen in den Verbotstatbestand des Art. 30 EWGV von der Zielsetzung der Vorschrift her auch durchaus verständlich. Art. 30 EWGV ist seinem Sinn und Zweck nach darauf gerichtet, abgesehen von genau bestimmten Ausnahmen, alle Maßnahmen gleicher Wirkung zu beseitigen34. Eine handelshemmende Wirkung kommt den Normen aber aufgrund ihrer faktischen Akzeptanz sowohl innerhalb der Bevölkerung als auch unter den Herstellern gerade zu 35 . Im übrigen ist es zutreffend, daß Art. 30 EWGV den Adressaten des Verbotes nicht nennt, eine Einbeziehung privatrechtlicher Normen demnach jedenfalls nicht im Widerspruch mit dem Wortlaut der Vorschrift stünde. Etwas anderes gilt dagegen für Art. 100 a EWGV. Aus der systematischen Stellung dieser Regelung im Kapitel über die Rechtsangleichung sowie aus der Tatsache, daß Harmonisierungsgegenstand nur Rechts- und Verwaltungsvorschriften sein können, folgt, daß nach Art. 100 a EWGV nur eine Angleichung von Vorschriften mit hoheitlichem Charakter möglich ist. Eine Harmonisierung privatrechtlicher Regelungen kann dagegen nur mittelbar über die in den allgemeinen Wettbewerbsregeln der Art. 85 ff. EWGV enthaltenen Verbote erfol-

34 Vgl. hierzu EuGH RS. 193 / 80, Kommission. / .Italien, Urt. v. 09.12.1981, Slg. S. 3019 (3033 Rn. 17) - „Essig" 35 36

Vgl. hierzu bereits die Darstellung oben S. 20 ff.

Allerdings werden Normen als solche wohl kaum einmal gegen Art. 85 Absatz 1 EWGV verstoßen. So läßt sich dem Art. 4 Absatz 2 Nr. 3a V O Nr. 17 des Rates [1. Durchführungsverordnung zu den Artiken 85 und 86 des Vertrages v. 06.02.1962, ABl. EG v. 21.02.1962, S. 204 ff. (KartVO), aufgenommen in die KartVO durch V O Nr. 2821 / 71 des Rates v. 20.12.1971 über die Anwendung des Art. 85 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Vereinbarungen, Beschlüssen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen, ABl. EG Nr. L 285 v. 29.12.1971, S. 46 ff.] entnehmen, daß die Normen im Hinblick auf den freien Wettbewerb regelmäßig als ungefährlich angesehen werden. In dieser Vorschrift ist nämlich geregelt, daß Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen dann nicht unter die Anmeldepflicht des Art. 4 Absatz 1 der KartVO fallen, wenn sie lediglich die Anwendung von Normen und Typen zum Gegenstand haben. Es sei jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, daß trotz dieser Regelung theoretisch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, daß Normen im Ausnahmefall gegen Art. 85 Absatz 1 EWGV verstoßen. Vgl. auch die Antwort der Kommission auf die schriftliche Anfrage Nr. 835 / 82 v. 05.07. 1982 des Abgeordneten Schwarzenberg, Antwort v. 08.02.1983, ABl. EG Nr. C 93 v. 07.04.1983, S. 1 (2): „Sollten schließlich Vereinbarungen zwischen Unternehmen oder aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen das Inverkehrbringen von aus anderen Mitgliedstaaten eingeführten Erzeugnissen mit der Begründung verhindern, daß sie den Normen des Einfuhrlandes, selbst wenn diese von privaten Institutionen erstellt wurden, nicht entsprechen, so würde die Kommission die Sachlage nach Art. 85 EWGV beurteilen".

§ 2 Rechtsangleichung im Anwendungsbereich des Art. 100 a EWGV

89

Dieses muß in allen Fällen gelten, in denen unternehmerisches Handeln von privater Seite beeinflußt wird 37 . Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß den Stellungnahmen der Kommission letztlich keinerlei Hinweise zu entnehmen sind, daß Normen unter Aufrechterhaltung des Merkmals der „Staatlichkeit" in den Anwendungsbereich des Art. 30 EWGV gezogen werden sollen. Es bleibt daher bei dem Ergebnis, daß es sich bei den technischen Normen als solchen in keinem Fall um Rechts- oder Verwaltungsvorschriften handelt. Dementsprechend ist die Rechtsangleichung privater technischer Normen über Art. 100 a EWGV unzulässig.

(2) Stellungnahmen von Rat und Kommission als Belege für die Ausklammerung technischer Normen aus dem Harmonisierungskonzept Daß sich sowohl der Rat als auch die Kommission des Umstandes bewußt sind, daß eine Angleichung technischer Normen als solcher über Art. 100 a EWGV nicht möglich ist, zeigen auch die bisherigen Äußerungen beider Organe zu Art. 100 a bzw. Art. 100 EWGV. So weist die Kommission in ihrem Weißbuch zwar ausdrücklich darauf hin, daß auch technische Normen sich handelshemmend auf die Entwicklung des freien Warenverkehrs in der Europäischen Gemeinschaft auswirken 38. Dennoch hat die Kommission eine Harmonisierung von Industrienormen nach dem zu jener Zeit allein einschlägigen Art. 100 EWGV zu keiner Zeit ernsthaft in Betracht gezogen. Die Harmonisierung dieser Normen soll nach dem Text des Weißbuches vielmehr ausschließlich durch die Erarbeitung Europäischer Normen und eine weiter als bisher gehende Förderung der europäischen Normungsarbeit erreicht werden 39 . Hieraus läßt sich jedenfalls mittelbar ableiten, daß die Vereinheitlichung von Normen als Selbstverwaltungsaufgabe der Wirtschaft angesehen wird, die allenfalls indirekt, beispielsweise über erhöhte finanzielle Zuweisungen seitens der Europäischen Gemeinschaft beschleunigt werden kann.

37 Außerdem erscheint eine Harmonisierung privatrechtlicher Handlungen über Art. 235 EWGV jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen. Art. 235 EWGV kann jedoch nur dann zur Anwendung gelangen, wenn und soweit nicht bereits die allgemeinen Wettbewerbsregeln der Art. 85 ff. EWGV eingreifen. Allerdings bedarf die Inanspruchnahme des Art. 235 EWGV in jedem Fall einer eingehenden Begründung, ob ein Tätigwerden der Gemeinschaft auch tatsächlich erforderlich ist, um eines der Ziele des Gemeinsamen Marktes zu erreichen. 38

Weißbuch, Kom. (85) endg. v. 14.06.1985, Rn. 60.

39

Vgl. Weißbuch, a.a.O., Rn. 65.

90

2. Kapitel: Rechtsangleichung im Bereich technischer Regeln

Die Rechtsangleichung als solche ist dagegen ausdrücklich auf den Bereich der technischen Vorschriften beschränkt 40. Diese von der Kommission in ihrem Weißbuch beschriebenen Grundsätze haben auch Eingang in die vom Rat in Form einer „Modellrichtlinie" gebilligten „Leitlinien" einer neuen Konzeption für die technische Harmonisierung und Normung gefunden 41. Dort heißt es nämlich, daß sich der Rat in Zukunft bei der Harmonisierung der Rechtsvorschriften auf die Festlegung grundsätzlicher Sicherheitsanforderungen im Rahmen'von Richtlinien beschränken will 4 2 . Zudem weist die Begründung der „Modellrichtlinie" darauf hin, daß es dem Rat im Anwendungsbereich der „Neuen Konzeption" nur um die Vereinheitlichung „einzelstaatlicher Schutzmaßnahmen" geht 43 . Aus diesen Formulierungen geht deutlich hervor, daß die Rechtsangleichung über Art. 100 EWGV sich tatsächlich nicht auf die Normen der privaten Normungsverbände erstrecken soll.

(3) Die ,Jnformationsrichtlinie" als Beispiel für die Differenzierung zwischen technischen Normen und Vorschriften Schließlich weist auch die Richtlinie des Rates über ein „Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und der technischen Vorschriften" 44 darauf hin, daß sich Rat und Kommission des Umstandes bewußt sind, daß Art. 100 EWGV und damit nach dem Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte auch der insoweit gleichlautende Art. 100 a EWGV nicht als Rechtsgrundlage zur Harmonisierung technischer Normen herangezogen werden können. Diese Richtlinie ist, soweit ersichtlich, die bislang einzige den Mitgliedstaaten gegenüber uneingeschränkt verbindliche Maßnahme von Rat bzw. Kommission, die Normen ausdrücklich in ihren Anwendungsbereich einbezieht45. Inhalt der Richtlinie ist in dem hier interessierenden Bereich die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Entwürfe für technische Vorschriften und technische Normen der

40

Weißbuch, a.a.O., Rn. 65.

41

Anhang I I der Entschließung des Rates v. 07.05.1985, ABl. EG Nr. C 136 v. 04.06.1985, S. 2 ff. 42

Vgl. Anhang II, a.a.O., S. 3.

43

Vgl. Anhang II, a.a.O., S. 3.

44

Rl. 83 / 189 / EWG v. 28.03.1983, ABl. EG Nr. L 109 v. 26.04.1983, S. 8 ff.

45

Lecrenier, RMC 1985, S. 6 ff.; McMillan, , RMC 1985, S. 93 ff.; Joerges / Falke /Micklitz Brüggemeier, S. 342.

/

§ 2 Rechtsangleichung im Anwendungsbereich des Art. 100 a EWGV

91

Kommission mitzuteilen. In der Begründung der Richtlinie unterscheidet der Rat dabei scharf zwischen Normen und Vorschriften. So wird die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, der Kommission die Entwürfe der von ihr entwickelten technischen Vorschriften mitzuteilen, ausdrücklich auf Art. 5 EWGV gestützt. Dagegen wird als Rechtsgrundlage für die Auskunftsverpflichtung bezüglich der Normenentwürfe ausdrücklich Art. 213 EWGV genannt46. Diese Differenzierung ist insofern bemerkenswert, als sich Art. 5 Absatz 1 und Art. 213 EWGV sowohl hinsichtlich ihrer Anwendbarkeitsvoraussetzungen als auch von ihrer inhaltlichen Reichweite her unterscheiden. Würde es sich bei technischen Normen um Rechts- oder VerwaltungsVorschriften im Sinne des Art. 100 bzw. Art. 100 a EWGV handeln oder wären diese Normen ihrem Inhalt nach den Mitgliedstaaten in irgendeiner Form als hoheitliches Verhalten zurechenbar, so hätte die Auskunftsverpflichtung bezüglich der Normenentwürfe ebenfalls auf Art. 5 Absatz 1 EWGV gestützt werden können. Grundsätzlich ergibt sich die allgemeine Rechtspflicht der nationalen Regierungen zur Erteilung von Auskünften nämlich allgemein aus Art. 5 Absatz 1 Satz 2 EWGV 4 7 . Art. 213 EWGV greift dagegen nur für den Fall ein, daß es an einer den Mitgliedstaaten zurechenbaren Handlung fehlt. Diese Vorschrift ermöglicht es den Gemeinschaftsorganen demnach, Auskunftsverlangen auch Privaten gegenüber geltend zu machen48. Dieses in Art. 213 EWGV geregelte Auskunftsbegehren ist nach der Ausgestaltung seiner Tatbestandsvoraussetzungen erheblich enger als das des Art. 5 Absatz 1 Satz 2 EWGV. Seinem Wortlaut nach greift Art. 5 gemäß Absatz 1 Satz 2 bereits dann, wenn durch ein Auskunftsbegehren die Arbeit der EG-Kommission auch nur erleichtert wird. Dagegen gibt Art. 213 EWGV der Kommission ein solches Recht nur hinsichtlich der erforderlichen Auskünfte. Der Grund für diese voneinander abweichenden Formulierungen ist darin zu sehen, daß jede Verpflichtung Privater zur Erteilung von Auskünften einen Eingriff in die Individualsphäre des von diesem Verlangen Betroffenen enthält. Einen solchen Eingriff braucht dieser aber immer nur dann hinzunehmen, wenn neben den jeweils vorgeschriebenen Rechtsförmlichkeiten auch der in Art. 213 1. Halbsatz EWGV normierte Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt 49 . Nennt der Rat nun in der Richtlinie 83 / 189 / EWG als Rechtsgrund-

46

Vgl. Rl. 83 / 189 / EWG, ABl. EG Nr. L 109 v. 26.04.1983, S. 8.

47

Grunwaldy in: G / Β / Τ / E, EWGV, 3. Auflage, Art. 213 Rn. 18; Hummer, in: Grabitz, EWGV, Art. 213 Rn. 3. 48 Vgl. Grunwald, in: G / Β / Τ / E, EWGV, 3. Auflage, Art. 213, Rn. 40; Hummer, in: Grabitz, EWGV, Art. 213 Rn. 2. 49

Vgl. auch Grunwaldy

in: G / Β / Τ / E, EWGV, 3. Auflage, Art. 213 Rn. 40.

92

2. Kapitel: Rechtsangleichung im Bereich technischer Regeln

läge für das Auskunftsrecht der Kommission bezüglich der Normenentwürfe ausdrücklich Art. 213 EWGV, so kann dies nur bedeuten, daß er selber Art. 5 EWGV für nicht anwendbar hält, weil die Normen den einzelnen Mitgliedstaaten in keiner Weise zurechenbar sind. Anderenfalls hätte er den Auskunftsanspruch der Kommission sehr viel einfacher auf das gegenüber Art. 213 EWGV sehr viel weitergehende, weil nicht durch das Prinzip der Erforderlichkeit beschränkte Recht aus Art. 5 Absatz 1 Satz 2 EWGV stützen können. Dieser Umstand läßt die Schlußfolgerung zu, daß der Rat die Normen zu den privatrechtlichen Handlungen zählt, denen gegenüber er nicht einmal das Recht aus Art. 5 Absatz 1 Satz 2 EWGV glaubt geltend machen zu dürfen. Um so weniger kann es dann aber zulässig sein, Normen als Rechts- oder Verwaltungsvorschriften zu bezeichnen und der Europäischen Gemeinschaft dadurch die Möglichkeit einer Rechtsangleichung nach Art. 100 a EWGV einzuräumen.

(4) Ergebnis Abschließend lassen sich zwei Punkte festhalten. Zum einen hat eine Rechtsangleichung auf dem Gebiet der technischen Normen auszuscheiden. Zum anderen sind sich sowohl Rat als auch Kommission der ihnen bei der Rechtsangleichung durch den Wortlaut des Art. 100 a EWGV gezogenen Grenzen bewußt. Mithin erstreckt sich also die durch die „Neue Konzeption" propagierte Rechtsangleichungspolitik der Gemeinschaften nicht auf technische Normen als solche.

cc) Angleichung staatlich rezipierter Normen Aus der Ablehnung einer Harmonisierungsbefugnis über Art. 100 a EWGV bezüglich der technischen Normen könnte man schlußfolgern, daß die von Rat und Kommission im Bereich der technischen Handelshemmnisse verfolgte Harmonisierungspolitik nur in einem beschränkten Ausmaß realisierbar ist. Im Ergebnis ist dies allerdings nicht der Fall. Ausgeklammert aus dem Anwendungsbereich des Art. 100 a EWGV bleiben nur die Normen als solche. Soweit dagegen Normen durch staatliche Rezeption50 in irgendeiner Form rechtserheb-

50 Der Begriff „Rezeption" im hier verstandenen Sinne umfaßt sämtliche Arten einer unmittelbaren Inbezugnahme technischer Normen in staatlichen Hoheitsakten, insbesondere in Rechts- und Verwaltungsvorschriften. Unklar insoweit Seidel, Rechtsangleichung, S. 26 f.

§ 2 Rechtsangleichung im Anwendungsbereich des Art. 100 a EWGV

93

lieh gemacht worden sind, soweit also die Mitgliedstaaten die in den Normen festgelegten technischen Spezifikationen in rechtliche Regelungen einbeziehen oder durch entsprechende Bestimmungen für allgemeinverbindlich erklären, eröffnet Art. 100 a EWGV den Gemeinschaftsorganen unproblematisch die Möglichkeit einer umfassenden Harmonisierung 51. Sind nämlich Normen auf die eine oder andere Weise mit staatlichen Rechtsvorschriften verknüpft 52 , so besteht auf dem betreffenden Sachgebiet eine rechtliche Regelung. In diesem Fall entfalten Normen nicht mehr nur eine tatsächliche oder faktische Wirkung, sondern ihre Wirkung wird durch den Inhalt der insoweit jeweils maßgeblichen nationalen Rechts- oder Verwaltungsvorschrift bestimmt. Die Normen entfalten mithin Rechtswirkungen. Die Art und Weise, wie die Normen in die rechtliche Regelung einbezogen werden, ist dabei ohne Bedeutung. Insoweit kann es sich beispielsweise um die Allgemeinverbindlichkeitserklärung einer Norm in einem Rechtssatz, um die Bezugnahme einer Norm durch Verweisung oder auch bloß um die Zuerkennung einer bestimmten Rechtswirkung handeln. In sämtlichen Fällen ist der Sachbereich, mit dem sich die Norm inhaltlich auseinandersetzt, auch in einem für Art. 100 a EWGV ausreichenden Maß einer rechtlichen Regelung unterworfen. Ähnliches gilt, wenn ein Sachbereich, der durch eine Richtlinie harmonisiert werden soll, in einem Mitgliedstaat Gegenstand einer Verwaltungsvorschrift ist. Wenn in einer solchen Verwaltungsvorschrift auf technische Normen Bezug genommen wird, dann ist ebenso wie bei Rechtsvorschriften davon auszugehen, daß die in den Normen enthaltenen Festlegungen auch in den Inhalt der Verwaltungsvorschriften einbezogen worden sind. In diesen Fällen erstreckt sich der sachliche Regelungsbereich der betreffenden Verwaltungsvorschrift eben auch auf den Bereich, mit dem sich die Norm befaßt. Eine solche Bezugnahme in Verwaltungsvorschriften läßt sich in der Praxis ausgesprochen häufig nachweisen53. In diesen Vorschriften wird der Verwaltung behördenintern bei der

51

Vgl. auch Rohling, S. 92; Starkowski,

S. 54; Langeheine, in: Grabitz, EWGV, Art. 100 Rn. 19.

52

Zu den verschiedenen Möglichkeiten einer Verweisung auf technische Normen vgl. nur Schmedes S. 86 ff.; Seidel, NJW 1981, S. 1120 (1123); Erhard, S. 5 ff. 53

Aus dem Bereich der Bundesrepublik Deutschland seien nur die folgenden Beispiele genannt: Pkt. 5.201 V V BauO NW, RdErl. des Min. f. Landes- u. Stadtentwicklung v. 29.11.1984, SMB1. N W 23212 - V A 1.100 / 80 - : „Zu- oder Durchfahrten für die Feuerwehr sowie Aufstell- und Bewegungsflächen sind nach D I N 1055, Teil 3 (Ausgabe 6 / 7 1 ) Abschnitt 6.3.1. entsprechend dem 12-t-Normfahrzeug (Brückenklasse 12) nach D I N 1072 (Ausgabe 1 1 / 6 7 ) zu bemessen [sind] ..."; Pkt. 4.1.2.1. d. Gem. RdErl. d. Min. f. Landes- u. Stadtentwicklung - V I A 3 - 901.11 / 3 - , Min. f. Arbeit, Gesundheit u. Soziales - I I I Β 6 - 8804.26 - u. d. Min. f. Wirtschaft, Mittelstand u. Verkehr - Ζ / Β 3 - 81 - 3.7. (35 / 82) - v. 08.07.1982, SMBl. N W 2311: „Wenn bei der

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2. Kapitel: Rechtsangleichung im Bereich technischer Regeln

Vornahme bestimmter Handlungen die Beachtung einzelner Normen oder unter Umständen sogar ganzer Normungssysteme verbindlich vorgeschrieben. An der Möglichkeit einer Harmonisierung von Normen, die in dieser oder einer ähnlichen Form staatlich rezipiert worden sind, zeigt sich, daß die Rechtsangleichung auf dem Gebiet der technischen Handelshemmnisse keinesfalls so begrenzt ist, wie dies auf den ersten Blick der Fall zu sein scheint. Besonders deutlich wird diese These, wenn man berücksichtigt, daß in Frankreich 54 die Praxis besteht, Normen durch ministerielle Verfügungen staatlich anzuerkennen 55 oder aber jedenfalls durch einen staatlichen „Normenkommissar" registrieren zu lassen56. Nach Art. 14 des Dekrets vom 24.05.1941 ist die Beachtung der staatlich anerkannten Normen für alle staatlichen Aufträge verbindlich angeordnet 57. Wie bereits oben ausgeführt 58 ist eine Angleichung nach Art. 100 a EWGV immer schon dann zulässig, wenn in nur einem einzigen Mitgliedstaat eine den freien Warenverkehr behindernde Rechts- oder Verwaltungsvorschrift existiert. Soweit daher die Normen in Frankreich staatlich anerkannt werden, können diese Normen und damit verbunden auch sämtliche Normen der anderen Mitgliedstaaten mit gleichem Regelungsinhalt über Art.

Ausweisung eines Gewerbe- oder Industriegebietes bekannt ist, welche Arten von Anlagen dort untergebracht werden sollen, kann die zu erwartende Schallemission durch Messungen an vergleichbaren Anlagen, die schalltechnisch dem Stand der Technik entsprechen, auf die Fläche bezogen ermittelt werden. Stattdessen können auch Angaben aus einschlägigen VDI-Richtlinien zugrundegelegt werden"; Pkt. 4.1.2.2. des Gem. RdErl., a.a.O.: „... Bis zur einer anderweitigen Festlegung können für die Beurteilung der Schutzbedürftigkeit von nicht vorbelasteten Baugebieten die Planungsrichtpegel aus Abschnitt 5 der Vornorm D I N 18005 (RdErl. v. 18.11.1971 - SMB1. N W 2311) herangezogen werden ..."; Pkt. 4.1. d. Gem. RdErl. d. Min. f. Arbeit, Gesundheit u. Soziales, d. Innenmin., d. Min. f. Wirtschaft, Mittelstand u. Verkehr u. d. Min. f. Ernährung, Landwirtschaft u. Forsten v. 14.07.1980, SMB1. N W 7 / 29: „ ... Wann eine Störung der Nachtruhe vorliegt, ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles festzustellen... Allgemein können zur Beurteilung der Störung der Nachtruhe die TA Lärm v. 16.07.1968 (BAnz. Nr. 137 v. 26.07.1968) und die VDI-Richtlinie 2058 entsprechend herangezogen werden...". Ähnliche Verweisungen finden sich auch in Verwaltungsvorschriften des Bundes und der übrigen Bundesländer. 54

Ähnliches gilt auch für Belgien, vgl. Röhling, S. 23 f.; Micklitz,

55

Diese Normen werden „normes françaises homologués" genannt.

56

Bei diesen Normen handelt es sich um die sogenannten „normes françaises enregistrées".

57

NJW 1983, S. 483 (484).

Art. 14 des Dekrets lautet: „Die Einfiihrung der staadich anerkannten Normen oder die ausdrückliche Erwähnung ihrer Beachtung in den Verdingungsordnungen und Lastenheften des Staates, der Gebietskörperschaften, der konzessionierten und subventionierten Unternehmen ist verbindlich vorgeschrieben". Vgl. hierzu Röhling, S. 10; Starkowski, S. 55; Lukes , Überbetriebliche Normung, S. 24; Micklitz, NJW 1983, S. 483 (484). 58

Vgl. S. 82 f.

§ 2 Rechtsangleichung im Anwendungsbereich des Art. 100 a EWGV

95

100 a EWGV harmonisiert werden 59. Gleiches muß auch in dem Fall gelten, in denen bestimmte Normen durch den französischen Normenkommissar staatlich registriert werden. Diese Registrierung fuhrt dazu, daß die Normen in Frankreich insofern rechtliche Wirkungen entfalten, als nach dem „circulaire" vom 15.01.1971 registrierte Normen bei den Einkäufen der öffentlichen Hand Berücksichtigung finden sollen 60 . Einer Einbeziehung der „normes enregistrées" in den Begriff der „Rechts- und Verwaltungsvorschriften" läßt sich nicht entgegenhalten, daß diese nicht zwingend beachtet werden müssen, sondern daß sie nur Beachtung finden sollen. Entscheidend kann insoweit nur sein, daß ein Mitgliedstaat an das Vorliegen der Voraussetzungen einer technischen Norm überhaupt rechtliche Wirkungen knüpft. Für einen Produzenten wird es vielfach gleichgültig sein, ob die Verpflichtung zur Beachtung einer Norm auf einer „Muß-" oder einer „Sollvorschrift" beruht. W i l l ein ausländischer Produzent ein Erzeugnis an die öffentliche Hand in Frankreich veräußern, so würde ihm nämlich die Nichtbeachtung der registrierten französischen Norm einen erheblichen, in der Regel wohl nicht mehr einzuholenden Wettbewerbsnachteil gegenüber solchen in- oder ausländischen Unternehmern einbringen, deren Produkte normgemäß beschaffen sind. Im Ergebnis läßt sich also feststellen, daß der Harmonisierungspolitik der Gemeinschaft durch die Begriffe „Rechts- und Verwaltungsvorschriften" keine nennenswerten Grenzen gesetzt sind, da diese Tatbestandsmerkmale insbesondere aufgrund der in Frankreich nachzuweisenden Praxis, Normen staatlich anzuerkennen oder aber zumindest registrieren zu lassen, regelmäßig erfüllt sein dürften.

dd) Ergebnis Unter den Begriff der „Rechts- und Verwaltungsvorschriften" im Sinne des Art. 100 a EWGV fallen sowohl technische Vorschriften als auch technische Normen, letztere allerdings nur, soweit sie von staatlicher Seite in irgendeiner Form rechtserheblich gemacht worden sind. Angeglichen werden sollen nach der „Neuen Konzeption" alle Vorschriften, die in einem Mitgliedstaat „de jure"

59 Zutreffend Rohling, S. 92; Starkowski, S. 55; Langeheine, in: Grabitz, EWGV, Art. 100 Rn. 18. A.A. dagegen Lukes , Juristische und institutionelle Aspekte, S. 66; ders., Tragweite, S. 230, der eine Rechtsangleichung nur im Bereich der technischen Sicherheitsvorschriften für zulässig hält. 60

Vgl. Lukes , Überbetriebliche Normung, S. 25.

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2. Kapitel: Rechtsangleichung im Bereich technischer Regeln

oder „de facto" verbindlich vorgeschrieben sind und die sich negativ auf den freien Warenaustausch in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaften auswirken können 61 . Ausgeklammert bleiben demnach nur diejenigen Normen, die in keinem EG-Mitgliedstaat Gegenstand auch nur einer Rechts- oder Verwaltungsvorschrift sind. Dieses wird aufgrund der Verhältnisse in Frankreich wohl kaum einmal der Fall sein, so daß der „Neuen Konzeption" durch die Tatbestandsmerkmale „Rechts- und Verwaltungsvorschriften" in Art. 100 a EWGV keine praxisrelevanten Grenzen gesetzt sind.

2. Errichtung oder Funktionieren des Binnenmarktes Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV ermöglicht eine Angleichung von Rechtsund Verwaltungsvorschriften nur insoweit, als sie das „Funktionieren oder die Errichtung des Binnenmarktes zum Gegenstand haben". Wie die Verwendung des Begriffes Binnenmarkt" sowie die Verweisung auf Art. 8 a EWGV in Art. 100 a Absatz 1 Satz 1 EWGV verdeutlichen, ist der Anwendungsbereich des Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV nicht sachlich, sondern nur rein funktional beschränkt, so daß sich die Rechtsangleichung nach dieser Vorschrift auf verschiedene Sachgebiete erstrecken kann 62 .

a)

„Binnenmarkt"

aa) Vorbemerkung Zentraler Begriff des Art. 100 a EWGV ist der des Binnenmarktes". Die Bestimmung des Wortsinngehaltes dieses Begriffes und damit der sachlichen Reichweite der Rechtsangleichungsmöglichkeit nach Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV ist insofern von erheblicher Bedeutung, als sich Art. 100 a EWGV in seinen Verfahrensbestimmungen sowie aufgrund der unter Umständen zulässigen Beibehaltung strengerer nationaler Vorschriften von anderen Harmonisierungsvorschriften des EWG-Vertrages unterscheidet. Die Auslegung des Begriffes Binnenmarkt" hat dabei zu erheblichen Irritationen und Meinungsverschie-

61

Vgl. die „Schlußfolgerungen zur Normung", Anhang I der Entschließung des Rates v. 07.05. 1985 über eine neue Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und Normung, vom Rat gebilligt am 16.07.1984, Abi. EG Nr. C 136 v. 04.06.1985, S. 2. 62

Vgl. hierzu auch Langeheine, EuR 1988, S. 235 (239).

§ 2 Rechtsangleichung im Anwendungsbereich des Art. 100 a EWGV

97

denheiten in der Literatur geführt 63. Die Ursache hierfür dürfte darin zu sehen sein, daß in Art. 100 EWGV der Begriff „Gemeinsamer Markt" verwendet wird, die Wortwahl des Art. 100 a EWGV also von der bisher verwendeten Terminologie abweicht. Berücksichtigt man, daß der Gesetzgeber mit unterschiedlichen Formulierungen üblicherweise auch unterschiedliche Sachverhalte erfassen will, so erscheinen die Auslegungsschwierigkeiten bei der Bestimmung des Bedeutungsgehaltes des Wortes Binnenmarkt" auch verständlich, zumal wenn man auf der anderen Seite in Rechnung stellt, daß eine unterschiedliche Terminologie nicht in jedem Fall zwingend den Schluß zuläßt, daß der Gesetzgeber auch unterschiedliche Sachbereiche hat regeln wollen.

bb) Begriffsbestimmung Der Begriff Binnenmarkt" ist vor dem Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte ausschließlich in Art. 43 Absatz 3 lit. b EWGV, also im Rahmen der Vertragsvorschriften über die Landwirtschaft verwendet worden. In dem dort genannten Zusammenhang wird der Binnenmarkt im Sinne einer gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte verstanden 64. Diese Auslegung ist jedoch allein auf die systematische Stellung des Art. 43 EWGV im Kapitel über die Landwirtschaft zurückzuführen. Rückschlüsse auf die Bedeutung des Wortes Binnenmarkt" im Rahmen des Art. 100 a EWGV können aus dieser Begriffsbestimmung nicht gezogen werden. Als erster Ansatzpunkt ist daher nach dem mit der Begriffswahl verbundenen politischen Konzept zu fragen. Dabei kann als Grundlage hierfür die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zur Auslegung des Begriffes „Gemeinsamer Markt" herangezogen werden. Nach ständiger Rechtsprechung gilt das Ziel eines „Gemeinsamen Marktes" bereits dann als erreicht, wenn durch den Abbau aller innergemeinschaftlichen Handelshemmnisse ein einheitlicher Markt geschaffen worden ist, dessen Bedingungen denen eines wirklichen Bin-

63

Vgl. zu den verschiedenen Versuchen einer Begriffsbestimmung Klein, DÖV 1986, S. 951 (952); Pescatore , EuR 1986, S. 153 (157); Ehlermann, CMLRev 1987, S. 361 (369); Everling, Funktion der Rechtsangleichung, S. 227 (237 f.); Glaesner, in: Schwarze, S. 9 (16 f.); Schwartz, in: FS. f. Groeben, S. 333 (366); Sedemund / Montag, NJW 1987, S. 546 ff.; Zacker, RIW 1989, S. 489 f.; Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 8 a Rn. 2 f.; Langeheine, in: Grabitz, EWGV, Art. 100 a Rn. 20; Pipkorn, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Ait. 100 a Rn. 21 ff. 64

Vgl. nur Gottsmann, in: G / Β / Τ / E, EWGV, 3. Auflage, Art. 43 Rn. 10.

7 Breulmann

98

2. Kapitel: Rechtsangleichung im Bereich technischer Regeln

nenmarktes möglichst nahekommen65. Aus dieser Formulierung des EuGH läßt sich ableiten, daß sich die Worte Binnenmarkt" und „Gemeinsamer Markt" nicht materiell, sondern nur hinsichtlich der mit ihnen verbundenen Zielsetzungen voneinander unterscheiden. Der „Gemeinsame Markt" gilt bereits dann als verwirklicht, wenn auch nur nahezu alle Handelshemmnisse beseitigt worden sind. Der Binnenmarkt" als ein Raum ohne Grenzen wird demgegenüber erst dann erreicht, wenn auch diejenigen nationalen Beschränkungen abgebaut sind, die bislang noch aufgrund fehlender Harmonisierung aus Gründen des Allgemeinwohls hatten hingenommen werden müssen66. Insoweit ist dem Binnenmarkt eine gesteigerte Integrationsintensität zugedacht; gegenüber dem Gemeinsamen Markt weist der Binnenmarkt als „ökonomischer Wegbereiter" der angestrebten Europäischen Union eine höhere funktionale Reichweite auf 67 . Andererseits bedeutet die Verwendung des Wortes Binnenmarkt" aber nicht, daß die Rechtsangleichung nach Art. 100 a EWGV außerhalb bestehender und nach dem EWG-Vertrag auch hinzunehmender Handelsbeschränkungen auszuscheiden hat. Insoweit ist darauf hinzuweisen, daß Art. 100 a EWGV hinsichtlich der materiellen Reichweite der Rechtsangleichung den Bereich des Art. 100 EWGV vollständig mitumfaßt. Eine Begrenzung des Anwendungsbereiches des Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV kann sich dementsprechend allenfalls aus der sachlichen Bedeutung des Wortes Binnenmarkt" ergeben. An dieser Stelle beginnen denn auch die eigentlichen Auslegungsschwierigkeiten. So findet sich in Art. 8 a Absatz 2 EWGV eine Legaldefinition, wonach der Binnenmarkt einen Raum ohne Binnengrenzen umfaßt, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages gewährleistet ist". Aus dieser Definition wird vereinzelt geschlossen, daß sich die Rechtsangleichung auf die Verwirklichung der in Art. 8 a EWGV ausdrücklich aufgezählten vier Grundfreiheiten zu beschränken habe68. Vom praktischen Ergebnis würde dies bedeuten, daß wesentliche Bereiche, wie beispielsweise die Her-

65 St. Rspr. vgl. nur EuGH, RS. 15 / 81, Urt. v. 05.05.1982, Slg. S. 1409 (1431 Rn. 33) „Gaston Schul" — .

-

66 Vgl. Sedemund / Montag, NJW 1987, S. 546; Langeheine, EuR 1988, S. 235 (239); ders., in: Grabitz, EWGV, Art. 100 a Rn. 20; Zacker, RIW 1989, S. 489 f.; Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 8 a Rn. 2. 67 68

Vgl. auch Dauses, EuZW 1990, S. 8 (10).

Forwood / Clough, ELR 1986, S. 383 (385); Zacker, RIW 1989, S. 489 f.; weitergehend wohl Pescatore, EuR 1986; S. 153 (157).

§ 2 Rechtsangleichung im Anwendungsbereich des Art. 100 a EWGV

99

Stellung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs oder die Beseitigung bestehender Steuergrenzen, die bislang vom Begriff „Gemeinsamer Markt" erfaßt waren 69 , aus dem Anwendungsbereich des Art. 100 a EWGV herausfallen würden. Eine derartige enge Auslegung ist jedoch nicht mit Art. 100 a Absatz 2 EWGV zu vereinbaren. Nach dieser Vorschrift gilt der Art. 100 a Absatz 1 EWGV unter anderem nicht für die Bestimmungen über die Steuern. Eine derartige ausdrücklich angeordnete Ausklammerung der Steuern aus dem Anwendungsbereich des Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV wäre aber überhaupt nicht erforderlich gewesen, wenn der Tatbestand dieser Regelung aufgrund der Verwendung des Begriffes Binnenmarkt" ohnehin nur auf die Verwirklichung der vier Grundfreiheiten beschränkt wäre. Bestätigen läßt sich die Schlüssigkeit dieser These mittelbar auch anhand der gemeinsamen Erklärung der elf Mitgliedstaaten, nach der mit dem Art. 8 a EWGV der feste politische Wille zum Ausdruck gebracht werden soll, daß vor dem 01.01.1993 diejenigen Beschlüsse gefaßt werden, die zur Verwirklichung des in diesem Artikel beschriebenen Binnenmarktes, insbesondere aber zur Ausführung des von der EGKommission in dem Weißbuch über den Binnenmarkt aufgestellten Programms notwendig sind. Auch wenn dieser Erklärung zu Art. 8 a EWGV keine verbindliche Wirkung zugeschrieben werden kann 70 , so vermag sie dennoch als Orientierungshilfe zum Verständnis des Begriffes Binnenmarkt beizutragen. Der

69 Vgl. zum Begriff „Gemeinsamer Markt" Behrens, S. 239 f.; Eiden, Rechtsangleichung, S. 21 ff., insbesondere S. 44 f.; ders., in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1515; Oppermann, Europarecht, Rn. 1071; Taschner, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 100 Rn. 33; Langeheine, in: Grabitz, EWGV, Art. 100 Rn. 25 ff. 70 Nach Ansicht von Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 8 a Rn. 3, EEA Rn. 29 sowie von Glaesner, EuR 1986, S. 119 (122) soll aufgrund des Umstandes, daß diese Erklärungen von allen elf Mitgliedstaaten auf einer Regierungskonferenz angenommen worden sind, Art. 32 Absatz 2 lit. a des „Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge" Anwendung finden. Danach wäre die Erklärung zu Art. 8 a EWGV als verbindliche Auslegungsregel zur Bestimmung des Begriffes „Binnenmarkt" heranzuziehen. Gegen diese These spricht jedoch zum einen, daß allgemeine völkerrechtliche Auslegungsgrundsätze nach der Rechtsprechung des EuGH im Europarecht keine Anwendung finden können [vgl. EuGH RS. 327 / 82, Urt. v. 18.01.1984, Slg. S. 107 (119 Rn. 11) — „Ekro" —; aus der Literatur Schwarze, EuR 1983, S. 1 (31 ff.)]. Zum anderen ist nach den Art. 31 und 33 EEA die Zuständigkeit des EuGH auf die Bestimmungen des Titels I I sowie auf Art. 32 EEA begrenzt, so daß sich bereits aus diesem Grund die Ansicht verbietet, die Erklärung zu Art. 8 a EWGV beinhalte eine verbindliche Auslegungsregel. Im übrigen hat es der Gerichtshof bislang immer abgelehnt, politischen Übereinkünften der Mitgliedstaaten bezüglich des Inhalts oder der Auslegung der Verträge eine autoritative Wirkung beizumessen. Vgl. EuGH RS. 59 / 75, Urt. v. 03.02.1976, Slg. S. 91 (102) - ganghera"'; RS. 43 / 75, Urt. v. 08.04.1976, Slg. S. 455 (478) „Defrenne II" - ; RS. 131 / 86, Urt. v. 23.02.1988, Vereinigtes Königreich. / . Rat, Slg. S. 903 (933) - „Legehennen" - ; aus der Literatur Langeheine, EuR 1988, S. 234 (238 f.); vgl. zum Ganzen auch Karl, JZ 1991, S. 593 (595 ff.).

100

2. Kapitel: Rechtsangleichung im Bereich technischer Regeln

Verweis auf das Weißbuch zeigt nämlich, daß der Begriff Binnenmarkt in seiner Bedeutung jedenfalls nicht auf die Verwirklichung der vier Grundfreiheiten beschränkt sein soll. Das Konzept der EG-Kommission geht inhaltlich weit über die in Art. 8 a EWGV genannten Grundfreiheiten hinaus, da es auch Vorschläge über Maßnahmen zur Beseitigung der Steuerschranken, zur Wettbewerbspolitik, zu staatlichen Beihilfen und zum Gesellschaftsrecht enthält. Erst durch die Heranziehung des Weißbuches wird dann auch verständlich, warum es die Vertragsstaaten für erforderlich hielten, in Art. 100 a Absatz 2 EWGV beispielsweise den Bereich der Steuern aus dem Anwendungsbereich des Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV auszuklammern. Ihrer Ansicht nach ist der Tatbestand des Art. 100 a EWGV nämlich begrifflich nicht enger als der des Art. 100 EWGV gefaßt. Diese Überlegungen verdeutlichen, daß der Terminus Binnenmarkt" jedenfalls mehr als die Verwirklichung der Grundfreiheiten beinhaltet. Dabei kann an dieser Stelle die Streifrage offenbleiben, ob die Begriffe Binnenmarkt" und „Gemeinsamer Markt" in materieller Hinsicht synonym zu verstehen sind 71 , oder ob Binnenmarkt" insoweit noch weiter auszulegen ist als der Terminus „Gemeinsamer Markt" 7 2 . Mit der „Neuen Konzeption" verfolgen Rat und Kommission das Ziel, solche technische Vorschriften bzw. staatlich rezipierte Normen zu harmonisieren, die sich handelshemmend auf den freien Warenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten auswirken. Betroffen ist demnach durch diese Konzeption der Bereich des freien Warenverkehrs. Selbst wenn man insoweit die Auffassung vertreten wollte, der Begriff des Binnenmarktes umfasse in sachlicher Hinsicht nur die Verwirklichung der Grundfreiheiten mit Ausnahme derjenigen, die nach Art. 100 a Absatz 2 EWGV aus der Rechtsangleichung nach Art. 100 a Absatz 1 EWGV ausgeklammert bleiben müssen, so würde Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV doch in jedem Fall eine umfassende Rechtsangleichung auf dem Gebiet

71 In diesem Sinne Klein, DÖV 1986, S. 951 (952); Glaesner, in: Schwarze, S. 16 f.; Everling, Funktion der Rechtsangleichung, S. 237 f.; Langeheine, EuR 1988, S. 235 (239); ders., in: Grabitz, EWGV, Art. 100 a Rn. 21 u. 23, allerdings mit dem Hinweis, daß der „sachliche Bereich des Binnenmarktes ... im Bereich des freien Personenverkehrs unter Umständen sogar darüber hinausgeht"; Müller -Graff, EuR 1989, S. 107 (123 ff.); Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1526; Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 8 a Rn. 3; auch die EG-Kommission verwendet beide Termini hinsichüich ihrer sachlichen Bedeutung synonym vgl. Weißbuch, Kom. (85) 310 endg. v. 14.06.1985, Rn. 4. 72

Ehlermann, CMLRev 1987, S. 361 (369); Schwartz, in: FS. f. Groeben, S. 333 (366), allerdings mit Einschränkungen bezüglich des Wettbewerbsrechts; Sedemund / Montag, NJW 1987, S. 546.

§ 2 Rechtsangleichung im Anwendungsbereich des Art. 100 a EWGV

101

des freien Warenverkehrs und damit zugleich auch im Anwendungsbereich der ,»Neuen Konzeption" ermöglichen 73. In sachlicher Hinsicht unterfällt daher die durch die „Neue Konzeption" geplante Beseitigung der technischen Handelshemmnisse in vollem Umfang dem Begriff Binnenmarkt" und ist daher zulässiger Gegenstand einer Rechtsangleichung nach Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV.

b) Errichtung

oder Funktionieren

Angeglichen werden können über Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV nur solche Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben. Beide Tatbestandsmerkmale kennzeichnen in erster Linie die Finalität bzw. den Zweck der gemeinschaftlichen Bemühungen um eine Rechtsangleichung. Insoweit ist die Rechtsangleichung als solche kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zum Aufbau eines Binnenmarktes, der für die Rechtsangleichung zugleich Maßstab und Grenze ist 74 . Unter dem Begriff „Errichtung" ist der Aufbau eines gemeinsamen Binnenmarktes zu verstehen; dieses Merkmal bezeichnet die abgeschlossene Übergangszeit und den gegenwärtigen Zeitabschnitt bis zur Vollendung des Binnenmarktes. Dagegen umschreibt das Wort „Funktionieren" die fortdauernde Wirkungsweise eines Binnenmarktes 75. Inhaltlich stehen beide Termini gleichwertig nebeneinander. Dabei zeigt allerdings die Verwendung des Wortes „Funktionieren", daß Rechtsangleichung nicht nur eine einmalige, sondern eine zeitlich unbefristete Aufgabe der Gemeinschaftsorgane ist 76 .

73

In der Literatur wird denn auch die wohl zutreffende Ansicht vertreten, daß der Schwerpunkt der Rechtsetzung unter Art. 100 a EWGV im Bereich des freien Warenverkehrs liegen und sich dort auf die Harmonisierung solcher nationaler Vorschriften konzentrieren wird, die nach der Rechtsprechung des EuGH zu den Art. 30-36 EWGV noch in zulässiger Form den innergemeinschaftlichen Güteraustausch erschweren. Vgl. Steindorff,; ZHR 1986, S. 687 (700); Langeheine, EuR 1988, S. 235 (240); Eiden, in: Bleckmann, Rn. 1527. 74

Ähnlich für den Bereich des Art. 100 EWGV Schwartz, in: FS. f. Hallstein, S. 474 (486); Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 39 Rn. 5; Taschner, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 100 Rn. 32. Zum Verhältnis des Art. 100 a EWGV zum Verbot des Art. 30 EWGV sowie zu den sich aus Art. 30 EWGV für die Rechtsangleichung nach Art. 100 a EWGV ergebenden Schranken vgl. die Darstellung unten S. 116 ff. 75

Vgl. zu beiden Begriffen auch Taschner, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 100 Rn. 34.

76

Vgl. auch Taschner, a.a.O.

102

2. Kapitel: Rechtsangleichung im Bereich technischer Regeln

In dem durch diese beiden Tatbestandsmerkmale vorgegebenen Rahmen bewegt sich die „Neue Konzeption". Dieses läßt sich insbesondere anhand der Begründung zur „Modellrichtlinie" 77 nachweisen. Dort weist der Rat ausdrücklich darauf hin, daß es ihm um die „Vereinheitlichung von einzelstaatlichen Schutzmaßnahmen geht, die die Sicherheit von Personen, Haustieren und Gütern sowie die Beachtung anderer wesentlicher Anforderungen zum Schutz des Allgemeinwohls, insbesondere den Schutz der Gesundheit, der Verbraucher und der Umwelt zum Gegenstand haben". Ziel der Rechtsangleichung ist dabei die Gewährleistung eines freien Warenverkehrs, mithin also die Verwirklichung einer der vier Grundfreiheiten.

3. Ergebnis Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV greift seinen Tatbestandsvoraussetzungen nach ein, soweit es um die Beseitigung solcher technischer Handelshemmnisse geht, die nicht ausschließlich auf technische Normen als solchen beruhen. Nach dem Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte ist daher Art. 100 a EWGV die für die Umsetzung der „Neuen Konzeption" einschlägige Rechtsgrundlage, es sei denn, diese Vorschrift würde durch andere vertragliche Regelungen verdängt oder zumindest in ihrem Anwendungsbereich eingeengt.

§ 3 Das Konkurrenzverhältnis des A r t 100 a E W G V zu anderen Vorschriften des EWG-Vertrages /. Art. 100 EWGV 1. Fragestellung Vor dem Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte wurden sowohl die „Neue Konzeption" als auch die zu ihrer Durchführung erlassenen Harmonisierungsrichtlinien auf Art. 100 EWGV gestützt. Nach der Einfügung des Art. 100 a EWGV stellt sich nunmehr die Frage, wie das Konkurrenzverhältnis zwischen diesen beiden Vorschriften zu bestimmen ist. Konkret geht es dabei darum, ob im Bereich der „Neuen Konzeption" ein Rückgriff auf Art. 100 EWGV jeden-

77

ABl. EG Nr. C 136 v. 04.06.1985, S. 3 ff.

§ 3 Das Konkurrenzverhältnis des Art. 100 a EWGV

103

falls dann möglich bleibt, wenn dessen formelle und materielle Tatbestandsvoraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind.

2. Subsidiarität des Art. 100 EWGV gegenüber Art. 100 a EWGV? Bei Art. 100 EWGV handelt es sich um eine Generalklausel, die immer nur dann eingreifen kann, wenn nicht bereits speziellere vertragliche Ermächtigungsgrundlagen eine Rechtsangleichung durch die Gemeinschaftsorgane ermöglichen 78 . Bereits dieser Umstand spricht dagegen, in Art. 100 EWGV, zumindest unter bestimmten Umständen, eine Spezialvorschrift gegenüber Art. 100 a EWGV zu sehen. Allerdings handelt es sich bei Art. 100 a EWGV ebenfalls um eine Generalklausel, die gegenüber spezielleren Vorschriften zurückzutreten hat 79 . Allein die Tatsache, daß Art. 100 EWGV als Generalklausel ausgestaltet ist, kann daher nicht als ausschlaggebendes Argument für die Schlüssigkeit der These herangezogen werden, daß diese Vorschrift, soweit die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 100 a EWGV im Einzelfall vorliegen, gegenüber Art. 100 a EWGV subsidiär ist.

78 Dieses ist durch die Rechtsprechung des EuGH nunmehr ausdrücklich klargestellt worden. Vgl. EuGH RS. 68 / 86, Urt. v. 23.02.1988, Vereinigtes Königreich. / .Rat, Slg. S. 855 (896), - „Hormone" RS. 131 / 86, Urt. v. 23.02.1988, Vereinigtes Königreich. / .Rat, Slg. S. 905 (930), „Legehennen" — ; Die zitierten Urteile beziehen sich zwar ausdrücklich nur auf das Verhältnis des Art. 100 EWGV zu Art. 43 EWGV. Sie lassen jedoch den Schluß zu, daß ein Rückgriff auf Art. 100 EWGV immer dann unzulässig ist, wenn eine Richdinie bereits auf eine speziellere vertragliche Ermächtigungsgrundlage gestützt werden kann. Vgl. zum Problem auch Schwartz , in: FS. f. Hallstein, S. 474 (480); Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 39 Rn. 5; Röhling, S. 57; Langeheine, EuR 1988, S. 235 (241). A.A. dagegen Eiden, Rechtsangleichung, S. 60, der davon ausgeht, daß die Spezialvorschriften das Anwendungsfeld der Harmonisierung nicht abschließend bestimmen können, so daß Art. 100 EWGV auch neben diesen Vorschriften zur Anwendung gelangen könne. Vgl. auch dens., in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1548. 79 Vgl. Pipkorn, in: Beutler / Bieber / Pipkorn / Streil, Pkt. 11.3.1.2., S. 378; Langeheine, EuR 1988, S. 235 (240); ders., in: Grabitz, EWGV, Art. 100 a Rn. 15; Müller-Graff, EuR 1989, S. 107 (132); Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1526.

104

2. Kapitel: Rechtsangleichung im Bereich technischer Regeln

a) Art. 100 a Absatz 1 Satz 1 EWGV als Beleg für die Subsidiarität des Art. 100 EWGV Gegen die Anwendbarkeit des Art. 100 EWGV spricht dagegen der Wortlaut des Art. 100 a Absatz 1 Satz 1 EWGV 8 0 . Nach diesem gilt, soweit im EWGVertrag nichts anderes bestimmt ist, „in Abweichung von Art. 100 EWGV für die Verwirklichung der Ziele des Art. 8 a EWGV die nachfolgende Regelung". Diese Formulierung, daß die Regelung des Art. 100 a EWGV in Abweichung von Art. 100 EWGV gelten soll, deutet darauf hin, daß die Vertragsgeber die Spezialität des Art. 100 a EWGV und damit gleichzeitig die Subsidiarität des Art. 100 EWGV ausdrücklich anordnen wollten und auch tatsächlich angeordnet haben81. Hieraus liesse sich schlußfolgern, daß, soweit Art. 100 a EWGV seinen Tatbestandsvoraussetzungen nach reicht, der Rückgriff auf Art. 100 EWGV kraft vertraglicher Anordnung ausgeschlossen ist. Für die Harmonisierung auf dem Gebiet der technischen Handelshemmnisse wäre demnach, vorbehaltlich der Existenz anderer, ihrerseits gegenüber Art. 100 a EWGV speziellerer Kompetenztitel, allein Art. 100 a EWGV die richtige Rechtsgrundlage zum Erlaß von Harmonisierungsmaßnahmen. Dieses würde selbst in den Fällen gelten, in denen im Rat eine einstimmige Beschlußfassung über die Verabschiedung eines Rechtsangleichungsaktes zustande kommt.

80

Vgl. aber auch Everting, in: FS. f. Steindorff, S. 1155 (1169); ders., EuR 1991, S. 179 ff. Nach Everting sollen unter Art. 100 a EWGV alle produktbezogenen Regelungen fallen, weil die Verwirklichung des Binnenmarktes, der der Art. 100 a EWGV diene, nach Art. 8 a EWGV auf den Wegfall der Handelsgrenzen im Binnenverkehr abziele. Im übrigen soll Art. 100 EWGV neben Art. 100 a EWGV anwendbar bleiben. Everting räumt allerdings selber ein [vgl. EuR 1991, S. 179 (181)], daß diese Auslegung dem Urteil des EUGH in der RS. C - 300 / 89 betreffend die Rl. 83 / 428 / EWG des Rates v. 21.06.1989, Urt. v. 21.06.1989, Kommission. / .Rat, EuR 1991, S. 175 ff. widerspricht. 81 Im Ergebnis ebenso Pipkorn, in: Beutler / Bieber / Pipkorn / Streil, Pkt. 11.3.1.2., S. 378; ders., in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 100 a Rn. 49; Langeheine, EuR 1988, S. 235 (241 f.); ders., in: Grabitz, EWGV, Art. 100 a Rn. 92; Müller-Graff, EuR 1989, S. 107 (132); Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1526. Unklar dagegen Oppermann, Europarecht, Rn. 1075, der zwar davon spricht, daß die Art. 100 a, 100 b EWGV den Art. 100 EWGV „begrenzen", ohne daß insoweit allerdings deutlich wird, ob Art. 100 EWGV bei einer einstimmigen Beschlußfassung durch den Rat auch weiterhin in Bereichen angewendet werden kann, die vom Tatbestand des Art. 100 a EWGV erfaßt werden.

§ 3 Das Konkurrenzverhältnis des Art. 100 a EWGV

105

b) Verweis auf Art. 8 a EWGV kein Indiz für die weitere Anwendbarkeit des Art: 100 EWGV Die Schlüssigkeit der These, daß Art. 100 a EWGV in seinem Anwendungsbereich eine gegenüber Art. 100 EWGV speziellere Regelung enthält, wird in der Literatur vereinzelt jedoch ebenso bestritten wie die Schlüssigkeit des zur Stützung dieser These aus Art. 100 a Absatz 1 Satz 1 EWGV hergeleiteten Wortlautarguments 82. Insoweit wird darauf verwiesen, daß Art. 100 a Absatz 1 Satz 1 EWGV nicht nur auf Art. 100 EWGV, sondern auch auf Art. 8 a EWGV Bezug nehme. Aus diesem Grund schliesse die Verweisung in Art. 100 a EWGV auch die in Art. 8 a EWGV enthaltene Formulierung „unbeschadet der sonstigen Bestimmungen des Vertrages" mit ein. Diese Tatsache rechtfertige es aber, auch den Art. 100 EWGV als eine sonstige, dem Art. 100 a EWGV vorgehende Bestimmung anzusehen und dadurch auch bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 100 a EWGV Rechtsangleichungsmaßnahmen auf der Grundlage des Art. 100 EWGV durchzuführen, wenn und soweit der Rat einstimmig entscheidet83. Gegen diese Argumentation ist allerdings einzuwenden, daß sie insofern unpräzise ist, als Art. 100 a Absatz 1 Satz 1 EWGV nur auf die in Art. 8 a EWGV genannten Ziele, insbesondere also auf die Verwirklichung des Binnenmarktes verweist. Dieses bedeutet, daß Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV nur dann zur Anwendung gelangen soll, soweit es bei einer Harmonisierungsmaßnahme um „die schrittweise Verwirklichung des Binnenmarktes" geht. Als Argument für die These von der weiteren Anwendbarkeit des Art. 100 EWGV läßt sich diese Verweisung dagegen nicht heranziehen. Im übrigen müßte man sich, wenn man der Argumentation Steindorffs folgen wollte, fragen, welche Bedeutung überhaupt der Formulierung zukommen würde, daß Art. 100 a EWGV „in Abweichung von Art. 100 EWGV" gelten soll. Diese Formulierung wäre überflüssig, wenn man Art. 100 EWGV auch weiterhin im Anwendungsbereich des Art. 100 a EWGV als einschlägige Ermächtigungsgrundlage ansähe. Soll daher der Wortlaut des Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV überhaupt einen Sinn ergeben, so kann dieser nur so verstanden werden, daß Art. 100 a EWGV kraft vertraglicher Anordnung die gegenüber Art. 100 EWGV speziellere Regelung enthält.

82

Vgl. Steindorff,

ZHR 1986, S. 687 (699).

83

Vgl. Steindorff,

a.a.O.

106

2. Kapitel: Rechtsangleichung im Bereich technischer Regeln

c) Umgehung der Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses Aber auch andere Gründe sprechen dagegen, bei Vorliegen der Tatbestandsmerkmale des Art. 100 a EWGV dem Rat bei einstimmiger Beschlußfassung den Rückgriff auf Art. 100 EWGV zu gestatten. So sind in Art. 100 a EWGV die ohnehin nur schwach ausgeprägten Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments gestärkt worden. Art. 100 EWGV schreibt nur eine Anhörung des Europäischen Parlaments vor und dies auch nur in den Fällen, in denen die Durchführung einer Richtlinie in einem oder in mehreren Mitgliedstaaten eine Änderung gesetzlicher Vorschriften zur Folge hat. Demgegenüber ist nach Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV die Beteiligung sowohl des Europäischen Parlaments als auch des Wirtschafts- und Sozialausschusses obligatorisch. Außerdem ist das Parlament nicht mehr nur anzuhören, sondern Rechtsangleichungsmaßnamen sind in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament, also im Verfahren des Art. 149 Absatz 2 EWGV vorzunehmen. Im Rahmen des Verfahrens der Zusammenarbeit entscheidet der Rat mit qualifizierter Mehrheit, wenn er die vom Europäischen Parlament formulierten und von der Kommission in ihrem überprüften Vorschlag übernommenen Abänderungen seines gemeinsamen Standpunkts akzeptieren will, während er Einstimmigkeit erzielen muß, wenn er nach Ablehnung des gemeinsamen Standpunktes durch das Parlament entscheiden oder den überprüften Vorschlag der Kommission abändern will. Würde man nunmehr auch nach Einführung des Art. 100 a EWGV in den Fällen, in denen im Rat über die Durchführung einer Harmonisierungsmaßnahme Einmütigkeit besteht, noch immer auf Art. 100 EWGV zurückgreifen können, so wäre die mit der obligatorischen Einbeziehung des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses in den Rechtsangleichungsprozeß erfolgte Stärkung der Mitwirkungsrechte hinfallig. Die Beteiligung des Europäischen Parlaments auf Gemeinschaftsebene spiegelt aber ein grundlegendes demokratisches Prinzip wider, nach dem die Völker durch eine Versammlung ihrer Vertreter an der Ausübung der hoheitlichen Gewalt beteiligt sind 84 . Auch dieser Umstand spricht daher gegen den Rückgriff auf Art. 100 EWGV, da hierdurch das in Art. 100 a EWGV vorgesehene Verfahren der Zusammenarbeit ausgehöhlt würde.

84 So ausrücklich EuGH, RS. 139 / 79, Maizena. / .Rat, Urt. v. 29.10.1980, Slg. S. 3393 (3424 Rn. 34), - „Isoglucose / Produktionsquoten"; RS. C - 300 / 89, Kommission. / .Rat, Urt. v. 11.06.1991, EuR 1991, S. 175 (178).

§ 3 Das Konkurrenzverhältnis des Art. 100 a EWGV

107

d) Möglichkeit des Art. 100 a Absatz 4 EWGV kein Argument für den Rückgriff auf Art. 100 EWGV Schließlich muß man auch nach dem Sinn fragen, der hinter der These von der weiteren Anwendbarkeit des Art. 100 EWGV steht. Eine Rechtsangleichungsmaßnahme auf der Grundlage des Art. 100 EWGV verlangt eine einstimmige Beschlußfassung des Rates, wohingegen nach Art. 100 a EWGV bereits eine qualifizierte Mehrheit für den Erlaß eines Rechtsaktes ausreicht. Allerdings ermöglicht Art. 100 a Absatz 4 EWGV in bestimmten Fällen trotz erfolgter Harmonisierung eine Aufrechterhaltung strengerer nationaler Schutzvorschriften. Diese Möglichkeit besteht bei einer Rechtsangleichung nach Art. 100 EWGV nicht. Dieser Umstand deutet darauf hin, daß hinter der These von einem möglichen Rückgriff auf Art. 100 EWGV Befürchtungen stehen, daß über Art. 100 a Absatz 4 EWGV Rechtsangleichungsmaßnahmen der Gemeinschaft dadurch unterlaufen werden, daß sich einzelne Mitgliedstaaten bei einer Beschlußfassung nach Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV später auf die Schutzklausel des Absatz 4 berufen 85. Hierdurch könnte dann die mit der Harmonisierung erstrebte hohe Integrationsintensität im Bereich der Rechtsangleichung in der Tat unterlaufen werden. Fraglich erscheint allerdings, ob derartige Befürchtungen im Ergebnis begründet sind. Dieses könnte nur dann der Fall sein, wenn sich auch solche Mitgliedstaaten, die einer Rechtsangleichung nach Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV ausdrücklich zugestimmt haben, hinsichtlich der Beibehaltung nationaler Schutzmaßnahmen auf die Regelung des Absatz 4 berufen könnten. Ist diese Möglichkeit dagegen ausgeschlossen, so würde sich bei einstimmiger Beschlußfassung des Rates, die nach Art. 100 EWGV schließlich ohnehin erforderlich ist, im Verhältnis zu Art. 100 a EWGV nichts ändern. Sämtliche Mitgliedstaaten wären an den von ihnen gemeinsam gefaßten Beschluß gebunden, so daß kein Mitgliedstaat sich mit Erfolg auf Art. 100 a Absatz 4 EWGV berufen und dadurch gegebenenfalls Harmonisierungsmaßnahmen der Gemeinschaft unterlaufen könnte. Eines Rückgriffes auf Art. 100 EWGV bedürfte es demnach gar nicht, um die aufgezeigten Bedenken aus dem Weg zu räumen. Untersucht man die Regelung des Art. 100 a EWGV, so ist zunächst festzustellen, daß die Möglichkeit einer Beibehaltung strengerer Standards nationaler Art trotz erfolgter Rechtsangleichung als Preis für die in Art. 100 a Absatz 1

85

So ausdrücklich Steindorff, ZHR 1986, S. 687 (701), der von der Möglichkeit spricht, Art. 100 a Absatz 4 EWGV über den Rückgriff auf Art. 100 EWGV ausschliessen zu können.

108

2. Kapitel: Rechtsangleichung im Bereich technischer Regeln

Satz 2 EWGV enthaltene Abkehr vom Prinzip der Einstimmigkeit anzusehen ist 86 . Dennoch will ein Teil der Literatur auch solchen Mitgliedstaaten, die dem Erlaß einer Rechtsangleichungsmaßnahme nach Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV ausdrücklich zugestimmt haben, die Inanspruchnahme der Schutzklausel zugunsten strengerer nationaler Regelungen erlauben 87. Zum Teil wird diese These allerdings insofern abgeschwächt, als den Mitgliedstaaten die Option des Art. 100 a EWGV nur dann offenstehen soll, wenn sie sich trotz Zustimmung zur Rechtsangleichung die Inanspruchnahme dieser Schutzklausel ausdrücklich vorbehalten haben88. Begründet wird diese Auffassung im wesentlichen damit, daß es geradezu verfehlt sei, von den Mitgliedstaaten die Ablehnung geplanter Harmonisierungsmaßnahmen zu verlangen, nur um dem betreffenden Mitgliedstaat auch weiterhin die Beibehaltung schärferer Schutzmaßnahmen auf nationaler Ebene zu ermöglichen. Insoweit sei es für einen Mitgliedstaat durchaus konsequent, einem europäischen Mindestschutz zunächst zuzustimmen, selber aber zusätzliche, über diesen Mindestschutz hinausgehende Anstrengungen unternehmen zu wollen 89 . Vereinzelt wird die Notwendigkeit, auch den zustimmenden Mitgliedstaaten die Inanspruchnahme des Schutzklauselverfahrens einräumen zu müssen, auch aus der Rechtsprechung des EuGH hergeleitet 90. Nach dieser ist die Klage eines Mitgliedstaates gegen einen Rechtsakt des Rates selbst dann zulässig, wenn der klagende Mitgliedstaat diesem Akt bei der Beschlußfassung selber zugestimmt hat 91 . Um WertungsWidersprüche zu vermeiden, müsse dieses in

86

Krämer, in: Rengeling, S. 137 (155 / 156); Schmidhuber, EurArch 1989, S. 75 (82); Langeheine, in: Grabitz, EWGV, Art. 100 a Rn. 57. 87 So Glaesner, in: Schwarze, S. 9 (26 f.); ders., Diskussionsbeitrag, in: Rengeling, S. 182; Joerges/Falke/Micklitz/Brüggemeier, S. 369 f.; Montag, RIW 1987, S. 935 (942); Scheuing, EuR 1989, S. 152 (171); Pernice, N V w Z 1990, S. 201 (207). 88

Vgl. Hailbronner, EuGRZ 1989, S. 101 (117 f., 121); Müller-Graff,

EuR 1989, S. 107 (145 f.).

89

Hailbronner, EuGRZ 1989, S. 101 (118) spricht davon, „daß eine Auslegung der Schutzklausel mit den Vertragszielen nicht in Einklang stehe, die im Sinne eines Alles- oder Nichts-Prinzips Mitgliedstaaten mittelbar zur Blockade von Rechtsangleichungsmaßnahmen zwingt, um die für zwingend erachteten Standards jedenfalls national durchsetzen zu können". Nach Scheuing, EuR 1989, S. 152 (171), ist es „regelrecht sinnverkehrend", die Mitgliedstaaten zur Ablehnung einer europäischen Harmonisierung zu zwingen, nur um ihnen die Möglichkeit einer nationalen Mehrleistung auch in Zukunft offenzuhalten. 90 91

Vgl. Glaesner, in: Schwarze, S. 9 (26 f.)

Vgl. EuGH, RS. 166 / 78, Italien. / .Rat, Urt. v. 12.07.1979, Slg. S. 2575 (2996) - „Prämie für Kartoffelstärke" —.

§ 3 Das Konkurrenzverhältnis des Art. 100 a EWGV

109

der Rechtsprechung entwickelte Prinzip auch bei der Auslegung des Art. 100 a EWGV Berücksichtigung finden 92. Den genannten Ansichten kann allerdings weder in der Begründung noch im Ergebnis gefolgt werden. Vielmehr ist davon auszugehen, daß die Inanspruchnahme der Schutzklausel des Art. 100 a Absatz 4 EWGV einem Mitgliedstaat immer nur dann gestattet werden kann, wenn er sich bei der Beschlußfassung entweder ausdrücklich gegen die geplante Harmonisierungsmaßnahme ausgesprochen und diese daher abgelehnt oder er sich zumindest seiner Stimme enthalten hat 93 . Gegen die Schlüssigkeit dieser These kann die oben zitierte Rechtsprechung des EuGH nicht als entscheidendes Gegenargument herangeführt werden. Der Gerichtshof hatte zwar tatsächlich die Anfechtbarkeit eines Ratsbeschlusses trotz Zustimmung des anfechtenden Mitgliedstaates bejaht. Dieses geschah allerdings im Rahmen einer Klage nach Art. 173 EWGV. Im Verfahren des Art. 173 EWGV geht es aber nur um die Frage, ob ein Gemeinschaftsorgan objektiv rechtmäßig gehandelt hat. Diese insoweit durch den EuGH erfolgende Überprüfung dient dem Gemeinschaftsinteresse 94, da Klarheit darüber bestehen soll, ob ein Gemeinschaftsrechtsakt rechtmäßig und damit gültig oder aber rechtswidrig und damit aufzuheben ist. Ob in diesem Sinne eine Rechtshandlung aber mit den Vorschriften des EWG-Vertrages zu vereinbaren ist oder nicht, kann durch das Abstimmungsverhalten der Mitgliedstaaten regelmäßig nicht beeinflußt werden. Um die Frage nach der Rechtmäßigkeit geht es im Anwendungsbereich des Art. 100 a Absatz 4 EWGV gerade nicht. Außerdem liegt die Inanspruchnahme nationaler Schutzklauseln auch in keinem Fall im Gemeinschaftsinteresse; im Gegenteil kann das Gemeinschaftsinteresse nur darin bestehen, daß von der Ausschermöglichkeit überhaupt kein Gebrauch gemacht wird. Die Beibehaltung strengerer nationaler Schutzvorschriften trotz erfolgter Harmonisierung bedeutet nämlich zwangsläufig, daß eine vollkommene Rechtsangleichung nicht erreicht worden ist und das Prinzip Binnenmarkt" somit jedenfalls so lange nicht ver-

92

So ausdrücklich Glaesner, in: Schwarze, S. 9 (26 f.).

93

Vgl. auch Jaqué , RevTrimDrEur 1986, S. 575 (599 f.); Ehlermann, CMLR 1987, S. 361 (394 f.); Meier, NJW 1987, S. 537 (540); Seidel, EurArch 1987, S. 553 ff.; Langeheine, EuR 1988, S. 235 (248); Schmidhuber, EurArch 1989, S. 75 (82); Dauses, EuZW 1990, S. 8 (9); Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1535; Pipkorn, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 100 a Rn. 99; Reich, EuZW 1991, S. 203 (207). 94

Vgl. insoweit auch Müller-Graff,

EuR 1989, S. 107 (146).

110

2. Kapitel: Rechtsangleichung im Bereich technischer Regeln

wirklicht werden kann, wie die abweichenden nationalen Regelungen Bestand haben. Diese Überlegungen zeigen mit hinreichender Deutlichkeit, daß aufgrund der unterschiedlichen Interessenlagen sich aus der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 173 EWGV keine Argumente für die Auslegung des Art. 100 a EWGV gewinnen lassen. Ebensowenig kann es als widersinnig bezeichnet werden, zustimmende Mitgliedstaaten von dem Verfahren nach Art. 100 a Absatz 4 EWGV auszuschließen. Die Einbeziehung auch der zustimmenden Mitgliedstaaten würde dem Sinn und Zweck dieser Regelung als Schutzvorschrift für überstimmte Mitgliedstaaten widersprechen. Im übrigen wäre sie auch geeignet, den Kreis der zu nationalen Abweichungen befugten Mitgliedstaaten zu weit zu ziehen und dadurch den Sinn einer jeden Rechtsangleichungsinitiative auf der Gemeinschaftsebene in Frage zu stellen95. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Regelung des Art. 100 a Absatz 3 EWGV von Bedeutung. Durch diese Vorschrift wird die EG-Kommission verpflichtet, in ihren Harmonisierungsvorschlägen in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umwelt- und Verbraucherschutz von einem hohen Sicherheitsniveau auszugehen. Diese Regelung beschreibt die Reichweite der Rechtsangleichung in materieller Hinsicht, nämlich die Entwicklung eines gesamteuropäischen, auf einem möglichst hohen Schutzniveau stehenden Sicherheitsstandards. In diesem Sinne ist Art. 100 a Absatz 3 EWGV zugleich Ziel und Auftrag. Wäre aber angesichts des Art. 100 a Absatz 4 EWGV jeder Mitgliedstaat unabhängig von seinem Abstimmungsverhalten berechtigt, trotz einer Harmonisierung auf hohem Schutzniveau noch strengere nationale Rechtsvorschriften aufrechtzuerhalten, so wäre der Umstand, daß einzelne Mitgliedstaaten von dieser Möglichkeit auch tatsächlich Gebrauch machen, ein unwiderlegbares Indiz dafür, daß die beschlossene Rechtsangleichungsmaßnahme den Zielbestimmungen des Art. 100 a Absatz 3 EWGV gerade nicht gerecht geworden ist. Anderenfalls wäre nämlich die Inanspruchnahme der Schutzklausel durch die jeweiligen Mitgliedstaaten überhaupt nicht erfolgt. Die Mitgliedstaaten sollen sich aber vor der Beschlußfassung darüber im klaren sein, ob ein Harmonisierungsvorschlag ihren nationalen Vorstellungen entspricht oder nicht. Bliebe ihnen, unabhängig von ihrem eigenen Abstimmungsverhalten, in jedem Fall noch der Ausweg über die Regelung des Art. 100 a Absatz 4 EWGV, so könnten die Mitgliedstaaten theo-

95 Vgl. auch Jaqué , RevTrimDrEur 1986, S. 575 (599 f.); Ehlermann, CMLR 1987, S. 361 (394 f.); Meier, NJW 1987, S. 537 (540); Langeheine, EuR 1988, S. 235 (248).

§ 3 Das Konkurrenzverhältnis des Art. 100 a EWGV

111

retisch einem Vorschlag nur um der Harmonisierung willen zustimmen, da ihnen jederzeit die Möglichkeit offenstünde, strengere nationale Bestimmungen aufrechtzuerhalten. Die Angleichung nationaler Rechtsvorschriften kann aber nur dann wirksam zur Verwirklichung des Binnenmarktes beitragen, wenn eine hinreichend große Anzahl an Mitgliedstaaten, jene nämlich, die die für die Beschlußfassung erforderliche qualifizierte Mehrheit bilden, auch tatsächlich bereit sind, die Gemeinschaftsstandards uneingeschränkt anzuwenden. Stünde es jedem Mitgliedstaat frei, auch nach einer Harmonisierung die Produktsicherheit von Erzeugnissen am Maßstab der strengeren nationalen technischen Rechtsvorschriften zu beurteilen, so wäre die Rechtsangleichung mittels qualifizierter Mehrheit als solche in Frage gestellt. Diese Überlegungen zeigen, daß die Einbeziehung auch der einem Gemeinschaftsrechtsakt zustimmenden Mitgliedstaaten in den Kreis der zu nationalen Abweichungen berechtigten Staaten eine Harmonisierung der Produktsicherheitsvorschriften entgegen der in Art. 100 a Absatz 3 EWGV enthaltenen Zielvorgabe auf einem niedrigen Schutzniveau begünstigt. Insoweit besteht die Gefahr, daß angesichts der Option des Art. 100 a Absatz 4 EWGV die Mitgliedstaaten es für überflüssig halten, einheitlich geltende Regeln auf einem hinreichend hohen und damit für die Mehrzahl der Mitgliedstaaten akzeptablen Schutzniveau zu erarbeiten 96. Schließlich ist auch die These unzutreffend, daß eine solche Auslegung des Art. 100 a Absatz 4 EWGV die Mitgliedstaaten, die das in einem Harmonisierungsvorschlag angestrebte Schutzniveau gemessen an den vorhandenen nationalen Regelungen für zu gering halten, jeweils zu einem offenen Dissens mit dieser geplanten Rechtsangleichungsmaßnahme zwingt. Enthält sich nämlich ein Mitgliedstaat seiner Stimme, so bleibt ihm die Möglichkeit des Art. 100 a Absatz 4 EWGV erhalten 97. Da diese Auslegung nicht im Widerspruch zu der Forderung steht, daß, soweit die Mitgliedstaaten auf der Grundlage des Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV einstimmig einen Harmonisierungsvorschlag beschließen, diese Rechtsangleichungsmaßnahmen der Gemeinschaft nicht durch die Inanspruchnahme des Schutzklauselverfahrens unterlaufen werden dürfen, macht sie den Rückgriff auf Art. 100 EWGV nicht erforderlich. Enthaltungen der Mitgliedstaaten wirken sich im Rahmen einer Beschlußfassung nach Art. 100 und nach Art. 100 a EWGV jeweils unterschiedlich aus. Bei einer Beschlußfassung

96 97

Im Ergebnis auch Langeheine, in: Grabitz, EWGV, Art. 100 a Rn. 62.

Vgl. auch Schmidhuber, EurArch 1989, S. 75 (82); Pipkorn, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 100 a Rn. 99; Langeheine, in: Grabitz, EWGV, Art. 100 a Rn. 63.

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2. Kapitel: Rechtsangleichung im Bereich technischer Regeln

nach Art. 100 EWGV ist die durch diese Vorschrift geforderte Einstimmigkeit auch dann erreicht, wenn sich einzelne Mitgliedstaaten ihrer Stimme enthalten. Nach Art. 148 Absatz 3 EWGV stehen Stimmenenthaltungen einem Zustandekommen von Beschlüssen des Rates, zu denen nach der jeweiligen vertraglichen Ermächtigungsgrundlage Einstimmigkeit vorgeschrieben ist, nicht entgegen. Dieser Umstand läßt es zwar auf den ersten Blick als systemwidrig erscheinen, im Rahmen des Art. 100 a EWGV auch den sich enthaltenden Mitgliedstaaten die Inanspruchnahme der Schutzklausel zu gestatten. Bei einer Abstimmung nach Art. 100 EWGV haben die sich enthaltenden Mitgliedstaaten nämlich auch nicht die Möglichkeit, strengere nationale Vorschriften beizubehalten. Ein WertungsWiderspruch besteht allerdings im Vergleich zu Art. 100 a EWGV insofern nicht, als nach dieser Vorschrift ein positives Abstimmungsergebnis bereits bei einer qualifizierten Mehrheit erreicht ist. In einem solchen Fall wirken sich Stimmenenthaltungen aber nicht positiv auf das Ergebnis der Beschlußfassung aus, da nach Art. 148 Absatz 2 EWGV immer eine bestimmte Mindestzahl an Zustimmungen zur Annahme eines Gemeinschaftsrechtsaktes erforderlich ist. Im Ergebnis bedeutet dies also, daß die Stimmenenthaltung im Rahmen einer Beschlußfassung nach Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV bei der Feststellung des Abstimmungsergebnisses ebenso schwer wie eine „Nein-Stimme" wiegt 98 . Aus diesem Grund ist es auch nicht systemwidrig, den sich enthaltenden Mitgliedstaaten die Option des Art. 100 a Absatz 4 EWGV einzuräumen.

e) Ergebnis Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die Einführung eines Schutzklauselverfahren in Art. 100 a Absatz 4 EWGV ebenfalls einen Rückgriff auf den Art. 100 EWGV nicht zu rechtfertigen vermag. Befürchtungen, daß über die Inanspruchnahme des Art. 100 a Absatz 4 EWGV Rechtsangleichungsbeschlüsse des Rates unterlaufen werden können, sind unbegründet, da die zustimmenden Mitgliedstaaten an die beschlossenen Maßnahmen uneingeschränkt gebunden sind. Dieses bedeutet aber für die Beantwortung der eingangs gestellten Ausgangsfrage, daß im Zuge der auf der Grundlage der „Neuen Konzeption" erfolgenden Rechtsangleichung dem Art. 100 EWGV keine eigenständige Bedeutung mehr zukommt, da Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV für den freien Wa-

98

Vgl. Langeheine, in: Grabitz, EWGV, Art. 100 a Rn. 63.

§ 3 Das Konkurrenzverhältnis des Art. 100 a EWGV

113

renverkehr, vorbehaltlich anderer, ihrerseits gegenüber Art. 100 a EWGV speziellerer vertraglicher Vorschriften, eine abschließende Regelung enthält". Die nach dem Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte gängige Praxis der Gemeinschaftsorgane, Rechtsangleichungsmaßnahmen zur Beseitigung der technischen Handelshemmnisse auf Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV zu stützen 100 , ist demnach zwingend geboten.

II. Art. 101 EWGV Art. 101 EWGV ermöglicht es dem Rat, Richtlinien für den Fall zu erlassen, daß vorhandene Unterschiede in den Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten die Wettbewerbsbedingungen auf dem Gemeinsamen Markt verfalschen und dadurch eine durch die Gemeinschaft zu beseitigende Verzerrung hervorrufen. Aus dem Merkmal „Verzerrung" läßt sich schliessen, daß Art. 101 EWGV nur bei besonders gravierenden Wettbewerbsstörungen als Ermächtigungsgrundlage in Betracht kommt. Dieser Umstand könnte die Schlußfolgerung rechtfertigen, daß, jedenfalls für den Fall, daß technische Vorschriften im Einzelfall die Wettbewerbsbedingungen unter den Mitgliedstaaten verfalschen und tatsächlich eine „Verzerrung" bewirken, Art. 101 EWGV die gegenüber Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV speziellere und daher vorrangig anzuwendende vertragliche Ermächtigungsgrundlage bereitstellt. Die von Art. 101 EWGV erfaßten Wettbewerbs Verzerrungen sind nach Absatz 1 in erster Linie durch Beratungen zwischen der EG-Kommission und den betroffenen Mitgliedstaaten zu beseitigen. Erst wenn in diesen Beratungen eine Verständigung nicht erzielt werden kann, kann der Rat in einem gegenüber Art. 100 und Art. 100 a EWGV erleichterten Verfahren Angleichungsrichtlinien erlassen. Dabei kann der Rat nach der Vollendung der ersten Stufe der Übergangszeit nunmehr mit qualifizierter Mehrheit entscheiden; eine Anhörung des

99

Im übrigen dürfte nach dem Urteil des EuGH in der RS. C 300 / 89, Kommission. / .Rat, Urt. v. 11.06.1991, EuR 1991 S. 175 ff., davon auszugehen sein, daß Art. 100 EWGV allenfalls noch in den nach Art. 100 a Absatz 2 EWGV aus dem Anwendungsbereich des Absatz 1 Satz 2 ausgeklammerten Rechtsgebieten, wie etwa den Bereichen Steuern sowie Arbeits- und Sozialrecht, eine eigenständige Funktion zukommen wird, sofern nicht auch hier, wie dies regelmäßig der Fall ist, vertraglich speziellere Sonderermächtigungen eingreifen. Wie hier auch Everling, EuR 1991, S. 179 (181); anders noch ders., in: FS. f. Steindorff, S. 1155 (1169). 100

Vgl. hierzu bereits oben, S. 76 f.

8 Breulmann

114

2. Kapitel: Rechtsangleichung im Bereich technischer Regeln

Europäischen Parlaments vor dem Erlaß der Richtlinie ist ebenso wenig erforderlich wie eine Beteiligung des Wirtschafts- und Sozialausschusses. Diese Verfahrensausgestaltung entspricht der für die Rechtsangleichung nach Art. 101 EWGV erforderlichen Schwere der Funktionsstörung des Gemeinsamen Marktes. Insoweit war es das Ziel der Vertragsgeber, dem Rat mit dem Art 101 EWGV ein flexibles Instrument an die Hand zu geben, das in Ausnahmefällen, zumindest theoretisch, eine möglichst rasche, weil weitgehend von der Einhaltung formeller Voraussetzungen befreite Beseitigung von tiefgreifenden Funktionsstörungen ermöglichen sollte 101 . Dieses mit dem Art. 101 EWGV verfolgte Ziel bildet denn auch die Ursache dafür, warum es sich bei dieser Vorschrift um eine Ausnahmeregelung handelt, die andere vertragliche Rechtsgrundlagen zur Rechtsangleichung, insbesondere den hier interessierenden Art. 100 a EWGV, nicht verdrängt, sondern nur ergänzt 102 . Unmittelbar ist dieser ergänzende Charakter des Art. 101 EWGV in dessen Absatz 2 Satz 2 festgeschrieben, wonach Kommission und Rat anstelle des Verfahrens nach Art. 101 EWGV ebenso berechtigt sind, alle sonstigen im EWG-Vertrag vorgesehenen zweckdienlichen Maßnahmen zu treffen. Als eine solche zweckdienliche Maßnahme ist aber auch ein Vorgehen nach Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV anzusehen. Insoweit beinhaltet Art. 101 EWGV hinsichtlich seines sachlichen Anwendungsbereiches keine gegenüber dem Art. 100 a EWGV qualitativ andersartige, sondern eine nur graduell unterschiedliche Regelung, da beide Vorschriften auf die Herstellung eines einheitlichen, von Handelsschranken freien Wirtschaftsraumes sowie eines Systems unverfälschten Wettbewerbs gerichtet sind 103 . Dieser Umstand sowie die Tatsache, daß das Vorliegen einer Wettbewerbsverzerrung nur ausgesprochen schwierig festzustellen sein wird, machen Art. 101 EWGV zu einem im Ergebnis als ineffektiv zu bezeichnenden Instrument der Rechtsangleichung104.

101 Vgl. auch Pipkorn, in: Beutler / Bieber / Pipkorn / Streil, Pkt. 11.3.1.1. (S. 377); Langeheine, in: Grabitz, EWGV, Art. 101 Rn. 15. 102

Vgl. allgemein jeweils für das Konkurrenzverhältnis des Art. 101 EWGV zu dem Art. 100 EWGV auch Pipkorn, in: G / Β / Τ / E, EWGV, 3. Auflage, Art. 101 Rn. 21; Langeheine, in: Grabitz, EWGV, Art. 101 Rn. 17. 103 Vgl. für das Verhältnis zu Art. 100 auch Rohling, S. 98 f.; Pipkorn, in: G / Β / Τ / E, EWGV, 3. Auflage, Art. 101 Rn. 13. 104

Wegen der mit der Auslegung des Begriffes „Wettbewerbsverzerrungen" verbundenen Auslegungsschwierigkeiten hat der Art. 101 EWGV bislang denn auch keinerlei praktische Bedeutung erlangt. Beuve-Méry , RevTrimDrEur 1970, S. 303 bezeichnet die Art. 101, 102 EWGV dementsprechend als „dipositions restées en état de léthargie"; nach Rohling, S. 95, handelt es sich bei dem Art. 101 um eine „tote Norm"; vgl. auch Oppermann, Europarecht, Rn. 1079.

§ 3 Das Konkurrenzverhältnis des Art. 100 a EWGV

115

Die praktische Anwendung des Art. 101 EWGV könnte nur dann als gerechtfertigt angesehen werden, wenn unterschiedliche nationale Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu einer besonders schweren Gleichgewichtsstörung geführt haben, die die Wettbewerbsverhältnisse zwischen denselben Wirtschaftszweigen verschiedener Mitgliedstaaten in schwerwiegender Weise verfälscht 105 . Würde eine Rechtsangleichungsmaßnahme im Ausnahmefall tatsächlich auf Art. 101 EWGV gestützt, so bestünde immer die Gefahr, daß der Europäische Gerichtshof bei einer Überprüfung dieser Maßnahme zu dem Ergebnis kommt, daß die harmonisierte Vorschrift nicht in dem für die Anwendung des Art. 101 EWGV erforderlichen Maße den Wettbewerb verfälscht hat, daß mithin also die Voraussetzungen für die Anwendung des Art. 101 EWGV gar nicht vorlagen. In diesem Fall würde der Gerichtshof die entsprechende Richtlinie aufheben, so daß die Harmonisierungsmaßnahmen von vorne beginnen müßten. Wegen dieses mit der Anwendung des Art. 101 EWGV verbundenen Risikos hatte die Vorschrift bereits im Verhältnis zu Art. 100 EWGV keine Bedeutung erlangt. Erst recht wird diese Vorschrift nach der Einfügung des Art. 100 a EWGV ohne Bedeutung bleiben, da diese Ermächtigungsgrundlage im Unterschied zu Art. 100 EWGV auch eine Beschlußfassung mit qualifizierter Mehrheit ermöglicht, so daß eine der wesentlichen Vorteile des Art. 101 EWGV nunmehr entfallen ist. Im Ergebnis läßt sich daher feststellen, daß Art. 101 EWGV zwar eine gegenüber Art. 100 a EWGV speziellere Regelung enthält, daß der Art. 100 a EWGV durch diese Vorschrift aber selbst bei Vorliegen ihrer Tatbestandsvoraussetzungen nicht verdrängt wird. Im Einzelfall könnten Angleichungsmaßnahmen zur Umsetzung der „Neuen Konzeption" zwar theoretisch in dem Art. 101 EWGV ihre vertragliche Ermächtigungsgrundlage finden. Praktisch wird der Rat aber aus den genannten Gründen von einer solchen Möglichkeit wohl nicht Gebrauch machen.

105

Vgl. Rohling, S. 99; Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1542 f.; Langeheine, in: Grabitz, EWGV, Art. 101 Rn. 10.

116

2. Kapitel: Rechtsangleichung im Bereich technischer Regeln

III Art. 30 EWGV 1. Problemstellung Fraglich ist, wie das Verhältnis des in Art. 30 EWGV enthaltenen Verbotes zu der Rechtsangleichungsvorschrift des Art. 100 a EWGV zu bestimmen ist. Das Verbot des Art. 30 EWGV ist seinem Inhalt nach zwingend und klar. Zu seiner Durchsetzung bedarf es keiner weiteren Maßnahmen der Mitgliedstaaten oder der Gemeinschaftsorgane. Insoweit wirkt das in Art. 30 EWGV bezüglich mengenmäßiger Beschränkungen oder sonstiger Maßnahmen gleicher Wirkung enthaltene Verbot unmittelbar und erzeugt darüber hinausgehend Rechte der einzelnen Marktbürger und Unternehmen, die von den einzelstaatlichen Gerichten zu wahren sind 106 . Nach der „Dassonville-Formel" fällt unter die Formulierung „Maßnahmen gleicher Wirkung" jede nationale Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern 107 . Eine Handelsregelung in diesem Sinne setzt keine formale Diskriminierung voraus. Es reicht vielmehr aus, daß Regelungen, die nicht nach dem Herkunftsort der Erzeugnisse differenzieren, die mithin also auf in- und ausländische Produkte gleichermaßen anwendbar sind, die Einfuhr eines in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellten und in den Verkehr gebrachten Erzeugnisses verhindern oder erschweren 108. Aus der Reichweite dieser Definition läßt sich entnehmen, daß der Anwendungsbereich der Art. 30 und 100 a EWGV weitgehend identisch ist, sofern es um Maßmahmen geht, die den freien Warenverkehr betreffen. Für die überwiegende Mehrzahl der von der „Neuen Konzeption" erfaßten technischen Vorschriften bedeutet dies, daß sie, soweit sie sich handelshemmend auf den freien Warenverkehr auswirken, grundsätzlich jedenfalls ohnehin von dem Verbot des Art. 30 EWGV betroffen sind. Aus diesem Grunde gilt es, die Frage

106 Vgl. EuGH, RS. 74 / 76, Janelli & Volpi. / .Meroni, Urt. v. 22.03.1977, Slg. S. 557 (576); allgemein zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem mitgliedstaatlichen Recht vgl. auch Börner, in: KSE Bd. 33, S. 65 (67 ff.). 107

St. Rspr. vgl. EuGH, RS. 8 / 74, Staatsanwaltschaft. / .Benoît u. Dassonville, Urt. v. 11.07. 1974, Slg. S. 837 (852) - „Dassonville" - ; RS. 261 / 81, Rau Lebensmittelwerke. / .De Smedt P.v.b.A., Urt. v. 10.11.1982, Slg. S. 3961 (3972) - „Margarine" - ; RS. 7 2 / 8 3 , Campus Oil Limited. / .Minister f. Industrie u. Energie, Urt. v. 10.07.1984, Slg. S. 2727 (2746) - „Campus Oil" —; RS. 229 / 83, Association des Centres Distributeurs Edouard Ledere u.a. / .Sàrc , A u blé vert" u.a., Urt. v. 10.01.1985, Slg. S. 1 (34) - „Preisbindung bei Büchern" 108 St. Rspr. vgl. nur EuGH, RS. 120 / 78, Rewe. / .Bundesmonopolverwaltung f. Branntwein, Urt. v. 20.02.1979, Slg. S. 649 (662 Rn. 8) - „Cassis de Dijon"

§ 3 Das Konkurrenzverhältnis des Art. 100 a EWGV

117

zu klären, ob die Regelung des Art. 30 EWGV den Rechtsangleichungsbemühungen im Zuge der Verwirklichung der ,»Neuen Konzeption" nicht Grenzen setzt.

2. Keine alternative Anwendbarkeit der Art. 30, 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV Dieses wäre jedenfalls dann nicht der Fall, wenn die Anwendung des Art. 30 EWGV oder des Art. 100 a EWGV alternativ erfolgen könnte, wenn es also in das Ermessen des Gemeinschaftsgesetzgebers gestellt wäre, ob er sich beim Vorliegen der jeweiligen Tatbestandsvoraussetzungen beider Regelungen auf die Geltendmachung der Verbotsvorschrift des Art. 30 EWGV beschränkt, oder ob er insoweit von der Rechtsangleichungsmöglichkeit nach Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV Gebrauch macht 109 . Dieser These von einer alternativen Anwendbarkeit der unmittelbaren Verbotssvorschriften zu den Rechtsangleichungsbestimmungen kann in dieser Pauschalität allerdings nicht zugestimmt werden. Rechtsangleichung als solche ist niemals Selbstzweck eines Tätigwerdens der Gemeinschaftsorgane, sondern steht immer unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit. Dieses bedeutet, daß die Rechtsangleichung niemals weitergehen darf, als dies zur Verwirklichung eines Vertragszieles erforderlich ist 1 1 0 . Für das Verhältnis des Art. 100 a EWGV zu Art. 30 EWGV folgt hieraus, daß eine Rechtsangleichung jedenfalls dann auszuscheiden hat, wenn der freie Warenverkehr bereits durch das Verbot der Maßnahmen gleicher Wirkung hinreichend gewährleistet werden kann. Art. 30 EWGV zieht in diesem Fall der Rechtsangleichungspolitik der Gemeinschaftsorgane insofern Grenzen, als die Rechtsangleichung als nicht mehr erforderlich zur Verwirklichung des freien

109 So ausdrücklich Masclet, RevTrimDrEur 1980, S. 611 (626 ff., 630), der davon ausgeht, daß es letztendlich eine Frage der politischen Opportunität sei, ob man es im Einzelfall bei dem Verbot des Art. 30 EWGV belasse oder ob man positiv über Art. 100 EWGV tätig werden wolle. Die Ausfuhrungen Masclets beziehen sich zwar auf das Verhältnis des Art. 30 EWGV zu Art. 100 EWGV. Da die Frage jedoch das grundsätzliche Verhältnis der in diesem Bereich jeweils bestehenden Rechtsangleichungsvorschriften zu den allgemeinen Verbotsvorschriften betrifft, dürfte dieser Auffassung zufolge für Art. 100 a EWGV nichts anderes gelten. 1,0 So ausdrücklich EuGH, RS 1 1 6 / 8 2 , Urt. v. 18.09.1986, Slg. S. 2519 (Rn. 21). Vgl. auch Hallstein, RabelsZ 1964, S. 211 (217); Schwartz, in: FS. f. Hallstein, S. 474 (486); Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 693.

118

2. Kapitel: Rechtsangleichung im Bereich technischer Regeln

Warenverkehrs auszuscheiden hat 111 . Übertragen auf die „Neue Konzeption" bedeutet dies, daß durch den EWG-Vertrag unmittelbar verbotene nationale Regelungen auf dem Gebiet der technischen Handelshemmnisse nicht mehr Gegenstand der Rechtsangleichung sein können. Dieses Ergebnis erscheint auch sachgerecht. Sind über die Anwendung des Art. 30 EWGV bereits einheitliche Verhältnisse in den Mitgliedstaaten hergestellt, so macht es keinen Sinn mehr, Maßnahmen auf der Grundlage des Art. 100 a EWGV eben mit dem bereits erreichten Ziel einer Harmonisierung zu treffen. Das Prinzip der Erforderlichkeit der Rechtsangleichung bedeutet daher, daß im Verhältnis der Art. 30 und 100 a EWGV zueinander ein genereller Anwendungsvorrang zugunsten des in Art. 30 EWGV enthaltenen Verbotes der Maßnahmen gleicher Wirkung besteht112.

3. Zielrichtung der Art. 30, 100 a EWGV Ausgehend von diesen Ergebnissen könnte man der Ansicht sein, daß der Anwendungsvorrang des Art. 30 EWGV erhebliche Konsequenzen für die sachliche Reichweite der Rechtsangleichung zur Umsetzung der „Neuen Konzeption" zur Folge hat. Im Ergebnis ist dies allerdings nicht der Fall. Insoweit ist insbesondere der Umstand zu berücksichtigen, daß beide Vorschriften eine unterschiedliche Zielrichtung aufweisen. Art. 30 EWGV ist darauf gerichtet, abgesehen von genau definierten Ausnahmen, unverzüglich sämtliche mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen und sonstige Maßnahmen gleicher Wirkung zu beseitigen. Dagegen zielt eine Rechtsangleichung nach Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV darauf ab, über eine Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten die sich aus der Unterschiedlichkeit dieser Vorschriften ergebenden Handelshindernisse zu beseitigen und dadurch einen einheitlichen, positivrechtlich durchnormierten Katalog an Rechtsvorschriften zu schaffen 113. Entscheidend ist dabei, daß sich die Rechtsanglei-

111

Vgl. Matthies, in: Grabitz, EWGV, Art. 30 Rn. 25; im Ergebnis wohl auch Wägenbaur, in: G / Β / Τ / E, EWGV, 3. Auflage, vor Art. 30-37 Rn. 72. 112 Vgl. auch Steindorff, Grenzen der EG-Kompetenzen, Beiheft zur ZHR, Bd. 65, S. 62, der zutreffend darauf hinweist, daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die Handlungsbefugnisse der Gemeinschaftsorgane wegen fehlender Notwendigkeit auch dort begrenzen kann, wo bereits die staatliche Politik als Mittel zur Zielverwirklichung ausreichen würde. Ablehnend Marx, S. 61 ff. 113 Vgl. EuGH, RS. 193 / 80, Kommission. / .Italien, Urt. v. 09.12.1981, Slg. S. 2019 (2033) „Obstessig" - ; Touffait, RecDalloz 1982, S. 37 (43 ff.); Langeheine, in: Grabitz, EWGV, Art. 100 Rn. 75; Matthies, in: Grabitz, EWGV, Art. 30 Rn. 25.

§ 3 Das Konkurrenzverhältnis des Art. 100 a EWGV

119

chung nicht an den in den Mitgliedstaaten bestehenden Vorschriften zu orientieren braucht. Das heißt, daß durch eine Rechtsangleichung Standards innerhalb der gesamten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft verbindlich gemacht werden können, die, wenn sie in einzelstaatlichen Vorschriften enthalten wären, gegen das Verbot des Art. 30 EWGV verstoßen würden. Art. 30 EWGV ermöglicht eine Vereinheitlichung in der Regel nur auf einem ausgesprochen niedrigen Schutzniveau, während über Art. 100 a EWGV ein entsprechend höheres Niveau gemeinschaftsweit verbindlich vorgeschrieben werden kann. Unter Zugrundelegung dieser Situation scheitert eine Rechtsangleichung nach Art. 100 a EWGV jedenfalls dann nicht an dem Prinzip der Erforderlichkeit, wenn die Verbotswirkung des Art. 30 EWGV nicht eingreift. Dies ist in den Bereichen der Fall, in denen eine handelshemmende Regelung nach der „Cassis de Dijon"-Rechtsprechung des EuGH trotz des Verbotes des Art. 30 EWGV hingenommen werden muß, um zwingenden Erfordernissen, insbesondere jenen einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs oder aber solchen des Verbraucherschutzes gerecht zu werden 114 . In diesen Fällen stellt sich das Problem eines Anwendungsvorranges des Art. 30 EWGV gegenüber dem Verfahren nach Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV gerade nicht, da die Rechtsangleichung hier in ihrer Reichweite und Wirkung weit über das Verbot der Maßnahmen gleicher Wirkung als solches hinausgeht. Soweit auf der Grundlage des Art. 100 a EWGV durch eine Rechtsangleichungsmaßnahme eine Harmonisierung der vom Verbot des Art. 30 EWGV nicht umfaßten, weil zwingend erforderlichen nationalen Rechtsvorschriften erfolgt, ist der Rückgriff der Mitgliedstaaten auf die in der „Cassis de Dijon"-Rechtsprechung aufgestellten Ausnahmefalle ausgeschlossen. Nach einer Rechtsangleichung ist allein der durch die jeweilige Harmonisierungsmaßnahme vorgegebene Rahmen für den zulässigen Inhalt einzelstaatlicher Rechts- und Verwaltungsvorschriften ausschlaggebend115. Diesem Satz kann allerdings nicht im Umkehrschluß entnommen werden, daß sich die Rechtsangleichungsmaßnahmen der Gemeinschaftsorgane ausschließlich

114

Vgl. nur EuGH, RS. 120 / 78, Rewe. / .Bundesmonopolverwaltung f. Branntwein, Urt. v. 20.02.1979, Slg. S. 649 (662 Rn. 8) - „Cassis de Dijon" - . 115 So ausdrücklich die st. Rspr. des EuGH zu Art. 100 EWGV, vgl. EuGH, RS. 5 / 77, Tedeschi. / .Denkavit, Urt. v. 05.10.1977, Slg. S. 1555 (1576); RS. 148 / 78, Ratti, Urt. v. 05.04.1979, Slg. S. 1629 (1644) - „gefährliche Zubereitungen" - ; RS. 251 / 78, Denkavit. / .Minister f. Ernährung, Landwirtschaft und Forsten NW, Urt. v. 08.11.1979, Slg. S. 3369 (3388 f.) - „Gesundheitspolizeiliche Kontrollen" - ; RS. 8 1 5 / 7 9 , Cremonini u. Vrankovich, Urt. v. 02.12.1980, Slg. S. 3583 (3609) - „elektrische Betriebsmittel" - .

120

2. Kapitel: Rechtsangleichung im Bereich technischer Regeln

auf solche Gebiete zu beschränken haben, die vom Verbot des Art. 30 EWGV nicht erfaßt werden 116 . Insoweit kommt es entscheidend nur darauf an, daß die Rechtsangleichung nicht um der Rechtsangleichung vorgenommen werden kann. Bietet die Durchsetzung des in Art. 30 EWGV enthaltenen Verbotes dagegen keinen vollwertigen Ersatz für eine Rechtsangleichung, dann kann Art. 30 EWGV den Anwendungsbereich des Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV nicht einschränken 117. Besonders läßt sich dieses anhand der Regelung des Art. 100 a Absatz 3 EWGV verdeutlichen. Danach hat die Kommission bei ihren Vorschlägen zur Rechtsangleichung von einem hohen Schutzniveau in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umwelt- und Verbraucherschutz auszugehen. Selbst wenn es den Gemeinschaftsorganen daher um eine Harmonisierung auf einem Gebiet geht, auf dem durch eine konsequente Anwendung des Art. 30 EWGV bereits ein einheitlicher Rechtszustand hergestellt worden ist, ist ein Vorgehen nach Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV nicht ausgeschlossen, wenn und soweit mit der Rechtsangleichung die Erzielung eines höheren Schutzniveaus angestrebt wird. Kann eine Vereinheitlichung auf dem erstrebten hohen Schutzniveau durch Art. 30 EWGV allein nicht verwirklicht werden, so reicht diese Vorschrift als solche nicht aus, um eben dieses Vertragsziel zu erreichen. In diesem Sinne ist dann eine Rechtsangleichung auch erforderlich und verstößt nicht gegen den Anwendungsvorrang des Verbotes der Maßnahmen gleicher Wirkung 118 . In ihrer praktischen Anwendung führt die These vom Anwendungsvorrang des Art. 30 EWGV daher kaum zu einer Einschränkung des Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV. Immerhin behält sie allerdings insofern eine nicht zu unterschätzende Funktion, als sie jedenfalls die äußerste Grenze aller Rechtsangleichungsbestrebungen bezeichnet. Diese Grenze wäre beispielsweise dann überschritten, wenn mit der Rechtsangleichung etwa die Schaffung euro-

116 So im Ergebnis auch Touffait, Art. 100 Rn. 76.

RecDalloz 1982, S. 37 (44); Langeheine, in: Grabitz, EWGV,

117

Matthies, in: Grabitz, EWGV, Art. 30 Rn. 25 nennt als Beispielsfälle etwa die Standardisierung von Gattungserzeugnissen, die Transparenz des Handelsverkehrs oder die Förderung der Qualität der produzierten Waren. Zu denken ist aber auch an etwaige, trotz des Verbotes des Art. 30 EWGV auf Seiten der Hersteller und Importeure fortbestehende Rechtsunsicherheiten. Vgl. zum Ganzen auch Müller-Graff, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 30 Rn. 65. 118 Letztlich kann natürlich nicht verkannt werden, daß die Bedeutung des Art. 30 EWGV mit zunehmender Europäisierung abnehmen wird. Allerdings kann die Rechtsangleichung niemals vollständig den Platz des Art. 30 EWGV einnehmen, da diese Vorschrift aufgrund ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit eine sehr viel dynamischere Funktion besitzt als die vergleichsweise langsame, weil auf einen Konsens zumindest der überwiegenden Mehrheit der Mitgliedstaaten angwiesene Rechtsangleichung. Die Wirkungsweise des Art. 30 EWGV ist daher eine vorläufige, während die Schaffung endgültiger Zustände der Rechtsangleichung vorbehalten werden muß.

§ 3 Das Konkurrenzverhältnis des Art. 100 a EWGV

121

päischer Einheitsprodukte oder die Erhebung von technischen Standards marktbeherrschender Unternehmen zu Gemeinschaftsrecht als Ziel verfolgt werden würde 119 .

4. Bedeutung für die „Neue Konzeption" Die der Rechtsangleichungspolitik der Gemeinschaftsorgane durch den Art. 30 EWGV gesetzten Grenzen werden im Bereich der „Neuen Konzeption" durch die von Rat und Kommission geplante Harmonisierung der technischen Handelshemmnisse jedenfalls nicht überschritten. Dieses läßt sich insbesondere anhand einiger Stellungnahmen der Kommission verdeutlichen. So heißt es in einer Mitteilung der Kommission über die Auswirkungen des Urteils des Europäischen Gerichtshofes vom 20.02.1979 — „Cassis de Dijon" —12°: „Die Kommission wird sich in erster Linie um die Angleichung der sich auf das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes auswirkenden Vorschriften bemühen müssen, soweit es um die Beseitigung der Hemmnisse geht, die, an den vom Gerichtshof aufgestellten Kriterien gemessen, auf zulässige nationale Vorschriften zurückzuführen sind". In dieselbe Richtung weisen auch die im Weißbuch enthaltenen Ausführungen über die Reichweite der Harmonisierungspolitik bei der Beseitigung der technischen Handelshemmnisse: „Bei künftigen Initiativen zur Verwirklichung des Binnenmarktes muß deutlich unterschieden werden zwischen den Bereichen, in denen eine Harmonisierung unerläßlich ist, und den Bereichen, in denen man sich auf eine gegenseitige Anerkennung der nationalen Regelungen und Normen verlassen kann; ,.."121. „Die Schaffung des Binnenmarktes hängt in erster Linie von der Bereitschaft der Mitgliedstaaten ab, den Grundsatz des freien Warenverkehrs, so wie er im Vertrag vorgeschrieben ist, zu beachten. Dieser Grundsatz ermöglicht es der Kommission, die Beseitigung aller ungerechtfertigten Handelshemmnisse zu verlangen, reicht aber nicht aus, soweit Handelshemmnisse zur Wahrung eines zwingenden Erfordernisses im Sinne des Vertrages gerechtfertigt sind"122.

119

Vgl. auch Matthies, in: Grabitz, EWGV, Art. 30 Rn. 25.

120

ABl. EG Nr. C 256 v. 03.10.1980, S. 2 (3).

121

Weißbuch, Kom. (85) 310 eng. v. 14.06.1985, Rn. 65.

122

Weißbuch, a.a.O., Rn. 66.

122

2. Kapitel: Rechtsangleichung im Bereich technischer Regeln

In der Einleitung zu ihrem Grünbuch äußert sich die Kommission zu diesem Thema folgendermaßen 123: „Die Rechtsangleichung auf Gemeinschaftsebene greift nur aunahmsweise und nur da ein, wo die Ziele der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften nicht gleich sind, und falls sie eingreift, so hat sich der EG-Gesetzgeber darauf zu beschränken, die aus Gründen der Sicherheit, Gesundheit usw. erforderlichen Anforderungen festzulegen; ... Nehmen wir als Beispiel die elektrischen Haushaltsgeräte. Die technische Sicherheit erfordert, daß die Anschlußleitung eine dritte Ader erhält, die mit der Erde verbunden wird. Bevor die Kommission gesetzgeberische Initiativen ergreift, wird sie prüfen, ob alle zwölf Mitgliedstaaten eine dritte Ader vorschreiben. Ist dies der Fall, bedarf es keiner Rechtsangleichung. Ist dies nicht der Fall, so wird sich der EG-Gesetzgeber darauf beschränken, eine dritte Ader gemeinschaftsweit vorzuschreiben, ..." Schließlich lautet es in der Begründung zur „Modellrichtlinie" 124 : „Die Mitgliedstaaten haben die Aufgabe, in ihrem Hoheitsgebiet für die Sicherheit von Personen, Haustieren und Gütern (zu Hause, am Arbeitsplatz usw.) oder die Beachtung anderer wesentlicher Anforderungen zum Schutz der Gesundheit, der Verbraucher, der Umwelt usw. vor den Gefahren zu sorgen, die Gegenstand der Richtlinie sind. Die einzelstaatlichen Schutzmaßnahmen müssen vereinheitlicht werden, um den freien Warenverkehr zu gewährleisten...". Diese Äußerungen zeigen in aller Deutlichkeit, daß es sowohl dem Rat als auch der Kommission im Bereich der technischen Vorschriften in erster Linie um die Beseitigung solcher Handelshemmnisse geht, die nach der „Cassis-deDijon-Rechtsprechung" des EuGH nicht vom Verbot des Art. 30 EWGV erfaßt werden. Selbst wenn im Einzelfall die Harmonisierungspolitik über diese Grenzen hinausreichen würde, so stünde die Sperrwirkung des Art. 30 EWGV einer Rechtsangleichung dann nicht im Wege, wenn Ziel eines solchen Vorgehens die Vereinheitlichung der nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften auf einem höheren Schutzniveau ist, als dies über das unmittelbare Verbot des Art. 30 EWGV erreicht werden kann. Im Ergebnis sind den Gemeinschaftsorganen bei der Umsetzung der „Neuen Konzeption" auch durch den Art. 30 EWGV keine relevanten Grenzen gesetzt.

123

Vgl. Mitteilung der EG-Kommission zum Ausbau der europäischen Normung — Grünbuch —, Kom (90) 456 endg. v. 16.10.1990, ABl. EG Nr. C 20 v. 28.01.1991, S. 1 (3). 124 ABl. EG Nr. C 136 v. 04.06.1985, S. 3, 1. Erwägungsgrund; vom Rat genehmigt in seiner Entschließung v. 07.05.1985, ABl. EG Nr. C 136 v. 04.06.1985, S. 1.

§ 3 Das Konkurrenzverhältnis des Art. 100 a EWGV

123

IV; Art. 235 EWGV Nach Art. 235 EWGV kann der Rat geeignete Vorschriften erlassen, soweit ein Tätigwerden der Gemeinschaft erforderlich erscheint, um im Rahmen des Gemeinsamen Marktes eines ihrer Ziele zu verwirklichen. Bereits seinem Wortlaut nach handelt es sich bei dem Art. 235 EWGV um eine Generalklausel, die gegenüber spezielleren Vorschriften des EWG-Vertrages nur subsidiär zur Anwendung gelangen kann. Soweit daher bereits nach Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV eine Rechtsangleichung durch den Rat zulässig ist, kann sich sinnvollerweise die Frage nach einem Konkurrenzverhältnis beider Regelungen gar nicht stellen. Interessant kann daher allenfalls sein, ob dem Art. 235 EWGV im Bereich der „Neuen Konzeption" auch über den Anwendungsbereich des Art. 100 a EWGV hinaus noch eine eigenständige Bedeutung zukommen kann. Vor dem Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte wurde insoweit die Frage diskutiert, ob Art. 235 EWGV nicht für die Fälle als Ermächtigungsgrundlage zur Anwendung gelangen kann, in denen der Erlaß von Verordnungen oder Entscheidungen anstelle oder jedenfalls neben den in Art. 100 EWGV als Rechtsangleichungsmittel allein vorgesehenen Richtlinien erforderlich erscheint 125. Nach der Einfügung des Art. 100 a EWGV in den EWG-Vertrag dürfte sich diese Streitfrage erledigt haben. Nach dieser Vorschrift kann der Rat „Maßnahmen" erlassen, er ist mithin also nicht mehr nur auf das Mittel der Richtlinie beschränkt, sondern kann, sofern er dies für erforderlich hält, auch auf die Verordnung oder die Entscheidung als Rechtsangleichungsmittel zurückgreifen. Daraus folgt, daß hinsichtlich der materiellen Voraussetzungen für eine Rechtsangleichung dem Art. 235 EWGV bei der Verwirklichung des in der „Neuen Konzeption" vorgesehenen Programms keine selbständige Bedeutung mehr zukommen wird 1 2 6 .

125 Diese Frage bejahend EuGH RS. 8 / 73, HZA Bremerhaven. / .Massey, Urt. v. 12.07.1973, Slg. S. 897 (902); Beuve-Méry , in: KSE Bd. 11, S. 720 f.; Röhling, S. 101; Schwartz, in: FS. f. Caemmerer, S. 1071 ff.; Oppermann, Europarecht, Rn. 1090; Langeheine, in: Grabitz, EWGV, Art. 100 Rn. 80. A.A. dagegen Biilow, in: KSE Bd. 11, S. 772, der davon ausgeht, daß in Art. 100 EWGV dem Rat bewußt lediglich die Richtlinienform als Rechtsangleichungsmittel zur Verfügung gestellt worden sei, um „unmittelbare Einbrüche in die nationale Gesetzgebung auf diesem heiklen Sektor zu vermeiden". Hieraus folgert Bülow, daß die Ersetzung der Richtlinienform durch einen anderen Rechtsetzungsakt auf der Grundlage des Art. 235 EWGV unzulässig sein müsse. 126

Im Ergebnis ebenso Pipkorn, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 100 a Rn. 49.

124

2. Kapitel: Rechtsangleichung im Bereich technischer Regeln

§ 4 Ergebnis Abschließend läßt sich festhalten, daß Art. 100 a EWGV auf dem Gebiet der technischen Regeln eine umfassende Vereinheitlichung ermöglicht. Ausgeklammert bleiben müssen allerdings Normen als solche, soweit sie nicht in irgendeiner Form staatlich rezipiert worden sind. Im Hinblick auf andere Vertragsvorschriften schränkt nur der Art. 30 EWGV den Anwendungsbereich des Art. 100 a Absatz 1 Satz EWGV ein. Diese Einschränkung führt bei der Umsetzung der ,»Neuen Konzeption" jedoch zu keinen praktischen Konsequenzen. Die Rechtsangleichung technischer Handelshemmnisse kann vollinhaltlich auf der Grundlage des Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV erfolgen. Eine Harmonisierung technischer Vorschriften oder staatlich rezipierter Normen kann daher in Zukunft nur mehr über Rechtsangleichungsmaßnahmen nach Art. 100 a EWGV erfolgen. Ein Rückgriff auf andere Vertragsvorschriften, insbesondere auf den Art. 100 EWGV, ist selbst bei Vorliegen ihrer Tatbestandsvoraussetzungen ausgeschlossen.

. Kapitel

Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände in die Rechtsangleichungsmaßnahmen im Bereich der „Neuen Konzeption"

§ 1 Vorbemerkung Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV enthält zwar eine umfassende Befugnis, Rechtsangleichungsmaßnahmen zur Harmonisierung technischer Regeln zu ergreifen und durchzuführen. Allerdings ist Art. 100 a EWGV eine Kompetenzvorschrift, die selber nichts darüber aussagt, ob auch die mit der „Neuen Konzeption" beschlossene Strategie zur Rechtsangleichungspolitik, insbesondere die Technik der Generalklauselmethode mit einer Verweisung auf private Normen, sich noch innerhalb der Grenzen des nach der Struktur des EWG-Vertrages Zulässigen bewegt. Innerhalb der Literatur haben sich mit dieser Problematik bislang nur wenige Autoren und dies auch nur ansatzweise auseinandergesetzt1. Dieses erscheint umso bemerkenswerter, als die Technik des Normenverweises als solche sowohl im europarechtlichen 2 als auch im nationalen Schrifttum 3 bereits des öfteren Gegenstand juristischer Untersuchungen war. Ausgangspunkt für die Beurteilung der Vertragskonformität des hier zur Diskussion stehenden Verweisungsmodells soll die Frage sein, welche Art der Ver-

1 Vgl. Bruha, ZaöRV Bd. 46 (1986), S. 1 (24 f.); Joerges / Falke / Micklitz / Brüggemeier, S. 380 ff. 2

Lukes , Tragweite, S. 213 (227 ff.); Röhling, S. 113 ff.; Starkowski, S. 104 ff.; Schnieder, S. 88 ff.; Grabitz, Harmonisierung, S. 72 ff.; Seidel, NJW 1981, S. 1120 (1123, inbes. 1125); zur grundsätzlichen Problematik einer Einbeziehung Privater in die Rechtsetzung im EWG-Bereich vgl. auch Hilf, Organisationsstruktur, S. 166 ff. 3 Aus dem umfangreichen Schrifttum vgl. nur Conradi, S. 51 ff.; Nickusch, NJW 1967, S. 811 ff.; Ossenbühl, DVB1 1967, S. 401 ff.; Karpen, Verweisung, S. 123 ff.; Hönning, S. 64 ff.; Backherms, D I N als Beliehener, S. 68 ff.; Arndt, JuS 1979, S. 784 ff.; Marburger, Regeln der Technik, S. 390 ff.; ders., Gleitende Verweisung, S. 30 ff.; ders., BB Beilage 4 / 1985, S. 16 (21 f.); ders., Formen, Verfahren und Rechtsprobleme, S. 27 (38 ff.); Herschel, Technische Überwachung, S. 125 ff.; Schnapauff, S. 40 (42 ff.); Strecker, S. 79 ff.; Wilke, S. 11 (16 ff.); Schaefer, S. 100 ff.

126

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsverbände

Weisung die „Neue Konzeption" vorsieht. Im Anschluß hieran gilt es zu untersuchen, ob den in Bezug genommenen Europäischen Normen den Mitgliedstaaten gegenüber überhaupt eine rechtliche Wirkung zuzuschreiben ist und, soweit dies der Fall sein sollte, wie diese Rechtswirkung rechtlich einzuordnen ist. Auf der Grundlage der in diesem Bereich im einzelnen ermittelten Ergebnisse kann dann geklärt werden, ob die Einbeziehung privater Normungsverbände nach der Ausgestaltung der „Modellrichtlinie" nicht im Ergebnis eine, zumindest versteckte, Verlagerung von Rechtsetzungsbefugnissen darstellt. Zum Abschluß der Untersuchung ist dann in jedem Fall näher auf die Frage einzugehen, ob die praktizierte Rechtsangleichungspolitik überhaupt mit dem EWG-Vertrag zu vereinbaren ist.

§ 2 Die Verweisung auf Normen als Mittel zur Rechtsangleichung /. Die Verweisung 1. Begriff Der Begriff „Verweisung" ist inhaltlich gleichbedeutend mit dem der Bezugnahme. Er umfaßt jede Form eines gesetzlichen „Nennens" einer anderen Vorschrift oder Regelung derselben oder einer anderen Gesetzesorder oder auch einer für einen anderen Bereich getroffenen Regelung4. Dabei ist zu unterscheiden zwischen derjenigen Vorschrift, die die Verweisung ausspricht, die sogenannte Verweisungsnorm, Verweisungsgrundlage 5, ergänzte Rechtsnorm 6 oder einfach die verweisende Vorschrift, und derjenigen Vorschrift, Regelung oder Norm, auf die verwiesen wird. Letztere wird auch bezogene Vorschrift oder Regel7, Verweisungsobjekt 8, Hilfsnorm oder ergänzende Anordnung genannt9.

4 Vgl. auch OssenbühU DVB1 1967, S. 401; Karpen, Verweisung, S. 19; Mohr, Technische Normen, S. 28. 5

Vgl. zu dieser Terminologie Ossenbühl, DVB1 1967, S. 401; Karpen, Verweisung, S. 19; Marburger, Regeln der Technik, S. 387; Mohr, Technische Normen, S. 29 Fn. 18. 6

So BVerwG NJW 1962, S. 506.

7

Vgl. Marburger,

8

Vgl. OssenbühU DVB1 1967, S. 401.

9

Regeln der Technik, S. 387.

Vgl. BVerwG, NJW 1962, S. 506 sowie die Überblicke bei Karpen, Verweisung, S. 19 und Mohr, Technische Normen, S. 29 Fn. 19.

§ 2 Die Verweisung als Mittel zur Rechtsangleichung

127

Die Gründe für eine normative Bezugnahme auf technische Normen sind vielfältig und ergeben sich unmittelbar aus der Funktion der Verweisungstechnik. Zunächst dient die Verweisung der Rationalisierung, da sie dem Gesetzgeber die Ausarbeitung oftmals komplizierter technischer Einzelregelungen erspart. Mit der hierdurch zu erzielenden Entlastung des Gesetzgebers korrespondiert die zweite Funktion der Verweisung, nämlich die Entlastung des Gesetzestextes. Dieser kann durch Verweisungen von komplizierten und häufig auch sehr umfangreichen Detailbestimmungen freigehalten werden, so daß sich das Gesetz auf die Beschreibung der grundlegenden Anforderungen beschränkt 10. Darüber hinaus ermöglicht die Verweisungstechnik, insbesondere dann, wenn der Gesetzgeber auf die jeweils gültige Fassung einer Norm verweist, eine flexible Anpassung des Gesetzesinhalts an den sich ständig fortentwickelnden Stand der Technik. Schließlich kann sich der Gesetzgeber durch eine Verweisung auf Normen den Sachverstand fachkundiger, an der Erarbeitung von Normen maßgeblich beteiligter Kreise zu eigen machen11.

2. Erscheinungsformen Unter dem Oberbegriff Verweisung lassen sich verschiedene Erscheinungsformen einer Inbezugnahme von technischen Regeln unterscheiden. So kann man zum einen nach der Art der Verweisung zwischen statischen und dynamischen Verweisungen differenzieren, während sich zum anderen in funktionaler Hin-

10 Vgl. hierzu Karpen y Verweisung, S. 14 f.; Marburger, Regeln der Technik, S. 379; Mohr, Technische Normen, S. 29. An diesem Punkt setzt aber auch Kritik an der Verweisungstechnik an. So dient diese Technik zwar der Klarheit und dem Verständnis des Gesetzes. Andererseits ist mit dieser Gesetzgebungsmethode aber auch die umständliche Arbeit des „Vorschriftenblätterns" verbunden. Erst recht wird diese Arbeit erschwert, wenn der Gesetzgeber auf von privaten Verbänden erstellte Normen verweist, da deren Inhalt in den amtlichen Veröffentlichungssammlungen nicht mitgeteilt wird. Müller, Gesetzgebungstechnik, S. 167 bezeichnet denn auch die Verweisung als die „undurchsichtigste Art der Behandlung von Regeln" und führt weiter aus: „Der Gesetzgeber macht es sich bequem auf Kosten des Lesers, der blättern, nachschlagen, bestellen oder reisen muß... Verweisungen auf Regeln privatrechtlicher Verbände sind anders jedenfalls darin, daß sie einen Rechtsunterworfenen ungleich härter treffen: Im besten Fall findet er das Verweisungsobjekt in einem Ministerialblatt. Ist dieses nicht der Fall, so wird er wohl DIN-Normen kaum in einer öffentlichen Bibliothek entdecken. Er muß sie bestellen — bei einer Bezugsquelle, die frei entscheiden darf, ob, wann und zu welchem Entgelt sie liefert,...". Schnapauff\ S. 41, bezeichnet die Verweisung als „grobe Unhöflichkeit gegenüber dem Rechtssuchenden"; vgl. zum Ganzen auch Staats, ZRP 1978, S. 59 (60). 11

Vgl. auch Karpen, Verweisung, S. 15; Marburger,

Regeln der Technik, S. 379.

1 2 8 3 . Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsverbände

sieht die rechtsnormkonkretisierenden von den rechtsnormergänzenden Verweisungen unterscheiden lassen12.

a) Statische und dynamische Verweisung Die statische oder starre Verweisung ist dadurch gekennzeichnet, daß sie sich auf die ganz bestimmte Fassung einer einzelnen Norm oder eines ganzen Normenwerkes bezieht13. Dieses geschieht dadurch, daß die als Verweisungsobjekt bezogene Norm nach dem Ausgabedatum und der Normblattnummer sowie gegebenenfalls zusätzlich nach ihrem Titel und ihrer Fundstelle bezeichnet wird. In diesem Fall ist das Verweisungsobjekt also der bestimmte, feststehende Inhalt einer Norm. Spätere Änderungen der Norm berühren den Inhalt der Verweisungsgrundlage nicht; maßgebend bleibt allein der Inhalt der bezogenen Norm. Als Beispiele für statische Verweisungen können die Regelungen der §§ 1 Absatz 2, 2 EinhV 1 4 zitiert werden. Nach § 1 Absatz 2 EinhV gelten für die Einheiten in Anlage 1 die in D I N 1301, Teil 1, Ausgabe Dezember 1985, wiedergegebenen Definitionen und Bezeichnungen. Gemäß § 2 EinhV dürfen in Datenverarbeitungsquellen mit

12 Die Bezeichnungen „normkonkretisierende" und „normergänzende" Verweisung sind von Marburger, Regeln der Technik, S. 385, geprägt worden. Die Begriffe sind aussagekräftiger als die früher verwendeten Bezeichnungen „mittelbare" und „unmittelbare" Verweisung und haben sich inzwischen in der Literatur allgemein durchgesetzt. Vgl. Seidel, NJW 1981, S. 1120 (1123); Hunscha, S. 75 (76); Marburger, Gleitende Verweisung, S. 27 (31 ff.); ders., Formen, Verfahren und Rechtsprobleme, S. 27 (38 f.); Meyer, S. 88 (90); Schnapauff, S. 42 ff.; Fischer, Regeln der Technik, S. 30 ff.; Mohr, Technische Normen, S. 29. Zur alten Terminologie vgl. die Darstellungen bei Ullrich, S. 32 ff.; Harming , S. 64 ff.; aus der jüngeren Literatur noch Brinkmann, Rechtliche Aspekte, S. 17. Vgl. auch Backherms y D I N als Beliehener, S. 68 ff., der die statische und dynamische Verweisung jeweils mit dem Begriff „unmittelbare" Verweisung umschreibt und unter einer „mittelbaren" Verweisung eine staatliche Rezeption von Normen versteht, ohne in diesem Bereich weiter zu differenzieren. Noch anders Karpen, Verweisung, S. 24, der nach den Arten der Unvollständigkeit der Verweisungsvorschrift zwischen Tatbestands- und Rechtsfolgenverweisungen differenzieren will. Wieder anders Lukes , Tragweite, S. 213 (219 ff.), der zwischen einer unmittelbaren und mittelbaren Rechtserheblichkeit von Normen durch Verweisung unterscheidet. 13

Vgl. OssenbühU DVB1 1967, S. 401; Karpen, Verweisung, S. 67; Hönning, S. 64 f.; Backherms, D I N als Beliehener, S. 68; Marburger, Regeln der Technik, S. 384; ders.. Formen, Verfahren und Rechtsprobleme, S. 27 (38 f.); Fischer, Regeln der Technik, S. 29; Mohr, Technische Normen, S. 30. 14 Ausfuhrungsverordnung zum Gesetz über Einheiten im Meßwesen, — Einheitenverordnung v. 13.12.1985, BGBl. I, S. 2272.

§ 2 Die Verweisung als Mittel zur Rechtsangleichung

129

beschränktem Zeichenvorrat die Einheitennamen und Vorsätze nach D I N 66030, Ausgabe November 1980, dargestellt werden. Ergänzt werden diese Regelungen durch die in § 4 EinhV erfolgende Wiedergabe der Bezugsquelle. In dieser Vorschrift findet sich nämlich der Hinweis, daß die in Bezug genommenen Normen im Beuth-Verlag GmbH, Berlin und Köln erschienen und beim deutschen Patentamt in München archivmäßig gesichert niedergelegt sind. Im Unterschied zur starren Verweisung ist die dynamische, antizipierende oder auch gleitende Verweisung 15 dadurch gekennzeichnet, daß der Gesetzgeber auf ein Verweisungsobjekt in seiner Jeweils geltenden Fassung" Bezug nimmt. Dieses bedeutet, daß ohne ein erneutes gesetzgeberisches Tätigwerden alle späteren Änderungen des betreffenden Verweisungsobjektes von der ursprünglichen Verweisung umfaßt sind. Zweifelhaft könnte der dynamische Charakter einer Verweisung dann sein, wenn der Gesetzgeber in der Verweisungsgrundlage das Verweisungsobjekt nicht ausdrücklich in seiner jeweils geltenden Fassung in Bezug nimmt, sondern sich darauf beschränkt, auf ein Bezugsobjekt unter Angabe beispielsweise der Normennummer und des Normentitels oder einfach auf ein ganzes Regelwerk zu verweisen. In diesen Fällen läßt die Formulierung des Gesetzestextes nicht erkennen, ob die zur Zeit seines Inkrafttretens geltende Fassung oder die jeweilige Fassung des Verweisungsobjektes mit allen zukünftigen Änderungen Bestandteil der Verweisungsrechtsnorm sein soll. Ein Beispiel hierfür findet sich in der zweiten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Förderung der Energiewirtschaft 16. Dort heißt es in § 1 Absatz 2 Satz 1: „Die Einhaltung der allgemein anerkannten Regeln der Technik oder des in der Europäischen Gemeinschaft gegebenen Stands der Sicherheitstechnik wird vermutet, wenn die technischen Regeln des Verbandes Deutscher Elektrotechniker (VDE) beachtet worden sind" 17 .

15 Zur Abgrenzung der starren von der gleitenden Verweisung sowie allgemein zur Terminologie vgl. Ossenbühl, DVB1 1967, S. 401; Karpen, Verweisung, S. 67 ff.; Schnieder, S. 87; Marburger, Regeln der Technik, S. 384; ders., Gleitende Verweisung, S. 29; ders., BB Beilage 4 / 1985, S. 16 (21); Schnapauff, S. 40 (47 ff.); Wilke, S. 11 (13); Fischer, Regeln der Technik, S. 29; Mohr, Technische Normen, S. 30. 16 2. D V O zum EnWG v. 31.08.1937, RGBl. I, S. 919 in der Neufassung v. 14.01.1987, BGBl. I, S. 146. 17 Eine ähnliche Regelung enthält § 2 Absatz 2 2. D V O zum EnWG hinsichtlich der Errichtung und Unterhaltung von Anlagen zur Erzeugung, Fortleitung und Abgabe von Gas: „Die Einhaltung der allgemein anerkannten Regeln der Technik wird vermutet, wenn die technischen Regeln des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfachs e.V. (DVGW) beachtet worden sind".

9 Breulmann

130

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsverbände

In der deutschen Literatur ist vereinzelt die Ansicht vertreten worden, daß in solchen Fällen aufgrund der gegen die dynamische Verweisung bestehenden grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken eine „Vermutung" für das Vorliegen einer statischen Verweisung sprechen müsse18. Dieser These kann aber jedenfalls für die an dieser Stelle zur Diskussion stehende Problematik einer Inbezugnahme technischer Normen nicht zugestimmt werden 19. Schriftlich fixierte technische Regeln sind aufgrund der sich permanent weiterentwikkelnden technischen Bedingungen bereits bei ihrer Aufstellung nicht als für einen längeren Zeitraum geltende, sondern als in relativ kurzen Zeitabständen revisions- und korrekturbedürftige Bestimmungen konzipiert^ 0. Sofern der Gesetzgeber keine abweichende Regelung trifft, verweist er gerade deshalb auf technische Regeln, um die Anpassung des Inhalts der verweisenden Vorschrift an den fortschreitenden Stand der Technik ohne die Förmlichkeiten eines Gesetzgebungsverfahrens sicherzustellen 21. Dieses gesetzgeberische Motiv läßt sich für die Bundesrepublik besonders deutlich anhand der Regelung des § 5 HeizkostenV O 2 2 konkretisieren. Nach der ursprünglichen Fassung des § 5 Absatz 1 HeizkostVO mußten die Ausstattungen zur Verbrauchserfassung und ihre Verwendung den Mindestanforderungen genügen, die sich aus D I N 4713, Teil 2-4, Ausgabe Dezember 1980, ergeben. In der Fassung des Art. 3 der Ver-

18

Vgl. Karpen, Verweisung, S. 136 f., der diese Vermutung immer dann eingreifen lassen will, wenn die Identität des Normsetzers von Verweisungsgrundlage und Verweisungsobjekt nicht gewahrt ist. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann in diesem Zusammenhang allerdings nicht als Beleg für die Richtigkeit dieser These herangezogen werden. Das BVerfG betont zwar, daß in dem Fall, in dem eine Vorschrift mehrere Auslegungsmöglichkeiten (d.h. hier also entweder als dynamische oder als statische Verweisung) zuläßt, eine Bezugnahme auch als eine verfassungsrechtlich unbedenkliche statische Verweisung ausgelegt werden könne. Doch lag der zu entscheidende Fall insofern anders, als es nicht um eine Verweisung auf überbetriebliche technische Normen, sondern um eine solche von Bundes- auf Landesrecht ging. Vgl. BVerfGE 47, S. 285 (317). 19

Ablehnend auch die ganz h.L., vgl. BayVGH, BayVBl, 1960, S. 321 f.; Ossenbühl, DVB1 1967, S. 401 (403); Müller, Gesetzgebungstechnik, S. 174; Backherms, D I N als Beliehener, S. 71; Schmedes S. 87; Marburger, Regeln der Technik, S. 384; ders., Gleitende Verweisung, S. 29; Mohr, Technische Normen, S. 30. Differenzierend BGHZ 15, S. 221 (223); der BGH stellt auf die geplante Geltungsdauer der bezogenen Norm als insoweit entscheidendes Kriterium ab. 20 Vgl. für die Europäischen Normen, insbesondere für die Europäischen Vornormen bereits oben S. 50. 21 22

Vgl. auch Marburger,

Regeln der Technik, S. 384; Mohr, Technische Normen, S. 30.

Verordnung über die verbrauchsabhängige Abrechnung der Heiz- und Warmwasserkosten V O über die Heizkostenabrechnung v. 23.02.1981, BGBl I, S. 261, in der Fassung v. 20.01.1989, BGBl. I, S. 116.

§ 2 Die Verweisung als Mittel zur Rechtsangleichung

131

Ordnung zur Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften vom 05.04.198423 hat der Gesetzgeber diese Regelung geändert. Nach dem heute maßgeblichen Wortlaut des § 5 Absatz 1 Satz 2 HeizkostenVO dürfen, soweit nicht eichrechtliche Bestimmungen zur Anwendung kommen, nur solche Ausstattungen zur Verbrauchserfassung verwendet werden, hinsichtlich derer sachverständige Stellen bestätigt haben, daß sie den anerkannten Regeln der Technik entsprechen oder daß ihre Eignung auf andere Weise nachgewiesen wurde. Zwar fehlt hier im Wortlaut dieser Verordnung die ausdrückliche Anordnung, daß als anerkannte Regeln der Technik auch die DIN-Normen gelten. Ein „echter" Fall der Verweisung liegt insoweit also überhaupt nicht vor 24 . Interessant ist diese Änderung des § 5 Absatz 1 HeizkostenVO aber dennoch, wenn man einmal die amtliche Begründung für diese Neufassung berücksichtigt. In dieser heißt es, daß es sich zwischenzeitlich gezeigt habe, daß die Ausstattungen zur Verbrauchserfassung einem relativ schnellen Wandel der Technik unterliegen. Dieser Entwicklung könne mit einer starren Verweisung auf eine DIN-Norm aus dem Jahre 1980 nicht hinreichend genug Rechnung getragen werden. Da vermieden werden solle, daß bei einer dem jeweils neuesten Stand der Technik entsprechenden Fortentwicklung einer DIN-Norm jedesmal auch eine Änderung der Heizkostenverordnung notwendig werde, werde in der Neuregelung auf die starre Inbezugnahme dieser DIN-Norm zukünftig verzichtet. Stattdessen verweise man auf die anerkannten Regeln der Technik, wozu auch weiterhin namentlich die DIN-Normen zu zählen seien. Auch wenn der Verordnungstext selbst keine Verweisung auf Normen enthält, so zeigt diese Begründung dennoch, daß es bei einer Inbezugnahme technischer Regeln ohne Benennung ihres Ausgabedatums regelmäßig der gesetzgeberischen Intention widersprechen würde, von einer starren Verweisung auszugehen oder auch nur von einer Vermutung für das Vorliegen einer starren Verweisung sprechen zu wollen. Selbst wenn also eine dynamische Verweisung verfassungswidrig sein sollte und damit wirkungslos bleiben müßte, so wäre dieses Fehlschlagen der legislatorischen Intentionen gerade auch aus der Sicht des Gesetz-

23 24

BGBl. I, S. 546.

Diese Unterscheidung wird in der Literatur häufig nicht genau getroffen. Vgl. Ossenbühl DÖV 1981, S. 1 (2); Nicklisch, BB 1983, S. 261 (262). Der Begriff der Verweisung ist aber gerade dadurch gekennzeichnet, daß er das „Nennen" einer anderen Regelung voraussetzt. Die sogenannte „einfache Generalklauselmethode" ohne die ausdrückliche Nennung einer anderen Vorschrift oder Norm ist somit kein Fall der Verweisung. In diesen Fallkonstellationen werden zwar häufig Normen zur Ermittlung des Inhalts derartiger unbestimmter Gesetzesbegriffe herangezogen, doch ist dieses eine Frage der Auslegung eines Gesetzes und nicht eine solche der Verweisung. Kritisch auch Meyer, S. 90; Wilke, S. 14 f., 19.

1 3 2 3 . Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsvebände

gebers wohl eher hinnehmbar als eine in keinem Falle beabsichtigte Bindung der Rechtsunterworfenen an eine unter Umständen längst überholte technische Regel 25 . Im Ergebnis liegt eine dynamische Verweisung also auch dann vor, wenn auf eine Norm ohne ausdrückliche Angabe ihres Erscheinungsdatums verwiesen wird. Der oben zitierte § 1 Absatz 2 der 2. DVO zum EnWG enthält demnach eine dynamische und zwar eine rechtsnormkonkretisierende 26 dynamische Verweisung.

b) Die rechtsnormergänzende

Verweisung

Die rechtsnormergänzende Verweisung ist dadurch charakterisiert, daß der Inhalt der Verweisungsgrundlage entweder im Tatbestand oder auf der Rechtsfolgenseite nur unvollständig formuliert ist. Die durch das Gesetz statuierten Verhaltenspflichten der Rechtsnormadressaten werden durch das Gesetz selbst nicht in abschliessender Form bestimmt. Vielmehr bedarf es immer erst eines Rückgriffes auf die bezogene technische Norm, um den konkreten Inhalt des Gesetzesbefehls ermitteln zu können. In diesem Sinne ergänzt und vervollständigt die in Bezug genommene technische Norm die gesetzliche Verweisungsgrundlage, so daß der Inhalt der bezogenen Norm Bestandteil der Verweisungsvorschrift wird und dadurch an deren Geltungsanordnung teilnimmt 27 . Die rechtsnormergänzende Verweisung kann in ihrer Erscheinungsform sowohl als dynamische wie auch als statische Bezugnahme ausgestaltet sein. Die wohl bekannteste rechtsnormergänzende statische Verweisung enthält § 35 h Absatz 1 StVZO 28 . Nach dieser Vorschrift sind in Kraftomnibussen Verbandskästen mitzuführen, die selbst und deren Inhalt an Erste-Hilfe-Material den Normblättern 13163, Ausgabe Dezember 1987, oder D I N 13164, Ausgabe Dezember 1987, entsprechen müssen. Eine weitere rechtsnormergänzende statische Verweisung enthält die 1. Verordnung zur Durchführung des BImSchG 29 . In dieser bestimmt § 2 Nr. 12 1. BImSchVO, daß eine Rußzahl

25

So zutreffend auch Marburger, Regeln der Technik, S. 384 Fn. 34 a.E.

26

Vgl. zum Begriff rechtsnormkonkretisierend unten S. 136 ff.

27 Vgl. zur Terminologie Marburger, Regeln der Technik, S. 385; ders., Gleitende Verweisung, S. 31; ders., BB Beilage 4 / 1985, S. 16 (21); ders., Formen, Verfahren und Rechtsprobleme, S. 27 (39); Schnapauff, S. 40 (42); Mohr, Technische Normen, S. 29. 28 StVZO in der Fassung der Bekanntmachung v. 28.09.1988, BGBl. I, S. 1793, zuletzt geändert durch V O v. 26.10.1990. BGBl. I, S. 2327. 29

1. BImSchVO - Verordnung über Kleinfeuerungsanlagen v. 15.07.1988, BGBl. I, S. 1059.

§ 2 Die Verweisung als Mittel zur Rechtsangleichung

133

die Kennzahl für die Schwärzung ist, die die im Abgas enthaltenen staubförmigen Emissionen bei der Rußzahlbestimmung nach D I N 51402, Teil 1, Ausgabe Oktober 1986, hervorrufen. Im Anschluß hieran ordnet § 3 Absatz 1 Nr. 9 der 1. BImSchVO an, daß in Feuerungsanlagen nach § 1 nur bestimmte Brennstoffe eingesetzt werden dürfen, unter anderem auch Heizöl EL nach D I N 41603, Teil 1, Ausgabe Dezember 1981. In § 21 der 1. BImSchVO findet sich dann unter der Überschrift „Zugänglichkeit der Norm- und Arbeitsblätter" der Hinweis, daß die in der 1. BImSchVO genannten Normblätter in der Beuth-Vertriebs GmbH, Berlin und Köln, erschienen und beim deutschen Patentamt in München archivmäßig gesichert hinterlegt sind 30 . Eine rechtsnormergänzende dynamische Verweisung findet sich beispielsweise in § 5 Absatz 7 ZeltV Niedersachsen 31. Nach dieser Vorschrift muß auf öffentlichen Zeltplätzen für jeweils bis zu 100 Personen Höchstbelegungsstärke mindestens ein Feuerlöscher nach D I N 14406 an einer leicht zugänglichen Stelle angebracht sein. Ebenfalls dieser Fallgruppe ist § 9 Absatz 5 der hessischen Verordnung über die Verwendung von Benzol 32 zuzuordnen 33. Rechtsriormergänzende dynamische Verweisungen lassen sich jedoch nicht nur auf der Länderebene, sondern auch Bundesebene nachweisen. Dieses läßt sich durch einen Blick auf die Eichordnung 34 belegen. So bestimmt § 15 Absatz 1

30 Vgl. auch § 12 Absatz 2 WärmeschutzV, 7. Verordnung über einen energiesparenden Wärmeschutz bei Gebäuden v. 24.02.1982, BGBl. I, S. 209: „Für Gebäude nach dieser Verordnung, für die nach Landesrecht keine Mindestanforderungen an den Wärmeschutz gelten, sind für die gegen die Außenluft oder Gebäudeteile mit wesenüich niedrigeren Innentemperaturen abgrenzenden Bauteile die Anforderungen der D I N 4108, Teil 2 — Wärmeschutz im Hochbau —, Ausgabe August 1981, Tabelle 1 und 2 zu beachten,... Die Norm ist im Beuth-Verlag GmbH, Berlin und Köln, erschienen und beim deutschen Patentamt in München archivmäßig gesichert niedergelegt". Vgl. auch die Anlage 1 zur WärmeschutzV. Dort werden Anforderungen zur Begrenzung der Wärmeverluste infolge Undichtheiten behandelt. Dabei bestimmt die Nr. 1, daß die Fugendurchlaßkoeffizienten der Fenster und Fenstertüren bestimmte Werte nicht überschreiten dürfen. Nach Nr. 2 hat der Nachweis nach Nr. 1 grundsätzlich durch ein Prüfzeugnis einer im Bundesanzeiger bekannt gemachten Prüfanstalt zu erfolgen. Nach Nr. 3 kann auf den Nachweis nach Nr. 2 verzichtet werden für Holzfenster mit Profil nach D I N 68121 — Holzfensterprofile — Ausgabe März 1973. Zusätzliche Beispiele finden sich bei Staats, ZRP 1978, S. 59 Fn. 4. 31

Verordnung über das Zelten v. 21.05.1968, Nds. GVB1., S. 87.

32

Verordnung v. 06.05.1949, Hess. GVB1. S. 39. Nach dieser Rechtsnorm muß die elektrische Einrichtung der Räume den Vorschriften des Verbandes deutscher Elektrotechniker (VDE 0165) für explosionsgefährdete Betriebsstätten entsprechen. 33 Zu weiteren, teilweise aufgrund von Gesetzesänderungen allerdings überholten Beispielen vgl. bei Marburger, Regeln der Technik, S. 393 f.; Fischer, Regeln der Technik, S. 29 Fn. 178; Mohr, Technische Normen, S. 40, inbes. Fn. 83. 34

V. 12.08.1988, BGBl. I, S. 1657 und Anlageband.

134

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsverbände

Satz 1 Eichordnung, daß Meßgeräte allgemein zur Eichordnung zugelassen sind, soweit dies in den Anlagen bestimmt ist. In Anlage 6 Abschnitt 5 Punkt 1 ordnet der Gesetzgeber an, daß Gas-Druckregelgeräte mit D I N — DVGW — Registernummer allgemein zur innerstaatlichen Eichung zugelassen sind. Hier erfolgt die Bezugnahme nicht durch eine unmittelbare Nennung einer Norm im Verweisungsgesetz, sondern nur mittelbar über die Einfügung eines qualifizierten Tatbestandsmerkmals, nämlich die Kennzeichnung der betreffenden Produkte mit dem DIN- bzw. DVGW-Zeichen. Nach § 3 der Richtlinie für die Erteilung des DIN-Prüf- und Überwachungszeichens ist für die Erteilung eines solchen Prüfzeichens vom Antragsteller der Nachweis zu erbringen, daß das Erzeugnis von einer von der Deutschen Gesellschaft für WarenkennzeichnungGmbH (DGWK) bezeichneten Prüfstelle geprüft worden und durch das Prüfungsergebnis der Nachweis erbracht ist, daß sämtliche in DIN-Normen festgelegte Anforderungen erfüllt sind 35 . Im Ergebnis bedeutet dies also, daß die betreffenden Meßgeräte nur dann zur Eichung zugelassen sind, wenn sie sämtlichen DIN-Normen in ihrer jeweils geltenden und damit neuesten Fassung entsprechen 36. Es liegt daher eine, wenn auch nicht leicht als solche erkennbare, dynamische rechtsnormergänzende Verweisung vor. Von den hier geschilderten Fällen der offenen rechtsnormergänzenden dynamischen Verweisung lassen sich jene einer versteckten rechtsnormergänzenden Verweisung abgrenzen 37. Diese Art der Verweisung zeichnet sich dadurch aus, daß ein Verweisungsgesetz eine technische Norm in einer bestimmten Form, also statisch, in Bezug nimmt, die so bezogene Norm aber ihrerseits auf andere technische Normen in ihrer jeweils geltenden Fassung, also dynamisch, verweist. Durch die in der bezogenen Norm vorgesehenen Unter- und Weiterverweisungen38 werden die so bezogenen Normen bzw. wird deren Inhalt selbst zum Bestandteil der unmittelbar gesetzlich in Bezug genommenen Norm. Eine verdeckte dynamische Verweisung liegt in diesen Fällen nur dann nicht vor,

35 Die Richtlinie v. 01.01.1975 ist abgedruckt in D I N — Grundlagen der Normungsarbeit des DIN, Normenheft 10, S. 129. 36 Vgl. zu dem ähnlich gelagerten Fall des § 23 Absatz 1 Bauprüfungsverordnung NW, V O v. 06.12.1984, GVB1. N W 774 / SGV 232 die Darstellung bei Mohr, Technische Normen, S. 41 Fn. 83. 37 Vgl. zu dieser Terminologie erstmals Marburger, Regeln der Technik, S. 388 f. Vgl. auch Meyer, S. 88 (91), der die Problematik als solche zwar erkennt, ohne daß er allerdings die Konsequenz zieht, daß es sich bei dieser Art der Verweisungstechnik um eine dynamische Verweisung handelt. 38

Zur Abgrenzung dieser Begriffe vgl. Karpen, Verweisung, S. 40 f.

§ 2 Die Verweisung als Mittel zur Rechtsangleichung

135

wenn diese in der bezogenen Norm erfolgende Bezugnahme auf eine oder mehrere andere Normen nur der bloßen Erläuterung dient, die das Verständnis und die Anwendung der ursprünglich unmittelbar durch das Gesetz bezogenen Norm erleichtern soll. Bei einer solchen Sachlage wird der Inhalt der weiterverweisenden Norm nämlich nicht vervollständigt, da eine Überarbeitung oder Neufassung der in Bezug genommenen Normen sich nicht auf den Inhalt des Verweisungsobjektes auswirkt. Es liegt dann trotz der Weiterverweisungen eine statische rechtsnormergänzende Verweisung vor 39 . Die überwiegende Mehrzahl der technischen Normen verweisen jedoch normergänzend, also zur Vervollständigung ihres Inhalts auf andere technische Normen, und zwar in dynamischer Form 40 . Da in diesen Fällen trotz der Angabe des Ausgabedatums der Inhalt der gesetzlich bezogenen Normen nicht abschließend fixiert ist, kann sich die von der Verweisungsgrundlage getroffene Regelung unabhängig vom Willen des Gesetzgebers ändern, wenn nämlich ein Normungsverband die im Wege der Unter- bzw. Weiterverweisung bezogenen Normen abändert. Es handelt sich dann mithin um eine dynamische Verweisung. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für eine versteckte rechtsnormergänzende dynamische Verweisung bietet die Regelung des § 2 Absatz 1 Der BenzinqualitätsVerordnung 41. In dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber angeordnet, daß unverbleiter Ottokraftstoff im geschäftlichen Verkehr nur an den Verbraucher veräußert werden darf, wenn er hinsichtlich seines Gehalts an sauerstoffhaltigen organischen Verbindungen, seines Gesamtgehalts an Sauerstoff, seines Benzolgehalts und, sofern es sich um einen Superkraftstoff handelt, auch hinsichtlich seiner Klopffestigkeit der D I N 51607, Ausgabe Januar 1988 (Anlage 1 a) entspricht 42. Obwohl der Gesetzgeber hier insofern besonders sorgfaltig vorgegangen ist, als er die in Bezug genommene Norm als Anlage ebenfalls im Bundesgesetzblatt veröffentlicht hat, ist ihm doch entgangen, daß die DINNorm 51607 zahlreiche Weiterverweisungen enthält. Bei dieser DIN-Norm handelt es sich um die in das deutsche Normenwerk transformierte EN 228. Diese Norm enthält aber hinsichtlich der im einzelnen zu beachtenden Prüfverfahren

39

Vgl. Marburger,

Regeln der Technik, S. 389; Mohr, Technische Normen, S. 40.

40

Vgl. Marburger,

a.a.O.; Mohr, a.a.O.

41

V O über die Beschaffenheit und Auszeichnung der Qualitäten von Ottokraftstoffen — BenzinqualitätsVO v. 27.06.1988, BGBl. I, S. 969. 42 Eine gleichlautende Regelung enthält § 2 Absatz 2 BenzinqualitätsVO für verbleite Ottokraftstoffe.

1 3 6 3 . Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsverbände

nicht weniger als vierzehn Unterverweisungen auf andere europäische und internationale Normen. Außerdem hat das D I N in einem Anhang zur DIN-EN51607 ergänzende Festlegungen getroffen. Diese Festlegungen enthalten, ebenfalls bezüglich der anzuwendenden Prüfungsverfahren, weitere 18 Verweisungen auf andere DIN- bzw. DIN-EN-Normen 43 .

c) Die rechtsnormkonkretisierende

Verweisung

Bei der rechtsnormkonkretisierenden Verweisung auf technische Normen werden die sicherheitstechnischen Grundanforderungen und somit auch die Verhaltenspflichten der Regelungsadressaten bereits abschließend im Gesetz bestimmt. Es geht bei dieser Form der Verweisung also gerade nicht um eine inhaltliche Vervollständigung einer aus sich heraus lückenhaften Verweisungsgrundlage. Kennzeichen der rechtsnormkonkretisierenden Verweisung ist vielmehr, daß der Gesetzgeber sich zur Umschreibung des einzuhaltenden Sicherheitsniveaus bestimmter Generalklauseln, wie beispielsweise den Formulierungen „allgemein anerkannte Regeln der Technik, Stand der Sicherheitstechnik" oder „Stand von Wissenschaft und Technik", bedient. Da das Vorliegen dieser Generalklauseln theoretisch gleichermaßen durch eine jeweils mehr oder weniger große Bandbreite an technischen Produktionsverfahren nachgewiesen werden kann, fügt der Gesetzgeber diesen Klauseln eine Verweisung hinzu, um den Rechtsanwendern die Erfüllung, insbesondere aber den Nachweis der Erfüllung der gesetzlichen Produktsicherheitspflichten zu erleichtern. Insoweit dient die Verweisung auf einzelne Normen oder auf ganze Normenwerke dazu, den durch die jeweilige Generalklausel beschriebenen Standard jedenfalls für einen Teilbereich seines Regelungsumfangs zu konkretisieren 44. Auch im Bereich der rechtsnormkonkretisierenden Verweisung sind sowohl statische als auch dynamische Verweisungen denkbar. In der Praxis gibt es allerdings keine rechtsnormkonkretisierende statische Verweisung. Dieses ist auch nicht weiter verwunderlich, wenn man einmal bedenkt, welchen Zweck der Gesetzgeber mit der Einführung einer um eine Verweisung ergänzten Generalklausel verfolgt. Gerade Generalklauseln, wie etwa „Stand von Wissen-

43 44

Weitere Beispiele aus diesem Bereich finden sich bei Marburger, Regeln der Technik, S. 388 f.

Vgl. Seidel NJW 1981, S. 1120 (1123); Marburger, Regeln der Technik, S. 385; ders.. Gleitende Verweisung, S. 34; ders., BB Beilage 4 / 1985, S. 16 (21); ders., Formen, Verfahren und Rechtsprobleme, S. 27 (42); Hunscha, S. 75 (76 f.); Schnapauff, S. 40 (45); Mohr, Technische Normen, S. 29 f.

§ 2 Die Verweisung als Mittel zur Rechtsangleichung

137

schaft und Technik" oder „Stand der Technik", sollen gewährleisten, daß der Sicherheitsstandard bezüglich bestimmter Erzeugnisse gesetzlich nicht auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens eines Gesetzes festgeschrieben wird. Ziel derartiger Generalklauseln ist vielmehr, daß auch zukünftige technologische Entwicklungen und sicherheitsspezifische Innovationen bei der Produktion Berücksichtigung finden können. Dieses Ziel der Gefahrenabwehr, nämlich die Minimierung sicherheitstechnischer Risiken durch eine Berücksichtigung der jeweils neuesten technischen Erkenntnisse, würde aber gerade nicht erreicht werden können, wenn der Gesetzgeber in statischer Form rechtsnormkonkretisierend auf technische Normen verweisen würde. In einem solchen Fall würde der Stand der Technik zwar nicht auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes, also der Verweisungsgrundlage, wohl aber auf den Zeitpunkt der Ratifikation der bezogenen technischen Norm festgeschrieben. Dieses müßte jedenfalls für den Fall gelten, in dem die Verweisung ihrer Rechtswirkung nach so ausgestaltet ist, daß bei einer normgemäßen Produktion die Erfüllung der sicherheitstechnischen Gesetzesstandards unwiderleglich vermutet wird. Sähe die Verweisung dagegen bei einer Beachtung der bezogenen Normen eine nur widerlegliche Vermutung für das Vorliegen der in der Generalklausel enthaltenen sicherheitstechnischen Anforderungen vor, so würde der Stand der Technik zwar nicht auf den Zeitpunkt der Normenaufstellung festgeschrieben. Dennoch verlöre auch hier die Verweisung weitgehend ihren Sinn, wenn die bezogene Norm aufgrund technischer Neuerungen dem Stand der Technik nicht mehr entspricht. In diesem Fall hätte ein Normenanwender trotz Beachtung der im Gesetz in Bezug genommenen Normen die gesetzlichen Sicherheitsanforderungen nicht erfüllt, so daß er sein Produkt nicht in den Verkehr bringen dürfte. Die mit der Verweisungspraxis verfolgte Zielsetzung des Gesetzgebers, dem Gesetzesadressaten den Nachweis des Vorliegens der nur generalklauselartig beschriebenen, zwingend einzuhaltenden Sicherheitsstandards zu erleichtern, würde also gerade nicht erreicht, es sei denn, der Gesetzgeber würde die Verweisungsgrundlage bei einer Änderung des Verweisungsobjektes ebenfalls ändern. Daß er hierzu nicht bereit ist, ist bereits oben nachgewiesen worden und bedarf an dieser Stelle keiner besonderen Begründung 45. Demgegenüber gibt es in der Praxis eine Vielzahl von rechtsnormkonkretisierenden dynamischen Verweisungen. So bestimmt § 3 Absatz 3 BauO Hessen46

45 46

Vgl. oben S. 22 ff.

HessBauO in der Fassung v. 16.12.1977, GVB1. 1978,1, S. 1, zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes v. 24.03.1986, GVB1. 1986,1, S. 102.

138

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

unter anderem, daß bauliche Anlagen den anerkannten Regeln der Baukunst zu entsprechen haben. Nach § 3 Absatz 3 HessBauO gelten als anerkannte Regeln der Baukunst, der Technik und des Grünflächen- und Landschaftsbaus insbesondere die von der obersten Bauaufsichtsbehörde durch Bekanntgabe im Staatsanzeiger für das Land Hessen eingeführten technischen Baubestimmungen und Richtlinien sowie entsprechende Regelungen besonders sachverständiger Stellen, wie die des Deutschen Instituts für Normung. Für ein weiteres Beispiel für den angesprochenen Verweisungstyp kann auf § 55 a Absatz 1 Satz 1 StVZO zurückgegriffen werden 47. Nach dieser Vorschrift müssen Zündanlagen von Fremdzündungsmotoren in Kraftfahrzeugen und elektrisch angetriebenen Fahrzeugen funktentstört sein. Nach Satz 2 gelten sie als funkentstört, wenn sie D I N 57879, Teil 1 / VDE 0879, Teil 1 / 6.79 (VDE-Bestimmung), Abschnitt 4.1., 4.2., 4.3.1. und 4.4. entsprechen 48.

IL Die Verweisungstechnik

der „Neuen Konzeption "

1. Verweisung als rechtsnormkonkretisierende Verweisung Führt man die funktionale Unterscheidung der verschiedenen Verweisungstechniken im Bereich der „Modellrichtlinie'* 49 durch, so läßt sich feststellen, daß es sich bei der in dieser vorgesehenen Praxis des Normenverweises um eine rechtsnormkonkretisierende Verweisung handelt. So sieht der Abschnitt Π der „Modellrichtlinie" vor, daß die jeweils in den Anwendungsbereich einer Harmonisierungsrichtlinie fallenden Erzeugnisse nur dann in den Verkehr gebracht werden dürfen, wenn sie bei einwandfreier Installation und Wartung sowie zweckgerechter Benutzung keine Gefahr für die Sicherheit von Personen, Haustieren oder Gütern darstellen. In Abschnitt ΙΠ wird dann ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die grundlegenden Sicherheitsanforderungen, denen Erzeugnisse, die in den Verkehr gebracht werden sollen, genügen müssen, ausreichend präzise zu formulieren sind, so daß sie nach ihrer Umsetzung in nationales Recht Verpflichtungen begründen können, deren Nichteinhaltung

47 StVZO in der Fassung der Bekanntmachung v. 28.09.1988, BGBl. I, S. 1793, zuletzt geändert durch V O v. 26.10.1990, BGBl. I, S. 2327. 48 Der bereits erwähnte § 1 Absatz 2 der 2. DVO zum EnWG fallt ebenfalls in diese Fallgruppe. Zu weiteren Beispielen vgl. Marburger, Regeln der Technik, S. 386; Fischer, Regeln der Technik, S. 30 Fn. 181.

49

ABl. EG Nr. C 136 v. 04.06.1985, S. 3 ff.

§ 2 Die Verweisung als Mittel zur Rechtsangleichung

139

Sanktionen nach sich ziehen kann. Dabei müssen die Sicherheitsanforderungen so formuliert sein, daß es den für die Ausstellung von Konformitätsbescheinigungen zuständigen Stellen möglich ist, bei einem Fehlen entsprechender harmonisierter Normen die Konformität der betreffenden Erzeugnisse unmittelbar nach Maßgabe der in den Richtlinien enthaltenen Vorgaben zu bestimmen. Nach Abschnitt V sind die Mitgliedstaaten gehalten, von der Einhaltung der grundsätzlichen Sicherheitsanforderungen bei solchen Erzeugnissen auszugehen, die mit einer Konformitätsbescheinigung versehen sind, in der ihre Übereinstimmung mit den von der jeweils zuständigen europäischen Normungsorganisation festgelegten harmonisierten Normen bestätigt wird, wenn diese Normen in Übereinstimmung mit den zwischen den Normungsverbänden und der EGKommission vereinbarten allgemeinen Richtlinien verabschiedet und ihre Fundstellen im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht worden sind. Diese Ausführungen verdeutlichen, daß die Inbezugnahme der Normen nicht dazu dient, eine unvollständige Festlegung der Sicherheitsanforderungen der einzelnen Harmonisierungsrichtlinien inhaltlich zu ergänzen. Letztere werden vielmehr in der jeweiligen Richtlinie abschließend umschrieben 50. Diese insoweit abschließende Regelung erfolgt allerdings durch je nach der Art der zu regelnden Materie unterschiedlich präzise formulierte Generalklauseln 51. Den Nachweis, die in der Generalklausel festgelegten sicherheitsspezifischen Anforderungen bei der Produktion eines Erzeugnisses beachtet zu haben, kann ein Hersteller dadurch erbringen, daß er sein Produkt entsprechend den in den Europäischen Normen enhaltenen Vorgaben herstellt. Insoweit konkretisieren die bezogenen Normen also die in den jeweiligen Richtlinien enthaltenen Generalklauseln; es liegt daher eine rechtsnormkonkretisierende Verweisung vor.

50

Vgl. auch z.B. Art. 3 Absatz 1 in Verbindung mit dem Anhang 1 der Richtiinie des Rates v. 25.06.1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für einfache Druckbehälter, Rl. 87 / 404 / EWG, ABl. EG Nr. L 220 v. 08.08.1987, S. 48 ff.; Art. 3 in Verbindung mit dem Anhang 1 der Richüinie des Rates v. 29.06.1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für Gasverbrauchseinrichtungen, Rl. 90 / 396 / EWG, ABl. EG Nr. L 196 v. 26.07.1990, S. 5 ff. 51

Vgl. auch die Darstellung der Kommission im Weißbuch, Dok. Kom (85) endg. v. 14.06.1985, Rn. 68.

140

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsverbände

2. Verweisung als dynamische Verweisung Diese Verweisung erfolgt in dynamischer Form. Die in Bezug genommenen Normen werden nicht nach ihrem Ausgabedatum bestimmt; es wird nicht einmal die Normblattnummer oder der Titel des Normblattes der bezogenen Normen erwähnt 52. Dieses ist in der Regel auch gar nicht möglich, da die harmonisierten Normen sich am Inhalt der einzelnen Harmonisierungsrichtlinien zu orientieren haben und daher üblicherweise erst nach dem Erlaß einer Richtlinie aufgestellt werden. Ergänzend sei hinzugefügt, daß die Annahme einer dynamischen Verweisung auch der gesetzgeberischen Intention entspricht, wie sie im Weißbuch der Kommission an den Rat zum Ausdruck gekommen ist. In diesem53 weist die Kommission darauf hin, daß die bis dahin bestehende Praxis, in die Richtlinien detaillierte technische Spezifikationen aufzunehmen, sich als zu inflexibel und langsam erwiesen habe. Aus diesem Grunde solle sich die Harmonisierung auch nur auf die Festschreibung der Grundvoraussetzungen für die Verkehrsfähigkeit von Produkten beschränken, während die Definition der technischen Spezifikationen derjenigen Produkte, die als den gesetzlich festgelegten Erfordernissen gemäß zu gelten hätten, den europäischen Normungsverbänden überlassen bleiben solle. Eine noch deutlichere Stellungnahme findet sich im Punkt 2 d des Anhangs Π der Entschließung des Rates über eine ,,Neue Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und Normung" 54 : „Eine der Hauptzwecke des neuen Konzeptes ist es, durch die Verabschiedung einer einzigen Richtlinie mit einem Schlag die verordnungsrechtlichen Probleme für eine große Zahl von Erzeugnissen regeln zu können, ohne daß diese Richtlinie ständig angepaßt oder geändert werden muß". Schließlich ist die in der „Modellrichtlinie" vorgesehene dynamische Verweisung unlängst in einem Anhang zum Beschluß des Rates55 über „die in den technischen Harmonisierungsrichtlinien zu verwendenden Module für die ver-

52

Eine nähere Präzisierung erfolgt auch nicht bei der Umsetzung einer Richtlinie in das nationale Recht. Vgl. nur die Verordnung über die Sicherheit von Spielzeug v. 21.12.1989, BGBl. I, S. 2541 f. 53

Dok. Korn (85) endg. v. 14.06.1985, Rn. 68.

54

„Leitlinien einer neuen Konzeption für die technische Harmonisierung und Normung", Anhang I I zur Entschließung v. 07.05.1985, Abi. EG Nr. C 136 v. 04.06.1985, S. 2 (9). 55

Beschluß 90 / 683 / EWG des Rates v. 13.12.1990, ABl. EG Nr. L 380 v. 31.12.1990, S. 13 ff.

§ 3 Die rechtliche Bedeutung Europäischer Normen nach der „Neuen Konzeption"

141

schiedenen Phasen der Konformitätsbewertungsverfahren" ausdrücklich bestätigt worden. Dort wird unter Punkt 3.3. bei der Beschreibung des Moduls H (umfassende Qualitätssicherung) ausgeführt, daß eine benannte Stelle das vom Hersteller gewählte Qualitätssicherungssystem zu bewerten hat, um festzustellen, ob es die in der jeweiligen Richtlinie genannten grundlegenden Anforderungen erfüllt. Dabei wird bei solchen Qualitätssicherungssystemen, die die enstprechenden harmonisierten Normen anwenden, von einer Erfüllung dieser Voraussetzungen ausgegangen. In einer Fußnote wird dann festgehalten, daß es sich bei der so in Bezug genommenen Norm um die EN 29001 handelt, „die bei Bedarf (von den europäischen Normungsverbänden) ergänzt wird, um den Besonderheiten der Produkte, für die sie gilt, Rechnung zu tragen". Im Ergebnis läßt sich somit feststellen, daß in den einzelnen Harmonisierungsrichtlinien auf die Europäischen Normen in ihrer jeweils geltenden Fassung Bezug genommen wird. Die „Neue Konzeption" bedient sich zur Verwirklichung der mit ihr angestrebten Ziele des Systems der rechtsnormkonkretisierenden Verweisung auf Normen.

§ 3 Die rechtliche Bedeutung Europäischer Normen nach der „Neuen Konzeption" /. Fragestellung Aus sich heraus entfalten technische Normen keine Rechtswirkungen. Es handelt sich bei ihnen ausschließlich um unverbindliche Empfehlungen privatrechtlich organisierter Verbände 56. Anders kann sich die Rechtslage aber dann darstellen, wenn technische Normen dem Gesetzgeber als Verweisungsobjekte für gesetzliche Regelungen dienen. In diesem Fall stellt sich die Frage, ob das Gesetz überhaupt und wenn, in welchem Umfang, Rechtsfolgen an die Beachtung oder Nichtbeachtung der in den bezogenen Normen festgelegten Spezifikationen knüpft. Diese Frage ist dabei nicht nur theoretisch von Bedeutung, sondern es kommt ihr im Gegenteil eine erhebliche praktische Relevanz zu. So läßt sich, jedenfalls unter dem Vorbehalt einer nachfolgenden Prüfung, die These aufstellen, daß die Vertragskonformität dynamischer Verweisungen umso zweifelhafter ist, je weitergehend der europäische Gesetzgeber an die Beachtung oder Nichtbeachtung technischer Normen rechtliche Bindungen knüpft. Dieses

56

Vgl. zur Rechtsnatur Europäischer Normen die Darstellung oben S. 68 ff.

1 4 2 3 . Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsverbände

bedeutet mit anderen Worten, daß die Entscheidung, ob sich die durch die „Neue Konzeption" eingeführte Verweisungstechnik noch innerhalb der Grenzen des nach dem EWG-Vertrag Zulässigen bewegt, entscheidend von der Beantwortung der Frage abhängt, welche Rechtswirkungen den bezogenen Europäischen Normen nach der Ausgestaltung der „Modellrichtlinie" zukommen sollen.

II. Mögliche Rechtswirkungen

einer Inbezugnahme von Normen

Insbesondere für den nationalen Bereich der Bundesrepublik Deutschland gehen die Ansichten darüber, wie die Rechtswirkungen einer rechtsnormkonkretisierenden Verweisung bezüglich der Verweisungsobjekte zu beurteilen sind, weit auseinander. Im Ergebnis lassen sich dabei verschiedene Lösungsmodelle nachweisen. Eine extreme Position wurde dabei teilweise in der älteren Rechtsprechung vertreten. So wurden technische Normen mehrfach als „verbindliche Regeln und Vorschriften" bezeichnet57, die für den Hersteller zwar nicht unmittelbar verbindlich seien, deren Beachtung aber zumindest „auch" gesetzlich vorgeschrieben sei 58 . Inhaltlich etwas weniger weitgehend ist eine in der Literatur vertretene These, die rechtsnormkonkretisierende Verweisung begründe eine gesetzliche Fiktion 59 bzw. mit dieser Verweisungstechnik sei eine unwiderlegliche Vermutung verbunden, daß der Inhalt der bezogenen technischen Norm den generalklausel-

57 So OLG Hamm, VersR 1971, S. 805 für die normkonkretisierende dynamische Verweisung auf VDE-Normen in § 1 Absatz 2 der 2. D V O zum EnWG a.F. 58 So ausdrücklich BGH BB 1959, S. 473 ebenfalls für die Verweisung in § 1 Absatz 2 der 2. D V O zum EnWG a.F. Für dieselbe Verweisung vgl. auch OLG Celle, VersR 1961, S. 818 (820): „Die VDE-Bestimmungen sind nicht nur als gesetzliche Sicherheitsvorschriften anzusehen,...". Im Ergebnis noch weitergehend OGH BrZ Köln, NJW 1950, S. 261: „Die VDE-Bestimmungen sind seit dem Inkrafttreten des § 1 Absatz 2 der 2. D V O zum EnWG Schutzgesetze im Sinne des § 823 Absatz 2 BGB". 59

Vgl. Bullinger y Selbstermächtigung, S. 23, der allerdings nicht zwischen den Erscheinungsformen und den Rechtswirkungen einer Verweisung differenziert, sondern die Fiktion insoweit als einen Sonderfall der Verweisung begreift. Vgl. auch Nickusch, Normativfunktion, S. 208.

§ 3 DierechtlicheBedeutung Europäischer Normen nach der „Neuen Konzeption"

143

artig umschriebenen Grundsatzanforderungen des Verweisungsgesetzes entspreche 60. Eine noch weniger weitgehende Bedeutung will die in der Literatur wohl überwiegende Anzahl der Autoren den bei der rechtsnormkonkretisierenden Verweisung in Bezug genommenen Normen zuerkennen. Nach dieser Ansicht begründet diese Art der Verweisungstechnik eine widerlegbare Vermutung der Übereinstimmung der bezogenen Norm mit den gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheitsanforderungen. Dementsprechend soll bei einer normgemäßen Produktionsweise zugunsten des Herstellers eine widerlegbare Vermutung dafür streiten, daß das betreffende Produkt nicht gegen die geltenden gesetzlichen Bestimmungen verstoße 61. Schließlich finden sich innerhalb der Literatur auch Stimmen, die in dieser Verweisungsform auf kodifizierte technische Normen eine Beweislastregel sehen. Bei einer normgemäßen Vorgehensweise soll insoweit zugunsten des

60 HessVGH DÖV 1966, S. 579 für den Bereich des § 29 Absatz 2 HessBauO; ähnlich Schäfer, Regeln, S. 82 ff., der in der rechtsnormkonkretisierenden Verweisung des § 1 Absatz 2 der 2. D V O zum EnWG (a.F.) eine Kombination aus unwiderleglicher und widerleglicher Vermutung sieht. So müsse bei einer Anwendung der bezogenen VDE-Normen durch die Hersteller ohne Widerlegungsmöglichkeit und damit unwiderlegbar vermutet werden, daß die sicherheitstechnischen Grundsatzanforderungen des Verweisungsgesetzes erfüllt seien; im umgekehrten Fall, also bei einer Nichtanwendung der bezogenen VDE-Bestimmungen, sei dagegen (nur) widerleglich zu vermuten, daß die anerkannten Regeln der Elektrotechnik vom Hersteller nicht beachtet worden seien. Vgl. auch Karpen, Verweisung, S. 133 f., der die technischen Normen insoweit zwar als Beweislastregeln qualifiziert, sachlich aber wohl mit der Ansicht Schäfers übereinstimmt. 61 Jeweils für den Bereich des § 1 Absatz 2 der 2. D V O zum EnWG a.F. Lukes, Tragweite, S. 213 (221); ders., JuS 1968, S. 345 (351); ders., Schadensersatz, S. 22 (30 f.); Lipps, NJW 1968, S. 279 (282); Heidi, S. 30 f. (für den Bereich der Elektrotechnik); Stefener, DIN-Normen, S. 46 f.; Ullrich, Rechtsschutz, S. 36; Zemlin, Überbetriebliche technische Normen, S. 116 f.; Breuer, AöR Bd. 101 (1976), S. 46 (66, 80); Marburger, Regeln der Technik, S. 401; ders., Gleitende Verweisung, S. 35; ders., BB Beilage 4 / 1985, S. 16 (21); ders., Formen, Verfahren und Rechtsprobleme, S. 27 (42 f.); Schnapauff, S. 40 (47); Brinkmann, Rechtliche Aspekte, S. 19 f. (für § 11 GerätesicherheitsG); Fischer, Regeln der Technik, S. 31 f.; Bruha, ZaöRV Bd. 46 (1986), S. 1 (9) - (für den Bereich der „Neuen Konzeption"); Mohr, Technische Normen, S. 52; Anselmann, Bezugnahme, S. 101 (109); Joerges / Falke, S. 159 (180); Danner, in: Eiserer / Riederer / Obernolte / Danner, Energiewirtschaftsrecht, § 13 EnWG, Anm. 3 d (für den Bereich des § 1 Absatz 2 der 2. D V O zum EnWG n.F.); mit Bedenken wohl auch Röhling, S. 19 f.; im Ergebnis wohl auch Sonnenberger, BB Beilage 4 / 1985, S. 3 (8), wobei allerdings offen bleibt, ob Sonnenberger vom Vorliegen einer gesetzlichen oder tatsächlichen Vermutung ausgeht; unklar dagegen Hammer, M D R 1966, S. 977 (979) — „widerlegbare oder unwiderlegbare Vermutung" —.

144

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normlingsverbände

Herstellers ein Beweis des ersten Anscheins für die Annahme begründet sein, daß das betreffende Erzeugnis den gesetzlichen Bestimmungen entspricht 62.

III. Zur Übertragbarkeit der Ansätze auf die Rechtslage nach der „Neuen Konzeption " Die oben beschriebenen Auffassungen spiegeln die Bandbreite der theoretisch denkbaren und bislang diskutierten Möglichkeiten wider, wie die Rechtswirkungen von Normen im Falle einer rechtsnormkonkretisierenden dynamischen Verweisung beschrieben werden kann. Da die verschiedenen Lösungsansätze jedoch größtenteils anhand einiger weniger, ganz bestimmter gesetzlicher Verweisungsgrundlagen entwickelt worden sind und sich im übrigen nahezu ausnahmslos auf die Erörterung der Rechtslage im Bereich der Bundesrepublik Deutschland beschränken 63, sind sie jedenfalls nicht ohne weiteres auf die Rechtslage innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft übertragbar. Allerdings besteht immerhin die Möglichkeit, daß eines der genannten Modelle gegebenenfalls in Verbindung mit einem anderen Ansatz oder aber mit gewissen Modifikationen die Rechtswirkung der durch die „Neue Konzeption" eingeführten Verweisungstechnik zutreffend zu beschreiben vermag. Dieser Frage soll im folgenden nachgegangen werden. Dabei sei aber ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die nachfolgenden Erörterungen sich ausschließlich auf die Frage nach der Übertragbarkeit der Modelle auf das europäische System beschränken; ob die skizzierten Ansätze dagegen die Rechtswirkung der bezogenen Normen im deutschen Sicherheitsrecht zutreffend wiedergeben, kann dagegen nicht im einzelnen geprüft werden.

62

Vgl. Hönning, S. 68 f., wobei allerdings unklar bleibt, ob Hönning dieses Ergebnis nur für die Generalklauselmethode oder auch für die rechtsnormkonkretisierende dynamische Verweisung gelten lassen will; Evers, Energieversorgung, S. 320, der bei einem Verstoß gegen die bezogene Norm bzw. einer nicht normgemäßen Vorgehensweise der Hersteller auch einen Beweis des ersten Anscheins dafür sprechen lassen will, daß eine gesetzeswidrige Verhaltensweise vorliege; Seidel, Rechtsangleichung, S. 26; unklar dagegen Brinkmann, Verbraucherorganisationen, S. 62 — „widerlegliche Vermutung in Form eines prima-facie Beweises" —. 63

Die Ausnahme bildet insoweit Bruha, ZaöRV Bd. 46 (1986), S. 1 (9).

§ 3 DierechtlicheBedeutung Europäischer Normen nach der „Neuen Konzeption"

145

1. Gesetzliche SicherheitsVorschriften Die durch die einzelnen Harmonisierungsrichtlinien bezogenen Normen könnten nach der Definition des Begriffes „technische Vorschrift" 64 nur dann als gesetzliche Sicherheitsvorschriften angesehen werden, wenn ihre Einhaltung durch den europäischen Gesetzgeber zwingend vorgeschrieben wäre. Tatsächlich ist dieses aber nach der Ausgestaltung der „Modellrichtlinie" nicht der Fall. Dieses Ergebnis folgt zum einen daraus, daß nach dem Abschnit ΠΙ der „Modellrichtlinie" 65 die grundlegenden Sicherheitsanforderungen in der jeweiligen Richtlinie selbst festgelegt werden müssen. Dabei sind diese Anforderungen so präzise zu formulieren, daß sie nach ihrer Umsetzung in nationales Recht Verpflichtungen darstellen, deren Einhaltung von den jeweils für die Überwachung zuständigen Behörden ohne Zuhilfenahme von Normen kontrolliert werden kann. Die insoweit maßgebliche, weil allein verbindliche gesetzliche Sicherheitsvorschrift ist also gerade nicht die bezogene technische Norm, sondern die Richtlinie selbst. Den Normen kommt nur eine Hilfsfunktion zu. Zum anderen läßt sich dieses Ergebnis in einer noch sehr viel deutlicheren Form aus den gesetzgebungspolitischen Zielvorstellungen, wie sie in den „Leitlinien einer neuen Konzeption für die technische Harmonisierung und Normung" ihren Ausdruck gefunden haben, herleiten. In diesen Leitlinien wird unmißverständlich darauf hingewiesen66, daß die Normen durch die Inbezugnahme keinen obligatorischen Charakter erhalten, sondern daß es sich bei ihnen um ausschließlich freiwillig zu beachtende technische Spezifikationen handelt. Zwar ist für die Qualifikation eines Rechtsphänomens nicht dessen Bezeichnung durch den Gesetzgeber maßgebend, sondern dessen bei einer objektiven Würdigung zu ermittelnde Struktur und effektive Tragweite. Insoweit kann also der Wille des Gesetzgebers allenfalls als ein Indiz für die Richtigkeit einer bestimmten Auslegung herangezogen werden 67. In allen bisherigen auf der Grundlage der „Modellrichtlinie" verabschiedeten Richtlinien wird aber den Herstellern tatsächlich ausdrücklich die Möglichkeit offengelassen, den Nachweis der Konformität eines Produktes mit den Sicherheitsanforderungen der jeweiligen Richtlinie auch auf andere Weise als durch ein normgemäßes Herstellungsver-

64

Vgl. hierzu oben S. 38 f.

65

Vgl. ABl. EG Nr. C 136 v. 04.06.1985, S. 2 ff.

66

ABl. EG, a.a.O., S. 3.

67

So schon - allerdings für das deutsche Recht - Ossenbühl, DVB1 1967, S. 401 (403).

1 4 6 3 . Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsverbände

fahren zu erbringen 68. In rechtlicher Hinsicht werden die Hersteller also gerade nicht an die Normeninhalte, sondern eben nur an die in das nationale Recht zu transformierenden gesetzlichen Grundsatzbestimmungen gebunden. Die bezogenen Europäischen Normen nehmen mithin nicht am Rechtssatzcharakter der Richtlinien teil 69 , sie sind daher auch keine gesetzlichen Sicherheitsvorschriften 70 .

2. Gesetzliche Fiktion Theoretisch denkbar wäre es, den in den Harmonisierungsrichtlinien in Bezug genommenen Normen die Wirkung einer gesetzlichen Fiktion zuzuschreiben 71. Könnte mit diesem Ansatz die in der „Modellrichtlinie" vorgesehene Verweisungstechnik inhaltlich zutreffend beschrieben werden, so würden die in den Anwendungsbereich einer Richtlinie fallenden Erzeugnisse die gesetzlich festgelegten Sicherheitsanforderungen immer dann erfüllen, wenn sie den harmonisierten technischen Normen entsprächen. Die Wirkung einer gesetzlichen Fiktion besteht darin, daß gesetzlich geforderte Eigenschaften als erfüllt gelten, wenn eben diese Eigenschaften den Normen entsprechen. Das entscheidende Abgrenzungskriterium der gesetzlichen

68

Vgl. z.B. Rl. 87 / 404 / EWG des Rates v. 25.06.1987 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für einfache Druckbehälter, ABl. EG Nr. L 220 v. 08.08.1987, S. 48 ff.; Rl. 90 / 385 / EWG des Rates v. 20.06.1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für nichtselbsttätige Waagen, ABl. EG Nr. L 189 v. 20.07.1990, S. 17 ff.; Rl. 90 / 396 / EWG des Rates v. 29.06.1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für Gasverbrauchseinrichtungen, ABl. EG Nr. L 196 v. 26.07.1990, S. 15 ff. 69 Die in der deutschen Literatur streitige Frage, ob das Verweisungsobjekt durch die Verweisung den Rang der Verweisungsgrundlage erhält oder ob die Verweisungsgrundlage allein den Inhalt des Verweisungsobjektes übernimmt, stellt sich daher im Bereich der „Neuen Konzeption" nicht. Vgl. zum Meinungsstand einerseits Lukes , Tragweite, S. 213 (217 f.); Herschel, NJW 1968, S. 617 (620); ders., Regeln der Technik, S. 127; Nickusch, NJW 1967, S. 811; Heidi, S. 22; Karpen, Verweisung, S. 132; Ullrich, S. 36 f.; Röhling, S. 16; Brinkmann, Verbraucherorganisationen, S. 60 f.; Backherms, D I N als Beliehener, S. 68; für die starre Verweisung auch Marburger, Regeln der Technik, S. 387 (Verweisungsgrundlage rezipiert allein den Normeninhalt); andererseits Hunscha, S. 75 (77) — (Verweisungsobjekt teilt die Rechtsqualität der Verweisungsgrundlage ebenso, als wenn eine Inkorporation vorläge); zur statischen Verweisung vgl. auch BVerfGE 47, S. 285 (312); Breuer, AöR Bd. 101 (1976), S. 46 (61); Strecker, S. 79. 70

Dieses Ergebnis ist auch für den Bereich des deutschen Sicherheitsrechts mittlerweile unstreitig. Vgl. statt vieler Mohr, Technische Normen, S. 49. 71 Vgl. zu dieser Möglichkeit auch Lukes, Tragweite, S. 213 (221); allgemein auch Larenz, Methodenlehre, S. 251.

§ 3 Die rechtliche Bedeutung Europäischer Normen nach der „Neuen Konzeption"

147

Fiktion besteht dabei darin, daß sie eine rechtliche Gleichbewertung verschiedener Tatbestände darstellt, die der jeweilige Gesetzgeber in voller Kenntnis ihrer Ungleichwertigkeit vorgenommen hat 72 . Dieses bedeutet im Ergebnis, daß durch eine gesetzliche Fiktion eine Sachlage rechtlich geordnet wird, in der die fingierte Tatsache sicher nicht vorliegt 73 . Aus diesem Umstand läßt sich gleichzeitig auch das zweite Merkmal einer Fiktion ableiten, nämlich die Unwiderlegbarkeit der fingierten Sachlage74. Insbesondere aus dem ersten Wesensmerkmal der Fiktion läßt sich folgern, daß der in den Harmonisierungsrichtlinien praktizierten Verweisungstechnik jedenfalls nicht die Rechtswirkung einer solchen Fiktion zugeschrieben werden kann. Die Verweisung auf harmonisierte technische Normen erfolgt deshalb, weil der europäische Gesetzgeber davon ausgeht, daß die bezogenen Normen den in den Richtlinien jeweils aufgestellten Sicherheitsanforderungen auch tatsächlich entsprechen, daß sie mit anderen Worten den Stand der Sicherheitstechnik in einem bestimmten Bereich also zutreffend wiedergeben. Insoweit fehlt es daher an dem für die gesetzliche Fiktion charakteristischen gesetzgeberischen Motiv, nämlich einer Gleichsetzung verschiedenartig gelagerter Tatbestände in Kenntnis ihrer faktischen Ungleichwertigkeit. Im Gegenteil weist die „Modellrichtlinie" in Abschnitt VQ in Verbindung mit dem Abschnitt V I ausdrücklich darauf hin, daß für den Fall, daß eine Norm gemessen an den Richtlinienvorgaben mangelhaft sein sollte und dadurch ein normgemäßes Erzeugnis die Sicherheit von Personen, Haustieren oder Gütern zu gefährden droht, die betreffende Norm aus den Veröffentlichungen im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften zu streichen ist. Da nach der Ausgestaltung der „Modellrichtlinie" sowie der inzwischen erlassenen „Durchführungsrichtlinien" aber nur solche Normen in Bezug genommen werden, deren Fundstellen im Amtsblatt veröffentlicht und nicht zwischenzeitlich aus der Liste dieser Veröffentlichungen wieder gestrichen worden sind, hat die Streichung einer Norm rechtlich zur

72 Vgl. Leipold, Beweislastregeln, S. 103; ders., in: Stein / Jonas, ZPO, § 292 Rn. 5; Müller, Gesetzgebungstechnik, S. 107; Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 83; Schneider, Gesetzgebung, Rn. 369. 73 Ein Beispiel für eine solche Fiktion enthält die Regelung des § 1923 Absatz 2 BGB: „Wer zur Zeit des Erbfalls noch nicht lebte, aber bereits erzeugt war, gilt als vor dem Erbfall geboren". 74 Vgl. insoweit Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 83. Vgl. aber auch Rosenberg, Beweislast, S. 213, der aus der Unwiderlegbarkeit der gesetzlichen Fiktion folgert, daß die sogenannten unwiderleglichen Vermutungen (praesumtiones juris et de jure) nichts anderes als Fiktionen sind, da sie zwar die Form der Vermutung, aber das Wesen der Fiktion hätten. Zur Abgrenzung vgl. auch die Darstellung unten S. 148 f.

1 4 8 3 . Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsverbände

Folge, daß von ihr aufgrund der dann fehlenden Inbezugnahme keinerlei Rechtswirkungen mehr ausgehen. Diese Überlegungen verdeutlichen, daß den bezogenen Normen nach der „Neuen Konzeption" nicht die Rechtswirkung einer gesetzlichen Fiktion zufallen soll und nach der Ausgestaltung der Konzeption auch tatsächlich nicht zufällt.

3. Unwiderlegbare Vermutung Durch die „Modellrichtlinie" könnte den bezogenen Normen die Rechtswirkung einer unwiderlegbaren Vermutung des Inhalts zuerkannt werden, daß die gesetzlichen Sicherheitsanforderungen immer dann erfüllt sind, wenn ein Erzeugnis den harmonisierten Normen entspricht. Mit dieser Form der Vermutung wird den Verweisungsobjekten eine gewichtige Stellung zugebilligt, da die unwiderlegbare Vermutung bewirkt, daß bei einer normgemäßen Verhaltensweise das NichtVorliegen der gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheitsanforderungen in keinem Fall mehr dargelegt werden kann 75 . Bei einer unwiderlegbaren Vermutung besteht allenfalls insofern ein eigenständiger Spielraum, als das Vorliegen der gesetzlichen Sicherheitsanforderungen auch bei einer nicht normgemäßen Beschaffenheit des Erzeugnisses durch einen besonderen Nachweis, wie beispielsweise durch ein Sachverständigengutachten, nachgewiesen werden kann 76 . Der Unterschied zur Fiktion ist darin zu sehen, daß die unwiderlegbare Vermutung sowohl die Fälle des NichtVorliegens als auch des tatsächlichen Vorliegens der vermuteten Tatsache erfassen soll 77 . Allerdings kann von einer unwiderleglichen Vermutung nur dann gesprochen

75

Rosenberg, Beweislast, S. 213; Leipold, Beweislastregeln; S. 102; ders., in: Stein / Jonas, ZPO, § 292 Rn. 5; Lukes, Tragweite, S. 213 (221); Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 83; Mohr, Technische Normen, S. 49 f. 76 77

Vgl. auch Lukes, Tragweite, S. 213 (221).

Leipold, Beweislastregeln, S. 103; ders., in: Stein / Jonas, ZPO, § 292 Rn. 5; Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 83; die Abgrenzung zwischen Fiktion und unwiderleglicher Vermutung richtet sich letztlich allein nach dem gesetzgeberischen Motiv und erfolgt gerade nicht anhand der inhaltlichen Ausgestaltung der Rechtssätze. Insoweit ist die Abgrenzung beider Erscheinungsformen allenfalls theoretisch von Bedeutung, denn auch bei einer unwiderleglichen Vermutung ist es aufgrund des Ausschlusses des Gegenbeweises unerheblich, ob die der Vermutung zugrundeliegende Annahme im Einzelfall wirklich vorliegt oder nicht.

§ 3 Die rechtliche Bedeutung Europäischer Normen nach der „Neuen Konzeption"

149

werden, wenn der Gesetzgeber selbst davon ausgeht, daß die vermutete Tatsache in aller Regel vorliegen wird. Darauf, daß letzteres bei der „Neuen Konzeption" der Fall ist, ist bereits oben hingewiesen worden. Auch die Tatsache, daß der Nachweis der Richtlinienkonformität auf andere Weise als durch eine normenkonforme Produktion erbracht werden kann, steht der Annahme einer unwiderlegbaren Vermutung nicht entgegen. Die entscheidende Frage kann nur sein, ob bei einem normgemäßen Verhalten die Mitgliedstaaten unwiderlegbar davon auszugehen haben, daß ein Erzeugnis den grundsätzlichen Sicherheitsanforderungen genügt. Dieses ist im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens 78, in dem es entscheidend auf die Auslegung der ebenfalls eine rechtsnormkonkretisierende dynamische Verweisung auf Normen enthaltenden „Niederspannungsrichtlinie" 7 9 ankam, von den Angeklagten des Vorverfahrens bzw. deren Rechtsanwälten tatsächlich behauptet worden 80 . Dieser Auslegung kann aber weder für die „Niederspannungsrichtlinie" 81 noch für die „Modellrichtlinie" gefolgt werden. Dabei kann an dieser Stelle offen bleiben, ob man die den bezogenen Normen nach der „Modellrichtlinie" zugewiesenen Rechtswirkungen überhaupt mit dem Begriff „Vermutung" inhaltlich zutreffend umschreiben kann 82 . So kann von dem Vorliegen einer unwiderleglichen Vermutung jedenfalls bereits dann nicht mehr die Rede sein, wenn die gesetzliche Regelung, hier also die Richtlinie, auch nur die theoretische Möglichkeit eröffnet, ein Erzeugnis trotz Beachtung der harmonisierten Normen deshalb vom Markt auszuschließen, weil das betreffende Produkt den grundsätzlichen Sicherheitsanforderungen der Richtlinie nicht genügt. Eine entsprechende Möglichkeit ist aber in Abschnitt V E der „Modellrichtlinie" 8 3 ausdrücklich vorgesehen. Diese Schutzklausel gibt den Mitgliedstaaten

78

EuGH RS. 815 / 79, Italien. / .Cremonini u. Vrankovich, Urt. v. 02.12.1980, Slg. S. 3583 ff.

79

Richtlinie 73 / 23 / EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend elektrische Betriebsmittel zur Verwendung innerhalb bestimmter Spannungsgrenzen v. 19.02.1973, ABl. EG Nr. L 77 v. 26.03.1973, S. 29 ff. 80 Vgl. EuGH RS. 815 / 79, Italien. / .Cremonini u. Vrankovich, Urt. v. 02.12.1980, Slg. S. 3583 ff. (3590). 81 Für die „Niederspannungsrichtlinie" vgl. auch den Schlußantrag des GA Warner v. 23.09.1980 In der RS. 815 / 79, Slg. 1980, S. 3614 (3626). 82

Vgl. hierzu im Anschluß die Darstellung unten, S. 151 ff.

83

Vgl. ABl. EG Nr. C 136 v. 14.06.1985, S. 6 f.

150

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsverbände

auch in den Fällen, in denen ein Erzeugnis mit einer Konformitätsbescheinigung nach Abschnitt V m der „Modellrichtlinie" versehen ist, die Befugnis, alle zweckdienlichen Maßnahmen zu treffen, um das Inverkehrbringen des betreffenden Erzeugnisses rückgängig zu machen, zu verbieten oder aber den freien Verkehr für dieses Erzeugnis einzuschränken. Voraussetzung für ein solches Einschreiten ist, daß das Erzeugnis die Sicherheit von Personen, Haustieren oder Gütern zu gefährden droht. Dabei wird in Abschnitt V I I Punkt 1 c) ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die Nichterfüllung der Sicherheitsanforderungen auch auf einen Mangel der harmonisierten Norm zurückzuführen sein kann. Zwar steht die Inanspruchnahme dieser Schutzklausel immer unter dem Vorbehalt, daß die Mitgliedstaaten die EGKommission innerhalb einer bestimmten Frist von der Ingebrauchnahme der Schutzklausel informieren. Die Kommission prüft dann in einem gesonderten Verfahren die Rechtmäßigkeit der mitgliedstaatlichen Entscheidung und unterrichtet anschließend alle Mitgliedstaaten über das Ergebnis dieser Prüfung, so daß letztlich die abschließende Entscheidungskompetenz über die Aufrechterhaltung der verkehrseinschränkenden Maßnahme bei der Kommission liegt 84 . Für die hier allein interessierende Frage, ob eine vermutete Tatsache unwiderlegbar ist oder nicht, spielt jedoch der Ablauf des Verfahrens, in dem der Inhalt der Vermutung widerlegt werden kann, keine Rolle. Entscheidend kann nur der Umstand sein, daß die Beweiskraft der „Vermutung", soweit hier überhaupt vom Vorliegen einer Vermutung gesprochen werden kann, überhaupt widerlegbar ist. Dieses ist nach dem Inhalt der „Modellrichtlinie" jedoch der Fall. Ist nach den Feststellungen der sächlich fehlerhaft, so teilt sie Maßnahme gerechtfertigt ist. Die chen. Dieses bedeutet, daß die Vorbehalt der Einhaltung eines

84

EG-Kommission eine Europäische Norm tatden Mitgliedstaaten mit, daß die nationale Norm selbst wird aus der Normenliste gestriMitgliedstaaten, wenn auch nur unter dem kompliziert ausgestalteten Schutzklauselver-

Es sei allerdings darauf hingewiesen, daß die Kommission den Mitgliedstaaten gegenüber keine verbindliche Maßnahme im Sinne des Art. 189 EWGV treffen kann. Führt z.B. die Überprüfung einer auf der Grundlage der Schutzklausel getroffenen nationalen Entscheidung zu dem Ergebnis, daß diese nicht gerechtfertigt war, so greifen nach Abschnitt V I I Punkt 5 der „Modellrichtlinie" die allgemeinen Vorschriften des Vertrages. Dieses bedeutet, daß die Kommission, wenn sie die Inanspruchnahme der Schutzklausel für ungerechtfertigt, die Norm also für fehlerfrei hält, gegen einen Mitgliedstaat nur im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 169 EWGV vorgehen kann, wenn der betreffende Mitgliedstaat, beispielsweise aufgrund einer gegenteiligen Überzeugung, der Aufforderung der Kommission, die verkehrsbeschränkende Maßnahme aufzuheben, nicht nachkommt.

§ 3 Die rechtliche Bedeutung Europäischer Normen nach der „Neuen Konzeption"

151

fahrens, auch das Inverkehrbringen zwar normgemäßer, aber nicht den gesetzlichen Vorgaben entsprechender Erzeugnisse verhindern können. Zumindest im Ausnahmefall kann mithin die den bezogenen Normen zufallende Rechtswirkung wieder beseitigt werden. Aus diesem Grund kann die durch die Verweisung erzeugte Rechtsbindung jedenfalls als nicht so ausgeprägt bezeichnet werden, daß sie begrifflich als unwiderlegbare Vermutung einzuordnen wäre.

4. Widerlegbare Vermutung a) Vorbemerkung Nach den vorangegangenen Ausführungen scheint das Ergebnis der folgenden Untersuchung nunmehr naheliegend zu sein. Beinhaltet die hier vorliegende Verweisungstechnik keine unwiderlegliche Vermutung, weil die Bindung der Mitgliedstaaten an die Norm bzw. an ein normgemäßes Verhalten der Herstellerin einem speziellen Verfahren wieder aufgehoben werden kann, so deutet alles darauf hin, daß die mit diesem Verweisungstyp verbundenen Rechtswirkungen, ebenso wie von der herrschenden Ansicht im deutschen Schrifttum für das deutsche Sicherheitsrecht befürwortet 85, als eine widerlegbare gesetzliche Tatsachenvermutung beschrieben werden kann. Stützen läßt sich diese These zudem auf die Ausführungen der Regierung des Vereinigten Königreichs Großbritanniens sowie der EG-Kommission in dem bereits erwähnten Urteil des EuGH in der RS 815 / 79 86 . In beiden Stellungnahmen wird darauf verwiesen, daß die in der „Niederspannungsrichtlinie" enthaltene Verweisungstech-

85

Vgl. oben S. 143 Fn. 61.

86

Italien. / .Cremonini u. Vrankovich, Urt. v. 02.12.1980, Slg. S. 3583 ff.

152

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsverbände

nik 8 7 die Qualität einer widerleglichen Vermutung bzw. eines widerlegbaren Beweises habe88. Bezeichnend sind in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen des Generalanwalts Warner in seinem Schlußantrag 89. Dort setzt sich der Generalanwalt mit dem angesprochenen Problem folgendermaßen auseinander 90: „Das zweite Auslegungsproblem, das Artikel 10 aufwirft, besteht in der Frage, ob die durch ein Konformitätszeichen, eine Konformitätsbescheinigung oder eine Konformitätserklärung begründete Vermutung widerlegbar oder unwiderlegbar ist... Die Kommission und diejenigen am Verfahren beteiligten Regierungen, die auf die Frage eingegangen sind, haben die Ansicht vertreten, die Vermutung sei widerlegbar. Dieses Ergebnis scheint mir so offensichtlich richtigzu sein, daß ich ihre Zeit [nämlich die des EuGH] nicht länger mit dieser Frage in Anspruch nehmen möchte." Gerade anhand dieser Äußerung wird ersichtlich, daß die Klassifizierung der Rechtswirkungen dieser Verweisungstechnik als widerlegbare Vermutung aus der Erkenntnis heraus erfolgt, daß die mit der Verweisung erfolgende rechtliche Bindung der Mitgliedstaaten jedenfalls nicht unwiderlegbar ist. Aus dem Umstand allein, daß es sich hier nicht um eine unwiderlegliche gesetzliche Vermutung handelt, kann jedoch im Umkehrschluß nicht gefolgert werden, es liege eine widerlegliche Vermutung vor. Ein solcher Umkehrschluß könnte allenfalls

87

Rl. 73 / 23 / EWG des Rates v. 19.02.1973, Abl.EG Nr. L 77 v. 26.03.1973, S. 29 ff. Die fragliche Regelung ist dabei in Art. 10 der RichUinie enthalten. Diese Vorschrift lautet: „Die Mitgliedstaaten treffen — unbeschadet anders gearteter Nachweise — alle zweckdienlichen Maßnahmen, damit ihre zuständigen Verwaltungsbehörden von der Annahme ausgehen, daß sich die Übereinstimmung mit den Bestimmungen der Artikel 5, 6 und 7 aus der Anbringung eines Konformitätszeichens auf den elektrischen Betriebsmitteln oder aus der Aushändigung einer Konformitätsbescheinigung oder, in Ermangelung dessen, insbesondere bei Betriebsmitteln zur industriellen Verwendung, aus einer Konformitätserklärung des Herstellers ergibt". Nach Art. 5 Absatz 1 treffen „die Mitgliedstaaten alle zweckdienlichen Maßnahmen, damit die zuständigen Verwaltungsbehörden für das Inverkehrbringen nach Artikel 2 oder für den freien Verkehr nach Artikel 3 insbesondere solche elektrischen Betriebsmittel als mit den Bestimmungen des Artikels 2 übereinstimmend erachten, die den Sicherheitsanforderungen der harmonisierten Normen genügen". 88

Vgl. für die Kommission Slg. 1980, S. 3592 (3593); für die Regierung des Vereinigten Königreiches, Slg. a.a.O., S. 3599 (3600). Es ist allerdings darauf hinzuweisen, daß die „Niederspannungsrichtlinie" im Unterschied zur „Modellrichtlinie" eine zweifache Verweisung enthält. Nach Art. 10 der „Niederspannungsrichtlinie" sind die nationalen Behörden anzuweisen, bei bestimmten Konformitätszeichen davon auszugehen, daß die mit dem Zeichen versehenen Betriebsmittel einer bestimmten Norm, und zwar unter anderem auch einer harmonisierten Norm (Art. 5) genügen. Erst Art. 5 verpflichtet dann die nationalen Verwaltungsbehörden, insbesondere bei den nach harmonisierten Normen hergestellten Betriebsmitteln von dem Vorliegen der grundsätzlichen Sicherheitsanforderungen auszugehen. 89

Schlußantrag in der RS. 815 / 79 v. 23.09.1980, Slg. S. 3614 ff.

90

Schlußantrag, a.a.O., S. 3626.

§ 3 DierechtlicheBedeutung Europäischer Normen nach der „Neuen Konzeption"

153

dann zulässig sein, wenn nachgewiesen werden könnte, daß die rechtsnormkonkretisierende dynamische Verweisung in jedem Fall entweder eine widerlegbare oder eine unwiderlegbare Vermutung für die Annahme begründet, daß ein normgerechtes Verhalten den grundsätzlichen, gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheitsanforderungen entspricht. Ein entsprechender Nachweis ist bislang allerdings nicht erbracht worden 91 . Für den Bereich der „Neuen Konzeption" kann ein entsprechender Nachweis auch nicht aus der Tatsache hergeleitet werden, daß in der „Modellrichtlinie" selbst bezüglich der harmonisierten Normen von einer „Vermutung der Übereinstimmung" im Hinblick auf die grundsätzlichen Sicherheitsanforderungen die Rede ist 92 . Der Bezeichnung eines Rechtsphänomens durch den Gesetzgeber kann insoweit allenfalls eine Indizfunktion zukommen, ausschlaggebend kann sie jedoch nicht sein 93 . Ent-

91 Verfehlt ist insoweit auch die Vorgehensweise innerhalb der deutschen Literatur. Dort wird die für die einzelne Verweisung oder aber auch die für sämtliche rechtsnormkonkretisierende dynamische Verweisungen bejahte These, daß diese eine widerlegbare Vermutung beinhalte, im allgemeinen mit einer verfassungskonformen Auslegung der Verweisungsgrundlage begründet. Eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob eine solche Klassifizierung der Verweisungstechnik selbst verfassungsmäßig ist, findet dabei in der Regel ebenso wenig statt wie eine Auseinandersetzung mit dem Problem, ob die Annahme des Vorliegens einer widerlegbaren Vermutung überhaupt der gesetzlichen Regelung entspricht. Vgl. Schäfer, Regeln der Technik, S. 76 ff.; Lukes , Tragweite, S. 213 (221); Karpen, Verweisung, S. 133 f.; Breuer, AöR Bd. 101 (1976), S. 46 (66); Brinkmann, Verbraucherorganisationen, S. 62; Mohr, Technische Normen, S. 52. Dagegen Marburger, Regeln der Technik, S. 397, der zutreffend darauf hinweist, daß eine normative Rezeption mit der Wirkung einer widerlegbaren Vermutung nur dann vorliegen könne, wenn eine solche Rezeption einer teleologischen Gesetzesinterpretation entspreche. An anderer Stelle (vgl. S. 401) kommt Marburger dann zu dem Ergebnis, daß die Annahme einer widerlegbaren Vermutung der ratio legis der rechtsnormkonkretisierenden dynamischen Verweisung am ehesten gerecht werde und im übrigen auch aus verfassungsrechtlicher Sicht unbedenklich sei (vgl. S. 407). 92 Vgl. Abschnitt V I Punkt 2, ABl. EG Nr. C 136 v. 14.06.1985, S. 6. In dem fraglichen Abschnitt geht es um nationale Normen, die nach der Ansicht der Mitgliedstaaten den grundlegenden Sicherheitsanforderungen der Richtlinie in ihrer jeweiligen Form entsprechen und die bei einem Fehlen harmonisierter Normen vorübergehend als Verweisungsobjekte herangezogen werden können. Bestehen solche Normen, so haben die Mitgliedstaaten der Kommission deren Wortlaut mitzuteilen. Nach Abschnitt V I Punkt 2 Absatz 1 Satz 2 „teilt die Kommission den Mitgliedstaaten innerhalb einer bestimmten Frist mit, daß bei der betreffenden Norm von der Vermutung einer Übereinstimmung auszugehen bzw. nicht auszugehen ... ist". Ähnlich auch die Regelung in Abschnitt V I Punkt 2 Absatz 2 Satz 2: „Im Lichte der Stellungnahme des Ausschusses teilt sie den Mitgliedstaaten mit, ob bei der betreffenden Norm noch oder nicht mehr von der Vermutung der Übereinstimmung auszugehen ... ist". Vgl. insoweit auch das Urteil des EuGH in der RS. 815 / 79, Italien. / .Cremonini u. Vrankovich, Urt. v. 02.12.1980, Slg. S. 3583 (3609 Rn. 13), in dem bezüglich der „Niederspannungsrichtlinie" ebenfalls von einer „Konformitätsvermutung" die Rede ist, ohne daß allerdings ausdrücklich klargestellt wird, ob diese Vermutung widerlegbar oder unwiderlegbar ist. 93

Ossenbühl, DVB1 1967, S. 401 (403).

154

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsverbände

scheidend kann vielmehr ausschließlich nur sein, welche Rechtswirkungen eine rechtliche Regelung unter Zugrundelegung eines objektiven Bewertungsmaßstabes entfaltet 94. Bezogen auf die hier zur Disposition stehende Verweisungstechnik bedeutet dies, daß ein normgerechtes Verhalten der Hersteller nur dann eine widerlegbare Vermutung für die Einhaltung der grundsätzlichen Sicherheitsanforderungen begründen kann, wenn eine solche Vermutungswirkung dem Inhalt der „Modellrichtlinie" ebenso entspricht wie dem Inhalt der einzelnen Harmonisierungsrichtlinien. Für die Aufklärung dieser Frage ist in methodischer Hinsicht erforderlich, sich zunächst einmal die Bedeutung des Begriffes „widerlegbare Tatsachenvermutung" zu vergegenwärtigen. Erst im Anschluß hieran kann dann untersucht werden, ob die den harmonisierten Normen nach der Ausgestaltung der „Modellrichtlinie" zufallenden Rechtswirkungen mit dem Terminus „widerlegbare Vermutung" inhaltlich zutreffend beschrieben werden können.

b) Der Begriff

„ widerlegbare

Vermutung "

Die rechtliche Bedeutung der widerlegbaren gesetzlichen Vermutung (praesumtio facti) besteht darin, daß bei ihrem Eingreifen bis zum Beweis des Gegenteils eine Vermutung für das Vorliegen einer bestimmten Tatsache besteht95. Im Bereich des Zivilprozeßrechts bedarf die vermutete Tatsache keines weiteren Beweises96. Die vermutete Tatsache braucht vom Begünstigten auch nicht behauptet zu werden; zu behaupten sind im Streitfall nur die tatsächlichen

94 Daß es für die Auslegung der Vertragsvorschriften auf eine objektive Betrachtungsweise ankommt, ist für das Gemeinschaftsrecht durch die Rechtsprechung des EuGH anerkannt. Vgl. EuGH RS. 45 / 86, Urt. v. 26.03.1987, Kommission. / .Rat, Slg. S. 1493 (1520 Rn. 11) - „Zollpräferenzen" - ; RS. 68 / 86, Urt. v. 23.02.1988, Vereinigtes Königreich. / .Rat, Slg. S. 855 (898 Rn. 24) - „Hormone" RS. 131 / 86, Urt. v. 23.02.1988, Vereinigtes Königreich./. Rat, Slg. S. 905 (933 Rn. 29) - ,Legehennen" - ; zuletzt bestätigt durch EuGH, RS. C 300 / 89, Urt. v. 11.06.1991, Kommission. / .Rat, EuR 1991, S. 175 (177). 95

Schneider, Gesetzgebung, Rn. 366 f.; Rosenberg / Schwab, ZPO, § 117 I 4 a; Leipold, in: Stein / Jonas, ZPO, § 292 Rn. 7; Mohr, Technische Normen, S. 50. Im Gegensatz zu den Tatsachenvermutungen sind die Rechtsvermutungen auf das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechts gerichtet. Beispiele für diese Form der Vermutung finden sich insbesondere im Bürgerlichen Recht. Vgl. z.B. §§ 891, 1006, 1138, 1362, 2365 BGB. 96

Vgl. Leipold, in: Stein / Jonas, ZPO, § 292 Rn. 6.

§ 3 Die rechtliche Bedeutung Europäischer Normen nach der „Neuen Konzeption"

155

Voraussetzungen für das Eingreifen der Vermutung 97 . Stehen diese Voraussetzungen fest, so hat der Richter im Wege der Rechtsanwendung von Amts wegen die vermutete Tatsache seinem Urteil zugrundezulegen und zwar nicht als bewiesen, sondern gerade ohne Beweis 98 . Insoweit ist die widerlegbare Tatsachenvermutung denn auch keine Beweis-, sondern eine Beweislastregel 99. Im Unterschied zum Zivilprozeß kennt der Verwaltungsprozeß weder eine Behauptungs- noch eine Beweisführungspflicht im Sinne einer formellen Beweislast. Die Existenz einer solchen Beweislast wäre mit dem Untersuchungsgrundsatz des § 86 VwGO nicht zu vereinbaren 100. Allerdings gibt es im Verwaltungsprozeß eine materielle Beweislast im Sinne eines „non liquet", das heißt die Notwendigkeit, die trotz aller Bemühungen des Gerichts zur Sachverhaltsaufklärung verbleibende Unerweislichkeit bestimmter Tatsachen zu Lasten des Klägers oder des Beklagten gehen zu lassen101. Die Frage, wem im Einzelfall die Beweislast in dem dargelegten Sinne obliegt, ist dem Bereich des materiellen Rechts zuzuordnen 102. Als eine solche materielle Beweislastregel kann die gesetzliche, widerlegbare Beweislastregel nur in der Situation der Beweislosigkeit zur Anwendung kommen, wenn also nach Ausschöpfung aller verfügbaren Beweismittel weder die vermutete Tatsache noch deren Gegenteil zur völligen Überzeugung des Rechtsanwenders feststeht. Nur im Falle eines „non liquet" ist der Rechtsanwender bei dieser Form der Vermutung an das Vorliegen der ver-

97

Sog. Vermutungsbasis, vgl. Marburger,

98

Diederichsen, NJW 1965, S. 671 (673); Rosenberg / Schwab, ZPO, § 117 I 4 a.

Regeln der Technik, S. 402.

99

H.L. vgl. Lukes , Tragweite, S. 213 (221); Stefener, S. 47; Musielak, Beweislast, S. 61 (73); Rosenberg / Schwab, ZPO, § 117 I 4 a; Leipold, in: Stein / Jonas, ZPO, § 292 Rn. 7; Jauernig, ZPO, § 50 V I ; Mohr, Technische Normen, S. 51. Die Widerlegung einer gesetzlich vermuteten Tatsache erfolgt durch den Beweis des Gegenteils, d.h. durch den vollinhaltlichen Beweis des NichtVorliegens der vermuteten Tatsache; dieser Beweis ist nicht Gegen-, sondern Hauptbeweis. Vgl. Stefener, a.a.O.; auch Leipold, a.a.O., Rn. 15; Mohr, a.a.O., S. 51 Fn. 128. 100 BVerwGE 3, S. 245 f.; E 52, S. 255 (260); E 61, S. 176 (189); E 68, S. 177 (180 f.). Vgl. auch Redeker/von Oertzen, VwGO, § 108 Rn. 11; Kopp, VwGO, § 108 Rn. 11. 101 102

BVerwGE 52, S. 255 (260); E 68, S. 177 (180 f.); O V G N W N V w Z 1987, S. 1012 f.

BVerwGE 19, S. 87 (94); E 44, S. 265 (269); E 45, S. 131 (132); BGH NJW 1983, S. 820; NJW 1983, S. 2032 (2033); NJW 1985, S. 1774 (1775); OVG Koblenz N V w Z 1987, S. 619 (620). Aus der Literatur auch Redeker/von Oertzen, VwGO, § 108 Rn. 11; Kopp, VwGO, § 108 Rn. 12; a.A. dagegen Ule, Verwaltungsprozeßrecht, § 50 I I 2, der die Regeln der Beweislast immer dem Bereich des Prozeßiechts zuordnen will.

156

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsverbände

muteten Tatsache gebunden und hat sie seiner Entscheidung so zugrundezulegen, als sei sie erwiesen 103 . Überträgt man die so beschriebene Rechtswirkung der widerlegbaren Vermutung auf den hier vorliegenden Typ der rechtsnormkonkretisierenden dynamischen Verweisung, so würde dies zwangsläufig bedeuten, daß die Konkretisierung der in den jeweiligen Harmonisierungsrichtlinien zwingend vorgeschriebenen und in das nationale Recht zu transformierenden grundlegenden Sicherheitsanforderungen trotz der Existenz harmonisierter Normen und einem entsprechenden normgerechten Verhalten eines Herstellers im Streitfall der vollinhaltlichen Überprüfung durch die Verwaltungsbehörden bzw. die Gerichte unterliegen müßte 104 . Erst wenn den zur Entscheidung der Richtlinienkonformität eines Produktes berufenen Instanzen eine zweifelsfreie Entscheidung mit anderen Beweismitteln nicht möglich ist, hätten diese nach der Beweislastregel davon auszugehen, daß ein normgemäßes Produkt den Sicherheitsanforderungen entspricht 105 . Nur in diesem Fall wären die Rechtsanwender im Prozeß oder im Verwaltungsverfahren an die inhaltlichen Festlegungen der gesetzlich in Bezug genommenen Normen gebunden.

c) Die rechtliche Bindung der Mitgliedstaaten

an die harmonisierten Normen

Es erscheint allerdings fraglich, ob sich die Rechtswirkung der in den jeweiligen Richtlinien bezogenen Europäischen Normen den Mitgliedstaaten gegenüber tatsächlich darauf beschränkt, ausschließlich in der Situation der Beweislosigkeit zur Anwendung zu gelangen. Dabei kann eine entsprechende Schlußfolgerung nicht bereits aus dem Umstand hergeleitet werden, daß die „Neue Konzeption" eine rechtsnormkonkretisierende Verweisung auf Normen enthält 106 . Bei einer solchen Vorgehensweise würde der Tatsache nicht Rechnung getra-

103 Marburger, Regeln der Technik, S. 406; Lukes , Regelung, S. 81 (91); Schneider, Gesetzgebung, Rn. 365; Mohr, Technische Normen, S. 51. Vgl. auch Leipold, Beweislastregeln, S. 56 f.; Rosenberg / Schwab, ZPO, § 117 I 4 a. 104

So im Ergebnis Marburger,

Regeln der Technik, S. 406; Mohr, Technische Normen, S. 52.

105

Vgl. allgemein für die rechtsnormkonkretisierende Verweisung Marburger, Formen, Verfahren und Rechtsprobleme, S. 27 (43). 106 So aber Marburger, Regeln der Technik, S. 401; ders., Formen, Verfahren und Rechtsprobleme, S. 27 (42 f.); Mohr, Technische Normen, S. 52. Beide Autoren wollen bereits aus dem Vorliegen einer solchen Verweisungstechnik automatisch folgern, daß die Verweisung eine nur widerlegbare gesetzliche Vermutung begründet.

§ 3 Die rechtliche Bedeutung Europäischer Normen nach der „Neuen Konzeption"

157

gen, daß der Gesetzgeber die an die Bezugnahme technischer Normen zu knüpfende Rechtswirkung eben dieser Normen durchaus unterschiedlich ausgestalten kann 107 . Wie stark die mit der Verweisung verbundene Rechtsbindung im Einzelfall tatsächlich ist, ist nicht allein aus der Sicht der Hersteller, sondern auch und gerade aus der Sicht der Behörden und Gerichte zu beurteilen. Unzutreffend ist insoweit die gegenteilige These der EG-Kommission in ihrer Stellungnahme zum Vorabentscheidungsverfahren in der Rechtssache 815 / 7 9 1 0 8 . Dort führte die Kommission aus: „Da die Verweisung auf alle diese Normen dem Betroffenen freigestellt ist, können die entsprechenden Normen nicht zwingend sein und haben daher nur die Qualität widerlegbarer Vermutungen". Richtig ist an dieser These, daß die Beachtung der Normen den Herstellern durch die Richtlinien nicht zwingend vorgeschrieben ist. Die Unverbindlichkeit der bezogenen Normen für die Hersteller kann aber keineswegs als Begründung dafür herangezogen werden, daß dieser Verweisungstechnik „nur" die Rechtswirkung einer widerlegbaren Vermutung zukommt 109 . Insoweit übersieht die Kommission nämlich, daß, selbst wenn die Rechtswirkung der durch die Verweisung bezogenen Normen mit dem Begriff „Vermutung" inhaltlich zutreffend beschrieben werden könnte, sich die Frage, ob eine solche Vermutung widerlegbar oder unwiderlegbar ist, immer nur aus der Sicht der Gerichte und Behörden bestimmen läßt. Nur wenn diese bei einer normgemäßen Produktion die gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheitsanforderungen zwingend als erfüllt anzusehen hätten, könnte von dem Vorliegen einer unwiderlegbaren und, sofern dies nicht der Fall sein sollte, von dem Vorliegen einer widerlegbaren Vermutung gesprochen werden. Daraus folgt, daß die Rechtswirkung der Verweisung auch aus der Perspektive der Verwaltungsbehörden und der Gerichte zu bestimmen ist. Aus diesem Grund soll im folgenden untersucht werden, wie sich Behörden und Gerichte nach der Ausgestaltung der „Modellrichtlinie" bei einer normgerechten Verhaltensweise der Hersteller zu verhalten haben.

107

So im Ansatz zutreffend bereits Lukes , Tragweite, S. 213 (221).

108

Vgl. Slg. 1980, S. 3591 (3592).

109

Noch weitergehend aber Molkenbur, DVB11991, S. 745 (751) für die ebenfalls auf der Grundlage der „Neuen Konzeption" erlassene „EG-Bauproduktenrichtlinie" (Rl. 89 / 106 / EWG des Rates v. 21.12.1988 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Bauprodukte, ABl. EG Nr. L 40 v. 11.02.1989, S. 12 ff.). Molkenbur folgert aus dem Umstand, daß die Beachtung der Normen den Produzenten freigestellt sei, daß es sich bei den bezogenen Normen insgesamt nur um „unverbindliche Formulierungen" handelt. Dabei übersieht Molkenbur aber, daß die bezogenen Normen nicht nur gegenüber den Herstellern, sondern auch und gerade gegenüber den Mitgliedstaaten Rechtswirkungen entfalten können.

158

3. Kapitel: Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsvebände

aa) Zur Bindung der Verwaltungsbehörden (1) Auslegung der ,»Modellrichtlinie" Die für die Frage nach dem Umfang der Bindung der Verwaltungsbehörden an die bezogenen harmonisierten Normen entscheidende Bestimmung enthält der Abschnitt V der „Modellrichtlinie" 111 . In Abschnitt V Punkt 1 lit. a dieser Vorschrift werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, von der Einhaltung der grundlegenden Sicherheitsanforderungen bei solchen Erzeugnissen auszugehen, die mit einer Konformitätsbescheinigung versehen sind, in der ihre Übereinstimmung mit solchen harmonisierten Normen bestätigt wird, die von der im Anwendungsbereich der Richtlinie jeweils besonders zuständigen europäischen Normungsorganisation festgelegt worden sind. Als weitere Voraussetzung müssen diese Normen in Übereinstimmung mit den zwischen dieser Organisation und der Kommission vereinbarten allgemeinen Leitlinien verabschiedet und ihre Fundstellen im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht worden sein. Außerdem müssen auch die Mitgliedstaaten die Normenfundstellen veröffentlicht haben. Bereits die Formulierung, daß die Mitgliedstaaten „davon auszugehen haben", daß normgemäße Produkte den grundlegenden Sicherheitsanforderungen entsprechen 112, deutet darauf hin, daß die Rechtswirkungen der bezogenen Europäischen Normen den Behörden gegenüber sehr viel ausgeprägter sein sollen, als dies der Begriff „widerlegbare Vermutung" erkennen läßt. Insoweit legt eine solche Ausdrucksweise vielmehr den Schluß nahe, daß, soweit Hersteller durch eine Konformitätsbescheinigung die Übereinstimmung ihres Erzeugnisses mit

111 112

ABl. EG Nr. C 136 v. 14.06.1985, S. 3 (5 f.).

Die in der „Modellrichtlinie" enthaltene Formulierung findet sich auch in den auf der Grundlage der „Neuen Konzeption" ergangenen Richtlinien. Vgl. z.B. Art. 7 der Rl. 89 / 336 / EWG des Rates v. 03.05.1989 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die elektromagnetische Verträglichkeit, Abi. EG Nr. L 139 v. 23.05.1989, S. 19 ff; Art. 5 der Rl. 8 9 / 392 / EWG des Rates v. 14.06.1989 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für Maschinen, ABl. EG Nr. L 189 v. 29.06.1989, S. 9 ff.; Art. 5 der Rl. 87 / 404 / EWG des Rates v. 25.06.1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für einfache Druckbehälter, ABl. EG Nr. L 220 v. 08.08.1987, S. 48 ff; Art. 5 der Rl. 90 / 384 / EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über nichtselbsttätige Waagen, ABl. EG Nr. L 189 v. 20.07.1990, S. 1 ff.; Art. 5 der RL. 90 / 385 / EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über aktive implantierbare Geräte, ABl. EG Nr. L 189 v. 20.07.1990, S. 17 ff.; Art. 5 der Rl. 90 / 396 / EWG des Rates v. 29.06.1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für Gasverbrauchseinrichtungen, ABl. EG Nr. L 196 v. 26.07.1990, S. 15 ff.

§ 3 Die rechtliche Bedeutung Europäischer Normen nach der „Neuen Konzeption"

159

den harmonisierten Normen nachweisen, die Verwaltungsbehörden von der Einhaltung der grundlegenden Sicherheitsanforderungen prinzipiell auszugehen haben. Ist diese Annahme richtig, so stünde der Verwaltung bei normgemäßen Produkten, jedenfalls grundsätzlich, nicht die Möglichkeit zu, zunächst auf andere Beweismittel als den Nachweis der Normenkonformität zurückzugreifen, um die Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheitsanforderungen zu überprüfen. Im Ergebnis würde dieses bedeuten, daß die durch die harmonisierten technischen Normen erfolgende Konkretisierung der grundlegenden Anforderungen für die nationalen Behörden grundsätzlich verbindlich ist. Die nationalen Verwaltungen wären gehalten, nicht erst im Zweifel, sondern von vornherein bei einem normgemäßen Produkt von dessen Verkehrsfähigkeit auszugehen. Für die Schlüssigkeit dieser These läßt sich die Regelung des Abschnitts Π Punkt 2 der „Modellrichtlinie" heranziehen. Dort wird mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß es den Mitgliedstaaten verboten ist, bei mit einer Konformitätsbescheinigung versehenen Produkten ein System der vorherigen Kontrolle durchzuführen. Zulässig sind allenfalls stichprobenartige Kontrollen, damit die Mitgliedstaaten der ihnen obliegenden Verantwortung für die Sicherheit von Produkten gerecht werden können. Da die Konformitätsbescheinigung unter anderem bereits dann erteilt wird, wenn ein Hersteller nachweisen kann, daß er normgemäß produziert hat 113 , folgt hieraus, daß eine umfassende Prüfungskompetenz der nationalen Behörden hinsichtlich der Richtlinienkonformität der harmonisierten Normen gerade nicht bestehen soll. Nach dem Willen des europäischen Gesetzgebers, so wie er in der „Modellrichtlinie" zum Ausdruck gekommen ist, sollen mithin die generalklauselartig formulierten Sicherheitsvorgaben durch die in Bezug genommenen Normen im Regelfall für die nationalen Behörden verbindlich konkretisiert werden. Diesem Verständnis entspricht auch die Vorgehensweise der Bundesrepublik Deutschland bei der Transformation der sogenannten „Spielzeugrichtlinie" 114 . So heißt es in Art. 1 Punkt 2 der allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Änderung der Verwaltungsvorschrift zum Gesetz über technische Arbeitsmittel vom 21.12.1990 115 wörtlich:

113 Vgl. Abschnitt V I I I in Verbindung mit Abschnitt V Punkt 1 Ziffer a der ,Modellrichtlinie", ABl. EG Nr. C 136 v. 04.06.1985, S. 5 u. 7. 114

Rl. 88 / 378 / EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Spielzeug v. 03.05.1988, ABl. EG Nr. L 187 v. 16.07.1988, S. 1 ff. 115

Bundesanzeiger Nr. 244 v. 30.12.1989.

160

3. Kapitel: Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsvebände

„Die zuständige Behörde hat bei einer nach Maßgabe des § 2 vorgenommenen Prüfung von Spielzeug, das der Verordnung über die Sicherheit von Spielzeug116 unterliegt, davon auszugehen, daß die in § 2 dieser Verordnung genannten Voraussetzungen gegeben sind, wenn das Spielzeug mit dem EG-Zeichen nach § 3 dieser Verordnung versehen ist und entweder vollständig entsprechend den in § 3 Absatz 1 Nr. 1 dieser Verordnung genannten Normen hergestellt ist oder mit dem nach Art. 10 der Richüinie 88 / 378 / EWG geprüften Baumuster übereinstimmt". Nach § 2 der Verordnung über die Sicherheit von Spielzeug darf „Spielzeug nur dann in Verkehr gebracht werden, wenn es den in Anhang 2 der Richtlinie 88 / 378 / EWG angegebenen wesentlichen Sicherheitsanforderungen auch unter Berücksichtigung der Dauer seines vorhersehbaren und normalen Gebrauchs entspricht und bei einer bestimmungsgemäßen Verwendung unter Berücksichtigung des üblichen Verhaltens von Kindern die Sicherheit oder Gesundheit von Benutzern oder Dritten nicht gefährdet". Diese Vorschriften zur Umsetzung der „Spielzeugrichtlinie" verdeutlichen, daß auch nach der Ansicht des deutschen Gesetzgebers keine Rede davon sein kann, daß sich die Rechtswirkung der durch die „Modellrichtlinie" vorgesehenen Verweisungstechnik auf eine „bloße Vermutung" im obengenannten Sinne zu beschränken hat. Die Verwaltungsbehörden werden insoweit sehr viel stärker an die harmonisierten Normen gebunden, als dies mit dem Begriff der Vermutung zum Ausdruck gebracht werden kann. Diese weitergehende Bindungswirkung läßt sich auch anhand des Abschnitts ΠΙ Punkt 1 Satz 2 der „Modellrichtlinie" belegen. In dieser Regelung weist der europäische Gesetzgeber darauf hin, daß die grundlegenden Sicherheitsanforderungen so formuliert sein müssen, daß bei einem Fehlen entsprechender Normen die Konformität des betreffenden Erzeugnisses unmittelbar nach Maßgabe der grundlegenden Anforderungen ermittelt werden kann. Einer solchen Formulierung läßt sich mittelbar entnehmen, daß eine unmittelbare Sicherheitsüberprüfung von Produkten regelmäßig nur dann anhand der generalklauselartig festgelegten Richtlinienanforderungen erfolgen soll, wenn technische Normen ausnahmsweise nicht zur Verfügung stehen. Bestehen solche Normen, so sind die nationalen Behörden gehalten, deren Inhalte als grundsätzlich verbindlichen Auslegungsmaßstab für eine Sicherheitsüberprüfung bestimmter Erzeugnisse anzusehen. Schließlich folgt die prinzipielle Verbindlichkeit der Normeninhalte für die Verwaltung auch aus Abschnitt I V Punkt 1 der „Modellrichtlinie". Nach dieser Vorschrift sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, den freien Verkehr von Erzeugnissen, die den grundlegenden Anforderungen der Generalklausel entspre-

116

Verordnung v. 21.12.1989, BGBl. I. 1989, S. 2541 f.

§ 3 Die rechtliche Bedeutung Europäischer Normen nach der „Neuen Konzeption"

161

chen, unter anderem für die Fälle herzustellen, daß der Hersteller normgemäß produziert hat. Von Bedeutung ist dabei insbesondere der nachfolgende Zusatz, daß im Regelfall die Einhaltung dieser Sicherheitsanforderungen keiner vorherigen behördlichen Kontrolle unterliegen soll. Insgesamt zeigt die Untersuchung der in der „Modellrichtlinie" enthaltenen Bestimmungen, daß die Rechtswirkung der bezogenen Normen mit dem Begriff „Vermutung" inhaltlich nicht vollständig beschrieben werden kann. Die bezogenen Normen können von den Behörden nicht nur im Falle eines „non liquet" herangezogen werden; vielmehr sind die Behörden grundsätzlich gehalten, die harmonisierten Normen als verbindliche Konkretisierung der gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheitsanforderungen ihrer Entscheidung zugrundezulegen. Eine systematische Prüfungskompetenz steht den Verwaltungsbehörden insoweit nicht zu.

(2) Bedeutung des Schutzklauselverfahrens Andererseits ist diese Bindung jedoch nicht so stark, als daß den nationalen Behörden bezüglich normgemäßer Produkte niemals die Möglichkeit offensteht, marktbeschränkende Maßnahmen zulässigerweise vorzunehmen. So können die Mitgliedstaaten nach Abschnitt V I I Punkt 1 der „Modellrichtlinie" unter der Voraussetzung, daß ein Erzeugnis die Sicherheit von Personen, Haustieren oder Gütern zu gefährden droht, alle zweckdienlichen Maßnahmen treffen, um das Inverkehrbringen des betreffenden Erzeugnisses rückgängig zu machen, zu verbieten oder den freien Verkehr mit diesem Erzeugnis einzuschränken, auch wenn es mit einer Konformitätsbescheinigung versehen ist. Die Entscheidung einer nationalen Behörde, von dieser Schutzklausel Gebrauch zu machen, hat jedoch nur einen vorläufigen Charakter 117. Rechtmäßigerweise kann eine marktbeschränkende Maßnahme bezüglich normkonformer Erzeugnisse nur dann aufrechterhalten werden, wenn die EG-Kommission die nationale Entscheidung in dem zu diesem Zwecke eingerichteten Schutzklausel verfahren bestätigt 118 . Soweit ein Hersteller normgemäß produziert hat, können die nationalen Verwaltungsbehörden eine den freien Warenverkehr mit diesem Produkt beein-

117

Daß nationale Behörden unter den Begriff „Mitgliedstaat" fallen, ist unstreitig. Hierzu sowie zu der problematischen Frage, ob auch nationale Gerichte unter Berufung auf den Abschnitt V I I Punkt 1 der „Modellrichtlinie" marktbeschränkende Maßnahmen hisichtlich eines mit einer Konformitätsbescheinigung versehenen Erzeugnisses treffen können, vgl. die Ausführungen unten S. 164 f. 118

Vgl. Abschnitt V I I Punkt 1 Satz 2 der „Modellrichtlinie".

11 Breulmann

162

3. Kapitel: Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsverbände

trächtigende Maßnahme nur unter der Voraussetzung treffen 119 , daß die Gefahrdung der Sicherheit auf einen Mangel der durch die jeweilige Richtlinie bezogenen Norm zurückzuführen ist 120 . Endgültig wird die mit der Verweisung begründete Rechtswirkung einer Norm erst dann beseitigt, wenn die Kommission die Fehlerhaftigkeit dieser Norm bestätigt und ihre Streichung aus der Normenliste anordnet 121. Mit der Steichung fallt die betreffende Norm aus dem Kreis der durch Abschnitt V Punkt 1 Ziffer a der „Modellrichtlinie" bezogenen Normen heraus, die den freien Warenaustausch beschränkende Entscheidung der nationalen Behörde wird rechtswirksam. In allen anderen Fällen ist ein Einschreiten der Behörden selbst dann nicht möglich, wenn das nationale Recht strengere Anforderungen an die Produktsicherheit vorsieht 122 . An dieser Ausgestaltung der Schutzklausel wird ebenfalls deutlich, daß der den Mitgliedstaaten verbleibende eigenverantwortliche Entscheidungsspielraum bei der Kontrolle normgemäßer Produkte auf ihre Richtlinienkonformität auf ein Minimum begrenzt ist.

(3) Sinn und Zweck der Verweisungstechnik Eine derart weitgehende Bindung der Verwaltungsbehörden entspricht auch dem Sinn und Zweck der Harmonisierungsbestrebungen der Gemeinschaftsorgane. Die Inbezugnahme der technischen Normen dient der Rechtsvereinheitlichung. Ziel der Verweisungstechnik ist es, die Hersteller dazu zu veranlassen, normgemäß zu produzieren. Mittelbar läßt sich diese Zielsetzung an der Regelung in Abschnitt V Punkt 3 der „Modellrichtlinie" ablesen. Dort heißt es, daß die Mitgliedstaaten akzeptieren, daß Erzeugnisse, bei denen der Hersteller

119 Ein Einschreiten der Behörden ist auch dann möglich, wenn sich der Nachweis erbringen läßt, daß ein Hersteller eine fehlerfreie Norm fehlerhaft bzw. mangelhaft angewendet hat. Vgl. Abschnitt V I I Punkt 1 Satz 2 Ziffer b der „Modellrichtlinie". 120

Vgl. Abschnitt V I I Punkt 1 Satz 2 Ziffer c der „Modellrichtlinie".

121

Vgl. Abschnitt V I I Punkt 3 in Verbindung mit Abschnitt V I Absatz 2 Satz 1 der „Modellricht-

linie". 122 Vgl. auch Abschnitt I V Punkt 2 der „Modellrichtlinie". Da die Richtlinien zum Ziel haben, alle grundlegenden Anforderungen bezüglich eines bestimmten Produktes in einem bestimmten Bereich zu erfassen, können sich die Mitgliedstaaten auch nicht auf Art. 36 EWGV oder ein anderes zwingendes Erfordernis berufen. Art. 36 EWGV kann nur dann zur Anwendung gelangen, wenn im Ausnahmefall eine Lücke in der Rechtsangleichung bestehen sollte. Dieses dürfte auf den Gebieten, die durch technische Normen geregelt werden, jedoch wohl kaum einmal der Fall sein. Vgl. zum Umfang der Rechtsangleichung nach der „Neuen Konzeption" oben S. 121 ff.

§ 3 Die rechtliche Bedeutung Europäischer Normen nach der „Neuen Konzeption"

163

keinerlei Norm angewendet hat (wegen Fehlens einer Norm oder aus sonstigen außergewöhnlichen Gründen), als den grundlegenden Sicherheitsanforderungen entsprechend betrachtet werden, wenn ihre Übereinstimmung mit den Richtlinienvorgaben durch eine Konformitätsbescheinigung bestätigt wird. Die Formulierung „außergewöhnlich" weist darauf hin, daß die normgemäße Vorgehensweise nach dem Willen von Rat und Kommission den Regelfall bilden soll. Obwohl also durch die Verweisungstechnik ein rechtlicher Befolgungszwang nicht begründet werden soll, zielen die Harmonisierungsrichtlinien doch darauf ab, die Hersteller faktisch zur Befolgung der bezogenen Normen zu veranlassen. Ein solches Ziel kann in der Praxis nur dann erreicht werden, wenn es für die Hersteller vorteilhaft ist, ihre Produktion nach den Normeninhalten auszurichten. Dieses ist nach der Ausgestaltung der „Neuen Konzeption" gerade der Fall. Da die Normeninhalte nach ihrer Harmonisierung innerhalb der EG- und EFTA-Mitgliedstaaten identisch sind, existieren inhaltlich übereinstimmende Detailregelungen, die europaweit die an ein Erzeugnis zu stellenden Sicherheitsanforderungen einheitlich beschreiben. Das Bestehen eines solchen Katalogs an Detailbestimmungen und eine weitgehende Bindung der Verwaltungsbehörden an diese Regelungen gewährleisten, daß die Behörden zumindest in den EG-Mitgliedstaaten bei einer Prüfung von Erzeugnissen auf ihre technische Sicherheit von einem einheitlichen, relativ einfach zu kontrollierenden Prüfiingsmaßstab ausgehen. Da eine Abweichung von diesem Maßstab nur dann möglich ist, wenn eine Norm fehlerhaft ist und die EG-Kommission die Fehlerhaftigkeit der Norm ausdrücklich bestätigt, bietet dieses System der Verweisung den Herstellern eine weitgehende Garantie dafür, daß sie bei einer normgemäßen Produktion ihre Waren frei von behördlichen Einschränkungen auf dem gesamten europäischen Markt absetzen können. Diese Anreize für eine normenkonforme Verhaltensweise würden aber entfallen, wenn die nationalen Behörden ohne weiteres das Inverkehrbringen normgemäßer Erzeugnisse behindern könnten. Der mit der möglichst umfassenden Bindung der mitgliedstaatlichen Behörden erstrebte Schutz der Hersteller vor ungerechtfertigten, den freien Warenverkehr einschränkenden behördlichen Anordnungen wird in verfahrensrechtlicher Hinsicht zusätzlich durch das Schutzklauselverfahren abgesichert. So ist die Inanspruchnahme der Schutzklausel gegenüber normgerechten Produkten der Kommission unverzüglich und unter Beifügung einer ausführlichen Begründung mitzuteilen. Dadurch, daß die Kommission letztendlich über die Rechtmäßigkeit der nationalen Schutzmaßnahme entscheidet, können die Hersteller in aller Regel davon ausgehen, daß sie mit einschränkenden Maßnahmen staatlicher Be-

164

3. Kapitel: Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsverbände

hörden tatsächlich nur in dem Ausnahmefall zu rechnen haben, daß sich eine Norm gemessen an den Richtlinienvorgaben als fehlerhaft erweist 123 . Mithin verdeutlichen auch die Funktionen der Verweisungstechnik und des Schutzklauselverfahrens, daß die Rechtsbindung der bezogenen Normen den nationalen Behörden gegenüber weiter geht, als dies mit dem herkömmlichen Verständnis des Begriffes „widerlegbare Vermutung" zum Ausdruck gebracht werden kann. Im Ergebnis sind die Behörden grundsätzlich an die bezogenen Normen gebunden 124 ; eine eigene Prüfungskompetenz oder ein eigener Entscheidungsspielraum steht ihnen nur bezüglich der Frage zu, ob eine bezogene Norm fehlerhaft ist. Aber auch insoweit haben sie grundsätzlich davon auszugehen, daß eine harmonisierte Norm die grundlegenden Sicherheitsanforderungen rechtsfehlerfrei konkretisiert.

bb) Zur Bindung der Gerichte (1) Auslegung der „Modellrichtlinie" Im Hinblick auf die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten stellt sich die Frage, ob diese nach der Ausgestaltung der „Modellrichtlinie" befugt sind, Entscheidungen mit dem Inhalt zu treffen, daß normgemäße Erzeugnisse den in das nationale Recht transformierten grundlegenden Sicherheitsvorgaben nicht entsprechen und ihnen damit die Verkehrsfähigkeit fehlt. In der „Modellrichtlinie" selbst werden die Gerichte gesondert nur an einer Stelle erwähnt. Nach Abschnitt V m Punkt 4 der „Modellrichtlinie" betrifft die Festlegung einer erschöpfenden Liste von [Konformitäts-] Bescheinigungen nur

123 Eine solche Möglichkeit ist allerdings niemals auszuschließen. Dieses zeigt z.B. der Fall der Koblenzer Rheinbrücke im Jahr 1972. Die nach einem zu der damaligen Zeit neuen, in einer DINNorm vorgesehen Bauverfahren erstellte Brücke stürzte kurz vor ihrer Fertigstellung ein. Das in der DIN-Norm fixierte Bauverfahren erwies sich im nachhinein als unrichtig. Vgl. auch Nicklisch, NJW 1986, S. 2287 (2291); Mohr, Technische Normen, S. 49 Fn. 120. Weitere Beispiele finden sich bei Fischer, Regeln der Technik, S. 51 f. Vgl. auch BGH NJW 1984, S. 801 (802) betreffend einer zur Gefahrenabwehr nicht hinreichend geeigneten DIN-Norm. 124

Vgl. auch Viewegy Technische Normen, S. 57 (74 Fn. 78) dessen Auffassung zufolge sich aus dem Anhang II des „new approach" für die Verwaltung eine Verpflichtung ergibt, die Übereinstimmung der Normen mit den Richtlinienbestimmungen anzuerkennen. A.A. Bruha, ZaöRV Bd. 46 (1986), S. 1 (25), der ohne inhaltliche Begründung davon ausgeht, daß ,»richtig verstanden die Referenznormen keine Rechtsverbindlichkeit, auch nicht Verwaltungsbehörden gegenüber entfalten sollen".

§ 3 Die rechtliche Bedeutung Europäischer Normen nach der „Neuen Konzeption"

165

das System der Konformitätsvermutungen. Sie darf aber nicht dazu führen, daß die Möglichkeit für die Beteiligen eingeschränkt wird, im Rahmen einer Anfechtung oder eines gerichtlichen Verfahrens den Beweis für die Übereinstimmung eines Erzeugnisses mit den grundlegenden Sicherheitsanforderungen durch jedes Mittel ihrer Wahl zu erbringen. Dieser Regelung läßt sich entnehmen, daß den nationalen Gerichten jedenfalls die Befugnis zusteht, unter anderem auch bei nichtnormkonformen Produkten, für die eine Konformitätsbescheinigung nach Abschnitt V I I I der „Modellrichtlinie" nicht erteilt worden ist, in einem Urteil die Übereinstimmung dieser Produkte mit den gesetzlichen Sicherheitsvorgaben festzustellen. Inhaltlich geht es hierbei um die Möglichkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte, eine den Hersteller begünstigende und damit den freien Warenverkehr fördernde Entscheidung zu treffen, obwohl sich dieser nicht im Besitz der grundsätzlich erforderlichen Konformitätsbescheinigung befindet. Für die Beantwortung der hier entscheidenden, genau gegenteiligen Frage, ob nationale Gerichte trotz normenkonformer Verhaltensweise der Hersteller auch eine den Hersteller benachteiligende, den freien Warenverkehr beschränkende Entscheidung treffen können, läßt sich der Regelung in Abschnitt V U ! Punkt 4 der „Modellrichtlinie" dagegen nichts entnehmen. Insoweit ist es erforderlich, auf die allgemeinen Regelungen der Abschnitte V und V I I der „Modellrichtlinie" zurückzugreifen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang die Auslegung der Regelung über die Inanspruchnahme der Schutzklausel in Abschnitt VII. Nach dieser Vorschrift ist den „ M i t g l i e d s t a a t e n " die Befugnis eingeräumt, trotz des Vorliegens der Voraussetzungen nach Abschnitt V den freien Verkehr von Waren einzuschränken. Je nach dem, wie diese Regelung auszulegen ist, ergeben sich hinsichtlich des möglichen Umfangs einer gerichtlichen Bindung an die Inhalte der bezogenen Normen drei verschiedene theoretisch denkbare Möglichkeiten. Zum einen könnte diese Bestimmung so auszulegen sein, daß sie nur bei verwaltungsbehördlichen Entscheidungen eingreift, das heißt mit anderen Worten nur Verwaltungsmaßnahmen einer Überprüfung im Rahmen des Schutzklauselverfahrens unterziehen will. Die Gerichte wären an die Einhaltung dieses Verfahrens nicht gebunden, sondern sie könnten ohne weiteres auch bei einem normgerechten Erzeugnis das Vorliegen der gesetzlichen Sicherheitsanforderungen als nicht erfüllt ansehen. Dieses würde bedeuten, daß die Gerichte in jedem Verfahren kraft eigener Kompetenz uneingeschränkt prüfen könnten, ob eine Norm die in das nationale Recht umgesetzten Richtlinienvorgaben zutreffend konkretisiert. Soweit ein Gericht zu der Überzeugung gelangt, daß dies nicht der Fall ist, könnte es auch ohne Durchführung eines gesonderten Schutzklau-

166

3. Kapitel: Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsverbände

selverfahrens das Inverkehrbringen eines Produktes aus Sicherheitsgründen untersagen und dadurch den freien Warenverkehr bezüglich dieses Produktes einschränken. Zum anderen könnte die Regelung in Abschnitt VO. der „Modellrichtlinie" aber auch so zu verstehen sein, daß einzelstaatliche Gerichte zwar grundsätzlich befugt sind, marktbeschränkende Entscheidungen zu treffen, daß derartige Entscheidungen aber immer nur unter dem Vorbehalt einer Bestätigung durch die Kommission im Rahmen des Schutzklauselverfahrens ergehen dürfen. In diesem Falle wären die Gerichte an die harmonisierten Normen in gleicher Weise wie die nationalen Verwaltungsbehörden gebunden. Grundsätzlich wären sie gehalten, von der Verkehrsfähigkeit eines normgemäßen Erzeugnisses auszugehen. Die dritte und letzte Auslegungsmöglichkeit besteht schließlich darin, die Regelung der Schutzklausel als die einzige Möglichkeit für die Mitgliedstaaten anzusehen, rechtmäßigerweise marktbeschränkende Maßnahmen zu ergreifen, und gleichzeitig den mitgliedstaatlichen Gerichten die Antragsbefugnis im Schutzklauselverfahren abzusprechen. Methodisch könnte dies dadurch geschehen, daß man die nationalen Gerichte aus dem Begriff „ M i t g l i e d s t a a t e n " in Abschnitt V I I der „Modellrichtlinie" ausklammert. In diesem Fall würde eine gerichtliche Entscheidung des Inhalts, daß ein normenkonformes Erzeugnis nicht den grundlegenden gesetzlichen Sicherheitsvorgaben entspricht, eine den freien Warenverkehr eben mit diesem Produkt einschränkende Maßnahme darstellen. Da aber eine solche Maßnahme nur bei einer Einhaltung des Schutzklauselverfahrens zulässig wäre und den nationalen Gerichten die Antragsbefugnis zur Durchführung eines solchen Verfahrens fehlen würde, dürften sie eine entsprechende Entscheidung nicht treffen. Dieses würde im Ergebnis bedeuten, daß die nationalen Gerichte umfassend an den Inhalt der bezogenen Normen gebunden wären, so daß sie bei normgerechten Erzeugnissen zwingend vom Vorliegen der gesetzlichen Sicherheitsanforderungen auszugehen hätten. Geht man allein vom Inhalt der „Modellrichtlinie" aus, so sprechen einige Anhaltspunkte dafür, daß die Bindung der mitgliedstaatlichen Gerichte an die harmonisierten Normen ebenso stark ausgeprägt sein soll wie die der Verwaltungsbehörden. Ein entsprechender Hinweis folgt bereits aus dem Sinn und Zweck des Schutzklauselverfahrens. Könnte jedes nationale Gericht ohne Einhaltung des Verfahrens nach Abschnitt V I I der „Modellrichtlinie" von der Wirksamkeit bzw. Unwirksamkeit einer harmonisierten technischen Norm ausgehen, so könnte dies dazu führen, daß innerhalb der einzelnen EG-Mitgliedstaaten unterschiedliche Rechtsauffassungen darüber entstehen, ob ein normgerechtes Erzeugnis nun aus Sicherheitsgründen verkehrsfahig ist oder nicht. Im

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167

Extremfall könnten sogar in einem Mitgliedstaat die Meinungen verschiedener Gerichte über die Verkehrsfähigkeit bestimmter Erzeugnisse geteilt sein. Allein die theoretische Möglichkeit, daß derartige Rechtsunsicherheiten enstehen, ist mit dem Sinn der Inbezugnahme harmonisierter Normen ebenso wenig zu vereinbaren wie mit der Existenz des Schutzklauselverfahrens. Nach der „Neuen Konzeption" sollen die Mitgliedstaaten einheitlich von der Gültigkeit oder Ungültigkeit einer technischen Norm ausgehen, da ansonsten sich die Hersteller nicht darauf verlassen könnten, daß ein Produkt bei normenkonformer Herstellung in sämtlichen Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ohne einzelstaatliche Restriktionen absetzbar ist. Außerdem könnte ansonsten die Funktion einer gesetzgeberischen Rechtsvereinheitlichung, die zu einer umfassenden Harmonisierung führen soll, nicht erreicht werden. Diesen Zielen dient aber gerade das Schutzklauselverfahren. Allein die EG-Kommission kann mit verbindlicher Wirkung für sämtliche Mitgliedstaaten die Streichung einer Norm aus der Normenliste herbeiführen und dadurch die durch die Verweisung entstandenen Rechtswirkungen der betreffenden Norm wieder beseitigen. Solange, wie die Kommission eine solche Entscheidung nicht getroffen hat, muß es bei der allgemeinen Regelung des Abschnitts V Punkt 1 Ziffer a der „Modellrichtlinie" bleiben, wonach alle Mitgliedstaaten bei normenkonformen Produkten von der Erfüllung der grundlegenden Sicherheitsanforderungen auszugehen haben. Diese Überlegungen verbieten es jedenfalls, den nationalen Gerichten losgelöst von den verfahrensrechtlichen Bestimmungen der „Modellrichtlinie" die Möglichkeit einzuräumen, aus eigener Kompetenz die Ungültigkeit einer harmonisierten Norm abschließend festzustellen und hierdurch eine den freien Warenverkehr einschränkende Entscheidung zu treffen. Bei einer jeden den freien Warenverkehr beschränkenden nationalen Maßnahme, unabhängig von der Frage, ob sie von einem Gericht oder einer Verwaltungsbehörde getroffen wird, ist demnach in jedem Fall das Schutzklauselverfahren einzuhalten. Im übrigen spricht der Wortlaut verschiedener Vorschriften der „Modellrichtlinie" für eine Auslegung, die es auch den mitgliedstaatlichen Gerichten unter Einhaltung des Schutzklauselverfahrens erlaubt, marktbeschränkende Anordnungen bezüglich normenkonformer Produkte zu erlassen. So werden im Abschnitt V E der „Modellrichtlinie" ebenso wie im Abschnitt V als Adressaten dieser Regelungen übereinstimmend die „Mitgliedstaaten" genannt. Würde man nun aber die nationalen Gerichte einerseits an die Vorschrift des Abschnitts V der „Modellrichtlinie" binden, ihnen aber andererseits die Berufung auf den Abschnitt V E versagen, so müßte man denselben Begriff in zwei unterschiedlichen Vor-

3. Kapitel: Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

168

derselben Richtlinie unterschiedlich interpretieren. In Abschnitt V der „ M o d e l l r i c h t l i n i e " würde der Begriff „Mitgliedstaaten" sowohl die nationalen Gerichte als auch die Verwaltungsbehörden umfassen, während er in Abschnitt V I I ausschließlich auf die Verwaltungsbehörden zu beschränken wäre. Aus systematischen Gründen scheint daher die These vom Bestehen einer Antragsbefügnis nationaler Gerichte im Schutzklauselverfahren überzeugender. Schriften

Schließlich wird die Schlüssigkeit dieser These auch noch durch die Tatsache gestärkt, daß in der „Modellrichtlinie" an einigen Stellen zwischen den Begriffen ,3ehörde" und „Mitgliedstaat" differenziert wird 1 2 5 . Das Nebeneinander der beiden Begriffe könnte als Beleg für die Annahme herangezogen werden, daß die Gemeinschaftsorgane mit den unterschiedlichen Formulierungen auch unterschiedliche Adressaten ansprechen wollten. Im Umkehrschluß Hesse sich hieraus folgern, daß der europäische Gesetzgeber, wenn er die Antragsbefugnis im Schutzklauselverfahren tatsächlich auf die Verwaltungsbehörden hätte beschränken wollen, er diese seine Absicht auch durch die Verwendung einer entsprechenden Terminologie in sprachlicher Form deutlich zum Ausdruck gebracht hätte. Im Ergebnis sprechen bei einer Auslegung der „Modellrichtlinie" also mehrere Indizien für die Annahme, daß auch nationale Gerichte unter Einhaltung des Schutzklauselverfahrens befugt sind, marktbeschränkende Anordnungen bezüglich normgemäßer Erzeugnisse zu erlassen. Diese Indizien erweisen sich allerdings als nicht so stark, daß man eine entsprechende Auslegung als zwingend geboten anzusehen hätte.

(2) Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache 815/79 Entscheidende Hinweise für die Auslegung der fraglichen Bestimmungen lassen sich dem Urteil des EuGH in der RS. 8 1 5 / 7 9 1 2 6 sowie den Stellungnahmen der an diesem Verfahren beteiligten Personenkreise entnehmen. Wie bereits erwähnt 127 ging es in dieser Rechtssache im Rahmen eines Vorabentschei-

125

Vgl. nur einerseits Abschnitt I I Punkt 2: „mitgliedstaatliche Behörden"; andererseits Abschnitte IV, V Punkt 1 Ziffer a sowie Abschnitt V I I Punkt 1: „Mitgliedstaat"; vgl. auch Abschnitt V I I I Punkt 3 Ziffer 4: „gerichtliches Verfahren". 126

EuGH, Urt. v. 02.12.1980, Italien. / .Cremonini u. Vrankovich, Slg. S. 3583 ff.

127

Vgl. oben S. 149.

§ 3 Die rechtliche Bedeutung Europäischer Normen nach der „Neuen Konzeption"

169

dungsverfahrens um die Auslegung der „Niederspannungsrichtlinie" 128. Diese ist in ihren grundlegenden Strukturen insofern mit der „Modellrichtlinie" vergleichbar, als sie ebenfalls nur eine generalklauselartige Festlegung „grundlegender Sicherheitsanforderungen" enthält und im übrigen in rechtsnormkonkretisierender dynamischer Form auf Europäische Normen verweist. In dem angesprochenen Verfahren war insbesondere die Auslegung des Art. 9 der „Niederspannungsrichtlinie" streitig. Nach dieser Regelung sind die Mitgliedstaaten gehalten, sofern sie aus Sicherheitsgründen das Inverkehrbringen von elektrischen Betriebsmitteln untersagen oder den freien Verkehr dieser Betriebsmittel behindern, die Kommission unverzüglich unter Angabe der Gründe von dieser Entscheidung in Kenntnis zu setzen. Erheben andere Mitgliedstaaten gegen diese nationale Entscheidung Einspruch, so setzt sich die Kommission mit den betreffenden Mitgliedstaaten auseinander und versucht insoweit Einvernehmen zu erzielen. Kommt ein solches Einvernehmen nicht zustande, so spricht die Kommission gemäß Art. 9 Absatz 5 nach Abschluß eines im einzelnen geregelten Verfahrens eine Empfehlung aus oder gibt eine Stellungnahme ab. Bezüglich der Zulässigkeit der Inanspruchnahme dieser Schutzklausel vertrat die italienische Regierung die Auffassung, daß es sich bei der Vorschrift des Art. 9 der „Niederspannungsrichtlinie" nur um eine ergänzende Anordnung handelt, die die Befugnis der nationalen Gerichte, in eigener Verantwortung auch bei normgemäßen Erzeugnissen über das Vorliegen der gesetzlichen Sicherheitsanforderungen zu entscheiden, in keiner Weise berührt 129 . Unter Zugrundelegung dieser Auffassung dürften die nationalen Gerichte, unabhängig von dem Inhalt der in den technischen Normen festgelegten Spezifikationen, auch normgemäße Produkte direkt am Maßstab der nur generalklauselartig umschriebenen gesetzlichen Sicherheitsanforderungen auf ihre Produktsicherheit hin überprüfen. Soweit die Gerichte zu dem Ergebnis kommen, daß das normengerechte Produkt diesen Sicherheitsanforderungen nicht entspricht, könnten sie durch eine entsprechende Entscheidung den freien Warenverkehr mit diesem Erzeugnis einschränken oder verhindern, ohne daß sie das Verfahren

128 Rl. 73 / 23 / EWG des Rates v. 19.02.1973 über die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend elektrische Betriebsmittel zur Verwendung innerhalb bestimmter Spannungsgrenzen, ABl. EG Nr. L 77 v. 26.03.1973, S. 29 ff. 129

Slg. 1980, S. 3598. Der genaue Wortlaut der Stellungnahme lautet: „Die Richtlinie erlege den Mitgliedstaaten lediglich eine Informationspflicht auf, die auf die rechtsprechende Tätigkeit der einzelstaatlichen Gerichte keinen Einfluß habe; die Befugnisse der Verwaltung träten zu denen der Gerichte hinzu, ersetzten sie aber nicht".

170

3. Kapitel: Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsverbände

des Art. 9 der „Niederspannungsrichtlinie" einzuhalten hätten. Im Ergebnis wären nationale Gerichte daher nicht an die bezogenen Normen gebunden. Gegen diese These wandte sich Generalanwalt Warner in seinem Schlußantrag unter Berufung auf die Stellungnahmen der Kommission sowie der im Ausgangsverfahren angeklagten Personen 130. Nach der Auffassung des Generalanwalts ist die Vorschrift des Art. 9 der ,»Niederspannungsrichtlinie" in jedem Falle zwingend, so daß bei einer jeden marktbeschränkenden Maßnahme ein Schutzklauselverfahren durchzuführen ist 1 3 1 . Diese Auffassung ist vom Europäischen Gerichtshof in seiner Entscheidung ausdrücklich bestätigt worden. Insoweit führte der EuGH aus 132 : „Der freie Verkehr dieser Betriebsmittel, von denen vermutet wird, daß sie den Sicherheitsnormen entsprechen, auf die sich die angeführten Vorschriften beziehen, darf nur in Anwendung des in Art. 9 vorgesehenen gemeinschaftlichen Verfahrens aus Sicherheitsgründen erschwert werden ... Denn soweit auf einem Gebiet eine Harmonisierungsrichtiinie gilt, bildet sie den Rahmen für die Durchführung geeigneter Kontrollen und die Ergreifung von Schutzmaßnahmen". Diesen Ausführungen läßt sich entnehmen, daß Art. 9 der »»Niederspannungsrichtlinie" jedenfalls keine Spezialregelung für die Verwaltungsbehörden beinhaltet, daß die nationalen Gerichte insoweit also nicht privilegiert sind. Wenn und soweit mitgliedstaatliche Gerichte überhaupt durch Urteile und Entscheidungen den freien Warenverkehr mit normenkonformen Produkten einschränken dürfen, so können solche einschränkenden Maßnahmen allenfalls unter Einhaltung des Schutzklauselverfahrens erfolgen 133 . Diese Feststellung leitet unmittelbar zu der nächsten Frage über, ob nämlich die einzelstaatlichen Gerichte überhaupt im Rahmen des Schutzklauselverfahrens antragsbefugt sind. Die Beantwortung dieser Frage war unter den am Vorabentscheidungsverfahren Beteiligten ebenfalls umstritten. Nach der Ansicht der Angeklagten des Ausgangsverfahrens dürfen nationale Gerichte das Inverkehrbringen solcher Geräte, die den Gemeinschaftsnormen

130

Schlußantrag in der RS. 815 / 79 v. 23.09.1980, Slg. 1980, S. 3614 ff.

131

Schlußantrag, a.a.O., S. 3628.

132

EuGH, Urt. v. 02.12.1980, Slg. S.3583 (3609 Rn. 10).

133

Trotz des gegenteiligen Wortlauts des Art. 9 Absatz 2 der,»Niederspannungsrichtlinie" ist ein Schutzklauselverfahren auch dann durchzuführen, wenn andere Mitgliedstaaten gegen die nationale Maßnahme keinen Einspruch erheben. Die Notwendigkeit einer entsprechenden Auslegung des Art. 9 folgt bereits aus dem Sinn des Schutzklauselverfahrens, nämlich der Wahrung eines einheidichen Sicherheitsstandards in der Gemeinschaft. Vgl. auch die zutreffende Darstellung bei Joerges / Falke / Michlitz / Brüggemeier, S. 336.

§ 3 Die rechtliche Bedeutung Europäischer Normen nach der „Neuen Konzeption"

171

entsprechen, nicht untersagen, da sie hierfür nach der Richtlinie 73 / 23 / EWG nicht zuständig seien. Eine gerichtliche Maßnahme sei allenfalls dann möglich, wenn sie eine Entscheidung der Verwaltungsbehörden bestätige, welche die insoweit zuständigen Stellen im Laufe oder bei Abschluß des in Art. 9 der „Niederspannungsrichtlinie" vorgesehenen Verfahrens getroffen hätten. Eine gerichtliche Entscheidung, die diesem Verwaltungsverfahren vorausgehe oder die inhaltlich von der Entscheidung der Verwaltungsbehörde abweiche, sei dagegen ausgeschlossen134. Einen ähnlichen Standpunkt wie den der Angeklagten des Ausgangsverfahrens vertrat auch die Kommission, die davon ausging, daß das Schutzklauselverfahren nicht nur formell von Bedeutung sei, sondern in erster Linie dazu diene, die Gesundheit aller Verbraucher in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu schützen. Zur Sicherung der Funktionsfahigkeit dieses Verfahrens müßten Verbote von der Exekutive verhängt werden, da das Schutzklauselverfahren ein Verfahren administrativer Art sei und das Wollen eines Mitgliedstaates durch seine Verwaltung und nicht etwa durch die einzelstaatlichen Gerichte zum Ausdruck gebracht werde 135 . Nationale Gerichte seien daher zur Ergreifung repressiver Maßnahmen nur in Verbindung mit solchen das Marktgeschehen beschränkenden Maßnahmen befugt, die die zuständigen Verwaltungsbehörden entsprechend dem in Art. 9 der „Niederspannungsrichtlinie" festgelegten Verfahren präventiv getroffen hätten 136 . Im Hinblick auf die Reichweite der durch die bezogenen Normen erfolgenden gerichtlichen Bindung an die Normen läßt sich beiden Stellungnahmen entnehmen, daß nach Ansicht sowohl der Kommission als auch der Angeklagten des Ausgangsverfahrens die mitgliedstaatlichen Gerichte nicht befugt sein sollen, den freien Warenaustausch mit normenkonformen Produkten durch entsprechende Urteile einzuschränken. Da eine solche marktbeschränkende Maßnahme aber immer bereits dann vorliegt, wenn ein Gericht feststellt, daß ein normgemäßes Erzeugnis nicht den gesetzlichen Sicherheitsanforderungen genügt, würde den nationalen Gerichten nach dieser Auffassung nicht die Befugnis zustehen, harmonisierte Normen gemessen an den Richtlinienvorgaben für fehlerhaft zu erklären. Gerichte wären demnach im Rahmen ihrer Entscheidung an die in den

134

Vgl. Slg. 1980, s. 3594.

135

Vgl. Slg. 1980, S. 3594.

136

Slg. 1980, S. 3594 f.

172

3. Kapitel: Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsverbände

Normen festgelegten Spezifikationen bei der Auslegung der gesetzlichen Bestimmungen gebunden. Eine derartige umfassende Bindung lehnte der Generalanwalt Warner in seinem Schlußantrag ab, indem er ausführte 137: „Die niederländische Regierung hat vorgetragen, und ich stimme dem zu, daß es den rechtsetzenden Instanzen eines Mitgliedstaates freistehe, wenn sie es für angebracht hielten, den Gerichten dieses Staates die Prüfung der Frage zu übertragen, ob ein bestimmtes Betriebsmittel den durch die Richtlinie vorgeschriebenen Sicherheitsanforderungen entspreche, daß in einem solchen Fall aber jede Entscheidung der Gerichte, durch die das Inverkehrbringen oder der freie Verkehr dieser Betriebsmittel verhindert werde, sofort nach Art. 9 Absatz 1 mitgeteilt werden müsse." Der Europäische Gerichtshof ist in seinem Urteil dieser vermittelnden Ansicht nicht gefolgt und hat sich im Ergebnis die Argumentationslinie der Kommission und der Angeklagten des Vorverfahrens zu eigen gemacht. So führt der Gerichtshof in seiner Urteilsbegründung aus 138 : „Nach Art. 9 der Richtlinie kann das dort vorgesehene Verfahren nur von einem Mitgliedstaat eingeleitet werden. Mit dem Begriff "Mitgliedstaat,, ist offensichtlich eine innerstaatliche Verwaltungsbehörde gemeint, deren Verhalten dem Staat zuzurechnen ist und die daher zur Mitwirkung an einem Verfahren befugt ist, an dem nur die Kommission und die Mitgliedstaaten beteiligt sind. Dies bedeutet, daß die rechtsprechende Gewalt als solche von der Mitwirkung ausgeschlossen ist". Praktisch bedeutet diese Feststellung des EuGH, daß nationale Gerichte im Anwendungsbereich der „Niederspannungsrichtlinie" den freien Verkehr mit elektrischen Betriebsmitteln, die den harmonisierten und in Bezug genommenen Europäischen Normen entsprechen, niemals einschränken können. Wenn es in einem Gerichtsverfahren entscheidungserheblich auf die Frage ankommt, ob ein Betriebsmittel den gesetzlichen Sicherheitsvorschriften entspricht oder nicht, sind die Gerichte bei normgemäßen Erzeugnissen an die in den bezogenen Normen enthaltenen technischen Festlegungen rechtlich gebunden. Gleiches muß aber auch für die Auslegung der in der „Modellrichtlinie" enthaltenen Schutzklausel gelten. Dieses folgt zum einen bereits aus dem Umstand, daß die Regelung in Abschnitt 7 der „Modellrichtlinie" der in Art. 9 der „Niederspannungsrichtlinie" nachgebildet ist. Zum anderen ist insoweit zu berücksichtigen, daß der europäische Gesetzgeber auch in der „Modellrichtlinie" hinsichtlich der Antragsbefugnis im Schutzklauselverfahren den Begriff „Mitgliedstaat" verwendet hat, obwohl ihm beim Erlaß dieser ,»Richtlinie" das Urteil des

137

Schlußantrag v. 23.09.1980, Slg. 1980, S. 3614 (3628).

138

EuGH, Urt. v. 02.12.1980, Slg. S. 3583 (3609 Rn. 11).

§ 3 Die rechtliche Bedeutung Europäischer Normen nach der „Neuen Konzeption"

173

Europäischen Gerichtshofs zur „Niederspannungsrichtlinie" bekannt gewesen sein muß. Hätten die Gemeinschaftsorgane daher in der „Modellrichtlinie" hinsichtlich des Schutzklauselverfahrens eine gegenüber der „Niederspannungsrichtlinie" abweichende Regelung treffen wollen, so hätten sie eine entsprechende Absicht im Wortlaut des Abschnitts VO. der „Modellrichtlinie" deutlich zum Ausdruck bringen müssen. Da dieses nicht geschehen ist, muß davon ausgegangen werden, daß die mitgliedstaatlichen Gerichte im Schutzklauselverfahren der „Modellrichtlinie" nicht beteiligtenfähig sind. Da die Durchführung eines Schutzklauselverfahrens bei dem Erlaß von marktbeschränkenden Entscheidungen bezüglich normenkonformer Produkte zwingende Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit einer solchen Maßnahme ist, sind die Gerichte im Ergebnis verpflichtet, die in den bezogenen Normen enthaltenen technischen Festsetzungen als rechtlich verbindliche Konkretisierung der gesetzlichen Sicherheitsanforderungen ihrer jeweiligen Entscheidung zugrundezulegen.

cc) Ergebnis Die vorangegangene Untersuchung hat gezeigt, daß der Begriff „widerlegbare Vermutung" die Rechtswirkungen der durch die Harmonisierungsrichtlinien bezogenen Normen inhaltlich nicht zutreffend zu umschreiben vermag 139 . Dies muß jedenfalls solange gelten, wie man diesen Terminus nur im Sinne einer Beweislastregel versteht, die ausschließlich in Fällen der Beweislosigkeit zur Anwendung gelangt.

d) Abschließende Stellungnahme Zusammenfassend läßt sich schließlich festhalten, daß die Rechtswirkungen der durch die „Modellrichtlinie" sowie der auf ihrer Grundlage ergangenen Harmonisierungsrichtlinien durch die bisherigen Ansätze inhaltlich jedenfalls nicht vollständig charakterisiert werden können. Einerseits ist die Rechtsbindung der Mitgliedstaaten nicht so umfassend ausgestaltet, daß sie den Grad einer unwiderleglichen Vermutung erreichen würde, da zumindest den Verwaltungsbehörden die Möglichkeit offensteht, auch bei normgemäßen Erzeugnissen vom

139 Aufgrund des Umfangs der gerichtlichen und behördlichen Bindung an die in Bezug genommenen Normen erschöpft sich deren Rechtswirkung auch nicht darin, daß ihre Einhaltung einen „prima-facie Beweis" für das Vorliegen der gesetzlichen Sicherheitsvorgaben begründet.

174

3. Kapitel: Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsverbände

NichtVorliegen der gesetzlichen Sicherheitsanforderungen auszugehen. Andererseits geht die Rechtsbindung jedoch weit über das hinaus, was in der Literatur herkömmlicherweise mit dem Begriff „widerlegbare Vermutung" beschrieben wird. Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß die Terminologie letztendlich nicht ausschlaggebend ist. Entscheidend ist insoweit vielmehr, daß man sich bei der Begriffswahl über das Ausmaß der rechtlichen Bindung der Mitgliedstaaten an die harmonisierten Normen im klaren ist. Daher kann man mit dem Europäischen Gerichtshof hinsichtlich der Rechtswirkungen der im Gemeinschaftsrecht praktizierten Verweisungstechnik ohne weiteres von einer Konformitätsvermutung 140 sprechen, wenn man sich darauf verständigen kann, diesen Begriff so zu definieren, daß bei einer normenkonformen Verhaltensweise die nationalen Verwaltungsbehörden in der Regel und die Gerichte immer die in den harmonisierten Normen erfolgende Konkretisierung der gesetzlichen Sicherheitsanforderungen als verbindlich anzusehen haben. Ein solches Verständnis widerspricht allerdings der herkömmlichen Auffassung innerhalb der deutschen Literatur und Rechtsprechung, so daß die Verwendung des Begriffes „Vermutung" in dem eben genannten Sinn leicht zu Mißverständnissen führen könnte. Aus diesem Grund sollen im folgenden die bezogenen Normen als Tatbestandsregeln bezeichnet werden, die hinsichtlich ihrer Rechtswirkung den Mitgliedstaaten gegenüber zu einer qualifiziert widerlegbaren Tatbestandsbindung führen. Dabei soll mit dem Begriff „Tatbestandsbindung" zum Ausdruck gebracht werden, daß eine Rechtsbindung der Mitgliedstaaten auf der Tatbestandsseite, also bei der Frage entsteht, ob ein normenkonformes Produkt den gesetzlichen Sicherheitsstandards entspricht. Dagegen verdeutlicht die Bezeichnung dieser Tatbestandsbindung als nur qualifiziert widerlegbar, daß zwar die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten besteht, die einmal eingetretene Bindung zu beseitigen bzw. durch den Antrag auf Durchführung eines Schutzklauselverfahrens durch die Kommission beseitigen zu lassen. Der Zusatz „qualifiziert" stellt jedoch klar, daß zum einen die Tatbestandsbindung nur auf Veranlassung der Verwaltungsbehörden, nicht aber der Gerichte rückgängig gemacht werden kann, und daß zum anderen nicht jede nationale Verwaltungsbehörde für ihren Zuständigkeitsbereich die Kompetenz besitzt, abschließend die Fehlerhaftigkeit und damit die Unverbindlichkeit einer harmonisierten Norm festzustellen, sondern daß eine abschließende Entscheidung insoweit nur mit Wirkung für den

140 Vgl. für die „Niederspannungsrichtlinie" EuGH RS. 815 / 79, Italien. / .Cremonini u. Vrankovich, Urt. v. 02.12.1980, Slg. S. 3583 (3609 Rn. 10, 13).

§ 4 Die Verweisungstechnik der "Neuen Konzeption"

175

gesamten europäischen Wirtschaftsraum durch die EG-Kommission in einem speziell für diese Zwecke eingerichteten Verfahren getroffen werden kann.

§ 4 Die Verweisungstechnik der „Neuen Konzeption" als unzulässige Delegation von Hoheitsbefugnissen? /. Fragestellung Der Umfang der oben beschriebenen rechtlichen Bindung der Mitgliedstaaten an die harmonisierten Normen führt zwangsläufig zu der Frage, ob die Einbeziehung privater Normungsverbände in die Rechtsangleichungspolitik der Gemeinschaftsorgane nicht eine Delegation von Hoheitsbefugnissen darstellt und, soweit dies der Fall sein sollte, ob eine derartige Delegation überhaupt mit dem EWG-Vertrag zu vereinbaren wäre. Der Europäische Gerichtshof hat zu dieser Frage bislang noch nicht Stellung genommen. Zwar hat er sowohl in der Rechtssache 815 / 79 1 4 1 als auch in der Rechtssache 123 / 76 1 4 2 die Mitgliedstaaten zur Beachtung bzw. zur Umsetzung der in der „Niederspannungsrichtlinie" festgelegten Verpflichtungen angehalten. Dabei hat der Gerichtshof keinerlei Zweifel an der in dieser Richtlinie erstmals praktizierten Verweisungstechnik geäußert 143. Inhaltlich hat sich der EuGH mit der Frage, ob die Inbezugnahme technischer Normen privater Verbände eine gegebenenfalls mit dem EWG-Vertrag nicht zu vereinbarende

141

EuGH, Urt. V. 02.12.1980, Italien. / .Cremonini u. Vrankovich, Slg. S. 3583 ff.

142

EuGH, Urt. v. 14.07.1977, Kommission. / .Italien, Slg. S. 1449 ff. In diesem Vertragsverletzungsverfahren hatte die beklagte Republik Italien unter anderem geltend gemacht, daß die von CENELEC erarbeiteten Normen keine harmonisierten Normen im Sinne des Art. 5 der „Niederspannungsrichtlinie" sein könnten, da die Beschlußfassung im CENELEC nach dem Mehrheitsprinzip erfolge [vgl. hierzu die Ausführungen oben S. 65 ff.], während nach der Legaldefinition des Art. 5 Absatz 2 der „Niederspannungsrichtlinie" harmonisierte Normen nur solche Normen seien, die von den jeweils zuständigen Stellen im ,»Einvernehmen" festgelegt worden sind (vgl. Slg., a.a.O., S. 1456). Diesem Vorbringen ist seinerzeit insbesondere Generalanwalt Warner in seinem Schlußantrag v. 28.06.1977, Slg. 1977, S. 1461 ff., mit der These entgegengetreten, daß, jedenfalls für den Fall, daß CENELEC einstimmig entschieden habe, allein die abstrakte Möglichkeit, daß eine Norm als solche auch mit qualifizierter Mehrheit hätte angenommen werden können, die Klassifizierung einer CENELEC-Norm als harmonisierte Norm im Sinne des Art. 5 Absatz 2 der „Niederspannungsrichtlinie" nicht engegenstehen könne (vgl. Slg., a.a.O., S. 1469 f.). Der EuGH hat es in seinem Urteil allerdings vermieden, zu dieser Frage Stellung zu beziehen. Vgl. Slg., a.a.O., S. 1458 Rn. 8. Vgl. zum Ganzen auch Joerges / Falke / Micklitz / Brüggemeier, S. 382 Fn. 294. 143

Joerges / Falke / Micklitz / Brüggemeier, S. 339.

176

3. Kapitel: Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsverbände

Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen darstellt, allerdings nicht auseinandergesetzt. Aus diesem Grunde kann die Delegationsproblematik in diesem Zusammenhang, anders als dies vereinzelt angesichts der zitierten Urteile in der Literatur behauptet wird 1 4 4 , auch nicht als erledigt angesehen werden 145 . In der Literatur zum deutschen Recht wird die Zulässigkeit dynamischer Verweisungen auf technische Regeln bzw. Regelwerke privater Normungsorganisationen kontrovers beurteilt. Während teilweise, insbesondere unter Berufung auf das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip die Vereinbarkeit dynamischer Verweisungen mit dem Grundgesetz generell abgelehnt wird 1 4 6 , wollen andere Autoren hinsichtlich der Zulässigkeit dynamischer Verweisungen zwischen den Erscheinungsformen einer rechtsnormkonkretisierenden und rechtsnormergänzenden Inbezugnahme differenzieren. Während die letztere Verweisungsform aus Gründen des Demokratie- sowie des Rechtsstaatsprinzips verfassungsrechtlich unzulässig sei, könne die erste Form jedenfalls dann, wenn man die Rechtswirkung der bezogenen Normen verfassungskonform im Sinne einer widerlegbaren Tatschenvermutung interpretiere, als mit dem Grundgesetz vereinbar angesehen werden 147 .

144

In diesem Sinne Bruha, ZaöRV Bd. 46 (1986), S. 1 (25), der davon ausgeht, daß gegen die „Neue Strategie" keine durchgreifenden Bedenken in rechtlicher Hinsicht bestehen: „Der Cremonini-Entscheidung des EuGH, in der die Verweisungstechnik ohne weiteres als vertragsgemäß behandelt worden ist, ist deshalb im Ergebnis zuzustimmen". Dabei geht Bruha aber von der — rechtlich nicht haltbaren — These aus, daß „die Referenznormen richtig verstanden keine Rechtsverbindlichkeit, auch Verwaltungsbehörden gegenüber nicht, entfalten". 145

Zutreffend auch Joerges / Falke / Micklitz / Brüggemeier, S. 382.

146

Aus der umfangreichen Literatur seien nur zitiert: Bullinger, Selbstermächtigung, S. 48 ff.; Nickusch, Normativfünktion, S. 204 ff.; Ossenbühl, DVB1 1967, S. 401 (404); Karpen, Verweisung, S. 131 ff.; Brinkmann, Verbraucherorganisationen, S. 60; Breuer, AöR Bd. 101 (1976), S. 46 (65); Hanning, S. 65 f.; Budde, DIN-Mitt. Bd. 59 (1980), S. 12 f.; Schenke, NJW 1980, S. 743 (746); Sachs, NJW 1981, S. 1651 f.; Sonnenberger, BB Beilage 4 / 1985, S. 3 (7). Unklar dagegen Wilke, S. 11 (13), der zwar auf die Gefahr hinweist, daß der verweisende Gesetzgeber die nach der verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung von ihm zu treffende Regelung der Sache nach einem anderen ,»Hoheitsträger" überläßt, sich jedoch nicht abschließend zu der Frage äußert, wann diese „Gefahr'* sich bei einer dynamischen Verweisung realisiert und damit die Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen überschritten wird. 147 So insbesondere Mohr, Technische Normen, S. 41 (50 ff.). Vgl. aber auch Marburger, Regeln der Technik, S. 390 (395 ff.); ders., Gleitende Verweisung, S. 27 (30 ff.); ders., Formen, Verfahren und Rechtsprobleme, S. 27 (42 f.); Schnapauff, S. 40 (42). Unklar dagegen Meyer, Starre Verweisung, S. 88 (90), der die dynamische Verweisung zwar ausnahmsweise für zulässig hält, jedoch nicht im einzelnen darlegt, in welchen Fällen eine dynamische Verweisung tatsächlich verfassungsmäßig sein soll.

§ 4 Die Verweisungstechnik der "Neuen Konzeption"

177

Im europarechtlichen Schrifttum haben sich bislang erst vergleichsweise wenige Autoren mit der Vertragskonformität dynamischer Verweisungen im Hinblick auf das Delegationsverbot auseinandergesetzt. Soweit dies allerdings geschehen ist, wurde die Zulässigkeit derartiger Verweisungen jedenfalls dann verneint, wenn es sich um eine Verweisung auf Regeln außervertraglicher Organe handelt und an die Verweisungsobjekte bestimmte Rechtswirkungen den Mitgliedstaaten oder Dritten gegenüber geknüpft sind 148 . Diejenigen Autoren, die von der Zulässigkeit der rechtsnormkonkretisierenden dynamischen Verweisung ausgehen149, stützen ihre Ansicht darauf, daß sich die Rechtswirkung der bezogenen Normen auf eine widerlegbare Tatsachenvermutung beschränkt. Da nach der hier vertretenen Auffassung die Beachtung der bezogenen Normen durch die Hersteller für die Mitgliedstaaten zu einer nur qualifiziert widerlegbaren Tatbestandsbindung führt, können die zur Stützung der jeweiligen Ansichten vorgetragenen Argumente jedenfalls nicht uneingeschränkt auf das Verweisungsmodell der „Neuen Konzeption" übertragen werden. Ansatzpunkt für die nachfolgende Untersuchung des Konzepts auf seine Vereinbarkeit mit dem EWG-Vertrag soll daher die Frage sein, ob die Verweisung auf Normen privatrechtlich organisierter Normungsverbände nicht eine im Ergebnis als unzulässig zu bezeichnende Delegation von Hoheitsbefugnissen darstellt. Bevor man sich der Beantwortung dieser Frage im einzelnen zuwenden kann, ist allerdings zunächst erforderlich, sich über die inhaltliche Bedeutung des Begriffes „Delegation" Klarheit zu verschaffen.

IL Vorliegen einer Delegation 1. Der Delegationsbegriff a) Auslegung des EWG-Vertrags Eine Analyse der einzelnen Vorschriften des EWG-Vertrags trägt nur wenig zur inhaltlichen Klärung des Begriffes „Delegation" bei 1 5 0 . Allerdings findet

148 Lukes , Tragweite, S. 213 (228); Röhling, S. 116; Starkowski, S. 111 f.; Schmedes Rechtsangleichung, S. 88 f.; Grabitz, Harmonisierung, S. 72 ff.; kritisch gegenüber der Verweisungstechnik der „Neuen Konzeption" auch Joerges / Falke / Micklitz / Brüggemeier, S. 380 ff., die sich allerdings nicht eindeutig festlegen. 149

Vgl. den Nachweis auf S. 176 Fn. 147.

150

Vgl. hierzu auch Schindler, Delegation von Zuständigkeiten, S. 38 f.

12 Breulmann

178

3. Kapitel: Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsverbände

sich dieser Terminus im EWG-Vertrag im Zusammenhang mit der sogenannten Stimmrechtsübertragung von Mitgliedern des Rates untereinander bei Art. 150 EWGV sowohl in der französischen als auch in der italienischen Vertragsfassung als „délégation" bzw. „delegata". Den anderen nach Art. 248 EWGV verbindlichen Urschriften ist der Begriff dagegen fremd. Insoweit verwendet die deutsche Fassung des Art. 150 EWGV denn auch das Wort „übertragen", während im niederländischen Text von „worden gemachtigd", was soviel wie „ermächtigt werden" bedeutet, die Rede ist 1 5 1 . Auch im übrigen ist die Terminologie nicht einheitlich. So findet sich beispielsweise in der deutschen Vertragsfassung in einer größeren Anzahl von Bestimmungen der Begriff „übertragen" 152 , wohingegen in den anderen Vertragssprachen die in den entsprechenden Vorschriften enthaltenen Bezeichnungen unterschiedlich sind 153 . Diese je nach Vertragsfassung uneinheitliche Terminologie verdeutlicht, daß sich aus dem EWG-Vertrag selbst eine klare begriffliche Umschreibung des Wortes „Delegation" nicht entnehmen läßt 154 . Aus diesem Grunde ist es für die Auslegung erforderlich, auf die Rechtsprechung des EuGH sowie auf die Ausführungen des Schrifttums zurückzugreifen.

b) Die „Meroni-Rechtsprechung"

des EuGH

Der EuGH hat sich mit der Bedeutung des Begriffes Delegation im Zusammenhang mit der Tätigkeit von juristischen Personen des Privatrechts bislang

151 Vgl. auch den englischen Text: „Where a vote is taken, any member of the council may also act on behalf of not more than one other member". 152 Vgl. z.B. die Art. 29, 54 Absatz 3, 111 Ziffer 3, 113 Absatz 4, 121, 145 Unterabsatz 3, 155 Unterabsatz 4 EWGV. Daneben wird in den Art. 111 Ziffer 2 Unterabsatz 2, 113 Ziffer 3 EWGV die Bezeichnung „ermächtigen" verwendet. 153 Im französischen Vertragstext finden sich insoweit die Bezeichnungen „confier, dévoluer, charger, conférer", im niederländischen die Begriffe „toevertrouwd, verleend, belasten met" und im italienischen die Worte „affidati, attribuite, conferite". In den Art. 111 Ziffer 2 Unterabsatz 2, 113 Ziffer 3 Unterabsatz 1 EWGV werden in den jeweiligen Vertragsfassungen darüber hinaus die Termini „autoriser, autorizza" bzw. „machtigd" verwendet. Vgl. hierzu und zu weiteren Beispielen Schindler, Delegation von Zuständigkeiten, S. 29 insbes. Fn. 7. 154 Schindler, a.a.O., S. 38, weist unter Berufung auf Dehousse darauf hin, daß bei den Beratungen zum EWG-Vertrag von deutscher Seite ausdrücklich eine „Delegationsbefugnis" für den Rat vorgeschlagen worden sei, daß dieser Vorschlag jedoch, wohl aufgrund des Umstandes, daß sich die Vertragspartner nicht auf ein gemeinsames Verständnis des Begriffes „Delegation" hätte einigen können, abgelehnt worden ist.

§ 4 Die Verweisungstechnik der "Neuen Konzeption"

179

nur in zwei, darüber hinaus weit zurückliegenden Urteilen auseinandergesetzt 155 .

aa) Der den Urteilen zugrundeliegende Sachverhalt In beiden Verfahren erstrebte jeweils ein italienisches Stahlunternehmen, die Firma Meroni, die Nichtigerklärung zweier von der Hohen Behörde, der heutigen EG-Kommission, gegen sie erlassener individueller Entscheidungen, durch welche sie zur Beitragszahlung an die Schrottausgleichskasse herangezogen worden war. Die Ausgleichseinrichtungen für Schrott spielten in den fünfziger Jahren auf dem gemeinsamen Schrottmarkt der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl eine erhebliche Rolle. Zurückzuführen war diese Bedeutung in erster Linie auf das Bestehen akuter Mangellagen, unterschiedlicher Bedarfslagen in den einzelnen Regionen der Gemeinschaft, überhöhter Weltmarktpreise sowie auf die durch einzelstaatliche Bewirtschaftungsmaßnahmen verursachten, teilweise erheblichen Preisdifferenzen 156. Aufgrund dieser Schwierigkeiten waren die Ausgleichseinrichtungen ursprünglich als freiwillige Einrichtungen von 22 größeren Roheisen- und Stahlerzeugern der Gemeinschaft gegründet und von der Hohen Behörde gemäß Art. 53 Absatz 1 Ziffer a EGKSV genehmigt worden 157 . Diese Einrichtungen setzten sich zusammen aus dem „Gemeinsamen Büro der Schrottverbraucher", einer »Ausgleichskasse für eingeführten Schrott" sowie einem „Paritätischen Büro der Verbraucher und Händler". Das „Gemeinsame Büro" und die „Kasse" waren als Gesellschaften des Privatrechts gegründet worden. Es handelte sich bei ihnen um „sociétés coopératives", also um Genossenschaften des belgischen Rechts mit Sitz in Brüssel 158 . Diese zentralen ,»Brüsseler Organe" richteten in jedem Mitgliedstaat der Gemeinschaft ein „regionales Büro" ein und beauftragten mit der Wahrnehmung der Geschäfte

155

EuGH RS. 9 / 56 und RS. 10 / 56, Meroni. / .Hohe Behörde, Urteile v. 13.06.1958, Slg. IV, S. 13 (43 ff.) bzw. S. 57 (75 ff.). 156

Vgl. hierzu den Schlußantrag des Generalanwalts Roemer in den RS. 9 / 56 u. 10 / 56 v. 10.03.1958, Meroni. / .Hohe Behörde, Slg. IV, S. 90 (93 ff.); vgl. auch Priebe, S. 31 f. m.w.N. 157 Entscheidung 33 / 53 v. 19.05.1953, ABl. EG S. 137. Die Genehmigung wurde erneuert durch die Entscheidung 43 / 53 der Hohen Behörde v. 11.12.1953, ABl. EG S. 200. 158 Organe dieser Ausgleichseinrichtungen waren entsprechend dem belgischen Handelsrecht jeweils eine Generalversammlung und ein Verwaltungsrat, die ihre Beschlüsse laut Satzung einstimmig zu fassen hatten.

180

3. Kapitel: Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsverbände

jeweils einen Verband 159 . Den regionalen Institutionen oblag in erster Linie die Aufgabe, den angeschlossenen Mitgliederunternehmen für Schrottimporte Ausgleichsleistungen zu gewähren, um die Unternehmen zu einer Erhöhung ihrer Schrottimportquoten zu veranlassen und hierdurch den Schrottpreis innerhalb der Gemeinschaft niedrig zu halten. Finanziert wurden die Zahlungen durch die Beiträge der beteiligten Unternehmen, deren Höhe sich am Gesamtschrottverbrauch eines Unternehmens orientierte. Zusätzlich wirkten die Ausgleichseinrichtungen zur Sicherstellung der Gesamtschrottversorgung in der Gemeinschaft auch bei Schrotteinkäufen im Ausland mit. Bereits sehr früh erwiesen sich die freiwilligen Ausgleichseinrichtungen aber als unzureichend, so daß die Hohe Behörde im Jahr 1954 zur Verwaltung eines im wesentlichen unveränderten Ausgleichssystems auf der Grundlage des Art. 53 Absatz 1 Ziffer b EGKSV eine eigene, nunmehr für alle schrottverbrauchenden Unternehmen obligatorische Ausgleichseinrichtung errichtete 160 . Diese gemeinschaftliche Einrichtung ließ ihre Geschäfte allerdings nicht durch eigene Dienststellen führen, sondern „beauftragte" mit der Verwaltung die bereits bestehenden ,3nisseler Organe" unter Verantwortung der Hohen Behörde 161 . Im einzelnen oblag der „Kasse" als dem „Exekutivorgan" 162 der Einrichtung die Festlegung der Abrechnungsperioden und der auf der Grundlage von Einfuhrmengen, Höchsteinfuhr- und Ausgleichspreisen zu berechnenden Beitragssätze 163. Sie gab den Unternehmen die Höhe der von ihr ermittelten und von den Unternehmen zu zahlenden Beiträge ebenso bekannt wie die einzelnen Zahlungstermine. Außerdem war sie zur Einziehung der fälligen Beiträge berechtigt 164 . Zahlte ein Unternehmen nicht termingerecht, so stellte die „Kasse" bei der Hohen Behörde einen Antrag auf Eingreifen; diese konnte daraufhin eine Entscheidung treffen, die einen vollstreckbaren Titel darstellte 165.

159 Vgl. im einzelnen die Darstellung Generalanwalts Roemer, Schlußantrag in den RS. 9 / 56 u. 10 / 56 v. 10.03.1958, Meroni. / .Hohe Behörde, Slg. IV, S. 90 (93). 160

Vgl. Entscheidung 22 / 54 v. 26.03.1954, ABl. EG S. 286. Der Rat hatte dieser Entscheidung bereits am 12.03.1954 (vgl. ABl. EG S. 278) zugestimmt, so daß sie mit Wirkung v. 01.04.1954 in Kraft treten konnte. Vgl. zu dieser ersten obligatorischen Ausgleichseinrichtung die Ausführungen des Generalanwalts Roemer, Schlußantrag in den RS. 9 / 56 u. 10 / 56 v. 10.03.1958, Meroni. / Hohe Behörde, Slg. IV, S. 90 (94 f.). 161

So Art. 1 Ziffer 2 der Entscheidung 22 / 54, a.a.O.

162

Art. 6 Absatz 1 der Entscheidung 22 / 54, a.a.O.

163

Art. 3 Absatz 2 der Entscheidung 22 / 54, a.a.O.

164

Vgl. Art. 4 Absatz 1 der Entscheidung 22 / 54, a.a.O.

165

Vgl. Art. 4 Absatz 2 der Entscheidung 22 / 54, a.a.O.

§ 4 Die Verweisungstechnik der Neuen Konzeption"

181

Die Aufgabe des „Gemeinsamen Büros" bestand dagegen darin, der „Kasse" hinsichtlich der Einfuhrmengen, der Höchsteinfuhr- und Ausgleichspreise Vorschläge zu unterbreiten und nach Zustimmung der „Kasse" Verhandlungen über Schrotteinkäufe auf dem Weltmarkt für gemeinsame Rechnung zu führen 166 . Die Hohe Behörde war an den Sitzungen der „Brüsseler Organe" regelmäßig durch einen Beobachter vertreten 167. Dieser hatte das Recht, bei Beschlüssen der Verwaltungsräte die insoweit endgültig zu treffende Entscheidung der Hohen Behörde vorzubehalten; im übrigen hatte die Hohe Behörde ohnehin immer dann selbst zu entscheiden, wenn in den Verwaltungsräten eine einstimmige Beschlußfassung nicht erreicht werden konnte 168 . Dieses Ausgleichssystem wurde aufgrund auch weiterhin anhaltender Schwierigkeiten auf dem Schrottmarkt zum 01.04.1956 nochmals erweitert 169 . Unter anderem sah diese Erweiterung Prämienzahlungen für diejenigen Produzeriten vor, die anstelle von Schrott nunmehr Roheisen verwendeten 170. Ziel dieser Regelung war es, über eine Verringerung des Schrottverbrauchs und damit der Schrottnachfrage den Schrottmarkt insgesamt zu entlasten. Die Verwaltung des Prämiensystems war dabei entsprechend den bisherigen Regelungen ausgestaltet worden 171 . Außerdem wurden die Einflußmöglichkeiten der Hohen Behörde auf die „Brüsseler Organe" insofern gestärkt, als nunmehr anstelle eines Beobachters ein Ständiger

166

Vgl. Art. 5 Satz 1 der Entscheidung 22 / 54, a.a.O.; nach Artikel 5 Satz 2 wurden die Kaufverträge selbst allerdings unmittelbar zwischen den Verkäufern und den beteiligten schrottverbrauchenden Unternehmen abgeschlossen. 167

Art. 8 der Entscheidung 22 / 54, a.a.O.

168

Vgl. Art. 9 Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 der Entscheidung 22 / 54, a.a.O. Die Hohe Behörde schöpfte die ihr vorbehaltenen Kontroll- und Vetorechte allerdings aufgrund eines „politischen Kompromisses" mit dem Rat nicht aus. Dieser fürchtete nämlich zu weitreichende dirigistische Eingriffe in das Marktgeschehen durch die Hohe Behörde und hatte sich deshalb von dieser zusichern lassen, daß sie die Verwaltung des Ausgleichssystems, soweit wie eben möglich, den „Brüsseler Organen" überlassen und ihre Kontrolle auf ein Minimum beschränken werde. Vgl. zu diesem Kompromiß die Ausführungen der Vizepräsidenten der Hohen Behörde Spierenburg und Coppé sowie des Abgeordneten Poher in der Sitzung des Europaparlaments v. 19.12.1961, Verhandlungen des EP, Sitzungsperiode 1961-62, Sitzungen v. 19.-21.12.1961, S. 23, 41, 36; vgl. hierzu auch Priebe, S. 33 Fn. 12. 169 Vgl. Entscheidung der Hohen Behörde Nr. 14 / 55 v. 26.03.1955, ABl. EG S. 685; verlängert durch die Entscheidungen 10 / 56 v. 07.03.1956, ABl. EG S. 81; 22 / 56 v. 22.06.1956, ABl. EG S. 165; 31 / 56 v. 10.10.1956, ABl. EG S. 308. Zur erweiterten obligatorischen Ausgleichseinrichtung vgl. die Darstellung von Generalanwalt Roemer, Schlußantrag in den RS. 9 / 56 u. 1 0 / 5 6 v. 10.03.1958, Meroni. / .Hohe Behörde, Slg. IV, S. 90 (96 f.). 170 171

Vgl. Art. 2 Ziffer c der Entscheidung 14 / 55, a.a.O.

Vgl. im einzelnen die ergänzende Entscheidung 2 6 / 55 der Hohen Behörde v. 20.07.1955, ABl. EG S. 869. Ausführlich hierzu Priebe, S. 34.

182

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsverbände

Vertreter bestellt wurde 172 , der von sich aus die Einberufung von Sitzungen der „Brüsseler Organe" innerhalb einer bestimmten Frist verlangen und diese dann auch mit eigenen Vorschlägen befassen konnte 173 . Für den Fall, daß die von dem Ständigen Vertreter geforderte Sitzung nicht stattfand, ging das Beschlußrecht automatisch von den „Brüsseler Organen" auf die Hohe Behörde über 174 . Um eben diese Befugnisse der ,3riisseler Organe" ging es in dem angesprochenen Verfahren vor dem EuGH 1 7 5 . Zu der von der Firma Meroni angegriffenen Entscheidung der Hohen Behörde war es nämlich erst gekommen, nachdem sich das für Italien zuständige Büro der ,»Brüsseler Organe" mit der Klägerin über die Höhe ihrer Beitragspflicht nicht hatte einigen können und die „ A u s gleichskasse" daraufhin die Hohe Behörde nach Art. 4 Absatz 2 der Entscheidung Nr. 14/55 zum Einschreiten aufgefordert hatte 176 . Da die Firma Angaben über die Höhe ihres Schrottverbrauchs verweigert hatte, setzte die Hohe Behörde den Beitrag der Firma Meroni aufgrund einer von der Ausgleichskasse vorgenommenen Schätzung fest. In dieser Vorgehensweise sah die Klägerin unter anderem eine nach dem EGKS-Vertrag unzulässige Übertragung von Befugnissen der Hohen Behörde auf die ,3nisseler Organe" 177 .

bb) Der Delegationsbegriff des EuGH (1) Abgrenzung zur Ermächtigung In seinem Urteil ging der EuGH auf das Vorbringen der Klägerin ein und untersuchte, ob im Rahmen des dargestellten Verfahrens die Hohe Behörde tatsächlich Befugnisse auf die „Brüsseler Organe" übertragen hatte, ohne deren

172

Vgl. Art 8 Absatz 1 der Entscheidung Nr. 14 / 55 v. 26.03.1955, ABl. EG S. 685. Daneben wurde zusätzlich ein Stellvertreter ernannt. 173

Vgl. Art. 9 Absatz 3 Satz 1 u. 2 der Entscheidung Nr. 14 / 55, a.a.O.

174

Vgl. Art. 9 Absatz 3 Satz 3 der Entscheidung Nr. 14 / 55, a.a.O.

175 EuGH RS. 9 / 56 und RS. 10 / 56, Meroni. / .Hohe Behörde, Urteile v. 13.06.1958, Slg. IV, S. 13 (43 ff.) bzw. S. 57 (75 ff.). 176

Der Wortlaut dieser Regelung lautet: „Wird der Beitrag nicht termingerecht bezahlt, so stellt die Kasse den Antrag auf Eingreifen der Hohen Behörde; diese kann eine Entscheidung erlassen, die einen vollstreckbaren Titel darstellt". 177

Vgl. zum Sachverhalt im einzelnen EuGH, RS. 9 / 56, Meroni. / .Hohe Behörde, Urt. v. 13.06.1958, Slg. IV, S. 13 (26 f.).

§ 4 Die Verweisungstechnik der Neuen Konzeption"

183

Ausübung an die Bedingungen geknüpft zu haben, die der EGKS-Vertrag für den Fall der Ausübung dieser Befugnisse durch die Hohe Behörde selbst vorsieht 178 . Dabei verwendet der Gerichtshof den Begriff Delegation synonym mit dem einer Übertragung von Befugnissen 179. Diesem Ausdruck will der EuGH dadurch Konturen verleihen, daß er ihn negativ bestimmt, indem er ihn von der sogenannten „Ermächtigung" abzugrenzen versucht 180 . Eine solche Ermächtigung soll nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs dann vorliegen, wenn zwar außerhalb der Gemeinschaft stehende Organe oder Institutionen im Aufgabenbereich des EGKS-Vertrags Beschlüsse fassen, die Durchführung dieser Beschlüsse aber in vollem Umfang der Kommission vorbehalten bleibt und diese im übrigen die volle Verantwortung für den Inhalt der Beschlüsse trägt 181 . Aus dieser Begriffsbestimmung läßt sich im Umkehrschluß schließen, daß eine Delegation im Sinne einer Übertragung von Befugnissen auf andere als die in den Gemeinschaftsverträgen vorgesehenen Organe immer dann vorliegen soll, wenn diese Organe Beschlüsse im Aufgabenbereich der Gemeinschaftsorgane fassen, deren Durchführung entweder nicht den Organen der Gemeinschaft, speziell der Kommission, vorbehalten bleibt, die also von diesen Organen selbständig umgesetzt werden, oder aber wenn diese Organe ihre Beschlüsse in eigener Verantwortung treffen. Das insoweit entscheidende Abgrenzungskriterium zwischen einer Ermächtigung und einer Delegation sieht der EuGH in der Tatsache, ob die Hohe Behörde im speziell zu entscheidenden Fall oder die Gemeinschaftsorgane im allgemeinen sich die Beschlüsse der betreffenden

178

EuGH, RS. 9 / 56, a.a.O., S. 36.

179

EuGH, RS. 9 / 56, a.a.O., S. 43 f.; vgl. insoweit auch den Schlußantrag des Generalanwalts Roemer, Schlußantrag in den RS. 9 / 56 u. 10 / 56 v. 10.03.1958, Meroni. / .Hohe Behörde, Slg. IV, S. 114 f.: „Im nationalen Wirtschaftsrecht ist es eine häufige Erscheinung, daß hoheitliche Verwaltungsbefiignisse auf Unternehmensverbände übertragen werden, wobei sich der Staat ein Kontrollund Aufsichtsrecht vorbehält. Eine derartige Delegation ...". 180 Vgl. EuGH RS. 9 / 56, a.a.O., S. 36 f.: „Es ist zunächst festzustellen, ob mit der Entscheidung Nr. 14 / 55 „über die Schaffung einer finanziellen Einrichtung zur Sicherstellung einer gleichmäßigen Schrottversorgung des Gemeinsamen Marktes" tatsächlich Befugnisse, die nach dem Vertrag der Hohen Behörde zustehen, auf die Brüsseler Organe übertragen wurden oder ob diese Organe lediglich ermächtigt wurden, Beschlüsse zu fassen, deren Durchführung der Hohen Behörde vorbehalten bleibt und für welche diese die Verantwortung trägt". 181

EuGH, RS. 9 / 56, a.a.O.

184

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsverbände

Institution zu eigen machen 182 . Ob sich die Organe der Gemeinschaft in diesem Sinne Beschlüsse zu eigen machen oder nicht, entschied der EuGH unter Berufung auf die Stellungnahme der Hohen Behörde danach, ob diese den Entscheidungen, in diesem Fall denen der ,3rüsseler Organe", von sich aus etwas hinzufügen konnte oder ob eine zusätzliche Begründung oder Hinzufügung nicht etwa einen unzulässigen Eingriff in die Autonomie einer außerhalb der Gemeinschaft stehenden Körperschaft bedeutet hätte 183 . Für die Abgrenzung der Ermächtigung von der Delegation kommt es mit anderen Worten darauf an, ob die Gemeinschaftsorgane auch noch nach der Beschlußfassung durch eine vertragsfremde Institution inhaltlich deren Entschließung in irgendeiner Form noch verändern können. Dabei reicht es zur Bejahung einer im Ergebnis vom Gerichtshof als rechtlich unbedenklich angesehenen Ermächtigung nicht bereits aus, daß in der betreffenden Institution bei jeder Beschlußfassung ein Ständiger Vertreter eines Gemeinschaftsorgans mitwirkt, dem über das Mitwirkungsrecht hinaus sogar die Befugnis zusteht, bei einer Entscheidung dieser Institution die Zustimmung einem Gemeinschaftsorgan und damit verbunden die abschließende verbindliche Beschlußfassung überhaupt der Gemeinschaft vorzubehalten184.

(2) Formen einer Delegation Innerhalb des Delegationsbegriffs selbst differenziert der Gerichtshof weiter zwischen zwei verschiedenen Erscheinungsformen einer Übertragung von

182 EuGH, RS. 9 / 56, a.a.O., S. 39. Besonders deutlich wird dies an dem Umstand erkennbar, daß der Gerichtshof bei der Untersuchung im konkreten Fall zunächst eine Reihe von Bestimmungen der Entscheidung Nr. 14 / 55 aufzählte, die seiner Ansicht nach auf das Vorliegen einer Ermächtigung hindeuteten (vgl. S. 37 f.). Dennoch kam der EuGH im Ergebnis zu dem Schluß, daß diese Indizien für die Annahme, daß im konreten Fall tatsächlich eine Ermächtigung vorlag, nicht ausreichten und ging dementsprechend vom Vorliegen einer Delegation aus. Insoweit führte der Gerichtshof aus (vgl. S. 39): „Der obige Auszug aus der Klagebeantwortung [der Kommission] zwingt jedoch zu dem Schluß, daß die Hohe Behörde sich die Beschlüsse der Brüsseler Organe nicht zu eigen macht. Die Entscheidung Nr. 14 / 55 enthält demnach tatsächlich eine Übertragung von Befugnissen; ...". 183 184

EuGH, RS. 9 / 56, a.a.O., S. 38.

Vgl. EuGH, RS. 9 / 56, a.a.O., S. 47. In der konkreten Entscheidung ging es um die Regelung des Art. 9 der Entscheidung Nr. 14 / 55 (vgl. hierzu oben S. 179 ff.) Der EuGH führte hierzu aus: „Allein mit dieser Möglichkeit [der Hohen Behörde] ihre Zustimmung zu verweigern, hat sie sich aber keine ausreichenden Befugnisse vorbehalten, so daß die in der Entscheidung Nr. 14 / 55 enthaltene Übertragung von Befugnissen über die oben gezeigten Grenzen hinausgeht".

§ 4 Die Verweisungstechnik der Neuen Konzeption"

185

Befugnissen. So unterscheidet der EuGH zwischen einer Delegation von Ausführungsbefugnissen und einer von solchen Befugnissen, die nach freiem Ermessen auszuüben sind 185 . Die Abgrenzung der Ermächtigung und der Delegation auf der einen Seite und der sich anschließenden Abgrenzung der verschiedenen Erscheinungsformen der Delegation auf der anderen Seite ist nicht nur rechtstheoretisch von Bedeutung, sondern der Gerichtshof knüpft an diese Unterscheidung praktische Konsequenzen von erheblicher Tragweite. Soweit nach der Terminologie des EuGH vom Vorliegen einer Ermächtigung auszugehen ist, ist der Rechtsprechung zufolge gegen eine solche Vorgehensweise nach dem Gemeinschaftsrecht nichts einzuwenden186. Anders verhält es sich dagegen beim Vorliegen einer Delegation. Insoweit stellt der EuGH fest, daß sich eine Übertragung von Befugnissen sehr unterschiedlich auswirken kann, und führt in diesem Zusammenhang weiter aus 187 : „Handelt es sich dabei [gemeint ist eine Übertragung von Befugnissen] um genau begrenzte Ausfuhrungsbefugnisse, so unterliegt deren Ausübung einer strengen Kontrolle im Hinblick auf die Beachtung objektiver Tatbestandsmerkmale, die von der übertragenden Behörde festgesetzt werden; handelt es sich dagegen um Befugnisse, die nach freiem Ermessen auszuüben sind und die einen weiten Ermessenspielraum voraussetzen, so ermöglichen sie, je nach Art ihrer Ausübung, die Verwirklichung einer ausgesprochenen Wirtschaftspolitik". Dabei ist nach der Auffassung des Gerichtshofs „die erste Art der Delegation [ist] nicht geeignet, die Ausübung der übertragenen Befugnisse wesentlich zu beeinflussen, während eine Delegation der zweiten Art eine tatsächliche Verlagerung der Verantwortung mit sich bringt; an die Stelle des Ermessens der übertragenden Behörde tritt dann nämlich das Ermessen derjenigen Stelle, der die Befugnisse übertragen worden sind". Sieht man einmal davon ab, daß die Bedeutung der vom Gerichtshof verwendeten Formulierung „nicht geeignet, die Ausübung der übertragenen Befugnisse wesentlich zu beeinflußen" unklar bleibt bzw. sich jedenfalls nicht ohne weiteres erschließen läßt 188 , so ist die Aussage des EuGH in ihrer Tendenz jedoch unmißverständlich. Wenn und soweit vom Vorliegen einer Delegation auszugehen ist, dann ist eine solche allenfalls dann mit dem EGKS-Vertrag zu ver-

185

Vgl. EuGH, RS. 9 / 56, a.a.O., S. 43.

186

Vgl. EuGH, RS. 9 / 56, a.a.O., S. 37: „... oder ob diese Organe lediglich ermächtigt wurden, Beschlüsse zu fassen, deren Durchführung der Hohen Behörde vorbehalten bleibt und für welche diese die Verantwortung trägt". 187 188

EuGH, RS. 9 / 56, a.a.O., S. 43.

Kritisch zu den Abgrenzungsversuchen des EuGH insgesamt Schindler, Delegation von Zuständigkeiten, S. 48 ff.

186

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsverbände

einbaren, wenn es lediglich um die Übertragung von eng umgrenzten Ausführungsbefugnissen unter einer umfassenden Kontrolle eines Gemeinschaftsorgans geht 189 . Eine wie auch immer aussehende Verlagerung von Ermessensbefugnissen ist danach als unzulässig anzusehen.

cc) Ergebnis Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß der Begriff der Delegation nach der Rechtsprechung des EuGH gleichzusetzen ist mit einer Übertragung von Befugnissen. Abzugrenzen ist die Delegation von der Ermächtigung, die dann vorliegt, wenn zwar andere als die Gemeinschaftsorgane 190 in deren Aufgaben· bzw. Zuständigkeitsbereich fallende Beschlüsse fassen, die Durchführung dieser Beschlüsse aber in vollem Umfang einem Gemeinschaftsorgan überlassen bleibt und dieses Organ im übrigen die Verantwortung für den Inhalt der Beschlüsse trägt. Praktische Auswirkungen besitzt diese Unterscheidung insofern, als eine Ermächtigung ohne weiteres mit den Gemeinschaftsverträgen zu vereinbaren ist, wohingegen gleiches bei einer Delegation nur unter bestimmten Voraussetzungen der Fall ist.

c) Im Schrifttum

vertretener

Delegationsbegriff

In der europarechtlichen und in der staatsrechtlichen Literatur wird der Begriff der Delegation im Zusammenhang mit unterschiedlichen Fallkonstellationen zwar des öfteren aufgegriffen; eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der

189 Vgl. zur Zulässigkeit einer Übertragung von Durchführungsbefugnissen auf eine zwar von der Gemeinschaft organisatorisch getrennte, allerdings öffentlich rechtlich organisierte Anstalt das Gutachten des EuGH v. 26.04.1977 über den „Entwurf zu einem Übereinkommen über die Einrichtung eines europäischen Stillegungsfonds für die Binnenschiffahrt", Slg. S. 741 (760 f. Rn. 16). Im Ergebnis läßt der EuGH im Gutachten aber die Frage, ob es den Gemeinschaftsorganen freisteht, die ihnen durch die Verträge zugewiesenen Befugnisse ganz oder teilweise auf nicht zur Gemeinschaft gehörige Einrichtungen zu übertragen und auf diese Weise für die Mitgliedstaaten die Pflicht zu schaffen, Regelungen gemeinschaftsfremder Herkunft, deren Erlaß nach Form und Voraussetzungen nicht unter die Vorschriften und Garantien des EWG-Vertrages fallt, in ihren Rechtsordnungen unmittelbar anzuwenden, ausdrücklich offengestellt. 190

Dieses können insbesondere auch juristische Personen des Privatrechts sein.

§ 4 Die Verweisungstechnik der Neuen Konzeption"

187

Bedeutung dieses Begriffes fehlt allerdings in den meisten Fällen 191 . Auffallend ist, daß, soweit Autoren, insbesondere solche aus dem staatsrechtlichen Schrifttum, überhaupt auf den Begriff der Delegation näher eingehen, sie diesen Terminus abweichend von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs synonym mit dem Wort „Ermächtigung" verwenden 192. Dabei wird als Delegation begrifflich eine Kompetenzverschiebung im Sinne einer Übertragung von Zuständigkeiten von dem bisherigen Inhaber der Zuständigkeit auf andere Subjekte verstanden. Die Verschiebung einer gesetzlichen oder vertraglichen Zuständigkeitsordnung soll insoweit bei einer Delegation dadurch bewirkt werden, daß die einem bestimmten Subjekt oder Organ zugewiesenen Kompetenzen durch ein anderes Subjekt oder Organ wahrgenommen werden und zwar in der Form, daß dessen Maßnahmen bzw. Entscheidungen nicht demjenigen Subjekt zugerechnet werden können, in dessen Zuständigkeitsbereich die zu erlassende Maßnahme oder Entscheidung nach der Kompetenzordnung eigentlich fallen würde 193 . Diese Definition ist in Teilen der Literatur auf Ablehnung gestoßen194. Kritisiert wird insbesondere die Gleichsetzung der Delegation mit einer Übertragung. Eine entsprechende Vorgehensweise müsse bereits deshalb

191

Im Zusammenhang mit der Verweisungstechnik der „Neuen Konzeption" bzw. allgemein mit der dynamischen Verweisung wird der Begriff verwendet von Lukes , Tragweite, S. 213 (228); Ossenbühl, DVB1 1967, S. 401 (403 f.); Grabitz, Harmonisierung, S. 74; Bruita, ZaöRV Bd. 46 (1986), S. 1 (24); Joerges / Falke / Micklitz / Brüggemeier, S. 380 ff. Vgl. im übrigen auch Bleckmann, Europarecht, Rn. 557; Oppermann, Europarecht, Rn. 236. 192 Stern, Staatsrecht, Bd. II, § 38 III 1; Stein, Staatsrecht; § 18 III 4; Rothe, in: AK GG, Art. 71 Rn. 4 ff.; Maunz, in: M / D / H / S, GG, Art. 80 Rn. 19. Differenzierend insoweit Karpen, Verweisung, S. 107, der die Delegation als Unterform der Ermächtigung begreift. Aus dem europarechtlichen Schrifttum vgl. auch Oppermann, Europarecht, Rn. 558 ff.; vgl. zum Ganzen auch Schindler, Delegation von Zuständigkeiten, S. 48. 193 Vgl. insbesondere die grundlegende Abhandlung von Triepel, S. 23: „Unter einer Delegation im Sinne des öffentlichen Rechts verstehe ich den Rechtsakt, durch den der Inhaber einer staatlichen oder gemeindlichen Zuständigkeit, also der Staat, die Gemeinde selbst oder eines der Staatsoder der Gemeindeorgane seine Kompetenz ganz oder zum Teil auf ein anderes Subjekt überträgt. Delegation bedeutet Kompetenzverschiebung, und zwar enthält sie, im strengeren Sinne genommen, gleichzeitig Abschiebung und Zuschiebung einer Zuständigkeit, beides beruhend auf dem Willen dessen, der an Zuständigkeit verliert". Dieser Definition unter ausdrücklicher Berufung auf Triepel oder aber jedenfalls im Ergebnis folgend: Nickusch, Normativfunktion, S. 148 f.; Karpen, Verweisung, S. 108; Starkowski, S. 106; Stern, Staatsrecht, Bd. II, § 26 I b; § 30 II 6 c; Zuleeg, in: AK GG, Art. 59 Rn. 14; Dürig, in: M / D / H / S, GG, Art. 1 Rn 116 f.; Herzog, in: M / D / H / S, GG, Art. 60 Rn. 22; Hummer, in: Grabitz, EWGV, Art. 155 Rn. 46 ff.; vgl. auch Röhling, S. 16 f.; Schmitt von Sydow, in: G / Β / Τ / E, EWGV, 3. Auflage, Art. 162, Rn. 25. 194 Vgl. insoweit die Abhandlung von Barbey , Rechtsübertragung und Delegation, S. 53 ff.; im Anschluß hieran für das Recht der Europäischen Gemeinschaften auch Schindler, Delegation von Zuständigkeiten, S. 63 ff., 67 f.

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normngsverbände

als verfehlt bezeichnet werden, weil es bei einer Delegation ausschließlich um Organzuständigkeiten gehe, die durch das objektive Recht festgelegt worden seien; eine durch das objektive Recht wie auch immer festgelegte Organzuständigkeit könne aber von einem Organ niemals übertragen werden 195 . Der Grund hierfür sei darin zu sehen, daß der eine Zuständigkeit begründende Rechtssatz die aus dieser Zuständigkeit abzuleitende Berechtigung zur Vornahme bestimmter Handlungen immer nur einem konkreten Rechtssubjekt zuweise, so daß eine Delegation von Organzuständigkeiten allenfalls konstitutiv die Begründung einer neuen, notwendigerweise inhaltsgleichen Zuständigkeit darstellen könne; jedenfalls könne dieser Vorgang nicht als Übergang einer einem Rechtssubjekt kraft Rechtssatzes zugewiesenen Zuständigkeit auf ein anderes Subjekt gekennzeichnet werden 196 . In diesem Sinne soll der Begriff der Delegation daher zu definieren sein als die Begründung einer außerordentlichen Zuständigkeit, wobei die delegierte außerordentliche Zuständigkeit inhaltsgleich mit der regelmäßigen Zuständigkeit sein soll. Außerordentlich ist eine Zuständigkeit nur dann, wenn die kompetenzgewährende Vorschrift zwar inhaltlich im Widerspruch zu einer Zuständigkeitsvorschrift höheren Ranges steht, jedoch ausnahmsweise kraft einer Rechtsregelung vom Range mindestens dieser höheren Vorschrift gilt 1 9 7 .

d) Stellungnahme Abschließend ist zu entscheiden, welche der verschiedenen Begriffsbestimmungen der nachfolgenden Untersuchung zugrundezulegen ist. Dabei sei darauf hingewiesen, daß es im Zusammenhang mit der Verweisungstechnik der „Neuen Konzeption" nicht auf eine abstrakte Klärung des Begriffes „Delegation" ankommen kann. Dieses folgt bereits aus dem Umstand, daß sämtlichen aufgezeigten Ansätzen jeweils ein formeller Delegationsbegriff zugrundeliegt.

195

Vgl. Barbey , a.a.O., S. 48 f.; Schindler,

196

Vgl. Barbey , a.a.O., S. 49 f.; Schindler, a.a.O., S. 62.

197

a.a.O., S. 62.

Vgl. Barbey , a.a.O., S. 77 f.; Schindler, a.a.O., S. 67 f.; insoweit soll die Delegation darauf abzielen, die Organisationsstruktur selbst zu verändern. Vgl. Barbey , a.a.O., S. 50; Schindler, a.a.O.; Priebe, S. 23. Ähnlich, allerdings unter Beibehaltung des Begriffes „Übertragung" Wolff / Bachof, VerwR. II, § 72 IV b 2: „Delegation ist die Begründung einer irregulären Zuständigkeit durch Übertragung einer bestimmten Kompetenz eines Subjekts auf ein anderes,...". Vgl. auch Rengeling, in: KSE Bd. 27, S. 30, der unter einer Delegation die Begründung einer außerordentlichen, irregulären Zuständigkeit durch die Übertragung einer Kompetenz eines Subjekts auf ein anderes verstehen will.

§ 4 Die Verweisungstechnik der „Neuen Konzeption"

189

Eine Verweisung der hier vorliegenden Art kann jedoch bereits begrifflich niemals zugleich auch eine Delegation von Hoheitsbefugnissen im Sinne einer der genannten Definitionsvorschläge enthalten198. So bleibt bei einer Verweisung vom Prinzip her die bestehende Zuständigkeitsordnung unberührt, da in der gesetzlichen Verweisungsgrundlage nur unter Verzicht auf eine eigenständige inhaltliche Regelung der Wortlaut des jeweils bezogenen Verweisungsobjektes übernommen wird. Im Unterschied hierzu zielt die Delegation, gleichgültig, ob man sie als Begründung einer außerordentlichen Zuständigkeit oder aber als eine Kompetenzverschiebung im Sinne einer Übertragung von Zuständigkeiten oder Befugnissen begreift, immer auf eine Veränderung der durch das objektive Recht gesetzten Zuständigkeiten ab. Unter Zugrundelegung dieses Verständnisses kann daher die Verweisungstechnik der „Neuen Konzeption" nicht zugleich auch eine Delegation im formellen Sinn enthalten. Daß es der Kommission und dem Rat bei der „Neuen Konzeption" nicht um eine ausdrückliche Änderung der vertraglichen Zuständigkeitsordnung geht, läßt sich auch unmittelbar aus dem Abschnitt ΠΙ Punkt 1 der „Modellrichtlinie" herleiten 199 . In dieser Regelung wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die Beschreibung der grundlegenden Sicherheitsanforderungen der jeweils in den Anwendungsbereich einer Harmonisierungsrichtlinie fallenden Erzeugnisse ausreichend präzise zu formulieren ist, so daß diese nach ihrer Umsetzung in nationales Recht Verpflichtungen begründen können, deren Nichteinhaltung Sanktionen nach sich ziehen kann. Dieser Formulierung läßt sich entnehmen, daß die Richtlinien durch die gesetzliche Festlegung sämtlicher grundlegender Sicherheitsanforderungen eine als solche vollständige Harmonisierung enthalten. Insoweit bleibt also auch der Rat als das nach Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV zuständige Gemeinschaftsorgan, jedenfalls formell, alleinverantwortlich für die Festlegung der für die Mitgliedstaaten bei der Beurteilung der Produktsicherheit von Erzeugnissen verbindlichen Maßstäbe. Die Inbezugnahme auf technische Normen dient vom Sinn und Zweck der rechtsnormkonkretisierenden Verweisungstechnik her nur als gesetzgebungstechnisches Hilfsmittel, das es dem Rechtsanwender, speziell den betroffenen Unternehmen und den mit der Überwachung beauftragten Behörden, erleichtern soll, diejenigen tatsächlichen Voraussetzungen zu ermitteln, bei deren Vorliegen ein Erzeugnis den in das

198

Vgl. hierzu auch Nickusch, Normativfunktion, S. 202; Rohling, S. 16. Karpen, Verweisung, S. 109, spricht davon, daß Ermächtigung im Sinne einer Delegation Machtverleihung, eine Verweisung jedoch Machtanknüpfung sei. 199 Anhang II der Entschließung des Rates vom 07.05.1985 über eine neue Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und Normung, ABl. EG Nr. C 136 v. 04.06.1985, S. 2 ff.

190

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

nationale Recht transformierten gesetzlichen Sicherheitsbestimmungen entspricht und damit auf dem europäischen Binnenmarkt verkehrsfähig ist. Da nur der Rat die jeweils uneingeschränkt verbindlichen Sicherheitsanforderungen gesetzlich festlegen kann, ist mit einer solchen Vorgehensweise in formeller Hinsicht eine Änderung der objektiven Zuständigkeitsordnung nicht verbunden. Der Umstand, daß die Verweisung vom Prinzip her die bestehende Zuständigkeitsordnung unberührt läßt und insoweit denn auch begrifflich nicht als Delegation in dem dargestellten Sinn verstanden werden kann, bedeutet aber nicht, daß man in diesem Zusammenhang ganz auf den Begriff der „Delegation" zu verzichten hätte 200 . Vielmehr ist es erforderlich, der Frage nachzugehen, ob nicht durch bestimmte Formen einer Verweisung ein Zustand geschaffen werden kann, der zwar nicht formell, wohl aber materiell dem entspricht, was gemeinhin unter dem Terminus „Delegation" verstanden wird. Dieses muß jedenfalls dann angenommen werden, wenn durch eine Verweisung faktisch oder versteckt anderen Rechtssubjekten als den Gemeinschaftsorganen bestimmte Befugnisse zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung eingeräumt werden, die nach der jeweils bestehenden vertraglichen Zuständigkeitsordnung grundsätzlich durch die Gemeinschaftsorgane selbst auszuüben sind 201 . Ob man eine derartige Delegation im materiellen Sinn aber in Anlehnung an den formellen Delegationsbegriff als eine versteckte Übertragung von Befugnissen, als versteckte Kompetenzverschiebung im Sinne einer Übertragung von Zuständigkeiten oder aber als eine versteckte Begründung einer außerordentlichen Zuständig-

200 Zuleeg, Recht der Europäischen Gemeinschaften, S. 233 f., will im Gemeinschaftsrecht dagegen ganz auf den Begriff der Delegation verzichten, weil dieser seit Triepel zu sehr auf eine Kompetenzübertragung hinweise. Stattdessen zieht Zuleeg die Verwendung des Begriffes Ermächtigung vor und versteht darunter diejenigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts, die den Mitgliedstaaten die Befugnis einräumen, abweichend von gemeinschaftsrechtlichen Ge- und Verboten Rechtsvorschriften zu setzen. Zuleeg meint dabei diejenigen Fälle, in denen ein Mitgliedstaat allein darüber entscheiden kann, ob er eine bestimmte Maßnahme erlassen will oder nicht, und nennt als Beispiel unter anderem die Regelung des Art. 36 EWGV (vgl. S. 236). Da es Zuleeg mit dieser Terminologie aber allein um die Beschreibung des Verhältnisses der Mitgliedstaaten zu der Gemeinschaft geht und gerade nicht um den hier zur Diskussion stehenden Fall des Verhältnisses der Gemeinschaftsorgane zu außerhalb der Gemeinschaft stehenden Rechtssubjekten, vermag der Abgrenzungsversuch Zuleegs an dieser Stelle inhaltlich nicht weiter zu führen. 201 Karpen, Verweisung, S. 134, spricht im Zusammenhang mit der dynamischen Verweisung von einer „versteckten Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen auf Private". Röhling, S. 164, verwendet insoweit den Begriff „Delegation im materiellen Sinne". Priebe, S. 27 insbes. Fn. 89, spricht von der Möglichkeit einer „faktischen Delegation". Bruha, ZaöRV Bd. 46 (1986), S. 1 (24), beschreibt einen solchen Zustand als ein „verkappte Verlagerung von Regelungszuständigkeiten".

§ 4 Die Verweisungstechnik der Neuen Konzeption"

191

keit begreift 202 , erscheint materiell im Hinblick auf die von der „Neuen Konzeption" eingeführte Verweisungstechnik nicht von Belang. Ausschlaggebend muß es insoweit vielmehr sein, den mit dem Terminus „Delegation" beschriebenen Sachverhalt inhaltlich zutreffend zu umschreiben 203. Das entscheidende Abgrenzungskriterium der faktischen bzw. materiellen Delegation besteht dabei nach der hier vertretenen Auffassung in Anlehnung an die vom Europäischen Gerichtshof getroffene Differenzierung zwischen Delegation und Ermächtigung 204 in dem Merkmal der Eigenverantwortlichkeit 205 . Vom Vorliegen einer faktischen Delegation ist bei der Verweisungstechnik der „Neuen Konzeption" demnach dann auszugehen, wenn durch die Verweisung auf Normen in den einzelnen Harmonisierungsrichtlinien den europäischen Normungsverbänden de facto der Europäischen Gemeinschaft bzw. ihren Organen zugewiesene Befugnisse im Bereich der Rechtsangleichung zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung eingeräumt werden. Im folgenden soll zunächst untersucht werden, ob die Erarbeitung von Normen zum Zwecke der Inbezugnahme in Richtlinien den

202 Vgl. auch Priebe, S. 23 Fn. 71, der im Ergebnis zutreffend darauf hinweist, daß es für das Gemeinschaftsrecht letztlich keinen Unterschied machen dürfte, ob Delegation als Abänderung der geltenden Zuständigkeitsordnung durch Kompetenzverschiebung oder als Begründung einer neuen, außerordentlichen Zuständigkeit begriffen wird. Vgl. auch Schindler, DVB1. 1970, S. 605 (607 Fn. 40), der zusätzlich bemerkt, daß der Begriff „Delegation" im EWGV ohnehin nicht einheitlich verwendet wird. 203

So ausdrücklich auch Rohling, S. 164 Fn. 30; vgl. auch Schindler, a.a.O.

204

Die vom EuGH getroffene Differenzierung ähnelt der auch in der Literatur anzutreffenden Abgrenzung zwischen Delegation und Mandat, ohne ihr allerdings vollinhaltlich zu entsprechen. Unter einem Mandat versteht man herkömmlicherweise die Beauftragung einer in der Regel nachgeordneten Stelle, bestimmte Befugnisse des Mandanten durch selbständige Handlungen wahrzunehmen, und zwar im Namen und unter der Verantwortlichkeit des Mandanten, so daß eine Änderung der Zuständigkeitsordnung im Unterschied zur Delegation nicht eintreten kann. Vgl. hierzu Triepel, S. 23 ff.; Harnier, S. 148; Starkowski, S. 106; Wolff / Bachof, VerwR II, § 72 IV c) 5). Unterschiede ergeben sich insoweit nur, als der EuGH in seinen „Meroni-Urteilen" das Vorliegen einer Ermächtigung nicht von einem Handeln der „Brüsseler Organe" in fremdem Namen abhängig gemacht hat. 205 Die in der Literatur insbesondere von Schindler gegen die vom EuGH getroffene Differenzierung erscheint dabei nur insoweit als berechtigt, als sie die Verwendung des Begriffes „Ermächtigung" betrifft. Sachlich findet sie sich dagegen auch bei Schindler wieder. Wenn dieser unter einer Delegation nämlich nur die Begründung einer außerordentlichen Zuständigkeit verstehen will (vgl. S. 67 f.), so bedeutet dies, daß eine Delegation nur dann vorliegen kann, wenn zugunsten eines bestimmten Organs eine eigene Zuständigkeit durch ein anderes Organ begründet wird. Ob dies aber der Fall ist oder nicht, läßt sich nur dann ermitteln, wenn man prüft, ob dieses Organ eine Zuständigkeit eigenverantwortlich wahrnimmt. Handelt das Organ nicht eigenverantwortlich, so erfüllt dessen Tätigkeit allenfalls eine vorbereitende Funktion, so daß es bei der regelmäßigen Zuständigkeit des nach der gesetzlichen Kompetenzordnung zuständigen Organs bliebe, eine Delegation mithin also gar nicht vorläge.

192

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

Mitgliedstaaten als den Adressaten der Richtlinien gegenüber als ein hoheitlicher Akt bzw. als eine hoheitliche Aufgabe zu qualifizieren ist. Sollte diese Frage zu bejahen sein, so wäre im Anschluß hieran zu klären, ob die Normungsverbände die ihnen de facto eingeräumten Befugnisse auch eigenverantwortlich ausüben.

2. Ausübung hoheitlicher Aufgaben durch die europäischen Normungsverbände? Nach Art* 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV hat der Rat die Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zu erlassen, die die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben. Aus der in dieser Vertragsvorschrift festgelegten Regelungszuständigkeit des Rates im Bereich der Rechtsangleichung folgt, daß es im hier vorliegenden Zusammenhang nur um die Frage gehen kann, ob die Ausarbeitung Europäischer Normen zum Zwecke einer in gleitender Form erfolgenden Inbezugnahme den Mitgliedstaaten gegenüber materiell ein Akt der Rechtsetzung darstellt. Die Beantwortung dieser Frage hängt in erster Linie von der den bezogenen Normen nach der „Neuen Konzeption" zufallenden Rechtswirkungen ab 206 .

a) Die Rechtswirkung

der bezogenen Normen als entscheidendes Kriterium

Verdeutlichen läßt sich die Richtigkeit dieses Ansatzes, wenn man einmal die hier zwar nicht vorliegenden, theoretisch aber durchaus denkbaren Möglichkeiten als gegeben unterstellt, daß es sich bei den bezogenen Normen nach der Ausgestaltung der Verweisungsrichtlinien um für die Mitgliedstaaten entweder uneingeschränkt verbindliche oder aber um gänzlich unverbindliche Festle-

206 Vgl. insoweit auch die Ansätze von Röhling, S. 114 ff.; Starkowski, S. 87 ff.; Bruha, ZaöRV Bd. 46 (1986), S. 1 (24); Molkenbur, DVB1 1991, S. 745 (751). Abwegig ist in diesem Zusammenhang die Stellungnahme des Ausschusses für Währung, Wirtschaft und Industriepolitik, EG ΡΕ Dok. A 2-54 / 86 v. 16.06.1986. Der Ausschuß lehnt in seinen Ausführungen die Befassung der Gemeinschaftsorgane mit technischen Detailfragen kategorisch ab (Ziffer 2) und behauptet, von einer Weggabe von Gesetzgebungsbefugnissen könne bereits deshalb nicht die Rede sein, weil technische Regelwerke Allgemeinverbindlichkeit und Gesetzeskraft nur dann erhalten könnten, wenn ihnen diese der Gemeinschaftsgesetzgeber in dem dafür vorgesehenen Verfahren verleiht (Ziffer 11). Kritisch hierzu auch Joerges / Falke / Micklitz / Brüggemeier, S. 381 Fn. 290.

§ 4 Die Verweisungstechnik der Neuen Konzeption"

193

gungen handelte. Beide Fälle lassen sich im Hinblick auf die Delegationsproblematik ohne Schwierigkeiten lösen. Soweit die bezogenen Normen zwar für die Hersteller unverbindlich, für die Mitgliedstaaten jedoch ausnahmslos verbindlich wären, bestünde für die Mitgliedstaaten die rechtliche Verpflichtung, die in den jeweiligen Harmonisierungsrichtlinien vorgegebenen grundlegenden Sicherheitsanforderungen als erfüllt anzusehen, wenn ein Hersteller nachweisen kann, daß sein Produkt den technischen Normen entspricht. Die Mitgliedstaaten hätten in diesem Fall rechtlich keine Handhabe, normgemäße Produkte aus Sicherheitsgründen aus dem Verkehr zu ziehen oder ihr Inverkehrbringen zu verhindern. Dieses würde selbst dann gelten, wenn ihrer Ansicht nach die in den Richtlinien enthaltenen Sicherheitsanforderungen trotz normgemäßer Vorgehensweise der Hersteller etwa aufgrund einer fehlerhaften Konkretisierung der gesetzlichen Bestimmungen durch die bezogenen Normen nicht erfüllt sind. In diesem Fall würden die Normungsverbände den Inhalt der gesetzlichen Sicherheitsvorgaben den Mitgliedstaaten gegenüber mit verbindlicher und abschließender Wirkung festlegen. Dieses bedeutet, daß die Normungsverbände bestimmen würden, unter welchen sicherheitsspezifischen Voraussetzungen die Mitgliedstaaten den freien Warenverkehr mit den vom Anwendungsbereich der Richtlinien erfaßten Produkten nicht verhindern oder einschränken könnten. Da die Verweisung in dynamischer Form erfolgt, änderten sich bei einer Änderung der in Bezug genommenen Normen — beispielsweise bei ihrer Anpassung an den technischen Fortschritt — zugleich auch die Voraussetzungen, bei deren Vorliegen die Mitgliedstaaten die Grundsatzanforderungen als erfüllt anzusehen hätten. Würde ein Mitgliedstaat das Inverkehrbringen oder den Handel mit normgerechten Erzeugnissen einschränken oder gar verhindern, so würde er gegen die ihm in der Verweisungsrichtlinie auferlegten Verpflichtungen verstoßen und damit vertragswidrig handeln. Soweit die technischen Normen bzw. deren Inhalte den Mitgliedstaaten gegenüber uneingeschränkt verbindlich wären, würde den Normungsverbänden materiell die Befugnis eingeräumt, diejenigen Verpflichtungen mit abschließender Wirkung zu konkretisieren, die der Rat den Mitgliedstaaten in der jeweiligen Richtlinie zwecks Umsetzung in das nationale Recht auferlegt hat. Eine solche Befugnis steht nach der Systematik des EWG-Vertrages im Bereich der Rechtsangleichung nach Art. 100 a EWGV grundsätzlich, sofern nicht von der Möglichkeit der Art. 145 Unterabsatz 3, 155 Unterabsatz 4 EWGV Gebrauch gemacht wird, nur dem Rat zu. Daher könnte eine umfassende rechtliche Bindung der Mitgliedstaaten an die bezogenen Normen nur so gedeutet werden, daß die Normungsverbände im Bereich der Rechtsangleichung hoheitliche Befugnisse

13 Breulmann

1 9 4 3 . Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

wahrnehmen. Die Normungsverbände würden den Mitgliedstaaten gegenüber materiell Rechtsetzungsbefugnisse wahrnehmen 207. Noch unproblematischer zu beurteilen wäre im Hinblick auf die hier zur Diskussion stehende Frage nach dem Vorliegen einer Delegation die Situation, wenn die bezogenen Normen den Mitgliedstaaten gegenüber keinerlei Rechtswirkungen entfalten würden. In diesem Fall wären die Normen weder für die Mitgliedstaaten noch für die Hersteller in irgendeiner Form rechtserheblich. Die Mitgliedstaaten wären mithin also auch nicht gehalten, die Erfüllung der in den Richtlinien festgelegten Sicherheitsanforderungen als nachgewiesen anzusehen, wenn ein Produkt den Normeninhalten entspricht. Den Mitgliedstaaten, das heißt sowohl den nationalen Verwaltungsbehörden als auch den Gerichten, stünde ohne weiteres die Befugnis zu, auch normgerechte Erzeugnisse unmittelbar am Sicherheitsmaßstab der in das nationale Recht transformierten Grundsatzbestimmungen der jeweiligen Richtlinie zu überprüfen und das Inverkehrbringen dieser Produkte gegebenenfalls aus Sicherheitsgründen zu untersagen. Die bezogenen Normen wären sowohl für die Hersteller als auch für die Mitgliedstaaten nicht mehr als unverbindliche Anhaltspunkte, eine Art Interpretationshilfe zur Ermittlung des konkreten Inhalts der Richtlinien 208 . Rechtlich gesehen hätte eine solche Inbezugnahme von Normen in Richtlinien nur deklaratorischen Charakter; den Normen würde durch die Verweisung keine Bedeutung zugesprochen, die sie nicht auch ohne rechtliche Regelung bereits aus sich heraus in den Mitgliedstaaten entfalten 209 . Die Normungsverbände nähmen keine hoheitlichen Befugnisse zur Rechtsetzung wahr. Eine Delegation im materiellen Sinn läge nicht vor. Die Gegenüberstellung der beiden Extremfälle verdeutlicht zweierlei: Zum einen zeigt sie, daß sich die Delegationsproblematik im Anwendungsbereich der „Modellrichtlinie" nicht bereits mit dem Hinweis erledigen läßt, daß es den Herstellern freigestellt ist, ob sie normgemäß produzieren wollen oder nicht 210 . Dieser Umstand kann nur für die Frage von Bedeutung sein, ob die

207

Vgl. hierzu auch Starkowski,

S. 112 f.

208

Vgl. auch Starkowski, S. 116, der außerdem darauf hinweist, daß den bezogenen Normen selbst ohne Rechtswirkungen aufgrund der faktischen Akzeptanz in Bevölkerungs- und Herstellerkreisen eine erhebliche praktische Bedeutung zukommen dürfte. 209 2,0

Zutreffend auch Starkowski,

a.a.O.

So aber im Ergebnis Molkenbur, DVB1 1991, S. 745 (751), der im Hinblick auf die ebenfalls den Vorgaben der „Modellrichtlinie" entsprechende Bauproduktenrichtlinie zwar darauf verweist, daß die Normen sowohl für die Hersteller als auch für die Mitgliedstaaten unverbindlich bleiben müssen, diese Unverbindlichkeit jedoch ausschließlich aus der Tatsache herzuleiten versucht, daß

§ 4 Die Verweisungstechnik der Neuen Konzeption"

195

Verweisungspraxis nach der „Neuen Konzeption" eine für die Hersteller begünstigende oder belastende Regelung darstellt 211 . Zum anderen folgt hieraus, daß die Beantwortung der Ausgangsfrage, ob den Normungsverbänden durch die Art der Inbezugnahme von Normen nach der,»Neuen Konzeption" materiell Rechtsetzungsbefugnisse eingeräumt werden, entscheidend davon abhängt, ob und in welchem Umfang die bezogenen technischen Normen den Mitgliedstaaten gegenüber Rechtswirkungen entfalten sollen.

b) Bedeutung fur die „Neue Konzeption " Der hier zu beurteilende Fall, daß ein normgerechtes Verhalten der Hersteller zu einer qualifiziert widerlegbaren Tatbestandsbindung der Mitgliedstaaten im Bereich der Produktsicherheit führt, erscheint auf den ersten Blick gerade deshalb als problematisch, weil er nicht eindeutig eine der beiden genannten Fallgruppen zugeordnet werden kann. Einerseits erfolgt die Bindung der Mitgliedstaaten an die Normeninhalte nicht uneingeschränkt, denn es besteht zumindest für die nationalen Verwaltungsbehörden die Möglichkeit, den Warenaustausch mit normgerechten Erzeugnissen unter Einhaltung und bis zum Abschluß des Schutzklauselverfahrens vorläufig aus eigener Kompetenz zu beschränken. Andererseits handelt es sich hierbei nur um eine Ausnahmeregelung, die auch nur dann eingreift, wenn nach Auffassung eines Mitgliedstaates eine bezogene Norm gemessen an den Grundsatzbestimmungen der jeweiligen Harmonisierungsrichtlinie fehlerhaft ist 212 . Entscheidend für die Beantwortung der Frage, ob die Aufstellung von Normen, auf die in Richtlinien mit den dargestellten Konsequenzen verwiesen wird, durch die Normungsverbände in rechtlicher Hinsicht als Akt der Rechtsetzung zu qualifizieren ist, kann letztlich nur die Tatsache sein, daß die bezogenen Normen den Mitgliedstaaten gegenüber überhaupt Rechtswirkungen entfalten. Die Mitgliedstaaten können entsprechend der Konzeption der „Modellrichtlinie" die Normen gerade nicht als unverbindliche Empfehlungen behandeln. Dieses bedeutet aber, daß sie sich auch nicht

den Herstellern die Beachtung der bezogenen Normen freigestellt ist. 211

Vgl. zur Unterscheidung zwischen begünstigenden und belastenden Verweisungen die Darstellung von Marburger, Regeln der Technik, S. 406. 212

Der andere insoweit denkbare Fall, daß Sicherheitsmängel eines Produktes auf die Nichtbeachtung bzw. mangelhafte Anwendung der technischen Normen durch einen Hersteller zurückzuführen sind (vgl. Abschnitt V I I Punkt 1 Ziffer b der „Modellrichtlinie", ABl. AG Nr. C 136 v. 04.06.1985, S. 7) versteht sich von selber und bedarf im folgenden keiner weiteren Ausführungen.

1 9 6 3 . Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

ohne weiteres über die in ihnen enthaltenen Festlegungen hinwegsetzen können. Mitgliedstaaten, die die den bezogenen Normen als Tatbestandsregeln zufallenden Rechtswirkungen ignorieren, verstoßen gegen ihre in der jeweiligen Harmonisierungsrichtlinie festgelegten Verpflichtungen und handeln daher vertragswidrig. Derartige Vertragsverletzungen können von der EG-Kommission im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 169 EWGV vor dem Europäischen Gerichtshof gerügt werden. Die Mitgliedstaaten sind gehalten, im Regelfall davon auszugehen, daß ein den bezogenen Normen entsprechendes und mit einem Konformitätszeichen versehenes Produkt den in einer Richtlinie vorgeschriebenen und damit auch den nationalen Sicherheitsbestimmungen genügt. Die Normungsverbände konkretisieren mithin durch die Aufstellung Europäischer Normen die jeweiligen gesetzlichen Vorgaben in grundsätzlich abschließender Form. Sie bestimmen insoweit sowohl de jure als auch de facto den Sicherheitsmaßstab, bei dessen Einhaltung die Mitgliedstaaten ein Produkt als sicher und damit, unabhängig von den nationalen Vorstellungen über das für das betreffende Erzeugnis erforderliche Sicherheitsniveau, als vorbehaltlos verkehrsfahig anzusehen haben. Der den einzelnen Mitgliedstaaten noch verbleibende Handlungsspielraum beschränkt sich auf ein Minimum an Kontrollmöglichkeiten. Das Prüfungs- und Beanstandungsrecht der nationalen Behörden reduziert sich ausschließlich darauf, ob eine bezogene Norm noch den Sicherheitsvorgaben der Harmonisierungsrichtlinie entspricht oder nicht, ob mit anderen Worten also die Norm als solche fehlerhaft ist. Soweit die Hersteller normgemäß produzieren ist es den Mitgliedstaaten nicht gestattet, den Produzenten Anforderungen an die Sicherheit ihrer Erzeugnisse abzuverlangen, die über das in den bezogenen Normen festgelegte Sicherheitsniveau hinausgehen. Die Mitgliedstaaten sind also in sämtlichen Fragen der Produktsicherheit gezwungen, die in den betreffenden Normen enthaltenen Spezifikationen als grundsätzlich verbindlichen Maßstab ihrer eigenen Entscheidung zugrundezulegen; insoweit sind sie rechtlich an die Normen gebunden. Eine solche rechtliche Bindung der Mitgliedstaaten kann aber nur durch einen Akt der Rechtsetzung erfolgen. Da die „Modellrichtlinie" eine gleitende Verweisung vorsieht, die Mitgliedstaaten also an Normen gebunden werden, deren Inhalt im Zeitpunkt der Verabschiedung bzw. des Inkrafttretens der Richtlinie regelmäßig noch gar nicht feststeht und der sich überdies im Laufe der Zeit im Zuge der technischen Weiterentwicklung typischerweise ändern wird, ist die im Auftrag der Europäischen Gemeinschaften erfolgende Ausarbeitung von Normen zum Zwecke der Inbezugnahme durch die privatrechtlich

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197

organisierten, europäischen Normungsverbände dem Bereich der Rechtsetzung zuzuordnen. An diesem Befund vermag auch der Umstand nichts zu ändern, daß sich die Mitgliedstaaten bzw. ihre Behörden im Ausnahmefall über diese Bindungswirkung der Normen hinwegsetzen und somit auch den freien Warenaustausch mit normgerechten Gütern aus produktsicherheitsspezifischen Gründen in rechtlich zulässiger Weise beschränken oder sogar ganz verhindern können. Zwar zeigt diese Möglichkeit, daß uneingeschränkt verbindlich letztlich immer nur der in der jeweiligen Richtlinie festgelegte Sicherheitsmaßstab ist. Die Existenz eines Ausnahme- oder Schutzklauselverfahrens, an dessen Ende gebenenfalls die Streichung einer Norm aus der Normenliste und damit verbunden die Beseitigung der Rechtswirkungen der betreffenden Norm steht, täuscht jedoch nicht darüber hinweg, daß den Normen eben bis zum Abschluß dieses Verfahrens bestimmte, die Mitgliedstaaten bindende Rechtswirkungen zufallen. Im übrigen verdeutlicht die Existenz des Schutzklauselverfahrens, daß die Mitgliedstaaten nicht einmal in dem Fall, daß sie eine Norm sogar für fehlerhaft halten, aus eigener Kompetenz für ihr Hoheitsgebiet mit abschließender Wirkung über die Anwendbarkeit der Norm entscheiden dürfen. Eine endgültige und für die Mitgliedstaaten insoweit verbindliche Entscheidung trifft immer nur die Kommission 213 . Schließlich kann auch keine Rede davon sein, daß die Tätigkeit der Normungsverbände angesichts der in den Richtlinien enthaltenen Vorgaben ohnehin nur deklaratorischer Natur sei. Die Aufstellung von Normen ist gerade keine ohne weiteres mathematisch nachvollziehbare Rechenoperation, deren Ergebnis sich bereits unmittelbar aus den Richtlinienbestimmungen vorhersehen liesse. Zwar ist zuzugeben, daß die auf der Grundlage der „Modellrichtlinie" ergangenen Durchführungsrichtlinien die einzuhaltenden Sicherheitsmaßstäbe sehr viel präziser beschreiben als dies noch in der „Niederspannungsrichtlinie" der Fall gewesen ist 2 1 4 . Dennoch vermag dieser Umstand nicht darüber hinwegzuhelfen, daß auch nach der „Neuen Konzeption" die einzuhaltenden Sicherheitsanforderungen letztlich nur generalklauselartig umschrieben werden. Diese

213 214

Vgl. Abschnitt V I I der ,Modellrichtlinie", a.a.O., S. 6 f.

Vgl. Anhang 1 der „Niederspannungsrichtlinie", ABl. EG Nr. L 77 v. 26.03.1973, S. 32 f.; dagegen z.B jeweils den Anhang 1 der Rl. des Rates Nr. L 89 / 392 / EWG v. 14.06.1989 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für Maschinen, ABl. EG Nr. L 183 v. 29.06.1989, S. 15 ff.; Rl. 90 / 384 / EWG des Rates v. 20.06.1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über nichtselbsttätige Waagen, ABl. EG Nr. L 189 v. 20.07.1990, S. 6 ff.; Rl. 90 / 385 / EWG des Rates v. 20.06.1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über aktive implantierbare medizinische Geräte, ABl. EG Nr. L 189 v. 20.07.1990, S. 23 ff.

1 9 8 3 . Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

Generalklauseln eröffnen den Normungsverbänden einen erheblichen Entscheidungsspielraum 215. So haben die Normungsverbände abzuwägen zwischen den Belangen des Gesundheitsschutzes, der Höhe des gegebenenfalls verbleibenden und ihrer Ansicht nach noch hinnehmbaren Restrisikos sowie den Erfordernissen der Wirtschaftlichkeit. Diese abwägungsrelevanten Faktoren entsprechen den in den Normungsverbänden vertretenen Interessengruppen, wie beispielsweise den Herstellern und den mit Fragen der Sicherheit vertrauten Fachleuten. Ist aber im Verfahren der Normenaufstellung eine Abwägung und Gewichtung zwischen bzw. von verschiedenen Faktoren, wie z.B. Sicherheit, Leistung, Form und Kosten vorzunehmen, dann lassen sich die Grenzen zwischen den Erfordernissen der Wirtschaftlichkeit und des höchstmöglich anzustrebenden Gesundheitsschutzes oftmals nur sehr schwer ziehen 216 . Dieses bedeutet dann letzlich aber, daß bei der Normenaufstellung eine sozial- bzw. wirtschaftspolitische Grundentscheidung in Form eines Konsenses zwischen den beteiligten Interessengruppierungen unter Berücksichtigung der in den Richtlinien enthaltenen Vorgaben erforderlich ist 2 1 7 . Setzt das Verfahren der Normenaufstellung aber die Ausübung eines nicht unerheblichen Ermessensspielraumes von unter Umständen erheblicher, sicherheitspolitischer Tragweite voraus und werden die Mitgliedstaaten über das gesetzgebungstechnische Hilfsmittel der dynamischen rechtsnormkonkretisierenden Verweisung in prinzipiell verbindlicher Form an das Produkt dieses Verfahrens, nämlich an die Normen gebunden, so bestätigt auch diese Überlegung, daß es sich bei der Normenaufstellung im Bereich der „Neuen Konzeption" um eine hoheitliche Aufgabe auf dem Gebiet der Rechtsetzung handelt. Im Ergebnis ist daher die Erarbeitung von technischen Normen, auf die in den Harmonisierungsrichtlinien in der hier vorliegenden Art und Weise Bezug genommen wird, als rechtsetzende Tätigkeit der mit dieser Funktion durch die Gemeinschaftsorgane beauftragten Normungsverbände den Mitgliedstaaten gegenüber zu qualifizieren 218 .

215

Vgl auch die Ausführungen unten S. 234 ff.

216

Vgl. auch Starkowski,

S. 113; Grabitz, Harmonisierung baurechtlicher Vorschriften, S. 73.

217

Wie schwierig es im Einzelfall angesichts unterschiedlicher Gewichtungen der verschiedenen Faktoren und unterschiedlicher Prioritäten ist, in Detailfragen Kompromißlösungen zu finden, verdeutlicht allein die Tatsache, daß das ursprüngliche Konzept von Rat und Kommission, nämlich die Totalharmonisierung technischer Handelshemmnisse durch Richtlinien nach Art. 100 EWGV, aufgrund seiner Ineffizienz gescheitert ist. Vgl. hierzu bereits oben S. 23 ff. 218 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch ein vom Europäischen Parlament am 08.04. 1987 angenommener Entschließungstext zur technischen Harmonisierung und Normung, Dok. A 254, ABl. EG Nr. C 125 v. 11.05.1987. Dort heißt es unter Punkt 3 wörtlich: „Das Europäische Parlament verlangt, nach dem Willen des Parlaments in Zukunft das Gesetzgebungsverfahren des

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199

3. Eigenverantwortliche Wahrnehmung hoheitlicher Befugnisse durch die Normungsverbände Auch wenn die Aufstellung von Normen als Verweisungsobjekte als rechtsetzende Tätigkeit zu qualifizieren ist, liegt eine versteckte bzw. faktische Delegation nur dann vor, wenn den europäischen Normungsverbänden die Ausübung dieser Rechtsetzungsbefugnisse zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung zugewiesen worden ist. Nach der „Meroni-Rechtsprechung" 219 des Europäischen Gerichtshofes läge ein solches Handeln in eigener Verantwortung jedenfalls dann nicht vor, wenn sich die EG-Kommission die in ihrem Auftrag von den europäischen Normungsverbänden zum Zwecke der Inbezugnahme in Richtlinien erarbeiteten harmonisierten Normen ihrem Inhalt nach zu eigen machen würde. In diesem Fall würde die Einbeziehung der Normungsverbände in den Rechtsangleichungsprozeß der Gemeinschaft das für das Vorliegen einer faktischen Delegation erforderliche Merkmal einer tatsächlichen Verlagerung der Verantwortung nicht aufweisen. Dabei sei darauf hingewiesen, daß die insoweit erforderliche Untersuchung, ob die Normungsverbände in dem hier angesprochenen Bereich eigenverantwortlich handeln, nicht im Widerspruch zu der oben getroffenen Feststellung steht, daß die europäische ebenso wie die internationale Normung immer auf den Grundsätzen der Freiheit und Selbstverantwortung beruht 220 . Beide Prinzipien gelten auch für diejenigen Normen, die die Normungsverbände auf Veranlassung der EG-Kommission beschließen221. Die Frage nach der Eigenverantwortlichkeit bezieht sich insoweit ausschließlich auf die den bezogenen Normen nach der „Neuen Konzeption" zufallenden Rechtswirkungen, nicht aber auf die Europäischen Normen als solche. Dieses folgt bereits daraus, daß die von den europäischen Normungsverbänden autonom beschlossenen harmonisierten Normen die ihnen nach der „Modellrichtlinie" zufallenden Rechtswirkungen nicht bereits mit ihrer Transformation in das

Verweises auf Normen anzuwenden, wonach die Europäischen Normeninstitute mit der Ausarbeitung technischer Reglementierungen beauftragt werden; die Gesetzgebungsorgane der Gemeinschaften behalten sich dabei vor, bestimmte Sicherheitsanforderungen zu definieren; gesetzliche Allgemeinverbindlichkeit (!) erhält die Norm erst dann, wenn der Gemeinschaftsgesetzgeber in einer Richtlinie darauf verweist". 219 EuGH, RS. 9 / 56 u. 10 / 56, Meroni. / .Hohe Behörde, Urteile v. 12.06.1958, Slg. S. 11 (39) u. S. 57 (78). 220 221

Vgl. hierzu die Ausführungen oben S. 33 ff.

In diesem Sinne können die Mandate der EG-Kommission auch nicht etwa als Ausfluß von Hoheitsgewalt der Kommission über die europäischen Normungsverbände angesehen werden. Vgl. auch Berghaus, DIN-Mitt. Bd. 67 (1988), S. 532 (534).

200

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

nationale Normenwerk, sondern erst dann entfalten, wenn ihre Fundstelle im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften sowie in den jeweiligen amtlichen Gesetzes- oder Verordnungsblättern der einzelnen Mitgliedstaaten veröffentlicht worden ist 222 . Im Ergebnis ist daher im folgenden zu prüfen, welche Einfluß-, Kontroll- oder Steuerungsmöglichkeiten die EG-Kommission auf die in ihrem Auftrag erfolgende Normung hat und ob diese Instrumente, sofern sie vorhanden sind, inhaltlich so ausgestaltet sind, daß sie die Schlußfolgerung rechtfertigen, daß sich die Kommission die zu beziehenden Normen zu eigen macht.

a) Mandate der EG-Kommission Die Kommission kann bereits dadurch Einfluß auf die Normungsarbeit nehmen, daß sie den Normungsverbänden Mandate erteilt. Nach dem zweiten Grundprinzip der „Modellrichtlinie" 223 wird den für die Industrienormung zuständigen Gremien unter Berücksichtigung des Standes der Technologie die Aufgabe übertragen, technische Spezifikationen auszuarbeiten, die die Beteiligten benötigen, um Erzeugnisse herstellen und in den Verkehr bringen zu können, d ; e den in den jeweiligen Richtlinien festgelegten grundlegenden Anforderungen entsprechen. Diese Regelung ist von CEN ebenso wie von CENELEC in ihrer Vereinbarung mit der EG-Kommission ausdrücklich gebilligt worden 224 . Im Hinblick auf die rechtliche Bedeutung der Mandate für die Tätigkeit der Normungsverbände ist vereinzelt die Ansicht vertreten worden, daß unter anderem auch eine präzise Abfassung der den europäischen Normungsverbänden zu übertragenden Normungsaufträge geeignet sei, die Delegationsproblematik zu entschärfen 225. Dieser These könnte jedoch allenfalls für den Fall zugestimmt werden, daß die Kommission den Normungsverbänden in den einzelnen Mandaten sicherheitstechnische Vorgaben an die Hand gibt, die in ihrer Präzision hinsichtlich des bei der Normenaufstellung anzustrebenden Sicherheitsniveaus deutlich über die in den jeweiligen Harmonisierungsrichtlinien enthalte-

222

Vgl. Abschnitt V Ziffer 3 1 lit. a der „Modellrichtlinie", ABl. EG Nr. C 136 v. 04.06.1985,

S. 5. 223

A.a.O., S. 2.

224

Vgl. die »Allgemeinen Leitsätze für die Zusammenarbeit zwischen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften und den Europäischen Normungsverbänden CEN und CENELEC" v. 13.11.1984, DIN-Mitt. Bd. 64 (1985), S. 78 f. 225

Vgl. Joerges / Falke / Micklitz / Brüggemeier, S. 383.

§ 4 Die Verweisungstechnik der Neuen Konzeption"

201

nen, generalklauselartigen Grundsatzbestimmungen hinausgehen. In der Praxis enthalten die Mandate allerdings keine Aussagen über inhaltliche Anforderungen an die zu leistende Normungsarbeit 226. Mandate regeln die zu normenden Gegenstände, die Fristen für die Durchführung der Normungsarbeiten sowie den von der Europäischen Gemeinschaft für die Normungsarbeit zu leistenden Finanzbeitrag 227. Letzterer bezieht sich insbesondere auf die zentrale Koordinierung durch das Zentralkomitee der Normungsverbände in Brüssel sowie die technische Durchführung der Normungsarbeiten 228. Inhaltlich haben sich die Normungsverbände bei den einzelnen Normungsarbeiten ausschließlich am Maßstab bzw. an den Vorgaben der betreffenden Harmonisierungsrichtlinie zu richten. Durch ein Mandat setzt die EG-Kommission also bezüglich eines bestimmten Gegenstandes den Prozeß der Normung in Gang. Weitergehende Einflußmöglichkeiten auf den Inhalt der Normungsarbeiten ergeben sich aus diesem Verfahren jedoch nicht. Schließlich folgt aus dem Umstand, daß die Normungsverbände im Auftrag der Kommission tätig werden, auch nicht, daß sie nunmehr die Normen im Namen oder quai stellvertretend für die Kommission erstellen. Für die Normungsverbände bedeutet ein Mandat letztlich nicht mehr als ein — allerdings vorrangig — zu behandelnder Vorschlag, Normungsarbeiten bezüglich eines bestimmten Gegenstandes durchzuführen 229.

226

Mißverständlich ist aus diesem Grunde auch die Formulierung des 2. Grundprinzips der „Modellrichtlinie", ABl. EG Nr. C 136 v. 04.06.1985, S. 2. Dort heißt es wörtlich: „Die Güte der harmonisierten Normen muß durch Normungsaufträge sichergestellt werden, die von der Kommission vergeben werden und deren Ausführung den allgemeinen Richtlinien, die zwischen der Kommission und den europäischen Normungsinstitutionen vereinbart worden sind, entsprechen muß". 227 Das Volumen der von der EG und der EFTA in Auftrag gegebenen Normungsprojekte hat zur Folge, daß zur Zeit etwa 70% des CENELEC-Jahreshaushaltes sowie ein Teil der Kosten, die den nationalen Mitgliederorganisationen durch die Übernahme technischer Sekretariate entstehen, aus Zahlungen der EG- und der EFTA-Länder bestritten werden. Vgl. Mitteilungen der EG-Kommission zum Ausbau der Europäischen Normung, Kom (90) 456 endg., ABl. EG Nr C 20 v. 28.01.1991, S. 20 Rn. 66. 228 Vgl. hierzu auch Berghaus, DIN-Mitt. Bd. 67 (1988), S. 532 (533); Böshagen, Normung, § 13 Rn. 19. Ein Überblick der an CEN und CENELEC seit 1986 vergebenen Normungsaufträge findet sich im Anhang 1 der Mitteilungen der EG-Kommission zum Ausbau der Europäischen Normung, a.a.O., S. 30 f. 229 Besonders deutlich wird dies in Pkt. 4.1.3. der GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Gemeinsame Regeln für die Normungsarbeit klargestellt: »Jedes CEN / CENELEC-Gremium, die Kommission der Europäischen Gemeinschaften oder das EFTA-Sekretariat, ... darf Vorschläge für neue NormProjekte machen. Solche Vorschläge haben unter Benutzung des vom Zentralsekretariat bereitgestellten zutreffenden Vordrucks an das Zentralsekretariat geleitet zu werden, ...". Vgl. auch die Vereinbarung CEN / CENELEC - EG-Kommission, DIN-Mitt. Bd. 64 (1985), S. 78 (79): „Sie [die EG-Kommission] wird darauf verzichten, wenn sie CEN / CENELEC um die Ausarbeitung von Normen ersucht [Hervorhebung durch den Verfasser] hat, innerhalb der eingeräumten Fristen

202

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

b) Mitwirkungsmöglichkeiten der EG-Kommission im Verfahren der Normenaufstellung Die Möglichkeiten der EG-Kommission, direkt auf die Normungsarbeiten gestalterisch Einfluß zu nehmen, sind nur relativ begrenzt. CEN und CENELEC laden zwar Vertreter der Kommission ein, an den Sitzungen des Technischen Büros bzw. der Technischen Komitees teilzunehmen230. Nach der Geschäftsordnung beider Verbände ist diesen Vertretern allerdings nur der Status von Beobachtern eingeräumt. Insbesondere sind sie bei Abstimmungen nicht stimmberechtigt 231 . Anders als bei den Brüsseler Ausgleichseinrichtungen für Schrott 232 haben die von der Kommission benannten Vertreter auch nicht die Möglichkeit, der Kommission die Entscheidung über eine für die Gemeinschaft wichtige und gegebenenfalls unter den Mitgliederverbänden streitige Frage bei der Ausführung eines Normungsmandates vorzubehalten. Der Kommission steht es nicht einmal frei, verbandsintern über die Einleitung eines Berufungsverfahrens 233 eine von einem CEN / CENELEC-Organ getroffene Entscheidung nochmals überprüfen zu lassen, da die Kommission selber bzw. ihre Vertreter im Berufungsverfahren nicht antragsbefugt sind 234 . Insgesamt ist es der Kommission über die ihr in der Geschäftsordnung durch CEN und CENELEC eingeräumten Mitwirkungsmöglichkeiten im Verfahren der Normenaufstellung nicht möglich, maßgeblichen Einfluß auf den Inhalt der Normungsarbeiten zu nehmen. Sofern man in diesem Zusammenhang überhaupt von einem Lenkungs- oder Steueruiigsinstrument reden kann, ist dieses inhaltlich beschränkt auf den sehr begrenzten Rahmen der Abgabe von Stellungnahmen oder Diskussionsbeiträgen der von der Kommission bestellten Vertreter. Letztlich dient daher die formell abgesicherte Beteiligung der Kommission eher

technische Spezifikationen zum gleichen Gegenstand auszuarbeiten oder ausarbeiten zu lassen". 230 Vgl. Pkt. 2.1.3. und Pkt. 2.3.5. Gescho CEN / CENELEC, Teil 2, Gemeinsame Regeln für die Normungsarbeit. 231

Ausdrücklich ist dieses in Pkt. 2.3.5. GeschO CEN / CENELEC, a.a.O., nur fiir den Bereich der Technischen Komitees festgelegt; gleiches gilt jedoch auch in den Sitzungen des Technischen Büros. 232 Vgl. Art. 9 der Entscheidung Nr. 14 / 55 v. 26.03.1955, ABl. EG S. 685 sowie die Darstellung oben S. 181 ff. 233 234

Vgl. hierzu oben S. 67 ff.

Vgl. Anhang A Pkt. 1 zur GeschO CEN / CENELEC, Teil 2, Gemeinsame Regeln für die Normungsarbeit.

§ 4 Die Verweisungstechnik der Neuen Konzeption"

203

als Informationsquelle über die verbandsinterne Normungsarbeit und deren jeweiligen Entwicklungsstand als der Steuerung dieser Arbeiten.

c) Veröffentlichung

der Normenfundstellen

durch die Kommission

Abschnitt V Ziffer 1 lit. a der „Modellrichtlinie" 235 verpflichtet die Mitgliedstaaten nur bei solchen Erzeugnissen vom Vorliegen der grundsätzlichen Sicherheitsbestimmungen auszugehen, die in den Anwendungsbereich der jeweiligen Harmonisierungsrichtlinie fallen und mit einer Konformitätsbescheinigung versehen sind, welche die Übereinstimmung mit den harmonisierten Normen bestätigt. Weiterhin ist es erforderlich, daß diese Normen in Übereinstimmung mit den zwischen den Normungsverbänden und der EG-Kommission vereinbarten allgemeinen Leitlinien verabschiedet worden sind 236 und ihre Fundstelle im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht worden ist 2 3 7 . Anders ausgedrückt ist die Veröffentlichung der Normenfundstellen zwingende Voraussetzung dafür, daß die bezogenen Normen den Mitgliedstaaten gegenüber überhaupt Rechtswirkungen entfalten können 238 . Zuständig für die Veröffentlichung der Normen ist nach Abschnitt V Ziffer 2 Absatz 2 der „Modellrichtlinie" die Kommission. Die Tatsache, daß eine Veröffentlichung der Normenfundstellen notwendig ist, bevor die Normen den Mitgliedstaaten gegenüber Rechtswirkungen entfalten können, könnte die Schlußfolgerung rechtfertigen, daß sich die Kommission dadurch, daß sie die Vornahme der Veröffentlichung veranlaßt, gleichzeitig auch den Inhalt der betreffenden Nor-

235

ABl. EG Nr. C 136 v. 04.06.1985, S. 5.

236

Ob dieses zum gegenwärtigen Zeitpunkt überhaupt der Fall sein kann erscheint allerdings fraglich. So sehen die Leitlinien unter anderem auch eine unmittelbare Verbraucherbeteiligung im Normaufstellungsverfahren vor. Entgegen dieser Vereinbarung findet bis heute aber auf der europäischen Ebene eine direkte Beteiligung der Verbraucherseite an den Normungsarbeiten nicht statt. Vgl. auch Vieweg, Technische Normen, S. 57 (69 FN. 65). Auf eine Auseinandersetzung mit den sich hieraus ergebenden Problemen soll im folgenden jedoch verzichtet werden. 237 Tatsächlich veröffentlicht hat die EG-Kommission Normenfundstellen bislang erst einmal und zwar im Anwendungsbereich der „Spielzeugrichtlinie". Vgl. die Mitteilung der Kommission im Rahmen der Durchführung der Richtlinie 88 / 378 / EWG, ABl. EG Nr. C 155 v. 23.06.1989, S. 2. 238

Darauf, daß die Veröffentlichung insoweit nicht rein deklaratorischer, sondern konstitutiver Natur ist, weist auch Anselmann, Bezugnahme, S. 101 (107) hin.

2 0 4 3 . Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

men zu eigen macht 239 . Dieses könnte nach der Terminologie des Europäischen Gerichtshofes allerdings nur dann der Fall sein, wenn die Normungsverbände durch die von der EG-Kommission erteilten Normungsmandate lediglich „ermächtigt" würden 240 , Beschlüsse im Zusammenhang mit der Durchführung und der inhaltlichen Ausgestaltung der Normungsarbeiten zu treffen, die Umsetzung dieser Beschlüsse letztlich aber ausschließlich der Kommission vorbehalten bliebe und diese für den Inhalt der in Bezug genommenen Normen die alleinige Verantwortung tragen würde.

aa) Merkmal der ,Abänderbarkeit" In den „Meroni-Fällen" sah der Europäische Gerichtshof das entscheidende Abgrenzungskriterium zwischen der Ermächtigung und einer Delegation in dem Umstand, ob die damalige Hohe Behörde den von den ,3nisseler Organen" mitgeteilten Angaben über die Höhe des von einem Unternehmen zu zahlenden Ausgleichsbetrages von sich aus etwas hinzufügen konnte oder ob jede weitere Ergänzung oder Abänderung der mitgeteilten Angaben einen unzulässigen Eingriff in den Zuständigkeitsbereich einer anderen Körperschaft dargestellt hätte 241 . Im zweiten Fall ging der Gerichtshof begrifflich vom Vorliegen einer Delegation aus.

239

Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei darauf hingewiesen, daß aus der Notwendigkeit einer Veröffentlichung der Normenfundstellen durch die Kommission nicht geschlossen werden kann, daß es sich bei der Verweisungstechnik der „Neuen Konzeption" nur um eine statische und nicht um eine dynamische Verweisung handelt. Eine statische Verweisung läge allenfalls dann vor, wenn bereits in der Verweisungsgrundlage, hier also in den jeweiligen Harmonisierungsrichtlinien, die in Bezug genommenen Verweisungsobjekte nach ihrem Ausgabedatum und ihrer Normblattnummer durch den Gesetzgeber der Verweisungsgrundlage, also den Rat der Europäischen Gemeinschaften, genau spezifiziert würden. Dies ist jedoch gerade nicht der Fall, so daß der Umstand, daß erst in einem Zwischenschritt die Normenfundstellen zu veröffentlichen sind, bevor die Normen die ihnen zugewiesenen Rechtswirkungen entfalten, insoweit keine Rolle spielt. Vgl. auch die Darstellung oben S. 25 f. 240

Vgl. EuGH, RS 9 / 56, Meroni. / .Hohe Behörde, Urt. v. 13.06.1958, Slg. S. 11 (37).

241

Vgl. EuGH RS. 9 / 56 und 10 / 56, Urteile v. 13.06.1958, Slg. S. 11 (39) und S. 57 (78).

§ 4 Die Verweisungstechnik der Neuen Konzeption"

205

Würde man das Kriterium der „Abänderbarkeit" auch im Bereich der „Modellrichtlinie" als das entscheidende Differenzierungsmerkmal zwischen der Delegation und der Ermächtigung ansehen, so müßte dies zu dem Ergebnis führen, daß ein eigenverantwortliches Handeln der Normungsverbände in jedem Falle vorläge, die Verweisungstechnik der „Neuen Konzeption" dementsprechend also als eine faktische Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen zu qualifizieren wäre. Der EG-Kommission ist es nämlich nicht möglich, eine von CEN oder CENELEC als solche beschlossene Europäische Norm vor der Veröffentlichung ihrer Fundstelle aus eigener Kompetenz inhaltlich zu verändern. Entweder veröffentlicht die Kommission die Fundstelle und setzt dadurch die den bezogenen Normen zufallenden Rechtswirkungen in Kraft oder aber sie weist eine Norm zurück. Will die Kommission, daß der Inhalt der Norm geändert wird, so ist sie gegebenenfalls gehalten, die Veröffentlichung der Fundstelle auszusetzen und CEN oder CENELEC ein neues, geändertes Normungsmandat zu erteilen. Fraglich ist allerdings, ob das Kriterium der Abänderbarkeit hier tatsächlich den Ausschlag geben kann. In den „Meroni-Fällen" ging es um die Kompetenz der ,3rüsseler Organe", die bei der Firma Meroni eingegangenen Schrottmengen zu schätzen und auf der Grundlage dieser Schätzung die Höhe der Ausgleichzahlungen festzulegen. Insoweit handelte es sich jeweils um konkret individuelle Entscheidungen der Brüsseler Organe. Im Unterschied hierzu beinhalten technische Normen abstrakt generelle Beschreibungen technischer Spezifikationen 242 . Aus diesem Grunde sind technische Normen auch nicht ohne weiteres abänderbar. Würde die EG-Kommission oder ein anderes Organ eine von einem Normungsverband in dem dafür vorgesehenen Verfahren beschlossene Norm inhaltlich in irgendeiner Form abändern, so würde es sich darüber hinaus bei dieser abgeänderten Fassung der Norm bereits begrifflich nicht mehr um eine Norm handeln. Die Norm würde ihren Charakter als Produkt der eigenständigen Tätigkeit der Normungsverbände verlieren. Diese Überlegungen verdeutlichen, daß das Merkmal der Abänderbarkeit im vorliegenden Fall nicht als ausschlaggebendes Abgrenzungskriterium herangezogen werden kann.

242

Zum Begriff vgl. die Ausführungen oben S. 29 ff.

206

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

bb) Fehlen einer formellen Rezeption der Normen vor der Veröffentlichung Verzichtet man auf die Anwendung dieses Kriteriums, so bedeutet dieses jedoch nicht, daß bereits die schlichte Übernahme der Normen durch Veröffentlichung ihrer Fundstellen als ausreichend angesehen werden kann, um ein eigenverantwortliches Handeln der Normungsverbände auf dem Gebiet der Rechtsetzung zu verneinen. Erforderlich sein dürfte vielmehr ein formeller Willensakt der Kommission in Form einer Entschließung oder Entscheidung, der konkret auf die inhaltliche Rezeption der Normeninhalte gerichtet ist. Das Vorliegen eines solchen Willensaktes setzt voraus, daß die Kommission, bevor sie die Fundstellen der in ihrem Auftrag erarbeiteten Normen veröffentlicht und dadurch die diesen Normen gegenüber den Mitgliedstaaten zufallenden Rechtswirkungen „freisetzt", die Normen zumindest anhand der Normungsmandate sowie der in den Richtlinien vorgegebenen grundlegenden Sicherheitsbestimmungen auf ihre Fehlerhaftigkeit hin überprüft und abschließend in einer förmlichen Entschließung das Ergebnis dieser Überprüfung feststellt bzw. über die Vornahme der Veröffenüichung entscheidet. Da eine solche Entschließung den Mitgliedstaaten gegenüber als Rechtsetzungsakt zu qualifizieren wäre, der EGKommission nach Art. 100 a EWGV eine eigene Kompetenz zur Rechtsetzung aber nicht eingeräumt ist, könnte die Kommission eine entsprechende Entschließung nur dann treffen, wenn der Rat in der „Modellrichtlinie" von der in den Art. 155 Unterabsatz 4, 145 Unterabsatz 3 EWGV vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht hätte, der Kommission die Befugnis zu übertragen, formell über die Veröffentlichung der Normenfundstellen zu entscheiden. Fehlt es in der „Modellrichtlinie" an einer solchen Regelung, so kann der Kommission nach der „Neuen Konzeption" nicht die Befugnis zustehen, in einem gesonderten Verfahren förmlich über die Veröffentlichung zu entscheiden. In diesem Fall wäre die Vornahme bzw. die Veranlassung der Veröffentlichung als eine ohne inhaltliche Prüfung erfolgende schlichte Übernahme der Normen zu bewerten, die die Annahme eines eigenverantwortlichen Handelns der Normungsverbände und damit verbunden das Vorliegen einer versteckten Delegation nicht ausschließen könnte. Ausdrücklich wird die Kommission in der „ M o d e l l r i c h t l i n i e " nicht berechtigt bzw. verpflichtet, eine förmliche Entschließung oder Entscheidung über die Veröffentlichung der Normenfundstellen zu treffen. Fraglich kann daher allenfalls sein, ob die in der „Modellrichtlinie" zugunsten der Kommission begründete Zuständigkeit, die Veröffentlichung der Normenfundstellen zu veranlassen, gleichzeitig auch die Befugnis einschließt, förmlich über die

§ 4 Die Verweisungstechnik der Neuen Konzeption"

207

Veröffentlichung zu beschließen243. Ob dieses der Fall ist, läßt sich nur im Wege der Auslegung ermitteln.

(1) Auslegung der „Modellrichtlinie" Die grammatikalische Auslegung der „Modellrichtlinie" spricht bereits gegen eine solche Befugnis der EG-Kommission. Nach Abschnitt V Ziffer 2 Absatz 2 der „Modellrichtlinie" sorgt die Kommission für die Veröffentlichung der Fundstellen im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften. Diesem Wortlaut läßt sich nichts entnehmen, was darauf schließen lassen würde, daß die Kommission vor der Veröffentlichung förmlich über die Annahme einer von den Normungsorganisationen erarbeiteten Norm zu entscheiden hat beziehungsweise überhaupt entscheiden darf. Stützen läßt sich diese These auch auf systematische Überlegungen. Abschnitt V I Ziffer 1 der „Modellrichtlinie" regelt unter dem Titel „Verwaltung der Normenliste" das Verfahren, wenn ein Mitgliedstaat oder die Kommission selbst die Auffassung vertritt, daß die harmonisierten Normen bzw. Normenentwürfe nicht voll den grundlegenden Sicherheitsvorgaben der jeweiligen Harmonisierungsrichtlinie entsprechen. Nach dem Unterabsatz 2 dieser Regelung weist die Kommission nach Abschluß des Verfahrens darauf hin, daß die harmonisierte Norm aus den vorgenommenen Veröffentlichungen gestrichen werden muß bzw. nicht gestrichen werden darf 244 .

243 Die Annahme einer Delegation im Verhältnis des Rates zur Kommission scheitert dabei nicht bereits an dem Umstand, daß in der „Modellrichtlinie" ein Hinweis auf die Delegationsvorschrift des Art. 155 Unterabsatz 4 EWGV und in den nach dem Inkrafttreten der EEA ergangenen Harmonisierungsrichtlinien ein Hinweis auf den nunmehr in erster Linie einschlägigen Art. 145 Unterabsatz 3 EWGV fehlt. Beide Delegationsvorschriften begründen nämlich nicht für sich allein die Möglichkeit einer Übertragung von Durchführungsbefugnissen auf die Kommission. Diese Möglichkeit ergibt sich vielmehr immer erst in Verbindung mit der jeweiligen Vertragsbestimmung, in der die Grundvorschrift, hier also die jeweilige Harmonisierungsrichtlinie, ihre vertragliche Rechtsgrundlage findet. Ist aber weder Art. 145 Unterabsatz 3 EWGV noch Art. 155 Unterabsatz 4 EWGV die unmittelbare Rechtsgrundlage für die der Kommission übertragenen bzw. zu übertragenden neuen Kompetenzen, dann ist es auch nicht erforderlich, die konkrete Delegationsanordnung ausdrücklich auf eine der genannten Vorschriften zu stützen. Vgl. hierzu nur Hummer, in: Grabitz, EWGV, Art. 155 Rn. 46. 244 Nach Abschnitt V I I Ziffer 3 der „Modellrichtlinie" finden diese Rechtsfolgen auch dann Anwendung, wenn ein Mitgliedstaat von der in Abschnitt V I I Ziffer 1 vorgesehenen Schutzklausel mit der Begründung Gebrauch macht, daß die Abweichung eines Erzeugnisses von den in der Richtlinie enthaltenen grundlegenden Bestimmungen auf einen Mangel der harmonisierten Norm ZurückZufuhren ist und die Kommission diese nationale Entscheidung in dem hierfür nach Abschnitt V I I Ziffer 2 der „Modellrichtlinie" vorgesehenen Verfahren bestätigt.

2 0 8 3 . Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

Diese Vorschrift zeigt, daß ein umfassendes Normprüfungsverfahren unter Beteiligung des zu diesem Zwecke eigens eingerichteten EG-Ausschusses „Normen und technische Vorschriften" 245 , an dessen Ende eine förmliche und für die Mitgliedstaaten verbindliche Entscheidung246 über die Anwendbarkeit bzw. Nichtanwendbarkeit einer Norm steht, nur in den Fällen ausdrücklich vorgesehen ist, in denen entweder ein Mitgliedstaat oder aber die Kommission die Vereinbarkeit einer Norm bzw. eines Normenentwurfs mit den in der betreffenden Richtlinie vorgeschriebenen Sicherheitsvorgaben anzweifelt. Räumt die „Modellrichtlinie" der EG-Kommission eine umfassende Prüfungskompetenz aber nur in Ausnahmefallen ein, so bedeutet dies, daß jedenfalls in der Regel eine inhaltliche Kontrolle der zu beziehenden Normen und daran anschließend eine insoweit förmliche, den Mitgliedstaaten gegenüber verbindliche Entscheidung der Kommission über die Anwendbarkeit einer Norm vor der Veröffentlichung der Normenfundstellen gerade nicht erfolgen soll. Hätte der Europäische Gesetzgeber diesbezüglich etwas anderes bezweckt, so wäre es unverständlich, warum in der „ M o d e l l r i c h t l i n i e " die Vornahme der Veröffentlichung und damit verbunden das Inkrafttreten der den Normen zuerkannten Rechtswirkungen nicht in jedem Fall unter den Vorbehalt des positiven Abschlusses eines Prüfungsverfahrens gestellt worden ist. Daß in der „Modellrichtlinie" bewußt seitens des Rates auf eine Festschreibung einer generell durchzuführenden Inhaltskontrolle der harmonisierten Normen verzichtet worden ist, zeigt auch die unterschiedliche Behandlung der harmonisierten Europäischen Normen mit den bis zur Erstellung derartiger Normen unter bestimmten Umständen übergangsweise anwendbaren nationalen Normen 247 . Nach Abschnitt V Ziffer 2 Absatz 1 der „Modellrichtlinie" teilen die Mitgliedstaaten der Kommission den Wortlaut jener nationaler Normen mit, die ihrer Ansicht nach den grundlegenden gesetzlichen Sicherheitsanforderungen entsprechen und aus diesem Grunde vorübergehend als Verweisungsobjekte dienen können. Nach dem Erhalt der Mitteilung ist die Kommission nach Ab-

245 Zur Rolle, Funktion und Arbeitsweise dieses Ausschusses vgl. den Überblick von Berghaus, DIN-Mitt. Bd. 67 (1988), S. 532 ff. 246 Ausdrücklich ist in der „Modellrichtlinie" zwar nicht von einer solchen „förmlichen" Entscheidung die Rede. Wenn eine Norm jedoch auf den „Hinweis der Kommission" aus den Veröffentlichungen zu streichen ist bzw. nicht gestrichen werden darf, so bedeutet dies letzdich, daß der Kommission notwendigerweise auch die Befugnis zustehen muß, mit abschließender Wirkung über die Fehlerhaftigkeit und damit die weitere Anwendbarkeit bzw. Nichtanwendbarkeit einer Norm zu entscheiden. 247 Vgl. zur übergangsweisen Anwendbarkeit nationaler Normen Abschnitt V Ziffer 1 lit. b sowie Abschnitt V Ziffer 5 Unterabsatz 2 der „Modellrichtlinie".

§ 4 Die Verweisungstechnik der Neuen Konzeption"

209

schnitt V I Ziffer 2 Absatz 1 der „Modellrichtlinie" verpflichtet, den Ständigen Ausschuß zu konsultieren. Aufgrund dessen Stellungnahme248 teilt die Kommission dann den Mitgliedstaaten innerhalb einer bestimmten Frist mit, ob bei der betreffenden Norm von der „Vermutung" einer Übereinstimmung mit den gesetzlichen Sicherheitsvorgaben auszugehen und bejahendenfalls deren Fundstelle auf nationaler Ebene zu veröffentlichen ist. Der Umstand, daß sämtliche nationale Normen vor Veröffentlichung ihrer Fundstellen durch die Mitgliedstaaten von der Kommission in einem förmlichen Verfahren auf ihre Richtlinienkonformität überprüft und bestätigt 249 werden müssen, wohingegen bei den harmonisierten Europäischen Normen eine solche Bestätigung nicht obligatorisch vorgeschrieben ist, weist darauf hin, daß mit der Veröffentlichung der Fundstellen der harmonisierten Normen durch die Kommission eine inhaltliche Überprüfung in der Regel nicht verbunden ist.

(2) Vergleich mit der Richtlinie 91 / 263 / EWG Erhärten läßt sich die Stichhaltigkeit dieser These durch einen Vergleich mit der Systematik der unlängst beschlossenen Richtlinie des Rates „zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Telekommunikationsendeinrichtungen einschließlich der gegenseitigen Anerkennung ihrer Konformität" 2 5 0 . In der Begründung zu dieser Richtlinie hat der Rat darauf hingewiesen, daß bei der Festlegung der grundlegenden Anforderungen zur Kommunikationsfahigkeit mit öffentlichen Telekommunikationsnetzen sowie in gerechtfertigten Fällen über solche Netze im allgemeinen durch die Hersteller einheitliche technische Lösungen erfüllt werden müßten, die rechtlich uneingeschränkt verbindlich auszugestalten seien. Aus diesem Grund sei auf diesem Gebiet die Erarbeitung technischer Vorschriften unumgänglich. Diese sollen nach den Vorstellungen des Rates auf der Grundlage harmonisierter Normen

248 Daß dem Ausschuß insoweit nur eine beratende Funktion zukommt, die Kommission also hinsichtlich der Bewertung der Norm nicht an die Stellungnahme des Ausschusses gebunden ist, folgt unmittelbar aus dem Abschnitt X der „Modellrichtlinie". Dort ist davon die Rede, daß die vor der Veröffentlichung der Fundstellen der nationalen Normen vorgesehene Anhörung des Ausschusses eher einen Rahmen abgeben soll zur Erörterung etwaiger Bedenken seitens der Kommission oder eines Mitgliedstaates als eine systematische Prüfung des gesamten Inhalts der Norm bewirken soll. 249

So ausdrücklich der Wortlaut des Abschnitt V I Ziffer 2 Unterabsatz 3 der „Modellrichtlinie".

250

Rl. 91 / 263 / EWG, ABl. EG Nr. L 128 v. 23.05.1991, S. 1 ff. Vgl. hierzu auch die Darstellung von Fangmantiy EuZW 1991, S. 585 ff.; allgemein zur Harmonisierung auf dem Gebiet der Telekommunikationstechnik auch Amory, EuZW 1992, S. 75 ff. 14 Breulmann

210

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

durch die Kommission in Zusammenarbeit mit einem neu zu bildenden Ausschuß — dem TRAC 2 5 1 —, der sich aus Vertretern der Mitgliedstaaten zusammensetzt und in dem ein Vertreter der Kommission den Vorsitz führt, festgelegt werden. In der Richtlinie selbst wird der Kommission in Art. 6 Absatz 2 Unterabsatz 2 die Befugnis übertragen, zunächst in einem ersten Schritt die Maßnahme, die den Typ der Endeinrichtung bestimmt, für welchen eine technische Vorschrift als erforderlich angesehen wird, sowie die damit verbundene Rahmenbeschreibung für eben diese Vorschrift festzulegen. Im Anschluß hieran übermittelt die Kommission die entsprechenden Vorgaben an die relevanten Normungsorganisationen, die dann ihre Normungsarbeiten aufnehmen. Nach Ausarbeitung der Normenentwürfe und abschließender Entscheidung über ihre Annahme als harmonisierte Normen durch die Normungsverbände nimmt die Kommission nach Art. 6 Absatz 2 Unterabsatz 2 in einem kompliziert ausgestalteten Verfahren 252 diejenigen harmonisierten Normen bzw. Teile von ihnen an, die die in Art. 4 der Richtlinie genannten Anforderungen erfüllen, soweit letztere nicht ausschließlich Produktsicherheitsaspekte betreffen 253. Geht es dagegen ausnahmslos um produktsicherheitsspezifische Fragen, bleibt es bei dem in der „Neuen Konzeption" vorgesehenen Prinzip der Verweisung auf Normen, ohne daß die Richtlinie 91 / 263 / EWG eine Regelung enthielte, daß diese Normen in einem gesonderten Verfahren durch die Kommission angenommen werden müßten 254 .

(3) Sinn und Zweck der Veröffentlichung der Normenfundstellen Bestätigen läßt sich der Befund, daß es sich bei der Veröffentlichung der Normenfundstellen ausschließlich um einen Publikationsakt handelt, wenn man einmal den Sinn und Zweck der Veröffentlichungspflicht untersucht.

251 Telecommunications Regulations Applications Committee - Zulassungsausschuß fur Telekommunikationsendeinrichtungen. 252 Vgl. Ait. 14 der Rl. 91 / 263 EWG, a.a.O. Vgl. hierzu den Überblick von Fangmann, EuZW 1991, S. 585 (586 f.). 253

Es handelt sich hierbei in erster Linie um Regelungen, die die Kommunikationsfähigkeit der Endeinrichtungen betreffen. Vgl. Art. 4 lit. f und g der Rl. 91 / 263 / EWG. Vgl. aber auch Art. 4 lit. c, d und e der Rl. 91 / 263 / EWG, a.a.O. 254

Vgl. Art. 6 Absatz 1 der Rl. 91 / 263 / EWG, a.a.O.

§ 4 Die Verweisungstechnik der Neuen Konzeption"

211

In den „allgemeinen Leitsätzen für die Zusammenarbeit der Kommission der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Normungsorganisationen CEN und CENELEC" 2 5 5 heißt es in diesem Zusammenhang wörtlich: „Sie [die Kommission] wird die Verbreitung und Anwendung der Europäischen Normen durch die regelmäßige Veröffentlichung der CEN und CENELEC übertragenen Normungsprogramme sowie der Titel der verabschiedeten Normen im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften fördern. Mit dem gleichen Ziel wird sich die Kommission, immer wenn dies möglich erscheint, bei ihren öffentlichen Ausschreibungen auf geeignete Europäische Normen beziehen". Dieser Äußerung läßt sich entnehmen, daß sowohl nach den Vorstellungen der EG-Kommission als auch denen der Normungsverbände die Notwendigkeit einer Veröffentlichung der Normenfundstellen im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften ausschließlich ein Mittel zur Sicherstellung einer möglichst flächendeckenden Verbreitung der bezogenen Normen in sämtlichen EG-Mitgliedstaaten darstellt 256 . Eine solche Vorgehensweise ist auch nicht weiter verwunderlich, da die Verweisungstechnik nur dann ihre volle Wirkung entfalten kann, wenn möglichst viele Unternehmen ihre Produktion normgemäß ausrichten. Dies wird jedoch nur dann der Fall sein, wenn die betroffenen Unternehmen ebenso wie die Mitgliedstaaten zuverlässig Kenntnis davon erhalten, welche technischen Normen jeweils in Bezug genommen worden sind und damit die beschriebenen Rechtswirkungen als Tatbestandsregeln den Mitgliedstaaten gegenüber entfalten.

cc) Ergebnis Im Ergebnis läßt sich daher festhalten, daß die Vornahme der Veröffentlichung der Normenfundstellen durch die Kommission kein umfassendes Kontrollinstrument darstellt. In der Regel hat die Kommission die Fundstellen der in ihrem Auftrag erarbeiteten Normen zu veröffentlichen, ohne daß ihr nach der „Modellrichtlinie" die Befugnis eingeräumt wäre, sich vor der Veröffentlichung inhaltlich mit den Normeninhalten auseinanderzusetzen und eine förmliche Entschließung über ihre Richtlinienkonformität zu treffen. Eine Beteiligung des

255 256

Abgedruckt in DIN-Mitt. Bd. 64 (1985), S. 78 f.

Bezeichnenderweise wählt die Kommission denn auch als Titel für die Veröffentlichung der Normenfundstellen den Begriff „Mitteilung". Vgl. nur Mitteilung der Kommission im Rahmen der Durchführung der Richtlinie 88 / 378 / EWG des Rates v. 03.05.1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Sicherheit von Spielzeug, ABl. EG Nr. C 155 v. 23.06. 1988, S. 2.

212

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

„Ständigen Ausschusses Normen und technische Vorschriften" sieht die „Modellrichtlinie" grundsätzlich nicht vor. Dieses bedeutet, daß mit der Veröffentlichung der Fundstellen eine gleichzeitige inhaltliche Rezeption der Normen bzw. ihrer Inhalte nicht verbunden ist. Aus diesem Grund ist die Veröffentlichung als solche auch kein Instrument, durch dessen Anwendung die Kommission sich die Normeninhalte zu eigen macht. Die Notwendigkeit einer Publikation vermag insoweit ein eigenverantwortliches Handel der Normungsverbände ebenfalls nicht auszuschließen.

d) Verwaltung

der Normenliste und Schutzklauselverfahren

Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß eine Inhaltskontrolle der Normen in zwei Fällen erfolgen kann. Im Rahmen der Verwaltung der Normenliste besteht für die Kommission unter Beteiligung beziehungsweise nach Anhörung des „Ständigen Ausschusses Normen und technische Vorschriften" die Möglichkeit, über die Fehlerhaftigkeit bzw. Anwendbarkeit einer harmonisierten Norm oder eines solchen Normenentwurfs zu entscheiden, wenn ein Mitgliedstaat oder die Kommission selbst die Auffassung vertritt, daß Normen oder Normenentwürfe nicht den in der Richtlinie festgelegten Sicherheitsanforderungen entsprechen 257. Ein ähnliches Verfahren wird dann durchgeführt, wenn ein Mitgliedstaat von der in Abschnitt V E Ziffer 1 der „ M o d e l l r i c h t l i n i e " vorgesehenen Schutzklausel mit der Begründung Gebrauch macht, daß ein normgemäßes Erzeugnis die Sicherheit von Personen, Haustieren oder Gütern zu gefährden droht und nach Ansicht dieses Mitgliedstaates die tatsächlich eingetretene Gefahrdung auf einen Mangel der harmonisierten Norm zurückzuführen ist 2 5 8 . In beiden Fällen räumt die „Modellrichtlinie" der EG-Kommission die Möglichkeit ein, abschließend eine für die Mitgliedstaaten verbindliche Entscheidung über die Fehlerhaftigkeit der Norm bzw. des Normenentwurfs zu treffen. Daher stellt sich die Frage, ob aufgrund der Existenz beider Verfahrensarten ein eigenverantwortliches Handeln der Normungsverbände nicht verneint werden kann.

257

Vgl. hierzu Abschnitt V I Ziffer 1 der „Modellrichtlinie".

258

Vgl. Abschnitt V I I Ziffer 1 lit. c in Verbindung mit Abschnitt V I I Ziffer 2 der „Modellricht-

linie".

§ 4 Die Verweisungstechnik der „Neuen Konzeption"

213

Zur Beantwortung dieser Frage ist es erforderlich, zwischen zwei verschiedenen Fallgruppen zu unterscheiden. Während es im Rahmen des Schutzklauselverfahrens immer nur um eine Überprüfung solcher Normen gehen kann, deren Fundstellen bereits veröffentlicht worden sind, ist im Rahmen der Verwaltung der Normenliste eine Inhaltskontrolle sowohl von Normen denkbar, deren Fundstellen bereits veröffentlicht worden sind, als auch solcher, bei denen dieses noch nicht geschehen ist 2 5 9 .

aa) Einleitung des Verfahrens vor Veröffentlichung der Normenfundstellen Die der EG-Kommission nach der „Modellrichtlinie" zugewiesene Kompetenz, in eigener Zuständigkeit bestimmte Europäische Normen noch vor ihrer Veröffentlichung auf ihre Vereinbarkeit mit den in den jeweiligen Richtlinien generalklauselartig umschriebenen Sicherheitsanforderungen überprüfen zu können, kann im Ergebnis nicht als ausreichend angesehen werden, ein eigenverantwortliches Handeln der Normungsverbände zu verneinen. Insoweit ist zu berücksichtigen, daß die Aufstellung einer jeden Norm, auf die in den Richtlinien schließlich verwiesen wird, materiell gegenüber den Mitgliedstaaten als ein Akt der Rechtsetzung zu qualifizieren ist 2 6 0 . Die Einleitung eines Inhaltskontrollverfahrens ist dagegen nur auf einige wenige, eng begrenzte Ausnahmefalle beschränkt. Nur wenn seitens der Mitgliedstaaten oder seitens der Kommission tatsächlich begründete Zweifel an der Richtlinienkonformität der von den Normungsverbänden erarbeiteten Normen oder Normenentwürfe bestehen und auch substantiiert geäußert werden, bedürfen die Normen vor Freisetzung der ihnen zufallenden Rechtswirkungen einer Bestätigung durch die EG-Kommission; dieses bedeutet, daß auch nur in diesen wenigen Ausnahmefällen eine umfassende Inhaltskontrolle in einem als solchen formalisierten Verfahren statt-

259 Vgl. Abschnitt V I Ziffer 1 Unterabsatz 1 der „Modellrichtlinie". Obwohl die „Modellrichtlinie" diesen Fall nicht ausdrücklich erwähnt, muß im Rahmen der Verwaltung der Normenliste bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen auch die Inhaltskontrolle einer bereits von den Normungsverbänden beschlossenen, aber noch nicht im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften mit ihrer Fundstelle veröffentlichten Norm möglich und zulässig sein. Es wäre als unnötiger Formalismus und im Ergebnis als widersinnig zu bezeichnen, wenn die Kommission gehalten wäre, die Fundstelle einer harmonisierten Norm, deren Anwendbarkeit von einem Mitgliedstaat oder aber gegebenenfalls von der Kommission selbst bezweifelt wird, zunächst zu veröffentlichen, nur um direkt im Anschluß an die Veröffentlichung ein Verfahren einleiten zu dürfen, an dessen Ende unter Umständen bei nachgewiesener Fehlerhaftigkeit die Streichung der Norm aus der Liste der Veröffentlichungen veranlaßt wird.

260

Vgl. hierzu oben S. 195 ff.

214

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

findet beziehungsweise überhaupt stattfinden darf. Selbst wenn man daher davon ausginge, daß sich die Kommission, soweit sie eine Norm inhaltlich aufgrund der Ergebnisse des Prüfungsverfahren bestätigt, durch die Bestätigung den Inhalt der betreffenden Norm zu eigen macht, so könnte ein eigenverantwortliches Handeln der Normungsorganisationen im Bereich der Rechtsetzung allenfalls bezüglich eben der ausdrücklich bestätigten Normen abgelehnt werden 261 . Nur in einem solchen Fall würde die Kommission mit gegenüber den Mitgliedstaaten verbindlicher Wirkung feststellen, daß die Norm die Grundsatzanforderungen der Richtlinie inhaltlich zutreffend konkretisiert. Die Veröffentlichung der Normenfundstelle im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften würde mithin nicht deshalb veranlaßt, weil die europäischen Normungsverbände den Normeninhalt als zutreffende Konkretisierung der in der jeweiligen Richtlinie sowie in dem betreffenden Normungsmandat enthaltenen Vorgaben ausgeben, sondern weil die Kommission selbst nach Anhörung des „Ständigen Ausschusses Normen und technische Vorschriften" zu dem Ergebnis gelangt ist, daß diese Norm den Richtlinien- und Mandatsvorgaben tatsächlich entspricht 262 . Da in der Regel aber die Durchführung eines solchen Kontrollverfahrens ohnehin nicht vorgesehen ist, kann die abstrakte Möglichkeit, daß im Ausnahmefall eine Norm vor Veröffentlichung ihrer Fundstelle vollinhaltlich auf ihre Fehlerhaftigkeit hin überprüft wird, nicht die Schlußfolgerung rechtfertigen, daß sich die EG-Kommission die Normeninhalte in jedem Fall zu eigen macht. Die Nichteinleitung bzw. -durchführung eines Kontrollverfahrens kann allenfalls als Indiz dafür herangezogen werden, daß weder die Kommission noch ein Mitgliedstaat ausdrücklich Zweifel an der Vereinbarkeit einer Norm oder eines Normenentwurfs mit den inhaltlichen Vorgaben der betreffenden Richtlinie ausdrücklich geäußert hat. Für die Delegationsproblematik kann dieser Umstand jedoch insofern keine Rolle spielen, als es bei dieser ausschließlich um die

261 Im umgekehrten Fall, daß die Kommission eine Norm bzw. einen Normenentwurf gemessen an der jeweiligen Harmonisierungsrichtlinie für fehlerhaft erklärt, könnte dies auf keinen Fall gelten, da die Kommission die Veröffentlichung der betreffenden Norm mit ihrem gegenwärtigen Inhalt gerade ablehnt. 262 Selbst nach Durchführung eines entsprechenden Kontrollverfahrens wären aber nicht sämdiche Zweifel im Hinblick auf die Delegationsproblematik ausgeräumt, da die Aufstellung von Normen immer zugleich auch die Ausübung eines wirtschaftspolitischen Ermessensspielraumes voraussetzt (vgl. oben S. 197 ff.). Eine Überprüfung eben dieser Ermessensentscheidung auf ihre Vertretbarkeit ist der EG-Kommission aber gerade nicht möglich; die Prüfungskompetenz der Kommission ist insoweit auf eine reine Rechtmäßigkeitskontrolle beschränkt, also auf die Frage, ob die Norm fehlerhaft ist oder nicht.

§ 4 Die Verweisungstechnik der Neuen Konzeption"

215

Frage geht, wem die Verantwortung für den Erlaß und die inhaltliche Ausgestaltung eines Rechtsetzungsaktes zuzurechnen ist. Soweit eine förmliche Bestätigung der zu beziehenden Normen vor der Veröffentlichung ihrer Fundstellen nicht erfolgt, können dies aber nur die Normungsverbände sein.

bb) Einleitung der Verfahren nach Veröffentlichung der Normenfundstellen Die sowohl im Rahmen der Verwaltung der Normenliste als auch im Rahmen des Schutzklauselverfahrens mögliche Inhaltskontrolle solcher Normen, deren Fundstellen bereits veröffentlicht worden sind, ist — für sich betrachtet — ebenfalls nicht geeignet, die Delegationsproblematik zu entschärfen. Insoweit ist zu berücksichtigen, daß in beiden Verfahren der Kommission immer nur eine nachträgliche Kontrolle der Normeninhalte möglicht ist. Selbst wenn also die Kommission nach Durchführung eines der beiden Verfahren eine Norm als fehlerfrei bestätigt und man davon ausgeht, daß die Kommission den Normeninhalt durch diese Bestätigung in ihren Willen aufnimmt, so könnte diese Bestätigung ausschließlich für die Zukunft wirken. Dieses würde jedoch nichts daran ändern, daß die Norm bereits seit dem Zeitpunkt der Veröffentlichung ihrer Fundstelle im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften den Mitgliedstaaten gegenüber Rechtswirkungen entfaltet hat, ohne daß sich die Kommission zuvor den Normeninhalt zu eigen gemacht hätte 263 . Im Ergebnis bleibt daher festzuhalten, daß die abstrakte Möglichkeit, daß Normen oder Normenentwürfe von der Kommission im Rahmen der Verwaltung der Normenliste oder des Schutzklauselverfahrens auf ihre Richtlinienkonformität hin überprüft und durch die Kommission bestätigt werden können, ein eigenverantwortliches Tätigwerden der Normungsverbände und damit das Vorliegen einer faktischen Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen nicht ausschliessen kann.

4. Abschließende Stellungnahme Die bisherige Untersuchung hat gezeigt, daß die einzelnen Kontroll- und Lenkungsinstrumente, die der EG-Kommission im Hinblick auf die Normungs-

263 Im übrigen sei auch an dieser Stelle nochmals darauf hingewiesen, daß die nachträgliche Inhaltskontrolle nur in Ausnahmefällen erfolgen kann.

216

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

arbeit von CEN und CENELEC eingeräumt worden sind, für sich betrachtet die Delegationsproblematik nicht erledigen können. Aber auch in ihrer Gesamtheit vermögen sie nicht die Schlußfolgerung zu rechtfertigen, daß sich die Kommission den Inhalt der harmonisierten Normen, bevor diese den Mitgliedstaaten gegenüber Rechtswirkungen entfalten können, zu eigen macht. Zwar ist zuzugeben, daß durch die „Modellrichtlinie" der Kommission nicht unerhebliche Einflußnahmemöglichkeiten zur Verfügung gestellt worden sind, die von der Erteilung der Normungsmandate über eine unmittelbare Beteiligung an der Normungsarbeit bis zur gegebenenfalls vollinhaltlichen Überprüfung der Normen auf ihre Fehlerhaftigkeit hin reichen. Sämtliche Kontrollmechanismen sind aber allein darauf gerichtet sicherzustellen, daß die Normungsverbände die in den Richtlinien vorgegebenen grundlegenden Sicherheitsmaßstäbe zutreffend konkretisieren. Dagegen ermöglichen sie es der Kommission nicht, durch einen formellen Willensakt den Normeninhalt zu rezipieren und ihn sich so zu eigen zu machen. Dieses Ergebnis kann letztlich auch nicht überraschen, da der „Modellrichtlinie" das Prinzip der Verweisung auf von privaten Normungsinstitutionen eigenverantwortlich erarbeiteten Normen und gerade nicht ein Prinzip zugrundeliegt, das die Verweisung auf von der EG-Kommission in einem förmlichen Verfahren bestätigte oder angenommene Normen vorsieht. Im Hinblick auf die Ausgangsfrage läßt sich daher abschließend feststellen, daß sich die Kommission den Inhalt der zu beziehenden Normen jedenfalls im Regelfall nicht zu eigen macht und aufgrund mangelnder Kompetenzen auch nicht zu eigen machen kann. Die Einbeziehung privater Normungsverbände in den Rechtsangleichungsprozeß der Gemeinschaft beziehungsweise der Gemeinschaftsorgane beinhaltet daher in der Form, wie sie in der „Neuen Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und Normung" vorgesehen ist und mittlerweile tatsächlich praktiziert wird, materiell eine faktische oder versteckte Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen 264.

264 Vgl. auch Vieweg, Technische Normen, S. 57 (74). Vieweg stellt fest, daß, soweit man eine Delegation von Hoheitsbefugnissen auf CEN bzw. CENELEC für unzulässig hält, dieses zur Konsequenz haben müsse, daß die Rechtsanwender — Verwaltung und Rechtsprechung — nicht gezwungen werden dürften, die dynamisch in Bezug genommenen technischen Normen auch wirklich zu übernehmen. In Fn. 78 weist Vieweg dann darauf hin, daß der Ansatz der „Neuen Konzeption" jedenfalls eine Verpflichtung der Verwaltung beinhalte, die Übereinstimmung der Normen mit den Richtlinienvorgaben anzuerkennen.

§ 4 Die Verweisungstechnik der Neuen Konzeption"

217

III. Vereinbarkeit einer „faktischen Delegation" von Rechtsetzungsbefugnissen auf private Verbände mit dem EWG-Vertrag Die Untersuchung der Vereinbarkeit einer „faktischen Delegation" von Rechtsetzungsbefugnissen auf privatrechtlich organisierte Verbände mit dem EWGVertrag setzt zunächst voraus, die Frage nach dem dieser Untersuchung zugrundezulegenden Prüfungsmaßstab zu klären. Im Ergebnis dürften dabei die folgenden Grundsätze zu beachten sein. Die Verweisungstechnik der „Neuen Konzeption" wirkt sich de facto wie eine „echte Delegation" von Rechtsetzungsbefugnissen aus. Eine solche „echte" oder ausdrücklich durch einen Rechtsetzungsakt eines Gemeinschaftsorgans angeordnete Delegation kann nach der Struktur des EWG-Vertrages nur innerhalb bestimmter Grenzen vertragskonform sein. Diese Grenzen dürfen und können vom europäischen Gesetzgeber nicht dadurch unterlaufen werden, daß er eine Delegation zwar nicht ausdrücklich anordnet, im Ergebnis aber über eine entsprechende Ausgestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen einen Zustand schafft, der dem ein solchen „echten" Delegation entspricht. Sofern eine „faktische Delegation" 265 daher überhaupt mit dem EWG-Vertrag zu vereinbaren ist, kann eine solche Delegation allenfalls in dem Rahmen beziehungsweise in dem Umfang zulässig sein, in dem auch eine „echte Delegation" als unbedenklich zu bezeichnen wäre. Für den oben angesprochenen Prüfungsmaßstab folgt hieraus, daß auch bei einem Vorliegen einer faktischen Delegation diejenigen Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt sein müssen, von deren Vorliegen nach den Vorschriften des EWG-Vertrages die Vertragskonformität einer „echten Delegation" von Hoheitsbefugnissen abhängt.

1. Art. 100 a EWGV als vertragliche Rechtsgrundlage für die Anordnung einer Delegation? Sämtliche seit dem Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte auf der Grundlage der „Neuen Konzeption" ergangenen beziehungsweise zukünftig noch ergehenden Harmonisierungsrichtlinien finden ihre Rechtsgrundlage ausschließlich in Art. 100 a EWGV 2 6 6 . Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV be-

265

Vgl. zum Begriff die Darstellung S. 188 ff.

266

Vgl. die Ausführungen oben S. 124.

218

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

stimmt, daß der Rat die Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten erläßt, die die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben. Ausdrücklich enthält diese Vorschrift keine Befugniszuweisung des Inhalts an den Rat, durch einen oder in einem Rechtsakt außerordentliche Entscheidungszuständigkeiten zugunsten vertragsfremder Einrichtungen begründen zu dürfen 267 . Wie die Art. 145 Unterabsatz 3, 155 Unterabsatz 4 EWGV belegen, liegt eine ausdrückliche vertragliche Handlungsermächtigung zur Delegation von Hoheitsbefugnissen immer nur dann vor, wenn sich unmittelbar aus dem Wortlaut einer Vertragsvorschrift bestimmte Handlungsbefugnisse eines Gemeinschaftsorgans im organisatorischinstitutionellen Bereich ergeben 268. Ebenso wenig läßt sich dem Art. 100 a EWGV eine solche Befugnis im Wege der Auslegung entnehmen. Zwar ist diese Möglichkeit bezüglich bestimmter Vertragsvorschriften nicht von vornherein ausgeschlossen. Dies bestätigt nicht zuletzt die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes in den „MeroniFällen" zu Art. 53 lit. b EGKSV 2 6 9 . So wird denn auch in der Literatur vereinzelt darauf hingewiesen, daß einzelne vertragliche Handlungsermächtigungen verschiedentlich bereits vom Wortlaut her so weit gefaßt seien, daß Umfang und Begrenzung der durch sie den Gemeinschaftsorganen eingeräumten Befugnisse nicht ohne weiteres mehr erkennbar seien. Genannt werden dabei in diesem Zusammenhang die Artikel 49 lit a („... trifft der Rat... alle erforderlichen Maßnahmen, um die Freizügigkeit der Arbeitnehmer im Sinne des Artikels 48 fortschreitend herzustellen, ..."), 75 Absatz 1 lit. c („Zur Durchführung des Artikels 74 wird der Rat... alle sonstigen zweckdienlichen Maßnahmen erlassen."), 87 Absatz 1 Unterabsatz 1 („... erläßt der Rat ... alle zweckdienlichen Verordnungen oder Richtlinien zur Verwirklichung der in den Artikeln 85 und 86 niedergelegten Grundsätze.") oder Artikel 103 Absatz 2 EWGV („... kann der Rat ... über die der Lage entsprechenden Maßnahmen entscheiden."). Bei

267

Auf den vor dem Inkrafttreten für die Verwirklichung der „Neuen Konzeption" maßgeblichen Art. 100 EWGV wird im folgenden nicht weiter eingegangen. Die Ausführungen zur Rechtslage nach Art. 100 a EWGV gelten jedoch in entsprechender Anwendung auch für die Regelung des Art. 100 EWGV. 268 Vgl. auch Priebe, S. 80. Im übrigen findet sich in den Gemeinschaftsverträgen keine weitere Vertragsvorschrift, die expressis verbis zur Übertragung von Entscheidungsbefugnissen auf vertragsfremde Einrichtungen generell oder speziell für einen bestimmten Bereich ermächtigt. Vgl. auch Generalanwalt Roemer, Schlußantrag in der RS. 9 / 56 und 10 / 56 v. 19.03.1958, Slg. S. 89 (115); Strohmaier, S. 167; Priebe, S. 81. 269

Vgl. EuGH, RS. 9 / 56 und 10 / 56, Meroni. / .Hohe Behörde, Urteile v. 13.06.1958, Slg. S. 11 (42 f.) und S. 57 (80). Zweifelnd dagegen Schindler, Delegation von Zuständigkeiten, S. 102.

§ 4 Die Verweisungstechnik der Neuen Konzeption"

219

derartigen Regelungen sei es jedenfalls theoretisch denkbar, auch institutionelle Maßnahmen wie die Beleihung vertragsfremder Einrichtungen mit in den Aufgabenbereich der Gemeinschaftsorgane fallenden Entscheidungsbefugnissen als vom Wortlaut dieser weitgefaßten Ermächtigungsgrundlagen gedeckt anzusehen, da es sich insoweit ebenfalls um „erforderliche, geeignete" oder „zweckdienliche" Maßnahmen handeln könne 270 . Selbst wenn man aber bestimmte vertragliche Ermächtigungsvorschriften nicht ausschließlich als materiell-rechtliche Regelungen ansähe und man aus diesen im Wege der Auslegung eine Befugnis des Rates zur Vornahme auch organisatorisch-institutioneller Veränderungen ableiten wollte 271 , so könnte eine solche Argumentation bereits deshalb nicht auf Art. 100 a EWGV übertragen werden, weil es sich bei dieser Vorschrift gerade nicht um eine derartig weitgefaßte und dementsprechend unbestimmte Ermächtigungsgrundlage handelt. Art. 100 a EWGV ist mithin eine reine Sachkompetenzvorschrift 272. Im übrigen sei ergänzend darauf hingewiesen, daß sich jede Auslegung der einzelnen Vertragsvorschriften zur Bestimmung ihrer sachlichen Reichweite an den vertraglichen Grundprinzipien zu orientieren hat 273 . Eine Übertragung von Entscheidungsbefugnissen auf vertragsfremde Einrichtungen führt auf Seiten der Gemeinschaftsorgane in dem betreffenden Bereich zu einem Verlust an Verantwortungszuständigkeit und ist aus diesem Grunde immer an dem in Art. 4 EWGV festgelegten Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zu messen. Art. 4 EWGV bestimmt aber, daß die Organe der Gemeinschaft [nur] nach Maßgabe der ihnen im EWG-Vertrag jeweils zugewiesenen Befugnisse handeln [dürfen]. Dieses institutionelle Gleichgewicht 274 ist nur dann gewahrt, wenn die der

270 Vgl. Rengeling, in: KSE Bd. 27, S. 23; Priebe, S. 81 f.; Bieber, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 4 Rn. 13. 271

Diese Möglichkeit wird im übrigen auch von den Autoren, die sich inhaltlich mit dieser Frage auseinandersetzen, im Ergebnis nahezu übereinstimmend abgelehnt. Vgl. Everting, in: FS. f. Ophüls, 5. 36; Strohmaier, S. 94 f.; Hilf, ZaöRV Bd. 36 (1976), S. 551 (559 f.); a.A. wohl Ehlermann, EuR 1973, S. 195 (206). 272

Auch wenn in der Literatur diese Frage nicht expressis verbis angesprochen und beantwortet wird, dürfte dieser Befund wohl unbestritten sein. 273 Zu den Grenzen der teleologischen Auslegung im Europarecht vgl. die Darstellung von Bleckmann, Europarecht, Rn. 259. Allgemein zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts vgl. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, § 5 Rn. 70 ff.; Nicolaysen, Europarecht I, S. 47 ff.; Oppermann, Europarecht, Rn. 248 ff. 274 Vgl. hierzu EuGH, RS. 9 / 56 und 10 / 56, Meroni. / .Hohe Behörde, Urteile v. 13.06.1958, Slg. S. 11 (44) und S. 53 (82); RS. 25 / 70, Einfiihr- und Vorratsstelle. / .Köster, Urt. v. 17.12. 1970, Slg. S. 1161 (1171); RS. 37 / 84 R, Beschluß v. 28.03.1984, Slg. S. 1149 (1156). Aus der Li-

2 2 0 3 . Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

Gemeinschaft zugewiesenen Befugnisse ausschließlich durch die in den vertraglichen Ermächtigungsgrundlagen für zuständig erklärten Hauptorgane wahrgenommen werden 275 . Zwar ist es grundsätzlich nicht ausgeschlossen, daß bestimmte Vertragsvorschriften von diesem Grundprinzip der begrenzten Einzelermächtigung abweichende Einzelregelungen selbst enthalten oder zumindest zu ihrem Erlaß ermächtigen. Allerdings kann vom Vorliegen solcher Fälle nur dann ausgegangen werden, wenn der diesen Bestimmungen zukommende Ausnahmecharakter bereits im Wortlaut hinreichend deutlich erkennbar ist. Beispiele hierfür enthalten die bereits erwähnten Art. 145 Unterabsatz 3, 155 Unterabsatz 4 EWGV 2 7 6 . Beide Regelungen ermächtigen den Rat ausdrücklich, bestimmte ihm im EWG-Vertrag zugewiesene Befugnisse abweichend von Art. 4 EWGV auf die Kommission zu deren eigenverantwortlichen Wahrnehmung zu übertragen. Wenn die Vertragsgeber jedoch bereits die Delegation von Hoheitsbefugnissen durch den Rat auf die Kommission, also einem Gemeinschaftsorgan im Sinne des Art. 4 EWGV, für ausdrücklich regelungsbedürftig hielten, so weist dieser Umstand darauf hin, daß sie eine solche klare Regelung erst recht in den Text des EWG-Vertrages aufgenommen hätten, wenn dem Rat abweichend vom Prinzip der begrenzten Einzelzuständigkeit durch Art. 100 a EWGV die Befugnis hätte eingeräumt werden sollen, hoheitliche Befugnisse auf dem Gebiet der Rechtsangleichung auf privatrechtlich organisierte, vertragsfremde Einrichtungen delegieren zu können. Da sich dem Wortlaut des Art. 100 a EWGV aber nichts entnehmen läßt, was auf die Zulässigkeit organisatorischinstitutioneller Maßnahmen hindeutet, kann diese Vorschrift nicht als geeignete Rechtsgrundlage für eine Beleihung vertragsfremder Rechtssubjekte mit Hoheitsbefugnissen angesehen werden.

teratur vgl. Priebe, S. 76 f.; Constantinesco, EuR 1981, S. 209 ff.; Hilf, Organisationsstruktur, S. 312 ff.; Schweitzer / Hummer, Europarecht, S. 246 ff.; Nicolaysen, Europarecht I, S. 99 und 182; Oppermann, Europarecht, Rn. 328 ff.; Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 4 Rn. 4 und 11. Neuerdings wird allerdings die Justitiabilität sowie der normative Charakter der Grundsätze des „Institutionellen Gleichgewichts" zunehmend in Frage gestellt. Vgl. Hummer, in: FS. f. Verdroß, S. 459 (483); ders., in: Grabitz, EWGV, vor Art. 155 Rn. 14; Kutscher, EuR 1981, S. 392 (410); Bieber, CMLR 1984, S. 505 (509); ders., in: G / Τ / E, EWGV 4. Auflage, Art. 4 Rn. 47; Läufer, S. 219 ff.; stattdessen wird insoweit vermehrt auf das Merkmal der „Organidentität" abgestellt. Vgl. nur Bieber, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 4 Rn. 41 f. 275 Die Konsequenzen, die aus dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung für die Zulässigkeit einer Delegation von Hoheitsbefugnissen gezogen werden, sind allerdings unterschiedlich. Vgl. hierzu unten S. 222 ff. 276

Weitere Beispiele nennt Priebe, S. 15 Fn. 22; vgl. im übrigen dens., S. 82.

§ 4 Die Verweisungstechnik der Neuen Konzeption"

221

Im Ergebnis bedeutet dies für den Bereich der,»Neuen Konzeption", daß es an einer ausdrücklichen vertraglichen Ermächtigungsgrundlage für eine Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen auf die europäischen Normungsverbände fehlt.

2. Erforderlichkeit einer vertraglichen Rechtsgrundlage für die Anordnung einer Delegation? Wenn Art. 100 a EWGV den Rat nicht zur Vornahme organisatorisch-institutioneller Maßnahmen ermächtigt, so stellt sich zwangsläufig die vom EuGH bislang noch nicht abschließend geklärte Frage 277 , ob eine Delegation von Hoheitsbefugnissen auch ohne eine ausdrückliche diesbezügliche vertragliche Handlungsermächtigung zulässig sein kann. Im Ergebnis könnte dieses nur dann der Fall sein, wenn der Rat auch außerhalb des Anwendungsbereiches der Art. 145 Unterabsatz 3, 155 Unterabsatz 4 EWGV aufgrund allgemeiner Vertragsprinzipien ermächtigt ist, hinsichtlich bestimmter hoheitlicher Aufgaben speziell im hier interessierenden Bereich der Rechtsangleichung eigene Wahrnehmungszuständigkeiten zugunsten vertragsfremder Einrichtungen oder Verbände zu begründen. Ob eine solche Möglichkeit nach der Struktur des EWG-Vertrages besteht, ist innerhalb der Literatur, insbesondere aufgrund der „Meroni-Rechtsprechung" des Europäischen Gerichtshofes 278, umstritten.

277 Das Urteil des EuGH in den verb. RS. 281, 283-285, 287 / 85, BR Deutschland, Niederlande, Frankreich, Großbritannien, Dänemark. / .Kommission, Urt. v. 09.07.1987, Slg. S. 3245 (3253 f. Rn. 28), bildet insoweit keine Ausnahme. Zwar hat der EuGH in diesem Urteil festgestellt, daß, wenn eine Vertragsbestimmung im EWG-Vertrag einem Gemeinschaftsorgan bestimmte Aufgaben zuweise [im zu entscheidenden Fall der Kommission], davon auszugehen sei, daß diese Vorschrift dann diesem Organ die zur Erfüllung dieser Aufgabe unerläßlichen Befugnisse verleihe, da anderenfalls der betreffenden Bestimmung jegliche praktische Wirksamkeit fehle. Zum einen fehlt es hinsichdich organisatorisch-institutioneller Maßnahmen jedoch an dem Nachweis, daß deren Vornahme tatsächlich „unerläßlich" ist. Zum anderen lassen die Entscheidungsgründe die Frage offen, ob sich die Aussagen des EuGH überhaupt auf organisatorisch-institutionelle Anordnungen beziehen lassen, da es in dem zu entscheidenden Fall ausschließlich um materielle Befugnisse der Kommission gegenüber den Mitgliedstaaten ging. 278

EuGH, RS. 9 / 56 und 10 / 56, Meroni. / .Hohe Behörde, Urteile v. 13.06.1958, Slg. S. 11 ff. und 57 ff.

222

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

a) 1. These: Vertragliche Handlungsermächtigung der „Meroni-Rechtsprechung" nicht erforderlich

in den Grenzen

In Teilen des Schrifttums wird die Auffassung vertreten, daß die vom Europäischen Gerichtshof in seinen „Meroni-Urteilen" hinsichtlich der Zulässigkeit einer Delegation von Hoheitsbefugnissen auf vertragsfremde Einrichtungen im Anwendungsbereich des EGKS-Vertrages getroffenen Feststellungen verallgemeinerungsfahig und damit auch auf den Bereich des EWG-Vertrages anwendbar seien. Das institutionelle Gleichgewicht sei auch bei einem Fehlen einer ausdrücklichen Handlungsermächtigung gewahrt, wenn und soweit bei einer Beleihung diejenigen Voraussetzungen beachtet würden, von deren Vorliegen der Gerichtshof in den angesprochenen Urteilen die Zulässigkeit einer Delegation von Hoheitsbefugnissen abhängig gemacht hatte 279 . Soweit diese These von der Verallgemeinerungsfahigeit der „Meroni-Rechtsprechung" überhaupt näher begründet wird, verweisen die Autoren darauf, daß die Tatsache, daß der Europäische Gerichtshof eine Delegation von Hoheitsbefugnissen prinzipiell nur für den Bereich des EGKS-Vertrages zugelassen habe, der Anwendbarkeit der vom Gerichtshof entwickelten Grundsätze im Recht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nicht entgegenstehe. Insoweit müsse man berücksichtigen, daß die Organverfassung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf dem Gebiet der Durchführung des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts nicht starr, sondern elastisch ausgeprägt sei. Im übrigen habe der Gerichtshof eine Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf vertragsfremde Einrichtungen grundsätzlich zugelassen, obwohl Art. 53 lit. b EGKSV von seinem Wortlaut her nicht ausdrücklich hierzu ermächtige. Wenn aber eine Delegation von Hoheitsbefugnissen bereits nach dem EGKS-Vertrag erlaubt sei, dann müsse gleiches erst recht auch für den EWG-Vertrag gelten, zumal dieser als Rahmenvertrag grundsätzlich flexibler als der EGKS-Vertrag auszulegen und das Bedürfnis zur Übertragung von Befugnissen aufgrund der ständigen Zunahme des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts erheblich größer sei 280 .

279 So im Ergebnis Ehlermann, EuR 1971, S. 250 (260 f.); ders., EuR 1973, S. 195 (199 f.); Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, § 20 Rn. 62; Strohmaier, S. 174 f.; Constantinesco, Recht der Europäischen Gemeinschaften, Rn. 316; Priebe, S. 118 ff.; Schmitt von Sydow, S. 209; Hilf, Organisationsstruktur, S. 166 f.; Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht Bd. II, S. 1167; Harnier, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 145 Rn. 35; Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 4 Rn. 12; Art. 235 Rn. 82; wohl auch Schweitzer / Hummer, Europarecht, S. 246 f. 280

Vgl. zu dieser Argumentation Ehlermann, EuR 1971, S. 250 (260 f.).

§ 4 Die Verweisungstechnik der Neuen Konzeption"

223

Ebenso wenig könne der Umstand, daß der EWG-Vertrag allein in Art. 155 Unterabsatz 4 EWGV (beziehungsweise nach dem Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte auch in Art. 145 Unterabsatz 3 EWGV) eine Delegationsvorschrift enthalte, die darüber hinaus eine Befugnisübertragung nur durch den Rat auf die EG-Kommission vorsehe, die Zulässigkeit anderweitiger Delegationen ausschließen. Beide Vorschriften seien in diesem Zusammenhang nur insofern von Bedeutung, als darauf geachtet werden müsse, daß die rechtliche Position der Kommission durch derartige Delegationen nicht ausgehöhlt werden dürfe. Aus diesem Grund müsse jeweils ein besonderer Grund vorliegen, warum anstelle einer Delegation von Ratsbefugnissen auf die Kommission eine Übertragung auf vertragsfremde Einrichtungen geboten sei 281 . Im Ergebnis ist nach der hier skizzierten Auffassung eine Delegation von Hoheitsbefugnissen auf vertragsfremde Einrichtungen durch den Rat auch ohne ausdrückliche Handlungsermächtigung mit dem EWG-Vertrag zu vereinbaren. Voraussetzung ist allerdings, daß bei einer solchen Beleihung die in den „Meroni-Urteilen" aufgestellten Grenzen nicht überschritten werden.

b) 2. These: Delegation nur aufgrund einer ausdrücklichen Handlungsermächtigung zulässig In anderen Teilen des Schrifttums wird dagegen die Auffassung vertreten, daß eine Delegation von Hoheitsbefugnissen im EWG-Recht nur dann zulässig sein könne, wenn eine Vertragsvorschrift eine solche Übertragung von Befugnissen ausdrücklich vorsehe 282. Zur Stützung dieser These wird darauf verwiesen, daß die Begründung außerordentlicher Wahrnehmungszuständigkeiten zugunsten vertragsfremder Einrichtungen beziehungsweise zugunsten anderer als den in

281

Vgl. Priebe, S. 120. Ursprünglich hatte Ehlermann, EuR 1971, S. 250 (260 f.) die These vertreten, daß eine Übertragung von Entscheidungszuständigkeiten nach dem EWG-Vertrag zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen sei, mit Rücksicht auf das institutionelle Gleichgewicht allerdings nicht vom Rat, sondern nur von der Kommission angeordnet werden dürfe, der Rat sich mithin also auf die an die Kommission gerichtete Ermächtigung zur Befugnisübertragung zu beschränken habe. Diese Einschränkung hat Ehlermann inzwischen jedoch ausdrücklich aufgegeben, vgl. EuR 1973, S. 195 (200 f.) 282 Vgl. Rabe, S. 110; Everling, in: FS. f. Ophüls, S. 33 (42), für die Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf den Gemeinschaftsorganen nachgeordnete Behörden; Däubler, DVB1 1966, S. 660 (663); Göttelmann, S. 87, 89; Röhling, S. 117; Schindler, Delegation von Zuständigkeiten, S. 71; Starkowski, S. 108; Rengeling, in: KSE Bd. 27, S. 30; Bleckmann, Europarecht, Rn. 562; Hummer, in: Grabitz, EWGV, Art. 155 Rn. 46.

224

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

den jeweiligen Vertragsvorschriften für zuständig erklärten Gemeinschaftsorganen immer zugleich auch eine Einschränkung oder Durchbrechung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung beinhalte. Dieses vertragliche Grundprinzip sei jedoch in Art. 4 Absatz 1 EWGV ausdrücklich vertraglich verankert worden, so daß von diesem in rechtlich zulässiger Weise nur unter der Voraussetzung abgewichen werden dürfe, daß eine mit Art. 4 EWGV ,/anggleiche" Bestimmung, also nur eine andere Vertragsvorschrift, eine entsprechende Abweichung ausnahmsweise gestatte. Eine solche Delegationsvorschrift finde sich im Bereich des EWG-Vertrages jedoch ausschließlich in Art. 155 Unterabsatz 4 EWGV (beziehungsweise nach dem Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte auch in Art. 145 Unterabsatz 3 EWGV) 2 8 3 . Eine Delegation außerhalb des Anwendungsbereiches des Art. 155 Unterabsatz 4 EWGV (beziehungsweise des Art. 145 Unterabsatz 3 EWGV) sei demnach in jedem Falle vertragswidrig. Im übrigen bezeichne Art. 155 Unterabsatz 4 EWGV als Delegatar ausschließlich die EG-Kommission. Aus diesem Grund könnten außerordentliche Entscheidungszuständigkeiten zum Erlaß von Rechtsetzungsmaßnahmen auch nur zugunsten der Kommission begründet werden 284 . An der Richtigkeit dieses Befundes soll nach Meinung der Vertreter dieser Auffassung auch die „Meroni-Rechtsprechung" des Europäischen Gerichtshofes nichts ändern können. Die vom Gerichtshof in seinen Urteilen aufgestellten Grundsätze für die Zulässigkeit einer Delegation von Hoheitsbefugnissen auf vertragsfremde Einrichtungen seien nämlich ausschließlich auf die Rechtslage nach dem EGKS-Vertrag zugeschnitten und dementsprechend nicht auf die Rechtslage nach dem EWG-Vertrag übertragbar. Dieses folge bereits daraus, daß der EuGH eine Delegation in dem zu entscheidenden Fall nur aufgrund einer konkreten Vertragsvorschrift prinzipiell als zulässig bezeichnet habe. So habe der Gerichtshof zunächst geprüft, ob es sich bei Art. 8 EGKSV um eine Delegatiohsvorschrift handelt, dieses allerdings im Ergebnis verneint. Erst im weiteren Verlauf der Untersuchung habe der Europäische Gerichtshof dann aufgrund einer Analyse des Art. 53 lit. b EGKSV festgestellt, daß diese Regelung es der Hohen Behörde gestatte, bestimmte hoheitliche Befugnisse auf mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattete, privatrechtlich organisierte Verbände

283 Zum Charakter des Art. 155 EWGV als Delegationsvorschrift vgl. die Ausführungen von Schindler, Delegation von Zuständigkeiten, S. 97 ff. Ihm zustimmend Bleckmann, Europarecht, Rn. 236. 284

Schindler, a.a.O., S. 102 f.; Bleckmann, a.a.O.

§ 4 Die Verweisungstechnik der ,»Neuen Konzeption"

225

zu übertragen 285. Aus dieser Vorgehensweise müsse geschlußfolgert werden, daß der Gerichtshof eine Delegation nur dann als zulässig ansehe, wenn sie auf einer diesbezüglichen vertraglichen Handlungsermächtigung beruht 286 .

c) Relevanz des Meinungsstreits für die vorliegende

Untersuchung

Fordert man für die Vornahme organisatorisch-institutioneller Maßnahmen ausnahmslos eine diesbezügliche Handlungsermächtigung, so wäre die Praxis des Normenverweises in der Form, wie sie durch die „Neue Konzeption" eingeführt worden ist, bereits deshalb vertragswidrig, weil Art. 100 a EWGV in seinem sachlichen Anwendungsbereich nur materielle Rechtsangleichungsmaßnahmen durch den Rat erlaubt. Legt man der Untersuchung dagegen die gegenteilige Auffassung zugrunde, so könnte die Vertragskonformität der hier vorliegenden faktischen Delegation erst dann abschließend beurteilt werden, wenn man im einzelnen prüfen würde, ob sich die Vorgehensweise der „Neuen Konzeption" noch in den Grenzen der vom Europäischen Gerichtshof aufgestellten Schranken bewegt. Hieraus läßt sich schliessen, daß die dargestellten Meinungsunterschiede für die hier anstehende Untersuchung gegebenenfalls von Bedeutung sein können.

aa) Bewertung der Thesen Betrachtet man die zur Stützung der jeweiligen Auffassung vorgetragenen Argumente einmal näher, so kann man feststellen, daß die Vertreter beider Ansichten sich hinsichtlich der Richtigkeit ihrer Thesen überwiegend auf die „Meroni-Rechtsprechung" des EuGH berufen. Tatsächlich dürfte die vorliegende Problematik mit den genannten Urteilen aber wohl kaum zu lösen sein, da die Auslegung der Urteile, je nach dem, welche Schwerpunkte man an welcher Stelle setzt, zu unterschiedlichen Ergebnissen führen kann.

285 Vgl. insoweit EuGH RS. 9 / 56 und 10 / 56, Meroni. / .Hohe Behörde, Urteile v. 13.06.1958, Slg. IV S. 11 (42 f.) und S. 57 (80). 286

So Schindler, Delegation von Zuständigkeiten, S. 102. Vgl. auch Däubler, DVB1 1966, S. 660 (663), der in dieser Entscheidung einen Spezialfall sieht und hieraus folgert, daß diese Entscheidung keinesfalls über das Recht der Montanunion hinaus auf das Recht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bezogen werden dürfe. 15 Breulmann

2 2 6 3 . Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

Dem Text des Art. 53 lit. b EGKSV zufolge kann die Hohe Behörde mit einstimmiger Zustimmung des Rates jede Art finanzieller Einrichtungen schaffen, die sie zur Durchführung der Aufgaben nach Art. 3 EGKSV für erforderlich und mit den Vorschriften des Vertrages, insbesondere mit Art. 65 EGKSV, für vereinbar hält. Generalanwalt Roemer hatte in seinem Schlußantrag zu den „Meroni-Fällen" festgestellt, daß der Text des Art. 53 EGKSV nicht zu dem Schluß zwinge, daß die Hohe Behörde bestimmte, ihr nach dem Vertrag zustehende Befugnisse auf vertragsfremde Einrichtungen übertragen darf, er andererseits aber eine entsprechende Delegation auch nicht zu verbieten scheine287. Wenn der Europäische Gerichtshof dagegen in seinem Urteil ausdrücklich hervorhebt, daß „das Recht der Hohen Behörde, finanzielle Einrichtungen der in Art. 53 des Vertrages vorgesehenen Art zu genehmigen oder zu schaffen, [gibt] ihr vor allem auch die Möglichkeit [gebe], solchen Organen unter ihrer Aufsicht und unter Bedingungen, die sie selbst festlegt, gewisse Befugnisse zu übertragen" 288, so weist diese Formulierung darauf hin, daß der Gerichtshof eine Delegation von Hoheitsbefugnissen nur aufgrund einer insoweit bestehenden vertraglichen Ermächtigungsgrundlage für zulässig hält. Die vom EuGH durchgeführte Untersuchung, ob Art. 8 EGKSV und insbesondere Art. 53 lit. b EGKSV taugliche Rechtsgrundlagen für die Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf vertragsfremde Einrichtungen sein können, wäre nämlich in der Tat überflüssig gewesen, wenn der Gerichtshof Delegationen zumindest in einem bestimmten Umfang und unter Einhaltung bestimmter Grenzen bereits aufgrund allgemeiner Erwägungen für mit dem EGKS-Vertrag vereinbar angesehen hätte. Andererseits sind die sich anschließenden Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs zum zulässigen Umfang einer Delegation beziehungsweise zur von ihm entwickelten Abgrenzung zwischen „genau umgrenzten Ausführungsbefugnissen" und „nach freiem Ermessen auszuübenden Befugnissen" derartig allgemein gehalten, daß sie einen Bezug zur Regelung des Art. 53 lit. b EGKSV nicht ohne weiteres erkennen lassen. Dieser Umstand könnte dementsprechend als Beleg für die Richtigkeit der These herangezogen werden, daß die Überlegungen des Gerichtshofs auch über die Vorschrift des Art. 53 lit. b EGKSV hinaus zumindest für den gesamten Bereich des EGKS-Vertrages Allgemeingültigkeit beanspruchen sollen. Für die Annahme, daß es sich bei den „Meroni-Urteilen" insoweit um richtungsweisende Grundsatzentscheidungen handelt, spricht

287

Schlußantrag in den RS. 9 / 56 und 10 / 56 v. 19.03.1958, Slg. IV, S. 89 (115).

288

EuGH, RS. 9 / 56, Meroni. / .Hohe Behörde, Urt. v. 13.06.1958, Slg. S. 11 (43).

§ 4 Die Verweisungstechnik der Neuen Konzeption"

227

im übrigen auch die Tatsache, daß der EuGH den zulässigen Umfang einer Beleihung vertragsfremder Institutionen mit Hoheitsbefugnissen abstrakt bis in sämtliche Einzelheiten hinein beschreibt, obwohl eine solch detaillierte Abgrenzung für die Entscheidung des konkreten Einzelfalles nicht erforderlich gewesen wäre. Letztlich kann die Auslegung der Urteile jedoch nicht zu einem klaren und überzeugenden Ergebnis führe. Die angesprochenen Interpretationsmöglichkeiten verdeutlichen vielmehr, daß sich der Streit über die Erforderlichkeit beziehungsweise Nichterforderlichkeit einer vertraglichen Handlungsermächtigung unter Berufung auf die „Meroni-Rechtsprechung" weder in die eine noch in die andere Richtung abschließend entscheiden läßt. Sehr viel aufschlußreicher dürfte dagegen eine in der bisherigen Diskussion vernachlässigte Überlegung sein. So wird nämlich auch von den Vertretern der Auffassung, die das institutionelle Gleichgewicht in der Gemeinschaft auch bei einer Verallgemeinerung der vom Europäischen Gerichtshof hinsichtlich der Zulässigkeit einer Delegation aufgestellten Grundsätze als noch gewahrt ansehen, im Ergebnis nicht bestritten, daß organisatorisch-institutionelle Maßnahmen das vorhandene Gleichgewicht grundsätzlich, wenn auch nur in geringem Umfang, berühren oder in irgendeiner Form verändern beziehungsweise einschränken. Hält man die „MeroniRechtsprechung" aber für verallgemeinerungsfähig, so bedeutet dies, daß die Gemeinschaftsorgane bestimmte Hoheitsbefugnisse auf der Grundlage einer jeden materiellen vertraglichen Ermächtigungsgrundlage anordnen könnten. Eine solche Auslegung mag in denjenigen Fällen hinnehmbar sein, in denen diese Vertragsvorschriften in jedem Fall eine einstimmige Beschlußfassung des Rates über die Annahme eines Rechtsaktes vorschreiben. Es bestehen jedoch grundlegende und im Ergebnis auch durchschlagende Bedenken, organisatorisch-institutionelle Veränderungen des Vertragsgefüges beinhaltende Rechtsangleichungsmaßnahmen des Rates, selbst in den engen Grenzen der „Meroni-Rechtsprechung", allgemein im Bereich des EWG-Vertrages für zulässig zu erklären, wenn einzelne Vertragsvorschriften, wie etwa Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV, dem Rat auch eine Beschlußfassung mit qualifizierter Mehrheit ermöglichen. Insoweit ist nämlich zu berücksichtigen, daß eine Delegation von Befugnissen auf Seiten des Deleganten in dem Umfang zu einem Verlust an Wahrnehmungszuständigkeiten führt, in dem derartige Zuständigkeiten zugunsten eines anderen Organs oder einer anderen Einrichtung begründet werden. Bezogen auf den Bereich des EWG-Vertrages bedeutet dies, daß der Rat durch die in der „Neuen Konzeption" grundsätzlich als Regelfall vorgesehenen und in

228

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

den bislang verabschiedeten Harmonisierungsrichtlinien auch tatsächlich praktizierten Art der Verweisung auf Europäische Normen ihm als Gemeinschaftsorgan den Mitgliedstaaten gegenüber durch Art. 100 a EWGV zugewiesene hoheitliche Befugnisse zugunsten der europäischen Normungsverbände CEN und CENELEC aufgibt. Verbindliche Rechtsetzungsakte können die Gemeinschaftsorgane den Mitgliedstaaten gegenüber überhaupt nur deshalb anordnen, weil sämtliche Mitgliedstaaten ihnen entsprechende Befugnisse durch ihre gemeinsame Zustimmung zu den Gründungs- beziehungsweise zu den Änderungsverträgen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung eben durch die Gemeinschaftsorgane selbst eingeräumt haben. Die Zustimmung der Mitgliedstaaten zu den Gemeinschaftsverträgen und die damit durch den Verzicht auf die Ausübung der eigenen nationalstaatlichen Hoheitsbefugnisse verbundene Unterwerfung unter eine andere Hoheitsgewalt kann inhaltlich allerdings nur so weit reichen, wie bereits im Zeitpunkt der Zustimmung zu den Gemeinschaftsverträgen für die Mitgliedstaaten sowohl Gegenstand als auch Tragweite der Rechtsetzungstätigkeit durch die Gemeinschaft bzw. durch die Gemeinschaftsorgane absehbar waren 289 . Für die Mitgliedstaaten vorhersehbar war es aufgrund der Regelungen der Art. 145 Unterabsatz 3, 155 Unterabsatz 4 EWGV, daß, soweit der Rat Durchführungsbefugnisse auf die Kommission delegiert, auch diese ihnen gegenüber würde verbindliche Rechtsetzungsakte auf Gebieten treffen können, auf denen die jeweilige vertragliche Ermächtigungsgrundlage eigentlich eine ausschließliche Entscheidungszuständigkeit des Rates begründet. Es war für die Mitgliedstaaten jedoch keineswegs erkennbar, daß der Rat auf der Grundlage materieller vertraglicher Handlungsgrundlagen mit qualifizierter Mehrheit auch über organisatorisch-institutionelle Veränderungen beschließen würde, die sowohl das horizontale Gleichgewicht unter den Gemeinschaftsorganen als auch das vertikale Gleichgewicht im Verhältnis der Gemeinschaft zu den einzelnen Mitgliedstaaten berühren. Dabei kann an dieser Stelle der Streit unentschieden bleiben, ob derartige Veränderungen in begrenztem Umfang unter dem Aspekt der Notwendigkeit einer einstimmigen Beschlußfassung in der Vertragsergänzungsklausel

289 So schon Everlingy in: FS. f. Ophüls, S. 42; vgl. auch die Formulierung von Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 235 Rn. 24. Grabitz fuhrt im Zusammenhang mit dem Demokratieprinzip als dem Ausdruck des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung aus: „Diese Zustimmung [der nationalen Parlamente bzw. der Völker der Mitgliedstaaten zu den Gemeinschaftsverträgen] ist aber nur insoweit real, als bei der Zustimmung zu den Gemeinschaftsveiträgen oder bei der Abstimmung über sie Gegenstand und Tragweite der Rechtsetzung durch die Gemeinschaftsorgane absehbar waren. Das ist aber nur deshalb der Fall, weil die Rechtsetzungskompetenzen der Gemeinschaft nach Gegenstand und Umfang begrenzt sind".

§ 4 Die Verweisungstechnik der Neuen Konzeption"

229

des Art. 235 EWGV eine hinreichende Rechtsgrundlage finden können 290 , oder ob es insoweit immer einer Vertragsänderung in dem nach Art. 236 EWGV vorgesehenen Verfahren bedarf 291 . In jedem Fall müssen aber Überlegungen zurückgewiesen werden, die es dem Rat dadurch, daß die vom Europäischen Gerichtshof auf dem Gebiet des EKGS-Vertrages hinsichtlich der Zulässigkeit von Delegationen aufgestellten Grundsätze für allgemein im Bereich des EWG-Vertrages für anwendbar erklärt werden, gestatten würden, organisatorisch-institutionelle Anordnungen in materielle Rechtsangleichungsmaßnahmen einzubinden und über die Annahme dieser Regelungen gegebenenfalls mit qualifizierter Mehrheit zu entscheiden.

bb) Zusammenfassung Zusammenfassend bleibt daher festzuhalten, daß die These von der Verallgemeinerungsfahigkeit der ,Meroni-Rechtsprechung" abzulehnen ist. Die von den Mitgliedstaaten dem EWG-Vertrag zugrundegelegten Prinzipien der begrenzten Einzelermächtigung und des institutionellen Gleichgewichts gebieten es vielmehr, die Zulässigkeit einer Delegation von Hoheitsbefugnissen auf vertragsfremde Einrichtungen unabhängig vom Umfang der zu verlagernden Entscheidungszuständigkeiten immer vom Vorliegen einer diesbezüglichen Ermächtigungsgrundlage abhängig zu machen.

290

In diesem Sinne Priebe, S. 105; Hilf,\ Organisationsstruktur, S. 161; Dewost, in: Bieber/ Ress, S. 321 (326 f.); Schwartz, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 235 Rn. 19 ff. und Rn. 172 ff.; Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 235 Rn. 80 ff.; a.A. dagegen Everting, in: FS. f. Ophüls, S. 42; ders., Art. 235 EWG-Vertrag; S. 2 (15); Ipsen, Verfassungsperspektiven, S. 15; Röhling, S. 138; Schindler, Delegation von Zuständigkeiten, S. 75 ff.; im Ergebnis wohl auch Bleckmann, Europarecht, Rn. 236, 491. 291

So Röhling, S. 118; Schindler, a.a.O. S. 224 f.; Starkowski, S. 108; Everting, Art. 235 EWGVertrag, S. 2 (15); Glaesner, EuR 1986, S. 119 (137); Steindorff, Grenzen der EG-Kompetenzen, S. 121. Für den Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik schreibt der durch die Einheitliche Europäische Akte eingefügte Art. 102 a Absatz 2 Satz 1 EWGV nunmehr ausdrücklich vor, daß, soweit die Entwicklung im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik institutionelle Veränderungen erforderlich macht, Art. 236 EWGV Anwendung findet. Der Rückgriff auf Art. 235 EWGV oder auf die Grundsätze der „Meroni-Rechtsprechung" ist durch diese Regelung nunmehr in jedem Fall positivrechtlich ausgeschlossen.

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3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

d) Ergebnis Eine Delegation von Hoheitsbefugnissen darf nach der Systematik des EWGVertrages nur auf der Grundlage einer ausdrücklich zur Vornahme organisatorisch-institutioneller Maßnahmen ermächtigenden Vertragsvorschrift angeordnet werden. Art. 100 a EWGV beinhaltet keine derartige Ermächtigungsgrundlage, sondern erlaubt dem Rat nur die Durchführung materieller Rechtsangleichungsmaßnahmen. Da sämtliche bislang in Anlehnung an die „Modellrichtlinie" ergangene Harmonisierungsrichtlinien ihre Rechtsgrundlage ausschließlich in Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV finden, ist die in der Verweisung auf Normen liegende faktische Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen bereits aufgrund des Fehlens einer entsprechenden vertraglichen Ermächtigungsgrundlage nicht mit dem EWG-Vertrag zu vereinbaren.

3. Exkurs: Faktische Delegation unter Zugrundelegung der „Meroni-Rechtsprechung" vertragskonform? Selbst wenn man die oben erörterte Streitfrage abweichend von der hier vertretenen Auffassung entscheiden würde, so dürfte sich an dem Ergebnis, der Vertragswidrigkeit einer faktischen Delegation von Hoheitsbefugnissen auf die europäischen Normungsverbände, nichts ändern. Auch nach der Auffassung derjenigen Autoren, die sich für die Anwendbarkeit der zu Art. 53 lit b EGKSV entwickelten Grundsätze auch auf den Bereich der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aussprechen, bilden die vom Gerichtshof hinsichtlich der Zulässigkeit einer Delegation aufgestellten Voraussetzungen die äußersten Grenzen, innerhalb derer das institutionelle Gleichgewicht auch bei einer Begründung außerordentlicher Entscheidungszuständigkeiten zugunsten vertragsfremder Einrichtungen als noch gewahrt angesehen werden kann 292 . Unter anderem darf eine Delegation daher immer nur aufgrund einer ausdrücklichen Rechts-

292 Vgl. Ehlermann., EuR 1971, S. 250 (260 f.); ders., EuR 1973, S. 195 (199 f.); Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, § 20 Rn. 62; Strohmaier, S. 174 f.; Constantinesco, Recht der Europäischen Gemeinschaften, Rn. 316; Priebe, S. 118 ff.; Hilf; Organisationsstruktur, S. 166 f.; Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. II., S. 1165 ff.; Schweitzer / Hummer, Europarecht, S. 246 f.; Harnier, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 145 Rn. 35; Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 4 Rn. 12 f., der darauf hinweist, daß Entscheidungen von Hilfsorganen, die über die in den „Meroni-Urteilen" genannten Grenzen hinausgehen, stets unverbindlichen Charakter haben müssen.

§ 4 Die Verweisungstechnik der Neuen Konzeption"

231

handlung des Deleganten erfolgen und schließlich ihrem Inhalt nach keine Ermessensbefugnisse umfassen 293.

a) Vertragswidrigkeit aufgrund des Fehlens einer ausdrücklichen Delegationsanordnung Übereinstimmend vertreten sowohl Rechtsprechung als auch Literatur die Ansicht, daß eine Delegation nach dem Gemeinschaftsrecht nur bei Vorliegen einer ausdrücklichen Delegationsanordnung des Deleganten zulässig sein kann 294 . Der Europäische Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang in einem der beiden „Meroni-Urteile" ausdrücklich festgestellt: „Eine Übertragung von hoheitlichen Befugnissen wird nicht vermutet; die übertragende Behörde muß vielmehr, wenn sie zur Übertragung der Befugnisse ermächtigt ist, eine Entscheidung erlassen, aus der diese Übertragung ausdrücklich hervorgeht"295. Diese vom EuGH gewählte Formulierung darf nicht dahingehend mißverstanden werden, daß eine Delegation begrifflich immer nur dann vorliegen kann,

293 Zu diesen und den weiteren Voraussetzungen vgl. EuGH, RS. 9 / 5 6 und 1 0 / 5 6 , Urteile v. 13.06.1958, Slg. IV, S. 11 (40 ff.) und S. 57 (79 ff.). Streitig ist in diesem Zusammenhang die vom EuGH aufgestellte These, daß das delegierende Gemeinschaftsorgan die Ausübung der delegierten Befugnisse davon abhängig zu machen hat, daß dabei durch den Delegatar diejenigen Bedingungen eingehalten werden, denen auch der Delegant selbst bei einer unmittelbaren Ausübung der fraglichen Befugnisse unterworfen wäre. Den Grund für diese Einschränkung gibt der Gerichtshof damit an, daß der Delegant ansonsten weiterreichende Befugnisse übertragen würde, als sie ihm nach dem EGKS-Vertrag selbst zustehen. Dem EuGH insoweit folgend: Schweitzer / Hummer, Europarecht, S. 246 f.; Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 4 Rn. 13. Vgl. auch Bleckmann, Europarecht, Rn. 231, der aber Ausnahmen insbesondere im Hinblick auf die Anhörungsrechte des Wirtschafts- und Sozialausschusses sowie des Europäischen Parlaments zuläßt, wenn und soweit die Kommission als Delegatar darauf beschränkt ist, Grundsatzregelungen des Rates zu konkretisieren. Nach anderer Ansicht kann der Delegatar die ihm zur eigenverantwortlichen Ausübung zugewiesenen Befugnisse unter Außerachtlassung der für den Deleganten bestimmten Verfahrensvorschriften und Anhörungsrechte aktivieren. Vgl. diesbezüglich die Darstellungen von Schindler, S. 181 f.; Schmitt von Sydow, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 155 Rn. 57; Hummer., in: Grabitz, EWGV, Art. 155 Rn. 49. Da es hier bereits an den im Text genannten unstreitigen Voraussetzungen einer zulässigen Delegation fehlt, mag die Streitfrage an dieser Stelle unentschieden bleiben. 294 Vgl. aus dem Schrifttum Göttelmann, S. 76; Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, § 20 Rn. 62; Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. II, S. 1165; Oppermann, Europarecht, Rn. 558; Bieber, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 4 Rn. 38; Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 4 Rn. 13. 295 EuGH, RS. 9 / 56, Meroni. / .Hohe Behörde, Urt. v. 13.06.1958, Slg. IV, S. 11 (42). Vgl. auch den Schlußantrag des Generalanwalts Roemer v. 19.03.1958, Slg. IV, S. 89 (115): „Diese Übertragung muß durch Gesetz angeordnet und ihrem Inhalt nach genau bestimmt sein".

2 3 2 3 . Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

wenn ein Gemeinschaftsorgan förmlich anordnet, daß bestimmte, bislang in seinen Zuständigkeitsbereich fallende Kompetenzen nunmehr abweichend von der vertraglichen Zuständigkeitsverteilung durch eine andere, vertragsfremde Einrichtung oder durch ein anderes Gemeinschaftsorgan wahrgenommen werden sollen. In diesem Sinne dürfte allerdings wohl die Stellungnahme des Ausschusses für Wirtschaft, Währung und Soziales zu verstehen sein, der die im Zusammenhang mit der „Niederspannungsrichtlinie" im Hinblick auf das Delegationsverbot bestehenden Bedenken mit der Behauptung zu entkräften versuchte, daß von einer „Weggabe von Gesetzgebungskompetenzen" bereits deshalb nicht die Rede sein könne, weil technische Regelwerke »Allgemeinverbindlichkeit und Gesetzeskraft" nur dann erhielten, „wenn ihnen diese der Gemeinschaftsgesetzgeber in dem dafür vorgesehenen Verfahren verleiht" 296 . Eine solche formalistische Interpretation des Delegationsverbotes ist indessen verfehlt. Praktisch müßte sie nämlich dazu führen, daß die vom EuGH aufgestellten Grenzen zulässiger Delegationen durch die Gemeinschaftsorgane bereits dadurch unterlaufen werden könnten, daß diese eine Delegation nicht explizit anordnen, de facto jedoch über eine entsprechende inhaltliche Ausgestaltung eines Rechtsaktes einen Zustand schaffen könnten, der dem einer „echten" Delegation in jeder Hinsicht entspricht. Wegen des Fehlens einer formellen Delegationsanordnung läge aber gar keine Delegation vor, so daß sich solche Rechtsakte auch nicht an den Grundsätzen der „Meroni-Rechtsprechung" messen lassen müßten. Eine derartige Auslegung ist mit dem Sinn und Zweck der vom EuGH eingeführten Beschränkungen in keiner Weise zu vereinbaren und daher rechtlich nicht haltbar 297 . Wenn der Europäische Gerichtshof daher ausführt, daß eine Delegation im Gemeinschaftsrecht nicht vermutet wird, so kann aus dieser Äußerung nur geschlußfolgert werden, daß eine Delegation in rechtlich zulässiger Weise nur aufgrund einer ausdrücklichen Anordnung durch den Deleganten erfolgen kann 298 . Weder in der „Modellrichtlinie" noch in den bislang auf ihrer Basis verabschiedeten Harmonisierungsrichtlinien ist eine solche Delegationsanordnung enthalten. Im Gegenteil weisen die verwendeten Formulierungen darauf hin, daß die in Bezug genommenen technischen Spezifikationen keinerlei obligatorischen

296 Vgl. den Bericht des Ausschusses über die technische Harmonisierung und Normung in der Europäischen Gemeinschaft, EG PE Dok. A-2 / 54 / 86 v. 06.06.1986, Ziffer 11. 297 Vgl. auch Joerges / Falke / Micklitz / Brüggemeier, S. 381 Fn. 290, die den Einwand des Ausschusses als „ebenso widersprüchlich" wie „rechtlich unhaltbar" bezeichnen. 298 Zur Rechtsnatur einer solchen Delegationsanordnung vgl. die Ausführungen von Schindler, Delegation von Zuständigkeiten, S. 111 ff., insbesondere S. 138 ff.

§ 4 Die Verweisungstechnik der „Neuen Konzeption"

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Charakter erhalten, sondern „freiwillige Normen" bleiben 299 . Hierdurch wird der Eindruck vermittelt, daß die Verweisung auf Normen nach der „Neuen Konzeption" gerade keine Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf die europäischen Normungsverbände beinhaltet, die Delegationsproblematik mithin also gar nicht berührt ist. Daß diese Formulierung insofern mißverständlich ist, als sie die den bezogenen harmonisierten Normen durch die Richtlinien zugewiesenen Rechtswirkungen nur den Herstellern, nicht aber den Mitgliedstaaten als den Adressaten der Richtlinien gegenüber inhaltlich zutreffend beschreibt, ist bereits eingehend belegt worden 300 und bedarf daher an dieser Stelle keiner weiteren Begründung. Im Ergebnis muß daher auch bei einer Verallgemeinerung der „Meroni-Rechtsprechung" das in der „Neuen Konzeption" vorgesehene Rechtsangleichungskonzept bereits deshalb als vertragswidrig bezeichnet werden, weil es inhaltlich eine faktische Beleihung der Normungsverbände mit Hoheitsbefugnissen enthält, eine diesbezügliche formelle Delegationsanordnung aber fehlt. Besteht danach das entscheidende Abgrenzungsmerkmal versteckter Delegationen in dem Fehlen einer solchen Delegationsanordnung, obwohl materiell einem anderen als dem in der jeweiligen vertraglichen Ermächtigungsgrundlage für zuständig erklärten Gemeinschaftsorgan bzw. einer vertragsfremden Einrichtung hoheitliche Befugnisse zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung zugewiesen werden, dann ist diese Form einer Delegation im Gemeinschaftsrecht niemals zulässig.

299

Vgl. „Leitlinien einer neuen Konzeption für die technische Harmonisierung und Normung", Anhang I I der Entschließung des Rates v. 07.05.1985 über eine neue Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und Normung, ABl. EG Nr. C 136 v. 04.06.1985, S. 1 (3). Bezüglich der einzelnen Harmonisierungsrichtlinien vgl. nur die Präambeln der Rl. 87 / 404 / EWG des Rates v. 25.06.1987 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für einfache Druckbehälter, ABl. EG Nr. L 220 v. 08.08.1987, S. 48 [„Diese auf europäischer Ebene harmonisierten Normen werden von privaten Stellen entwickelt und müssen ihren Charakter als unverbindliche Formulierungen beibehalten".]; Rl. 90 / 396 / EWG des Rates v. 29.06.1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für Gasverbrauchseinrichtungen, ABl. EG Nr. L 196 v. 26.07.1990, S. 15 [„Diese auf europäischer Ebene harmonisierten Normen werden von privatrechtlichen Institutionen entwickelt und müssen unverbindliche Bestimmungen bleiben"!. 300

Vgl. oben S. 156 ff.

234

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

b) Vertragswidrigkeit

aufgrund des Umfangs der übertragenen Befugnisse

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist eine Delegation von Hoheitsbefugnissen nur dann vertragskonform, wenn es sich bei den übertragenen Befugnissen um eng begrenzte Ausführungsbefugnisse handelt. Darüber hinaus muß deren Ausübung durch die Delegatare einer strengen Kontrolle durch den Deleganten im Hinblick auf von letzterem festzulegende objektive Tatbestandsmerkmale unterliegen 301. Dagegen führe eine Delegation von Ermessensbefugnissen, die nach der Art ihrer Ausübung dem Delegatar die Ausübung einer ausgesprochenen Wirtschaftspolitik ermöglichen, zu einer tatsächlichen Verlagerung der Verantwortung und sei aus diesem Grunde mit dem den organisatorischen Aufbau der Gemeinschaft kennzeichnenden institutionellen Gleichgewicht als einer grundlegenden Vertragsgarantie nicht zu vereinbaren 302. Innerhalb der Literatur wird, soweit überhaupt die These von der Verallgemeiiierungsfähigkeit der „Meroni-Rechtsprechung" vertreten wird, die vom Gerichtshof vorgenommene Differenzierung angenommen und eine Delegation von Ermessensbefugnissen ebenfalls für unzulässig erklärt 303 . Mißt man den Umfang der den europäischen Normungsverbänden durch die jeweiligen Harmonisierungsrichtlinien im Anwendungsbereich der „Neuen Konzeption" zugewiesenen Befugnisse an diesem vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Recht-

301 EuGH, RS. 9 / 56 und 10 / 56, Meroni. / .Hohe Behörde Urteile v. 13.06.1958, Slg. IV, S. 11 (43) und S. 57 (81); vgl. auch Gutachten des EuGH 1 / 76 v. 26.04.1976, Slg. S. 741 (760 Rn. 15 f.) — „Stillegungsfonds für die Binnenschiffahrt" —. In diesem Gutachten wirft der EuGH die Frage auf, ob es den Gemeinschaftsorganen freisteht, die ihnen durch die Verträge zugewiesenen Befugnisse ganz oder teilweise auf nicht zur Gemeinschaft gehörige Einrichtungen (im Streitfall auf eine von der Gemeinschaft getrennte öffentlich-rechtliche Anstalt) zu übertragen Der Gerichtshof läßt diese Frage ausdrücklich offen (vgl. Rn. 16), führt aber immerhin aus, daß das zu begutachtende Statut die Befugnisse, die den Organen des Fonds eingeräumt werden sollten, so deutlich und genau bestimme und umschreibe, daß es sich bei ihnen um bloße Durchführungsbefugnisse handele. 302 303

EuGH, RS. 9 / 56 und 10 / 56, a.a.O., S. 44 und S. 81 f.

Vgl. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, § 20 Rn. 62; Strohmaier, S. 175; Ehlermann, EuR 1973, S. 195 (199 f.); Constantinesco, Recht der Europäischen Gemeinschaften, Rn. 316; Hilf,\ Organisationsstruktur, S. 166 f.; Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. II, S. 1166; Schweitzer / Hummer, Europarecht, S. 246 f.; Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 4 Rn. 13. Vgl. aber auch Priebe, S. 112, 121, der den Ausführungen des EuGH in den „Meroni-Urteilen" die These entnehmen will, daß der EuGH in erster Linie nur eine Übertragung von politischen Befugnissen für unzulässig habe erklären wollen. Aus diesem Grund hält Priebe auch eine Delegation von Ermessensbefugnissen innerhalb bestimmter Grenzen noch für vertragsgemäß. Die Argumentation von Priebe dürfte im Ergebnis aber bereits deshalb abzulehnen sein, weil eine juristisch nachvollziehbare Abgrenzung der politischen von den unpolitischen Befugnissen wohl kaum möglich ist.

§ 4 Die Verweisungstechnik der Neuen Konzeption"

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mäßigkeitsmaßstab, so ist die vorliegende faktische Delegation auch deshalb vertragswidrig, weil es sich bei der Tätigkeit der Normungsverbände keineswegs nur um die Wahrnehmung „eng begrenzter Ausführungsbefugnisse" handelt. Es ist bereits in einem anderen Zusammenhang ausgeführt worden, daß die im Zuge der Normenaufstellung erfolgende Festlegung technischer Spezifikationen in Europäischen Normen eine Abwägung zwischen verschiedenen abwägungsrelevanten Faktoren voraussetzt und insoweit daher als Ermessensentscheidung zu charakterisieren ist 3 0 4 . An dieser Stelle sei daher nur noch ergänzend darauf hingewiesen, daß auch die in den Harmonisierungsrichtlinien enthaltenen sicherheitsspezifischen Vorgaben im Ergebnis die Notwendigkeit einer eigenverantwortlichen Ermessensbetätigung durch die Normungsverbände im Verfahren der Normenaufstellung nicht auszuschließen vermögen. Da die Aufgabe der Normungsorganisationen entsprechend der ihnen erteilten Mandate in der Konkretisierung derartiger Vorgaben besteht, könnten die gesetzlichen Bestimmungen zwar als objektive Tatbestandsmerkmale im Sinne der „Meroni-Rechtsprechung" bezeichnet werden. Die gesetzlich fixierten Minimalanforderungen reduzieren den den Normungsinstitutionen verbleibenden Entscheidungsspielraum in der Regel aber nicht auf den Charakter „genau umgrenzter Ausführungsbefugnisse". Als Beleg für die Richtigkeit dieser These können beispielsweise einige Regelungen der „Spielzeugrichtlinie" herangezogen werden 305 . So findet sich in ihrem Anhang Π unter anderem eine Bestimmung, wonach „zugängliche Ecken, vorstehende Stellen, Seile, Kabel und Befestigungen eines Spielzeugs [sind] so zu gestalten und herzustellen [sind], daß die Gefahr von Körperverletzungen bei ihrer Berührung so gering wie möglich ist" 3 0 6 . An anderer Stelle heißt es, daß das „Spielzeug [ist] so zu gestalten und herzustellen [ist], daß die durch die Bewegung bestimmter Teile gegebene Verletzungsgefahr so gering wie möglich ist" 3 0 7 . Derartige Beispiele verdeutlichen hinlänglich, daß den Normungsverbänden bei der Konkretisierung der Richtlinienbestim-

304

Vgl. oben S. 197 ff.

305

Rl. 88 / 378 / EWG des Rates v. 03.05.1988, ABl. EG Nr. L 187 v. 16.07.1988, S. 1 ff. Vgl. hierzu auch Vieweg, Technische Normen, S. 57 (76 f.). 306 307

Anhang I I Nr. 1 b) Rl. 88 / 378 / EWG, a.a.O., S. 8.

Vgl. Anhang I I Nr. 1 c) der Rl. 88 / 378 / EWG, a.a.O. Vgl. auch Nr. 1 f.: „Spielzeug, das zur Benutzung im flachen Wasser bestimmt oder dazu geeignet ist, ein Kind auf dem Wasser zu tragen oder darüber zu halten, ist so zu gestalten und herzustellen, daß die Gefahr eines Nachlassens des Spielzeugs und des dem Kind gebotenen Haltes bei der für das Spielzeug empfohlenen Benutzungsart so gering wie möglich ist".

2 3 6 3 . Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

mungen ein erheblicher Ermessensspielraum verbleibt. So enthalten die zitierten Bestimmungen hinsichtlich der Produktsicherheit von Spielzeug allenfalls Zielvorgaben, deren Einhaltung beziehungsweise Erforderlichkeit auch ohne gesetzliche Fixierung selbstverständlich sein sollte. Insoweit dürfte weder unter den Mitgliedstaaten noch innerhalb der Normungsverbände die Forderung streitig sein, daß Spielzeug von seiner Konstruktion her so zu beschaffen sein hat, daß beim Umgang mit ihm das potentielle Verletzungsrisiko für Kinder so gering wie möglich gehalten wird. Da es im technischen Sicherheitsrecht eine absolute Sicherheit nie geben wird, beginnt die eigentliche Problematik immer erst dann, wenn man im einzelnen zu ermitteln und festzulegen versucht, welche Restrisiken tatsächlich aus Gründen des Verkehrsinteresses und des technischen Fortschritts noch hinnehmbar sind. Die Lösung dieser Problematik ist nach der Ausgestaltung der „Neuen Konzeption" allein Sache der europäischen Normungsverbände, denn erst über die inhaltliche Ausgestaltung der harmonisierten Normen wird mit gegenüber den Mitgliedstaaten prinzipiell bindender Wirkung die reale Höhe des auf dem Gemeinsamen Markt einzuhaltenden Sicherheitsniveaus festgelegt. Hierbei haben die Normungsverbände die verschiedensten Faktoren zu gewichten und mit den in den betreffenden Harmonisierungsrichtlinien enthaltenen Zielvorgaben abzuwägen. Darüber hinaus dürfte es in vielen Fällen auch notwendig sein, sich unter den Mitgliederverbänden von CEN und CENELEC zunächst einmal auf bestimmte gemeinsame Grundannahmen zu einigen und sich so überhaupt erst eine einheitliche Abwägungsbasis zu verschaffen. Beispielsweise hängt das Verletzungsrisiko von Kindern beim Umgang mit Spielzeug nicht allein von der Produktbeschaffenheit, sondern auch und gerade davon ab, welches Gefahrenbewußtsein die Kinder entwickelt haben. Unterstellt man bei den Kindern bestimmter Altersgruppen das Vorliegen eines besonders hoch entwickelten Gefahrenbewußtseins, so schlägt eine entsprechende Weitung unmittelbar auf die Normung durch. Geht man nämlich insoweit davon aus, daß die Kinder das betreffende Spielzeug in der Regel nicht zweckentfremdet, sondern bestimmungsgemäß verwenden, so dürften bereits sehr viel niedrigere Sicherheitsanforderungen an die Produktbeschaffenheit zur Minimierung der Verletzungsgefahr und dadurch gleichzeitig zur Verwirklichung der in der „Spielzeugrichtlinie" genannten Zielvorgabe aus-

§ 4 Die Verweisungstechnik der Neuen Konzeption"

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reichen, als wenn man den notwendigen Grad der Produktsicherheit unter Zugrundelegung der gegenteiligen These zu bestimmen versucht 308 . Ein entsprechender, wenn auch von seinem Umfang her sehr viel niedrigerer Ermessensspielraum verbleibt den Normungsverbänden selbst dann, wenn einzelne Harmonisierungsrichtlinien die Höhe des hinnehmbaren Restrisikos bezüglich einzelner Produktmerkmale ausnahmsweise quantifizieren. Auch hier kann exemplarisch zur Verdeutlichung auf eine Regelung der „Spielzeugrichtlinie" zurückgegriffen werden. In dieser ist unter der Überschrift „chemische Merkmale" festgelegt, daß im Hinblick auf den Schutz der Gesundheit der Kinder täglich höchstens bestimmte Mengen im einzelnen aufgezählter chemischer Stoffe infolge des Umgangs mit Spielzeug biologisch verfügbar sein dürfen. Als Grenzwerte werden anschließend unter anderem für Arsen 0,1 mg, für Kadmium 0,6 mg oder für Blei 0,7 mg genannt309. Diese Grenzwerte sind nach dem Wortlaut der „Spielzeugrichtlinie" als Zielgrößen zu verstehen. Für die Normungsverbände bedeutet dies, daß es sich bei diesen Werten um Minimalanforderungen, keineswegs jedoch um absolute Grenzwerte handelt. Über die den Kindern beim Umgang mit Spielzeug letztendlich real zuzumutende Belastung mit chemischen Stoffen entscheiden mithin erst die Normungsverbände, wobei sich die entsprechenden technischen Spezifikationen allerdings im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben zu bewegen haben. Solange dieser Rahmen nicht überschritten wird, sind die Normungsverbände nicht gehindert, aufgrund einer eigenen Ermessensentscheidung über die Auswahl der in den Normen festzulegenden technischen Spezifikationen Abschläge an die Produktsicherheit gemessen an dem nach dem jeweiligen Stand der Technik Machbaren zugunsten etwa der Wirtschaftlichkeit der Produktion in Kauf zu nehmen. Im Ergebnis bestätigen diese Überlegungen, daß die den europäischen Normungsverbänden übertragene Aufgabe und Befugnis, richtlinienspezifische Vorgaben durch die Aufstellung Europäischer harmonisierter Normen zu konkretisieren, notwendigerweise eigene Ermessensentscheidungen der Verbände auf dem Gebiet der Produktsicherheit zur Folge hat. Auch unter dem Aspekt

308 Vgl. zu der ähnlich gelagerten Problematik, daß ein einheitliches Sicherheitsniveau in zwei Mitgliedstaaten der Gemeinschaft über die Verwirklichung unterschiedlicher politischer Sicherheitskonzepte erreicht werden kann, die Entscheidung des EuGH in der RS. 188 / 84, Kommission. / . Frankreich, Urt. v. 28.01.1986, Slg. S. 431 ff. - „Holzbearbeitungsmaschinenfair Vgl. hierzu auch die Darstellungen von Immenga, in: FS. f. Lukes, S. 393 (394 ff.); Mohr, Technische Normen, S. 138 ff.; Vieweg, Technische Normen, S. 57 (76 f.). 309

Vgl. Anhang I I Pkt. 3 Nr. 2 der Rl. 88 / 378 / EWG des Rates v. 03.05.1988, ABl. EG Nr. L 187 v. 16.07.1988, S. 1 (9).

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3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

der Nichtübertragbarkeit von Ermessensbefugnissen ist daher das Konzept der Verweisung auf Normen in der von der „Modellrichtlinie" praktizierten Form nicht mit dem EWG-Vertrag zu vereinbaren.

§ 5 Vereinbarkeit der Harmonisierungsrichtlinien mit den A r t 190, 191 E W G V Nach Art. 191 Absatz 2 EWGV müssen Richtlinien denjenigen, für die sie bestimmt sind, bekanntgemacht werden. Ihre Wirksamkeit erlangen sie im Zeitpunkt der Bekanntgabe. Art. 190 EWGV verlangt darüber hinaus, daß Richtlinien mit Gründen versehen werden. Beide Vorschriften sollen gewährleisten, daß der Adressat einer Richtlinie klar erkennen kann, welches Verhalten ab welchem Zeitpunkt von ihm gefordert wird und welche Gründe für den Erlaß des betreffenden Rechtsaktes ausschlaggebend waren, Insoweit handelt es sich bei den Erfordernissen der Bekanntgabe und der Begründung um Gebote der Rechtsstaatlichkeit310. Enthält eine Richtlinie selbst alle für den jeweiligen Adressaten maßgeblichen Bestimmungen, so bestehen unter beiden Gesichtspunkten dann keine Bedenken, wenn ihr Inhalt den Mitgliedstaaten ordentlich bekanntgegeben wird und sie im übrigen mit einer ausreichenden Begründung versehen sind. Zweifelhaft ist das Vorliegen dieser Voraussetzungen allerdings in den Fällen, in denen eine Richtlinie in dynamischer Form auf andere Vorschriften oder Regeln verweist, die ihrerseits die in der Richtlinie formulierten Verpflichtungen der Mitgliedstaaten konkretisieren sollen. Eine entsprechende rechtsnormkonkretisierende dynamische Verweisung sieht die „Neue Konzeption" vor. In den auf der Grundlage der „Modellrichtlinie" bereits erlassenen und noch zu erlassenden Richtlinien beschränkt sich der Rat im Rahmen der Harmonisierung der technischen Handelshemmnisse auf die Festlegung der grundlegenden Sicherheitsanforderungen. Diese Verpflichtungen werden durch die in Bezug genommenen harmonisierten Normen spezifiziert. Da aber auch diese Normen den Mitgliedstaaten gegenüber Rechtswirkungen entfalten, erscheint es fraglich, ob allein aufgrund der Bekanntgabe der Harmonisierungsrichtlinien der insoweit erstrebte Informationszweck erreicht wird. Im übrigen werden die pauschal bezogenen Normen erst auf der Basis der gesetzlichen Vorgaben, das heißt also erst nach

310 Vgl. auch Rohling, S. 127; Tomuschat, in: FS. f. Kutscher, S. 461 (465 ff.); Bleckmann, Europarecht, Rn. 209; Oppermann, Europarecht, Rn. 566, 571.

§ 5 Vereinbarkeit der Harmonisierungsrichtlinien mit den Art. 190, 191 EWGV

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dem Inkrafttreten der Richtlinien, erarbeitet. Aus diesem Grund erscheint es jedenfalls nicht als unproblematisch, ob die zur Richtlinie gegebene Begründung auch diese technischen Normen mitumfaßt, zumal deren konkreter Inhalt im Zeitpunkt der Bekanntgabe insbesondere angesichts der relativen Unbestimmtheit der in den Richtlinien beschriebenen Sicherheitsanforderungen nur eingeschränkt vorhersehbar ist.

/. Bekanntgabe 1. Umfang der Verpflichtung aus Art. 191 Absatz 2 EWGV Art. 191 Absatz 2 EWGV bestimmt zwar, daß Richtlinien denjenigen, für die sie bestimmt sind, bekanntgegeben werden müssen. Wie diese Bekanntgabe im Einzelfall aber auszusehen hat, läßt sich dem Wortlaut dieser Regelung nicht entnehmen. Aus dem systematischen Zusammenhang mit Art. 191 Absatz 1 EWGV dürfte allerdings zu schließen sein, daß dem Art. 191 Absatz 2 EWGV kein bestimmter Formenzwang zu entnehmen ist; insbesondere setzt das Vorliegen einer wirksamen Bekanntgabe nicht zwingend die Veröffentlichung der Richtlinientexte im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften voraus 311 . Soweit daher die Geschäftsordnungen des Rates und der Kommission die Veröffentlichung auch der Richtlinien im Amtsblatt vorsehen 312, ist dies ohne rechtliche Bedeutung. Auch kann eine solche Veröffentlichung, obwohl der Europäische Gerichtshof sie zum Zwecke der Unterrichtung der Öffentlichkeit ausdrücklich als wünschenswert bezeichnet hat 313 , die Bekanntgabe nicht ersetzen, da letztere die Person dessen, der berechtigt oder verpflichtet werden soll, individualisiert, während eine Veröffentlichung in erster Linie als Mög-

311 Vgl. auch Daig / Schmidt, in: G / T / E , EWGV, 4. Auflage, Art. 191 Rn. 18; Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 191 Rn. 3. 312 Vgl. für den Rat Art. 15 Absatz 3 der GeschO Rat v. 24.07.1979 (79 / 868 / EGKS / EWG / EURATOM), Abi. EG. Nr. L 268 v. 25.10.1979 S. 1 ff. zuletzt geändert durch Beschluß des Rates (87 / 508 / EGKS / EWG / EURATOM) v. 20.07.1987, ABl. EG Nr. L 291 v. 15.10.1987, S. 27. 313 EuGH, verb. RS. 73 und 74 / 62, Crediet en Handelsverenigung-Rotterdam und Suikerfabriek en Raffinaderij Puttershoek. / .Min. f. Landwirtschaft und Fischerei, Urt. v. 18.02.1964, Slg. S. 3 (9). Aus der Literatur vgl. auch Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 21 Rn. 45; Rohling, S. 128; Constantinesco. Recht der Europäischen Gemeinschaften, Rn. 593; Oppermann, Europarecht, Rn. 568; Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 191 Rn. 4.

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3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

lichkeit zur Kenntnisnahme dient 314 . Dementsprechend hat der Gerichtshof denn auch entschieden, daß es, für den Fall der Abweichung des notifizierten von dem des veröffentlichten Textes eines Rechtsaktes, hinsichtlich der Verbindlichkeit ausschließlich auf den Inhalt der notifizierten und den Empfangern zugestellten Fassung des Rechtsaktes ankommt 315 . Bezüglich der Form einer Bekanntmachung ist es Sache der Gemeinschaftsorgane, selbst darüber zu entscheiden, auf welche Art und Weise sie dem Adressaten eine Richtlinie zugänglich machen. Mit Rücksicht auf die den Richtlinien zukommende Bedeutung, dem hieraus resultierenden Bedürfnis nach Klarheit insbesondere über den Zeitpunkt des Inkrafttretens einer Richtlinie sowie dem Rang der Institutionen der Gemeinschaft dürfte allerdings davon auszugehen sein, daß im Regelfall lediglich die schriftliche Übermittlung die Wirksamkeit einer Richtlinie zu begründen vermag 316 . Ein weiteres Argument für die Richtigkeit dieser These läßt sich aus Art. 19 Absatz 2 Satz 1 der EWG-Satzung herleiten 317 . Nach dieser Regelung ist bei einer Anfechtungsklage dem Antrag auf Nichtigerklärung eines bestimmten Rechtsaktes der Wortlaut dieses Aktes beizufügen. Im übrigen ist zu berücksichtigen, daß die in Art. 190 EWGV genannten Anforderungen, also eine zureichende Begründung des Rechtsaktes sowie die Bezugnahme auf eingeholte Stellungnahmen, sich bei sachgerechter Betrachtung wohl nur mit einem schriftlich fixierten Text des bekanntzugebenden Rechtsaktes vertragen 318. Eine Rechtshandlung ist bekanntgegeben, wenn ihr Adressat mit Wissen und Wollen eines Gemeinschaftsorgans von dem Erlaß und dem Inhalt der Richtlinie oder Entscheidung Kenntnis erlangt. Der Europäische Gerichtshof bedient sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich „eines in allen Ländern der Gemeinschaft anerkannten Rechtsgrundsatzes", wonach Willenserklärungen dann wirksam werden beziehungsweise als zugegangen gelten, wenn sie ordnungsgemäß in den Machtbereich des Empfangers gelangt sind, so daß nach dem re-

314 Daig / Schmidt, in: G / T / E , EWGV, 4. Auflage, Art. 191 Rn. 23; Grabitz, EWGV, Art. 191 Rn. 4.

in: Grabitz,

315

EuGH, verb RS. 56 und 58 / 64, Consten und Grundig. / .Komission, Urt. v. 12.07.1965, Slg. S. 321 (385). 316

Vgl. auch Röhling, S. 128; Daig / Schmidt, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 191 Rn. 18.

317

Protokoll über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft v. 17.04.1957, BGBl. II, S. 1166; zuletzt geändert durch den Beschluß des Rates 88 / 591 / EGKS / EWG / EURATOM v. 24.10.1988, ABl. EG Nr. L 319 v. 25.11.1988, S. 1 ff. 318

In diesem Sinne auch Daig / Schmidt, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 191 Rn. 18.

§ 5 Vereinbarkeit der Harmonisierungsrichtlinien mit den Art. 190, 191 E W G V 2 4 1

gelmäßigen Verlauf der Dinge mit einer Kenntnisnahme durch die Mitgliedstaaten gerechnet werden kann 319 .

2. Vorliegen der Voraussetzungen Nach der Ausgestaltung der „Neuen Konzeption" ist den Mitgliedstaaten als den Adressaten der einzelnen Harmonisierungsrichtlinien die Kenntnisnahme der für sie uneingeschränkt verbindlichen Vorschriften in jedem Fall möglich, auch ohne daß ihnen im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Richtlinien bereits die durch die Verweisung bezogenen harmonisierten Normen vollinhaltlich mitgeteilt werden. In diesem Sinne uneingeschränkt verbindlich sind nur die gesetzlichen Sicherheitsbestimmungen. Diese werden den Richtlinien als Anhang beigefügt, so daß bezüglich der Richtlinien als solcher eine wirksame Bekanntgabe jedenfalls vorliegt. Diese Bekanntgabe der Richtlinien umfaßt allerdings nicht die in Bezug genommenen Normen. In den Richtlinien findet sich insoweit nur der Hinweis, daß die Mitgliedstaaten bei einer normgemäßen Produktion von einer Einhaltung der gesetzlichen Sicherheitsvorgaben im Regelfall auszugehen haben. Welche Normen diese Bezugnahme konkret umfaßt, läßt sich den einzelnen Harmonisierungsrichtlinien dagegen nicht entnehmen. Dies ist auch nicht weiter verwunderlich, da die entsprechenden Normen erst nach dem Inkrafttreten der Richtlinien auf der Grundlage der in diesen enthaltenen sicherheitstechnischen Bestimmungen erarbeitet werden und die Verweisung im übrigen in dynamischer Form erfolgt. Fraglich ist daher, ob allein durch die Bekanntgabe der Richtlinien die in Art. 191 Absatz 2 EWGV vorgeschriebene Verpflichtung erfüllt wird. Im Ergebnis dürfte diese Frage zu verneinen sein. Zwar handelt es sich bei den bezogenen technischen Normen bereits aus formellen Gründen nicht um Hoheitsakte im Sinne des Art. 189 EWGV. so daß dementsprechend auch Art. 191 EWGV nicht unmittelbar zur Anwendung gelangen kann. Zu berücksichtigen ist allerdings, daß die bezogenen Normen die in den Harmonisierungsrichtlinien vorgegebenen grundlegenden Sicherheitsanforderungen in für die Mitgliedstaaten prinzipiell verbindlicher Weise konkretisieren. Dieses bedeutet aber,

319 Vgl. EuGH, RS. 8 / 56, Firma A.L.M.A. / .Hohe Behörde, Urt. v. 10.12.1957, Slg. S. 191 (200). Vgl. auch Rohling, S. 128; Daig/ Schmidt, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 191 Rn. 19; Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 191 Rn. 8.

16 Breulmann

242

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

daß die Mitgliedstaaten den Gesamtumfang der sie treffenden Verpflichtungen bei einer Umsetzung der Richtlinie erst dann vollständig ermitteln können, wenn sie sowohl über den Inhalt der Richtlinien als auch darüber informiert worden sind, welche Europäischen Normen bezogen auf das von der Richtlinie erfaßte Produkt die gesetzlichen Vorgaben konkretisieren sollen. Der Sinn und Zweck einer Bekanntgabe besteht aber gerade darin, daß die Adressaten der Richtlinie klar und deutlich erkennen können, welches Verhalten ab welchem Zeitpunkt von ihnen gefordert wird. Mit diesem Sinn und Zweck verträgt es sich nicht, auf die Bekanntgabe der Normen zu verzichten. Im übrigen läßt sich die Erforderlichkeit einer auch die in Bezug genommenen Normen umfassenden Bekanntgabe aus dem Umstand herleiten, daß die in der „Modellrichtlinie" vorgesehene Form einer dynamischen rechtsnormkonkretisierenden Verweisung materiell eine Delegation von Hoheitsbefugnissen auf die europäischen Normungsverbände darstellt. So hatte der Europäische Gerichtshof im Hinblick auf die Zulässigkeit einer Delegation im Gemeinschaftsrecht in einem seiner „Meroni-Urteile" ausgeführt: „Auch für den Fall, daß die auf der Entscheidung Nr. 14 / 55 beruhende Übertragung der Befugnisse mit dem Vertrag vereinbar wäre, bliebe doch zu beachten, daß keine weiterreichenden Befugnisse übertragen werden können, als sie der übertragenden Behörde nach dem Vertrag zustehen. Könnten die Brüsseler Organe Entscheidungen erlassen, ohne die Bindungen zu beachten, die die Hohe Behörde selbst bei Erlaß dieser Entscheidungen hätte einhalten müssen, so würde dies bedeuten, daß auf sie weiterreichende Befugnisse übertragen worden wären, als sie der Hohen Behörde selbst nach dem Vertrag zustehen"320. Inwieweit der Ausgangsthese des Gerichtshofes, daß es sich bei den übertragenen Befugnissen um solche des Deleganten und nicht vielmehr um solche der Gemeinschaft handelt, zugestimmt werden kann, mag an dieser Stelle dahinstehen321. Die Richtigkeit dieser These ist insoweit nur für die Streitfrage von Bedeutung, ob ein Delegatar die ihm zur Ausübung übertragenen Befugnisse auch unter Außerachtlassung der im Vertrag für den Deleganten vorgesehenen Verfahrensregelungen sowie der Anhörungsrechte Dritter wahrnehmen kann 322 . In jedem Fall ist aber bereits aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit der Aussage des Gerichtshofes beizupflichten, daß die von einem Delegatar in Ausübung der ihm übertragenen Befugnisse getroffenen Entschei-

320

EuGH, RS. 10 / 56, Meroni. / .Hohe Behörde, Urt. v. 13.06.1958, Slg. S. 57 (79).

321

Vgl. die ablehnenden Stellungnahmen von Schmitt von Sydow, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 155 Rn. 57; Hummer, in: Grabitz, EWGV, Art. 155 Rn. 49. 322

Vgl. hierzu bereits den Überblick S. 231 Fn. 293.

§ 5 Vereinbarkeit der Harmonisierungsrichtlinien mit den Art. 190, 191 EWGV

243

düngen sowohl zu begründen als auch in der für den Deleganten vorgeschriebenen Form bekanntzugeben sind 323 . Letztlich bestehen im Hinblick auf die Einhaltung des Publikationsgebotes gegen die ,,Neue Konzeption" insofern keine durchgreifenden Bedenken, als die „ M o d e l l r i c h t l i n i e " einen Mechanismus enthält, der den Mitgliedstaaten in jedem Falle die Kenntnisnahme des Inhalts der tatsächlich bezogenen Normen ermöglicht. Nach Art. 5 Ziffer 1 Punkt a der „Modellrichtlinie" 324 sind die Mitgliedstaaten nur bei solchen Erzeugnissen gehalten, von der Einhaltung der grundlegenden Sicherheitsanforderungen auszugehen, die mit harmonisierten Normen übereinstimmen, deren Fundstelle im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht worden sind. Diese auf Veranlassung der EG-Kommission erfolgende Veröffentlichung der Normenfundstellen 325 vermag die Bekanntgabe zwar nicht zu ersetzen. Die „ M o d e l l r i c h t l i n i e " sieht jedoch weiterhin vor, daß eine entsprechende Veröffentlichung auch auf nationaler Ebene in den einzelnen Mitgliedstaaten zu erfolgen hat 326 . Soweit ersichtlich ist diese Regelung auch in allen bislang auf der Grundlage der „Neuen Konzeption" beschlossenen Harmonisierungsrichtlinien übernommen worden 327 . Sind aber

323

EuGH, RS. 10 / 56, Meroni. / .Hohe Behörde, Urt. v. 13.06.1958, Slg. S. 57 (78 f). In diesem Verfahren ging es in erster Linie um die Veröffentlichung von Angaben nach Art. 47 Absatz 2 EGKSV. Die Erforderlichkeit einer Begründung sowie der Bekanntgabe bzw. Veröffentlichung wird in der Literatur einstimmig anerkannt. Vgl. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 20 Rn. 62; Constantinesco, Recht der Europäischen Gemeinschaften, Rn. 316; Schweitzer / Hummer, Europarecht, S. 246; Bleckmann, Europarecht, Rn. 231; Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 4 Rn. 13. 324

Vgl. ABl. EG Nr. C 136 v. 14.06.1985, S. 5.

325

Vgl. Kooperationsvereinbarung CEN / CENELEC mit der EG-Kommission, abgedruckt in DIN-Mitt. Bd. 64 (1985), S. 78 f. sowie Mitteilung der Kommission 89 / C 155 / 02 im Rahmen der Durchführung der Richtlinie 88 / 378 / EWG des Rates v. 03.05.1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Sicherheit von Spielzeug, ABl. EG Nr. C 155 v. 23.06.1989, S. 2. Vgl. für den Bereich der „Niederspannungsrichtlinie" auch die Mitteilung der Kommission im Rahmen der Durchführung der Richtlinie 73 / 123 / EWG des Rates v. 19.02.1973 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend elektrische Betriebsmittel zur Verwendung innerhalb bestimmter Spannungsgrenzen, ABl. EG Nr. C 184 v. 23.07.1979, S. 1 ff., fortgeschrieben zuletzt durch Mitteilung der Kommission, ABl. EG Nr. C 168 v. 27.06.1988, S. 16 ff. 326

Vgl. Art. 5 Ziffer 1 Punkt a 2. Halbsatz der ,Modellrichtlinie", ABl. EG Nr. C 136 v. 14.06. 1985, S. 5. 327 Vgl. z.B. Art. 5 Absatz 1 Satz 2 der Rl. des Rates 87 / 404 / EWG v. 25.06.1987 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für einfache Druckbehälter, ABl. EG Nr. L 220 v. 08.08.1987, S. 48 (49); Art 5 Absatz 2 Satz 2 der Rl. 90 / 384 / EWG des Rates v. 20.06.1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über nichtselbsttätige Waagen, ABl. EG Nr. L 189 v. 20.07.1990, S. 1 (3); Art 5 2. Halbsatz der Rl. 90 / 385 / EWG des Rates v. 20.06.1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über aktive implantierbare

2 4 4 3 . Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

die Mitgliedstaaten zur Veröffentlichung der Normenfundstellen verpflichtet, so setzt die Realisierung dieser Verpflichtung zwingend voraus, daß den Mitgliedstaaten seitens der Gemeinschaftsorgane zumindest eben diese Fundstellen mitgeteilt werden. Auch wenn eine entsprechende Mitteilung nicht notwendigerweise zur Folge haben muß, daß die Mitgliedstaaten auch über den Inhalt der bezogenen Normen informiert werden, so dürfte eine solche Praxis doch den Erfordernissen einer wirksamen Bekanntgabe genügen. Insoweit ist insbesondere zu berücksichtigen, daß in den europäischen Normungsverbänden die nationalen Normungsorganisationen der einzelnen Mitgliedstaaten vertreten sind. Bei diesen Normungsverbänden können sich die zur Transformation der Richtlinien zuständigen Staatsorgane uschwer von dem Inhalt der bezogenen Normen Kenntnis verschaffen. Die mit der Bekanntgabe verfolgte Zielsetzung wird daher durch die Praxis des Normenverweises nicht gefährdet. Im Ergebnis bestehen daher gegen die „Modellrichtlinie" beziehungsweise gegen die auf ihrer Grundlage erarbeiteten und erlassenen Harmonisierungsrichtlinien unter dem Aspekt der ordnungsgemäßen Bekanntgabe von Richtlinien keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

II. Begründung 1. Sinn und Zweck Mit dem in Art. 190 EWGV auch für Richtlinien vorgeschriebenen Begründungszwang werden verschiedene Zielsetzungen verfolgt 328 . Zunächst sollen

Geräte, ABl. EG Nr. L 189 v. 20.07.1990, S. 17 (19); Art 5 Ziffer 1 Punkt a 2. Halbsatz der Rl. 9 0 / 3 9 6 / E W G des Rates v. 29.06.1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für Gasverbrauchseinrichtungen, ABl. EG Nr. L 196 v. 26.07.1990, S. 15 (17). 328

Vgl. allgemein zu diesem Erfordernis EuGH, RS. 24 / 62, Deutschland. / .Kommission, Urt. v. 04.07.1963, Slg. S. 141 (155); RS. 106 / 81, Kind KG. / .Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Urt. v. 15.09.1982, Slg S. 2885 (2918 Rn. 14) - „claw-back" - ; RS. 108 / 81, Amylum. / .Rat, Urt. v. 30.09.1982, Slg. S. 3107 (3134 Rn. 19; 3135 Rn. 21) - „Isoglucose" - ; RS. 1 1 4 / 8 1 , Tunnel Refineries. / .Rat, Urt. v. 30.09.1982, Slg. S. 3189 (3210 Rn. 20; 3111 Rn. 22) „Isoglucose" - ; RS. 294 / 81, Control Data. / .Kommission, Urt. v. 17.03.1983, Slg. S. 911 (928 Rn. 14 f.) - „GZT-wissenschaftliche Geräte" - ; RS. 8 / 83, Bertoli. / .Kommission, Urt. v. 28.03.1984, Slg. S. 1649 (1660 Rn. 12 f.) - „Stahlgeldbußen" - ; RS. 255 / 84, Nachi Fujikoshi. / .Rat, Urt. v. 07.05.1985, Slg. S. 1861 (1894 Rn. 39) - „Antidumpingzölle" - ; RS. 255 / 84, Nippon Seiko. / .Rat, Urt. v. 07.05.1985, Slg. S. 1923 (1966 Rn. 28) - „Antidumpingspanne" - ; RS. 2 3 8 / 8 6 , Niederlande. / .Kommission, Urt. v. 25.02.1988, Slg. S. 1191 (1207 Rn. 15) „EAGFL-Magermilch" —.

§ 5 Vereinbarkeit der Harmonisierungsrichtlinien mit den Art. 190, 191 E W G V 2 4 5

Rat und Kommission als die Gesetzgebungsorgane der Gemeinschaft dazu angehalten werden, das Vorliegen der vertraglichen Voraussetzungen ihres Handelns jeweils sorgfaltig zu prüfen. Die Begründungspflicht dient den Gemeinschaftsorganen insoweit als Mittel zur Selbstkontrolle 329. In diesem Zusammenhang ist der Begründungszwang insbesondere in den Fällen von erheblicher Bedeutung, in denen die Gemeinschaftsverträge das Handeln der Organe an das Vorliegen weiter, unbestimmter Rechtsbegriffe knüpfen oder in denen ein Tätigwerden in das Ermessen eines Gemeinschaftsorgans gestellt ist. Die Nichtbegründung eines Rechtsaktes beziehungsweise eine nur in ungenügendem Umfang erfolgende Begründung ist ein Indiz für die mangelnde Sorgfalt des Handelnden bei der Prüfung der Frage, ob die vertraglichen Voraussetzungen für den Erlaß des betreffenden Rechtsaktes tatsächlich vorliegen. Die Begründungspflicht zielt mithin auch darauf ab, die Gemeinschaftsorgane vor dem Einfluß sachfremder Erwägungen zu schützen330. Der zweite und im Ergebnis wohl wichtigste Zweck des Art. 190 EWGV besteht darin, daß der Begründungszwang in doppelter Hinsicht eine externe Kontrollfunktion bewirkt. Zum einen gibt die Begründung eines Rechtsaktes dessen Adressaten die Möglichkeit, den ihm durch die Verträge gewährten Rechtsschutz optimal zu nutzen. Oftmals wird ein Betroffener erst durch die Begründung eines Rechtsaktes in die Lage versetzt zu kontrollieren, ob die in der Begründung für den Erlaß eines Rechtsaktes angegebenen Tatsachen der Wirklichkeit entsprechen und ob sie bei Anwendung des Vertrages die in der betreffenden Rechtshandlung vorgesehenen Rechtsfolgen tragen. Erst nach Abschluß dieser Prüfung kann der Adressat des Rechtsaktes über die Erfolgsaussichten einer Anfechtungsklage entscheiden. Dieser Wahrung des Rechtsschutzinteresses kommt eine entscheidende Bedeutung zu 3 3 1 . Zum anderen soll die Begrün-

329 Vgl. zu dieser Funktion Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 24 Rn. 25; Scheffler, S. 49 f.; Bleckmann, Europarecht, Rn. 210; Müller-Ibold, S. 18 f.; Schmidt, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 190 Rn. 4; Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 190 Rn. 3. 330 331

In diesem Sinne insbesondere Bleckmann, Europarecht, Rn. 210; Müller-Ibold,

S. 18 f.

Vgl. EuGH, RS. 18 / 57, Nold. / .Hohe Behörde, Urt. v. 20.03.1959, Slg. 1958 / 59, S. 89 (114); verb. RS. 36, 37, 38 und 40 / 59, Präsident, Geitling u.a. / .Hohe Behörde, Urt. v. 15.07. 1960, Slg. S. 885 (922); RS. 158 / 80, Rewe. / .Hauptzollamt Kiel, Urt. v. 07.07.1981, Slg. S. 1805 (1833 Rn. 25) - ,3utterfahrten" - ; RS. 110 / 81, SA Roquettes Frères. / .Rat, Urt. v. 30.09.1982, Slg. S. 3159 (3183 Rn. 24) - „Isoglucose" - ; verb. RS. 296 und 318 / 82, Niederlande. / .Kommission, Urt. v. 12.03.1985, Slg. S. 817 (823 Rn. 19) - „Kartonageverarbeitung" - ; RS. 240 / 84, Toyo. / .Rat, Urt. v. 07.05.1987, Slg. S. 1809 (1857 Rn. 31) - „Antidumpingzölle" - ; RS. 260 / 84, Mineba. / .Rat, Urt. v. 07.05.1987, Slg. S. 1975 (2006 / 2007 Rn. 23) - „Antidumpingspanne" - ; verb. RS. 46 und 227 / 88, Hoechst. / .Kommission, Urt. v. 21.09.1989, Slg. S. 2859 (2929/2923 Rn. 41) - „Verordnung Nr. 17" - ; RS. 303 / 87, Universität Stutt-

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3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

dung insoweit dem zur Kontrolle der Rechtsetzungsakte der Gemeinschaftsorgane berufenen Europäischen Gerichtshof die Möglichkeit geben, die Rechtmäßigkeit dieser Akte nachzuprüfen. Ob die Gemeinschaftsorgane den Vertrag fehlerfrei angewendet beziehungsweise ausgelegt haben, kann der Gerichtshof vernünftigerweise nur dann entscheiden, wenn ihm diejenigen Fakten mitgeteilt werden, die dem Erlaß des betreffenden Rechtsaktes tatsächlich zugrundelagen und die letztlich für die Interpretation durch die Gemeinschaftsorgane den Ausschlag gegeben haben. Ohne eine ausreichende Begründung ist dem EuGH in der Regel eine wirksame Kontrolle der Anwendung oder Auslegung des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts und insbesondere die Nachprüfung der Frage, ob im Sinne der Gemeinschaftsverträge ein Ermessensmißbrauch vorliegt, verwehrt. Gerade die Schwierigkeiten des von einem Rechtsetzungsakt Betroffenen, das Vorliegen eines Ermessensmißbrauchs substantiiert vorzutragen, sollen durch die Begründungspflicht gemildert werden. Diesem Ziel korrespondiert denn auch eine rechtliche Verpflichtung der Gemeinschaftsorgane, grundsätzlich alle Umstände in die Begründung aufzunehmen, die dem Gerichtshof die Kontrolle einer Maßnahme gestatten332. Schließlich sollen durch eine Darlegung der Gründe, die zum Erlaß eines Rechtsaktes geführt haben, auch die Mitgliedstaaten mit ihren Parlamenten und Verwaltungsbehörden in die Lage versetzt werden, Rat und Kommission bei deren Aufgabenerfüllung zu kontrollieren und gegebenenfalls gerichtlich nach Art. 173 Absatz 1 EWGV gegen sie vorzugehen, wenn und soweit sie nicht Adressaten eines Rechtsetzungsaktes sind 333 .

gart. / .Hauptzollamt Stuttgart-Ost, Urt. v. 15.03.1989, Slg. S. 705 (719 Rn. 13) - „wissenschaftliche Apparate" —. Aus der Literatur vgl. bei Schott, S. 94; Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 24 Rn. 25; Schejfler, S. 53 ff.; Bleckmann, Europarecht, Rn. 211 ; Müller-Ibold, S. 15 f.; Schweitzer / Hummer, Europarecht, S. 120; Schmidt, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 190 Rn. 5; Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 190 Rn. 3. 332 Vgl. EuGH, RS. 2 / 56, Geitling. / .Hohe Behörde, Urt. v. 20.03.1957, Slg. S. 9 (37); verb. RS. 8-11 / 66, Cimenteries u.a. / .Kommission, Urt. v. 15.03.1967, Slg. S. 99 (125); verb. RS. 45 und 49 / 70, Bode. / .Kommission, Urt. v. 26.05.1971, Slg. S. 465 (477 Rn. 18 f.); Generalanwalt Lagrange, Schlußanträge v. 24.05.1960 in den verb. RS. 36-38 und 40 / 59, Präsident, Geitling, u.a. / .Hohe Behörde, Slg. S. 933 (942); Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 24 Rn. 25; Schejfler, S. 56 ff., 59; Bleckmann, Europarecht, Rn. 213; Miiller-Ibold, S. 21 f.; Schweitzer / Hummer, Europarecht, S. 120; Oppermann, Europarecht, Rn. 571; Schmidt, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 190 Rn. 5; Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 190 Rn. 3. 333

Vgl. nur Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 190 Rn. 3.

§ 5 Vereinbarkeit der Harmonisierungsrichtlinien mit den Art. 190, 191 EWGV

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2. Umfang der Begründungspflicht Zum Umfang der Begründungspflicht schweigt Art. 190 EWGV. Allgemeingültige Aussagen bezüglich des Inhalts und der Reichweite einer Begründung lassen sich aufgrund der unterschiedlichen rechtlichen Tragweite der einzelnen Rechtshandlungen nur schwer treffen. Immerhin hat der Europäische Gerichtshof in einer Reihe von Entscheidungen einige allgemeine Prinzipien zum erforderlichen Umfang der Begründungspflicht entwickelt. So ist dem Art. 190 EWGV dann genüge getan, wenn die Begründung die wichtigsten beziehungsweise maßgeblichen rechtlichen und tatsächlichen Erwägungen wiedergibt, auf denen die jeweiligen Rechtshandlungen der Gemeinschaftsorgane beruhen und die für das Verständnis des Gedankengangs erforderlich sind 334 . Nicht notwendig ist es insoweit, daß das handelnde Gemeinschaftsorgan sämtliche dem Rechtsakt zugrundeliegende tatsächliche und rechtliche Erwägungen aufzählt 335 . Solange die Erfordernisse der Klarheit und Schlüssigkeit nicht beeinträchtigt sind, kann die Begründung daher auch in knapper Form erfolgen 336 . Die Begründungspflicht verlangt jedoch, daß der Gedankengang, der zum Erlaß des jeweiligen Rechtsaktes geführt hat, logisch nachvollzogen werden kann. Eine Verpflichtung der Gemeinschaftsorgane, sämtliche der eigenen Ansicht widersprechende gegenteilige Auffassungen wiederzugeben, besteht nicht 337 .

334 EuGH, RS. 2 / 56, Geiüing. / .Hohe Behörde, Urt. v. 20.03.1957, Slg. S. 9 (37); RS. 24 / 62, Deutschland. / .Kommission, Urt. v. 04.07.1963, Slg. S. 149 (155); RS. 36 / 64, Sorema. / .Hohe Behörde, Urt. v. 07.06.1965, Slg. S. 447 (461); RS. 3 / 67, Mandelli. / .Kommission, Urt. v. 08.02.1968, Slg. S. 37 (47 f.). Kritisch hierzu Bleckmann, Europarecht, Rn. 218, dessen Auffassung zufolge es besser wäre, von „tragenden Gründen" zu sprechen, da mit dieser Formulierung die jeweils anzugebenden Gründe besser unterschieden werden könnten. 335 EuGH, RS. 185 / 83, Rijksuniversiteit Groningen. / .Inspecteur de Invoerrechten, Urt. v. 25.10.1984, Slg. S. 3623 (3641 / 3642 Rn. 38) - „GZT-Elektronenmikroskop" - ; RS. 203 / 85, Nicolet Instrument. / .Hauptzollamt Frankfurt a.M., Urt. v. 26.06.1986, Slg. S. 2056 (2058 / 2059 Rn. 10) - „wissenschaftliche Geräte" - ; RS. 303 / 87, Universität Stuttgart. / .Hauptzollamt Stuttgart-Ost, Urt. v. 15.03.1989, Slg. S. 705 (719 Rn. 13) - „wissenschaftliche Apparate"-; RS. 167 / 88, AGPB. / .Onic, Urt. v. 08.06.1989, Slg. S. 1653 (1686 Rn. 34) - „mengenmäßige Beschränkungen der Interventionskäufe" —. 336 EuGH RS. 24 / 62, Deutschland. / .Kommission, Urt. ν. 04.07.1963, Slg. S. 149 (155); RS. 108 / 81, Amylum. / .Rat, Urt. v. 30.09.1982, Slg. S. 3107 (3135 Rn. 21) - „Isoglucose" - ; Tunnel Refineries. / .Rat, Urt. v. 30.09.1982, Slg. S. 3189 (3211 Rn. 22; 3111 Rn. 22) -„Isoglucose" —. 337 EuGH, RS. 2 / 56, Geitling. / .Hohe Behörde, Urt. v. 20.03.1957, Slg. S. 9 (38); RS. 322 / 81, Michelin. / .Kommission, Urt. v. 09.11.1983, Slg. S. 1191 (1207 Rn. 16) - „EAGFL-Beihilfen für Magermilch" Vgl. auch Schmidt, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 190 Rn. 7.

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3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

Obwohl die vom EuGH verwendeten Formulierungen allgemeingültige Kriterien enthalten, handelt es sich bei den Begriffen „wesentlich", „wichtig" oder „tragend" um unbestimmte Rechtsbegriffe, die dem Gerichtshof trotz aller Definitionsversuche und Umschreibungen im Ergebnis einen weiten Beurteilungsspielraum im Hinblick auf die Beantwortung der Frage belassen, ob im Einzelfall bei einem Rechtsakt das Begründungserfordernis gewahrt worden ist oder nicht 338 . Aufgrund dieser Schwierigkeiten, den Umfang der Begründungspflicht abstrakt zu beschreiben, hat der Gerichtshof die ursprünglich von ihm vertretene These, daß in jedem Fall im Hinblick auf den erforderlichen Inhalt einer Begründung allgemeingültige Anforderungen einzuhalten seien und eine detaillierte Aufstellung der rechtlichen und tatsächlichen Erwägungen durch die Gemeinschaftsorgane zu erfolgen habe, zwischenzeitlich insofern aufgegeben, als sich der Umfang der Begründung nunmehr nach den „Umständen des Einzelfalles" richten soll. Von besonderer Bedeutung sollen dabei insbesondere der „Inhalt der Entscheidung, die Art der angeführten Gründe und das Interesse" sein, das „die Adressaten oder andere im Sinne von Art. 173 Absatz 2 EWGV unmittelbar und individuell von einer Entscheidung Betroffene" an einer Begründung haben 339 . Dabei kommt es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs entscheidend auf die Rechtsnatur der jeweiligen Rechtshandlungen an 340 . Die unterschiedliche Funktion abstrakt-genereller Regelungen einerseits und konkret-individueller Maßnahmen andererseits führt dazu, daß an die Vollständigkeit einer Begründung beispielsweise von individuellen Entscheidungen grundsätzlich weiterreichende Anforderungen zu stellen sind als dies bei Verordnungen oder Richtlinien der Fall ist. Individuelle Entscheidungen müssen insbesondere dann, wenn es sich bei ihnen um Ermessensentscheidungen han-

338

So auch Bleckmann, Europarecht, Rn. 218; Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 190 Rn. 4.

339

EuGH, verb. RS. 296 und 3 1 8 / 8 2 , Niederlande. / .Kommission, Urt. v. 13.03.1985, Slg. S. 817 (833 Rn. 19) - „Kartonageverarbeitung" - ; RS. 41 / 82, Italien. / .Kommission, Urt. v. 20.03.1985, Slg. S. 873 (891 Rn. 16). Vgl. auch RS. 57 / 86, Griechenland. / .Kommission, Urt. v. 07.06.1988, Slg. S. 2855 (2873 Rn. 16). 340 EuGH, RS. 5 / 67, Beus. / .Hauptzollamt München Landsberger-Str., Urt. v. 13.03.1968, Slg. S. 127 (144); RS. 108 / 81, Amylum. / .Rat, Urt. v. 30.09.1982, Slg. S. 3107 (3135 Rn. 21) „Isoglucose" - ; RS. 2 5 0 / 8 4 , Eridania. / .Cassa Conguaglio Zucchero, Urt. v. 22.01.1986, Slg. S. 134 (146 Rn. 37) - „Produktionsabgabe für Zucker" - ; verb. RS. 67, 68 und 70 / 85, van der Kooy u.a. / .Kommission, Urt. v. 02.02.1988, Slg. S. 219 (278 Rn. 71) - ,JErdgas-Versorgungstarif 4 - ; RS. 167 / 88, AGPB. / .Onic, Urt. v. 08.06.1989, Slg. S. 1653 (1686 Rn. 34) - „mengenmäßige Beschränkungen der Interventionskäufe" —. Vgl. auch Schmidt, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 190 Rn. 8; Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 190 Rn. 5.

§ 5 Vereinbarkeit der Harmonisierungsrichtlinien mit den Art. 190, 191 E W G V 2 4 9

delt, substantiiert begründet werden 341 . Bei Verordnungen, allgemeinen Entscheidungen und Richtlinien ist dagegen eine umfassende Darstellung sämtlicher Hintergründe nicht Inhalt der Begründungspflicht, da diese Rechtsakte allgemeine Situationen abstrakt regeln und aus diesem Grunde ein Bedarf an ausführlicher Erläuterung grundsätzlich zu verneinen ist. Die Begründung kann sich in diesen Fällen darauf beschränken, die Gesamtlage wiederzugeben, die zum Erlaß des Rechtsaktes geführt hat, sowie die allgemeine Situation zu bezeichnen, die mit dem jeweiligen Rechtsakt verwirklicht werden soll. Insoweit würden die an eine Begründung zu stellenden Anforderungen überspannt, wenn man verlangen wollte, daß die mitunter zahlreichen und weitverzweigten Umstände im einzelnen aufgeführt werden, die für die Verabschiedung einer Maßnahme ausschlaggebend waren, oder daß die Begründung eine mehr oder weniger vollständige Würdigung dieser Umstände beinhaltet 342 . Aus den gleichen Gründen kann für einzelne Vorschriften einer solchen Regelung keine selbständige und erschöpfende Begründung verlangt werden 343 . Fraglich ist allerdings, ob man bezüglich des notwendigen inhaltlichen Umfangs einer Begründung auf die Kenntnis des Adressaten abstellen kann. Dies wird vereinzelt im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH bei konkreten Entscheidungen mit der Argumentation bejaht, daß, soweit ein Adressat eines Rechtsaktes in einem Vorverfahren Gelegenheit hatte, seine Auffassung darzulegen, es dem handelnden Gemeinschaftsorgan auch gestattet sein müsse, im Rahmen der Begründung auf die Ausbreitung solcher Überlegungen zu verzichten, die dem Adressaten ohnehin längst bekannt seien 344 . Aufgrund dieses Um-

341 EuGH, vert). RS. 36, 37, 38 und 40 / 59, Präsident, Geitling u.a. / .Hohe Behörde, Urt. v. 15.07.1960, Slg. S. 885 (922). 342

St. Rspr. vgl. EuGH, RS. 80 / 72, Koninklijke Lassie Fabrieken. / .Hoofdprodukschab, Urt. v. 20.06.1973, Slg. S. 635 (652 Rn. 24 / 26) - „Tarifierung von Gerstefolgeerzeugnissen" RS. 309 / 81, Klughardt. / .Hauptzollamt Hamburg-St. Annen, Urt. v. 09.12.1982, Slg. S. 4281 (4299 Rn. 14) — „Gemeinsame Marktorganisation für Rindfleisch" —; RS. 37 / 83, Rewe. / .Direktor der Landwirtschaftskammer Rheinland, Urt. v. 29.02.1984, Slg. S. 1229 (1247 Rn. 13) - „Phytosanitäre Kontrollmaßnahmen" RS. 250 / 84, Eridania. / .Cassa Conguaglio Zucchero, Urt. v. 22.01.1986, Slg. S. 134 (146 Rn. 37) - „Produktionsabgabe für Zucker" - . 343 EuGH, RS. 2 / 56, Geitling. / .Hohe Behörde, Urt. v. 20.03.1957, Slg. S. 9 (38); RS. 250 / 84, Eridania. / .Cassa Conguaglio Zucchero, Urt. v. 22.01.1986, Slg. S. 134 (146 Rn. 37) - „Produktionsabgabe für Zucker" —. 344 Vgl. zu dieser Rechtsprechung EuGH, RS. 8 1 5 / 7 9 , Deutschland. / .Kommission, Urt. v. 14.01.1981, Slg. S. 21 (36 Rn. 20 f.) - Beihilfen für Magermilchpulver" - ; RS. 203 / 85, Nicolet Instrument. / .Hauptzollamt Frankfurt a.M.-Flughafen, Urt. v. 26.06.1986, Slg. S. 2056 (2058 Rn. 11) - „wissenschaftliche Geräte" - ; RS. 327 / 85, Niederlande. / .Kommission, Urt. v. 25.02.1988, Slg. S. 1065 (1093 Rn. 14) - „Beihilfen für Magermilch" - ; RS. 347 / 85, Großbritannien. / .

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3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

standes seien an die Begründungspflicht für solche Rechtsakte, die sich an die Mitgliedstaaten richteten, generell geringere Anforderungen zu stellen als an solche, deren Adressaten die Marktbürger sind. Zu berücksichtigen sei insoweit nämlich, daß die Mitgliedstaaten an der Vorbereitung über die Entscheidung eines Rechtsaktes regelmäßig beteiligt oder jedenfalls im Zuge von Vorverhandlungen über die Absichten und Vorstellungen der Gemeinschaftsorgane unterrichtet worden seien. Im übrigen verfügten die Mitgliedstaaten aufgrund ihrer umfassenden Informationsmöglichkeiten über Kenntnisse und dadurch bedingt über einen Sachverstand, der den Marktbürgern in der Regel fehle 345 . Diese These ist in ihrer Pauschalität entschieden abzulehnen, da sie dem Sinn der Begründungspflicht nicht gerecht wird. Zwar gilt auch im Gemeinschaftsrecht der Satz, daß das, was offensichtlich ist, keiner gesonderten Begründung bedarf 346 . Um eine solche Ausklammerung offensichtlicher Umstände aus der Begründungspflicht geht es hier jedoch gerade nicht. Wird eine Einschränkung im Hinblick auf den Begründungsumfang aber auch bezüglich solcher Erwägungen gebilligt, die nicht für jeden Beteiligten offensichtlich sind, so kann Art. 190 EWGV die ihm zugewiesenen Funktionen nicht mehr erfüllen. So können Entscheidungen beispielsweise bei Vorliegen der in Art. 173 Absatz 2 EWGV genannten Voraussetzungen auch von anderen Personen als den Adressaten eines Rechtsaktes angefochten werden. In diesen Fällen verlangt aber bereits das Rechtsschutzinteresse dieser Personen eine umfassende, insbesondere aber eine inhaltlich vollständige Begründung, da sie in der Regel gerade nicht über dieselben Informationen verfügen können wie die am Verfahren unmittelbar beteiligten Adressaten des Rechtsaktes.

Kommission, Urt. v. 24.03.1988, Slg. S. 1749 (1797 Rn. 60) - „Rechnungsabschluß EAGFL" - ; RS. 238 / 86, Niederlande. / .Kommission, Urt. v. 25.02.1988, S. 1191 (1207 Rn. 16) - Beihilfen für Magermilch" —. 345 Vgl. hierzu EuGH, RS. 1 3 / 7 2 , Niederländische Regierung. / .Kommission, Urt. v. 11.01. 1972, Slg. S. 27 (39 Rn. 19). Schmidt, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 190 Rn. 12. Eine entsprechende Verringerung des Umfangs der Begründungspflicht soll ausnahmsweise jedoch auch bei einem an den Marktbürger gerichteten Rechtsakt zulässig sein, wenn und soweit dieser im Einzelfall aufgrund seiner Beteiligung am Verfahren einen ähnlich hohen Kenntnisstand wie die Mitgliedstaaten besitzt. Vgl. EuGH, RS. 275 / 80, Krupp. / .Kommission, Urt. v. 28.10.1981, Slg. S. 2489 (2512 Rn. 10 ff.) - „Erzeugungsquoten für Stahl" - ; zustimmend Schmidt, a.a.O., Rn. 12. 346 Vgl. Schlußanträge des Generalanwalts Lagrange v. 14.05.1964 in der RS. 66 / 63, Regierung Niederlande. / .Kommission, Slg. 1964 S. 1187 (1197 f.); Schlußanträge des Generalanwalts Gand v. 22.06.1967 in der RS. 5 / 67, Beus. / .Hauptzollamt München Landsberger Str., Slg. 1968 S. 150 (160 f.); Röhling, S. 131; Scheffler, S. 118; Bleckmann, Europarecht, Rn. 219.

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Soweit es um abstrakt-generelle Regelungen geht, dürfte es im Ergebnis ebenfalls mit Art. 190 EWGV unvereinbar sein, mit dem Hinweis auf den Kenntnisstand der Mitgliedstaaten die diesen bekannten Erwägungen in der Begründung wegzulassen. Die Mitgliedstaaten werden auch bei den von der Kommission zu erarbeitenden und zu erlassenden Rechtsakten zu den diesbezüglich stattfindenden Beratungen hinzugezogen werden. Aus diesem Grund dürften den Mitgliedstaaten vor dem Erlaß derartiger Rechtsakte durch die Gemeinschaftsorgane nahezu immer sämtliche insoweit maßgebliche Aspekte bekannt sein. Würde man dennoch hinsichtlich des Umfangs der Begründungspflicht auf die Kenntnis der Mitgliedstaaten abstellen, so bestünde die Gefahr einer Aushöhlung des in Art. 190 EWGV obligatorisch vorgeschriebenen Begründungserfordernisses. Ebenso dürfte auch eine Einschränkung der Begründungspflicht allenfalls in Ausnahmefällen und dann auch nur innerhalb enger Grenzen zulässig sein. Jede Einschränkung der Begründungspflicht gefährdet nämlich nicht nur das mit dem Art. 190 EWGV verfolgte Ziel der Selbstkontrolle der Gemeinschaftsorgane, sondern darüber hinaus auch die effektive und umfassende Fremdkontrolle des Gemeinschaftshandelns durch den Europäischen Gerichtshof 47.

3. Vorliegen der Voraussetzungen Mißt man die „Neue Konzeption" an den genannten Kriterien, so dürfte das Begründungserfordernis im Hinblick auf die einzelnen Harmonisierungsrichtlinien als solche sowie die in diesen enthaltenen sicherheitstechnischen Regelungen erfüllt sein. In den jeweiligen Begründungen wird zunächst darauf hingewiesen, daß sich die Harmonisierung jeweils auf diejenigen Bereiche beschränkt, in denen entweder in einzelnen oder aber in sämtlichen Mitgliedstaaten technische Vorschriften zwar den freien Warenverkehr beeinträchtigen, Art. 30 EWGV jedoch deshalb nicht den gewünschten Harmonisierungseffekt bewirken kann, weil diese nationalen Vorschriften zur Erreichung zwingender Erfordernisse ausnahmsweise nach Art. 36 EWGV hingenommen werden müssen. Sachlich wird der Anwendungsbereich der Richtlinien jeweils auf solche einzelstaatliche Schutzmaßnahmen beschränkt, die die Sicherheit von Personen, Haustieren und Gütern sowie die Beachtung anderer wesentlicher Anforderun-

347 Vgl. auch die zutreffenden Ausführungen des Generalanwalts Roemer in seinen Schlußanträgen v. 24.11.1959 in den verb. RS. 4-13 / 59, Mannesmann u.a. / .Hohe Behörde, Slg. 1960 S. 295 (317); ferner Rohling, S. 131; Schejfler, S. 119 f.; Bleckmann, Europarecht, Rn. 220.

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3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

gen zum Schutz des Allgemeinwohls, insbesondere zum Schutz der Gesundheit, der Verbraucher und der Umwelt vor sicherheitsspezifischen Gefahren zum Gegenstand haben 348 . Bezüglich des durch die Richtlinien auf der Gemeinschaftsebene angestrebten Sicherheitsniveaus enthalten die jeweiligen Begründungserwägungen den Hinweis, daß, unter Berücksichtigung des Standes der Technik, das in den Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Produktsicherheit erreichte und gerechtfertigte Schutzniveau durch die Harmonisierung nicht gesenkt werden soll beziehungsweise darf 349 . Daß in den Präambeln die einzelnen sicherheitsspezifischen Vorgaben nicht näher erläutert werden, ist dagegen unschädlich. Da die Richtlinien die mit ihnen verfolgten Ziele und Zwecke jeweils näher erläutern, bestehen insoweit im Hinblick auf den Begründungszwang des Art. 190 EWGV keine rechtlichen Bedenken. Auch der Umstand, daß es in den Harmonisierungsrichtlinien an einer Begründung dafür fehlt, daß aufgrund der Ausgestaltung der Verweisungstechnik den europäischen Normungsverbänden faktisch hoheitliche Befugnisse zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung den Mitgliedstaaten gegenüber übertragen werden, führt im Ergebnis nicht zu einer Verletzung des Art. 190 EWGV, die rechtlich von selbständiger Bedeutung wäre. Da nach der Ausgestaltung des EWG-Vertrages die der Gemeinschaft zugewiesenen Befugnisse grundsätzlich nur durch das in der jeweiligen vertraglichen Ermächtigungsgrundlage bezeichnete Gemeinschaftsorgan ausgeübt werden können, hätte eine derartige Delegation als ein tragendes Prinzip der „Neuen Konzeption" zwar einer gesonderten Begründung bedurft. Die Einbeziehung der Normungsverbände in den Prozeß der Rechtsangleichung in der Form, wie sie in der „Modellrichtlinie" vorgesehen und in den Harmonisierungsrichtlinien verwirklicht worden ist, beinhaltet allerdings bereits eine allgemeine Vertragsverletzung. Ein Fehler in der Rechtsauffassung des handelnden Gemeinschaftsorgans ist ausschließlich eine Frage der materiellen Rechtmäßigkeit des betreffenden Rechtsaktes. Ist danach das Han-

348

Vgl. insoweit exemplarisch die Begründung der „Modellrichtlinie", ABl. EG Nr. C 136 v. 14.06.1985, S. 3. 349 Vgl. die Formulierungen in der Begründung zur Rl. 89 / 392 / EWG des Rates v. 14.06.1989 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für Maschinen, ABl. EG Nr. L 183 v. 29.06.1989, S. 9; Begründung zur Rl. 89 / 336 / EWG des Rates v. 03.05.1989 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die elektromagnetische Verträglichkeit, ABl. EG Nr. L 139 v. 23.05.1989, S. 19; Begründung zur der Rl. 90 / 385 / EWG des Rates v. 20.06. 1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über aktive implantierbare Geräte, ABl. EG Nr. L 189 v. 20.07.1990, S. 17; Begründung zu der Rl. 90 / 396 / EWG des Rates v. 29.06.1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für Gasverbrauchseinrichtungen, ABl. EG Nr. L 196 v. 26.07.1990, S. 15.

§ 5 Vereinbarkeit der Harmonisierungsrichtlinien mit den Art. 190, 191 EWGV

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dein eines Gemeinschaftsorgans bereits als allgemeine Vetragsverletzung zu qualifizieren, so begründet dasselbe Verhalten nicht zusätzlich auch noch eine Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen 350. Unabhängig von dem Umfang der hinsichtlich der einzelnen Harmonisierungsrichtlinien erforderlichen Begründung ist dagegen die Frage zu beurteilen, ob auch die Mitteilungen der Kommission über die Fundstellen der bezogenen Normen vor dem Hintergrund des Art. 190 EWGV gesondert hätten begründet werden müssen. Da diese Mitteilungen zur Durchführung der Harmonisierungsrichtlinien erfolgen und die in diesen Mitteilungen genannten Normen den Mitgliedstaaten gegenüber nach der Veröffentlichung der Normenfundstellen Rechtswirkungen entfalten, dürfte diese Frage aus denselben Gründen zu bejahen sein, aus denen bereits die Erforderlichkeit der Bekanntgabe der Normenfundstellen hergeleitet worden ist. An einer entsprechenden Begründung fehlt es aber 351 . Der Europäische Gerichtshof hat zwar festgestellt, daß hinsichtlich des erforderlichen Inhalts einer Begründung auch praktische Gesichtspunkte, wie etwa die Eilbedürftigkeit oder der Umfang der zu berücksichtigenden Materie, von Bedeutung sein und gegebenenfalls gewisse Einschränkungen rechtfertigen könnten. Im Ergebnis müssen die an die Begründungspflicht zu stellenden Anforderungen den tatsächlichen Möglichkeiten sowie den technischen und zeitlichen Bedingungen angepaßt werden, unter denen ein Rechtsakt ergeht, und dürfen nicht so überzogen werden, daß das mit einer Rechtshandlung verfolgte Ziel als solches in Frage gestellt wird, weil Vorbereitung und Abfassung einer derartigen Begründung soviel Zeit in Anspruch nehmen wür-

350

Vgl. auch EuGH, RS. 2 / 56, Geitling. / .Hohe Behörde, Urt. v. 20.03.1957, Slg. S. 9 (37); Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 190 Rn. 6; a.A. dagegen Bleckmann, Europarecht, Rn. 224, der darauf hinweist, daß eine Abgrenzung der Verletzung der Begründungspflicht von dem in Art. 173 Absatz 1 EWGV geregelten Ermessensmißbrauch äußerst schwierig sei. Obwohl Bleckmann davon ausgeht, daß es häufig nur eine Frage des „individuellen Geschmacks" ist, ob man beim Fehlen einer Begründung beziehungsweise beim Vorliegen einer in sich widersprüchlichen oder nicht schlüssigen Begründung von einer Verfahrensverletzung oder aber von einem Ermessensmißbrauch ausgeht, will Bleckmann der verfahrensrechtlichen Sichtweise deshalb den Vorzug vor dem materiellen Recht einräumen, weil eine Verletzung dieser Verfahrensvorschriften eher zu beweisen sei als ein Ermessensmißbrauch. 351 Vgl. Mitteilung der Kommission 89 / C 155 / 02 im Rahmen der Durchführung der Richtlinie 88 / 378 / EWG des Rates v. 03.05.1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Sicherheit von Spielzeug, ABl. EG Nr. C 155 v. 23.06.1989, S. 2. Vgl. für den Bereich der „Niederspannungsrichtlinie" auch die Mitteilung der Kommission im Rahmen der Durchführung der Richtlinie 73 / 123 / EWG des Rates v. 19.02.1973 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend elektrische Betriebsmittel zur Verwendung innerhalb bestimmter Spannungsgrenzen, ABl. EG Nr. C 184 v. 23.07.1979, S. 1 ff., fortgeschrieben zuletzt durch Mitteilung der Kommission, ABl. EG Nr. C 117 v. 16.05.1989, S. 1.

254

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

den, daß die erlassenen Rechtsakte Gefahr liefen, im Zeitpunkt ihres Inkrafttretens bereits ganz oder teilweise überholt zu sein 352 . Solche Überlegungen können jedoch allenfalls zu einer Einschränkung des Begründungsumfanges, niemals aber zu einem gänzlichen Verzicht auf das Begründungserfordernis führen 353 . Im übrigen liegt der Sachverhalt bei der Mitteilung von Normenfundstellen anders als in den vom Gerichtshof entschiedenen Fällen. Die Ausführungen des EuGH bezogen sich jeweils auf die Festsetzungen von „Frei-Grenze-Preisen" für Getreide, die die Kommission allwöchentlich vorzunehmen hatte. Unter diesen Umständen hielt es der Gerichtshof im Hinblick auf den Begründungszwang für notwendig aber auch ausreichend, daß die Kommission sich im Rahmen der von ihr jeweils abzugebenden Begründung darauf beschränkte, auf die Grundentscheidung, in der die für die maßgeblichen Preisfestsetzungen ausschlaggebenden Bemessungskriterien aufgeführt waren, zu verweisen 354 . Eine auch nur annähernd mit dieser Situation vergleichbare Eilbedürftigkeit besteht bei der Veröffentlichung der Normenfundstellen nicht. Verdeutlicht werden mag dies anhand der Tatsache, daß die Fundstellen der durch die „Spielzeugrichtlinie" des Rates in Bezug genommenen Normen durch die Kommission erst am 23.06.1989 veröffentlicht worden sind, obwohl die jeweils jüngste der von CEN beziehungsweise von CENELEC entwickelten Normen bereits im Dezember 1988 ratifiziert worden war. Da die Europäischen Normen mit Veröffentlichung ihrer Fundstellen Rechtswirkungen entfalten, sind die Mitteilungen der Kommission zu begründen. Zusammenfassend läßt sich daher festhalten, daß die gegenwärtige Vorgehensweise der Kommission bei der Veröffentlichung der Normenfundstellen die Verpflichtung der Gemeinschaftsorgane aus Art. 190 EWGV verletzt.

352

EuGH, RS. 16 / 65, Schwarze. / .Einfuhr- und Vorratssteile für Getreide, Urt. v. 01.12.1965, Slg. S. 1151 (1167); RS. 6 4 / 8 2 , Tradax. / .Kommission, Urt. v. 15.03.1984, Slg. S. 1359 (1379 Rn. 21) - „Cif-Preise für Getreide" - . Vgl. auch Röhling, S. 120; Schmidt, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 190 Rn. 13; kritisch hierzu Scheffler, S. 189. 353

So EuGH, RS. 16 / 65, Schwarze. / .Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide, Urt. v. 01.12. 1965, Slg. S. 1151 (1166 ff.); Müller-Ibold, S. 72 f. 354 Vgl. die Entscheidung der Kommission Nr. 63 / 30 v. 21.12.1962 über die Festsetzung der „Frei-Grenze-Preise" für Getreide, Mehl, Grobgrieß und Feingrieß, ABl. EG v. 24.01.1963, 5. 121 f.

§ 6 Abschließende Zusammenfassung

255

§ 6 Abschließende Zusammenfassung Die „Neue Konzeption" enthält eine dynamische rechtsnormkonkretisierende Verweisung auf von den europäischen Normungsverbänden zu spezifizierende und von den nationalen Mitgliederverbänden in das nationale Normenwerk zu transformierende Europäische Normen. Die Beachtung dieser Normen ist den Herstellern freigestellt. Die Mitgliedstaaten werden dagegen insofern an die in den harmonisierten Normen enthaltenen technischen Spezifikationen gebunden, als ein normgemäßes Verhalten der Hersteller zu einer nur qualifiziert widerlegbaren Tatbestandsbindung hinsichtlich der Feststellung führt, ob ein Produkt im Anwendungsbereich einer Harmonisierungsrichtlinie den in dieser Richtlinie zwingend vorgeschriebenen sicherheitstechnischen Mindestanforderungen genügt. Bei diesen sicherheitstechnischen Vorgaben handelt es sich um mehr oder weniger präzise abgefaßte Generalklauseln. Die Konkretisierung dieser Generalklauseln erfolgt auf der Grundlage von Mandaten der EG-Kommission. Diese Tätigkeit der europäischen Normungsverbände ist keinesfalls nur deklaratorischer Natur, sondern setzt im Rahmen der durch die Richtlinien vorgegebenen Grenzen eine wirtschaftspolitische Ermessensentscheidung der Normungsorganisationen voraus. Da die Normungsverbände eigenverantwortlich handeln und das Ergebnis ihrer Tätigkeit den Mitgliedstaaten gegenüber Rechtswirkungen in Form einer grundsätzlichen Rechtsbindung entfaltet, beinhaltet das Rechtsangleichungskonzept der „Neuen Konzeption" eine faktische Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen auf die europäischen Normungsverbände. Eine Delegation von Hoheitsbefugnissen auf vertragsfremde Einrichtungen berührt als organisatorisch-institutionelle Maßnahme immer zugleich auch das in Art. 4 EWGV verankerte Prinzip des institutionellen Gleichgewichts. Aus diesem Grund kann eine Delegation von Hoheitsbefugnissen nach der Struktur des EWG-Vertrages nicht durch den Rückgriff auf zu verallgemeinernde andere Vertragsprinzipien gerechtfertigt werden, sondern bedarf, um zulässig zu sein, in jedem Fall einer zur Vornahme solcher organisatorischinstitutioneller Maßnahmen ausdrücklich ermächtigenden vertraglichen Rechtsgrundlage. Da Art. 100 EWGV beziehungsweise Art. 100 a EWGV den Gemeinschaftsorganen nur eine Rechtsangleichung in materieller Hinsicht ermöglicht, verletzt eine faktische Delegation von Hoheitsbefugnissen das Prinzip der begrenzten Einzelzuständigkeit und ist daher vertragswidrig. Selbst wenn man insoweit von der gegenteiligen These ausgeht, daß eine Delegation auch ohne ausdrückliche Handlungsermächtigung vertraglicher Art zulässig ist, so kann dies nur in engen Grenzen gelten, die durch die „Neue Konzeption" jedenfalls überschritten werden. Zum einen fehlt es insoweit bereits an einer erfor-

256

3. Kapitel: Die Zulässigkeit einer Einbeziehung privater Normungsverbände

derlichen Delegationsanordnung des Rates; faktische Delegationen sind in keinem Fall mit dem EWG-Vertrag zu vereinbaren. Zum anderen führt die Delegation zu einer Verlagerung der Verantwortungszuständigkeit, da die Erarbeitung technischer Spezifikationen zur Konkretisierung der in den Richtlinien vorgegebenen grundlegenden Sicherheitsbestimmungen eine wirtschaftspolitische Ermessensentscheidung der europäischen Normungsverbände voraussetzt. Die in Art. 191 Absatz 2 EWGV vorgeschriebene Verpflichtung zur Bekanntgabe ist dagegen weder im Hinblick auf die einzelnen Harmonisierungsrichtlinien noch im Hinblick auf die in Bezug genommenen harmonisierten Normen verletzt. Gleiches gilt für die in Art. 190 EWGV enthaltene Verpflichtung zur Begründung, sofern man diese Aussage auf die Harmonisierungsrichtlinien als solche beschränkt. Zwar führt die fehlende Begründung der Delegation grundsätzlich zu einer Verletzung des Art. 190 EWGV; da dieser Fehler jedoch bereits eine materielle Vertragsverletzung begründet, ist er im Rahmen des Begründungszwanges ohne eigenständige Bedeutung. Eine Verletzung des Art. 190 EWGV liegt jedoch insofern vor, als die in Bezug genommenen Normen bei der Veröffentlichung ihrer Fundstellen in Mitteilungen der Kommission keine gesonderte Begründung erfahren.

4. Kapitel

Reformüberlegungen

§ 1 Vorbemerkung Die Vertragswidrigkeit der in der „Neuen Konzeption" vorgesehenen und mittlerweile gängigen Verweisungstechnik wirft zwangsläufig die Frage auf, wie die Rechtsangleichung auf dem Gebiet der technischen Handelshemmnisse zukünftig in rechtlich unbedenklicher Form praktiziert werden kann. Dabei sei bereits vorab darauf hingewiesen, daß das Ziel dieser Reformüberlegungen nicht darin bestehen kann, die europäischen Normungsverbände gänzlich aus der Rechtsangleichungspolitik der Gemeinschaftsorgane auszuklammern. Insoweit kann nicht unberücksichtigt bleiben, daß sich das gegenwärtig praktizierte Rechtsangleichungsmodell von seiner Effizienz her bewährt hat. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Rückkehr zum Prinzip der Totalharmonisierung in Richtlinien kein gangbarer Weg zur Bewältigung der mit den technischen Handelshemmnissen für den freien Warenverkehr verbundenen Probleme. Hieran vermag letztlich auch die nach Einführung der Einheitlichen Europäischen Akte gegebene Möglichkeit, Rechtsangleichungsakte auf der Grundlage des Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV nunmehr auch mit qualifizierter Mehrheit beschließen zu können, nichts zu ändern. Aus diesem Grund soll im folgenden, aufbauend auf den Ergebnissen der durchgeführten Untersuchung, versucht werden, einige theoretisch denkbare Ansätze aufzuzeigen, wie die Grundstrukturen der „Neuen Konzeption" unter Einbeziehung der europäischen Normung verändert werden können. Dabei gilt es, den in den europäischen Normungsverbänden vorhandenen privaten Sachverstand organisatorisch so in die Rechtsangleichung einzubinden, daß das institutionelle Gefüge des EWG-Vertrages nicht gesprengt wird.

4. Kapitel: Reformüberlegungen

258

§ 2 Mögliche Ansatzpunkte Die Ausführungen zur Vertragskonformität der „Neuen Konzeption" haben gezeigt, daß die Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Verweisungspraxis in erster Linie darauf beruhen, daß durch die Art der Inbezugnahme Europäischer Normen der Rat ihm durch den EWG-Vertrag zur alleinverantwortlichen Wahrnehmung zugewiesene hoheitliche Befugnisse faktisch auf die europäischen Normungsverbände delegiert. Reformüberlegungen, die nicht auf eine grundlegende Neuordnung der Rechtsangleichung auf dem Gebiet der technischen Handelshemmnisse abzielen, haben sich dementsprechend daran zu orientieren, diesen Delegationseinwand zu entschärfen. Dabei bieten sich, aufbauend auf den bislang erzielten Ergebnissen, zwei theoretisch denkbare Möglichkeiten an, die im folgenden zum einen im Hinblick auf ihre Vertragskonformität und zum anderen im Hinblick auf ihre Tauglichkeit als Mittel zur Rechtsangleichung untersucht werden sollen.

/. Beseitigung der den Normen zufallenden Rechtswirkungen Eine Möglichkeit, den Delegationseinwand zu entschärfen besteht darin, die den Normen nach der „Neuen Konzeption" zufallenden Rechtswirkungen zu beseitigen. Praktisch müßte dies bedeuten, daß die Konformität eines Produktes seitens der Mitgliedstaaten sowohl durch deren nationale Gerichte als auch durch deren Verwaltungsbehörden ausschließlich am Maßstab der jeweiligen Harmonisierungsrichtlinien zu beurteilen wäre. Eine wie auch immer geartete rechtliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten, ein Produkt bei normenkonformer Herstellungsart als richtlinienkonform und damit als verkehrsfähig anzusehen, dürfte nicht bestehen. In den Harmonisierungsrichtlinien könnte zwar auch weiterhin in rechtsnormkonkretisierender dynamischer Form auf technische Normen verwiesen werden. Von dieser Verweisung gingen aber keinerlei rechtliche Wirkungen mehr aus. Die Verweisung hätte mithin nur einen beschreibenden Charakter. Im Hinblick auf die Vorgaben des EWG-Vertrages bestünden gegen ein solches Harmonisierungskonzept keine Bedenken1. Eine Delegation von Hoheitsbefugnissen läge bereits deshalb nicht vor, weil den bezogenen Normen lediglich ein Informationscharakter zuzuschreiben wäre, die Verweisung mithin

1

Vgl. auch Starkowski,

S. 117.

§ 2 Mögliche Ansatzpunkte

259

also keine rechtliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten begründen würde, die bezogenen Normen als inhaltlich zutreffende Konkretisierung der Richtlinienvorgaben anzusehen2. Mangels originärer Rechtswirkungen bedürften die in Bezug genommenen Normen weder der Veröffentlichung beziehungsweise der Bekanntgabe in entsprechender Anwendung des Art. 191 EWGV noch einer eigenständigen Begründung nach Art. 190 EWGV. Gerade die Tatsache, daß bei einem solchen Modell von den bezogenen Normen keinerlei Rechtswirkungen mehr ausgehen könnten, läßt dieses Konzept allerdings als ungeeignet zur Verwirklichung einer umfassenden Rechtsangleichung auf dem Gebiet der technischen Handelshemmnisse erscheinen3. Insoweit ist zu berücksichtigen, daß das Ziel der Rechtsangleichung in einer umfassenden Harmonisierung besteht, die zur Schaffung eines Binnenmarktes führen soll. Angeglichen werden sollen und müssen diejenigen Bereiche, in denen nicht bereits die konsequente Anwendung des Art. 30 EWGV zur Sicherung des freien Warenverkehrs führt. In diesen Bereichen kann eine umfassende Harmonisierung über das Mittel der Rechtsangleichung nach Art. 100 a EWGV jedoch nur dann zum Erfolg führen, wenn die Konkretisierung der in den Grundsatzrichtlinien des Rates enthaltenen, generalklauselartig formulierten Sicherheitsvorgaben in für die Mitgliedstaaten grundsätzlich verbindlicher Form erfolgt. Diesen praktischen Bedürfnissen vermag das vorgestellte Konzept nicht Rechnung zu tragen. Die vom Rat beschlossenen Harmonisierungsrichtlinien allein können eine umfassende Harmonisierung bereits deshalb nicht bewirken, weil die in ihnen enthaltenen Sicherheitsvorgaben, gemessen an den Bedürfnissen der Rechtsanwender, relativ unbestimmt sind und den Rechtsanwendern, insbesondere den mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichten, einen erheblichen Ermessensspielraum bei der Beurteilung der Frage eröffnen, ob im konkreten Einzelfall ein Produkt den gesetzlichen Anforderungen genügt oder nicht. Diese Unbestimmtheit begründet zwangsläufig die Gefahr, daß in den einzelnen Mitgliedstaaten auch auf der Grundlage der Richtlinienvorgaben im Einzelfall die an die Verkehrsfähigkeit eines Erzeugnisses zu stellenden Anforderungen unterschiedlich beurteilt werden 4. Zwar dürften die mitgliedstaatlichen Behörden bereits

2

Vgl. bereits oben S. 192 ff.

3

Zweifelnd auch Starkowski

t

S. 117.

4

Vgl. hierzu auch Starkowski,

a.a.O.

260

4. Kapitel: Reformüberlegungen

aus tatsächlichen Gründen kaum in der Lage sein, die Richtlinienkonformität eines jeden in den Anwendungsbereich einer Harmonisierungsrichtlinie fallenden Produktes unmittelbar am Maßstab der gesetzlichen Vorgaben zu beurteilen. Dieser Umstand spricht dafür, daß die mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte sich bei der Beurteilung der Produktsicherheit von Erzeugnissen an den bezogenen Normen auch dann orientieren, wenn diese keinerlei Rechtswirkungen entfalten. Ein aus der Sicht der Hersteller akzeptables Maß an Rechtssicherheit für eine solche Vorgehensweise der Mitgliedstaaten besteht allerdings nicht. So sind die Hersteller, selbst wenn man davon ausgeht, daß normenkonforme Produkte von der Mehrzahl der Mitgliedstaaten in aller Regel als richtlinienkonform behandelt werden, dennoch nicht davor geschützt, daß einzelne Mitgliedstaaten neben dem Nachweis der Normenkonformität nicht doch noch weitere zusätzliche Anforderungen an die Produktsicherheit stellen. Diese Gefahr dürfte insbesondere dann nicht von der Hand zu weisen sein, wenn in einzelnen Mitgliedstaaten vor der Rechtsangleichung auf Gemeinschaftsebene rechtliche Regelungen bestanden, denen zufolge strengere Anforderungen an die Produktsicherheit zu stellen waren, als sie in den Europäischen Normen Aufnahme gefunden haben. Da die harmonisierten Normen immer nur die Richtlinienvorgaben konkretisieren, dürfte gleiches auch dann gelten, wenn ein Mitgliedstaat sich bei der Abstimmung nach Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV gegen die Annahme einer Harmonisierungsrichtlinie ausgesprochen hat, weil seiner Ansicht nach die in der Richtlinie vorgesehenen Sicherheitsvorgaben ein hinreichend hohes und damit für den betreffenden Mitgliedstaat akzeptables Schutzniveau nicht gewährleisten. Auch in diesem Fall bleibt letztendlich die Gefahr bestehen, daß überstimmte Mitgliedstaaten versuchen werden, die nationalen Vorstellungen, die sich auf der Gemeinschaftsebene nicht haben durchsetzen lassen, auf dem Umweg über eine von den in den Normen enthaltenen Spezifikationen abweichende, enge Auslegung der Richtlinienvorgaben bei der Beurteilung der Produktsicherheit von Erzeugnissen beizubehalten. Im übrigen verdeutlicht bereits die gegenwärtige Ausgestaltung der „Neuen Konzeption", daß die Gemeinschaftsorgane selbst davon ausgehen, daß ohne das Prinzip der Verweisung auf Normen mit den von dieser Verweisung den Mitgliedstaaten gegenüber ausgehenden Rechtswirkungen der gewünschte Harmonisierungseffekt nicht erreicht werden kann. Der Grundgedanke der „Neuen Konzeption" beruht darauf, den Herstellern gemeinschaftsweit einheitliche Standards zur Verfügung zu stellen, bei deren Einhaltung sie regelmäßig darauf vertrauen können, daß ihr Produkt in allen Mitgliedstaaten aus produktsicherheitsspezifischen Gesichtspunkten einschränkungslos verkehrsfähig ist. Erst die

§ 2 Mögliche Ansatzpunkte

261

Tatsache, daß es den Mitgliedstaaten im Regelfall gerade nicht freigestellt ist, die Produktsicherheit normenkonformer Erzeugnisse unmittelbar an den in das jeweilige nationale Recht transformierten Richtlinienvorgaben zu beurteilen und gegebenenfalls aus eigener Kompetenz unter Hinweis auf diese Vorgaben abschließend zu verneinen, führt zu dem angestrebten Harmonisierungseffekt. Gleichzeitig bildet diese Bindung der Mitgliedstaaten an die in den Richtlinien in Bezug genommenen Normen auf der Herstellerseite den Anreiz dafür, die eigene Produktion an die in den Normen enthaltenen Spezifikationen auszurichten. Es bestünden nicht unerhebliche und damit, gemessen an der Funktion der Rechtsangleichung, nicht hinnehmbare Zweifel daran, ob sich ein entsprechendes Vertrauen auf Seiten der Hersteller auch dann entwickeln könnte, wenn den Herstellern nur die bloße Chance in Aussicht gestellt werden würde, daß die mitgliedstaatlichen Behörden normenkonforme Erzeugnisse in der Praxis ohne weiteres als richtlinienkonform akzeptieren. Entfalteten die bezogenen Normen keinerlei Rechtswirkungen, so wäre das Ziel einer umfassenden Harmonisierung der nationalen Produktsicherheitsvorschriften auf einem gemeinschaftsweit einheitlichen Standard im übrigen bereits dann als gescheitert anzusehen, wenn auch nur in einem Mitgliedstaat weitergehende Anforderungen an die Produktsicherheit und damit auch gleichzeitig an die Verkehrsfähigkeit eines Erzeugnisses gestellt werden, als sie in den bezogenen Normen festgelegt worden sind. Bereits in einem solchen Fall wäre eine gemeinschaftsweite Harmonisierung auf dem betroffenen Rechtsgebiet gescheitert. Insbesondere könnten die Mitgliedstaaten auch nicht verpflichtet werden, die Aufrechterhaltung einer marktbeschränkenden Maßnahme von dem positiven Abschluß eines Schutzklauselverfahrens abhängig zu machen. Bereits die Existenz eines solchen Schutzklauselverfahrens in der Ausgestaltung, wie es in der „Modellrichtlinie" vorgesehen ist, führt mittelbar wiederum zu einer rechtlichen Bindung der Mitgliedstaaten an die in Bezug genommenen Normen und wirft daher die Frage nach dem Vorliegen einer nach dem EWG-Vertrag nur in den oben aufgezeigten, engen Grenzen zulässigen Delegation von Hoheitsbefugnissen auf. Zu denken wäre allenfalls daran, für die Mitgliedstaaten in dem Fall, daß sie den freien Warenverkehr mit normenkonformen Produkten einschränken, behindern oder ganz untersagen, eine Mitteilungspflicht an die Kommission einzuführen. Hierdurch würde es der Kommission zwar nicht ermöglicht, aus eigener Kompetenz abschließend über die Rechtmäßigkeit der mitgliedstaatlichen Maßnahme zu entscheiden; die Rechtswidrigkeit der mitgliedstaatlichen Anordnung könnte mit verbindlicher Wirkung allenfalls der Europäische Gerichtshof in dem zeitaufwendigen Vertragsverletzungsverfahren

262

4. Kapitel: Reformüberlegungen

nach Art. 169 EWGV feststellen. Immerhin würden derartige Mitteilungen der Kommission es aber erlauben, den sich ändernden mitgliedstaatlichen Anforderungen an die Produktsicherheit über die Vergabe neuer Normungsmandate an CEN und CENELEC Rechnung zu tragen. Letztlich steht und fällt die Funktionsfähigkeit eines Konzeptes, dessen Inhalt zufolge zwar grundsätzlich am Prinzip der rechtsnormkonkretisierenden Verweisung festgehalten wird, die Verweisung für die Mitgliedstaaten aber nicht zu einer rechtlichen Bindung an die Verweisungsobjekte führt, mit der Bereitschaft der Mitgliedstaaten, die bezogenen Normen als inhaltlich zutreffende Konkretisierung der gesetzlichen Grundsatzvorgaben anzuerkennen. Angesichts der verbleibenden Zweifel, ob die Mitgliedstaaten hierzu insbsondere in den Fällen auch tatsächlich bereit sein werden, in denen sich entweder die Vorstellungen der eigenen Normungsverbände im Verfahren der Normenaufstellung auf der Gemeinschaftsebene oder aber diejenigen der Mitgliedstaaten selbst bei der Rechtsangleichung nach Art. 100 a Absatz 1 Satz 2 EWGV nicht haben durchsetzen lassen, dürfte auf diesem Wege die angestrebte Rechtsvereinheitlichung und damit verbunden ein Höchstmaß an Rechtssicherheit wohl kaum zu gewährleisten sein.

//.

Formelle Rezeption der Normen durch die Kommission 1. Ausgestaltung dieser Konzeption

Eine zweite Möglichkeit zur Entschärfung des Delegationseinwandes besteht darin, daß sich die Gemeinschaftsorgane die Europäischen Normen im Sinne der „Meroni-Rechtsprechung" zu eigen machen5, bevor diese Normen den Mitgliedstaaten gegenüber Rechtswirkungen entfalten können. Diese Konstruktion könnte in der Praxis so aussehen, daß der Rat auch weiterhin Grundsatzrichtlinien erläßt, in denen wie nach der bisherigen Rechtslage die grundlegenden

s Von seinem Gedankengang her ist eine solche Konstruktion nicht neu. Ansätze finden sich bereits bei Rohling, S. 132 ff. Vgl. auch Grabitz, Harmonisierung, S. 78 f., der in diesem Zusammenhang eine Harmonisierungslösung auf ihre vertragliche Zulässigkeit untersucht, bei der in der Verweisungsgrundlage auf mitgliedstaatliche Einrichtungen auf der nationalstaatlichen Ebene verwiesen wird und bei der die Einhaltung der harmonisierten Normen zu einer unwiderleglichen Vermutung für die in den Richtlinien enthaltenen allgemeinen Anforderungen führt. Grabitz sieht in einem solchen Vorgehen eine Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen auf außervertragliche mitgliedstaatliche Stellen, die im EWG-Vertrag nicht vorgesehen und aus diesem Grunde unzulässig sei.

§ 2 Mögliche Ansatzpunkte

263

Sicherheitsanforderungen generalklauselartig festgelegt werden. Gleichzeitig müßte der Rat im Verfahren nach Art. 145 Unterabsatz 3 EWGV der EG-Kommission in den Grundsatzrichtlinien jeweils förmlich die Befugnis übertragen, die in den Harmonisierungsrichtlinien enthaltenen grundlegenden Sicherheitsanforderungen durch für die Mitgliedstaaten verbindliche Rechtsakte zu konkretisieren. Seitens der EG-Kommission könnte die ihr zufallende Aufgabe der Konkretisierung in der Weise erfolgen, daß sie die auf ihre Veranlassung von den europäischen Normungsverbänden erarbeiteten Normen im Anwendungsbereich der jeweiligen Harmonisierungsrichtlinie in einem förmlichen Verfahren für richtlinienkonform erklärt. Am Grundprinzip der rechtsnormkonkretisierenden dynamischen Verweisung könnte insoweit festgehalten werden 6. Ebenso könnten an die in der Grundsatzrichtlinie des Rates erfolgende Verweisung auf die von der Kommission zu erlassenden Rechtsakte dieselben Rechtswirkungen geknüpft werden, wie sie bereits in der „Neuen Konzeption" vorgesehen sind. Die Produktion entsprechend den von der Kommission bestätigten Normen bliebe den Herstellern also auch weiterhin freigestellt. Soweit sie jedoch normgemäß produzieren, würde dies, unter Beibehaltung der bisherigen, in Form der Verwaltung der Normenliste und des Schutzklauselverfahrens bestehenden Kontrollmöglicheiten, zu einer seitens der Mitgliedstaaten nur qualifiziert widerlegbaren Tatbestandsbindung führen. Modifikationen gegenüber der „Neuen Konzeption" ergäben sich letztlich also nur insofern, als die Kommission die harmonisierten Normen förmlich zu bestätigen hätte, bevor diese bestätigten Normen den Mitgliedstaaten gegenüber die bereits nach der bisherigen Rechtslage vorgesehenen Rechtswirkungen entfalten können. Als Rechtsakt für die seitens der Kommission durch die Rezeption der Europäischen Normen vorzunehmende Konkretisierung der Harmonisierungsrichtlinien bietet sich die Entscheidung nach Art. 189 Unterabsatz 4 EWGV an. Diese Entscheidung wäre an sämtliche Mitgliedstaaten zu richten 7. Ihrem Inhalt

6 Ein solches Modell einer formellen Rezeption weist zwar Ähnlichkeiten zur statischen Verweisung auf, ohne einer solchen Verweisungsform aber inhaltlich zu entsprechen. Bei der statischen Verweisung ist der Gesetzgeber von Verweisungsgrundlage und Verweisungsobjekt identisch, wohingegen dieses bei dem hier zur Diskussion gestellten Modell gerade nicht der Fall ist. 7 Die Tatsache, daß der Rechtsakt sich an die Mitgliedstaaten richten muß, steht der Wahl der Entscheidung nicht entgegen. Zwar war ursprünglich beabsichtigt, die Richtlinie als einzige Rechtshandlungsart an die Mitgliedstaaten zuzulassen und Entscheidungen auf solche Akte zu beschränken, die sich an einzelne richten sollten. Die Möglichkeit, Entscheidungen auch an die Mitgliedstaaten zu richten, ist jedoch inzwischen anerkannt, da über diesen Rechtsakt die Gemeinschaftsorgane die Mitgliedstaaten stärker verpflichten können als dies bei Richtlinien der Fall ist. Vgl. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 21 Anm. 12; Bleckmann, Europarecht, Rn. 177; Oppermann, Euro-

264

4. Kapitel: Reformüberlegungen

nach müßte sie sich auf die förmliche Anerkennung und Übernahme bestimmter, nach ihrem Ausgabedatum und ihrer Normblattnummer bezeichneter Normen richten. Die Mitgliedstaaten ihrerseits wären gehalten, die Entscheidungen der Kommission in das jeweilige nationale Recht umzusetzen, mithin also sicherzustellen, daß die rezipierten Normen die in den Harmonisierungsrichtlinien festgelegten Rechtswirkungen entfalten. Rechtstechnisch könnte diese Umsetzung in der Weise erfolgen, daß die Mitgliedstaaten in den Harmonisierungsrichtlinien des Rates verpflichtet werden, die Fundstellen der von der Kommission in den jeweiligen Entscheidungen bestätigten Normen zu veröffentlichen 8. Zwar könnte bei der Wahl des Rechtsaktes grundsätzlich auch daran gedacht werden, daß die Kommission die harmonisierten Normen in Ausführungsrichtlinien bestätigt, zumal die Richtlinie im Verhältnis zur Entscheidung das die Mitgliedstaaten weniger belastende Mittel darstellt 9. Das im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten bestehende Gebot der Verhältnismäßigkeit erfordert es jedoch nicht, die Befugnisse der Kommission bei der Konkretisierung der Harmonisierungsrichtlinien auf das Mittel der Richtlinie einzuschränken. Die Richtlinie

parecht, Rn. 470; Daig / Schmidt, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 189 Rn. 44; Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 189 Rn. 69. Zur Zulässigkeit von Entscheidungen, die sich an sämtliche Mitgliedstaaten richten vgl. EuGH RS. 9 / 70, Grad. / .Finanzamt Traunstein, Urt. v. 06.10.1970, Slg. S. 825 (838 Rn. 5); RS. 20 / 70, Transports Lesage. / .Hauptzollamt Freiburg, Urt. v. 21.10. Ì970, Slg. S. 861 (874 Rn. 5); RS. 23 / 70, Haselhorst. / .Finanzamt Düsseldorf-Altstadt, Urt. v. 21.10.1970, Slg. S. 881 (893 f. Rn. 5). 8 Die Umsetzung der Entscheidungen in das nationale Recht durch die Veröffentlichung der Normenfundstellen ist von konstitutiver Bedeutung. Kommt ein Mitgliedstaat seiner diesbezüglichen Verpflichtung nicht nach, so kann sich der Hersteller eines Produktes, das den von der Kommission anerkannten Normen entspricht, unmittelbar auf die in der Entscheidung der Kommission erfolgte Konkretisierung der Harmonisierungsrichtlinien berufen, wenn dieser Mitgliedstaat die Verkehrsfähigkeit des Erzeugnisses aus produktsicherheitsspezifischen Gründen verneint, ohne daß er die Durchführung eines Schutzklauselverfahrens beantragt bzw. ohne daß die Voraussetzungen für die Durchführung eines Verfahrens überhaupt vorliegen. Die die Mitgliedstaaten insoweit treffende Verpflichtung läßt keinen Platz für einen Ermessensspielraum und ist ihrem Inhalt nach klar und unzweideutig. Eine solche unmittelbare Wirkung auch von Entscheidungen zugunsten der Marktbürger ist in der Rechtsprechung des EuGH anerkannt. Vgl. EuGH RS. 9 / 70, Grad. / .Finanzamt Traunstein, Urt. v. 06.10.1970, Slg. S. 825 (838 Rn. 5 f.); RS. 20 / 70, Transports Lesage. / .Hauptzollamt Freiburg, Urt. v. 21.10.1970, Slg. S. 861 (874 Rn. 5 f.); RS. 23 / 70, Haselhorst. / .Finanzamt Düsseldorf-Altstadt, Urt. v. 21.10.1970, Slg. S. 881 (893 f. Rn. 5 f.). Zu den Voraussetzungen einer unmittelbaren Wirkung von Entscheidungen vgl. Daig / Schmidt, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 189 Rn. 45; Oppermann, Europarecht, Rn. 476; Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 189 Rn. 73. 9

Vgl. zur Geltung des die Wahlfreiheit bei Rechtshandlungen der Gemeinschaftsorgane einschränkenden Gebotes der Verhältnismäßigkeit nur Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 189 Rn. 33.

§ 2 Mögliche Ansatzpunkte

265

bietet sich als Rechtsakt dann an, wenn den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Rechtsakten ein eigenständiger Ermessensspielraum verbleibt. Ein solcher Spielraum besteht sicherlich bei der Umsetzung der Harmonisierungsrichtlinien. Es ist jedoch nicht ersichtlich, welcher eigenständige Ermessenspielraum den Mitgliedstaaten noch verbleiben könnte, wenn die Kommission eine Europäische Norm formell als richtlinienkonform bestätigt10. Außerdem kann nicht unberücksichtigt bleiben, daß an die Mitgliedstaaten gerichtete Entscheidungen für alle Organe der jeweils als Adressaten bezeichneten Staaten einschließlich der nationalen Gerichte uneingeschränkt verbindlich sind 11 . Von ihren Rechtswirkungen den Mitgliedstaaten gegenüber wären die Entscheidungen der Kommission darauf gerichtet, in für die Mitgliedstaaten als den Adressaten dieser Rechtsakte verbindlicher Form festzustellen, daß die von der Kommission anerkannten Normen die in den jeweiligen Harmonisierungsrichtlinien des Rates bezeichneten Rechtswirkungen auslösen12. Die Entscheidungen der Kommission wären insoweit ausschließlich auf die Konkretisierung der jeweiligen Richtlinienvorgaben beschränkt. Die aus diesen Entscheidungen für die Mitgliedstaaten erwachsenden Verpflichtungen wären dagegen bereits in den entsprechenden Harmonisierungsrichtlinien festgelegt. In der Praxis bedeutete eine Entscheidung der Kommission, in der diese durch die Anerkennung von Europäischen Normen die Vorgaben der jeweiligen Harmonisierungsrichtlinien konkretisiert, nicht mehr als daß die Mitgliedstaaten bei solchen Produkten, die den von der Kommission bestätigten Normen entsprechen, regelmäßig von der

10

Es ist allerdings zuzugeben, daß dieses Differenzierungskriterium aufgrund des Umstandes, daß inzwischen auch perfektionierte, inhaltlich verordnungsähnliche Richtlinien für zulässig gehalten werden, mehr und mehr an Bedeutung verliert. Vgl. zur Zulässigkeit detaillierter Richtlinien Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 21 Anm. 29; Bleckmann, Europarecht, Rn. 150; Oppermann, Europarecht, Rn. 460; Daig / Schmidt, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 189, Rn. 37; Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 189 Rn. 59. 11 So ausdrücklich EuGH RS. 249 / 85, Albako Margarinefabrik. / .Bundesanstalt für landwirtschaftliche Marktordnung, Urt. v. 21.05.1987, Slg. S. 2345 (2360 Rn. 17 f.) - Berlin-Buttel Diese Bindungswirkung der Entscheidung kommt dann zum Tragen, wenn die Entscheidung seitens eines Mitgliedstaates zwar korrekt in das nationale Recht umgesetzt worden ist, der Inhalt der Entscheidung jedoch im Widerspruch zu anderen staatlichen Rechtsvorschriften steht. Zu unterscheiden ist dieser Fall von dem einer unmittelbaren Wirkung von Entscheidungen (vgl. oben Fn. 8); bei dem letzteren geht es darum, es einem einzelnen zu ermöglichen, sich gegen die nachteiligen Folgen der Nichterfüllung von vertraglichen Verpflichtungen zu schützen, wohingegen es hier um die Sicherung des Vorrangs des Gemeinschaftsrechtes vor dem nationalen Recht geht. Vgl. EuGH, a.a.O. 12

Die Tatsache, daß ein Rechtsakt ausschließlich feststellenden Charakter hat, steht seiner Klassifizierung als Entscheidung nicht entgegen. Vgl. nur Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 189 Rn. 65.

266

4. Kapitel: Reformüberlegungen

Einhaltung der gesetzlichen Sicherheitsbestimmungen auszugehen hätten. Das Inverkehrbringen derartiger Erzeugnisse könnten sie mithin allenfalls unter den engen Voraussetzungen des Schutzklauselverfahrens einschränken oder verhindern. Weitere Rechtswirkungen gingen von diesem Rechtsakt nicht aus. Der wesentliche Unterschied zur bisherigen Konzeption besteht bei einer solchen Konstruktion darin, daß nicht länger auf Europäische Normen als solche, sondern auf von einem Gemeinschaftsorgan in einem förmlichen Verfahren rezipierte Normen verwiesen würde. Die Normen als solche würden nicht länger Rechtswirkungen entfalten. Rechtswirkungen gingen insoweit ausschließlich von den in Form von Entscheidungen erfolgenden Rechtsakten der Kommission aus, in denen diese die Richtlinienkonformität der Normen bestätigt und damit eine inhaltliche Konkretisierung der richtlinienspezifischen Vorgaben vornimmt. Eine entsprechende formelle Rezeption müßte auch bei Anpassungen der von der Kommission bestätigten Normen an den jeweiligen Stand der Technik erfolgen. Inhaltliche Änderungen der bezogenen rezipierten Normen könnten den Mitgliedstaaten gegenüber mithin erst dann Rechtswirkungen entfalten, wenn die von den Normungsverbänden entweder auf eigene Veranlassung oder aufgrund eines Mandates der EG-Kommission überarbeiteten Normen ihrerseits wiederum von der Kommission in dem bereits angesprochenen Verfahren bestätigt worden sind. Letztlich bedeutet dies nichts anderes, als daß die Kommission jeweils die Normen in einer ganz bestimmten Fassung zu bestätigen hat 13 .

2. Vertragskonformität a) Keine Delegation von Hoheitsbefugnissen

auf außervertragliche

Stellen

Gegen das hier zur Diskussion gestellte Rechtsangleichungsmodell bestehen im Hinblick auf das Delegationsverbot des EWG-Vertrages keine Bedenken. Selbst wenn man zutreffend davon ausgeht, daß die Kommission bei der Konkretisierung der Grundsatzrichtlinien des Rates schematisch auf die von den europäischen Normungsverbänden erarbeiteten harmonisierten Normen zurückgreift, indem sie die Normen ohne eine weitere inhaltliche Kontrolle als richt-

13 Insoweit kann man auch davon sprechen, daß eine solche Konstruktion eine doppelte Verweisung enthält. Während der Rat in der Grundsatzrichtlinie in rechtsnormkonkretisierender dynamischer Form auf von der Kommission zu erlassende Rechtsakte verweist, verweist die Kommission ihrerseits in rechtsnormkonkretisierender statischer Form auf die von den europäischen Normungsverbänden erarbeiteten harmonisierten Normen.

§ 2 Mögliche Ansatzpunkte

267

linienkonform bestätigt, kann von einer Begründung außerordentlicher Entscheidungszuständigkeiten zugunsten der Normungsverbände keine Rede sein. Die Gemeinschaftsorgane sind durch den EWG-Vertrag nicht gehindert, der Rechtsangleichung als solcher vorgelagerte und insoweit vorbereitende Funktionen durch vertragsfremde Organe oder Einrichtungen ausführen zu lassen14. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verbietet es nur, daß originäre Wahrnehmungszuständigkeiten der Gemeinschaftsorgane ohne eine diesbezügliche vertragliche Ermächtigungsgrundlage auf außervertragliche Organisationen und Einrichtungen verlagert werden. Eine solche Verlagerung tritt bei einer formellen Rezeption der Normen bereits deshalb nicht ein, weil die den Mitgliedstaaten gegenüber abschließende Entscheidung, ob eine bestimmte Norm die in der jeweiligen Grundsatzrichtlinie des Rates vorgesehenen Rechtswirkungen entfaltet oder nicht, ausschließlich der Kommission vorbehalten bleibt. Im übrigen kann gegen eine solche Konzeption auch nicht eingewendet werden, daß die Kommission bei der von ihr zu treffenden Entscheidung über die Rezeption einer Norm ohnehin nicht in der Lage ist, die in den Normen enthaltenen Spezifikationen auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundsatzrichtlinien des Rates zu überprüfen. Sieht man einmal davon ab, daß derselbe Einwand auch gegen die nach der „Neuen Konzeption" bestehende Stellung der Kommission im Schutzklauselverfahren sowie bei der Verwaltung der Normenliste geäußert werden könnte, so könnte er allenfalls dann durchgreifen, wenn es zwischen den Normungsverbänden und der Kommission keinerlei institutionalisierte Verbindung gäbe. In der Tat dürfte es nämlich für Außenstehende nur sehr schwer möglich sein, ohne Beteiligung an dem Verfahren der Normenaufstellung mögliche Normenalternativen sowie deren Auswirkungen auf die Produktsicherheit ohne Kenntnis derselben zu beurteilen. Dieses ist jedoch im Verhältnis der Kommission zu den Normungsverbänden nicht der Fall. Die Kommission ist berechtigt, Vertreter zu den Sitzungen des Technischen Büros sowie der Technischen Komitees zu entsenden15. Diese Beteiligungsrechte geben ihr die Möglichkeit, sich über die im Verfahren der Normenaufstellung jeweils abwägungsrelevanten Faktoren zu informieren, denkbare Normenalternativen zu beurteilen und auf der Grundlage dieser Informationen eine Entscheidung über die Bestätigung beziehungsweise Ablehnung einer Norm zu treffen.

14

Vgl. nur Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art. 4 Rn. 11.

15

Vgl. oben S. 202 f.

268

4. Kapitel: Reformüberlegungen

b) Keine Verletzung

des institutionellen

Gleichgewichts

im Verhältnis des Rates zur Kommission Bereits im Hinblick auf das Regelungssystem der „Modellrichtlinie" sind vereinzelt Bedenken geäußert geworden, ob die starke Stellung der EG-Kommission bei der Verwaltung der Normenliste sowie im Schutzklauselverfahren sich überhaupt noch mit dem Prinzip des institutionellen Gleichgewichts verträgt 16 . Insoweit wird darauf verwiesen, daß die vertragliche Grundlage für das Verhältnis des Rates zur Kommission in Art. 155 Unterabsatz 4 EWGV zu sehen sei. Diese Vorschrift erlaube aber keine kriterien- und schrankenlose Delegation von Entscheidungsbefugnissen auf die Kommission. Die Begründung außerordentlicher Entscheidungszuständigkeiten sei durch den Terminus der „Durchführungsvorschriften" von ihrem Umfang her beschränkt. Der Begriff Durchführungsvorschriften verweise auf das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts, das seinerseits wiederum nicht zur Disposition des Rates stehe17. Derartige im Hinblick auf die Rechtslage nach der „Neuen Konzeption" geäußerte Zweifel werfen die Frage auf, ob sich eine weitere Aufwertung der Entscheidungskompetenzen der Kommission überhaupt noch in den Grenzen des nach dem EWG-Vertrag Zulässigen bewegt. Diese Frage ist jedoch nicht unmittelbar anhand des Begriffes „institutionelles Gleichgewicht", sondern anhand einer Auslegung der Art. 145 Unterabsatz 3 EWGV, 155 Unterabsatz 4 EWGV zu klären. Beide Vorschriften sehen eine Übertragung von Durchführungsbefugnissen durch den Rat auf die Kommission vor. Solange eine Delegation sich daher in den Grenzen dieser beiden Regelungen bewegt, solange sich der Rat also darauf beschränkt, Durchführungsbefugnisse auf die Kommission zu übertragen, ist das institutionelle Gleichgewicht zwischen Rat und Kommission jedenfalls nicht verletzt. Weder dem Art. 145 Unterabsatz 3 EWGV noch dem Art. 155 Unterabsatz 4 EWGV läßt sich unmittelbar entnehmen, inwieweit der Rat bestimmte Regelungen selbst vorzunehmen hat, wie detailliert die Grundvorschriften ausgestaltet sein müssen und wieviel Platz der Kommission dementsprechend zur Durchführung der Grundvorschriften überlassen bleiben darf 18 .

16

Joerges / Falke / Micklitz / Brüggemeier, S. 383 ff.

17

Joerges / Falke / Micklitz / Brüggemeier, S. 383.

18

So schon Schindler,

S. 144 fiir den Bereich des Art. 155 Unterabsatz 4 EWGV.

§ 2 Mögliche Ansatzpunkte

269

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zu Art. 155 Unterabsatz 4 EWGV ist der Begriff der Durchfuhrungsvorschrift nach dem Gesamtzusammenhang des Vertrages und entsprechend der in den meisten Mitgliedstaaten geltenden allgemeinen Grundsätze weit auszulegen19. Dem Rat war es daher bereits nach der alten Rechtslage, nach der die Übertragung von Durchführungsbefugnissen nur als Ausnahmefall vorgesehen war, gestattet, der Kommission auch eine weitgehende Beurteilungs- und Handlungsbefugnis zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung zu übertragen 20. Im übrigen sprach eine Vermutung dafür, daß eine Kommissionsentscheidung, in deren Präambel die vom Rat erteilte Zustimmung festgestellt wird, ordnungsgemäß ergangen ist 21 . Letztlich war es insoweit also nicht erforderlich, daß der Rat in der Grundvorschrift bereits sämtliche Einzelheiten regelte. Als erforderlich aber auch ausreichend mußte es dementsprechend angesehen werden, wenn der Rat in den Grundvorschriften jeweils die wesentlichen Grundzüge der zur regelnden Materie selbst festlegte 22. Diese Aussagen des Europäischen Gerichtshofes zu Art. 155 Unterabsatz 4 EWGV müssen erst recht für die Regelung des Art. 145 Unterabsatz 3 EWGV Gültigkeit beanspruchen. Zwar bleibt auch nach dieser Vorschrift der zulässige Umfang einer Delegation insofern unklar, als in ihr die Grenzen zwischen Grund- und Durchführungsvorschriften nicht näher bestimmt werden 23. Darüber hinaus ist auch das Verhältnis des Art. 145 Unterabsatz 3 EWGV gegen-

19

EuGH RS. 23 / 75, Urt. v. 30.10.1975, Rey Soda. / .Cassa Conguaglio Zucchero, Slg. S. 1279 (1302 Rn. 10 / 14); verb. RS. 279, 280, 285, 286 / 84, Urt. ν. 11.03.1987, Walter Rau Lebensmittelwerke u.a. / .Kommission, Slg. S. 1069 (1120 Anm. 14) — „Schadensersatzklage-Weihnachtsbutter"-; RS. 27 / 85, Urt. v. 11.03.1987, Vandemoortele NV. / .Kommission, Slg. S. 1129 (1146 Anm. 14) — „Schadensersatzklage-Weihnachtsbutter" —; vgl. auch RS. 121 / 83, Zuckerfabrik Franken GmbH. / .Hauptzollamt Würzburg, Urt. vom 15.05.1984, Slg. S 2039 (2057 Rn. 13) „Lagerkostenabgabe für Zucker" —. Vgl. auch Bleckmann, Europarecht, Rn. 228; Harnier, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 145 Rn. 18; Grabitz, in: Grabitz, EWGV, Art 155 Rn. 50. 20 EuGH RS. 121 / 83, Zuckerfabrik Franken GmbH. / .Hauptzollamt Würzburg, Urt. v. 15.05.1984, Slg. S 2039 (2057 Rn. 13) - „Lagerkostenabgabe für Zucker" - . 21 EuGH RS. 119 / 81, Klöckner Werke AG. / .Kommission, Urt. v. 07.02.1982, Slg. S. 2627 (2648 f. Rn. 7 f.) - „Erzeugungsquoten für Walzerzeugnisse" - ; RS. 244 / 81, Klöckner Werke AG. / .Kommission, Urt. v. 11.05.1983, Slg. S. 1451 (1478) - „Stahlmarkt-Erzeugungsquoten" 22

EuGH RS. 25 / 70, Einfuhr- und Vorratssteile für Getreide und Futtermittel. / .Köster, Berodt & Co., Urt. v. 17.12.1970, Slg. S. 1161 (1172 Rn. 6). 23

Hummer, in: Grabitz, EWGV, Art. 155 Rn. 67.

270

4. Kapitel: Reformüberlegungen

über Art. 155 Unterabsatz 4 EWGV bislang nicht abschließend geklärt 24 . Nach dem Wortlaut des Art 145 Unterabsatz 3 EWGV steht jedoch jedenfalls fest, daß über diese Vorschrift im Zusammenhang mit der Übertragung von Befugnissen durch den Rat auf die Kommission eine Umkehr des bisherigen Regel-Ausnahmeverhältnisses erreicht werden soll 25 , die nach der Zielsetzung der Regelung ihrerseits wiederum eine gewisse Entlastungsfunktion für den Rat mit sich bringen soll. Diese Zielsetzung legt aber die Schlußfolgerung nahe, daß es durch die Neuregelung zu einer Ausweitung der Durchführungsbefugnisse der Kommission insgesamt kommen sollte 26 . Im Ergebnis weisen diese Überlegungen darauf hin, daß Art. 145 Unterabsatz 3 EWGV hinsichtlich des Umfangs der übertragbaren Befugnisse nicht restriktiv ausgelegt werden kann. Aus diesem Grund dürfte entgegen der oben zitierten Ansicht dem Rat ein weiter Ermessensspielraum zuzubilligen sein, wie weit er im Einzelfall den Rahmen faßt, innerhalb dessen die Kommission tätig werden kann 27 . Die Grenze zwischen den vom Rat zu regelnden Grund- und den auf die Kommission übertragbaren Durchführungsvorschriften dürfte danach jedenfalls dann nicht überschritten sein, wenn die Ratsvorschriften so abgefaßt sind, daß sich die Tätigkeit der Kommission noch als inhaltliche Konkretisierung der in den Ratsvorschriften enthaltenen Vorgaben darstellt 28, selbst wenn

24

Vgl. allgemein zum Verhältnis des Art. 145 Unterabsatz 3 EWGV zu Art. 155 Unterabsatz 4 EWGV Pescatore, EuR 1986, S. 167; Bruha/Münch, NJW 1987, S. 542 ff.; Sedemund/Montag, NJW 1987, S. 546; Harnier, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 145 Rn. 17; Schweitzer, in: Grabitz, EWGV, Art. 145 Rn. 21; amtliche Denkschrift der Bundesregierung zur Einheitlichen Europäischen Akte vom 28.02.1986, BT-DrS. 10 / 6392, S. 19 [23]; Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates vom 16.05.1986, BT-DrS. 10 / 6418 Ziffer 1. Vgl. aber auch die gegenteilige Äußerung des Bundesrates in der Stellungnahme zur amtlichen Denkschrift der Bundesregierung, BT-DrS. 10 / 6392, S. 31 / 32. 25

Vgl. auch Art. 145 Unterabsatz 3 Satz 3 EWGV. Vgl. insoweit EuGH, RS 16 / 88, Kommission. / .Rat, Urt. v. 24.10.1989, Slg. S. 3457 (3485 Rn. 10) - „Ermächtigung der Kommission nach Art. 145 und Ausführung des Haushaltsplans nach Art. 205" —. Aus der Literatur vgl. Bruha / Münch, NJW 1987, S. 542 (543); Harnier, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 145 Rn. 24; Schweitzer, in: Grabitz, EWGV, Art. 145 Rn. 22; Hummer, in, Grabitz, a.a.O., Art. 155 Rn. 67. 26

Im Ergebnis ebenso Schweitzer,

27

So auch Harnier, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Art. 145 Rn. 19.

28

in: Grabitz, EWGV, Art. 145 Rn. 21.

Im Ergebnis ähnlich Harnier, in: G / Τ / E, EWGV, 4. Auflage, Vorbem. zum Fünften Teil, Rn. 19; Hummer, in: Grabitz, EWGV, Art. 155 Rn. 67. Beiden Autoren zufolge soll es bei der Abgrenzung zwischen Grund- und Durchführungsvorschriften ganz allgemein darauf ankommen, daß der Rat das „politisch Wesentliche" zu regeln habe. Gegen die Verwendung des Begriffes „politisch" als Abgrenzungskriterium sprechen jedoch bereits die in Fn. 303 S. 233 geäußerten Bedenken.

§ 2 Mögliche Ansatzpunkte

271

diese Tätigkeit ihrerseits wiederum die Ausübung eines eigenständigen und unter Umständen nicht unerheblichen Ermessensspielraumes voraussetzt. Untersucht man nunmehr die nach der hier vorgeschlagenen Konstruktion der Kommission zuzuweisenden Kompetenzen im Hinblick auf die Regelung insbesondere des Art. 145 Unterabsatz 3 EWGV, so dürften die aufgezeigten Grenzen einer zulässigen Delegation von Befugnissen seitens des Rates auf die Kommission nicht überschritten sein. Dieses muß jedenfalls dann gelten, wenn der Rat, wie dies bereits nach der „Neuen Konzeption" der Fall ist, die in den Harmonisierungsrichtlinien enthaltenen sicherheitstechnischen Vorgaben so präzise abfaßt, daß sie, umgesetzt in nationales Recht, eigenständige Verpflichtungen begründen können, deren Verletzung Sanktionen nach ziehen kann 29 . Zwar erfordert auch die Konkretisierung dieser Sicherheitsanforderungen eine wirtschaftspolitische Ermessensentscheidung, da die Vorgaben des Rates ihrerseits nur generalklauselartig formuliert sind und bei der Konkretisierung eine Vielzahl an abwägungsrelevanten Faktoren in die Entscheidung der Kommission einfließen können30 . Zum einen ist der Rat jedoch bei einer Delegation von Befugnissen nach Art. 145 Unterabsatz 3 EWGV nicht gehindert, auch Ermessensbefugnisse auf die Kommission zu übertragen. Zum anderen ist das Ermessen der Kommission insofern eingeschränkt, als es innerhalb der Grenzen der in den Harmonisierungsrichtlinien enthaltenen Sicherheitsvorgaben auszuüben ist. Diese äußersten Grenzen des jeweils hinzunehmenden Restrisikos im Bereich der Produktsicherheit dürften nach der Terminologie des Europäischen Gerichtshofes „die wesentlichen Grundzüge der zu regelnden Materie" bilden 31 . Dagegen kann es selbst bei einer weiten Auslegung des Begriffes „Durchführungsbefugnisse" im Hinblick auf das institutionelle Gleichgewicht zwischen Rat und Kommission nicht hingenommen werden, daß der Rat auf eine entsprechend präzise Abfassung der Sicherheitsvorgaben mit der Begründung verzichtet, daß mit der Kommission nunmehr ein Gemeinschaftsorgan formell über die Konkretisierung der Harmonisierungsrichtlinien entscheidet. Akzeptabel mögen insoweit gegenüber der „Neuen Konzeption" zwar gewisse Abstriche an die Präzision der Sicherheitsvorgaben sein; Bestrebungen, die im Ergebnis darauf

29

Vgl. Anhang II Teil B, III Ziffer 1 der „Modellrichtlinie", ABl. EG Nr. C 136 v. 04.06.1985,

S. 4. 30 31

Vgl. oben S. 197 ff.; 234 ff.

Im übrigen können etwaige, im Hinblick auf das institutionelle Gleichgewicht bestehende Bedenken durch eine organisatorische Ankoppelung der Kommission an den Willen des Rates gemildert werden. Als Mittel bietet sich insoweit das Verfahren des „Beratenden Ausschusses" an.

272

4. Kapitel: Reformüberlegungen

hinauslaufen, daß in den Harmonisierungsrichtlinien selbst, ähnlich wie in der ,»Niederspannungsrichtlinie" 32, nur noch allgemein gehaltene Sicherheitsziele vorgegeben werden, müssen dagegen zurückgewiesen werden 33 . Bei einer derartigen Festlegung nur der Sicherheitsziele bliebe es im Ergebnis der Kommission überlassen, das jeweils höchzulässige Maß an Gefährdung in teilweise hochsensiblen sicherheitsspezifischen Bereichen festzulegen, ohne daß der Rat insoweit einen Rahmen vorgegeben hätte, innerhalb dessen sich das Ergebnis der Kommission zu bewegen hätte. Die Entscheidung der Kommission könnte unter diesen Umständen nicht mehr als Konkretisierung bezeichnet werden, da es insoweit an konkretisierungsfähigen Vorgaben des Rates fehlen würde. Sicherheitsziele beschreiben immer nur Idealzustände; sie lassen jedoch nicht einmal ansatzweise erkennen, unter welchen Umständen davon ausgegangen werden kann, daß diese Zustände tatsächlich verwirklicht worden sind. Die Bestimmung der äußersten Grenzen des bei der Produktion von Erzeugnissen hinnehmbaren und von der Bevölkerung auch tatsächlich hinzunehmenden sicherheitstechnischen Restrisikos muß demnach als Grundsatzentscheidung dem Rat überlassen bleiben. Ein Tätigwerden der Kommission allein auf der Grundlage von allgemeinen Sicherheitszielen ohne konkrete, wenn auch generalklauselartig formulierte Sicherheitsvorgaben, kann nicht mehr nur als Durchführung bezeichnet werden, sondern beinhaltet in der Terminologie des Europäischen Gerichtshofes selbst das „Wesentliche der zu regelnden Materie"

32 Vgl. Art. 2 Absatz 1 der Rl. 73 / 23 / EWG des Rates vom 19.02.1973 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend elektrischer Betriebsmittel zur Verwendung innerhalb bestimmter Spannungsgrenzen, ABl. EG Nr. L 77 v. 26.03.1973, S. 29 (30): „Die Mitgliedstaaten treffen alle zweckdienlichen Maßnahmen, damit die elektrischen Betriebsmittel nur dann in den Verkehr gebracht werden können, wenn sie — entsprechend dem in der Gemeinschaft gegebenen Stand der Sicherheitstechnik — so hergestellt sind, daß sie bei einer ordnungsgemäßen Installation und Wartung sowie einer bestimmungsgemäßen Verwendung die Sicherheit von Menschen und Nutztieren sowie die Erhaltung von Nutzwerten nicht gefährdet". 33 Vgl. aber insoweit die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 08.04.1987 zur technischen Harmonisierung und Normung in der Europäischen Gemeinschaft, Dok. A 2-54 / 86, ABl. EG Nr. C 125 v. 11.05.1987, S. 85 (86). In Pkt. 7 dieser Entschließung fordert die Kommission vom Rat die Streichung des in Anhang II Teil B, Abschnitt III Ziffer 1 der „Modellrichtlinie" enthaltenen Zusatzes, daß die grundlegenden Sicherheitsanforderungen so präzise abzufassen seien, daß es den für die Ausstellung der Konformitätsbescheinigungen zuständigen Stellen auch bei einem Fehlen entsprechender Normen möglich sei, die Konformität der betreffenden Erzeugnisse unmittelbar am Maßstab der Richtlinienvorgaben zu bescheinigen. 34 Aus denselben Gründen dürfte ein Tätigwerden des Rates in Form einer Neuabfassung der in den Harmonisierungsrichtlinien enthaltenen grundlegenden Sicherheitsvorgaben auch dann erforderlich sein, wenn aufgrund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse beziehungsweise neuerer technischer Entwicklungen die ursprünglichen Vorgaben derartig überholt sind, daß sie den tatsächlich realisierbaren Mindeststandards im Bereich der Produktsicherheit nicht mehr entsprechen. In

§ 2 Mögliche Ansatzpunkte

273

c) Art. 190, 191 EWGV Die von der Kommission im Rahmen der ihr übertragenen Befugnisse zu erlassenden Entscheidungen über die Bestätigung der Europäischen Normen sind nach Art. 191 Absatz 2 EWGV den Mitgliedstaaten bekanntzugeben und nach Art. 190 EWGV mit Gründen zu versehen. Bezüglich des Begründungszwanges stellt sich allenfalls die Frage, ob die Kommission dieser Pflicht nicht dadurch nachkommen kann, daß sie in der Präambel der jeweiligen Entscheidung auf die insoweit maßgeblichen Harmonisierungsrichtlinien verweist. Der Europäische Gerichtshof hat mehrfach festgestellt, daß sich die Begründung eines Rechtsaktes nicht nur aus seinem Wortlaut, sondern auch aus der Gesamtheit der rechtlichen Regelungen des betreffenden Bereiches ergeben kann 35 . Aus diesem Grund bedarf es keiner gesonderten Begründungserwägungen, wenn sich die Umstände und Überlegungen, die zu einer bestimmten Regelung geführt haben, eindeutig aus anderen Maßnahmen ergeben, mit denen die Regelung in einem engen Zusammenhang steht36. Dieses bedeutet insbesondere, daß in der Begründung einer Durchführungsregelung auf die Grundsatzregelung verwiesen werden darf 37 . Allerdings ist das betreffende Gemein-

diesen Fällen würden die in den Harmonisierungsrichdinien enthaltenen Vorgaben nicht mehr einen konkretisierungsfahigen Maßstab darstellen, an dem sich sowohl die Normungsverbände als auch die Kommission orientieren könnten. 35 EuGH RS 92 / 77, An Bord Bainne Cooperative. / .Landwirtschaftsminister, Urt. v. 23.02. 1978, Slg. S. 497 (515 Rn. 36 f.) - ,3eihilfe zur privaten Lagerhaltung" - ; RS. 185/ 83, Rijksuniversiteit Groningen. / .Inspecteur de Invoerrechten, Urt. v. 25.10.1984, Slg. S. 3623 (3641 Rn. 38) - „GZT-Elektronenmikroskop" - ; RS. 303 / 87, Universität Stuttgart. / .Hauptzollamt Stuttgart-Ost, Urt. v. 15.03.1989, Slg. S. 705 (719 Rn. 13) - „Zollbefreiung für wissenschaftliche Apparate" RS. 167 / 88, AGPB. / .ONIC, Urt. v. 08.06.1989, S. 1653 (1686 Rn. 34) ,^mengenmäßige Beschränkung der Investitionskäufe" —. 36

EuGH RS. 18 / 57, Nold. / .Hohe Behörde, Urt. v. 20.03.1959, Slg. 1958 / 59, S. 89 (114); RS. 67 / 63, Sorema. / .Hohe Behörde, Urt. v. 19.03.1964, Slg. S. 321 (352); RS. 16 / 65, Schwarze. / .Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide, Urt. v. 01.12.1965, Slg. S. 1151 (1167); RS. 78 / 74, Deuka. / .Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide, Urt. v. 18.03.1975, Slg. S. 421 (431 Rn. 6) „Denaturierungsprämien für Weichweizen" —; verb. RS. 103 u. 145 / 77, Schölten u. Tunnel Refineries. / .Intervention Board for agricultural Produce, Uit. v. 25.10.1978, Slg. S. 2037 (2074 Rn. 19 / 23); RS. 230 / 78, Eridannia. / .Minister für Landwirtschaft und Forsten, Urt. v. 27.09. 1979, Slg. S. 2749 (2766 f. Rn. 15 f.). 37 RS. 230 / 78, Eridannia. / .Minister für Landwirtschaft und Forsten, Urt. v. 27.09.1979, Slg. S. 2749 (2766 f. Rn. 15 f.); RS. 35 / 80, Denkavit. / .Produktschap Voorzuil, Urt. v. 14.01.1980, Slg. S. 45 (64 Rn. 35 f.); im Ergebnis auch EuGH verb. RS. 294 / 86 u. 77 / 87, Technointorg. / . Kommission und Rat, Urt. v. 05.10.1988, Slg. S. 6077 (6112 Rn. 22) - „vorläufiger Antidumping-

274

4. Kapitel: Reformüberlegungen

schaftsorgan gehalten, seinen Gedankengang näher auszuführen, sofern die von ihm zu treffende Entscheidung erheblich weiter geht als die früheren Entscheidungen38. Überträgt man diese Ausführungen auf die hier zur Diskussion stehende Frage, ob die Kommission die von ihr zu erlassenden Entscheidungen gesondert zu begründen hat oder ob sie ihrer Verpflichtung aus Art. 190 EWGV durch eine Verweisung auf die Begründungen der Harmonisierungsrichtlinien erfüllen kann, so dürfte davon auszugehen sein, daß hinsichtlich der der Kommissionsentscheidung zugrundeliegenden allgemeinen Erwägungen eine Verweisung auf die mit der Grundsatzrichtlinie verfolgten Ziele dem Begründungszwang genügt. Bezüglich der in der Entscheidung vorzunehmenden Konkretisierung der Richtlinienbestimmungen dürfte es dagegen erforderlich sein, die tragenden Gründe wiederzugeben, die dafür ausschlaggebend waren, das in den harmonisierten Normen festgelegte Sicherheitsniveau als zutreffende Konkretisierung der Harmonisierungsrichtlinien zu akzeptieren. Die Notwendigkeit einer gesonderten Begründung ergibt sich insoweit aus dem Umstand, daß der Rat in den Richtlinien immer nur die sicherheitstechnischen Mindestvoraussetzungen für die Verkehrsfähigkeit von Erzeugnissen regelt. Die Erarbeitung technischer Spezifikationen zur Konkretisierung dieser Vorgaben orientiert sich im Rahmen der durch die Harmonisierungsrichtlinien gezogenen Grenzen nicht allein an dem nach dem jeweiligen Stand der Technik maximal erreichbaren Sicherheitsniveau, sondern unter anderem auch an dem Faktor der Wirtschaftlichkeit. Zwar ist zuzugeben, daß es sich bei den in den harmonisierten Normen festgelegten technischen Spezifikationen um eine ausgesprochen technisierte Materie handelt. Dieses hohe Maß an Technizität der zu regelnden Materie bildet aber auch die Ursache dafür, daß in der Regel eine formale Rezeption der harmonisierten Normen erfolgen soll, indem sich die Kommission den Sachverstand der Normungsverbände ohne weiteres zu eigen macht. Die Normungsverbände sind den Zielen der jeweiligen Harmonisierungsrichtlinien, selbst wenn sie aufgrund von Normungsmandaten der EG-Kommission tätig werden, nicht annähernd so umfassend verpflichtet wie die Kommission als Gemeinschaftsorgan. Berücksichtigt man darüber hinaus, daß in der Praxis die Produktsicherheit von Erzeugnissen nicht an den in das nationale Recht umgesetzten Sicherheitsanforderungen der Harmonisierungsrichtlinien, sondern an den in den harmonisierten

zoll" 38

Vgl. EuGH RS. 73 / 74, Papièr Peints. / .Kommission und Jean Marie Pex, Urt. v. 26.11.1975, Slg. S. 1491 (1515 Rn. 3 0 / 3 3 ) .

§ 2 Mögliche Ansatzpunkte

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Normen enthaltenen Regelungen beurteilt wird, so dürfte die Erforderlichkeit einer gesonderten Begründung zu bejahen sein. Hinsichtlich des Umfangs der Begründungspflicht dürfte dabei von den nachfolgenden Grundsätzen auszugehen sein. Je weiter das tatsächlich von der Kommission durch die formelle Rezeption der harmonisierten Normen auf der Gemeinschaftsebene festgelegte Sicherheitsniveau von der nach dem Stand der Technik theoretisch realisierbaren Minimierung des für die Bevölkerung verbleibenden Restrisikos abweicht, desto höhere Anforderungen dürften an den Umfang der nach Art. 190 EWGV erforderlichen Begründung zu stellen sein. Insoweit kann nicht unberücksichtigt bleiben, daß nach dem Rechtsgedanken, wie er in Art. 100 a Absatz 3 EWGV seinen Ausdruck findet, die Rechtsangleichung zu einem möglichst hohen Schutzniveau in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz führen soll. Wenn daher — im Rahmen der grundlegenden Vorgaben der Harmonisierungsrichtlinien — bei der Durchführung Abstriche an das theoretisch mögliche Maß an Produktsicherheit hingenommen werden sollen, so entsteht ein gewisser Rechtfertigungsdruck, welche anderen Faktoren derartige Abstriche rechtfertigen. Dieser Rechtfertigungsdruck muß sich auch im Umfang der Begründung widerspiegeln; nur auf diese Weise kann das Ziel erreicht werden, der Kommission eine wirksame Eigenkontrolle sowie dem Gerichtshof und den Mitgliedstaaten als den Adressaten der Entscheidungen eine wirksame Fremdkontrolle zu ermöglichen. Diese Verpflichtung kann die Kommission auch erfüllen, da sie aufgrund der ihr im Verfahren der Normenaufstellung zustehenden Beteiligungsrechte über den insoweit erforderlichen Kenntnisstand verfügt beziehungsweise sich die erforderlichen Informationen aufgrund der mit CEN und CENELEC vereinbarten Auskunftsverpflichtung 39 ohne weiteres verschaffen kann.

3. Abschließende Bewertung Die hier vorgeschlagenen Modifikationen lassen die „Neue Konzeption" von ihrer Grundstruktur im wesentlichen unverändert, so daß auch die faktische Effizienz dieses Konzeptes gewahrt bleiben dürfte. Allerdings ist zuzugeben, daß die Notwendigkeit, die Kommission als ein Gemeinschaftsorgan in einem

39

Vgl. Punkt 5 der „Allgemeinen Leitsätze für die Zusammenarbeit der Europäischen Gemeinschaften und den Europäischen Normenorganisationen Europäisches Komitee für Normung (CEN) und Europäisches Komitee für Elektrotechnische Normung (CENELEC)" v. 13.11.1984, abgedruckt in DIN-Mitt. Bd. 64 (1985), S. 78 f.

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4. Kapitel: Reformüberlegungen

förmlichen Verfahren über die Annahme der harmonisierten Normen entscheiden zu lassen, in zeitlicher Hinsicht gewisse Verzögerungen mit sich bringen wird. Diese Verzögerungen dürften jedoch hinnehmbar sein, wenn sich Einigkeit darüber erzielen läßt, die von den Normungsverbänden erarbeiteten Europäischen Normen im Regelfall ohne weiteres als inhaltlich zutreffende Konkretisierung der Harmonisierungsrichtlinien zu akzeptieren. Gegen die Annahme, daß sich ein entsprechender Konsens auch tatsächlich erzielen läßt, bestehen im Ergebnis keine Bedenken, da auch die Realisierung der „Neuen Konzeption" die Bereitschaft der Gemeinschaftsorgane voraussetzte, die harmonisierten Normen als Verweisungsobjekte anzuerkennen. Im übrigen sind die gegebenenfalls entstehenden zeitlichen Verzögerungen auch in Relation zu setzen mit der Dauer des Verfahrens der Normenaufstellung. So benötigt CEN zur Erarbeitung eines Normenentwurfes ab dem Beginn der Normungsarbeit in der Regel zwei bis drei Jahre. Ein weiteres Jahr vergeht zwischen der Veröffentlichung des Entwurfes zur allgemeinen Stellungnahme und der Annahme des Entwurfes als Europäische Norm. Schließliph liegen zwischen dem Zeitpunkt der Annahme und dem der Umsetzung der Norm in sämtlichen CEN / CENELEC-Mitgliedstaaten mindestens weitere sechs Monate. Dabei stehen diese Zeitangaben immer unter der Voraussetzung, daß das Normaufstellungsverfahren problemlos abläuft 40 . Nimmt die Aufstellung einer Europäischen Norm aber bereits unter idealen Bedingungen annähernd vier Jahre in Anspruch, so dürften gewisse Abstriche in zeitlicher Hinsicht bei der Rezeption der Normen durch die Kommission die faktische Effizienz eines solchen Modells nicht ernsthaft in Frage stellen. Dies muß erst recht gelten, wenn man berücksichtigt, daß auch nach der bisherigen Rechtslage ein Zeitraum von sechs Monaten zwischen der Ratifizierung einer Norm durch CEN bzw. CENELEC und der Veröffentlichung der Normenfundstelle durch die EGKommission liegt 41 . Der hier vorgeschlagene Weg zur Rechtsangleichung im Bereich der technischen Handelshemmnisse mag den Vorwurf des Formalismus provozieren. In der Tat kann man sich die Frage stellen, warum der Kommission seitens des

40 Vgl. zur Dauer des Normaufstellungsverfahrens auch die Mitteilung der EG-Kommission zum Ausbau der Europäischen Normung - „Grünbuch" —, Kom (90) endg. v. 16.10.1990, ABl. EG Nr. C 20 vom 28.02.1991, S. 1 (12 Anm. 36). 41 Vgl. insoweit für die „Spielzeugrichtlinie" die Mitteilung der Kommission im Rahmen der Durchführung der Richtlinie 88 / 378 / EWG des Rates v. 03.05.1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Sicherheit von Spielzeug, ABl. EG Nr. C 155 v. 23.06. 1989, S. 2.

§ 2 Mögliche Ansatzpunkte

277

Rates die Befugnis übertragen werden soll, die Grundsatzrichtlinien des Rates zu konkretisieren, wenn sich die Kommission zur Erledigung dieser ihr zuzuweisenden Aufgabe ohnehin darauf beschränkt, die von den europäischen Normungsverbänden in ihrem Auftrag erarbeiteten Normen zu bestätigen. Letztendlich ändert sich bei dieser Konstruktion gegenüber dem Rechtsangleichungsmodell der „Neuen Konzeption" materiell nur wenig. Das Sicherheitsniveau auf der Gemeinschaftsebene wird faktisch auch weiterhin ausschließlich durch die europäischen Normungsverbände über die Aufstellung Europäischer Normen bestimmt. Der wesentliche Unterschied zur „Neuen Konzeption" besteht aber darin, daß sich das hier vorgeschlagene Rechtsangleichungsmodell zwanglos in das Gefüge des EWG-Vertrages einordnen läßt, da die durch den Vertrag festgelegten Wahrnehmungszuständigkeiten im Bereich der Rechtsetzung unberührt bleiben. Diese von ihren materiellen Auswirkungen in der Tat eher geringfügige Modifizierung der „Neuen Konzeption" als unnötigen Formalismus zu bezeichnen hieße, die Begriffe Rechtsstaatlichkeit und Formalismus zu verwechseln.

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