Nietzscheforschung: BAND 5/6 Nietzscheforschung Band 5/6 9783050047607

Im Zentrum des Doppelbandes 5/6 der Reihe "Nietzscheforschung" stehen Beiträge der 6. und 7. Nietzsche-Werksta

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Nietzscheforschung: BAND 5/6 Nietzscheforschung Band 5/6
 9783050047607

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Nietzscheforschung Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft Band 5/6

Nietzscheforschung Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft Herausgegeben

Volker Gerhardt und Renate Reschke

von

in Zusammenarbeit mit

J0rgen Kjaer Jacques Le Rider Annemarie Pieper Robert B. Pippin und Vivetta Vivarelli

Akademie

Verlag

Band 5/6

Drucklegung erfolgte mit Unterstützung der Landesregierung Sachsen-Anhalt (Regierungspräsidium Halle) Redaktion: Rüdiger Ziemann und Jacqueline Karl (unter Mitarbeit von Silke Erler) Die

Die Deutsche Bibliothek CIP-Einheitsaufnahme -

Nietzscheforschung : ein Jahrbuch / hrsg. im Auftr. der Förder- und Forschungsgemeinschaft Friedrich Nietzsche e.V. -

Berlin : Akad. Verl. Erscheint jährl.-Aufnahme nach Bd. 1

Bd. 1

(1994)

(1994) -

ISBN 3-05-003233-2

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2000 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der R. Das

Oldenbourg-Gruppe.

eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706.

Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. -

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Satz: Dr. Frank Hermenau, Kassel Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal

Republic of Germany

Inhalt

Salaquarda (1928-1999).9 Siglenverzeichnis.11

In memoriam Jörg

I. Der Nietzsche-Preis Reden anläßlich der Verleihung des Nietzsche-Preises des Landes Sachsen-Anhalt am 24. Oktober 1998 Renate Reschke (Berlin) Laudatio auf Curt Paul Janz.15 Curt Paul Janz (Muttenz) Friedrich Nietzsches Frage nach dem Wesen der Musik.23

II. Forum 6. Nietzsche-Werkstatt Schulpforta „Der Leib ist eine grosse Vernunft" Die Aktualität der Philosophie der Leiblichkeit Friedrich Nietzsches -

(10.-13.9.1997)

Volker Caysa (Münster) Eröffnung.,.37 Volker Caysa (Münster)

Leibkultur und

Rausch.39

Wolf Dietrich (Goslar) Nietzsches Wahnsinn: Somato-psychische Aspekte .61 Christian Hick (Köln) Denken als Symptom Symptome als Gedanken: Zur Kreisgestalt von Nietzsches „großer Gesundheit" .83 -

6

Inhalt

Stephan Günzel (Berlin) Vernünftige Körper? Körper ohne Organe! Nietzsche/Deleuze.105 Cathrin Nielsen (Berlin) -

Der Meduse ins Antlitz schauen ohne zu erstarren Zu Nietzsches ,Physiologie der Kunst' .123 -

Guido Rappe (Karlsruhe)

Nietzsche und der Leib Aktuelle und historische

Perspektiven.135

Dirk Solies (Mainz) Die Kunst eine Krankheit des Leibes? Zum Phänomen des Rausches bei Nietzsche.151 -

Knut Ebeling (Berlin) Der Sand im Gesicht oder Le Corps n'existe pas Georges Bataille zum 100. Geburtstag .163

WolfZachriat (Berlin)

Nietzsches Entwurf einer geistig-leiblichen Aristokratie .177

7. Nietzsche-Werkstatt

Schulpforta

Friedrich Nietzsche und die Kritische Theorie

(23.-26.9.1998) Josef Simon (Bonn)

Nietzsche und der Gedanke einer Kritischen Theorie.195

Christoph Menke (Potsdam) Genealogie und Kritik Zwei Formen ethischer Moralbefragung.209 Stephan Günzel (Berlin) Nietzsches Schreiben als kritische Geographie.227 Martin Mühl (Hofheim a.T.) Nietzsche als „Drehscheibe"? Der Leib und die Normativität der

Grundlagen Kritischer Theorie.245

Stefan Schlagowsky (Hannover)

Mensch Natur? Zur Nachwirkung von Nietzsches Genealogie der Moral auf Horkheimers und Adornos Forderung eines Eingedenkens der Natur im Subjekt .261 -

Harald Lemke (Hamburg) Nietzsche: Kritische Theorie als Ethik.279 Karsten Fischer

(Berlin)

„Schritt für Schritt in der décadence ..." Zur Dialektik der

Aufklärung bei Nietzsche und Adorno.293

Inhalt

1

Bernd Kulawik (Berlin) Wagnerkritik als Kulturkritik der Moderne bei Nietzsche und Adorno .305

III. 5. Dortmunder Nietzsche-Kolloquium

(9.-11.7.1997)

„denn ich liebe es schreibend zu denken". Der junge Nietzsche

(1844-1864)

Hermann Josef Schmidt (Breckerfeld)

Eröffnung.321 Hermann Josef Schmidt (Dortmund)

„stets mein Vorhaben, ein kleines Buch zu schreiben" Nietzsches Leben und Texte 1844-1864, ein Überblick.325

(Dortmund) Hexensprache der Vernunft

Kurt Jauslin

Bilderfluchten und Flucht der Bilder in den Kindertexten Friedrich Nietzsches .345 Hans Gerald Hödl (Gloggnitz) „Vom kleinen Stockphilister zum Kritiker der greisenhaften Jugend" Reflexionen zum Kontext von Bildungsprogramm und Selbstentwürfen Nietzsches 1858-1865. Selbst ein Entwurf.369 Pia Daniela Volz (Ulm) „Mein Träumen und mein Hoffen?" Narzißtische Traumstimmung und Traumdichtung beim jungen Nietzsche .383 Renate G. Müller (Dortmund) EIMAPMENH, MOIPA, TYXH / FATUM, SORS, FORTUNA Zu verschiedenen Aspekten von „Schicksal" beim jungen Nietzsche.405

Rüdiger Ziemann (Langenroda) Ein Logis im Saalthale. Mutmaßungen über den Dichter Ernst Ortlepp.417 Johann Figl (Wien) Die „Ausbildung der Seele erkennen" Die Bedeutung der frühen Texte Nietzsches innerhalb seiner Philosophie im ganzen.433 Wiebrecht Ries (Hannover) Das Bewußtsein des Unglücks Zu thematischen Parallelen in der Kindheits- und Jugendgeschichte Hölderlins, Nietzsches und Kafkas .443

IV. Aufsätze Wilhelm Schmid (Berlin) er nicht das Pferd geküßt? Nietzsche als ökologischer Philosoph .459 Hat

Reinhart Maurer (Bad Harzburg/Berlin) Nietzsche ökologisch? Der Wille zur Macht und die Liebe zu den

Dingen.467

Sigridur Thorgeirsdottir (Reykjavik)

Die Kritik essentialistischer Bilder der Frauen in Nietzsches Spätphilosophie und ihre Bedeutung für philosophische Theorien der Geschlechterdifferenz.487 Elke Wachendorff(München) Friedrich Nietzsches Gedanke der „aesthetischen

Thätigkeit" .501

Birgit Recki (Hamburg) Über die „Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen"

Friedrich Nietzsches Kulturphilosophie zwischen Ästhetik und Ethik.521 Claudia Marra (Nagasaki) Der Einfluß von Nietzsches Zarathustra auf Karl Mays Im Reiche des silbernen Löwen.539 Christa Davis Acampora (Orono) Nietzsche's Problem of Homer .553 Hans-Martin Gerlach (Leipzig) Nietzsches Denken zwischen „aristokratischem Radikalismus" und

„Psychopathia spiritualis"? Zur Nietzsche-Rezeption der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts und der Haltung der deutschen Linken.575

V. Rezensionen Reinhard Gasser, Nietzsche und Freud (Müller-Buck).591 Nietzsche und der Weltgang der Hybris. Anmerkungen zur Historisch-kritischen Ausgabe von Friedrich Nietzsches Werken auf CD-ROM (Axel Stoller).594

Personenverzeichnis.599 Autorenverzeichnis .609

Abbildungsverzeichnis.611

Salaquarda (1928-1999)

In memoriam Jörg

Jörg Salaquarda plötzlich und unerwartet verstorben. Die nationale und internationale Nietzsche-Forschung hat einen unersetzlichen Verlust erlitten. Jörg Salaquarda war seit 1989 Universitätsprofessor für Philosophie, Religionsphilosophie und Religionskritik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. 1973 hatte er sich an der Freien Universität Berlin für das Fach Philosophie und 1988 an der Universität Wien für das Fach Religionsphilosophie habilitiert. Vor seiner Berufung nach Wien war er in Lehre und Forschung an der Freien Universität Berlin, an der Kirchlichen Hochschule Berlin und an der Universität Mainz tätig. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit lagen auf den Gebieten der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts, der allgemeinen Religionsphilosophie, der Ethik und Metaphysik. Mit Arbeiten zu Arthur Schopenhauer, Karl Jaspers und vor allem zuerst und zuletzt zu Friedrich Nietzsche hat er sich unverwechselbar in die geistige Landschaft der Philosophie eingeschrieben und wird einer ihrer herausragenden Vertreter bleiben. Durch seine jahrzehntelange intensive Beschäftigung mit dem Denken Friedrich Nietzsches hat er dazu beigetragen, ein Verständnis des Philosophen zu fundieren, das sich jeder Inanspruchnahme durch ideologische Zugriffe widersetzt. Mit dem ausdrücklichen Verweis auf die Redlichkeit Nietzsches wollte er wie sein Lehrer Wolfgang Müller-Lauter nicht nur dem Philosophen selbst, sondern auch seinen Interpreten die Schwierigkeit einer kompromißlosen Intellektualität nicht ersparen. Eher unspektakulär hat er mit seinen Forschungsthemen und systematischen Fragestellungen maßgeblich dazu beigetragen, die philosophische Versachlichung im Umgang mit Nietzsche, auch mit dessen umstrittenen und ambivalenten Themen und Thesen, zu befördern. Vordergründige Provokation war seine Sache nicht. Die Ergebnisse seiner innovativen Forschung haben ihm recht gegeben. Als langjähriger Mitherausgeber der Nietzsche-Studien und der Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, durch seine Mitarbeit an der von Giorgio Colli und Mazzino Montinari herausgegebenen Kritischen Gesamtausgabe, als Mitglied in internationalen Gremien der Nietzsche-Forschung, als Mitinitiator des Nietzsche-Dokumentationszentrums Wien und zuletzt als Vorsitzender des Kuratoriums des Nietzsche-Kollegs der Stiftung Weimarer Klassik hat er in Fachkreisen hohes Ansehen genossen. Die Nietzsche-Gesellschaft verliert mit ihm ein Mitglied ihres wissenschaftlichen Beirates. Am 8.6.1999 ist

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Als

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Gründungsmitglied der Gesellschaft hat Jörg Salaquarda in den schwierigen Anfangsjahren und den vielfältigen Konflikten der Wendezeit in intensiver und unaufgeregter Mitarbeit die ganze Kraft seiner Persönlichkeit eingesetzt, ohne die sich die Nietzsche-Gesellschaft national und international nur schwer hätte profilieren können. Er war der Mann der

In memoriam Jörg Salaquarda

10

ausgleichenden Balance, eine integrative Persönlichkeit, in der wissenschaftlichen Diskussion um die Aktualität Nietzsches in diesem Jahrhundert, in den Bemühungen der internationalen Verflechtung der Nietzsche-Institutionen, in den persönlichen Gesprächen mit Kollegen und Freunden. Seine Vorschläge für die internationale Nietzsche-Konferenz der Gesellschaft aus Anlaß des 100. Todestages des Philosophen im August 2000 auf das nächste Jahrtausend lege ich meine Hand". Zeitenwende Wertewende sind die letzten, denen wir uns verpflichtet fühlen und für die wir ihm zu danken haben. Der Band 5/6 der Nietzscheforschung ist dem Gedenken Jörg Salaquardas gewidmet. „...

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Berlin, Juni 1999

Volker Gerhardt Renate Reschke

Siglenverzeichnis

Werkausgaben Werkausgaben nach

den Kritischen

Werk-/Briefausgaben

von

Montinari, Berlin/New York 1967 ff. und 1980. KGW KGB KSA KSB

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Kritische Kritische Kritische Kritische

Giorgio

Colli und Mazzino

Gesamtausgabe, Werke Gesamtausgabe, Briefe Studienausgabe, Werke Studienausgabe, Briefe

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sowie nach der Historisch-Kritischen HKGW HKGB

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Historisch-Kritische Historisch-Kritische

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Gesamtausgabe Werke bzw. Briefe, München

Gesamtausgabe, Werke Gesamtausgabe, Briefe

Siglen einzelner Werke AC BA CV DD DS

Der Antichrist -

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DW EH FW GD GG GM GMD GT HL

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Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten Fünf Vorlesungen

zu ungeschriebenen Büchern Dionysos-Dithyramben

David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller

(Unzeitgemäße Betrachtungen 1) Die dionysische Weltanschauung Ecce homo Die fröhliche Wissenschaft

Götzen-Dämmerung Die Geburt des tragischen Gedankens Zur Genealogie der Moral Das griechische Musikdrama Die Geburt der Tragödie

Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben

(Unzeitgemäße Betrachtungen 2)

1933 ff.

12 IM

Siglenverzeichnis -

M MA NF NW PHG SE

SGT ST VM WA WB

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WL WS ZA WzM

Idyllen aus Messina Jenseits

JGB

von

Gut und Böse

Morgenröthe

Menschliches, Allzumenschliches (I und II) Nachgelassene Fragmente Nietzsche contra Wagner Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen Schopenhauer als Erzieher (Unzeitgemäße Betrachtungen 3) Sokrates und die griechische Tragödie Sokrates und die Tragödie Vermischte Meinungen und Sprüche Der Fall Wagner Richard Wagner in Bayreuth (Unzeitgemäße Betrachtangen 4) Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne

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Der Wanderer und sein Schatten

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Also sprach Zarathustra Wille zur Macht

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I. Der Nietzsche-Preis Reden anläßlich der Verleihung des Nietzsche-Preises des Landes Sachsen-Anhalt am 24. Oktober 1998

RENATE RESCHKE

Laudatio auf Curt Paul Janz anläßlich der Verleihung des Nietzsche-Preises des Landes Sachsen-Anhalt am 24.10.1998

I. Das Land Sachsen-Anhalt ehrt in diesem Jahr mit dem Friedrich-Nietzsche-Preis einen Mann, der auf mehrfache Weise mit dem Namengeber des Preises verbunden ist. Der Preisträger wird für sein Lebenswerk zu Friedrich Nietzsche ausgezeichnet. Der Nietzscheforschung, der

Nietzsche interessierten Öffentlichkeit ist der Basler Musiker und Philologe phil. h.c. Curt Paul Janz vor allem durch seine musikeditorischen und biographischen Arbeiten zu Nietzsche bekannt. Mit der Herausgabe des musikalischen Nachlasses (1976) und der dreibändigen Biographie des Philosophen (1978/79)' hat er der internationalen Forschung in den letzten Jahrzehnten nachhaltige Impulse für das sich differenzierende Verständnis des noch immer umstrittenen Denkers gegeben. Langjährige Stadien, dargelegt in einer Vielzahl an Vorträgen und Aufsätzen, zum Personenumkreis Nietzsches (dem tatsächlichen und dem ideellen), zu Franz Overbeck und Richard Wagner, zu David Friedrich Strauss und Sören Kierkegaard, gehören ebenso zum Spektrum seiner Arbeiten wie die unzähligen Untersuchungen zum musikalischen Schaffen des Philosophen, zu den Musikervorlieben und zu den erklärten Gegnern, zu musikästhetischen und musiktheoretischen Überlegungen, zur klassischen Philologie, zur Philosophie und Ästhetik und immer wieder zu Basel als dem kulturhistorischen Ort mit unverwechselbarem Kolorit, dem Nietzsche widersprüchlich existentiell verbunden war. Musikwelt und der

an

Dr.

gebürtige Basler Janz hat mit seiner Kenntnis der Stadt und ihrer Geschichte dem ambivalenten Verhältais des zugereisten jungen Professors zu Basel, seinen Jahren in der Stadt und seinem Weggang nachgespürt. Nietzsches anfängliche Absicht, lehren zu wollen, sich in der Stadt wohlzufühlen (April 1869),2 wich schnell dem Gefühl des Fremdseins („ich fühle mich unter der Masse meiner geehrtesten Collegen so recht fremd und gleichgültig"), so sehr, daß er Einladungen bald „mit Wollust" zurückwies, weil diese ihm schnell die „Genüsse von Berg Wald und See" verdarben (Juni 1869).3 Später (1888) erinnerte er neben Naumburg, Schulpforta und Leipzig auch Basel als Unglücksort für seine Physiologie (EH VI, KSA 283). Der Umgang mit Jacob Burckhardt, Franz Overbeck und die Ausflüge nach Der

Im folgenden wird die Nietzsche-Biographie von Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Wien 1978/1979, zitiert mit römischer Band- und arabischer Seitenzahl. 2 Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche vom 20.4.1869 (KSB 3, 4). 3 Brief an Erwin Rohde vom 16.6.1869 (KSB 3,16). 1

Biographie, München,

Renate Reschke

16

Richard und Cosima Wagner entschädigten einigermaßen für die Qual der geistigen Enge. Der Weggang aus Basel nach einer zehnjährigen akademischen Karriere wurde als Befreiung empfunden. C. P. Janz hat dem Einfluß dieser kulturellen Atmosphäre große Aufmerksamkeit gewidmet. Basel war nach seinen Worten für Nietzsche das Synonym für die „Periode der längsten Seßhaftigkeit", der Ort, desen er bedurfte, der ihm eine „Mischung von Einsamkeit, Auf-sich-gestellt-Sein und tragender Umgebung" (I, 277) ermöglichte. Sich dem kulturellen und politischen Klima der „Polis" Basel (I, 282) ausgesetzt zu haben, mußte mehr als nur Spuren hinterlassen. Janz hat sie feinsinnig nachgezeichnet und transparent gemacht, wie die Erfahrung von Toleranz und Konservatismus, eigenwilligem Bürgerstolz und Freisinnigkeit im Widerstreit bei Nietzsche nicht nur den beriihmten DynamitGedanken zu entwickeln half, sondern auch seine Entwicklung „zu einem der ersten Europäer moderner Prägung" (I, 279) verdankte sich nach Janz dem prägenden Eindruck der Basler Jahre. So sehr, daß es ihm fraglich scheint, ob der Philosoph (hätte er z. B. eine Dozentur in Leipzig erhalten) zu dem geworden wäre, der er geworden ist. Vita und Philosophie haben für C. P. Janz ihre unwiederholbaren Ursprünge, Gründe und Verläufe. Den Denker in die Zeitumstände zu stellen ist ihm immer wichtig gewesen. Da war und ist er nicht der einzige. Aber er hat auf die scheinbar nebensächlichen Erfahrungen und Umstände aufmerksam gemacht (ohne sie überzubewerten); er hat ihre Bedeutung hervorgehoben für die Herausbildung der großen Ideen: Vertrautheiten und Verdruß im Umgang mit der Basler Alltäglichkeit, die eine nicht zu übersehende Vergleichbarkeit mit der in Naumburg besaß. Zu beiden gab es ein Gegenbild, eine andere Welt, eine in Wagners Nähe erträumte. Das Interesse an den Alltagsquellen hat methodisch Janz' Annäherung an Nietzsche geprägt und bestimmt sie noch immer. Nicht zufällig setzt die große Biographie mit dem zur Redewendung gewordenen: „Habent sua fata libelli" (I, 7) (Bücher haben ihre Schicksale) ein. Ihre Autoren und die Biographen ihrer Autoren auch. Tribschen

zu

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II. Nach eigener Aussage zielte und zielt das wiederholte Interesse des Preisträgers an Nietzsche auf dessen Verhältnis zur Musik und auf das Verständnis der schwierigen Beziehung zwischen der Musik und der Philosophie. Immer wieder hat er den Komponisten und Pianisten, den Musikästhetiker, den Konzert- und Opernbesucher, den Kenner klassischer und moderner Musik, den Kritiker und Freund bekannter und weniger bekannter Musiker und Komponisten seiner Zeit thematisiert. Nietzsches Doppelselbstbild als Philosoph und Musiker, seine Apotheosen der Musik und des Musikalischen, reizten und reizen Janz zur kritischverständigen Besichtigung und Aufarbeitung eines lange brachliegenden Terrains. Aus der Perspektive dessen, der selbst Musiker ist und zugleich die Leidenschaft zur griechischen Antike und zur Philosophie teilt und lebt, der mehr als vier Jahrzehnte dem Basler Sinfonieund Opern-Orchester angehört hat, wiegen Sätze wie die folgenden (leicht klingenden) schwer: „Musik umgreift Nietzsches Leben"4 und „Die Musik ist die einzige Gegebenheit in Nietzsches geistiger Existenz, die sein ganzes Leben umgreift".5 Zwanzig Jahre liegen 4 Nietzsche-Studien 5 Nietzsche-Studien

7/1978, 308. 26/1997, 72.

17

Laudatio auf Kurt Paul Janz

zwischen den Sätzen und doch ist der letztere keine bloße Wiederholung des ersteren. In beiden (und vielen ähnlich lautenden) steckt das Wissen eines ganzen Lebens mit Nietzsche. Sie reflektieren die für Janz vielleicht wichtigste Erkenntnis den Philosophen betreffend und ruhen auf einem Fundament gewichtiger Argumente, Quellen und genauester Nachforschungen. Janz hat es sich nicht leicht gemacht. Nietzsches eigene Hinweise auf die Bedeutung der Musik für ihn, häufig zitiert und selten ernstgenommen, sind ebenso oft mißverständlich unter- wie überbewertet worden. Janz ist ihnen nachgegangen, hat im philosophischen Werk und im musikalischen Schaffen die unterirdischen und offensichtlichen Zusammenhänge aufgezeigt und darauf aufmerksam gemacht, wie sehr Musik und Philosophie bei Nietzsche sich gegenseitig bedingen. Seine Philosophie bestimmt sich nach musikalischen Formgesetzen, und sein Musikverständnis ist nicht ohne den Einfluß seiner Philosophie. Daß Nietzsche kein Augenmensch war, wie Janz es ausgedrückt hat, sondern eher einer, der genau hören konnte, dem Rhythmus, Takt, Klang das Wesentliche waren: Musik gleich Kunst gleich Welt, wenn es denn eine Formel gäbe, eine solche käme Nietzsche entgegen. Nach Janz siedelt Nietzsches Denken im Geiste und in der Musik der Zeit.6 Was es auszeichnet, ist eine unbedingte Affinität zum Besonderen der Musik; Nietzsche wollte sie separiert wissen von den Verstiegenheiten romantischer Kunst-Metaphysik;7 er drängte früh auf ihre Formbestimmtheit und band sie fundierend in sein diätetisches Lebensprogramm. Zwischen Richard Wagner und Peter Gast, zwischen dem Erdrücktwerden von der schweren Inhaltlichkeit bei Wagner und der leichten Bedeutungslosigkeit Gasts spannte sich der Bogen des Faszinosums Musik „für das von der Leidenschaft der Erkenntnis aufgeregte [...] Gemüt".8 Das Schicksal der Musik war dem Philosophen vielleicht das, was ihn (nach eigener Aussage) am meisten anging (März 1888).9 Janz betont denn auch das Existentielle von Musik und Philosophie für Nietzsche: Die Kompositionen und das Kompositorische seines Denkens seien immer „Reaktion auf vielfaltige Eindrücke und Erlebnisse", „sei es, daß sie auf ihn zukamen, sei es, daß er sie aufsuchte". Nietzsche komponierte und dachte nicht abstrakt, er war eindrücklich im Wortsinne, konkret und gehörte zu denen, die „ans Leben gehen".10 Die Trinität zwischen dem leidenschaftlichen Philosophen, dem hochsensiblen Musikkenner und dem Ästhetiker, dem die Kunst nichts als die große Vereinfacherin des Lebens war, figuriert das Janzsche Nietzsche-Bild auf eine ingeniöse Weise. Dabei weiß Janz, daß „das Ganze von Nietzsches Erscheinung" sich darin nicht erschöpft, daß es aber als „ein tragender und erhellender Bestandteil in das Bild vom Menschen und Philosophen Nietzsche"" gehört. Er wollte und will in dieser Einschätzung keine Wertung sehen, sondern den „Gewinn einer Methode, eines zusätzlichen Weges zu seinem Wesen",12 auf den nicht ohne Schaden zu verzichten ist. Mit dem auf über dreihundert Seiten edierten Musikalischen Nachlaß Nietzsches hat C. P. Janz auf eine besondere Weise dieser Methode Rechnung getragen und dem Bild des Philosophen wesentliche Elemente hinzugefügt. Mit der Edition hat er den Blick in die musikalische Werkstatt Nietzsches gelenkt; er ist ihm in der Frage nach dem Warum des komposito6 7 8 9 10 11 12

Nietzsche-Studien 7/1978, 311. Ebd., 326. Ebd., 325. Brief an Heinrich Köselitz vom 21.3.1888 Nietzsche-Studien 27/1997, 86. Ebd., 326. Ebd.

(KSB 8, 275).

Renate Reschke

18

rischen Bemühens ebenso gefolgt wie in der Frage nach dem Wert der Kompositionen. Janz hält sich ganz an Nietzsche, verweist auf dessen Brief an Malwyda von Meysenbug aus dem Jahre 1875,l3 in dem er (3 ljährig) nach dem Hymnus auf die Freundschaft Abstand nimmt von der musikalischen Artikulation, eingedenk des ungenügenden technischen Spielraumes, der ihm zur Verfügung stand. Andere, in der Sache liegende Gründe will Janz nicht ausschließen. Nur den späten Hymnus auf das Leben wollte Nietzsche für sich gelten lassen und hat sich dafür um Veröffentlichung bemüht. Das Moment des Autodidaktischen war immer bewußt und gegenwärtig und reflektiert. Janz betont dies mehrfach, die Schichtungen der Kompositionen bestimmend, seien es Lieder, Arbeiten zu einem Weihnachtsoratorium, zu den Psalmen oder zu sinfonischen Versuchen. Dennoch war die technische Seite nicht die dominierende. Nietzsche sah sich (so Janz) als Medium, er lebte sein Leben, um in sich die furchtbaren Gedanken und die leidenschaftlichen Töne Ausdruck finden zu lassen. Musik wie Philosophie hatten für ihn etwas Dämonisches. Pathos und Intimität gingen eine seltsame Verbindung ein; die Musik Nietzsches steht im Kontext des Persönlichsten, Tiefsten. So gesehen, steht sie den Briefen näher als den philosophischen Schriften.'4 Für Janz ein Grund, den Briefen so große Aufmerksamkeit zu schenken und so große Bedeutung zuzusprechen. Frühe Nachlaßverwalter und Herausgeber, die die Bedeutung der Kompositionen für das Bild des Philosophen unterschätzt haben, konnten auch den Briefen nicht den Stellenwert geben, der ihnen methodisch zukommt. Gerade das Intime besitzt eine hochzuschätzende Verbindung zum Ästhetischen, mithin zum Philosophischen. In dem Janz diese Verbindungslinie freilegt, sie mit beharrlicher Verve in die Nietzsche-Diskurse einlagernd, hat er dem Verständnis des philosophischen und ästhetischen Denkens Nietzsches unersetzliche (Nietzsche würde sagen) Fingerzeige gegeben. Ein Gutteil seiner Modernität liegt hier begründet. Der Philosoph (Ästhetiker) Nietzsche und das Phänomen Musik, dies wäre als Unter- und Hintergrundthema, vor allem aber als Leitthema zugleich zu bezeichnen, das Janz der Nietzsche-Forschung als Aufgabe gestellt und zu dem er selbst eine Reihe der wichtigsten Beiträge geleistet hat.

III. Friedrich Nietzsche hat seinen späteren Biographen mißtraut. Allein seine eigene Autobiographie wollte er gelten lassen: „Alles erwogen, [...] hat es von jetzt an keinen Sinn mehr, über mich zu reden und zu schreiben; ich habe die Frage, wer ich bin, mit der Schrift, an der wir drucken, Ecce homo, für die nächste Ewigkeit ad acta gelegt. Man soll sich fürderhin nie um mich bekümmern, sondern um die Dinge, derentwegen ich da bin" (1888).15 Eine Absage im vorhinein an alle zukünftigen Versuche, sein Leben zu (be)schreiben. Der Aufforderung zum Verzicht konnte weder die philologische noch die philosophische Nachfolge entsprechen.

Nietzsche selbst hat in eben dieser Schrift sein Leben und Denken ambivalent zusammengezogen in ein Spannungsfeld zwischen: „Das Eine bin ich, das Andre sind meine Schriften" (EH VI, KSA 298) und seiner Auffassung, die Redlichkeit des Philosophen liege darin, seine Philosophie zu leben. Wer also Nietzsches Philosophie verstehen will, kann sein Leben nicht

13 Brief an Malwyda Meysenbug vom 2.1.1875 (KSB 14 Nietzsche-Studien 1/1972, 1. 15 Brief an Carl Fuchs vom 27.12.1888 (KSB 8, 553).

5,7).

Laudatio

auf Kurt Paul Janz

19

ignorieren; wer sich seinem Denken nähern will, bedarf der genauen Informationen über ihre Entstehungsbedingungen. Denn: Nietzsche ist kein Begriff für eine abstrakte Philosophie, sondern der Name einer ganz konkreten Persönlichkeit. Seine mehr als einhundertjährige Wirkungsgeschichte wurde begleitet von vielfältigen Lebensbeschreibungen und Erinnerungen von Freunden, Verwandten und Zeitgenossen, von dichterischen und wissenschaftlichen Porträts, oft retuschiert zugunsten egoistischer und ideologischer Interessen. Ausufernde Mythisierungen und politische Inanspruchnahmen oder bewußte Verzerrungen und Fälschungen haben oft (alle kritische Würdigung brüskierend) jede Objektivität im Umgang mit dem biographischen Material vermissen lassen. Der wissenschaftlichen Verdächtigung früherer Werkausgaben mußte sich daher (mit Notwendigkeit) die Überprüfung der Authentizität der tatsächlich oder scheinbar verbürgten Quellen und ihre Neuordnung zur Seite stellen. Ein jahrzehntelanger Prozeß, der immer wieder zum Szenario der Nietzsche-Rezeption gehört hat und weiter gehören wird. Es verwundert nicht, daß in diesem Zusammenhang Namen wie Karl Schlechte und Mazzino Montinari auftauchen. Und der des Preisträgers. Mit seiner umfänglichen Biographie Nietzsches weiß er sich Richard Blunck (dessen Materialkonvolut den 1. Band bildet) und

Karl Schlechtes

„sorglicher Betreuung"16 verpflichtet;

mit Montinari verband ihn ein

„nie

getrübtes Vertrauensverhältnis", ein Gedankenaustausch mit beiderseitigem Gewinn und ein

gleiches Interesse an den Quellen.17 Mit seiner Arbeit steht Janz im Kontext einer großangelegten Versachlichung im Umgang mit Nietzsche. Seine Biographie des Philosophen, darauf hat er verwiesen, erhebt nicht den Anspruch ausschließlicher Gültigkeit. Ihr anregender, impulsgebender Charakter war und ist ihm wichtiger, wenngleich auch Korrekturen, Umdatierungen, neue Dokumente und nicht unbeträchtliche Quellenarbeit als wesentlich gültig nicht unbenannt bleiben sollen. Es ist die unpathetische Präsentation, durch die ein Philosophen-Bild der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsteht, ohne jede spektakuläre Außerordentlichkeit. Eine nüchterne und kompromißlose Faktensprache sichert das Dargestellte vor der voreiligen Vereinnahmung durch vorgeformte Interpretations- und Deutungsmuster. Als ich 1980 auf Anraten Montinaris die Janzsche Nietzsche-Biographie las und in der damaligen DDR (im Umfeld einer vordergründigen Ideologisierung der Philosophie) rezensierte, war es diese Ideologieferne, die Verweigerung gegenüber der Versuchung, sich in wertender Geste auf den Philosophen, sein Leben und Werk zu stürzen, die mir (wie die philologische TextAuthentizität der Colli/Montinari-Werkausgabe) und anderen halfen, die Beschränkungen verdikthafter Zugriffe auf Nietzsche zu überwinden. Als „Lexikon zu Nietzsches Leben" (I, 11) verstanden und gelesen, eröffnete sie mit ihrer Fülle an Materialien den notwendigen Denk-Freiraum, ideologische Verkrustungen aufzubrechen. Eine befreiende Wirkung, die vielleicht nur die würdigen können, die im Wirkfeld der unmittelbaren ideologischen Verteufelung Nietzsches gegen diese die Kraft historisch-differenzierender Kritik mit Argument und Stimme setzen wollten. Es sind die gebrannten Kinder, die empfindlich reagieren, wenn sich hinter Methoden grobschlächtige Ideologien verbergen oder Ideologien zur Methode werden. Und sie sind es auch, die (meist) ein Gespür dafür entwickeln, mit welchen Denkstrategien dagegen zu intervenieren ist. Janz' Ansatz wurde in einem bestimmten historischen Zeitraum als eine solche Strategie empfunden und gelesen. -

16 Curt Paul 17 Ebd.

Janz, „Nachträge zur Nietzsche-Biographie", in: Nietzsche-Studien 18/1989, 426.

Renate Reschke

20

Janz hat die Enthaltsamkeit gegenüber jeder Wertung für sich zum methodischen Prinzip gemacht. Wo ihm Ansätze wertender Interpretation unterlaufen sind, hat er sich für deren Unvermeidbarkeit entschuldigt. Den durch Wunschdenken verzerrten Nietzschebildern sollte kein weiteres hinzugefügt, der Verquickung von Biographie und Werkinterpretation nicht das Wort geredet werden. Janz ging und geht es stets um deren wechselseitige Abgrenzung: Er hat sie notorisch gemacht und problematisch in einem. Ihm ist der Halt an der Grenze wichtig, nicht die Grenzüberschreitung. Er hat „die Kontaktstellen und Grenzübergänge aufgezeigt [...], von denen aus in andere Gebiete weitergeschritten werden kann" (I, 10). Dabei ist die konsequente Arbeit mit den Quellen, ihre erweiternde Ausschöpfung sein methodischer Ansatz, Philosophie und Biographie nicht zu verwechseln. Sein Blick ist auf den Lebensverlauf gerichtet, auf die präzise Darstellung; die Interpretation ist nicht intendiert. Nur so sieht der Preisträger den vorurteilsfreien Zugang zu Nietzsche für sich gewahrt und für andere gewährleistet. Methodisch hat Janz streng unterschieden zwischen der reich dokumentierten Darstellung der Fakten und einer darauf aufbauenden Interpretation. Seine Sache war und ist die Bereitstellung von gesichertem Material, nicht dessen Bewertung oder der Blick auf die Inhalte des philosophischen Denkens. Die Fakten allerdings sind weit gefaßt. Sie implizieren die „Atmosphäre der Zeit" (III, 449) ebenso wie zeittypische Einzelheiten: Zeitschriften z. B., die auf Nietzsches Leben oder Werk nachweislichen Einfluß hatten, Dokumente aus Nachlässen von Zeitgenossen, Notizen, Bibliothekszettel. Es sind aber vor allem die Briefe, in denen Janz (mit Nietzsche) das „eigentliche ,Zeichen der Zeit'" (FW 3, KSA 557) sieht, Lebensdokumente von unvergleichlicher Art. Gegen Nietzsche („Aus meinen Briefen etwas abzudrucken rechne ich zu den großen Vergehungen'"8) sieht er in ihnen gewichtige Zeugnisse für das Verständnis des Philosophen; er hat sie im Sinne des Wortes ausgebeutet, um sein voluminöses Bild Nietzsches zu entwerfen. Zu entwerfen entlang der spannungsvollen Linie zwischen dem Privatesten und seinem Verwobensein in die Genese der Gedanken. Die Briefe dimensionieren Nietzsches Denken biographisch; sie kennzeichnen ihn in seiner ideellen Entwicklung. Durch sie wissen wir über philosophische Gedanken und ihre oft ambivalente Genese, über literarische Pläne, Begriffs- und Metaphernbildungen, über Lebensentwürfe und ihre Realisierung oder ihr Scheitern, über Freundschaften und Entfremdungen, Animositäten und über das für Nietzsche bestimmende Phänomen der Selbstinszenierung. Sie sind nicht das Ganze, aber sie gehören zum Ganzen seiner ,„Mitteilung' an die Welt" (wie es Montinari ausgedrückt hat19). Der philologische und der biographische Zugriff treffen sich in der Akzeptanz der Briefe; sie haben diese Akzeptanz in den Nietzsche-Diskursen folgenreich behauptet. Und sie haben Kritik provoziert und das Nachdenken über den Umgang mit dem Werk und der Biographie Nietzsches weitergetrieben. Das immer begrenzte und begrenzende Gebiet des Biographischen, die minutiöse Rekonstruktion eines ganzen Lebens, der Versuch permanenter Vervollkommnung im Faktischen, hat die Möglichkeit der Biographie selbst an ihre Grenzen gebracht. Es ist eines der Verdienste des Preisträgers, daß von ihm ausgehend diese Grenzen sichtbar und transparent geworden sind. Die systematisch ausgerichtete Philosophie und die thematische oder auf einzelne Lebensabschnitte orientierte Biographieforschung gehen andere Wege, favorisieren andere methodische Ansätze, setzen andere Prioritäten und besetzen und sichern die ausgelassenen Denk- und Methodenfelder. Der -

-

18 Brief an Ernst Schmeitzner vom 14.3.1879 (KSB 19 Mazzino Montinari, „Vorwort" (KSB 1, VIII).

5, 395).

Laudatio auf Kurt Paul Janz

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philologischen und biographischen Akkuratesse stellt sich die philosophische Fragestellung zur

Seite oder entgegen oder nach.

große Nietzsche-Biographie steht nicht nur im Kontext früherer Biographien des Philosophen; sie steht mittlerweile mit den anderen gewichtigen Arbeiten wie denen von Werner Ross, Horst Althaus und Hermann Josef Schmidt in einem weit umgreifenden Panorama der Porträt-Angebote Nietzsches. Der Preisträger selbst hat die Frage nach den Schwierigkeiten von Philosophen-Biographien aufgeworfen und am Modellfall Nietzsche besonders bewußt gemacht. Die Biographie eines Philosophen zu verfassen sei aus der literarischen Tradition nicht herzuleiten. Ihre Rechtfertigung liegt allein in ihrem Material. Und dies auch nur dann, wenn neue Einsichten zu erwarten sind. Janz' Nietzsche-Biographie hat neue Einsichten gebracht, als größte vielleicht die, daß ein (Biographie-)Historiker von Rang nicht der ist, der (wie Janz es gesagt hat) „nur seinen Erntekorb bereitzustellen braucht, um dann abzuwarten, Janz'

bis die Früchte sich alle reif und wohlsortiert darin einfinden", sondern der, der ein ganzes Mosaik aus einzelnen Teilen und Teilchen zu einem Ganzen verbindet.20 Bei Nietzsche erweist sich dies als besonders schwierig. Wohin gehört er? In die Philosophie-, in die Literatur- oder in die Musikgeschichte? Janz hat sich für die Philosophiegeschichte entschieden, ohne die anderen zu negieren. Wie er darin steht, wo seine Bezugspunkte sind, dies aufzuhellen, sieht er als seine Aufgabe, nicht die einer „möglichen Rechtfertigung oder Widerlegung des

Gedankengebäudes selbst".21

IV. Friedrich Nietzsche hat es als Irrtum der Philosophen bezeichnet, daß sie den Wert ihrer Philosophie in ihrem Ganzen, im Bau sehen: „die Nachwelt findet ihn im Stein, mit dem er baute und mit dem, von da an, noch öfter und besser gebaut wird: also darin, dass jener Bau zerstört werden kann und doch noch als Material Werth hat" (KSA, MA 2, 466). Janz hat seine Arbeiten in diesem Sinne stets als Angebote verstanden, mit denen zu arbeiten ist. Daß die Nietzsche-Forschung diese Angebote angenommen hat, darf zu seiner größten Wirkung zählen. Ein Rezensent der Biographie, der im Klappentext der ersten Auflage zitiert wird, hat geschrieben, es sei C. P. Janz gelungen, der erschreckenden Vorstellung einer monumentalen Biographie das Erschreckende genommen zu haben. Ich möchte dies ausdrücklich unterstreichen. Allerdings mit einem Zusatz, der für mich (und sicher für viele andere) unerläßlich ist: Es ist der Punkt, für den sich der Preisträger entschuldigt hat, nämlich, daß Interpretation (wenigstens in Ansätzen) sich manchmal gegen die Intention „eingeschlichen" habe. Ein Glück für alle Leser. Es liegt in seiner Sprache, in der Art und Weise der sprachlichen Präsentation (Hayden White, der amerikanische Philosophiehistoriker, hat vom per definitionem narrativen Charakter aller historischen Darstellung gesprochen22), die über ihre Intention hinaus immer auch ein Interpretationsangebot in Sachen Nietzsche ist. Und zwar eines, in dem

20 Curt Paul Janz, „Probleme der Nietzsche-Biographie", in: Studia Philosophica. Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft Annuaire de la Société Suisse de Philosophie, Vol. XXIV, Basel 1964, 146 f. 21 Ebd., 151. 22 Hayden White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a.M. 1991.

Renate Reschke

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vieles zusammentrifft, nüchterne Faktizität, wissenschaftliche Genauigkeit und die nie ermüdende Leidenschaft des Erkennens des in vielen Tiefen und Oberflächen, in Verletzungen und Masken sich inszeniert-habenden Philosophen Friedrich Nietzsche. Vielleicht war die Musik seine subtilste Maske. Sie und die biographischen Fakten in einer besonderen Form ihres Zusammenhanges verfügbar gemacht zu haben, dafür wird der Preisträger geehrt. Lassen Sie mich mit einem Wort des jungen Hegel über die Originalität und ihr Eingebundensein in eine ganze Kulturlandschaft und Geistessituation schließen: Der originell Handelnde/Denkende ist nach Hegel „gleichsam der, welcher unter Arbeitern sich befindet, die einen steinernen Bogen aufbauen, dessen Gerüst unsichtbar als Idee entstanden ist. Jeder setzt einen Stein auf; einen trifft es, „der letzte zu sein; indem er den Stein einsetzt, trägt der Bogen sich selbst. Er sieht, da er diesen Stein einsetzt, daß das Ganze ein Bogen ist, spricht es aus und gilt für den Erfinder".23 Um dafür gelten zu können, bedarf es eines ganzen Lebenswerkes. Wie im Falle des Trägers des Friedrich-Nietzsche-Preises 1998 Dr. h. c. Curt Paul Janz. -

23 Johannes

Hoffmeister, Dokumente zu Hegels Entwicklung, Stuttgart 1936, 386.

Curt Paul Janz

Friedrich Nietzsches Frage nach dem Wesen der Musik

Die Frage nach dem Wesen der Musik hat Nietzsche von früher Jugend an und bis zum Ende seiner geistigen Existenz ununterbrochen beschäftigt. Das früheste literarische Zeugnis finden wir in seinem ersten Lebensbericht vom Sommer 1858 also vom noch nicht 14jährigen -, in den er unvermittelt ein Traktat Ueber Musik" einschiebt, und die letzten Zeugnisse enthalten Briefe an Heinrich Köselitz und Carl Fuchs von Januar bis Dezember 1888. 1858 schreibt er (u. a.): -



„Gott hat uns die Musik gegeben, damit wir erstens durch sie nach Oben geleitet werden.

Die Musik vereint alle Eigenschaften in sich, sie kann erheben, sie kann tändeln, sie kann aufheitern, ja sie vermag mit ihren sanften wehmüthigen Tönen das roheste Gemüth zu brechen [...]. Ueber wen kommt nicht ein stiller, klarer Friede, wenn er die einfachen Melodien Haidens hört! Die Tonkunst redet oft in Tönen eindringlicher als die Poesie in Worten zu uns [...]. Man muß alle Menschen die sie verachten als geistlose, den Thieren ähnliche Geschöpfe betrachten. [...] Ewig Dank sei Gott von uns gesungen, der diesen schönen Genuß uns darbietet! —" (HKG I, 26 f.) uns

Hier haben wir bereits in nuce eine Definition des Wesens und der möglichen, ja geforderten Wirkung: Musik ist eine nur dem Menschen zugehörige Gabe, ein Ausdrucksmittel, ähnlich der Sprache (sie „redet"), aber diese selbst in deren höchsten Gestaltung, der Poesie, übertreffend. Klar unterscheidet der junge Denker zwischen Wesen und Wirkung oder Aufgabe. 1888 schreibt er am 15. Januar an H. Köselitz:

„Musik giebt mir jetzt Sensationen, wie eigentlich noch niemals. [...] Es ist als ob ich in

einem natürlicheren Elemente gebadet hätte. Das Leben ohne Musik ist einfach ein Irrthum, eine Strapatze, ein Exil." (KSB 8, 231 f.) Und

am

21. März wieder

an

Köselitz:

„Ich kenne nichts mehr, ich höre nichts mehr, ich lese nichts mehr: und trotzalledem giebt Nichts, was mich eigentlich mehr angienge als das Schicksal der Musik." (KSB 8, 275)

es

hier als drohendes Schicksal befürchtet, ist, daß die Musik als Folge der Wagnerschen Verschmelzung mehrerer Kunstformen immer mehr an Eigenständigkeit einbüße und von herangetragenen außermusikalischen sogenannten Inhalten ihrem genuinen Formgefuge entfremdet wird. Es ist diese Befürchtung, die seinem Kampf gegen Wagner zugrundeliegt und die in der derzeitigen Opernregie zum Prinzip erhoben wird. Was

er

Curt Paul Janz

24

Zu einem zentralen Problem wird damit die Frage nach dem Verhältnis von Form und Inhalt, d. h. nach der Bedeutung des ästhetischen Gewandes und der Absicht, die in diesem ästhetischen Gewände von einem „auctor" an einen (oder die) Rezipienten tradiert werden soll. Die präziseste Formulierung dieser Fragestellung scheint mir Georg Simmel gelungen zu sein, wenn er fragt:

„ob die Darstellung dieses Inhaltes oder die Darstellung dieses Inhaltes den Sinn und Wert des Kunstwerkes ausmacht", und er fasst das Urteil Schopenhauers zusammen, „dass das Kunstwerk um seines Inhaltes nämlich der Idee willen besteht, dass alles, was man das Funktionelle der Kunst nennen könnte [...], dass alles dies sein Interesse nur von dem -

-

Interesse

an

der Idee

zu

Lehen trägt, die den jeweiligen Inhalt des Werkes bildet"1

-

eine Auffassung, zu der sich Nietzsche in absoluten Gegensatz stellen wird. Auch die Beachtung dieser Differenz könnte zum Verständnis von Nietzsches Abkehr von Schopenhauer beitragen. Enger gefaßt, weil nur auf die Musik bezogen und mit der Tendenz, das Wesen der Musik in einer Dogmatik zu begrenzen, ist die Frage: Ist die Musik heteronom oder autonom? ", die der Zürcher Musikwissenschafter Hans Conrad 1939 in seiner Dissertation formuliert hat und in der er „autonom" folgendermassen definiert: „

„Die Musik ist fremdgesetzlos und steht in Verbindung mit einer Gegebenheit (z. B. formaler Strukturen), die 1. ausserhalb und ohne Musik und Töne nicht vorkommen kann und 2. an sich maximal unähnlich ist gegenüber aussermusikalischen Gegebenheiten."2 Zu bedenken bleibt aber immer ein „heteronomes" Element: der Komponist, der sich akustischer Signale bedienende Mensch, der „Schöpfer", in Nietzsches Terminologie „der

Schaffende". Denn: wie entsteht Musik,

was

bezeichnen wir als Musik?

„Wie aber bloss zusammengewürfelte Buchstaben kein ordentliches Wort, geschweige einen guten Satz bilden können, so vermag die einfache Zusammenstellung von Tönen keinen ordentlichen Gesang zu bilden",3 so bezieht ein irrtümlich Hucbald zugeschriebenes música enchiridion vom Ende des 9. Jahrhunderts Stellung zur Bedeutung der Form. Nicht eine zufällige, beliebige Folge von Tönen ist Musik, sondern erst ein vom Komponisten geformtes Gebilde. Die Frage nach dem Verhältnis von Form und einem in dieser Form gestalteten „Inhalt", überhöht von der Frage nach dem Wesen der Musik, scheint so alt wie musikalische Äußerungen überhaupt. Dabei beeindruckt und irritiert von allem Anfang an die Erfahrung, daß akustische Signale bestimmbare Töne und Geräusche (Trommeln!) fein abgestufte seelische Reaktionen auszulösen vermögen, und das um so mehr, als diese akustischen Signale in bestimmter, als solche erkennbarer Ordnung auftreten, sei es nun in rhythmischer oder -

-

-

1 2 3

-

Georg Simmel, „Schopenhauer undNietzsche-Ein Vortragszyklus", in: Die Metaphysik der Kunst, Leipzig 1907, 121. Hans Conradin, Ist die Musik heteronom oder autonom?, Bern 1940, 14. Zit. nach Rudolf Schäfte, Geschichte der Musikästhetik in Umrissen, Berlin

1934, 223.

Friedrich Nietzsches

Frage nach dem

Wesen der Musik

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melodischer Gliederung und dynamischer Steigerung. Die Form, das ästhetische Gewand, ist mithin untrennbar verbunden mit der Verstehbarkeit eines „Inhaltes", einer Absicht, diese oder jene Affekte zu erregen oder mystische Ahnungen zu erwecken. Die ältesten faßbaren musikalischen Formen dienen auffallenderweise dem Kult, der Arbeit und dem Mut zum Kampf. Der helle Geist der griechischen Philosophie bemächtigte sich bald der Problematik und entwickelte die noch heute tragenden Grundlagen der Musiktheorie (wir verwenden noch weitgehend die griechischen Termini!), verlor sich jedoch auch in unfruchtbare Spekulationen der Zahlenmystik, die ebenfalls noch heute da und dort weitergeführt werden. Grundsätzlich stehen sich zwei entgegengesetzte Auffassungen gegenüber: die noetische, welche die musikalischen Formen als Geschaffenes erkennt und z. B. bestimmt geformte kultische Gesänge als „nomoi" (gleich wie die staatstragenden Gesetze) bezeichnet, und die mystische, welche die Tonverhältnisse als Abbilder oder Repräsentanten kosmischer Proportionen in ganze Zahlen faßt (Pythagoras). Das Mittelalter hat viel von diesem Gut übernommen, und es ist der in geistigen Dingen dominierenden Kirche gelungen, auch die Musik vollkommen in den Dienst ihrer Absichten zu stellen, sowohl ihren Inhalt wie die gemäße Form zu bestimmen. Mit Weihwasser, Weihrauch, Hostie, Ausstattung und Musik verfügte sie über das ganze ästhetische Instrumentarium. Der schweizerische Protestantismus hat mit all dem gründlich aufgeräumt. Aus der Kirche verschwanden nicht nur die Bilder, sondern auch die Orgeln. Anders der musische Luther selber Komponist von Kirchen- resp. religiösen Kampfliedern wie „Ein feste Burg". Er blieb der Musik näher, wenn er sie auch nur als Vehikel der Verkündigung rechtfertigte, wie aus seinem Vorwort zum Geistlichen Gesangbüchlein des Johann Walter hervorgeht. Wie schon seit Augustins Zeiten blieb die Musik auch in der nachreformatorischen Kirche eine „ancilla ecclesiae", und erst der gewaltige Geist eines Johann Sebastian Bach vermochte ihr selbst in dieser Rolle eine Grosse und eigenständige formale und inhaltliche Entwicklung zu geben, die sie weit über den ihr von der Dogmatik gesteckten Rahmen hinaushob. Das war die geistige Situation, die Stellung der Musik, in die Nietzsche hineingeboren wurde und die er zuerst im lutherisch-reformierten Naumburg als Kind einer noch jungen Pfarrerswitwe erfuhr. Der früheste und auch prägende musikalische Eindruck ist zusätzlich verwoben in ein Ereignis, das als schweres Trauma Nietzsches ganzes Wesen, Fühlen und Denken durchzieht: der frühe Tod des verehrten Vaters. Noch neun Jahre später 1858 schreibt er über die -

-

Bestattungsfeier:

-

-

„Um ein Uhr mittag begann die Feierlichkeit unter vollen Glockengeläute. Oh, nie wird

sich der dumpfe Klang derselben aus meinem Ohr verliehren, nie werde ich die düster rauschende Melodie des Liedes ,Jesu meine Zuversicht' vergessen!"4, und versucht einen vierstimmigen Chorsatz5 dieses Liedes zu komponieren. So tief war der musikalische Eindruck in das damals keine fünf Jahre zählende Kind gedrungen. Einen anderen musikalischen Eindruck, wohl aus dem Herbst 1857, beschreibt er in demselben Rückblick. Es sind Mozarts

4 5

Requiem, Händeis Messias und Judas Makkabäus und

Friedrich Nietzsche, Werke und Briefe, 1. Bd., 5. Friedrich Nietzsche, Der musikalische Nachlaß, hg. im sellschaft v. Curt Paul Janz, Basel/Kassel 1976, 190.

Auftrag

der Schweizerischen Musikforschenden Ge-

Curt Paul Janz

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Haydns Schöpfung, die er nicht nur in äußerlich glanzvollen Aufführungen erlebte, sondern gewissermaßen als „Zaungast" still, für sich, in sich gekehrt, irgendwo im dunklen, anonymen Raum des Naumburger Domes in Proben, zu denen er sich einzuschleichen verstand. Eine seltsame Leidenschaft eines 13jährigen! Gleichzeitig erhielt er Klavierunterricht. Er zeigt eine gute Begabung und entwickelt sich zu einem überdurchschnittlichen Pianisten. Das Klavier wurde eines seiner wichtigsten Ausdrucksmittel im Umgang mit sich und der Umwelt. Reiche Phantasie in der Improvisation und eine ungewöhnliche klangliche Nüancierfähigkeit wurden ihm nachgesagt. Bald drängte es ihn, das so intensiv Erlebte auszudrücken. In Worte zu fassen war es nicht. Also griff er selber zur Musik als dem genuinen Medium: er begann zu komponieren. In dichter Folge reihen sich Versuche zu Motetten, einem Requiem, einer Messe, ausgedehnte Partien zu einem in „Szenen" aufgebauten Weihnachtsoratorium. Mit Datum 4. Juli 1860 vollendet er ein Miserere in einem beachtlichen fünfstimmigen Chorsatz a capella im Stile Palestrinas.6 Diese Arbeiten führten ihn auf das Problem, das aller Kunst inhärent ist: die Bedeutung der Form und ihre theoretische und „handwerkliche" Beherrschung. Wie schreibt man für Klavier, für Orchester, für Chorsänger? Wie entsteht Spannung und Entspannung im Verlauf der Harmonien und der melodischen Linien, also vertikale und horizontale Ordnungen? Schon in dieser Knabenzeit dokumentiert sich als Wesenszug Nietzsches, den Dingen auf den Grund zu gehen. So nimmt er Beethoven nicht nur als Klavierspieler wahr, er beschäftigt sich mit dem Komponisten überhaupt und dessen Lebensweg und erfahrt so den Namen des Lehrers: Johann Georg Albrechtsberger und daß es von diesem eine Kurzgefasste Methode, den Generalbass zu erlernen gäbe. Nietzsche beschafft sich das 1792 erschienene, im Grunde überalterte Werk und studiert autodidaktisch danach die Grundlagen eines harmonischen Satzes und des Kontrapunkts. Die Wirkung der neuerworbenen Kenntnisse ist sogleich in den Entwürfen zum Weihnachtsoratorium in einer stellenweise vorherrschenden Neigung zu formalen Konstruktionen, vierstimmigen Fugen, feststellbar. Er entfernt sich damit von der religiösen Motivation, von der Darstellung des vorgefaßten außermusikalischen Inhalts in Richtung einer eigenständigen, aus ihren genuinen Formgesetzen entwickelten Musik. War schon 1860 das Miserere unter dem Einfluß seines musikalischen Freundes Gustav

Krug entstanden, der sich gerade intensiv mit der Musik zur Zeit Palestrinas beschäftigte, so ist es wieder Gustav Krug, der Nietzsche im April 1861 mit dem soeben erschienenen Klavierauszug von Wagners Tristan und damit überhaupt mit Wagner konfrontierte. Nietzsche läßt sich mit Krug in einen wahren Taumel erregter musikalischer Leidenschaft reißen. Beide

erkennen nicht können es bei ihrer einfachen musikalischen Grundschulung nicht erkennen -, daß Wagner sich durchaus an die klassischen Regeln der Satz- und Formenlehre hält, sie mit höchstem Wissen und Können handhabt Wagner ist immerhin der bedeutendste Kontrapunktiger seit Bach! So entsteht bei Nietzsche der Eindruck, hier herrsche nur zügellose Leidenschaft als bloßer Inhalt. Ein gutes Jahr später, im Oktober 1862, versucht er, sich über das Phänomen Musik Klarheit zu verschaffen und notiert sich: -

-

„Wenn man eine Fuge von Fux oder A[l]brechtsberger hört, wie die Töne auf das Kommando aufmarschieren und sich ablösen, mit steifen Zöpfen und Kamaschen [...] und zum Schluß ein Ton stehen bleibt, ein Feldherr zu Roß der die andern an sich vorbei jagen läßt: wenn du nun glaubst, vor einem Marionettentheater zu stehn und die Puppen an 6

Ebd., 247.

Friedrich Nietzsches Frage nach dem Wesen der Musik

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Drahtstäben tanzen zu schaun / wenn du über die lächeltest, die in solchem Formenwerk leben konnten und es als den Gipfelpunkt der Musik, als die einzig wahre Musik betrachteten: auch über dich und deinen Verstand schütteln manche Leute die Köpfe, wenn du wie niedergeschmettert von der Macht der Musik, vor den leidenschaftlichen] Wogen

Tristan und Isoldes dastehst. Beides sowohl Albrechtsberg[ers] Contrafugen und Wagnersch[e] Liebesscenen ist Musik; beidem muß etwas gemeinsam sein das Wesen der Musik. Das Gefühl ist gar kein Maßstab für Musik." (HKG II, 89 und 114)

Kompositionen, die ausgesprochen heteronom, d. h. von einem außermusikalischen Programm bestimmt sind. Nach Ostern 1861 hat sich Nietzsche in Schulpforta mit dem legendenumwobenen Gotenkönig Ermanarich zu befassen. Gestalt und Schicksal dieses Gewaltmenschen wühlen ihn auf, Ermanarich erhält Züge von Etzel und wird beinahe ein Hunne. Um dieselbe Zeit muß Nietzsche Franz Liszts Sinfonische Dichtung Hungaria kennengelernt haben, vielleicht selber interpretierend nach dem Klavierauszug. Im September entschließt er sich zu einer Komposition. Er schreibt dazu in der Chronik seiner Schülervereinigung Germania für 1862: In dieser Zeit entstehen auch zwei

„[...] zur Dichtung war ich noch zu erschüttert und noch nicht fern genug, um ein objektives] Drama zu schaffen; in der Musik aber erfolgte der Niederschlag meiner Stimmung, in der sich die Ermanarichsage völlig inkarniert hatte. [...] Allerdings, es sind keine Gothen, keine Deutschen, die ich gezeichnet, es sind ich wage es zu behaupten Ungargestalten; der Stoff ist aus der germanischen Welt in die ungarischen Pußten, in die ungarischen -

-

Gluthseelen getragen."7

Die Musik ist von ungezügelter Leidenschaft, folgt sklavisch dem vorgegebenen dramatischen Programm und untermalt Szene um Szene sie könnte als Filmmusik dienen und entbehrt jeder genuin musikalischen Struktur oder Form; in großen Partien stimmt nicht einmal das Taktschema. Nietzsche ist sich der Fragwürdigkeit seines Vorgehens bewußt und fügt seinen Erklärungen sogleich die wichtigsten Ansätze zur Kritik an: -

-

„Das Drängen und Jagen der Leidenschaft zuletzt mit ihren plötzlichen Uebergängen und

stürmischen Ausbrüchen strotzt von harmonischen Ungeheuerlichkeiten, über die ich nicht zu entscheiden wage."8

Ähnliches wird sich 10 Jahre später in der durch Bülows Urteil berüchtigten Manfred-Meditation wiederholen. In beiden Fällen muß ihm Musik dazu dienen, einer durchwühlten

Stimmung Herr zu werden. Mit dieser Ermanarichmusik entfernt sich Nietzsche am weitesten

Wesen der Musik. Ende Dezember 1863 findet eine ausgesprochen melancholische Stimmung in einer Fantasie für Violine und Klavier Silvesternacht ihren Niederschlag. Dieser Komposition liegt zwar kein „Programm" oder eine Begebenheit zugrunde, sie reiht Stimmungen. Ein Jahr danach schreibt er aus Bonn nach Hause: vom

7 8

Ebd., 101. Ebd., 104.

28

Curt Paul Janz

„Wißt ihr noch, wie gemüthlich wir zusammen das vorige Weihnachten in Gorenzen verlebt [...] Es war schön in Gorenzen: das Haus und das Dorf im Schneefall, die Abendkirchen, die Melodienfülle in meinem Kopf, der Onkel Oskar, das Bisamfell, die Hochzeit und ich im Schlafrock, die Kälte und vieles Lustige und Ernste. Alles zusammen gibt eine angenehme Stimmung. Wenn ich meine Silvesternacht spiele, höre ich diese Stimmung aus den Tönen heraus." (KSB 2, 29) haben!

Trotz diesem bescheidenen Anspruch gelingt ihm hier ein Kopfthema, das sich zur rein musikalischen Durchführung eignet und auf das er darum auch nach Jahren noch zweimal

zurückgreifen kann.

Mit 1865 verstummt der Komponist für Jahre, denn nun beginnt Nietzsche über Musik zu reflektieren. Es beginnt sein Weg aus der romantischen Musikauffassung heraus zum philosophischen Wegbereiter einer formalen Musikästhetik, die sich endlich Dezennien nach Nietzsche in den seriellen Konstruktionen Joseph Matthias Hauers und Arnold Schönbergs vollenden wird. Spekulative Grundlage dieser Wandlung im Verhältnis zur Musik ist sicher einmal die nun einsetzende Kenntnis der antiken Autoren, die schon die ganze Problematik offengelegt und mit Thesen versucht hatten, der Musik klare Wegleitung zu geben. Bedeutender dürfte allerdings die verbissene zeitgenössische Auseinandersetzung um die „Neudeutschen" (Wagner, Liszt) gewirkt haben, die beinahe „dogmatisch" angeführt wurde von dem Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick, dessen grundlegendes Büchlein Vom musikalisch Schönen9 Nietzsche 1865, möglicherweise bereits 1862 kennenlernte. Als Nietzsche 1868 dann in das nahe Verhältais zu Wagner trat (das Wort ,Freundschaft' trifft die Sache nicht), wurde er vollends mit in den Strudel der wilden und gehässigen Parteikämpfe gezerrt. Der Streit entzündet sich eigentlich an den unterschiedlichen Erwartungen. Was soll mir Musik geben? Kann sie z. B. in mir auch Vorstellungen von Gegebenheiten evozieren, die in anderer Form und Gestalt außerhalb der Musik bereits bestehen? Ist das ihre Aufgabe, ihr Zweck, ihr Inhalt, ihr Wesen? Oder ist es die Erregung von Gefühlen? Hier scheidet Hanslick klar genuin musikalischen Inhalt und „Gegenstand", also etwas Außermusikalisches, was er kategorisch ausschließt. Er übersieht in seinem Rigorismus aber die tatsächliche Möglichkeit der Musik, über assoziative Elemente bestimmte Vorstellungen (auch bildlicher Art) wachzurufen. Diese assoziativen Elemente beruhen wohl auf Konvention und Tradition, aber sie sind vorhanden und verwendbar. Hanslick übergeht diese selbst von „klassischen" Komponisten wie Beethoven und sogar Johann Sebastian Bach verwendeten Möglichkeiten, durch die sich der junge Nietzsche in seinen illustrativen Musikbemühungen bestätigt fühlen konnte, ganz zu schweigen von der sich ausbreitenden zeitgenössischen „Programmmusik" Liszts oder Berlioz', welch letzteren Nietzsche hoch verehrte und sich noch 1876 in Genf von dem ihm zugetanen Chefdirigenten Hugo von Senger vorführen lies. Auch Hanslicks dogmatischer Satz: „Die Kunst hat vorerst ein Schönes darzustellen", dürfte ihn wenig beeindruckt haben, schließt sich ihm doch unmittelbar die Forderung nach einer Definition des „Schönen" an, die noch niemand schlüssig und befriedigend zu geben wußte (auch Kants Kritik der Urteilskraft beantwortet die Frage letztlich nicht); und ist es wirklich die Aufgabe, der Zweck, ja „Inhalt" der Kunst? Kann z. B. eine künstlerisch vollendete, in ihrer Wirkung packende realistische Darstellung des Gekreuzigten darum auch „schön" heißen? Hier gehen doch Rezeption des ästhetischen Gewandes der Darstellung und des Dargestellten deutlich auseinander. -

-

-

9

Eduard Hanslick, Vom musikalisch Schönen, 16.

-

Aufl., Wiesbaden 1966.

Friedrich Nietzsches Frage nach dem Wesen der Musik

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Dasselbe kann auch in der Musik auftreten (Beethoven: „Freunde, nicht diese Töne [...]"10), wenn auch und gerade in der Musik am längsten und zähesten am Ideal der ausgleichenden Harmonie, der abschließenden Schönheit im Wohlklang festgehalten wurde. Dafür, wie Nietzsche dieses Schönheitsideal durchbrach, findet sich in seiner ManfredMeditation von 1872 ein Beispiel, über welches ihm der Wagner-Dirigent Hans von Bülow schrieb:

„Ihre Manfred-Meditation ist das Extremste von phantastischer Extravaganz, das Unerquicklichste und Antimusikalischste, was mir seit lange von Aufzeichnungen auf Notenpapier zu Gesicht gekommen ist. [...] Haben Sie wirklich einen leidenschaftlichen Drang, sich in der Tonsprache zu äussem, so ist es unerlässlich, die ersten Elemente dieser Sprache

anzueignen [...] Sollten Sie [...] Ihre Aberration in's Komponiergebiet wirklich ernst gemeint haben [...], so komponieren Sie doch wenigstens nur Vokalmusik und lassen Sie sich

das Wort in dem Nachen, der Sie auf dem wilden Tonmeere herumtreibt, das Steuer führen." Bülow bemängelt nicht die kühne, bereits expressionistische Harmonik, sondern die Struktur, die Form, die bei einer Vertonung von der Gedichtform her zwingend gegeben wäre. Nietzsche repliziert erst drei Monate später, erst als sein Freund Rohde den Philologen Nietzsche gegen Wilamowitz' Angriff auf Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik verteidigt hatte. Er fühlt sich dadurch frei, sich auch als Musiker zu verteidigen (er wird noch wenige Tage vor dem Zusammenbruch, am 27. Dezember 1888, an Köselitz schreiben: „Auch schadet es Nichts, wenn Sie mich ein wenig als Musiker behandeln [...]") (KSB 8, 555). Ende Oktober 1872 schreibt er an Bülow:

„[...] mache ich Musik eigner Fabrik von Kindheit an, besitze die Theorie durch Studium Albrechtsberger's, habe Fugen en masse geschrieben und bin des reinen Stils bis zu einem gewissen Grad der Reinheit fähig. Dagegen überkam mich mitunter ein so barbarisch-excessives Gelüst, eine Mischung von Trotz und Ironie [...]. Meinen nächsten Hausgenossen [...] habe ich es als Pamphlet auf die Programrnmusik zum Besten gegeben... Von meiner Musik weiß ich nur eins, daß ich damit Herr über eine Stimmung werde, die, ungestillt, vielleicht schädlicher ist." (KSB 4, 77) -

Die gegenüber Bülow geäußerten Entschuldigungen und Beteuerungen zeigen, daß er sich als Musiker betroffen fühlt im Sinne der Kritiken und Thesen Hanslicks, dessen Traktat er offensichtlich um diese Zeit der zunächst „physischen" Trennung von Wagner (Wagners definitiver Umzug von Tribschen nach Bayreuth) wieder und mit nachhaltiger Wirkung studiert hat. Das gilt besonders für Hanslicks Behandlung der Oper, von der er festhält: „Die Oper ist vorerst Musik, nicht Drama". Hanslick zitiert dazu ausgiebig Grillparzers Ausführungen zum Verhältnis Text-Musik in der Oper, und Nietzsche nimmt auch diese Anregung auf. Am 7. Dezember 1872 weist er im Brief Freund Rohde lobend auf Grillparzers Studien zur Aesthetik hin: „[...] er ist fast immer einer der Unserigenl" (KSB 4, 98) In dieselbe Zeit fällt eine Anfrage des befreundeten Kapellmeisters und Komponisten Hugo von Senger in Genf, ob Nietzsche ihm einen Kantatentext dichten würde. In Nietzsches Antwort (die 10 9.

Sinfonie, Finalsatz.

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Curt Paul Janz

merkwürdigerweise in der Nietzsche-Exegese bisher kaum beachtet wurde) fassen wir die erste unabhängige Stellungnahme Nietzsches zum komplexen Problem „Wagner". Nach der Absage, sich mit einem Text zu beteiliegen, fährt er fort: „Dazu habe ich [...] in meiner Eigenschaft als Philosoph, der die gegenwärtige Musikentwicklung im Zusammenhang mit einer zu erstrebenden Kultur betrachtet einige eigne Gedanken über das gegenwärtige Componiren im großen dramatischen Musikstile. Ich weiß recht wohl, daß in den musikalischen Fachzeitschriften die Bedeutung Wagner's gerade dorthin verlegt wird, daß er die alten Formen Sonate Symphonie Quartett usw. zertrümmert habe, ja daß überhaupt das Ende der reinen Instrumentalmusik mit ihm gekommen sei. Wenn nun daraus gefolgert wird, daß der Komponist jetzt nothwendigerweise zur theatralischen Musik übergehen müsse so bin ich immer sehr besorgt und vermuthe dabei eine Verwechslung. Jeder hat in der Art zu sprechen, die ihm geziemt: und wenn der Titan mit Donner und Erdbeben redet, so hat der Sterblichgeborne doch gewiß noch nicht das Recht, diese Sprachform nachzumachen, noch weniger die Pflicht! [...] Die reinste Verehrung für W. zeigt sich gewiß darin, daß man als schaffender Künstler ihm in seinem Bereiche ausweicht und in seinem Geiste, ich meine, mit der unnachsichtlichen Strenge gegen sich selbst, mit der Energie, in jedem Augenblick das Höchste zu geben, was man vermag eine andre kleinere, ja die kleinste Form belebt und beseelt. Ich freue mich deshalb, daß Sie den Muth haben, die neuerdings so scheel angesehene Kantatenform ernst zu nehmen" (KSB 4, 87 f.; das 1872, vier Jahre vor der Enttäuschung in Bayreuth). -

Nachdem er das Fiasko als Philologe (Wilamowitz gegen Geburt der Tragödie) und als Musiker (Bülows Verriß der Manfred-Meditation) mehr oder weniger überwunden hat, versucht er es noch einmal zum letzten Mal sich als Musiker auszusprechen mit dem großangelegten Hymnus auf die Freundschaft. Es ist sowohl formal wie musikalisch-inhaltlich eine völlig neue Erfindung, eine Art „sinfonischer Dichtung", deutlich in wohlproportionierte Teile gegliedert: Vorspiel/ Hymnus (ein Choral!) /1. Zwischenspiel / 2. Hymnusstrophe / 2. Zwischenspiel (gleiche Taktzahl wie 1 !) / 3. Hymnusstrophe. Der Originaltext von 1873 galt als verloren, wurde aber vor wenigen Jahren unter den Nachlassnotizen zu „Wir Philologen" von Frau Cancik identifiziert (NF, KSA 8, 122). Besonders im 2. Zwischenspiel arbeitet Nietzsche mit musikalischen Techniken der motivischen Durchführung, der Variation, des figurierten Chorals unter einem quasi „cantas firmus" der Hymnusmelodie. Er versucht Hanslicks Definition zu erfüllen:" „Der Inhalt der Musik sind tönend bewegte Formen" oder der Schlußsatz:'2 „Tongestaltung ist freie Schöpfung des Geistes aus geistfähigem Material." Oder einfacher ausgedrückt in einem Traktat „Gedanken von den Tönen" aus dem 18. Jahrhundert: „Die Musik hat keine höhere Absicht, als eine Musik zu sein".13 Jahre später 1882 greift Nietzsche noch einmal auf die Hymnusmelodie zurück, setzt sie als Lied mit Klavierbegleitung und unterlegt ihr das Gedicht „Gebet an das Leben" der Lou von Salomé. Nochmals fünf Jahre später 1887 läßt er den Hymnus (mit dem Lou-Salomé-Text) im Arrangement von Peter Gast (Köselitz) für Chor und Orchester bei dem Wagner-Verleger Fritzsch drucken und -

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11 Eduard Hanslick, Vom musikalisch Schönen, 69. 12 Ebd., 174. 13 G. Chr. Weitzier ( 1739-1775), Gedanken von den Tönen, zit. nach Rudolf Schäfte, Geschichte der Musikästhetik in Umrissen, 379.

Friedrich Nietzsches Frage nach dem Wesen der Musik

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schickt diese Partitur an die Wagner-Dirigenten Hermann Levi und Felix Mottl, diesem mit der Widmung: „[...] daß dieses Stück Musik ergänzend eintreten möge, wo das Wort des Philosophen nach Art des Wortes notwendig undeutlich bleiben muß. Der Affekt meiner Philosophie drückt sich in diesem Hymnus aus" (KSB 8, 172 f.). Überblickt man alle Äußerungen Nietzsches über Musik (ich konnte hier nur eine Auswahl geben), so trifft man zwar nie expressis verbis auf eine formulierte Definition des Wesens der Musik, aber eine Grundauffassung bestimmt alle Gedanken: Musik ist eine Sprache, und zwar eine reichere und umfänglichere als die an Begriffe gebundene gesprochene (oder geschriebene) Sprache. Musik überschreitet die Grenzen des rational Fassbaren, dringt in Bewußtseinsebenen vor, wo selbst das Wort des Philosophen versagt. Die breiten Möglichkeiten der Gestaltung, der Erscheinungs/or/ne« der Musik, ob nun autonom aus den eigenen Gesetzmäßigkeiten oder heteronom von außermusikalischen Vorstellungen herangetragen, sind sekundär. Das Wesen der Musik ist, daß sie Sprache ist, Trägerin einer geistigen Botschaft jenseits des Begrifflichen von Mensch zu Mensch.

IL Forum

6. Nietzsche-Werkstatt Schulpforta: „Der Leib ist eine grosse Vernunft" Die Aktualität der Philosophie der Leiblichkeit Friedrich Nietzsches (10.-13.9.1997) -

Volker Caysa

Eröffnung

Die Technologisierung des Lebens hat im 20. Jahrhundert eine Revolutionierung unseres Verhältnisses zum Leib bewirkt. Die Leibzivilisierung der Moderne ist charakterisiert durch die Gleichzeitigkeit von Körperdistanzierung und Körperidentifizierung; sie schwankt zwischen den Polen von Körperaufwertung und Körperverweitung, von Körperbesessenheit und Körpervergessenheit. Wo die einen die „Wiederkehr der Körpers" feiern, sehen die anderen nur den Verlust des Leibes. Was den einen als positive Technologisierung unseres Leibverhältnisses erscheint, ist den anderen nur die unterwerfende „Eroberung des Körpers". Die Haß-Liebe gegenüber dem Leib, die unsere moderne Kultur prägt, erzeugt auf der einen Seite eine hochtechnisierte Leibvergessenheit und auf der anderen Seite eine neue technikfeindliche Leibromantik. Wo sich für die einen der Tod des Leibes per Körpertechnologisierung ereignet, da vollzieht sich für die anderen die Geburt des Leibes als Über-Körper durch Technik. Beide Positionen berufen sich auf Nietzsches Philosophie des Leibes. Vollendet sich in Nietzsches Leibphilosophie die moderne Leibvergessenheit oder bietet sie den Ansatz ihrer Überwindung? Ist Nietzsche der postmodeme Apologet gegenwärtiger Körperfetischisierung oder vormoderner Leibökologe? Auf diese und davon abgeleitete Fragen versuchte die 6. NietzscheWerkstatt Antworten zu finden. Die den Teilnehmern der Nietzsche-Werkstatt 1997 gemeinsame Ausgangsposition war, daß es für Nietzsches Philosophie grundlegend ist, vom Leib auszugehen und ihn als Leitfaden zu benutzen. Gegenüber dem Bewußtsein und dem Geist ist der Leib das „reichere, deutlichere, faßbarere Phänomen", das „methodisch voranzustellen" ist, „ohne etwas über seine letzte Bedeutung" im Sinne eines Absoluten aussagen zu können. (Vgl. KSA 12, 205) Wenn Nietzsche die „kleine Vernunft" des Ich kritisiert und die „große Vernunft" des Leibes feiert, dann ist das keine rousseausche Natursentimentalität, dann ist das keine Leibromantik, dann ruft die „große Vernunft" nicht im rousseauschen Sinn „Zurück zur Natur". Nietzsche flüchtet sich nicht in eine Leibromantik, wie es Heideggers Rede vom „leibenden Leib" nahelegt, sondern er will die mit der wissenschaftlichen Vernunft bisher verbundenen Formen der Leibbeherrschung problematisieren. Bei Nietzsche ist der Leib aber auch kein Ersatzbegriff einer vom Menschen unabhängigen, romantisierten, unmittelbaren, unberührten, ersten Natur des Körpers, sondern Grenz- und Korrekturbegriff, durch den die „erste Natur" der „kleinen Vernunft" in der „zweiten Natur" der „großen Vernunft" als Über-Natur „erdgebunden" transzendiert werden soll. Nietzsche war klar, daß wir über einen Leib getrennt vom Körper, über ein Selbst getrennt vom Ich, über eine große Vernunft getrennt von der kleinen Vernunft nichts sagen können, und deshalb vermied er auch abstrakte Entgegensetzungen, wie sie bspw. Heideggers Nietzsche-Interpretation wieder einführte. Vielmehr ging es ihm um die Umkehrung der Begründungsverhältnisse,

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eine andere Vernunft (gerade im Körperumgang) zur Sprache zu bringen. Denn nur so wird man das ganz Andere der Vernunft thematisieren können. Nietzsche ging es um die Befreiung der Vernunft und des Leibes von der Vorherrschaft der kleinen, bloß scientistischtechnischen Vernunft, nicht aber um die Befreiung des Körpers von der Vernunft überhaupt. Über den Leib können wir ohne Vernunft nichts sagen, und die „große Vernunft" des Leibes bleibt sprachlos, wenn sie nicht auf die „kleine Vernunft" als Mittel seines Selbst zurückgreifen kann. Dieser Rückgriff kann tatsächlich zu einer Entfremdung des Leiblichen führen, aber ohne das Werkzeug der „kleinen Vernunft" können wir auch nicht die „große Vernunft" entdecken und zur Sprache bringen. Die Selbstbegründung der leiblichen Vernunft ist für uns nicht ohne Geist möglich, und die Entdeckung des Selbst als eines affektiven, triebhaften, gestimmten, gefühlten Seins ist in absoluter Trennung vom Ich nicht möglich. Insofern ist auch die Selbigkeit der „großen Vernunft" nicht in Trennung von den bisherigen Identitätsbegriffen der „kleinen Vernunft" zu begreifen. Entsprechend seiner Konzeption des Übermenschen fordert Nietzsche im Gegensatz zu Rousseau (und auch zu Heidegger) auf ganz andere Art und Weise ein „Zurück zum Leib" und dadurch zum Leben: „Führt gleich mit mir, die verflogene Tugend zur Erde zurück -ja, zurück zu Leib und Leben: dass sie der Erde ihren Sinn gebe, einen Menschen-Sinn!" (KSA 4, 100) Nietzsches „Zurück zum Leib" ist de facto ein „Hinauf zu einem „höheren Leib", und dadurch vermittelt ein „Hinauf zu einem anderen, neuen Mensch-Sein. Wie der bisherige Mensch überwunden werden soll, so soll in dem Können, anders als bisher mit seinem Leib umzugehen, auch der Körper des letzten Menschen überwunden werden. Dadurch bilden sich nicht nur andere Körperverhältnisse, sondern auch eine neue, experimentelle Leib-Kunst, durch die erst die Fähigkeit des Menschen, sein Leben selbstbestimmt zu führen, zu einer Fertigkeit werden kann. Eine reflektierte Leib-Kunst ist demzufolge grundlegende Bedingung der Möglichkeit einer philosophischen Lebenskunst. um

Volker Caysa

Leibkultur und Rausch

1. Kultur und Physis Die eigentliche Barbarei war Nietzsche, daß die historische Kultur keine Grenzen mehr kennt und sich gegen das kehrt, was sie erst ermöglicht das Leben: Jene dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht", aus der Kultur hervorwächst und herausblüht (KSA 1, 269 u. 326). Charakteristisch für die Barbarei der historischen Kultur ist Nietzsche der vergleichgültigende, alles gleichmachende, pluralistische Eklektizismus und die schlecht unendliche Vervielfältigung von Kultur bis hin zur Unkenntlichkeit in ihrer Unendlichkeit. Soviel Kultur war nie: Lesekultur, Buchkultur, Kulturstadt, Kulturlandschaft, Kulturräume, Industriekultur, -

ökologische Kultur, Streitkultur, Schutzkultur, politische Kultur, außenpolitische Kultur, parlamentarische Kultur, demokratische Kultur, Erlebniskultar, Ereigniskultur, Wagniskultur, Abenteuerkultur, Risikokultur, Fahrkultur, Kultur der Selbständigkeit, Kultur des Zusammenlebens, Kultur der Zurückhaltung, Stabilitätskultur, Teamkultar, Klagekultur, Bankkultur, Ingenieurkultur, Lernkultur, Kultur des Verfalls, Minderheitenkultur, Mehrheitskultar, Gleichheitskultur, Bildkultur, Einkaufskultur, Gegenkultur, Geldkultar, Diskurskultur, Baukultur, Subventionskultar, Dienstleistangskultur, Kampfkultar, Abhängigkeitskultar, Stadtkultur, Wissenskultur, Alternativkultur, Erinnerungskultar, Attrappenkultur, Ego-Kultur, Unternehmerkultar, Delegations- und Kontrollkultar, Eßkultur, Spaßkultur, Kultur der Belehrung, Kultur der Fußnote, Schrottkultur, Nachnamenskultar, Gesprächskultur, Kultur des Helfens, Firmenkultur, On-line-Kultar, Diskussionskultar, Basiskultur, Erkenntniskultur, Kitschkultur, Aktienkultar, Waffenkultur, Event-Kultur, Zeitschriftenkultur, Konsenskultar, Nonsenskultur, Blödelkultar, Theater- und Festkultur, Netzkultar, Kultur des Sports, Kommunikationskultur, Wirtschaftskultur, Produktkultur, Verkaufskultur, Schlafkultur, Körperkultur, Biergartenkultar, Draußenkultar, Alterskultar, Jugendkultur, Männerkultar, Frauenkultar, Fankultar, Badekultur, Nacktkultur, Fernsehkultar, Sicherheitskultar, Militärkultur, ja sogar Wissenschaftskultur und auch Ostkultur soll es geben, und nun also

auch noch Leibkultur. Die Kultur kennt wirklich keine Grenzen mehr. Jede Lebensäußerung wird zur Kultur erklärt, und keiner weiß mehr, was an den Lebensäußerungen selbst noch Kultur ist. Die Folge: Alles ist Kultur geworden und keiner weiß noch, was Kultur eigentlich ist. Die ost-westdeutschen Kulrurverhältnisse reflektieren dies auf eine besondere Art und Weise. Während vor 1989 im Osten scheinbar nichts ging, dies aber alles bedeutete, geht nun alles, aber dies bedeutet nichts mehr. Hauptsache unterhaltsam und bequem muß das sein, was da zu sehen und zu hören ist. Die Avantgarde ist Alltagskultur geworden, die Gegen-

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kultur löst sich in Freizeitkultur auf, Underground ist Teil des Systems, was gut ist, muß sich auch rechnen. Wie bekannt, hatte Nietzsche zur Kulturfrage sehr klar bestimmte Positionen: „Kultur ist vor allem Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebensäußerungen eines Volkes." (KSA 1, 163).' Kultur setzt für Nietzsche die „Einheit des Stiles" voraus und ist immer „die zur Harmonie Eines Stils zusammenlaufende Mannigfaltigkeit" (vgl. KSA 1, 165). Eine kulturvolle Lebensform ist demzufolge eine stilvolle Lebensform. Ein Leben ohne Stil ist nicht nur ein kulturloses Leben, sondern es kann in den Nihilismus führen. Denn

„individuell wie gesellschaftlich bieten Lebensstile vielfältige und umfassende, zugleich

bewegliche und veränderliche Möglichkeiten, dem Leben Ausdruck zu verleihen und ein

erfülltes Leben zu fuhren, das ansonsten stillos bliebe. Wo das Leben keinen Ausdruck findet, wo also seine Fülle nicht erfahrbar ist, kommt es zum Lebensneid, zum Ressentiment gegen Andere, zu Rachegefühlen, Hass und Gewaltsamkeit, weil bei Anderen das Leben vermutet wird, das dem Selbst zu entgehen scheint."2

Stil ist hier im nietzscheanischen Sinne

„allgemein die Art und Weise einer Äusserung, ein Modus der Äusserlichkeit, der in der Betonung eines Details, dem umfassende Bedeutung verliehen wird, zum Vorschein kommt, etwa beim Sprachgebrauch oder eben bei den Eigenarten des Lebensvollzugs, bei der Wahl des Umgangs mit bestimmten Individuen, bei der Auswahl und Anordnung von Dingen im persönlichen Umfeld, bei den Besonderheiten ihres Gebrauchs, bei der Art der Einteilung von Zeit oder dem Verzicht darauf, bei der Hervorhebung bestimmter Eigenschaften des Selbst, wodurch beispielsweise sein Ernst oder seine Heiterkeit, seine Zuverlässigkeit oder Nachlässigkeit in den Vordergrund gerückt wird. Immer geht es darum, aus vielen Möglichkeiten eine, Eins aus Vielem herauszugreifen und das Schwergewicht darauf zu legen, es auszubilden und zu ,stilisieren', es bewusst zu gestalten und vorsätzlich zuzuspitzen, einen Punkt zu setzen und eine Linie zu ziehen, gegebenenfalls einer einzigen Nuance alle Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, wenn auch nur für begrenzte Zeit."3 Der Stil kann nun individuell oder gesellschaftlich sein. Vermittelt sind beide Stilformen durch gemeinsame Wahrnehmungsformen eines Gegenstandes, die wiederum wesentlich durch die Öffentlichkeit einer Gesellschaft bestimmt werden, aber auch vom Erfindungsreichtum der einzelnen, der sich dann als prägend für das Verhalten anderer erweist. Die Kultur zu fördern ist für Nietzsche eine neue Pflicht des Menschen, der dem Vorbild Schopenhauers folgt. Auch für diese Pflicht gilt, daß sie nicht zu den „Pflichten einen Vereinsamten" gehört; „man gehört vielmehr mit ihnen in eine mächtige Gemeinsamkeit hinein, welche zwar nicht durch äusserliche Formen und Gesezte, aber wohl durch einen Grundgedanken zusammengehalten wird. Es ist dies der Grundgedanke der Kultur, in sofern diese jedem Einzelnem von uns nur Eine Aufgabe zu stellen weiss: die Erzeugung des Philosophen, des Künstlers und des Heiligen in uns und ausser uns zu fördern und dadurch an der Vollendung der Natur zu arbeiten." (KSA 1, 382) Mit der Realisierung dieses Grundgedankens der Kultur wird für Nietzsche nicht nur eine neue, wahrhafte Kultur, sondern auch ein neuer, wahrhafter Mensch. Denn die Philosophen, Künstler und Heiligen sind für Nietzsche jene wahrhaften Menschen, jene NichtmehrThiere" bei deren Erscheinen und durch deren Erscheinen „die Natur, die nie springt, ihren einzigen Sprung und zwar einen Freudesprung" macht (KSA 1, 380). 2 Wilhelm Schmid, Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt a.M. 1998, 127. 3 Ebd., 126 f. 1

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Leibkultur und Rausch

Ein Stil macht bei Nietzsche demzufolge wesentlich Kultur aus, der auch als gesellschaftliche Identität stiftender Konsens über „normale" Wahmehmungsweisen und Geschmacksurteile zu verstehen ist. Damit ist aber eine eigenartige Dialektik des herrschenden Stils und der herrschenden Kultur verbunden. Denn dadurch, daß die herrschende gesellschaftliche Kultur von den vorherrschenden Stilwahrnehmungen abhängig ist, kann sich aus individueller Perspektive die gesellschaftliche Kultur als Unkultur und der vorherrschende Stil als Stillosigkeit erweisen. Es ist daher nicht verwunderlich, daß Nietzsche der Gegensatz zur Kultur die Barbarei mit ihrer „Stillosigkeit oder dem chaotischen Durcheinander aller Stile" ist (KSA 1, 163). Diese Bestimmung der Barbarei verträgt sich nach Nietzsche sehr gut mit dem Vielwissen und vieles Gelernthaben des Bildungsbürgertums seiner (und auch unserer) Zeit. Weil die Philisterei als Historismus System habe, dürfe aber daraus noch nicht geschlossen werden, sie hätte auch Kultur. Bestenfalls handele es sich um „ein System der Nicht-Kultur" und um eine „dauerhaft begründete Barbarei" in Gestalt des herrschenden Bildungs- und Erziehungssystems sowie um eine „stilisierte Barbarei" in Form des Wissenschafts- und Kunstbetriebes. Während aber für die echte, produktive, schaffende Kultur wesentlich ist, daß sie eine Kultur der Suchenden und der Suche ist, besteht die stilisierte Barbarei darin, daß sie eine Kultur des (endgültigen) Findens und der (letztbegründenden) Findenden ist und demzufolge die suchenden und problematischen Genies deutscher Kultur als „Klassiker" problemlos erfindet. Die Philisterlosung ist daher konsequenterweise: „es darf nicht mehr gesucht werden" denn es muß nicht mehr gesucht werden, weil schon alles gefunden wurde (vgl. KSA 1, 166 f.). Die rhetorische und das Weiterfragen erstickende Frage „Wo ist das Problem?" ist heutzutage allzuoft zu hören. Anscheinend leben wir noch immer in dem historizistischen Zeitalter, das Nietzsche in seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen angriff. Neben der Kunst in den Museen, Konzertsälen und Archiven finden wir die Kultur von McDonalds, Mickey-Mouse und Madonna. Was dem einen die Heraufkunft einer neuen Kultur ist, ist dem anderen Untergang nicht nur der alten, sondern der Kultur schlechthin. Die sich ständig wandelnde Kultur historisiert sich selbst, und wesentliches Merkmal dieser reflexiven Historisierung ist nicht nur ihre ständige Selbstkritik, sondern die Musealisierung, das Antiquarischwerden, die Monumentalisierung der Kultur als Wirtschafts- und Staatsunternehmen, die uns das gespielte Leben in Euro-Disney bei Paris wie einen Besuch des gemalten Lebens im Louvre in Paris zum Erlebnis machen. Das Lob des Gigantischen, Monumentalen und Musealen ist unüberhörbar und unübersehbar. Ausstellungskultur wird da zur Erlebniskultar; Erlebniskultur wird zur Ausstellungskultar. Die Erlebniswelt ist so oder so eine Bilderwelt; was sich eigentlich ereignet, sind Bilder. Auf je unterschiedliche Art und Weise setzt man auf Vergangenes, Bewährtes, Beurteiltes, Klassisches in der Bilderbucherlebnisgesellschaft. Auch hier kommt es zu einem grotesken Neben-, Über- und Miteinander aller Stile; es entsteht ein „Tumult der Stile", der jede „Jahrmarkts-Buntheit" übertrifft (vgl. KSA 1, 163). Das Eklektische wird zum Originalen, und das Originale ist nur noch Plagiat. Dieses chaotische „Schneller Bunter Lauter" der Kulturerlebnisgesellschaft scheint ihren vorläufigen Höhepunkt in der wohl nun schon traditionell stattfindenden Love-Parade in Berlin gefunden zu haben. Geilheit als Gesamtkunstwerk, das bedeutet: Von der Wollust zur Wohllust, Augensinn statt Sex, Fun ohne Fick. Das „Theater der Ekstase" ist zur Ekstase als Schauspielerei verkommen, die „Rituale der Begierde" sind nur noch ritualisiert. Vom Protest durch sexuelle Selbstinszenierung ist nur noch die Selbstinszenierung übriggeblieben. Man ist von Kopf bis Fuß auf Selbst-Stilisierung eingestellt und sonst gar nichts. Gemeinsam ist man einsam. Das „Bum-Bum" des Techno hält alles zusammen. -

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Volker Caysa Der Karneval der

eignis geworden:

Begierden und Triebe ist hier selbst zum historischen, monumentalen Er-

„Aber der ,Geist', insbesondere der ,historische Geist', ersieht sich auch noch an dieser Verzweiflung seinen Vortheil: immer wieder wird ein neues Stück Vorzeit und Ausland versucht, umgelegt, abgelegt, eingepackt, vor allem studirt: wir sind das erste studirte Zeitalter in puncto der ,Kostüme', ich meine der Moralen, Glaubensartikel, Kunstgeschmäcker und Religionen, vorbereitet wie noch keine Zeit es war, zum Karneval grossen Stils, zum geistigsten Fasching-Gelächter und Übermut, zur transscendentalen Höhe des höchsten Blödsinns und der aristophanischen Welt-Verspottung. Vielleicht, dass wir hier gerade das Reich unsrer Erfindung noch entdecken, jenes Reich, wo auch wir noch original sein können, etwa als Parodisten der Weltgeschichte und Hanswürste Gottes, vielleicht dass, wenn auch Nichts von heute sonst Zukunft hat, doch gerade unser Lachen noch Zukunft hat!" (KSA 5, 157) -

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dies, dann ist die Love-Parade nicht bloß als vorläufig letzter Ausläufer des Gesamtkunstwerkes in Form einer unpolitischen High-Tech-Spaßkultur und Wagnerschen Techno-Flower-Power-Bewegung, als Utopie der Utopielosigkeit zu deuten, in der das Apollinische vorhenscht, insofern die Augensinne vorherrschen, in der die asketische Stilisierung des Ich exzessive Gemeinschaftlichkeit verhindert, in der die Zur-Schau-Stellung des Rausches den Rausch aufhebt und ernüchtert, sondern dann ist sie, in der Vermittlung durch das ekstatische Lachen, auch dionysisch als aufbrechender Exzeß einer Generation zu deuten. Existenzial für diese Funkultur ist, daß sie durch das rauschhafte Erleben des eigenen, freilich stilisierten, Körpers funktioniert. Diese Spaßkulturbewegung ist eine Körperkulturbewegung, die sich tanzend formiert. Grundlegend für diese Kultur ist, daß sie sich im Erleben des Rausches stiftet. Zerstört nun aber nicht die Verklammerung von Kultur und Rausch jene „Cultur eines Volkes", wie sie oben bestimmt wurde? Ermöglicht sie nicht gerade im wahrsten Sinne des Wortes mit Lust den Eklektizismus, durch den auch unser historizistisches Zeitalter gekennzeichnet ist? Ist die rauschhafte Körperkultur für Nietzsche Bedingung der Möglichkeit von wahrer Kultur oder nur eine andere Form von Barbarei? Ist der Rausch und die Körperlichkeit, auf dem diese Kultur basiert, nur Moment ihrer Selbstzerstörung oder ermöglicht sie die historisierende Barbarei zu durchbrechen, in dem sie ein neues, kulturelles Leben entfesselt? Hat nur der Kultur, der nicht berauscht ist? Ist der Rausch der Untergang aller Kunst und Kultur oder Bedingung der Möglichkeit ihrer Neugeburt? Und gleichen unsere kulturkritischen Vorbemerkungen nicht jenem greisen Philosophen in Nietzsches Reden Üeber die Zukunft unserer Bildungsanstalten, der angesichts des ihm unverständlichen, ihm barbarisch erscheinenden, aber zweifelsohne von den jungen Männern philosophisch gemeinten Gemeinschaftsrituals des Wettschießens ausruft: „Diese jungen Männer ruinieren mich durch ihre Explosionen." (KSA 1, 658) Und ist es nicht tatsächlich ein Merkmal moderner Gesellschaften, daß jede heranwachsende Generation die Kultur als neuen Lebenstil für sich neu erfinden muß, um sich auf diese Weise die überlieferte Kultur und das Leben selbst für sich selbst anzueignen, in dem man gegen die überkommenden Formen in einem rauschhaften Aufbruch protestiert und sie sich doch darin irgendwie zu eigen macht? Bedenken wir

Gegensatz von Barbarei und Kultur bemerkt Nietzsche nun aber, daß Sinne mißverstanden werden dürfe,

Zu dem

er

nicht in dem

Leibkultur und Rausch

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„als ob es sich um den Gegensatz von Barbarei und schönem Stile handele; das Volk, dem

eine Cultur zuspricht, soll nur in aller Wirklichkeit etwas lebendig Eines sein und nicht so elend in Inneres und Äußeres, in Inhalt und Form auseinanderfallen. Wer die Cultur eines Volkes erstreben und fördern will, der erstrebe und fördere diese höhere Einheit und arbeite an der Vernichtung der modernen Gebildetheit zu Gunsten einer wahren Bildung, er wage es, darüber nachzudenken, wie die durch die Historie gestörte Gesundheit eines Volkes wiederhergestellt werden, wie es seine Instincte und damit seine Ehrlichkeit wiederfinden könne." (KSA 1, 275)4 man

Der Gegensatz von Barbarei und Kultur ist also für Nietzsche nicht mit dem von Häßlichkeit und Schönheit, von Antiharmonie und Klassizismus, Spaß und Ernst, Alltäglichkeit und Erhabenheit identisch. Die wahrhafte Kultur als dionysisch-apollinische Kunst kann auch häßlich, nichtharmonisch, bitter böse lustig sein, und insofern sie produktive, schaffende Kultur ist, befindet sie sich nicht im Gegensatz zum Rausch, dem Häßlichen, Chaotischen, sondern stiftet sich im Rausch des Lebens, des Lebendigen, Kräftigen, der inbrünstigen Suche (vgl. KSA 1, 166 f.).

Demzufolge gibt es in Nietzsches Kulturphilosophie keinen Gegensatz von Kultur und Rausch, von Kunst und Leben, von Stil und Leben, von Askese und Ekstase, Sinn und Sinnlichkeit, Ethos und Lust, Geist und Körper, Seele und Leib, Intellektkultar und Körperkultur, Kultiviertheit und Natürlichkeit, Zivilisation und Barbarei, zivilisierter Gesellschaftlichkeit und hedonistischer Gemeinschaftlichkeit. Vielmehr stiftet sich das eine in dem anderen, wobei nach Nietzsches Auffassung das Dionysische begründend für diese Wechselverhält-

nisse ist. Für ihn ist daher der Prozeß der Zivilisation in Gestalt der Historisierung von Kultur ein Verfallsprozeß, insofern in ihm das Dionysische gezähmt wird, insofern es apollinisch stilisiert, formalisiert und verregelt wird. Der Gegensatz zur Kultur ist nicht das Dionysische, der Rausch, sondern die Barbarei der historistischen Stilisierung, die Zivilisation, der die globale Tendenz der Superdominanz des Apollinischen unter Zurückdrängung des Dionysischen eigen ist. Deshalb müssen für Nietzsche die dionysischen (Ab)Gründe der Kultur verteidigt werden, soll sie nicht an ihrer wissenschaftlich-historizistischen, soll sie nicht an ihrer platonisch-sokratischen Gründlichkeit zugrundegehen. Doch diese Gefahr ist für Nietzsche nicht erst unserer Zeit eigen:

„Es gab Jahrhunderte, in denen die Griechen in einer ähnlichen Gefahr sich befanden, in der wir uns befinden, nämlich an der Ueberschwemmung durch das Fremde und Vergangne, an der ,Historie' zu Grunde zu gehen. Niemals haben sie in stolzer Unbe-

gelebt: ihre ,Bildung' war vielmehr lange Zeit ein Chaos von ausländischen, semitischen, babylonischen, lydischen, aegyptischen Formen und Begriffen und ihre Religion ein wahrer Götterkampf des ganzen Orients: ähnlich etwa wie jetzt die ,deutsche Bildung' und Religion ein in sich kämpfendes Chaos des gesammten Auslandes, der rührbarkeit

gesammten Vorzeit ist. Und trotzdem wurde die hellenische Cultur kein Aggregat, Dank

4 Dies ist für Nietzsche mit der Aufgabe verbunden die „deutsche Einheit" im kulturellen Sinne herzustellen, die für ihn höher steht als die „politische Wiedervereingung" und unter der er „die Einheit des deutschen Geistes und Lebens nach der Vernichtung des Gegensatzes von Form und Inhalt, von Innerlichkeit und Convention" versteht

(KSA 1,278).

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Volker Caysa

jenem apollinischen Spruche.5 Die Griechen lernten allmählich das Chaos zu organisiren, dadurch dass sie sich, nach der delphischen Lehre, auf sich selbst, das heisst auf ihre

ächten Bedürfhisse zurück besannen und die Schein-Bedürfnisse absterben Hessen. So ergriffen sie wieder von sich Besitz; sie blieben nicht lange die überhäuften Erben und Epigonen des ganzen Orients; sie wurden selbst, nach beschwerlichem Kampfe mit sich selbst, durch die praktische Auslegung jenes Spruches, die glücklichsten Bereicherer und Mehrer des ererbten Schatzes und die Erstlinge und Vorbilder aller kommenden Culturvölker."

(KSA 1,333)

Dies ist Nietzsche nun aber nur ein Gleichniss „für jeden Einzelnen von uns: er muss das Chaos in sich organisiren, dadurch dass er sich auf seine ächten Bedürfnisse zurückbesinnt." (KSA 1, 333) Dies aber ist nur möglich, ist man zuallererst sich gegenüber ehrlich. Nur so wird man die Kraft finden, sich einzugestehen, was an der eigenen Gebildetheit „immer nur nachgesprochen, nachgelernt, nachgeahmt" wurde, was zwar gut und wahr, aber nicht echt und wahrhaftig, was fremd und äußerlich, aber nicht eigen und innerlich ist. Nur so beginnt der einzelne zu begreifen, „dass Cultur noch etwas Andres sein kann als Dekoration des Lebens", zivilsierte Verstellung, historisierende Ausschmückung und schöne Verhüllung

(KSA 1, 333).

Was sich da unter dem Schleier der historischen (Ein-)Gebildetheit beginnt zu zeigen, ist für Nietzsche die echte, wahrhafte Kultur, die sich in ihrem Selbstverständnis grundlegend auf den „griechischen Begriff der Cultur" bezieht, der sich im Gegensatz zur romanischen, bloß dekorativen Kultur befindet. In diesem Kontext bestimmt Nietzsche nun den „Begriff der Cultur als einer neuen und verbesserten Physis, ohne Innen und Außen, ohne Verstellung und Convention, der Cultur als einer Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen." (KSA 1,334) Wichtig ist nun hier zu bemerken, daß der Begriff der Physis bei den Griechen (wie übrigens auch im lateinischen Mittelalter) sich nicht im Gegensatz zu dem der Natur befindet, ja daß er sogar mit „Natur" übersetzt werden kann. Wobei dann die Physis als ein ganzheitliches Sein verstanden wird, das durch sich selbst wird, das eigenwüchsig ist, das durch sich selbst bestimmt ist, das aus sich heraus aufgeht, heraufkommt, in sich zurückgeht und

vergeht.6

5 Gemeint ist der delphische Spruch „Erkenne Dich selbst" (KSA 1, 333). 6 Der Gegenbegriff zu Physis ist, wie bekannt, der der Techne. Der Mensch ist mit der Physis vermittelt durch die Techne, denn nur durch die Techne als „ein in einem Wissen begründetes Können" vermittelt kann der Mensch über die Physis, die ihn begründet, die aber der Mensch nicht vollständig begründen kann, verfugen. Insofern ist das menschliche Verhältnis zur Physis wesentlich von der Techne getragen und geführt. Vgl. U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, Reinbek 1996, 53-66. Das antike Verhältnis von Physis und Techne, auf das moderne Verhältnis von Körper und Technik bezogen, bedeutet nun, daß über den Körper als solchen, als natürlichen Körper, als erste Natur, die wir selber sind, als Leib nur etwas sinnvoll zu sagen ist, wenn wir den Natur-Körper, wenn wir den leibenden Leib, wie Heidegger sagen würde, in ein für uns ursprüngliches Verhältnis zu Körpertechniken setzen, die auf elementarem Körperwissen beruhen. Durch die Körpertechniken wird uns das Können als Sichverstehen-auf-etwas in bezug aufden leibenden Leib ermöglicht. Körpertechniken ermöglichen in diesem elementaren Sinne, kunstvoll, gekonnt mit dem Leib umzugehen. Vgl. Volker Caysa, „Körpertechnik als Grund der Selbstmächtigkeit im Sport", in: Volker Caysa (Hg), Sportphilosophie, Leipzig 1997, 257 ff. Die Kunst, mit dem Körper umzugehen, ist aber im elementaren Sinne immer schon in der Kenntnis von Regeln und Verfahren des Körperumgangs begründet. Es kann daher keine wirkliche Sorge um den Körper im Sinne eines ästhetisch-ethischen Vermögens und Könnens, sich um den eigenen Leib zu sorgen, geben, ist diese nicht von -

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Leibkultur und Rausch

Dies aber hat nun zur Konsequenz, daß über den Physis-Begriii die Natur nicht im Gegensatz zur Kultur gebracht wird, sondern daß von Nietzsche Kultur wesentlich als Natur, die uns im Spannungsfeld des Dionysischen und Apollinischen unter Dominanz des Dionysischen angeht, bestimmt wird. Damit wird die Natur auch nicht im rousseauschen-romantischen Sinne als abstrakt-kritische Instanz gegenüber der Kultur bestimmt, sondern die als wahre Natur bestimmte schaffende Kultur ist die Quelle politischer Identität und nicht mehr die vermeintlich authentische, ursprüngliche, aber anerzogene Natürlichkeit, wie sie bei Rousseau zu finden ist. Nicht mehr die angeblich „natürliche Natur" ist bei Nietzsche Identitätsgarant, sondern die natürlich gebildete Kultur (vgl. KSA 1, 646 f., 715-717). Wobei deren Identität grundlegend vom Pathos der Distanz getragen wird. Die Kultur ist die Quelle, ist die Ressource, aus der sich das Selbst von Individuen, Gemeinschaften und Gesellschaften für Nietzsche schöpft. Ohne kulturelle Bestimmung gibt es kein Selbst und auch kein begründetes Recht auf Selbstbestimmung, Selbstregierung und existentielle Identität. Indem aber Nietzsche die P/nw/svergessenheit der historizistischen Kultur seiner Zeit kritisiert, kritisiert er nicht nur deren falsch verstandene Identität, sondern auch die Natur- und Leibvergessenheit der Kultur.7 Die Physis ist Nietzsche grundlegend für wahre Kultur, und sie steht nicht nur für die Natur schlechthin, sondern für die Natur, die wir selber sind, den Leib, mit dem gekonnt umzugehen grundlegend für echte Kultur ist. Echte Kultur ist für Nietzsche Leibkultur und nicht bloß Körperkultur, denn diese Leibkultur bedeutet bei Nietzsche nicht nur, mit seinem Körper technisch gekonnt umzugehen, was Merkmal der einfachen Körperkultur ist, sondern sich um ihn nach ästhetisch-ethischen Maßen zu sorgen, was eben Leibkultur wesentlich ausmacht. Kultur ist demzufolge wesentlich ein bestimmter Stil zu leiben. Kultur als Lebensstil ist wesentlich Leibstil.8

Körpertechniken getragen, denn nur durch diese vermittelt ist es möglich, unser Körperwissen auch zur Anwendung zu bringen, eine Fähigkeit zur Fertigkeit werden zu lassen, ein mögliches Können als wirkliche Haltung auszuführen, das umsorgte Gut auch tatsächlich zu besorgen. Insofern kann es eine Sorge um den Körper nicht nur nicht ohne wissende Besorgtheit um den Körper geben, sondern auch nicht ohne das technische Vermögen, es dem Körper zu besorgen. Es ist natürlich klar, das durch die körpertechnische Sorge um den leibenden Leib als erster Natur, der Körperleib als zweite Natur entsteht, der den leibenden Leib für uns aufhebt. Die Sorge um den Körper ist deshalb als Kunst des Hervorbringens eines Hervorgebrachten zu bestimmen. In der Vermittlung durch die Sorge um den Körper wird also aus der Körpertechnik eine Körperkunst, aus einfachem Körperhandeln wird so Körperkultur als Körperkunst. In bezug aufNietzsche muß an dieser Stelle aber angemerkt werden, daß es in seiner Leibphilosophie durchaus ein körpertechnisches Defizit gibt. Es wäre aber falsch, Nietzsches Leibphilosophie als körpertechnikvergessen oder gar als antikörpertechnisch zu interpretieren, denn implizite bietet seine Leibphilosophie in Verbindung mit seinen Theorien des Leidens, der Ernährung und der Gesundheit sehr viele körpertechnische Verhaltensregeln an. An dieser Leibvergessenheit der Kulturphilosophie krankt die Nietzsche-Rezeptionen von Lukács durchgehend. Nietzsches Kulturphilosophie wird von ihm in seinen Gesamtwerk geist- und kunst- (im Sinne von literatur-)lastig rezipiert Da wird nicht nur der Leib systematisch vernachlässigt, sondern auch die bildende Kunst, die Musik und der Sport. Sein Freund Ernst Bloch ist da wirklich sein großer marxistischer Antipode. -

7

8

Der sich für Nietzsche übrigens in Goethe verkörpert: „Goethe kein deutsches Ereigniss, sondern ein europäisches: ein grossartiger Versuch, das achtzehnte Jahrhundert zu überwinden durch eine Rückkehr zur Natur, durch ein ///«au/kommen zur Natürlichkeit der Renaissance, eine Art Selbstüberwindung von Seiten dieses Jahrhunderts. Er trug dessen stärkste Instinkte in sich: die Gefühlsamkeit, die Natur-Idolatrie, das Antihistorische, das Idealistische, das Unreale und Revolutionäre (letzteres ist nur eine Form des Unrealen). Er nahm die Historie, die Naturwissenschaft, die Antike, insgleichen Spinoza zu Hülfe, vor Allem die praktische Thätigkeit; er umstellte sich mit lauter geschlossenen Horizonten; er löste sich nicht vom Leben ab, er stellte sich hinein; er war nicht verzagt und nahm so viel als möglich auf sich, über sich, in sich. Was er wollte, das war Totalität; er bekämpfte -

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Das aber hat zur Konsequenz, daß die ästhetische Rechtfertigung des Daseins und der Welt (vgl. KSA 1, 47) nicht nur über die Kultur, sondern wesentlich über die Kultur als Leibkultur vermittelt ist. Nicht nur das rein geistige Ethos der Ästhetik der Existenz ist bestimmend für unsere Entscheidung, wie wir unser Leben gestalten, sondern unser Verhältnis zum Leib ist grundlegend für dieses Ethos und eine Ästhetik des Existierens, die unser Dasein legitimiert. Die Kultur als eine neue und verbesserte Physis gibt uns mythenlosen Menschen wieder einen Mythos von unserem Selbst nach dem Tode Gottes. Dies aber ist für Nietzsche notwendig, denn ohne Mythos „geht jede Cultur ihrer gesunden und schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab." (KSA 1, 145) Die Physis als Leib ist bei Nietzsche das Unbezweifelbare, in dem sich die ästhetische Rechtfertigung des Daseins und der Welt, in dem sich eine neue, jugendliche ästhetische Existenzform der Menschen gründen kann. An die Stelle des „cogito ergo sum" tritt bei Nietzsche nicht nur das „vivo ergo sum" (vgl. KSA 1, 329), sondern für dies gilt grundlegend: Ich leibe also bin ich. Dies unbezweifelbare und allen existentiellen Zweifel begründende Existenzial ist Bedingung der Möglichkeit jeder selbstbewußten Lebensform. Im Leiben wird das Ich sich seiner als Selbst bewußt. Das Selbst erwacht im Leiben, es beginnt im Leiben sich wahrzunehmen als „Ich werde", es lernt, sich als ein Rätsel zu begreifen, das trotzdem die Kraft hat, selbstbewußt „Ich" zu sagen.9 Dieses Leiben ist die Macht, die den Willen zur Macht, der immer auch leiblich und Wille zum Leib ist, hervortreibt, der aber selbst nicht vollständig-rational gemacht werden kann und der deshalb immer Ereignischarakter behalten wird. Wenn Nietzsche in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung ausruft: „Schenkt mir erst Leben, dann will ich euch auch eine Cultur daraus schaffen!" (KSA 1, 329), dann heißt das: Lernt zu leiben, und ihr lernt euch selbst das Leben zu schenken, das eine andere Kultur entstehen läßt! Nur so wird die Generation, die die alte Kultur in Frage stellt und zugleich Übergang zu einer neuen Kultur ist, nur so wird diese „erste Generation", die am schwersten leidet, denn sie muß „sich selbst gegen sich selbst, zu einer neuen Gewohnheit und Natur, heraus aus einer alten und ersten Natur und Gewohnheit" erziehen. Diese Generation ruft aus: „Gott behüte mich vor mir, nämlich vor der mir bereits anerzognen Natur", und zugleich muß sie beanspruchen, eine neue Natur, ein neues Leben zu verkörpern, in dem sie ihre eigene Jugend entfesselt und dadurch das Leben von der historizistischen, leibvergessenen Barbarei befreit (vgl. KSA 1, 328 f.). Diese Entfesselung des Lebens durch -

das Auseinander von Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl, Wille (in abschreckendster Scholastik durch Kant gepredigt, den Antipoden Goethe's), er disciplinirte sich zur Ganzheit, er schuf'sich Goethe war inmitten eines unreal gesinnten Zeitalters, ein überzeugter Realist: er sagte Ja zu Allem, was ihm hierin verwandt war, er hatte kein grösseres Erlebniss als jenes ens realissimum, genannt Napoleon. Goethe concipirte einen starken, hochgebildeten, in allen Leiblichkeiten geschickten, sich selbst im Zaume habenden, vor sich selber ehrfürchtigen Menschen, der sich den ganzen Umfang und Reichthum der Natürlichkeit zu gönnen wagen darf, der stark genug zu dieser Freiheit ist; den Menschen der Toleranz, nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke, weil er Das, woran die durchschnittliche Natur zu Grunde gehn würde, noch zu seinem Vortheile zu brauchen weiss; den Menschen, für den es nichts Verbotenes mehr giebt, es sei denn die Schwäche, heisse sie nun Laster oder Tugend Ein solcherfreigewordner Geist steht mit einem freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All, im Glauben, dass nur das Einzelne verwerflich ist, dass im Ganzen sich Alles erlöst und bejaht er verneint nicht mehr Aber ein solcher Glaube ist der höchste aller möglichen Glauben: ich habe ihn auf den Namen des Dionysos ...

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...

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...

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getauft." (KSA 6, 151 f.) Wobei die Frage ist, ob das Ich als Selbst eine Person ist oder ob es nicht auch als Nicht-Ich vor-personal oder sogar nach- und überpersonal, anonym gedacht werden muß. Ist das Ich als Selbst bloß das leibliche Man-Sein, durch das wir alle in der Welt sind, oder ist

es

auch eine Person im Sinne der Menschenrechte?

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das jugendliche Leiben fördert nicht nur die Wahrhaftigkeit, sondern auch die wahre Bildung, „mag diese Wahrhaftigkeit auch gelegentlich der gerade in Achtung stehenden Gebildetheit ernstlich schaden, mag sie selbst einer ganzen dekorativen Cultur zum Falle verhelfen können." (KSA 1, 334) Ein neues kulturelles Leben setzt demzufolge ein jugendliches Leiben voraus. Wie das Leben „die höhere, die herrschende Gewalt" gegenüber dem Erkennen ist, „denn ein Erkennen, welches das Leben vernichtete, würde sich selbst mit vernichtet haben" (KSA 1, 330), so ist das Leiben die Macht, die dies Leben erst entfesselt und dadurch begründet. Wenn also das Erkennen das Leben voraussetzt und deshalb „an der Erhaltung des Lebens dasselbe Interesse hat, welches jedes Wesen an seiner eigenen Fortexistenz hat" (KSA 1, 331), so setzt das Leben das Leiben voraus, und es muß demzufolge an der Entfesselung des Leibens ein Interesse haben, wenn es an seiner kulturellen Entfaltung Interesse haben will. Wie demzufolge „die Wissenschaft einer höheren Aufsicht und Ueberwachung", einer Gesundsheitslehre des Lebens " bedarf, die „sich dicht neben die Wissenschaft" stellt, so muß diese Gesundheitslehre des Lebens getragen sein von einer Gesundheitslehre des Leibes, einer Ethik der Körperästhetik. Ein grundlegender Satz auch dieser „Gesundheitslehre würde eben lauten: das Unhistorische und das Ueberhistorische sind die natürlichen Gegenmittel gegen die Ueberwucherung des Lebens durch das Historische, gegen die historische Krankheit." (KSA 1,331) Hier erkennt Nietzsche die Mission jener ersten Generation, „

„die

Mission

jener Jugend, jenes

ersten

Geschlechtes

von

Kämpfern

und

Schlangen-

tödtern, das einer glücklicheren und schöneren Bildung und Menschlichkeit voranzieht,

ohne von diesem zukünftigen Glücke und der einstmaligen Schönheit mehr zu haben als eine verheissende Ahnung. Diese Jugend wird an dem Uebel und an den Gegenmitteln zugleich leiden: und trotzdem glaubt sie einer kräftigeren Gesundheit und überhaupt einer natürlicheren Natur sich benahmen zu dürfen als ihre Vorgeschlechter, die gebildeten ,Männer' und ,Greise' der Gegenwart. Ihre Mission aber ist es, die Begriffe, die jene Gegenwart von ,Gesundheit' und ,Bildung' hat, zu erschüttern und Hohn und Hass gegen so hybride Begriffs-Ungeheuer zu erzeugen; und das gewährleistende Anzeichen ihrer eignen kräftigeren Gesundheit soll gerade dies sein, dass sie, diese Jugend nämlich, selbst keinen Begriff, kein Parteiwort, aus den Wort- und Begriffsmünzen der Gegenwart zur Bezeichnung ihres Wesens gebrauchen kann, sondern nur von einer in ihr thätigen kämpfenden, ausscheidenden, zertheilenden Macht und von einem immer erhöhten Lebensgefühle in jeder guten Stunde überzeugt wird. Man mag bestreiten, dass diese Jugend bereits Bildung habe aber für welche Jugend wäre dies ein Vorwurf? Man mag ihr Rohheit und Unmässigkeit nachsagen aber sie ist noch nicht alt und weise genug, um sich zu bescheiden; vor allem braucht sie aber keine fertige Bildung zu heucheln und zu verttheidigen und geniesst alle die Tröstungen und Vorrechte des Jugend, zumal das Vorrecht der tapferen unbesonnen Ehrlichkeit und den begeisternden Trost der Hoffnung." (KSA 1, 332) -

-

Durch eine solche, missionarisch wirkende Jugend werden wir für Nietzsche von der historischen Krankheit geheilt und wieder gesund werden. Das Kennzeichen dieser Jugend des Übergangs wird sein, daß sie unwissender ist als die Gebildeten der Gegenwart, sie wird viel verlernt haben von dem, was man von den Gebildeten noch lernen konnte, sie wird keine Lust haben auf das Wissen, das den Gebildeten soviel Lust bereitete; sie wird gleichgültig und verschlossen sein „gegen vieles Berühmte, selbst gegen manches Gute." „Aber sie sind, an jenem Endpunkte ihrer Heilung, wieder Menschen geworden und haben aufgehört, menschliche Ag-

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gregate zu sein das ist etwas. Das sind noch Hoffnungen. Lacht euch nicht dabei das Herz, ihr Hoffenden?" (KSA 1, 332) -

Der Leib ist bei Nietzsche das historische Apriori, das die gnoseologischen Subjekt-Objekt-Verhältnisse begründet, selbst aber nicht von diesen vollständig begründet werden kann. Für Nietzsches Kulturphilosophie ist dies Leibapriori grundlegend. Dies Leibapriori meint, daß das die Kultur ermöglichende Leben uns wesentlich durch den Leib, sein Wahrnehmen, Erleben und Sich-Ereignen präreflexiv vorgegeben ist. Das Ereignis des Leibes begründet, was überhaupt gefühlt, gedacht, erlebt, erfahren werden kann, ist aber von den dadurch entstandenen Rationalitätsstrukturen niemals vollständig reflektierbar und herstellbar, wodurch es für uns immer Ereignis bleiben wird. Das Leibapriori ist Bedingung der Möglichkeit von Erfahrungen, Erlebnissen, Reflexionen und zugleich nicht vollständig rational-erfahrbare und -reflektierbare Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung, Bildung und Kultur.10 Das Leibapriori unserer Existenz, das sich dem gnoseologischen Zugriff auf unser Dasein entzieht und es umgreift, gibt unserem Leben den Charakter von etwas Dunklem, Undurchsichtigem, Irrationalem, Geheimnisvollem, Rätselhaftem, Ereignishaftem. In diesem Sinne ist der Leib als das Diesseitige, Weltliche auch immer etwas Jenseitiges, Hinterweltliches. Gerade dies aber zur Sprache zu bringen ist Aufgabe einer Kulturphilosophie, die immer Körperkulturphilosophie ist und die Grundlage einer jeden künftigen Sportphilosophie ist. Indem dies Unaufgeklärte des Leibapriori aufgeklärt wird, wird nicht nur Implizites expliziert, wobei sich das Explizieren selbst als nicht vollständig rational-reflexive Erklärung, sondern selbst als Ereignis des Verstehens erweist, vielmehr kommt durch dieses Verstehen des Unverstandenen und Un verstehbaren Sinn in eine Welt, die anscheinend keinen Sinn hat. Die Physis, der Leib ist also der nichthintergehbare, prädiskursive Grund des

Lebens, der Affekte, Erfahrungen, Wünsche, Träume, Gedanken, Handlungen, Gewohnheiten, des Charakters, des Ichs, der Bildung dieses Ichs, die wiederum den Leib in Bewegung bringen und

durch ihn vermittelt bewegt werden. Dadurch erweist sich die Physis nicht nur als Erscheinungsform der (kulturellen) Macht, sondern (kulturelle) Macht erweist sich wesentlich als Erscheinungsform der neuen Physis. In der Physis hat diese Macht nicht nur eine Erscheinung, sondern diese Erscheinung ist ihr Wesen. Die Macht ist daher nicht einfach der Grund einer neuen verbesserten Physis, sondern diese Physis selbst ist Grund und Wesen der Macht. Der Wille zur Macht ist deshalb wesentlich Wille zur neuen Physis und der mit ihr verbundenen Kultur. Die neue Kultur steht dabei für Nietzsche als mögliches Telos einer in sich gegensätzlichen, selbstwidersprüchlichen dionysisch-apollinischen Bewegung, die in alle möglichen Richtungen auseinanderläuft, um sich zu einer in sich differenzierten Einheit ästhetisch zu formieren. Insofern Nietzsches Bestimmung von Kultur wesentlich auf den künstlerischen Stil bezogen wird, folgt daraus, daß Nietzsche Kultur wesentlich Kunst ist, wenn auch nicht die Kunst, die den Kunst- und Wissenschaftsbetrieb seiner Zeit beherrschte. Aufgrund dieser über den einheitlichen und vereinheitlichenden Stil vermittelten Identität von Kunst und Kultur bei Nietzsche folgt weiterhin, daß für die wahre Kultur auch der Gegensatz wesentlich ist, der für die Kunst nach Nietzsche grundlegend ist: der Gegensatz von Dionysischem und

10 Mit dem Leibapriori der Kultur knüpfe ich an eine Idee von Karl-Otto Apel an, die dieser aber nur auf die Erkenntnis bezogen hatte. Vgl. Karl-Otto Apel, „Das Leibapriori der Erkenntnis. Eine erkenntnisanthropologische Betrachtung in Anschluß an Leibnizens Monadenlehre", in: Hilarión Petzold (Hg.), Leiblichkeit. Philosophische, gesellschaftliche und therapeutische Perspektiven, Paderborn 1985.

Leibkultur und Rausch

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Apollinischem. Dieser Gegensatz ist als grundlegend für die Leibkultur als Leibkunst, als das

ästhetische Können, seinen Leib zu schaffen. Kultur ist nach Nietzsche wesentlich eine existentiell-leibliche Praxis, leibhaftes-ästhetisch-ethisches Engagement, ein verkörperter künstlerischer Stil, der sich im Spannungsfeld von Dionysischem und Apollinischem bewegt. Daraus folgt nicht nur, daß kulturelles Dasein wesentlich verkörpertes Dasein ist, und an dem Stil seiner Existenzweise gemessen werden muß, sondern daß das leibliche Dasein selbst als Kunstwerk verstanden werden muß, das sich im Spannungsfeld von Dionysischem und Apollonischem formiert. Wie Nietzsche lebendige Kunst Kultur und Kulturleben Kunstleben ist, so ist nach ihm Leibkultur als Körper-Kunst zu begreifen. Diese Leibkultur wird zwar entfesselt durch das Dionysische, doch sie wird nicht einseitig dominiert vom Dionysischen. Insofern ist sie nicht von der apollinischen Leibzivilisation zu trennen. Demzufolge stehen sich in Nietzsches Leibkulturphilosophie nicht Körpernaturalisierung und Körperkultivierung abstrakt gegenüber wie Rebarbarisierung, gewalttätige Affektenthemmung und unkontrollierte Triebentfesselung auf der einen Seite und Zivilisiertheit, gewaltfreie Affektkontrolle und selbstkontrollierte Triebzurückhaltung auf der anderen Seite. Die Freisetzung des Dionysischen in Nietzsches Kulturphilosophie ist nicht, weil sich das Dionysische immer im Wechselverhältnis zum Apollinischen befindet, als Philosophie der Naturalisierung, Biologisierung, Entzivilisierung und Rebarbarisierung zu deuten. Der dionysisch-leibende Leib entfesselt nicht nur den apollinischen Körperleib, sondern ersterer wird von letzterem geformt, eingebunden, gehemmt. Wobei gar nicht geleugnet werden kann, daß das Dionysische sich auch verselbständigen kann und nicht nur in gewalttätige Unzivilisiertheit umschlagen, sondern aus Leiberinnerung und Leibliebe (und damit verbundener Körperaufwertang) Körperbesessenheit und Geistentwertang werden kann. Es ist aber mindestens ebenso zu berücksichten, daß auch das Apollinische sich antikulturell verselbständigen kann und in eine gewalttätige Zivilisierungsbewegung umschlagen kann, durch die aus Leibvergessenheit und Leibhaß (und damit verbundener Körperentwertung) extreme Rationalisierungsbesessenheit und Körperverwertang werden kann, durch die global unsere Lebenswelt kolonialisiert wird und durch die sich die Barbarei ausbreitet, die Nietzsche kritisierte, die aber das Gegenteil von dem ist, was die historisierende Zivilisiertheit beansprucht zu sein: Kultur."

2. Der Gegensatz von Dionysischem und Apollinischem und seine polarisierende Rezeption Bekanntlich hat Nietzsche grundlegend für die „aesthetische Wissenschaft" und für die „Fortentwicklung der Kunst" die „Duplicität des Apollinischen und Dionysischen" angenommen, die sich wie die Geschlechter in fortwährendem Kampfe befinden und sich periodisch wiederkehrend versöhnen (vgl. KSA 1, 25).I2 11 Diese Ausschweifungen des Dionysischen und Apollinischen sind übrigens nach Nietzsche nicht dem „Prinzip Rausch" zuzuschreiben, sondern der Selbstsucht der Erwerbenden, der Selbstsucht des Staates, der Selbstsucht derer, die Grund haben, sich zu verstellen, und durch die schöne Form sich verstecken, und der Selbstsucht der Wissenschaft und ihrer Diener, der Gelehrten (vgl. KSA 1, 383-404). 12 Zur Genesis, Kritik und Rezeption dieses Gegensatzes siehe u.a.: Otto Kein, Das Apollinische und Dionysische bei Nietzsche und Schelling, Berlin 1935; Martin Vogel, Apollinisch und Dionysisch. Geschichte eines genialen

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Dem Apollinischen entspricht die „Kunst des Bildners"; dem Dionysischen die „unbildliche Kunst, die Musik". Es handelt sich um zwei Triebe in der Kunst, die in den „getrennten Kunstwelten des Traumes und des Rausches" das „ebenso dionysische und apollinische Kunstwerk der attischen Tragödie erzeugen" (KSA 1, 26). Die Kunstwelt des Traumes ist die Welt des „schönen Scheins", des harmonischen Maßes und eines funktionalen, nicht Unnötiges duldenden Stils. Apollo, der das Apollinische verkörpert, ist als „Gott aller bildnerischen Kräfte [...] zugleich der wahrsagende Gott. Er, der seiner Wurzel nach der Scheinende', die Lichtgottheit ist, beherrscht auch den schönen Schein der innern Phantasie-Welt." Apoll gibt uns ein Bild von „maassvoller Begrenzung", der „Freiheit von den wilderen Regungen, der „weisheitsvollen Ruhe des Bildnergottes". Er selbst verkörpert das „principium individuationis". Das Dionysische versucht Nietzsche zu erläutern, was oft überlesen wird, mit Hilfe der „Analogie des Rausches". Das heißt, es ist schon hier nicht für Nietzsche identisch mit dem Rausch, das Dionysische ist nicht der Rausch schlechthin, obwohl andererseits uns Nietzsche immer wieder auch nahelegt, daß es der Rausch ist. Das Wesen des Dionysischen erscheint uns in der zu dem „ungeheuren Grausen", das den Menschen ergreift, „wenn er plötzlich an den Erkenntnisformen der Erscheinungen irre wird" hinzukommenden „wonnevollen Verzückung", die aus dem „Zerbrechen des principii individuationis" emporsteigt (KSA 1, 28). Das Dionysische kann durch „narkotische Getränke", durch Stimmungswandlungen des Menschen in Folge des Wechsels der Jahreszeiten, durch die singend-tanzende Verzücktheit der Menschen während der Auszeiten für die Seele im Mittelalter, in den Volksfesten und im Karneval zum Durchbruch kommen und in deren „Steigerung das Subjektive zu völliger Selbstvergessenheit" treiben (vgl. KSA 1, 29). -

-

„Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch

und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. Freiwillig beut die Erde ihre Gaben, und friedfertig nahen die Raubthiere der Felsen und der Wüste. Mit Blumen und Kränzen ist der Wagen des Dionysus überschüttet: unter seinem Joche schreiten Panther und Tiger. Man verwandele das Beethoven'sche Jubellied der ,Freude'

Irrtums, Regensburg 1966; Leo Kofier, Der asketische Eros, Wien/Frankfurt a.M./Zürich 1967; Karlfried Gründer, „Apollinisch/dionysisch", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel/Stuttgart 1971; Max L. Baeumer, „Das moderne Phänomen des Dionysischen und seine .Entdeckung' durch Nietzsche", in: Nietzsche-Studien 6/1977; Rüdiger Schmidt, „Ein Text ohne Ende für den Denkenden". Zum Verhältnis von Philosophie und Kulturkritik im frühen Werk Friedrich Nietzsches, Königstein/Ts. 1981, 34-71; Ernst Behler, „Die Auffassung des Dionysischen durch die Brüder Schlegel und Friedrich Nietzsche", in: Nietzsche-Studien 12/1983; Bernhard Lypp, „Dionysisch-Apollinisch: Ein unhaltbarer Gegensatz", in: Nietzsche-Studien 13/1984; Friedhelm Decher, „Nietzsches Metaphysik in der,Geburt der Tragödie' im Verhältnis zur Philosophie Schopenhauers", in: Nietzsche-Studien 14/1985; Michel Maffesoli, Der Schatten des Dionysos. Zu einer Soziologie des Orgiasmus, Frankfurt a.M. 1986; Margot Fleischer, „Dionysos als Ding an sich", in: Nietzsche-Studien 17/1988; Horst Turk, „Nietzsches ,Geburt der Tragödie' und die Rettung des Apollinischen", in: Gerhard Buhr, Friedrich A. Kittler u. Horst Turk (Hg.), Das Subjekt der Dichtung, Würzburg 1990; Hanna Gekle, Die Tränen des Apoll, Tübingen 1990; Werner Stegmaier, „Nietzsches Kritik der Vernunft seines Lebens", in: Nietzsche-Studien 21/1992; Era Angenvoort, Das dionysische Ja. Nietzsche und das Problem des schöpferischen Leidens, Egelbach/Frankfurt a.M./St. Peter Port. 1995; Marcel Détienne, Dionysos. Göttliche Wildheit, München 1995; Jean Pierre Vernant, „Der maskierte Dionysos", Berlin 1996; Camille Paglia, Die Masken der Sexualität, München 1996.

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in ein Gemälde und bleibe mit seiner Einbildungskraft nicht zurück, wenn die Millionen schauervoll in den Staub sinken: so kann man sich dem Dionysischen nähern. Jetzt ist der Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder ,freche Mode' zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnissvollen Ur-Einen herumflattere. Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung. Wie jetzt die Thiere reden, und die Erde Milch und Honig giebt, so tönt auch aus ihm etwas Uebernatürliches: als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wandeln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches. Der edelste Thon, der kostbarste Marmor wird hier geknetet und behauen, der Mensch [...]." (KSA 1, 29 f.)13

Vergleich zum Apollinischen ist das Dionysische „die ewige und ursprüngliche Kunstgewalt, die überhaupt die ganze Welt der Erscheinung ins Dasein ruft: in deren Mitte ein neuer Verklärungsschein nöthig wird, um die belebte Welt der Individuation im Leben festzuhalten." (KSA 1, 155) Sofern wir uns eine Menschwerdung der (dionysischen) Dissonanz, die der Mensch ist, denken könnten, Im

Dissonanz, um leben zu können, eine herrliche Illusion brauchen, die ihr einen Schönheitsschleier über ihr eignes Wesen decke. Dies ist die wahre Kunstabsicht des Apollo: in dessen Namen wir alle jene zahllosen Illusionen des schönen Scheins zusammenfassen, die in jedem Augenblick das Dasein überhaupt lebenswerth machen und zum Erleben des nächsten Augenblicks drängen. Dabei darf von jenem Fundamente aller Existenz, von dem dionysischen Untergrunde der Welt, genau nur soviel dem menschlichen Individuum in's Bewusstsein treten, als von jener apollinischen Verklärungskraft wieder überwunden werden kann, so dass diese beiden Kunsttriebe ihre Kräfte in strenger wechselseitiger Proportion, nach dem Gesetze ewiger Gerechtigkeit, zu entfalten genöthigt sind. Wo sich die dionysischen Mächte so ungestüm erheben, wie wir dies erleben, da muss auch bereits Apollo, in eine Wolke gehüllt, zu uns herniedergestiegen sein; dessen üppigste Schönheitswirkungen wohl eine nächste Generation schauen wird." (KSA 1, 155) „so würde diese

Das Apollinische und das Dionysische sind Nietzsche existenziell „künstlerische Mächte", die Ereignischarakter haben, sofern sie scheinbar „aus der Natur selbst, ohne Vermittlung des

13 Wobei dieser dionysische Zauber auf die „dionysischen Griechen" bezogen werden muß, die immer das Dionysische der „dionysischen Barbaren" durch Apollo vermittelt und schon „entschärft" aufnahmen. Das Dionysische der Barbaren ist Nietzsche „fratzenhaft" und „ungeschlacht", es ist gekennzeichent durch „überschwängliche geschlechtliche Zuchtlosigkeit, deren Wellen über jedes Familienthum und dessen ehrwürdige Satzungen hinweg flutheten", durch Entfesselung der „wildesten Bestien der Natur", durch eine „abscheuliche Mischung von Wollust und Grausamkeit", die Nietzsche als „der eigentliche ,Hexentrank'" erscheint (KSA 1,31 f.).

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menschlichen Künstlers" hervorbrechen. In ihnen befriedigen sich für Nietzsche „zunächst und auf direktem Wege" deren grundlegende Kunsttriebe:

„einmal als die Bilderwelt des Traumes, deren Vollkommenheit ohne jeden Zusammenhang mit der intellectuellen Höhe oder künstlerischen Bildung des Einzelnen ist, andererseits als rauschvolle Wirklichkeit, die wiederum des Einzelnen nicht achtet, sondern

sogar das Individuum zu vernichten und durch eine mystische Einheitsempfindung zu erlösen sucht. Diesen unmittelbaren Kunstzuständen der Natur gegenüber ist jeder Künstler ,Nachahmer', und zwar entweder apollinischer Traumkünstler oder dionysischer Rauschkünstler oder endlich wie beispielsweise in der griechischen Tragödie zugleich Rauschund Traumkünstler: als welchen wir uns etwa zu denken haben, wie er, in der dionysischen Trunkenheit und mystischen Selbstentäusserung, einsam und abseits von den schwärmenden Chören niedersinkt und wie sich ihm nun, durch apollinische Traumeinwirkung, sein eigener Zustand d. h. seine Einheit mit dem innersten Grunde der Welt in einem gleichnisartigen Traumbilde offenbart." (KSA 1, 30 f.) -

-

Das

Apollinische verkörpert sich in der „Lust der Erscheinung", das Dionysische im „Schmerz der Erscheinung" (vgl. KSA 7, 199; 7 [154]). Das eine ist „wahrhaft schöne Fläche", das andere „schreckliche Tiefe" (vgl. KSA 7, 352; 11 [1]). Das Apollinische und das Dionysische stehen sich in den beiden Gottheiten abstrakt gegenüber: „Apollo der ewige Gott des Weltbestandes", Dionysos als Gott der „Weltverwandlung" (KSA 7, 240; 8 [46]); „Ziel des Staats" ist Apollo. „Ziel des Daseins" ist Dionysus (KSA 7, 151; 7 [54]).

Nun kann aber auch nicht

geleugnet werden, daß die polarisierende Darstellungsweise des Gegensatzes von Dionysischem und Apollinischem in der Geburt der Tragödie die polarisierende Rezeption dieses Gegensatzes in der Philosophie des 20. Jahrhunderts selbst gefördert hat. In dem Versuch, diese Rezeption zu systematisieren, kam Martin Vogel schon Mitte der

sechziger Jahre auf folgende, hier zusammengefaßte, erstaunliche Auflistung:14

Apollinisch

Dionysisch

Aufklärung

Romantik

Individuation

Religion Organismus

System

Gesellschaft Staat Summe und Stücke Addition sondernd tektonisch denkend nüchtern bestimmt hell

14 Martin

Vogel, Apollinisch und Dionysisch.

(Analyse)

Gemeinschaft Volk Ganzheit (Synthese) Wachstum kontinuierlich fließend fühlend rauschvoll unbestimmt dunkel

Geschichte eine genialen Irrtums,

Regensburg 1966, 206-209.

Leibkultur und Rausch

begrenzt Peras

harmonisch Persönlichkeit das Typische der Mensch, Adel

Vollendung

über der Zeit,

unpolitisch episch Sonderung der Gattungen plastisch Bindung und Isolierung koordinierend formalistisch ethizistisch Grenze und Maß

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unendlich

Apeiron

antithetisch Individualität das Ideale

Gemeinschaft, Volk Fortschritt in der Zeit,

politisch lyrisch (-dramatisch) Mischung der Gattungen

musikalisch Lösung und Verschmelzung subordinierend antiformalistisch

ästhetizistisch Öffnung der Grenze, Überschreiten des Maßes

Mythos

Beziehung Mythologie

zentripetal

zentrifugal

Gestalt

Einheit von Ding und Wesen das Ding deutet auf das Wesen zeitlose Gegenwärtigkeit Unendlichkeit diesseitig, Erfüllung metaphysisch, Sehnsucht Tendenz zur Ruhe und Klarheit das Pathetische

Wölfflin Schröeder Prinzhorn Strich Scheffler Hocke

Schiller Korff Abendroth

Tendenz zum

Expressiven, Spektakelhaften

das Enthusiastische oder Bombastische

objektiv allgemeine Gesetzmäßigkeit Wertung Angleichung des Objekts Neudichtang

subjektiv innere Gesetzmäßigkeit Einfühlung, Historizismus Angleichung des Subjekts

apollinisch

dionysisch

Renaissance Renaissance

Aufklärung klassisch realistisch

Vollendung griechisch

Übersetzung

Barock Gotik Romantik romantisch idealistisch Unendlichkeit

gotisch

Attizismus

Asianismus

Klassik Abel Ariel naiv

Manierismus Kain Caliban sentimentalisch irrational vital

rational

spiritual

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Worringer

Simmel Sieber Hildebrandt Iwanow

Abstraktion

Gestaltung Chaosbewältigung Peras Monas

Einheit

Rosengarth

Gestaltungsstreben

Regressionsdrang

Schwabe

Kynast

nordisch

Spitzer

Noll

Burrow

Jung

Choisy v.

Gesittung

Kultur harmonisch affektfrei Liebe

allozentrisch introvertiert

inspirierte Schöpfung Intuition Instinkt

oral solar unnordisch (westisch-vorderasiatisch) Barbarei Afterkultur antithetisch affektiv Streit

autozentrisch

Mann

extravertiert Ausbruch der Instinkte Fließendes Weib

Statisches Seelenstatik

Dynamisches Seelendynamik

Verdrängung

Dettelbach Festes

Spengler

Vielheit

Einigung logische Gestaltungskraft

anal lunar

Hübscher

Schöpfung

Chaoshingabe Apeiron Dyas Trennung

Dialektik Bewußtsein

Mette

Einfühlung

Sicher wird man zu all diesen Entgegensetzungen sagen können, daß sie doch Nietzsche verfälschen, indem man sein Denken vereinfacht; man kann aber mit wenigem interpretatorischem Geschick auch zeigen, daß all dies mit guten Gründen und Begründungen aus

Nietzsches selbstwidersprüchlichen Äußerungen zum Dionysischen und Apollinischen in seinen verschiedenen Werkphasen ableitbar ist. Mit dem einfachen Beiseiteschieben der Interpretationsgeschichte einer Interpretation (hier der Nietzscheanischen vom Dionysischen und Apollinischen) oder dem Geltenlassen aller möglichen Interpretationen nach dem „Principle of charity" ist es aber nicht getan, wenn man Nietzsche besser verstehen will, als er sich selbst verstanden hat, und wenn man ihn für unsere Zeit gewinnbringend verstehen will. Dann aber muß man ihn nicht nur historisch-monumental, historisch-antiquarisch, kritisch-philologisch oder kritisch-psychoanalytisch verstehen, sondern geschichtlich-systematisch und versuchen, das zu begreifen, was Nietzsche dachte, indem man es „erweiternd", anders als Nietzsche selbst und doch in den Perspektiven seines Denkens denkt. Deshalb ist mir an dieser Auflistung wichtig, daß sie nicht nur in sehr verkürzter Form eine

Rezeptionsgeschichte der Philosophie Nietzsches darstellt, sondern daß sie auch eine „kleine" systematische Geschichte der Philosophie (unter Einschluß der Geschichte der Kunst-, Musik-

und Literaturwisenschaft) enthält. Es ist natürlich klar, daß diese Gegensatzauflistung in Anschluß an Nietzsche nun noch weiter fortgesetzt kann (und muß), und zwar deshalb, weil sich die Rezeption des Nietzschea-

Leibkultur und Rausch

55

nischen Gegensatzes vom Dionysischen und Apollinischen in Folge der systematischen Philosophiediskussionen in den letzten dreißig Jahren wesentlich verändert hat. Demzufolge wären mindestens noch folgende Entgegensetzungen zu ergänzen:15

Apollinisch

Dionysisch

Geist idealistisch Seele

Materie materialistisch

gezähmte Körper gezähmtes Denken Körper-Haben

wilde Leiber wildes Denken Leib-Sein Existenz Dasein

Denken Staat Vernunft

Körper

Leben

Logos

Mythos

Rationalität

Emotionalität

Mystik

Hysterie

Dialektik Zivilisation Kultur Kultur Historie Moderne

bürgerlich

Alte Tradition Konservativ Blüte Identität

Objektivierung Trennung Vermittlung Stil

Stilisierung

Individuation Nüchternheit Reinheit Einfachheit

Hermeneutik Kultur Natur Barbarei Geschichte Antimoderne

antibürgerlich Neue

Utopie

Fortschritt Wurzel Differenz

Subjektivierung

Einheit Unmittelbarkeit Eklektizismus Natürlichkeit Zerrissenheit Rausch Trübheit

Verwirrung

Nacht

Tag

selbstbewußtes Ich

gefühltes Selbst

15 Im folgenden ordne ich nur die Gegenüberstellungen, die u. a. in der Literatur zu finden sind, die in der Fußnote 12 angegeben wurde. Wobei ich den Dualismus von Bio- und Selbsttechnologie im Anschluß Michel Foucault als die bedeutendste Weiterentwicklung der Nietzscheanischen Ideen in bezug auf das Verhältnis von Dionysischem und Apollonischem halte was andernorts entwickelt wurde und deshalb hier nicht Gegenstand ist. -

Volker Caysa Ichheit Selbstsein schöner Schein Phalluskultur Erhabene Oberfläche reine Äußerlichkeit

Entselbstung Selbstüberwindnung

häßliches Sein Geburtskultur

Schreckliche Tiefe umeine Innerlichkeit

Ewiges Gesetz

Gesetzlosigkeit

Metaphysik

Seyn Antimetaphysik

Feststehend Seiendes

In-der-Welt-Sein Technik Wissenschaft Wahrheit Identität Urteil E-Kunst Zweckhaftes, Nützliches tauschbarer Mehrwert Tauschwert-Produktion und -Konsumtion Waren

kapitalistisch Reich der Notwendigkeit

Werdend

Zur-Welt-kommen Mensch Kunst

Wahrhaftigkeit

Differenz Ur-Teilende

Unterhaltung

Zweckloses, Unnützes nichverwerterter Überschuß Gebrauchswert-Produktion und -Konsumtion Güter

antikapitalistisch

Unterwerfung

Reich der Freiheit Reaktion ;) Aufhebung der Entfremdung Kritik Aufruhr

Erziehung

Homogene Bildung

Fortschritt

Entfremdung (Verdinglichun Anpassung Heternome Vernunft Askese Altruismus

Begrenzung Enge

Sinnlichkeit Ekstase

Egoismus Entgrenzung

Sinn

Weite Wahnsinn

Organisation

Orgiasmus

Konstruktiv Maßvoll Mensch Humanes Kältestrom Macho

Ewig-Männliches gewaltlose Zartheit Tyrannei des Gewissens

Destruktiv Maßlos Tier

Animalisches Wärmestrom Mütter

Ewig-Weibliches gewalttätige Rohheit gewissenloser Vandale

Leibkultur und Rausch

57

Triebverzicht Zucht

Trieb

Ordnung

Begierde Unordnung

Eros

Tanz Mütter des Seins Göttlichkeit Diesseits Geschlechtlichkeit sexueller Eros Sex

Frigidität

Promiskuität

Marsch Vater-Sein Gott Jenseits Enthaltsamkeit asexuelle Liebe Athletismus

Zynismus Haß

Vergessen

Herrschaft Härte Ernst

Unnachgiebigkeit Frieden

Olympisches Anschauung Voyeurismus Aufgabe Pflicht Moral Rücksicht Wahl Fit

3. Der Eine Grund des

Phryneismus Kynismus

romantische Liebe

Erinnerung

Unterworfensein Weichheit Lachen Mitleid

Krieg

Chtonisches Schmerz Exhibitionismus

Hingabe Verantwortungslosigkeit Immoralismus

Rücksichtslosigkeit Wahllosigkeit

Fun

Gegensatzes

Schon in der Zeit der Entstehung der Geburt der Tragödie hat Nietzsche den Gegensatz der beiden Kunsttriebe von Apollinischem und Dionysischem als „Stilgegensätze" bestimmt.16 Daran scheint Nietzsche in der Götzen-Dämmerung wieder anzuknüpfen. In der GötzenDämmerung hat Nietzsche selbst nun den Ansatz zur grundlegenden Aufhebung dieser antinomischen und teilweise aporetischen Rezeption des Gegensatzes von Dionysischem und Apollinischen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts gegeben. Er schreibt:

„Was bedeutet der von mir in die Aesthetik eingeführte Gegensatz-Begriff apollinisch und dionysisch, beide als Arten des Rausches begriffen? Der apollinische Rausch hält vor Allem das Auge erregt, so dass es die Kraft der Vision bekommt. Der Maler, der Plastiker, -

16 Dies betrifft sowohl „Die KSA 1,553 und 581.

dionysische Weltanschaung" als auch „Die Geburt des tragischen Gedankens". Vgl.

Volker Caysa

58

Epiker sind Visionäre par excellence. Im dionysischen Zustande ist dagegen das gesammte Affekt-System erregt und gesteigert: so dass es alle seine Mittel des Ausdrucks mit einem Male entladet und die Kraft des Darstellens, Nachbildens, Transfigurirens, Verwandeins, alle Art Mimik und Schauspielerei zugleich heraustreibt. Das Wesentliche bleibt die Leichtigkeit der Metamorphose, die Unfähigkeit, nicht zu reagiren (- ähnlich wie bei gewissen Hysterischen, die auch auf jeden Wink hin in jede Rolle eintreten). Es ist dem dionysischen Menschen unmöglich, irgend eine Suggestion nicht zu verstehn, er übersieht der

kein Zeichen des Affekts, er hat den höchsten Grad des verstehenden und errathenden Instinkts, wie er den höchsten Grad von Mittheilungs-Kunst besitzt. Er geht in jede Haut, in jeden Affekt ein: er verwandelt sich beständig." (KSA 6, 117 f.)

und Dionysisch werden nun als zwei verschiedene Erscheinungsweisen eines Grundes, des Rausches, begriffen. Das Apollinische und das Dionysische sind für Nietzsche je unterschiedlich artifizielle Stilisierungen und Verklärungen ein und desselben Grundes: des Rausches. Der Rausch ist nun in je unerschiedenen Kunst- und Stilformen Bedingung der

Apollinisch

Möglichkeit von Kunst überhaupt:

„Damit es Kunst giebt, damit es irgend ein ästhetisches Thun und Schauen giebt, dazu ist

eine physiologische Vorbedingung unumgänglich: der Rausch. Der Rausch muss erst die Erregbarkeit der ganzen Maschine gesteigert haben: eher kommt es zu keiner Kunst. Alle noch so verschieden bedingten Arten des Rausches haben dazu die Kraft: vor Allem der Rausch der Geschlechtserregung, diese älteste und ursprünglichste Form des Rausches. Insgleichen der Rausch, der im Gefolge aller grossen Begierden, aller starken Affekte kommt; der Rausch des Festes, des Wettkampfs, des Bravourstücks, des Siegs, aller extremen Bewegung; der Rausch der Grausamkeit; der Rausch in der Zerstörung; der Rausch unter gewissen meteorologischen Einflüssen, zum Beispiel der Frühlingsrausch; oder unter dem Einfluss der Narcótica; endlich der Rausch des Willens, der Rausch eines überhäuften und geschwellten Willens. Das Wesentliche am Rausch ist das Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle." (KSA 6, 116)17 -

Die wahre Kunst wird also für Nietzsche im Rausch geboren und der kann dionysisch erscheinen oder apollinisch. Insofern aber diese Kunst grundlegend für die Kultur ist und Kultur für Nietzsche wesentlich Physis ist, wird eine neue Leibkultur im Spannungsfeld der je unterschiedlichen Rauschgestalten des Dionysischen und Apollinischen geboren. In dieser dionysisch-apollinischen Leibkultur ist der Leib immer als begeistert und Seele immer als verkörpert zu denken. Diese dionysisch-apollinische Rauschkultur, freilich unter Dominanz des Dionysischen, gebiert Zarathustra. Diese beiden Grundformen des Rausches, das Dionysische und Apollinische sind Nietzsche nun Stilmittel, um den Willen zur Macht zu realisieren, der den Über-Menschen schafft. Die Kenntnis und Beherrschung der eigenen Leiblichkeit im Spannungsfeld dieser beiden Stilmittel ist Nietzsche Bedingung der Möglichkeit der Realisierung der Selbstmacht des Individuums und des Willens zur Macht.

hier, daß Nietzsche in seinem Spätwerk die dionysische Barbarei, die er noch in der Geburt der Tragödie vom eigentlich griechisch Dionysischen und dem damit verbunden Rausch getrennt haben wollte, in den dionysisch-apollinischen Rausch integriert.

17 Deutlich wird

59

Leibkultur und Rausch Dadurch wird nicht

nur

der Wille zur Macht in bezug auf die

Erneuerung der eigenen Physis

realisiert, sondern selbst neue Macht geschaffen. Es zeigt sich, daß es ein schwerwiegender Irrtum ist zu glauben, daß am Dionysischen das

Problem der Rausch ist und die damit verbundene Trieb- und Affektfreisetzung. Wäre dies so, dann wäre das Apollinische als Art des Rausches, nicht die Rettung vor der Gefahr, sondern ebenso gefahrlich. Das Problem des Rausches ist nicht der Rausch selbst, sondern die Ekstase, die er ermöglicht und auf die er nicht reduziert werden darf. Denn die Ekstase ist nur ein Moment des Rausches und nicht der Rausch in seiner Gesamtheit. Zur Ekstase kann man dionysisch und apollinisch gelangen. Jedes ekstatische Erlebnis führt dazu, daß man es, wenn man es einmal positiv erlebt hat, immer wieder sucht, und deshalb kann jede Form von Rausch zu einer Sucht werden, die dann tatsächlich hemmungslos jenseits von Dionysischem und Apollinischem ist. Gegen Sucht aber hilft kein Mitleid, sondern nur couragierte Liebe und der gekonnte Umgang mit der Lust im Rausch, der den Rausch selbst zügelt. Nur so wird uns die „Verzückung" auch weiterhin „entzücken" können, nur so wird man die Entfesselung der Kräfte auch wieder fesseln können, nur so wird man sich im Außer-SichSein nicht gänzlich verlieren. Genau das aber macht Kultur wesentlich aus: Stil zu beweisen, selbst wenn man außer sich ist. -

-

Wolf Dietrich

Nietzsches Wahnsinn Somato-psychische Aspekte

Von einem klinischen Standpunkt läuft die Frage nach der Bedeutung Nietzsches für das abendländische Denken auf eine Deutung der verschiedenen Erscheinungsformen seiner Krankheit hinaus. War sein Wahnsinn die Folge einer zufälligen, syphilitischen Ansteckung, die seiner Denkweise Abbruch tat und im Tertiärstadium der progressiven Paralyse endete? Oder war er die Endstation einer immanenten Entwicklung, die Nietzsche nicht nur erkannte und als schicksalhaft empfand, sondern sogar förderte, um daraus die letzten Konsequenzen für seine Philosophie zu ziehen? Im ersten Fall wird man nach dem Zeitpunkt der Ansteckung suchen, um Nietzsche mit Einschränkungen zur Zunft der Philosophen zu zählen oder ihn auch völlig davon zu disqualifizieren. Im letzteren Fall aber wird man den Wahnsinn als sinnstiftend für sein Werk ansehen und gerade in seiner Verachtung für die traditionelle ,Liebe zur Weisheit' den Grundpfeiler einer neuen Denkweise entdecken. Was allen bisherigen Diagnosen von Nietzsches Krankheit abgeht, ist eine ernsthafte Untersuchung seiner eigenen Aussagen dazu, die verschlüsselt oder unverschlüsselt sein ganzes Werk durchziehen.1 Schon eine erste Prüfung ergibt nämlich, daß Nietzsche selbst nie eine exogene Ursache seiner Leiden in Betracht zog, sondern Zeit seines Lebens an eine konstitutionelle, ererbte Krankhaftigkeit glaubte. So konfrontierte er noch nach seinem Zusammenbruch die Jenaer Ärzte mit dem süffisanten Satz: „Daß mein Vater an Gehirnerweichung gestorben ist, wissen Sie wohl".2 Aber auch einen psychogenen Ursprung hatte er anscheinend mit zunehmender Dauer der Krankheit verworfen. Beispielsweise spricht er 1887 von einer physiologischen Hemmung, die sich wie eine schwere seelische Erkrankung ausnimmt, „so bestimmt ich auch die Physis als die Schuldige weiß und anklage" (KSB 8, 112).

1

Dies kann unserer Meinung nach nur von einem tiefenpsychologischen Standpunkt aus geschehen. Schon Werner Ross hat es verwunderlich gefunden, daß sich die Psychoanalyse noch nicht des Falles Nietzsche angenommen hat (vgl. Werner Ross, Der ängstliche Adler, Stuttgart 1980, 796). Seither hat Pia Daniela Volz in ihrer monumentalen Studie von Nietzsches Krankheit auf eine nötige, aber noch ausstehende Psycho-Pathographie unter Einbeziehung psychoanalytischer Gesichtspunkte verwiesen (vgl. Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit, Würzburg 1990,14 f.). Leider liegt diese bis heute nicht vor, und auch der hiesige Beitrag kann nur als Vorarbeit dazu verstanden werden. Gewisse Aspekte, wie Nietzsches Sexualität, wurden bewußt ausgeklammert, da sie eine gesonderte Abhandlung verdienen und zum Teil auch schon erhalten haben (vgl. Günter Schulte, Ich impfe euch mit dem Wahnsinn ". Nietzsches Philosophie der verdrängten Weiblichkeit des Mannes, Frankfurt a.M. 1982; und Joachim Köhler, Zarathustras Geheimnis, Reinbek 1992). Andere Faktoren, wie Nietzsches Augenleiden und dessen neurologische Auswirkungen, verlangen nach einer vorwiegend medizinischen Interpretation, die uns leider erst im Ansatz gegeben wurde (vgl. J. Fuchs, „Friedrich Nietzsches Augenleiden", in: Münchner medizinische Wochenschrift 120 (1978), Nr. 18, 631 -634). 2 Franziska Nietzsche an Franz Overbeck, 13.2.1889, in: Erich F. Podach, Der Kranke Nietzsche, Wien 1937, 12. „

WolfDietrich

62

Tatsächlich hat Nietzsche nie einen Zweifel darüber gelassen, daß die Untersuchung des Leibes methodisch voranzustellen sei (KGA VIII, 5 [56]), und zwar nicht nur, was die Diagnose seiner Leiden betraf, sondern auch mit Bezug auf die Erkenntnis schlechthin. Er hielt den Leib für das reichere Phänomen, welches im Vergleich zur Seele die deutlichere Beobachtung zuläßt (KGA VII, 40 [15]), wenn auch die vielen Möglichkeiten, die wir dabei sehen, uns verwirren mögen (KSA 10, 525). Auf der Suche nach einem Weg durch diese Wirrnis, und nach einem Leitfaden durch das Labyrinth seiner Krankheit, wollen wir deshalb von den Ergebnissen ausgehen, zu denen Nietzsche selbst kam.

I. Nirgendwo stellt sich die Beziehung zwischen Nietzsches Leben und Werk besser dar, als in seiner Philosophie der Leiblichkeit. Nirgendwo tritt das Primat des Lebens über das Denken klarer zutage, als in seiner Einschätzung der eigenen Leiblichkeit. Und dies notwendigerweise so. Für einen Philosophen, der das Leben für ein „Experiment des Erkennenden" auffaßte (FW 319), der Leiden nicht von Leben zu trennen wußte (ZA III, „Vom Gesicht und Rätsel"; „Der Genesende") und den Schmerz für den großen Befreier hielt (FW, Vorrede 3), mußte der eigene Leib das nächstliegendste und geeignetste Instrument der Erkenntnis sein. Vom Kranken auf das Gesunde zu schließen gehörte schon früh zu Nietzsches Methode der Selbsterforschung (MA II, Vorrede 5), und noch in Ecce homo heißt es in Antwort auf die Frage, „Warum ich so weise bin": „Mitten in den Martern, die ein dreitägiger Gehirnschmerz samt mühseligem Schleim-Erbrechen mit sich bringt, besaß ich eine Dialektiker-Klarheit par excellence und dachte Dinge sehr kaltblütig durch, zu denen ich in gesünderen Verhältnissen nicht Kletterer, nicht raffiniert, nicht kalt genug bin" (EH, „Warum ich so weise bin" 1). Auf die Gefahr hin, der Verfälschung bezichtigt zu werden, indem wir ihn zitieren,3 wollen wir deshalb den Satz wagen, daß Nietzsche über die Vorrangigkeit des OrganischLeiblichen gegenüber dem Seelisch-Intellektuellen nie einen Zweifel ließ. Seine Äußerungen hierzu gipfeln einerseits in der Frage, ob nicht alle Philosophie bisher nur eine Auslegung und ein Mißverständnis des Leibes gewesen sei (FW, Vorrede 2), und andererseits in der Vorstellung von einem Wesen, das geistig genug wäre, das Verachtete zu vergolden und den Leib als das Höhere zu begreifen (KSA 10, 293). -

Es ist dies Nietzsches Variante des sokratischen Diktums: Ich

weiß, daß ich nichts weiß,

würdig eines Philosophens, der sich als Fürsprecher des Lebens wähnte, und damit als Fürsprecher des Leibes. Denn Leib und Leben hängen nicht nur etymologisch miteinander zusammen.4 Ein ,Leben' nach dem leiblichen Tod ist nicht nur schwer vorstellbar,

es

ist eine

logische und biologische Widersinnigkeit. Der Begriff des Leibes als lebendiger Körper, als Organismus, verstanden, soll dann auch die Grundlage für unsere weiteren Ausführungen sein.

Nach Nietzsche, Frankfurt a.M. 1983, 209: „Ein Fälscher ist, wer Nietzsche interpretiert, indem er Zitate aus ihm benutzt; denn er kann ihn all das sagen lassen, worauf er selber aus ist, indem er authentische Worte und Sätze nach freiem Belieben geschickt arrangiert 4 Duden, Bd. 7, Das Herkunftswörterbuch, Mannheim 1963: „Die alte Bed. .Leben', die im Engl. und Nord, bewahrt ist, hielt sich im Dt. bis in die mhd. Zeit 3

Vgl. Giorgio Colli,

"

"

Nietzsches Wahnsinn

63

Was Nietzsche über die Leiblichkeit zu sagen hat, fällt dabei um so mehr ins Gewicht, als es zum modus operandi dieses Denkers gehört, seine Philosophie aus dem Persönlichen und Biographischen zu entwerfen und das Erlebte und Erlittene dahingehend zu verallgemeinern, daß es als Grundlage einer Diagnostik des Mensch-seins an sich gelten könne. Schon früh verstand Nietzsche den Philosophen als „Arzt der Kultur",5 schon früh sah er sich als Arzt und Kranker in einer Person (MA II, Vorrede 5). Und was im Normalfall, um mit Kant zu sprechen, als „transzendentale Dummheit" bezeichnet werden muß nämlich das Einzelne als das Universelle anzusehen -, nimmt im Ausnahmefall Nietzsche den Schein von Genialität an.6 Das Genie, als Repräsentant des genus, der Gattung, verstanden, ist es nämlich, das ungestraft das bloß Subjektive als objektiv darstellen kann, das wie man so schön sagt den Kosmos in einer Blume erkennt und im eigenen Leben das Prinzip der Lebendigkeit schlechthin. Das Genie, möchte man sagen, erkennt den Gesamtcharakter des Daseins besser als der sogenannte ,normale' Mensch, weil es das Dasein besser repräsentiert. Nun wird Nietzsche niemand nachsagen, daß er dumm war, wohl aber, daß er verrückt wurde eine Tatsache, die sogleich an die so oft beschworene Affinität von Genie und Irrsinn denken läßt. Art und Grad dieser Verwandtschaft warten allerdings immer noch auf ihre wissenschaftliche Begründung. Es gibt schließlich Genies, die nicht irre werden, und eine Unzahl von Irren, die man nicht als genial bezeichnen würde, die um es drastisch auszudrücken mit Kot schmieren oder Urin schlürfen, wie es Nietzsche in Jena tat,7 ohne vorher philosophische Abhandlungen geschrieben zu haben. Man verfangt sich hier leicht in den Schlingen der logischen Kontraposition. Und dennoch gibt es ein Kriterium, das uns erlaubt, den klinisch Verrückten vom bloß verschrobenen, genialen Wissenschaftler oder Künstler zu unterscheiden. Es ist das Kriterium der Mitteilbarkeit und wurde von C. G. Jung zu Beginn dieses Jahrhunderts aufgestellt.8 Man mag denken, was man will Fantastisches, Unerhörtes, Unbeweisbares -, solange es einem gelingt, dieses Gedankengut anderen Menschen anschaulich zu machen, wird man kaum für verrückt gehalten werden, wohl aber oft für genial. Klinisch irre ist man erst, wenn man es nicht mehr schafft, aus dem Labyrinth seiner Gedankengänge herauszukommen, wenn man den Schatz im tiefsten Inneren gesichtet hat, aber nicht vermag, ihn zu bergen. „Ich glaube", sagt Nietzsche in einem berühmten Fragment aus der Umwertungszeit, „ich habe einiges aus der Seele des höchsten Menschen erraten; vielleicht geht jeder zugrunde, der ihn errät: aber wer ihn gesehen hat, muß helfen, ihn zu ermöglichen" (KGA VII, 26 [256]). Wie man sieht, streifen sich hier nicht nur die landläufigen Vorstellungen von Genie und Wahnsinn, sondern auch der Wahnsinn mit dem von Nietzsche entworfenen Bild des Übermenschen was für den Philosophen von besonderer Bedeutung ist. -

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5 Nach Erscheinen der Geburt der Tragödie erwog Nietzsche vorübergehend ein Werk unter diesem Titel. Vgl. seinen Brief an Carl von Gersdorff vom 2. 3.1873, KSB 4, 132. 6 Kant sieht in der Urteilskraft das angeborene Vermögen, etwas unter gegebene Regeln zu subsumieren. Vgl. Kritik der reinen Vernunft: „Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen" {Theorie-Werkausgabe, Frankfurt a.M. 1968, Bd. III, 185, Anmerkung). Das Genie wie der Dumme, könnte man sagen, geben sich ihre eigenen Regeln. 7 Hier wie im folgenden verlassen wir uns auf das vielleicht erstmals vollständig publizierte Original der Jenaer Krankengeschichte in Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheil, 392-415. 8 „Der Inhalt der Psychose" und „Neuere Betrachtungen zur Schizophrenie", in: Gesammelte Werke, Zürich 1966 ff, Bd. 3, 210 bzw. 288. Vgl. auch das Wortprotokoll zu Jungs Seminar, Nietzsche 's Zarathustra, hg. von James L. Jarrett, Princeton, N.J., 1988, Bd. 2, 1360.

WolfDietrich

64

Nun hat Nietzsche, ein Meister der Prägnanz und des bildhaften Ausdrucks solange er bei Bewußtsein war, es sehr wohl verstanden, sich und seine Gedanken über die Leiblichkeit mitzuteilen. Wie Colli treffend bemerkte: man kann ihn sehr wohl verstehen, man muß ihn nur verstehen wollen.9 Und diese, Nietzsches ureigene Fähigkeit, sich zu verständigen, steigerte sich sogar, je näher er seinem Zusammenbruch kam. Die Schriften von 1888 sind Meisterwerke rhetorischer Überzeugungskraft. Für den Psychologen ist schon diese Entwicklung bedeutsam, soll aber hier nicht weiter verfolgt werden. Tatsache ist, daß sich Nietzsches Meisterschaft in der Mitteilung nach seinem Zusammenbruch abrupt in ein wirres Gestammel und eine groteske Gebärdensprache verkehrte, die auch für den Tiefenpsychologen nicht immer leicht zu entschlüsseln ist. Wichtig erscheint uns vorerst, daß gerade dabei die Ausdrucksformen der Leiblichkeit eine hervorragende Rolle spielten. Wir kommen später darauf zurück. Zunächst halten wir es nicht für einen hinreichenden Grund, Nietzsches Philosophie der Leiblichkeit, seine Thesen über Gesundheit und Krankheit, Lust und Schmerz zu verwerfen, nur weil sie größtenteils seinen persönlichen Erfahrungen auf diesem Gebiet entspringen. Im Gegenteil, Äußerungen wie, „Mein Genie ist meinen Nüstern" (EH, „Warum ich ein Schicksal bin" 1), oder, „Die Nähe eines Deutschen verzögert meine Verdauung" (EH, „Warum ich so klug bin" 5) fördern, wie alle Rhetorik, das Verständnis, weil sie es dem Leser ermöglichen, das intellektuell Erkannte emotioneil nachzuvollziehen. Und dieser emotioneile Vollzug ist für Nietzsche in Sachen der Leiblichkeit sehr wichtig, denn er ist der Auffassung, daß das intellektuelle Bewußtsein am weitesten vom biologischen Zentrum des Menschen entfernt und dadurch am irrtumsfähigsten ist (KGA VIII, 7 (9), 11 [83]). Bei der Erkenntnis des Inneren muß der Beobachter gleich einem Taubstummen verfahren, um über eine Zeichensprache, über die Symptomatologie des Leibes, etwas über seinen Zustand zu erfahren (KGA VIII, 14 (144), 14 [145]). Nietzsche meint zwar, daß sich diese Erkenntnis beständig vertieft und dem Zentrum nähert (KGA VIII, 7 [9]), dieses aber vielleicht nie erreicht, weil es sich beständig verschiebt und verlagert (KGA VIII, 9 [98]). Zuletzt ist es vielleicht sogar eine Bedingung unseres individuellen Wohlergehens, daß dieses Zentrum nicht durch das Bewußtsein erschlossen werden kann (KGA VII, 40 [21]). Um so mehr muß es erstaunen, daß sich Nietzsche dennoch den Leib „methodisch zuerst" vornimmt. Gibt er sich damit nicht die Anleitung zur eigenen psychischen Destabilisierung? Nietzsche vergleicht das Bewußtsein mit einem Regenten, der über das Treiben der Untertanen im Dunkeln bleiben will, um seine eigene Handlungsfähigkeit nicht einzubüßen (KGA VII, 40 [21]). Das Ich-Bewußtsein des Menschen ist vornehmlich repräsentativer Natur. Seine Handlungen sind nach außen gerichtet. Daß es sich überhaupt nach innen wendet unwillkürlich oder, wie im Fall Nietzsche, mit voller Absicht mag schon ein Zeichen von Dekadenz, ein Symptom von Instinktverirrung sein. Auf jeden Fall aber birgt es die Gefahr einer solchen Verirrung, denn das Bewußtsein, das sich normalerweise die Welt nach den Regeln der wissenschaftlichen Logik zurechtlegt, betritt damit eine andere Domäne, in der andere, unlogische Regeln gelten. Der Unterschied ist, vereinfacht ausgedrückt, der zwischen Traum und Wirklichkeit, wobei der Verdienst, als erster die Gesetzmäßigkeit dieser Traumwelt erkannt zu haben, nicht -

9

Giorgio Colli, Nach Nietzsche, 27.

-

Nietzsches Wahnsinn

65

Nietzsche, sondern Sigmund Freud zukommt.10 Träume können allerdings nicht logisch analysiert, nicht verstanden' werden. Träume können nur gedeutet werden. Und die Deutung ist ein synthetischer Vorgang, bei dem der sogenannte Analytiker seine eigene Person mit einbringt und der auf analogischen, dialektischen Momenten beruht. Der Traum ist die Sprache des Leibes. Hinter ihr verbirgt sich eine andere, radikale Wahrheit," im Vergleich zu welcher sich die wissenschaftliche Bestimmung der Außenwelt wie eine Tagträumerei ausnimmt. Bei der Erforschung des Innenlebens fühlt man sich, um ein Bild Nietzsches zu gebrauchen, wie auf dem Rücken eines Tigers hängend (WL, KSA 1, 877), ohne Halt, ohne Schwerpunkt, ohne jenen archimedischen Punkt, der es einem erlauben würde, auch nur eine fiktive Ordnung herzustellen. Erkenntnistheoretisch befindet man sich im Labyrinth. Praktisch-moralisch ist man dem Gesetz des Dschungels unterworfen, wonach eine Vielfalt von Machtzentren im beständigen Kampf miteinander stehen, sich immer wieder anordnen und verschieben. Der Mensch entpuppt sich als jenes Untier, für das sich Nietzsche mit zunehmender Umnachtung hielt, als ein Chaos von Kräften, die nach Auflösung des Ich-Bewußtseins auseinanderstreben. Die Frage stellt sich, ob und wie im Sinne Nietzsches aus diesem Chaos noch ein „tanzender Stern" (ZA I, Vorrede 5), ein Shiva, ein Zarathustra, ein neuer, vielleicht göttlich zu nennender Mensch geschaffen werden kann. Vorläufig wissen wir nur, daß Nietzsche eine vertiefte Kenntnis der eigenen Leiblichkeit für die Bedingung jedes erhöhten Menschentums angesehen hat.

II. Wir sehen: die Gefahr besteht

darin, daß die innere Erleuchtung mit einer äußeren Umnach-

tung einhergeht, daß die Erkenntnis des Somatischen einen Verfall des Psychischen nach sich

zieht, der Regent entmachtet wird, die Einheit des Bewußtseins zerfallt. Man ist schon de facto ,ver-rückt', d. h. von seinem Zentrum abgerückt exzentrisch eben -, wenn man sich

sehr mit sich selbst beschäftigt und der äußeren Wirklichkeit keine Aufmerksamkeit mehr schenkt.12 Klinisch gesprochen, ist dies eine relativ harmlose Vorstufe der Schizophrenie.13 Aber dieser rein psychische Vorgang hat auch eine neurologische Parallele. Es gibt eine Krankheit, die lues cerebri, welche ätiologisch der progressiven Paralyse zugrunde liegt und von der man lange Zeit nicht wußte, ob sie auf endogene oder exogene Ursachen zurückzuführen sei. Lues heißt .Auflösung', ,Zerfall', und cerebrum ist das Großhirn, der Teil des Gehirns, in dem sich alle höheren intellektuellen Funktionen abspielen und der als ,Sitz' des spezifisch menschlichen Bewußtseins gilt. Die Zersetzung der Großhirnrinde ist charakteristisch für das tertiäre Stadium der Syphilis, wie sie zum Beispiel bei der Autopsie -

zu

10

Sigmund Freud, Die Traumdeutung(1900), in: Studienausgabe, Frankfurt a.M. 1972, Bd. II., Kap. VI, Abschnitt I, gibt eine Zusammenfassung der Mechanismen (Verschiebung, Verdichtung, Umkehrung etc.), die vom mani-

festen Trauminhalt auf die latenten Traumgedanken schließen lassen. 11 Der Begriff dieser „vérité radicale" wird bei Angele Kremer-Marietti, L'homme et ses

labyrinthes, Paris 1972, entwickelt. 12 Vgl. Helm Stierlin, Nietzsche, Hölderlin und das Verrückte, Heidelberg 1992, 7. Stierlin leitet den Ausdruck aus dem Uhrmacherhandwerk ab. 13 C. G Jung, „Über die Psychologie der Dementia praecox", in: Gesammelte Werke, Bd. 3, insb. 3-57.

WolfDietrich

66

Maupassants festgestellt wurde.14 Zu jener Zeit glaubte man allerdings auch an endogene, erbliche Faktoren in diesem Prozeß, da eine syphilitische Ansteckung nicht immer nach-

konnte. Mit der Entwicklung der diagnostischen Methoden Anfang des 20. Jahrhunderts wurde dann die lues cerebri immer öfter auf venerische, also exogene Faktoren zurückgeführt, bis schließlich der Ausdruck lues euphemistisch für Syphilis verwendet wurde.15 So konnte Otto Binswanger, der Nietzsche in Jena behandelte, 1922 an Adalbert Oehler über die Ätiologie von Nietzsches Leiden schreiben:

gewiesen werden

„Die Art und der Verlauf sowie die Dauer der Erkrankung führen weder im positiven noch im negativen Sinne zur Lösung der Frage. Dabei ist aber zu berücksichtigen, daß die

Diagnose progressive Paralyse nicht angezweifelt werden kann und dies Nervenleiden heutigen Stande der Wissenschaft eine syphilogene Erkrankung des Central-

nach dem

nervensystems ist".16

Selbst Freud, der Nietzsche eine Fähigkeit zur Introspektion zuschrieb, wie sie noch bei keinem Menschen erreicht wurde und „wahrscheinlich auch nicht mehr erreicht werden" dürfte, ging dabei von der Annahme einer syphilitischen Infektion aus. Diese soll eine „Auflockerung" von Nietzsches Gehirn bewirkt haben, was wiederum die Voraussetzung seiner außergewöhnlichen Selbstkenntnis gewesen sein soll, bevor er in den eigenen Abgrund fiel.17 Man sollte jedoch festhalten, daß der Rückgang von erblichen Faktoren in der Diagnose der progressiven Paralyse zu Anfang dieses Jahrhunderts im umgekehrten Verhältnis zur Zunahme der Fälle diagnostizierter Schizophrenie stand. Was aber die Diagnose von Schizophrenie betrifft, nimmt man heute noch an, daß konstitutionelle, also erbliche, Faktoren in ca. 50 % aller Fälle ausschlaggebend sind.18 Vereinfacht könnte man sagen, daß die Erblichkeit, nachdem sie als Faktor in der progressiven Paralyse weggefallen war, in der Ätiologie der Schizophrenie wieder auftauchte. Nun ist gerade in der Familie Nietzsches von psychischen und behavioristischen Anomalien berichtet worden, so daß man erbliche Faktoren in der Umnachtung Nietzsches prinzipiell nicht ausschließen kann. Seine Tanten väterlicherseits, Auguste und Rosalie, waren verschroben, depressiv bzw. nervös. Auf mütterlicher Seite war sein Onkel Theobald Oehler zeitlebens depressiv und beging möglicherweise Selbstmord.19 Auch Edmund Oehler, der später sein Vormund werden sollte, wurde von Nervenkrisen geplagt und gab sogar vorübergehend sein Amt als Pfarrer auf. Eine Cousine mütterlicherseits, Elisabeth Knieling, soll ebenfalls an einer „unheilbaren" Nervenkrankheit gelitten haben.20 Schließlich starb

14 Gaston Vorberg, Zusammenbruch, München 1923, 29-32. 15 Aufzeichnung aus dem Nietzsche-Archiv (NA 72/2887), zit.

n. Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit, 369. 16 NA 72/2759, zit. ebd., 368. 17 Vgl. Protokolle der Wiener psychoanalytischen Vereinigung, hg. von Herman Nunberg und Ernst Federn, Frankfurt a.M. 1976, Bd. 2, 28. 18 HJ. Eysenck („Genetische Faktoren bei psychischer Abnormität", in: Handbuch der Psychologie, Göttingen/Toronto/Zürich 1977, Bd. 8/1, 3053) korrigiert diesen Mittelwert auf 81 % und spricht von der „überragenden Bedeutung der additiven genetischen Einflüsse". 19 Klaus Goch, Franziska Nietzsche, Frankfurt a.M./Leipzig 1994, 365. 20 Ebd., 366.

Nietzsches Wahnsinn

67

Nietzsches kleiner Bruder Joseph im Alter

„Krämpfen".21

von

knapp zwei Jahren an nicht weiter definierten

Das am besten dokumentierte Beispiel von konstitutioneller Schwäche ist jedoch sein Vater Ludwig, der im Alter von 35 Jahren an sogenannter .Gehirnerweichung' starb. Dem Tod vorausgegangen waren Symptome, die auch beim Sohn Friedrich zeitweise auftraten:

Kopfschmerzen, Krämpfe, starke Erregbarkeit, abwechselnd mit Phasen tiefer Melancholie, zeitweiser Bewußtseinsverlust und schließlich Verschlimmerung der Kurzsichtigkeit bis zur Erblindung.22 Eine Autopsie wurde vorgenommen und ergab, daß ca. ein Viertel seines Gehirns „erweicht" war.23 Volz meint in diesem Zusammenhang, daß die Diagnose .Erweichung' unter Umständen auch auf eine syphilogene Gehirnatrophie zurückzuführen sei. Eine Vererbung sei jedoch unwahrscheinlich.24 Diese Vorbehalte sind für uns in zweierlei Hinsicht interessant. Erstens ist unseres Wissens in Deutschland noch niemand der Frage nachgegangen, ob Nietzsches Vater selbst syphilitisch infiziert war, was in Anbetracht seines längeren Junggesellendaseins er heiratete erst mit 30 Jahren durchaus im Bereich der Möglichkeiten lag.25 Zweitens werden wir dabei an eine Erwägung Freuds erinnert, derzufolge Syphilis selbst zwar nicht erblich übertragbar sei, anscheinend wohl aber eine darauf zurückzuführende neuropathische Disposition.26 So daß ein Kausalnexus zwischen einer etwaigen syphilogenen lues cerebri des Vaters und einer in die Umnachtung führende schizo-affektive Psychose des Sohnes nicht auszuschließen ist. Dazu paßt nun Nietzsches Glaube an seine ererbte Krankhaftigkeit. Dazu paßt auch seine Überzeugung, daß sich das ,Individuum' in Wirklichkeit aus einer Vielheit von Kräften zusammensetzt, die sich nur nach langem Kampf und zum Zwecke der gemeinsamen Ernährung einander untergeordnet haben (KGA VII, 40 [42]; VIII, 11 [83]). Biologisch betrachtet, entspricht diese Vielheit den Körperzellen, deren Differenzierung und funktionelle Spezialisierung genetisch festgelegt ist. Folgerichtig kann Nietzsche daher auch sagen, daß im Individuum die gesamte organische Natur in einer Linie fortlebt (KGA VIII, 7 [2]) ein Standpunkt, der, mehr noch als an jeden Darwinismus, an Lamarcks Theorie vom Lebensbaum anknüpft. Die somatische Vielfalt, die der Einheit des Ich-Bewußtseins unterliegt, ist historisch entstanden und genetisch bedingt. Unter diesem Gesichtspunkt kann Nietzsche sich für einen polnischen Edelmann ausgeben, dessen Typus er „trotz drei deutscher Mütter" gut erhalten sieht (KSB 8, 288), oder von Plato, Pascal, Spinoza und Goethe sagen, daß ihr Blut auch in seinen Adern fließt (KSA 9, 585). Unter diesem Gesichtspunkt muß man schließlich den fatalistischen Satz verstehen, daß nicht nur die Vernunft, sondern auch der Wahnsinn von Jahrtausenden an uns ausbricht -

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21 Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit, 36. 22 Ebd. 23 Vgl. Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche, München/Wien 1978, Bd. 1, 45. Janz zitiert einen Brief der Halbschwester Ludwig Nietzsches, Friederike Dächsei, vom August 1849 an ihren Stiefsohn August. 24 Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit, 36. 25 Auch die Tatsache, daß Franziska Nietzsche nach dem Tod ihres Mannes nie wieder heiratete, könnte damit in Zusammenhang gebracht werden. 26 Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Studienausgabe, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1972, Bd. V, 138 ff. Volz verweist in diesem Zusammenhang auf Paul-Francois-Jean Brusq, Nietzsche. Étude psycho-pathologique, Diss. med. Bordeaux 1933, 99: „On peut presque affirmer l'origine syphilitique de l'ictus dont mourut son père à 32 ans. Nietzsche est anormal depuis son enfance, et son état mental est la conséquence d'une telle hérédité". Zit. n. Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit, 28.

WolfDietrich

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(ZA I, „Von der schenkenden Tugend" 1). Und da er tatsächlich an Nietzsche ausbrach, darf nicht mehr verwundern, daß er sich mit zeitgenössischen Verbrechern wie Prado und Aristokraten wie Robilant und Carlo Alberto, Architekten wie Lesseps und Antonelli identifizierte (KSB 8, 578-579). In dieser letzten Hinsicht unterscheidet sich sein es uns

Chambige,

Verhalten in keiner Weise von der extremen Selbstbezogenheit und den Anflügen von Ubiquität, die in den Krankengeschichten gewöhnlicher Psychotiker dokumentiert sind. Nietzsche liefert uns quasi die genetische Begründung der schizophrenen Persönlichkeitsspaltung.27 Das Bewußtsein fällt auf seine somatische Grundlage zurück und erkennt sich in seinen Vorfahren und seinen zeitgenössischen Verwandten' wieder. In diesem Szenario ist der Leib das zentrale Glied in einer Kette, deren eines Ende bis zu den Anfangen des Lebens reicht und die sich in der anderen Richtung bis in die höchsten Regionen des Geistigen projiziert. Er liegt an der Schnittstelle zwischen Genetik und Psychologie. Erkenntnis läuft auf Selbsterkenntnis hinaus, und diese auf eine Untersuchung der eigenen Leiblichkeit. „Leib bin ich ganz und gar", sagt Zarathustra zu seinen Jüngern (ZA I, „Von den Verächtern des Leibes"). Er versteht dabei die Seele als bloßes Epiphänomen des Körpers und den Intellekt als ein Werkzeug, dessen letzter Zweck nur sein könne, das Leibliche zu perfektionieren (KGA VII, 24 [16); VIII, 11 [83]), bis ein Mensch entsteht, der von seiner Wohlgeratenheit schon durch seine bloße Erscheinung überzeugt. Dies wäre der somatische Aspekt des Übermenschens, bei dem Geist und Körper nicht mehr in dem Widerspruch stehen, an dem er die abendländische Kultur zugrunde gehen sieht (KGA VIII, 11 [83]), sondern sich gegenseitig befruchten und durchdringen. Eine Durchdringung setzt aber jenes Verständnis der eigenen Leiblichkeit voraus, dessen Risiken wir bereits angedeutet haben und dessen Schwierigkeiten sich auch Nietzsche bewußt war. Der Leib erlaubt zwar nicht nur eine äußere, wissenschaftliche Beobachtung, sondern auch eine innere, phänomenologische, aber die Gefahr der Täuschung verdoppelt sich gleichsam damit. Unsere Affekte, Willen, Begehrungen sind lediglich Irrtümer des Intellekts, durch die die innere Welt erst denkbar wird (KGA VII, 24 [20], 24 [21]) Irrtümer, noch dazu, die durch eine Art Rückkoppelung selbst einmal einverleibt wurden, zu Instinkten wurden, so daß damit die Selbstentfremdung des Menschen kybernetisch vorgezeichnet war (FW 11). Genau das aber hält Nietzsche für das Merkmal der abendländischen Kultur: das Mißverständnis, ja die Verteufelung alles Leiblichen, die Verhunzung der Triebe, die Verachtung des Sinnlichen. Es ist diese Art von Vernunft, die sich unter der Ägide des Christentums in Moral und Philosophie niedergeschlagen hat und 2000 Jahre später als kollektiver Wahnsinn entpuppt, weil sie zur Verkleinerung des Menschen, zur Verkümmerung des Leibes beigetragen hat. Unser Bewußtsein hat sich am längsten und gründlichsten vergriffen, weil es sich am weitesten von den Instinkten entfernt hat (KGA VIII, 11 [83]). Deswegen ist auch in seiner Ausgeburt, der Vernunft, der Grund der menschlichen Entartung zu suchen. „Ich nenne ein Tier, eine Gattung, ein Individuum verdorben, wenn es seine Instinkte verliert, wenn es wählt, wenn es vorzieht, was ihm schädlich ist", ist Nietzsches klassische Definition der Dekadenz (AC 6). Der Philosoph, der selbst ein Dekadent ist, aber dies erkannt hat (WA, Vorwort 1 ), muß nun, wenn er seiner Rolle als Arzt der Kultur gerecht werden will, seine Praxis ändern und zwar ganz im Sinne jenes „guten Willens", von dem Kant meint, daß er die Grundlage für den kategorischen Imperativ abgibt, obwohl es ihn auf Erden vielleicht noch nie gegeben ,

-

-

27

Vgl. C.

G

Jung, Nietzsche 's Zarathustra, Bd. 1, 643.

Nietzsches Wahnsinn

69

hat.28 Für Nietzsche begann dieses Unterfangen 1876 mit seiner Loslösung von Wagner, der

dem christlich-pessimistischen Weltbild verhaftet blieb, und setzte sich mit der Aufgabe seiner Professur fort. Das Tragische an Nietzsche ist nicht zuletzt, daß er die Sackgassen seines Lebens erkannte, aber, indem er sie vermied, sich unwillkürlich zuerst, doch dann mit immer mehr Absicht immer tiefer ins Labyrinth begab. „So zwang ich mich," schreibt er rückblickend auf jene Zeit, „als Arzt und Kranker in einer Person, zu einem umgekehrten, unerprobten Klima der Seele und namentlich zu einer Abwanderung in die Fremde [...]." (MA II, Vorrede 5). Die Worte sind bezeichnend. Das Klima, das er sich anschickt zu erproben, findet er in der Umkehrung des Bewußtseins zu sich selbst, in der Treibhausatmosphäre des Leibes. Er will „den Süden" in sich entdecken (KGA VII, 41 [6], 41 [7]), mit all seinen Verheißungen und Gefahren. 1876 beginnt für Nietzsche jene Vivisektion der Vernunft, die ihn zwölf Jahre später zur Umwertung aller Werte und zum Prinzip einer neuen Wertsetzung führen wird. Es beginnt, in seinen eigenen Worten, das „schlimme Spiel" (JGB 205), das ihn letzten Endes in den Abgrund treiben wird. Das Prinzip aber, welches zugleich die Regel für das Spiel abgibt, ist der Wille zur Macht. -

-

III. Doch zunächst eine Zwischenbilanz. Wir sehen, daß die These von einer ererbten Grundlage von Nietzsches Wahnsinn es ihm und uns erlaubt, seine Krankheit umzudeuten. Wir können nicht behaupten, vom Standpunkt der ,Vernunft' aus zu urteilen, wenn die Vernunft selbst sich als der Wahnsinn von Jahrtausenden entpuppt, als eine zum Instinkt gewordene Widernatürlichkeit. Ein gerechtes Urteil würde unsere eigene Genesung voraussetzen, das heißt, nicht nur die Entlarvung, sondern auch die Überwindung der abendländischen Moral. Für Nietzsche stellt sich die „große Gesundheit" mit der Erkenntnis der großen Vernunft des Leibes ein. Dabei sieht er keinen Widerspruch und das ist wesentlich darin, daß diese Erkenntnis ihre eigenen Gefahren birgt. Schon im fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft, das er dem Werk 1886 hinzufügte, als er sich auf dem Weg zu dieser Gesundheit wähnte, brachte er das Problem auf den Punkt: -

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„Wir Neuen, Namenlosen, Schlechtverständlichen,

wir Frühgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft wir bedürfen zu einem neuen Zwecke auch einer neuen Gesundheit, [...] [der] große[n] Gesundheit eine[r] solche[n], welche man nicht nur hat, sondern auch beständig neu erwirbt und erwerben muß, weil man sie immer wieder preisgibt, preisgeben muß!" -

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28 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Theorie-Werkausgabe, Frankfurt a.M. 1968, Bd. VII, 49. Es ist wert, sich daran zu erinnern, daß Kant aus diesem Einwand später (Kritik der praktischen Vernunft, Theorie-Werkausgabe, Bd. VII, 254 ff.) das Dasein Gottes als Postulat der praktischen Vernunft ableitet, während Nietzsche aus ähnlichen Überlegungen zur Vorstellung des Übermenschen gelangt.

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Diese „große Gesundheit" stellt sich ihm als ein übermenschliches Wohlsein und Wohlwollen dar, mit dem „trotz alledem, vielleicht der große Ernst erst anhebt, das eigentliche Fragezeichen erst gesetzt wird, das Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger rückt, die

Tragödie beginnt..." (FW 382)

Der Abschnitt scheint ihm so wichtig, daß er ihn in Ecce homo, wenige Wochen vor Zusammenbruch, in voller Länge wiederholt. Tatsächlich kommt diesen Worten in Hinblick auf Nietzsches Schicksal, aber auch im Rückblick auf das bisher Gesagte eine besondere Bedeutung zu. Unwillkürlich ist man dabei an ein Gedicht aus dem Vorspiel zur Fröhlichen Wissenschaft erinnert, das er schon 1881 verfaßte und das den bezeichnenden Titel „Der Einsame" trägt. Darin heißt es: seinem

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„Ich liebe es, gleich Wald- und Meerestieren, Mich für ein gutes Weilchen zu verlieren, In holder Irrnis grüblerisch zu hocken, Von ferne her mich endlich heimzulocken, Mich selber zu mir selber

zu

verführen."

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sieht, für Nietzsche unterscheidet sich die große Vernunft des Leibes von der vergleichsweise kleinen Vernunft eines herabgewirtschafteten Bewußtseins dadurch, daß sie nicht zögert, die eigene Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Es ist dies das ominöse Spiel des Denkers, der die herkömmliche Weisheit zu überwinden sucht. Denn in der Preisgabe der Man

Gesundheit gibt sich die leibliche Vernunft letzten Endes selber Preis zumindest vorübergehend -, und man riskiert, sich in den Gängen des eigenen Labyrinths zu verlieren. Dann aber wäre nicht nur die leibliche, sondern auch die geistige Gesundheit dahin. Man mag einwenden, daß dies alles auf eine Art psychologische Relativitätstheorie hinaus-

läuft: man entkommt dem kollektiven Wahnsinn der abendländischen Kultur, nur um sich dem individuellen, somatisch bedingten Wahnsinn auszusetzen. Was hat dies alles noch mit Gesundheit zu tun? Wo offenbart sich da eine höhere Vernunft? Die Antwort liegt im Prinzip der neuen Wertsetzung, auf das Nietzsche in der Erforschung des „somatischen Bewußtseins", wie wir es nennen wollen, gestoßen ist. „Macht ist sie, diese neue Tugend; ein herrschender Gedanke ist sie", heißt es in Zarathustra (ZA I, „Von der schenkenden Tugend" 1). Und im zweiten Teil wird dieser Gedanke als Wille zur Macht qualifiziert (ZA II, „Von der Selbst-Überwindung"), das heißt als der bewußte Vollzug eines bis dahin unbewußten Vorgangs, als die Bejahung eines Tatbestandes. Nietzsche erkennt im Willen zur Macht das Prinzip der somatischen Ordnung zum Zwecke der Ernährung wobei die Ernährung wiederum nur als eine Überwältigung und Einverleibung fremder Materie, kurz: als eine Äußerung des Willens zur Macht, angesehen werden muß. Es ist kein Zufall, daß der ,Wille zur Macht' zum ersten Mal in seinen Schriften auftaucht als bloße Phrase, als aperçu -, als er nach Jahren der Entfremdung und Selbstverleugnung auf der Schwelle zu seiner eigenen Welt stand (KSA 9, 151, 170, 174-177). Die meisten Pathographen, von Möbius bis Jaspers, verlegen diesen Zeitpunkt in das Jahr 1881, als Nietzsche der ,Gedanke' der ewigen Wiederkunft ,kam'.29 Sie gehen dabei von derselben syphilitischen Zersetzung, oder Auflockerung, seines Gehirns aus, die schon Freud postu-

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29 P. J. Möbius, „Nietzsche", in: Berlin 1950, 94.

Ausgewählte Werke, Leipzig 1904,

Bd.

V, 98 und 188. Karl Jaspers, Nietzsche,

71

Nietzsches Wahnsinn

lierte. Nietzsche selbst spricht in jener Zeit von einem „neuen Blick", den er allen Menschen voraus habe, und wünscht sich Jahre der Einsamkeit, um seine Vision wissenschaftlich zu fundieren.30 Der Niederschlag davon findet sich im Nachlaß der achtziger Jahre. Er belegt jene Suche nach dem biologischen Zentrum, jene Vertiefung über das Protoplasma hinaus zu den Phänomenen der unbelebten Natur, die in der Vermutung endet, daß das organische Dasein vielleicht nur ein Spezialfall des anorganischen sei (KSA 13, 16 [12]; 16 [25]). Es sind ,geniale' Einsichten, die er in genialer Manier aus sich herausholt, um sie auf das Ganze des kosmischen Geschehens zu projizieren.3' So daß am Schluß des Willens zur Macht, des Kompendiums von Fragmenten, das vorübergehend zu seinem philosophischen Hauptwerk hochstilisiert wurde, zu Recht der Satz steht:

„Und wißt ihr auch, was mir ,die Welt' ist? Soll ich sie euch in meinem Spiegel zeigen? Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, [...] als Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich eins und vieles, [...] als ein Werden, das kein Sattwerden, keinen Überdruß, keine Müdigkeit kennt -: [...] Diese Welt ist der Wille zur Macht und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht und nichts außerdem!" (KGA VII, 38 [12]) -

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Es ist die Vernunft des Leibes, die sich in diesen Worten offenbart. Es ist die „moralinfreie" Tugend (KGA VIII, 10 [109]), eine Kraft, die sich entäußert, eine Renaissance-Tugend in zweierlei Hinsicht, weil sie nicht nur eine historische Blütezeit erlebte, sondern auch, im Fall Nietzsches, die Grundlage für eine individuelle Selbstschöpfung gab, für jene dionysische Auferstehung, von der Nietzsche anscheinend noch vor seinem Zusammenbruch etwas zu Papier brachte, und von dem sich seine Schwester nicht schämte einzugestehen, daß sie es vernichtet habe unter dem Zugzwang jener Moral, die sich Nietzsche Zeit seines Lebens zu überwinden mühte.32 Und so ist es auch im Kapitel „Von der Selbstüberwindung" (ZA II), wo Nietzsche die Macht dem Leben zugrunde legt: -

„Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern so lehre ich's dich Wille zur Macht! Vieles ist dem Lebenden höher geschätzt als Leben selber; doch aus dem Schätzen selber heraus redet der Wille zur Macht!" -

-

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Das Leben ist

das, was sich immer selbst überwinden muß. In der Selbstüberwindung aber offenbart sich eine Bereitschaft zum Untergang sei es nun im somatischen oder psychischen Tod. Erst darin zeigt sich paradoxerweise die große Vernunft des Leibes daß sie gewillt ist, sich aufzugeben, unter der Voraussetzung, daß dabei etwas höheres entsteht. -

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30 KSB 6, 112. Unwillkürlich wird man dabei an Lou Andreas-Salomés Bemerkung erinnert, daß Nietzsches Blick gleichsam nach innen gerichtet schien. Vgl. Friedrich Nietzsche in seinen Werken, Dresden 1924, 16. 31 Vgl. Karl Löwith, der dies besonders für den „einheitsstiftenden Gedanken" in Nietzsches Werk festhält: „[...] in die mechanische Wiederkehr des Gleichen scheint der keineswegs .göttliche' Zirkel von Nietzsches eigener Existenz herein, und Nietzsches ausweglose Existenz entwirft sich in das Fatum, als gehörte sein vereinzeltes Ego zu den notwendigen Bedingungen des immer gleichen Geftiges der physischen Welt." (Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, in: Sämtliche Schriften, Stuttgart 1987, Bd. 6, 222). 32 Elisabeth Förster-Nietzsche, Das Leben Friedrich Nietzsches, Leipzig 1904, Bd. 2, 921.

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Die Frage, warum Nietzsche wahnsinnig wurde, erübrigt sich damit beinahe, aber eben nur beinahe. Man kann sie im Sinne jenes psychologischen Relativismus beantworten, der den Wahnsinn statistisch definiert. Nietzsche hielt die Welt für verrückt, die Welt aber ihn, und da er sich in der Unterzahl befand, fand er sich in einer Nervenheilanstalt wieder. Nach dem Jungschen Kriterium der Mitteilbarkeit schaffte er es zuletzt nicht mehr, seine Umgebung von der Gediegenheit seines Standpunktes zu überzeugen und die Früchte seiner Arbeit zu ernten. Die Tatsache, daß er sich kurz vor seinem Zusammenbruch darüber täuschte," beweist, daß er den Kontakt mit der äußeren Wirklichkeit verloren hatte. Es war das Ende einer Entwicklung, die sich schon früh anbahnte und über die er sich bis dahin keinerlei Illusionen gemacht hatte. Im Gegenteil, er hatte sie geradezu herausgefordert wie im Fall Ritschi, im Fall Wagner. Nach und nach waren seine Vertrauten von ihm abgefallen, und wenn auch zuweilen persönliche Motive mitspielten, so wurden die Konflikte doch jedesmal von der geistigen Kluft überschattet, die sich zwischen ihm und seinen Freunden auftat und die er vergeblich zu überbrücken versuchte. Schon nach dem Erscheinen der Fröhlichen Wissenschaft schrieb er an Jacob Burckhardt, den er aus fachlichen wie wohl auch aus charakterlichen Gründen am ehesten eine Kritik zutraute: „Im Übrigen habe ich den Punkt erreicht, wo ich lebe wie ich denke, und vielleicht lernte ich auch inzwischen wirklich ausdrücken, was ich denke. In Hinsicht hierauf höre ich Ihr Urteil als einen Richterspruch" (KSB 6, 235). Burckhardt vermied bis zum Schluß eine Konfrontation, und als er im Januar 1889 Nietzsches letzten Brief aus Turin erhielt, urteilte er, ohne ein Wort zu sagen. Er brauchte den Brief nur dem gemeinsamen Freund Overbeck zu zeigen, um diesen Prozeß zu Ende zu führen. Nietzsches Wahnsinn als logische Folge der Entfremdung verstanden, die mit der Loslösung 1879 aus seiner Umgebung begann, jener oft autistisch anmutenden Einkehr zu sich selbst, in der er die Lockungen des Leibes, die Versuchungen des Labyrinths, erkannte, mag schon als hinreichender, wenn auch nicht notwendiger Grund für die Katastrophe in Turin gelten. Ebenso hinreichend, aber ebenso unnotwendig, ist die Erklärung der Pathologen, daß Nietzsche dem tertiären Stadium einer Syphilis erlag und sich von andern Opfern lediglich durch Art und Grad seiner Bildung und durch seine Begabung unterschied.34 Dieser Ansicht nach soll er seine neurologische „Auflockerung" genutzt haben, um sich und uns Einblicke in die somatischen Bedingungen der Geistigkeit zu gewähren, die dem ,normalen' Sterblichen versagt bleiben. Hinzu paßt sicherlich, daß er sich selbst gerne als Märtyrer der Erkenntnis sah, als Selbstkenner und Selbsthenker zugleich (DD, „Zwischen Raubvögeln"), auch wenn er nicht an den syphilitischen Ursprung seines Leidens glaubte. Doch wie Volz einräumt, ist es schlechterdings unmöglich, Nietzsches Krankheit rein medizinisch oder rein psychologisch zu erklären.35 Wir können uns nur auf das Bild der Persönlichkeitsveränderung berufen, wie es sich auch hundert Jahre nach seinem Tod noch darstellt, und vor allem auf die Selbstzeugnisse, die er uns hinterließ. -

33 Vgl. den Brief an Franz Overbeck vom 18.10.1888, KSB 8, 453: „[...] 34 P. J. Möbius, Nietzsche, 129 ff. 35 Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit, 232.

es

ist meine

große Erntezeit."

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IV. In letzterer Hinsicht aber ist der Fall Nietzsche eine der am besten dokumentierten Kranaller Zeiten. Seine mentale Entwicklung ist auf tausenden von Seiten nachgezeichnet, sein Verhältnis zu seiner Umgebung in tausenden von Briefen. Um so erstaunlicher ist es, daß sich bis heute keine der diversen Hypothesen über die Ätiologie seines Leidens durchgesetzt hat. Die Frage stellt sich, welchen Beitrag der Philosoph noch leisten kann, wo Ärzte und Pathographen versagen. Muß er sich wirklich mit Jaspers' Andeutung eines „biologischen Faktors" begnügen, ohne zu versuchen, diesen näher zu bestimmen? Kann er sich mit Oscar Levys Urteil abfinden, daß Nietzsche „seine eigene Krankheit" hatte, über die es müßig sei zu spekulieren?36 Oder mit Nietzsches eigener Einschätzung, daß er an einer Krankheit litt, für die es weder Ärzte noch Arzneien gab (KSB 8, 196)? Er kann es nicht, wir meinen, er darf es gar nicht, solange er den Verdacht hegt, daß sich die vermeintlichen Widersprüche und Rätsel in Nietzsches Philosophie auf das Rätsel von Nietzsches Wahnsinn reduzieren. Er muß versuchen, den Blick, den Nietzsche allen Menschen voraus zu haben glaubte, ihm selbst nachzuwerfen, dem Labyrinth hypothetisch zu entkommen, wo Nietzsche sich faktisch verlor. Daß wir hierbei das Begriffsschema der Tiefenpsychologie zu Hilfe nehmen, darf nicht weiter verwundern. Es war die Tiefenpsychologie, die Ende des vorigen Jahrhunderts von der bis dahin gängigen Bewußtseinspsychologie abrückte, um die Tiefen des Unbewußten bis zu seinen somatischen Wurzeln zu erforschen ganz wie es Nietzsche selbst tat. Freud unterschied zunächst zwischen einem rein psychisch Unbewußten, dem Verdrängten, aus dem er seine Theorie der Neurosen entwickelte, und einem organisch Unbewußten, von dem er meinte, nichts weiter aussagen zu können, als was über unsere Triebe in unser Bewußtsein gelange.37 Jung, sein einstweiliger Anhänger und späterer Rivale, unternahm dann den Versuch, auch das organisch Unbewußte begrifflich zu erfassen, indem er daraus ein „kollektives" Unbewußtes extrapolierte und diesem mit Hilfe seiner Theorie der Archetypen eine schematische Struktur verlieh.38 Beide waren dabei auf unterschiedliche Weise von Nietzsche beeinflußt, der viele ihrer Erkenntnisse auf intuitive Weise vorweggenommen hatte. Sein Satz, daß im Leib des Menschen mehr Vernunft stecke als in seiner höchsten Weisheit (ZA I, „Von den Verächtern des Leibes"), mag dann auch als Voraussetzung aller tiefenpsychologischen Erkenntnis gelten. Der gemeinsame Nenner von Freuds Psychoanalyse und Jungs analytischer Psychologie ist die Annahme zweier psychischer Systeme, des Bewußten und Unbewußten, wobei das Unbewußte mehr oder weniger als psychisches Korrelat des Organischen angesehen wird. Diese Systeme arbeiten nach unterschiedlichen Gesetzen, stehen jedoch miteinander in Verbindung, ja, ihre reibungslose Interaktion kann sogar als Bedingung des psychischen und körperlichen Wohlbefindens angesehen werden. Konflikte führen zu Störungen, die auch im

kengeschichten

-

36 Oscar Levy, „War Nietzsche syphilitisch?", in: Die Literarische Welt 3,1927, 4. Zit. ebd., 10 f. 37 Sigmund Freud, „Das Unbewußte", in: Studienausgabe, Frankfurt a.M. 1975, Bd. III, 136. 38 Vgl. „Instinkt und Unbewußtes", in: Gesammelte Werke, 1967, Bd. 8, 147-161, und „Über die Archetypen des kollektiven Unbewußten", in: Gesammelte Werke, Bd. 9/1, 11-51. Archetypen sind Strukturelemente der Psyche, die das seelische Leben grundlegend bestimmen. Jung hatte sie in Anlehnung an Jacob Burckhardt, den er persönlich kannte, zunächst „Urbilder" genannt. Den Ausdruck ,Archetypus' hat er aus dem Corpus hermeticum, einer gnostischen Textsammlung aus dem 3. Jahrhundert, übernommen. Vgl. Jolande Jacobi, Die Psychologie von CG. Jung, Ölten 1971, 57 f.

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Krankheitsbild Nietzsches leicht nachzuweisen sind. Nach der anfänglichen Begriffsverwirrung dieser Wissenschaft, die dem alten Geist-Körper-Problem der Philosophen auf rein klinische Weise nachging, unterscheidet man heute grundsätzlich zwei Arten von psychischen Krankheiten, Neurosen und Psychosen. Neurotiker leiden, vereinfacht ausgedrückt, unter der

Vormachtstellung ihres Bewußtseins, dem es gelingt, unbewußte Regungen zu unterdrücken bzw. bewußte psychische Inhalte ins Unbewußte zu verdrängen. Neurosen sind oft von körperlichen Symptomen begleitet, so z. B. in der Hysterie, bei der Lähmungen und sogar Blindheit auftreten können. Die Bezeichnung ,psychosomatisch' für solche Störungen ist daher durchaus angebracht. Umgekehrt entstehen Psychosen aus dem Überfluß psychischer Energie, dem Eindringen unbewußter Inhalte in das System des Bewußtseins, welches, meistens nach vergeblichen Versuchen, diese zu assimilieren, am Ende deren Übermacht erliegt. Daraus entstehen die eigentlichen Geisteskrankheiten, von denen Schizophrenie nur der Sammelbegriff für die am häufigsten auftretenden Symptome ist.39 Oft gehen diesen Krankheiten sensorielle und motorische Störungen voraus, so daß man in Umkehrung der neurotischen Symptomatik von somato-psychischen Leiden sprechen kann. Was nun den Verlauf von Nietzsches Krankheit betrifft, so fällt auf, daß er lange Zeit, und besonders während seiner zehnjährigen Lehrtätigkeit, körperlich krank war, ohne daß seine geistigen Fähigkeiten in irgendeiner Weise davon beeinträchtigt gewesen wären. 1879, am Ende seiner Lehrzeit, war er dem körperlichen Zusammenbruch nahe. Aber als er sich zehn Jahre später seinem geistigen Zusammenbruch näherte, hielt er sich körperlich für gesund und war es, bis auf ein Hüftleiden und eine Hauterkrankung,40 wohl auch. Seine alten Beschwerden hatten aufgehört. Dieses pathologische Bild findet seine naheliegende Erklärung in der Hypothese von einer progressiven Paralyse, die mit einer luetischen Infektion ihren Anfang nahm. Nur daß der Progreß bei Nietzsche als atypisch bezeichnet werden muß. Er war viel zu lang.41 Der Tiefenpsychologe, der geschult ist, das Naheliegende als vordergründig zu durchschauen, kann deshalb nicht umhin, endogene bzw. psychogene Ursachen zumindest zu erwägen, um so mehr als bei Nietzsche alle Versuche, ihn medizinisch zu heilen, gescheitert sind. So paradox es klingt, aber im Grunde hörten seine physischen Leiden erst auf, als er nicht mehr unter andauernder ärztlicher Behandlung stand. Hinzu kommt, wie gesagt, daß er selbst an seine vererbte Krankhaftigkeit glaubte. Ob allerdings seine migräneartigen Kopfschmerzen und seine epileptoiden Anfalle als Symptome oder gar als Ursache seiner Geisteskrankheit angesehen werden können, muß bezweifelt werden. Zeitpunkt und Häufigkeit solcher Anfalle hängen gewöhnlich mit auslösenden Fak-

39 Der Ausdruck geht auf Eugen Bleuler, dem Direktor und einstweiligen Vorgesetzten Jungs an der Universitätsklinik von Burghölzli bei Zürich, zurück. Vgl. Bleuler, „Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien", in: G. Aschaffenburg (Hg), Handbuch der Psychiatrie, Leipzig/Wien 1911. Als Grundsymptome gelten bis heute intellektuelle Dissoziation, affektive Störungen, Autismus und Depersonalisation. Hinzu kommen Begleiterscheinungen wie Wahnideen, Gedächtnisstörungen und Eigenheiten von Sprache und Schrift. Vgl. auch Peter Dietsch und Walter Volk, „Endogene Störungen", in: Handbuch der Psychologie, Bd. 8, 264. 40 Vgl. den Status praesens der Jenaer Krankengeschichte in Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit, 393. 41 Vgl. dazu Förster-Nietzsches nicht gerade interesseloses Urteil in Das Leben Friedrich Nietzsches, Bd. 2, 922: „Die Ärzte nannten seine Krankheit ,eine atypische Form der Paralyse' d. h. eine Paralyse, die durchaus nicht die Kennzeichen dieser Krankheit trug also nicht Paralyse war." -

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Nietzsches Wahnsinn

psychische Verarbeitung zusammen.42 Dies war auch bei Nietzsche der Fall. Schulpforta und Basel, also in Stressituationen, in denen seine physische oder intellektuelle Freiheit eingeschränkt war. Als Student in Leipzig war er überwiegend gesund, und nach der Aufgabe seiner Professur in Basel milderten sich seine Beschwerden. Es gehört zu seiner Redlichkeit, daß er sich dieser Kausalverbindung sehr wohl bewußt war. Noch in Ecce homo sieht er seine Krankheit als das Mittel, das ihn aus einer ungeliebten betoren oder deren

Er litt besonders in

ruflichen Situation und seiner Freundschaft mit Wagner löste (EH, „Warum ich so gute Bücher schreibe", MA 4). Dazu paßt auch, daß er die nachfolgenden Jahre, bis zum Erscheinen der Fröhlichen Wissenschaft, als seine „Freigeisterei" bezeichnet, als eine innere Befreiung also, die dem „Ich will" des Löwens gleichkommt, das dem „Du sollst" des Kamels folgt, von dem er im ersten Teil des Zarathustra spricht (ZA I, „Von den drei Verwandlungen"). Nietzsche in Basel das ist beinahe ein Schulbeispiel für eine psychosomatische Erkrankung, die, verstärkt durch eine neurotische Hypochondrie, ihn an den Rand des Todes -

brachte.43

Dem widerspricht nicht, daß Nietzsche seine Qualen als wirklich empfand und daß selbst seine Ärzte und engsten Vertrauten zum Schluß an ein grobes Gehirnleiden glaubten.44 Die Prozesse, die sich bei solchen Leiden abspielen, sind vorwiegend unbewußt und liegen außerhalb der Kontrolle des Kranken. Ausschlaggebend für die Diagnose ,psychogen' oder ,psychosomatisch' ist letzten Endes nur, daß die Symptome verschwinden, wenn sich die Situation des Kranken verändert. Genau das aber war bei Nietzsche der Fall nicht von heute auf morgen, aber stetig und in dem Maße, in dem er seine Konflikte löste, bis nach dem Tod Wagners sein körperlicher Zustand soweit wiederhergestellt war, daß man ihn zeitweise mit dem seiner Studentenzeit vergleichen konnte. Doch dies alles fällt unter ,psychosomatisch' und ,neurotisch' und hat unserer Ansicht nach nichts mit Nietzsches Wahnsinn zu tan. Der Prozeß der Selbstbefreiung, der bei Nietzsche mit einem Programm der Selbstfindung und Selbsterforschung einherging, erreichte 1881, dem Jahr seiner Vision von der ewigen Wiederkunft des Gleichen, seinen kritischen Punkt. Von da an schlug das psychische Pendel in die andere Richtung um. „Gibt eine Frage für Irrenärzte Neurosen der Gesundheit?" wundert er sich im es vielleicht Vorwort zur Geburt der Tragödie, das er 1886 schrieb (GT, Vorwort 4). Heute wissen wir, daß es sie gibt, diese Krankheiten, bei denen sich die Betroffenen gesund, ja sogar gesünder als ihre Ärzte fühlen. Sie gehören zu den diversen Manifestationen der Schizophrenie.45 Nietzsche, zu Beginn der achtziger Jahre, hörte auf, Neurotiker zu sein. In seiner Einsamkeit brauchte er sich nicht mehr zu verstellen, hatte nichts mehr zu unterdrücken. Durch das Medium seiner Schriften gab er sich nach und nach zu erkennen mit der perversen Folge allerdings, daß diese immer weniger gelesen wurden. Es war ein Prozeß, der ihn in seine letzte Einsamkeit trieb. „Ich lebe auf meinen eigenen Kredit hin, es ist vielleicht -

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werden atmosphärische Einflüsse, Lichtreize, psychischer Stress, allergische Reaktionen und, bei Frauen, Menstruation als auslösende Momente von Migräneanfällen angesehen. Epileptische Anfalle treten in engem Zusammenhang mit seelischen Störungen auf. Vgl. Gert-Klaus Köhler, „Psychosen bei Epilepsie", in: Psychologie des 20. Jahrhunderts, Zürich 1979, Bd. X (hg. von Uwe Henrik Peters), 551. 43 Vgl. Kurt Hildebrandt, Gesundheit und Krankheit in Nietzsches Leben und Werk, Berlin 1926, 63 ff. 44 Vgl. Dr. Otto Eisers Brief an Overbeck vom 9.2 1878, in: Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit,^!. 45 Vgl. C. G. Jung, „Über die Psychologie der Dementia praecox", 111-114, und Nietzsche 's Zarathustra, Bd. 1, 42

Allgemein

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bloß ein Vorurteil, daß ich lebe?" ironisiert er noch kurz vor seinem Zusammenbruch (EH, Vorwort 1) und tröstet sich mit der Vorstellung, posthum geboren zu werden (EH, „Warum ich so gute Bücher schreibe" 1). Psychoanalytisch gesprochen, war er auf dem besten Wege dazu. Was sich mit Nietzsche in den Jahren 1881-1888 abspielte, kommt der dritten der Verwandlungen gleich, von denen uns sein Zarathustra gleichnishaft erzählt. Es ist das Kind, die Unschuld des Werdens, die Triebkraft des Organischen, die nun zutage tritt die große Vernunft des Leibes. Nur in diesem Sinn kann Nietzsche schreiben, daß die Entwicklung des Geistes die fühlbare Geschichte der Bildung eines höheren Leibes ist und daß die Erkenntnis bei höheren Wesen neue Formen annehmen muß, welche bis dahin nicht nötig waren. „Zuletzt handelt es sich gar nicht um den Menschen: er soll überwunden werden" (KGA VII, 24 [16]). Doch diese Entwicklung birgt die schon erwähnten Gefahren. Die klinische Beobachtung zeigt, daß das Bild vom Kinde eines der häufigsten Symbole ist, die in den Delirien der Schizophrenen auftauchen vom plötzlichen Kindwunsch dementer Frauen bis zum Krankheitsbild der Hebephrenie, bei der sich Erwachsene selber wie Kinder benehmen. Jung geht soweit, das Kind zu einem archetypischen Symbol zu erheben. In der Genese der Schizophrenie folgt dieses der Erscheinung des „alten Weisen" oft auf dem Fuß.46 Und in Jungs Diagnose des Falls Nietzsche entspricht die Figur Zarathustras genau diesem Bild.47 Mit dem Eindringen unbewußter, archetypische Inhalte aber nimmt die Auflösung des Ich-Bewußtseins ihren Lauf. Jung nennt dies „Inflation",48 einen Prozeß, der zwar eine vorübergehende Erweiterung des Bewußtseins mit sich bringt, es letzten Endes aber der Zerreißprobe aussetzt und zerfetzt. Es ist wie mit einem Ballon, der zur Freude der Kinder glänzt und tanzt und größer wird und mit einem Male platzt. Genau dieser Vorgang kann in der geistigen Entwicklung Nietzsches nach 1881 beobachtet werden. Mit dem „Sanctus Januarius", dem vierten Buch der Fröhlichen Wissenschaft, das Anfang 1882 in Genua entstand, öffnet sich gleichsam ein Ventil. Der Geist strömt aus der somatischen Flasche, leuchtet auf in den Idyllen von Messina, brennt in Zarathustra und verzehrt sich in Ecce homo genauso wie es Nietzsche im gleichnamigen Gedicht aus der Fröhlichen Wissenschaft dargestellt hatte.49 Er fühlt sich als Licht, als Sonne aber es ist ein Licht, das seine Schatten wirft, eine Sonne, die sinkt. Mit den Dionysischen Dithyramben kommt dieser Prozeß zu seinem katastrophalen Ende. Es gibt genug Stellen in den Schriften des reifen Nietzsche, die darauf hindeuten, daß er sich, 50 Jahre vor Jungs tiefenpsychologischen Seminaren über Zarathustra, dieser Entwicklung bewußt war, vom letzten Satz der ursprünglichen Fröhlichen Wissenschaft (FW 342, „Also begann Zarathustras Untergang") bis hin zum vorletzten Brief an Franz Overbeck, in dem er sein „Promemoria" an die europäischen Höfe ankündigte, um danach zu behaupten, ihn bei „schlechtem Licht" geschrieben zu haben (KSB 8, 551, 559). Für den Tiefenpsycho-

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46 „Zur Psychologie des Kinderarchetypus", in: Gesammelte Werke, Bd. 9/1,163-195, sowie „Zur Phänomenologie des Geistes im Märchen", ebd., 221-269. Vgl. auch Jungs Analyse der Abschnitte „Von den drei Verwandlungen" und „Das Kind mit dem Spiegel" in Nietzsche 's Zarathustra, Bd. 1, 270 f., und Bd. 2, 845 f. 47 Es ist dies Jungs zentrale Deutung in Nietzsche 's Zarathustra. Vgl. vor allem Bd. 1, 24-27, 295; Bd. 2, 1047. 48 Jung entwickelte diesen Begriff vor allem in „Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten", in: Gesammelte Werke, Bd. 7, 131-264. Vgl. auch „Über die Psychogenese der Schizophrenie", in: Gesammelte Werke, Bd. 3, 261-282, und Nietzsche 's Zarathustra, Bd. 1, 203, 295. 49 FW, Scherz, List und Rache, 62: „Ja! Ich weiß, woher ich stamme! / Ungesättigt gleich der Flamme / Glühe und verzehr' ich mich. / Licht wird alles, was ich fasse / Kohle alles, was ich lasse: / Flamme bin ich sicherlich." ,

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logen sind solche bons mots nicht nur witzig, sondern auch verräterisch. Sie sind im Grunde Metaphern für Vorgänge, die sich im Inneren Nietzsches abspielen und die er nach außen projiziert. Besonders schauderhaft mutet dabei sein Bekenntnis an, daß ihn der „Typus Zarathustra" in der Bucht von Rapallo geradezu „überfiel" (EH, „Also sprach Zarathustra" 1). Man glaubt hier ein Schulbeispiel aus der Jungschen Archetypenlehre vor sich zu haben und nur mehr abwarten zu brauchen, bis die Katastrophe eintritt. Mit dem vierten Teil von Zarathustra ist der Ballon gefüllt, aber noch am Boden. Nietzsche ist sich seines Werdegangs bewußt, ja, er beginnt ihn gleichsam zu inszenieren.

„Ich kenne mein Los", teilt er uns kurz vor dem Ende mit. „Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen, an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Kollision, an eine Entscheidung, heraufbeschworen gegen alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit" (EH, „Warum ich ein Schicksal bin 1"). Die meisten Interpreten haben bei diesen Worten an die Katastrophen des 20. Jahrhunderts gedacht und übersehen, daß Nietzsche im Grunde von sich selbst sprach und daß er diese Entscheidung selbst heraufbeschwor, als er 1879 sein Entlassungsgesuch bei den Basler Behörden einreichte. Aber noch ein anderes Indiz weist auf eine fatale, irreversible Entwicklung hin. Seine Augen, die er für ein „Dynamometer seines Gesamtbefindens" hielt, machen ihm nach 1885 wieder zu schaffen. An seinen ehemaligen Bas 1er Arzt schreibt er allerdings: „Mein jetziges Augenleiden scheint mir in toto genere verschieden von meinem früheren" (KSB 7,42). Der Unterschied, mutmaßen wir, ist der zwischen einer neurotischen und psychotischen Sehstörung. Nietzsche beginnt zu halluzinieren, sieht seltsame Pflanzen, wenn er die Augen schließt, hält dies selbst für ein Zeichen des ausbrechenden Wahnsinns, wie er Resa von Schirnhofer mitteilt.50 Laut Volz macht er eine Gesamtstörung seiner vegetativen Funktionen zuletzt für seine Leiden verantwortlich.51 Philosophisch schlagen sich seine Erkenntnisse aus dieser Zeit hauptsächlich in den -

Notizen zum Willen zur Macht nieder. „Der bisherige Mensch gleichsam ein Embryo des Menschen der Zukunft", heißt es in einem Fragment. Aber die gestaltenden Kräfte stoßen sich, und nur die Suche nach seinem Glück verhindert, daß sie sich gegenseitig zerstören (KGA VII, 26 [231]). Der höhere Mensch ist dieser Gefahr um so mehr ausgesetzt, als er ein Extrem darstellt. Das ,Genie' ist die zerbrechlichste Maschine (KGA VIII, 14 [133]). In solchen Äußerungen wird das Dilemma Nietzsches in seiner ganzen Tragweite deutlich. Er geht, um seine eigenen Worte zu gebrauchen, seinem höchsten Gipfel und seinem tiefsten Abgrund entgegen. Wie immer projiziert er seine endopsychischen Erkenntnisse auf die -

Umwelt, aber die Verallgemeinerungen wirken nicht mehr so genial, so überzeugend, wie man es von ihm gewohnt ist. Man ahnt, daß der Ballon abhebt und Nietzsche den Boden unter den Füßen verliert. Er will seine Wohlgeratenheit unter Beweis stellen, sein Glück erzwingen. Und er muß gemerkt haben, daß ihm dazu nur ein einziges Mittel blieb: die Macht über sich selbst.

50 Resa von Schirnhofer: „Vom Menschen Nietzsche", in: Zeitschriftfürphilosophische Forschung ¿2l\9f>%, 443 f. 51 Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit, 44.

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V. „Das eine bin ich, das andre sind meine Schriften", schreibt Nietzsche in Ecce homo, knapp zwei Monate vor seinem Zusammenbruch (EH, „Warum ich so gute Bücher schreibe" 1). Er wußte wohl, daß all sein Reden und Lehren, all seine Erkenntnis seit jener Engadiner Offen-

barung in August 1881, kein Gehör finden würde, solange es nicht das Siegel der Wahrhaftigkeit trug, jener Wahrheit vor sich selbst, zu der man erst in seiner „siebenten Einsamkeit" findet und die sogar einen gekreuzigten Chrisms aufschreien ließ: „Vater, Vater, warum hast

du mich verlassen?"52 Aber Nietzsche hatte keinen Vater mehr. Keinen leiblichen, denn der war schon tot. Und auch keinen geistigen. Ritschi, Wagner, Schopenhauer er hatte sie alle getötet, und zum Schluß auch jenen Gott, der vorgab, Mensch geworden zu sein.53 Nietzsche hatte nur einen Sohn, Zarathustra, und der verkündete, daß der Mensch göttlich werden müsse.54 Doch gerade das war, wie billig, viel leichter gesagt als getan. Wegen dieser vermeintlichen Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis ist Nietzsche wiederholt kritisiert worden. Von einem gewissenhaften Biographen hat es ihm sogar das Epitheton „ängstlicher Adler" eingetragen.55 Aber wir meinen, daß solche Pauschalurteile der psychologischen Komplexität von Nietzsches Schriften nicht gerecht werden. Meistens nimmt Nietzsche solche Einwände selbst vorweg. Was z. B. seine Wahrhaftigkeit in bezug auf die befürchteten Folgen der Verkündung seiner tiefsten Einsichten betrifft, findet der Konflikt wohl seine eindringlichste Darstellung am Ende von Zarathustra II. „Du weißt es, Zarathustra", flüstert ihm da seine „Herrin", die „stillste Stunde", ins Ohr. „Aber du redest es nicht!" Und als sich Zarathustra krümmt und sträubt, kommt es kalt und beinahe apodiktisch: „Was liegt an dir, Zarathustra! Sprich dein Wort und zerbrich!" (ZA II, „Die stillste Stunde") Es ist klar, daß Nietzsche die Risiken des Spiels kannte, auf das er sich einließ. Ansonsten hätte er es wohl kaum das „schlimme" Spiel genannt. Aber seine Angst, meinen wir, sollte nicht mit Feigheit verwechselt werden. Sie erscheint uns therapeutisch, fast in einem existentialistischen Sinn,56 denn sie ist die Bedingung jener Selbstüberwindung, von der Nietzsche voraussagte, daß sie den Menschen eines Tages göttlich erscheinen lassen würde. Selbst -

52 Matthäus 27,46. 53 Daß für Nietzsche der Tod Gottes figurativ auf einen Mord durch den Menschen hinausläuft, geht aus FW 125, „Der tolle Mensch", hervor. 54 Inwieweit der Übermensch, als der neue Verklärer des Daseins, selbst göttliche Züge aufweist, verdient eine getrennte Untersuchung, als deren Ausgangspunkt ZA IV, „Außer Dienst", dienen könnte. „Irgendein Gott in dir bekehrte dich zu deiner Gottlosigkeit", sagt dort der alte Papst. Auch ist festzuhalten, daß sich Nietzsche in seinem Wahn vorwiegend mit Dionysos identifizierte. 55 Werner Ross, Der ängstliche Adler. 56 Vgl. Martin Heidegger, Was ist Metaphysik?, 11. Aufl., Frankfurt a.M. 1975,47: „Was wäre alle Tapferkeit, wenn sie nicht in der Erfahrung der wesenhaften Angst ihren ständigen Gegenhalt fände?" Besonders anwendbar auf Nietzsche scheint uns diese Auffassung, da sich für Heidegger die Angst in der Erfahrung des Nichts einstellt (ebd., 32: „Die Angst offenbart das Nichts") und Nietzsche sich als Überwinder des Nihilismus sieht. Vgl. auch Jean-Paul Sartre, L'existentialisme est un humanisme, Paris 1970, 28-33.

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einem Jesus in Gethsemane, am Vorabend seiner Kreuzigung, wurden die Kniee weich.57 Und doch konnte er vor seinem Tode verkünden: „Es ist vollbracht!"58 Nietzsche, am 6. Januar 1888, schreibt seinem Freund Köselitz: „Zuletzt will ich nicht verschweigen, daß diese ganze letzte Zeit für mich reich war an synthetischen Einsichten und Erleuchtungen; daß mein Mut wieder gewachsen ist, ,das Unglaubliche' zu thun und die philosophische Sensibilität, welche mich unterscheidet, bis zu ihrer letzten Folgerung zu formulieren" (KSB 8, 226 f.). Es folgt der frenetische Schaffensdrang, mit dem er innerhalb weniger Monate jene Schriften in die Welt setzt, die in ihrer Gedrängtheit und emotioneilen Geladenheit sich tatsächlich wie Hammerschläge ausnehmen. Nietzsche läßt endlich die Maske fallen und macht die Ergebnisse seiner Selbsterforschung publik. Der Abrechnung mit Wagner folgen die Abrechnungen mit der Philosophie, mit dem Christentum und mit sich selbst. Dabei weisen die Titel Götzendämmerung, Der Antichrist und Ecce homo auf die allem zugrunde liegende religiöse Problematik hin. ,Schaut her, ein Mensch', ironisiert er und beginnt, seine Briefe mit den Metonymien des Größenwahns zu unterzeichnen.59 Was der auslösende Faktor dieses letzten Schubs psychotischer Energie war, soll hier dahingestellt bleiben. Aber die weitere Entwicklung folgt ganz jenen Gesetzen einer versuchten Selbstwerdung und deren Vereitelung durch Inflation, die Jung ein paar Jahrzehnte später aufstellen wird.60 Nietzsche tat das, was auch noch nach dem heutigen Stand der Forschung die einzige Möglichkeit darstellt, das einsetzende Delirium abzuwenden.61 Er versucht, die ausströmende Energie rational zu binden, trifft Maßnahmen zur Verbreitung seiner Schriften, zur Sicherstellung seiner Existenz. Er sucht den Dialog mit Freunden und Bekannten, um sich den Beweis zu erhaschen, daß es noch nicht zu spät ist. Aber seine Freunde sind weit weg, und anstatt Brücken zu bauen, stößt er sie der Reihe nach vor den Kopf. In seine Enttäuschungen mischen sich sublime Zufälle, die er allerdings nicht mehr als solche erlebt (KSB 8, 546, 546, 550). Die Unterschiede zwischen psychischer und physischer Realität sind längst verwischt. Seine Seele ist jetzt umfangreich genug, um alles als notwendig zu empfinden (KGA VII, 24 (28); vgl. auch MA I, Vorrede 4). Sein Denken schlägt um in Handeln. Der „Kriegserklärung" an Bismarck (KSB 8, 504) folgt ein „Promemoria" an die europäischen Höfe, um Deutschland zu einem Verzweiflungskrieg zu provozieren. „Es war der berühmte Rubicon", schreibt er trefflich an Köselitz am 31. Dezember 1888 (KSB 8, 567). Er wußte er mußte wissen -, daß es kein Zurück mehr gab, daß er die Schwelle zur Nacht überschritten hatte. Es blieb ihm nur mehr die Flucht nach vorn. Verzweifelt versucht er, den Untergang in eine Apotheose umzustilisieren. Er unterzeichnet seine Briefe nun mit „Dionysos" und „Der Gekreuzigte", stimmt seinen Apostel Köselitz zu Psalmengesängen an: „Singe mir ein neues Lied: die Welt ist verklärt und alle Himmel freuen sich".62 Zugleich schlägt seine Wahrhaftigkeit in Leibhaftigkeit um. -

57 Markus 14,26-42. 58 Johannes 19,30. 59 „Caesar", „Dionysos", „Der Antichrist" u. a. Vgl. die Briefe aus der letzten Turiner Zeit in KSB 8, 551-579. 60 C. G. Jung, „Theoretische Überlegungen zum Wesen des Psychischen", in: Gesammelte Werke, Bd. 8, 255-258. Vgl. auch Nietzsche 's Zarathustra, Bd. 1, 133, 144, Bd. 2, 932, 1142. 61 Vgl. Henri Grivois, Le Fou et le mouvement du monde, Paris 1995, 59-62 und 184-196. Ebenso 136: „Sans même préjuger de son efficacité pratique la conversation est le meilleur des antipsychotiques". 62 Vgl. Psalm 98,1 : „Singt dem Herrn ein neues Lied: denn er hat Wunder gewirkt!" 98,4: „Jauchzet dem Herrn, alle Welt! Frohlocket, jubelt und spielt!" Vgl. auch den Brief an Meta von Salis-Marschlins vom 3.1.1889, KSB 8, 572. -

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Als ein Kutscher in den Straßen Turins den Leib eines Pferdes mißhandelt, platzt der Ballon. Von nun an kann sich Nietzsche nur mehr in Bocksprüngen und Grimassen verständigen, oder in der Sprache der Musik. Er schaut unentwegt in den Spiegel, freut sich auf einen Schönheitswettbewerb der Turiner Damen (KSB 8, 468) und will seinen „Sohn" Umberto und die „liebliche" Margherita in Hemdsärmeln empfangen (KSB 8, 579). Die große Vernunft des Leibes hat ihre eigenen Imperative. Doch wenn Nietzsche noch irgendeines Beweises bedurfte, daß er kategorisch verrückt geworden war, dann muß es der Brief Jean Bourdeaus vom 4. Januar 1889 gewesen sein. Soviel wir wissen, war Bourdeau der einzige, an den Nietzsche sein „Promemoria" tatsächlich abgeschickt hatte.63 Er war Redakteur an der Revue des Deux Mondes und am Journal des Débats und sollte Nietzsches Schriften ins Französische übersetzen. Als Journalist war er zu vertraut mit den geistigen Extravaganzen seiner Zeit, als daß er durch Nietzsches „Flintenschuß" (KSB 8, 567) alarmiert gewesen wäre. Doch in einer höflichen Replik gibt er ihm zu erkennen, daß das „Promemoria" wohl nicht für eine Veröffentlichung geeignet sei. Aus der Feder eines Franzosen, den Nietzsche schätzte und den er zu seinen letzten Verbündeten zählte, konnte diese wohlwollende Antwort nur wie ein Geschworenenurteil wirken. Nietzsche mag diese Zeilen noch am 5. Januar erhalten haben.64 Vorübergehend ernüchtert, setzt er sich hin und verfaßt seinen letzten Brief an Burckhardt, der sich am Ende eher wie ein Gnadengesuch als wie eine Mitteilung an einen alten Freund ausnimmt. Auch Burckhardt will er nur in „Hemdsärmeln" empfangen, aber die Einladung ist mehr Notschrei als aparté, und in die Not mischt sich Stolz und eine tiefe Resignation (KSB 8, 577-579). In unserer Einschätzung hat Nietzsche diesen Brief mit den letzten Fetzen seines bloß menschlichen Bewußtseins geschrieben. Von nun an wird er schweigen oder schreien oder sich in Gebärden ergehen, die für den Psychologen, der seine Schriften kennt, aufschlußreicher sind als das geschriebene Wort. Er bestaunt stundenlang seine Hände, um sie dann in die Hosentaschen zu stecken, als gehörten sie nicht ihm.65 Es sind dieselben Hände, von denen er vor dem Zusammenbruch sagte, er sehe sie mit Mißtrauen an, weil er glaube, in ihnen das Schicksal der Menschheit zu halten (KSB 8, 461 f.). Seine Gehstörung mag paralytisch oder katatonisch gewesen sein, oder auch nur ein rechtsseitiger Ischias66 aus der Sicht seiner leiblichen Vernunft aber ist er „stupid in der Hüfte".67 Und wenn er sich stundenlang die Nase hält,68 wer muß da nicht wieder an seine Behauptung denken, sein Genie liege in seinen Nüstern? Für seine Exkremente zeigt er dasselbe Interesse, wie ein dreijähriges Kind, das sich in der analen Phase seiner libidinösen Entwicklung befindet.69 Er hebt seinen Kot wie eine Kost -

63 Nietzsche hatte anscheinend vor, sein „Promemoria" lediglich im Journal des Débats veröffentlichen zu lassen, um „die ganze absurde Lage Europa's durch eine Art von welthistorischem Gelächter in Ordnung zu bringen ..." 64 Vgl. seinen Brief vom 1. Januar 1889 an Bourdeau (KSB 8, 570). Bei der damaligen, täglich mehrmaligen Zustellung lag dies im Bereich der Möglichkeiten. Auch Nietzsches letzter Brief aus Turin erreichte übernacht Basel. Aber selbst wenn Nietzsche Bourdeaus Brief nicht mehr erhalten hat, mußte das Ausbleiben einer Reaktion, auf die er wartete, denselben ernüchternden Effekt auf ihn haben wie eine negative Antwort. Vgl. seinen ungeduldigen Briefentwurf vom 29.12.1888 (KSB 8, 556). 65 Brief Franziska Nietzsches an Franz Overbeck vom 30.12.1991, in: Erich F. Podach, Der Kranke Nietzsche, 136. 66 Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit, 156. 67 Jenaer Krankengeschichte, ebd., 402. 68 Ebd., 401. 69 Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 93. Laut Freud behandelt das Kind in dieser Phase seinen Darminhalt als ihm zugehörigen Körperteil, als „Geschenk", und auch als ein durch den Darm geborenes Kind.

Nietzsches Wahnsinn

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barkeit in der Schublade auf,70 als gelte es jenen schicksalhaften Brief zu belegen, den er 1882 im Nachspann zu seiner Lou-Affäre an Overbeck schrieb: „Wenn ich nicht das Alchemisten-Kunststück erfinde, auch aus diesem Kothe Gold zu machen, so bin ich verloren", hieß

damals (KSB 6, 312). Mit Zarathustra hatte er dieses Kunststück versucht. Aber wie der Seiltänzer in der Vorrede, war er dennoch gescheitert. Damals tröstete Zarathustra den Gestürzten als einen, der die Gefahr zu seinem Beruf gemacht hat. „Bei meiner Ehre, Freund", versicherte er ihm. „Deine Seele wird noch schneller tot sein als dein Leib".71 Aber wie so vieles in Also sprach Zarathustra, können wir auch dies nur als ein Zwiegespräch Nietzsches mit sich selbst auffassen, als ein erstes Beispiel für die Abspaltangen seines Bewußtseins, die das ganze Buch durchziehn. Wenn er sich in Jena wieder stundenlang im Spiegel betrachtet, wird man unwillkürlich an „Das Kind mit dem Spiegel" (ZA II) erinnert, das Zarathustra einst vor sich selber warnte. Doch Gespenster haben kein Spiegelbild. Es ist der somatische Nietzsche, auf halbem Weg zwischen einem Narren und einem Leichnam, der sich im Spiegel erscheint. Und die Totenmaske, die am Ende seinen deformierten Schädel reproduziert,72 zeigt uns auch ein Wesen, das geistig genug war, den Leib als das Höhere zu begreifen. -

es

70 71

In einer Anmerkung zitiert Freud interessanterweise Lou Andreas-Salomé, deren Aufsatz ,„Anal' und .Sexual'" (Imago, Bd. 4,1916, 249) „unser Verständnis für die Bedeutung der Analerotik außerordentlich vertieft." Jenaer Krankengeschichte, in: Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit, 404. ZA I, Vorrede 6. Jung war vielleicht der erste, der dies als Nietzsches Vorhersage seines eigenen Schicksals deutete. Vgl. Nietzsche 's Zarathustra, Bd. 1, 115.

72 P. J. Möbius beschreibt das so gewonnene Bildnis: „Die Stirn war hoch und im oberen Theile breit und asymmetrisch. Bemerkenswerter Weise waren die Stellen, die dem Dichtersinne und dem musikalischen Talente entsprechen sollten, rechts stärker vorgewölbt als links." In: Nietzsche, Vorwort zur 2. Aufl., VII.

Christian Hick

Denken als

Symptom

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Symptome als Gedanken Zur Kreisgestalt von Nietzsches

„großer Gesundheit"

„Bei allem Philosophiren handelte es sich bisher gar nicht um .Wahrheit', sondern um etwas Anderes, sagen wir um Gesundheit [...]." (KSA 3, 349)

Große Gesundheit: ein rhetorisch griffiger, doch inhaltlich schwer zu fassender Begriff. Der vorletzte Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft trägt diesen Titel.' Wir finden dort, wie Nietzsche im Ecce homo schreibt, eine „persönliche" Darstellung der großen Gesundheit (KSA 6, 336). Er hält sie für so treffend, daß er sie als Einleitung in das Zarathustra-Kapitel von Ecce homo wörtlich übernimmt. Doch bleiben viele Fragen offen, wenn man den Aphorismus auf der Suche nach der großen Gesundheit durchgeht. Die Darstellung ist in der Tat eine persönliche, vor allem jedoch eine komprimierte und sprachlich wie inhaltlich hoch gespannte dem Ideal der großen Gesundheit, dem vorletzten Ideal in Nietzsches Denken, angemessen. Zum Glück jedoch ist die ganze Fröhliche Wissenschaft, wie Nietzsche in der für die zweite Auflage verfaßten Vorrede betont, in der Sprache der Genesung geschrieben. Das Buch ist ein Erlebnis von Nietzsche und für den Leser: ein Erlebnis der Gesundung. Dies unterstreicht auch G Colli in seinem Nachwort zur Fröhlichen Wissenschaft, die sich, seiner Einschätzung nach, -

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„wie ein magischer Augenblick der Ausgewogenheit in [Nietzsches] Schriften einfügt, als seine einzige Erfahrung völliger ,Gesundheit'." (KSA 3, 660) Gesundheit, die große Gesundheit, ist also das eigentliche Thema der Fröhlichen Wissenschaft, die sich in dieser heiteren Ausrichtung auf die menschliche Genesung von der inter-

esselosen oder zweckverlorenen Tristesse alltäglicher Wissenschaft unterscheidet. Es wäre aber zu prüfen, ob sich für Nietzsche die große Gesundheit ihrer Zeitstruktur nach tatsächlich in einem „magischen Augenblick" entfalten kann und prüfenswerter noch, ob sie sich in das dem Ideal der „Ausgewogenheit" verpflichtete klassisch-homöostatische Gesundheitsdenken einordnen läßt. Es soll daher versucht werden, so präzise wie möglich den Bedeutungsraum der großen Gesundheit auszuleuchten. Als wichtigste Quelle hierzu dient die Fröhliche Wissenschaft, einschließlich der nachgelassenen Fragmente aus ihrer Entstehungszeit.2 Da in diesen Texten aber vieles nur angedeutet wird, was später im Zarathustra ausgeführt erscheint, muß auch

Der Aphorismus steht im fünften Teil der Fröhlichen Wissenschaft, der in der zweiten, erweiterten Ausgabe ( 1887) angefügt wurde (KSA 3, [382] 635). 2 Hier vor allem das Notizbuch M III 1, Frühjahr-Herbst 1881 (KSA, 9, 11,441-575). 1

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Christian Hick

Werk, soweit es von der großen Gesundheit handelt und nicht bereits über sie hinaus weist,3 Berücksichtigung finden. dieses

1. Das

„Subjekt" der Gesundheit

Beginn der eigentlichen Untersuchung von Nietzsches Gesundheitsbegriff muß geklärt werden, wer als das „Subjekt" der Gesundheit gilt.5 Für Nietzsche ist dies nicht und es ist wichtig, diese Differenzierung bei seinen späteren oft hart und paradox klingenden Überlegungen zur großen Gesundheit immer im Auge zu behalten das Individuum des AlltagsVor

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bewußtseins, diese

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von bewußten Empfindungen, Urtheilen und Irrthümern [...] ein Glaube, ein Stückchen vom wahren Lebenssystem oder viele Stückchen zusammengedacht oder gefabelt, eine ,Einheit', die nicht stand hält." (KSA 9, 11 [7], 443)

„Summe

Dem zusammenphantasierten, bewußten Individuum setzt Nietzsche, in einem Fragment aus

1881, das mit der Selbstbewertung „Hauptgedanke!" eingeleitet wird, das „wahre ,Lebens-System'" als die organische Einheit entgegen. Krankheit und Gesundheit betreffen nach dieser Unterscheidung nicht die bewußte Schein-Einheit des Individuums, sondern immer die dahinter verborgenen „wahren ,Lebens-Systeme', deren jeder von uns eins ist" (KSA 9, 11 [7], 443). Das „organische Einheitsgefühl" (KSA 9, 11 [14], 446) darf mit dem Bewußtseins-Ich nicht verwechselt werden. Die Bewußtseins-Spiegelung der „Individualität", die falsche Einheit der Ich-Besessenheit, kann sogar so stark werden, daß sie einer Krankheit gleicht: dem Jahre

3 Die große Gesundheit ist die „physiologische Voraussetzung" des Typus Zarathustra (KSA 6, 337). 4 Grundsätzliche Voraussetzung für ein Verständnis von Nietzsches Gesundheitsauffassung ist es, von zwei reduktionistischen Mystifikationen des Gesundheitsbegriffes Abschied zu nehmen. Nach diesen Auffassungen wäre Gesundheit entweder (1) negativ als Abwesenheit von Krankheit oder (2) positiv als speziestypische Normalfunktion zu verstehen (C. Boorse, „On the disctinction between disease and illness", in: Philosophy and Public Affairs 5/1975, 49-68). In beiden Fällen wird Gesundheit zu einem bloß faktisch zu konstatierenden Zustand menschlicher Organismen. Diese Auffassungen geben jedoch in naturalistischer Verkürzung bestenfalls Teilmomente des im Alltag wie auch in der medizinischen Praxis verwandten Gesundheitsverständnisses wieder (vgl. hierzu ausfuhrlich H. T. Engelhardt, The foundations ofbioethics, Chap. 6 „The languages of médicalisation", 2. Aufl., Oxford 1996). Es ist mittlerweile weitgehend akzeptiert, daß, selbst in rein medizinischem Verständnis, Gesundheit immer auch wenn nicht sogar überwiegend ein Wertbegriff \s\ und nicht bloß eine Tatsachenfeststellung. Zum aktuellen Stand der medizinphilosophischen Diskussion hierzu vgl. G. Khushf, „Expanding the horizon of reflection on health and disease", Journal of Medicine and Phililosophy 20/1995 (5), 461-463, sowie die drei Beiträge zum Problem der Normativität des Gesundheitsbegriffes im gleichen Themenheft des Journal of Medicine and Philosophy: R. M. Sade, „A theory of health and disease: The objectivist-subjectivist Dichotomy", 513-525; J. G. Lennox, „Health as and objective value", 499-511; R. Mordacci, „Health as an analogical concept", 475-497. 5 Nietzsches Gedanken zu diesem Thema finden sich vor allem im Manuskript M III 1, das aus der Zeit der Abfassung der Fröhlichen Wissenschaft stammt. Hierzu schreibt Nietzsche am 14. August an Heinrich Köselitz: „Ungefähr den 4ttn Theil des ursprünglichen Materials habe ich mir vorbehalten (zu einer wissenschaftlichen Abhandlung)." (KSB 6, [281], 237) In diesem zurückbehaltenen Material findet sich auch die erste Notiz des Gedankens von der ewigen Wiederkunft des Gleichen (KSA 9, 11 [141], 494). -

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Denken als Symptom

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Symptome als Gedanken

„Mit sich behaftet, wie mit einer Krankheit." (KSA 9,

11

[39], 455)

Als erster Schritt zur Entwicklung einer kritischen Anthropologie als Grundlage einer adäquaten Gesundheitslehre muß also der Mythos vom Ich verabschiedet werden: sich als solches phantastisches ego zu fühlen! Schrittweise lernen, das vermeintliche Individuum abzuwerfen! Die Irrthümer des ego entdecken! Den Egoismus als Irrthum einsehen! Als Gegensatz ja nicht Altruismus zu verstehen! Das wäre die Liebe zu den anderen vermeintlichen Individuen! Nein! Über ,mich' und ,dich' hinaus! Kosmisch

aufhören,

empfinden!" (KSA 9,

11

[7], 443)6

Irrtum des Ich befreien, nicht um in den Irrtum des Anderen sondern um das Reich transindividueller, organischer „Empfin(Altruismus) verfallen, zu erreichen. Dies ist die der vielen Überwindungen auf dem Weg zur großen erste dung" Gesundheit, eine Überwindung von Bewußtseinstäuschungen, die von der leiblichen Vernunft zu leisten ist: Der Mensch muß sich

vom

zu

Klugheit der Zunge z. B. überhaupt." (KSA 9, 11 [12], 445) „[...]

die

ist viel

größer als

die

Klugheit unseres Bewußtseins

Die leibliche Vernunft ist aber kein Unbewußtes, kein zweites, lediglich verborgenes Bewußtsein, sondern ein neu-entdecktes, schöpferisches Kraftfeld, das Nietzsche als „Phantasie" anspricht (KSA 9, 11 [13], 446). Die in der leiblichen Vernunft arbeitende Phantasie, etwa des Auges, gibt nicht Wirklichkeiten, wie das Bewußtsein, sie gibt hingeworfene Möglichkeiten (KSA 9, 11 [13], 446).7 Die phantasievolle, nicht-bewußte leibliche Vernunft schafft Zugang "



zu

etwas Neuem:

„nicht ego und nicht m und nicht omnes." (KSA 9, 11 [21], 450)

Ausgeschlossen, als der großen Gesundheit nicht fähig, sind alle Figuren der cogitatio. Diese Überwindung der Individuums-Täuschung befreit. Gelebt wird nicht mehr um des Individuellen willen, sondern „um des Wahren willen" (KSA 9, 11 [21], 450). Wir dichten nicht länger am Mythos des Individuums, sondern werden empfänglich für die Gaben der Welt: „Wir sind Ackerland für die Dinge. Es sollen Bilder des Daseins aus uns wachsen." (KSA 9, 11 [21], 450) In dieser empfangsbereiten Haltung diesseits der bewußten Individuation, in der leiblichen Grundgestalt unserer Existenz, nehmen die Heilkräfte auf wunderbare Weise zu:

„Alle Dinge wollen deine Ärzte sein!" (KSA 4, 272)

6 Hervorhebungen von Nietzsche. 7 Zum „Tanz" der großen Gesundheit im

Möglichen s.

u.

Christian Hick

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Immer wieder bekräftigt Nietzsche diese Aufforderung an den Genesenden, der die Stimme der Gesundheit schon hören kann, die Mahnung zur Befreiung von der Personalität, zum Aufbruch in die Wahrheit der „Ding"-Welten: Fliehe das „Ich", fliehe die mit dem individuellen Bewußtseins-Ich, diesem romantischen Wahnsinn, notwendig verbundene „todestrunkene

Traurigkeit" (KSA 4, 274),

„[...] geh hinaus, wo die Welt auf dich wartet, gleich einem Garten." (KSA 4, 275) Im Zarathustra ist die Überwindung der Bewußtseins-Individualität terminologisch präziser gefaßt. Das „organische Einheitsgefühl" wird nicht von der kleinen Vernunft des Bewußtseins, sondern von der großen Vernunft des Leibes hervorgebracht. Diese große, leibliche Vernunft räsonniert nicht, sie spricht nicht in der Sprache der Ich-Welt sie handelt: -

,,,Ich' sagst du und bist stolz auf dieses Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich." (KSA 4, 39) -

Das handelnde Ich des Leibes wird als

„Selbst" dem Bewußtseins-Ich entgegengesetzt:

„Das Selbst sagt zum Ich: ,hier fühle Lust!

Da freut es sich und denkt und eben dazu soll es denken." (KSA 4, 40)

oft sich freue

'

nach, wie es noch

-

Bewußtsein und Erkenntnis sind hier in den Dienst der „Lustbarkeit", der epikureischen Genesung gestellt. Die große Gesundheit orientiert sich an den vom leiblichen Selbst gezogenen Wertlinien.8 Bei dieser Zurückweisung der Bewußtseins-Individualität zugunsten eines leiblich-gestaltenden Selbst muß jedoch ein mögliches Mißverständnis vermieden werden: Die notwendige Überwindung des Bewußtseins-Ich, die Rückwendung auf ein leibliches Selbst meint nicht das Aufgehen in der Gattungsidentität. Außer dem durch das kartesische cogito und seine Modifikationsformen (fix, omnes) umschriebenen „individuellen" Selbstverständnis muß auch die Selbstauslegung nach dem Gattungsbegriff überwunden werden:

„Emancipieren wir uns von der Moral der Gattungs-Zweckmäßigkeit! [...] Sind die Zwecke des Individuums nothwendig die Zwecke der Gattung? Nein. Die individuelle Moral: in Folge eines zufälligen Wurfs im Würfelspiel ist ein Wesen da, welches seine Existenzbedingungen sucht nehmen wir dies ernst und seien wir nicht Narren, zu opfern für das Unbekannte]" (KSA 9, 11[46], 458 f.) -

Gattungsmoral und Gattungsgesundheit finden ihre dogmatische Fixierung in allen Formen „Monotono-Theismus", der als strukturelle Gestalt gesellschaftlicher Dogmatik keines-

eines

8 Es wäre eine eigene Untersuchung wert nachzuweisen, wie erst auf dieser Ebene einer transindividuellen, vorbewußten, leiblich konstituierten Wertetafel selbstiger „Lüste" und Gesundheiten die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen ansetzen kann: Nur eine Lust, die sich von der Krankheit des Individuellen befreit hat, kann Ewigkeit wollen.

Denken als Symptom

-

Symptome als Gedanken

wegs auf das religiöse Gebiet beschränkt ist.9 Die begriffes wird hierdurch unmöglich:

87

Entfaltung eines adäquaten Gesundheits-

„Der Monotheismus [...], diese starre Consequenz der Lehre von Einem Normalmenschen also der Glaube an einen Normalgott, neben dem es nur noch falsche Lügengötter giebt war vielleicht die grösste Gefahr der bisherigen Menschheit: da drohte ihr jener vorzeitige Stillstand, welchen, soweit wir sehen können, die meisten anderen Thiergattungen schon längst erreicht haben; als welche alle an Ein Normalthier und Ideal in ihrer Gattung glauben und die Sittlichkeit der Sitte sich endgültig in Fleisch und Blut übersetzt haben." (KSA 3,

-

-

143,490)

große Gefahr für den Menschen liegt also darin, sich in einem Ideal „fest-steilen" zu lassen, das dann, besteht es nur lange genug, in Fleisch und Blut, in physiologisch normalisierte Existenzformen übergeht. Die tierische Gesundheit, als speziestypische Normalität physiologischer Funktionen,10 wird für Nietzsche zum Gegenbegriff der großen Gesundheit des leiblichen Selbst. Dabei läßt sich die tierische Normalgesundheit streng genommen nicht Die

einmal als Gesundheit bezeichnen. Mit dem Übergang der Gesundheitsnormen vom „Idealen" ins „Materiell-Physiologische", vom Wertenden ins Faktische, geht im Tierreich der Gesundheitsbegriff verloren. In der sogenannten tierischen Gesundheit manifestiert sich dann lediglich noch eine zu nackten, physiologischen Tatsachen kristallisierte, vormals „flüssige" Wertstruktur. Die Polemik und das Pathos von Nietzsches zertrümmernder Philosophie, sein „Götzen-Hammer", richtet sich gegen solche aus Werten entstandenen Tatsachen-Kristalle, gegen diese Kristall-Gitter, die in ihrer für den Menschen tödlichen Eindeutigkeit nicht bloß eine zu überwindende Erkrankung, sondern den abschließenden Endpunkt des schaffenden Lebens, das Ende jeder möglichen Gesundheit markieren.

2. Die

Kreisgestalt der Gesundheit

Nachdem das schwer zu fassende „Subjekt" von Nietzsches Gesundheitsverständnis greifbarer geworden ist, möchte ich versuchen, die Denkfigur zu rekonstruieren, in der sich Nietzsches Gesundheitsbegriff bewegt. Die Bewegung der Gesundheit läßt sich nach den Analysen der Fröhlichen Wissenschaft als Kreisform beschreiben. Dieser Gesundheitskreis deutet die von Nietzsche gesehenen Bezüge zwischen „Physiologie" und „Philosophie", zwischen leiblichen Vollzügen und Denk-Gestalten. Der eine Kreisbogen zeichnet die Prägung des Denkens durch fixierende, nicht fest-stellende „Bindung" in einer recht verstandenen lebendigen religio dürfte allerdings gerade umgekehrt nicht zum Stillstand, sondern zur Befreiung fuhren. „Tradition", die als Gabe und nicht als Fessel empfangen wird, schafft den für Kreativität und produktive Entäußerung notwendigen Raum: die „Fruchtbarkeit" geht aus der „Selbstlosigkeit" hervor (vgl. hierzu F. Ulrich, Gegenwart der Freiheit, Einsiedeln

9 Eine nicht

1974).

versucht, dieses schon von Nietzsche kritisierte naturalistische Mißverständnis gattungsspezifisch optimales Funktionieren in praktisch unveränderter Gestalt zu reanimieren unserer Einschätzung nach mit geringem Erfolg (vgl. außer C. Boorse, „On the disctinction between disease and illness", auch C. Boorse, „What a theory of mental health should be", in: Journal for the Theory of Social Behaviour 6/1976, 61-84, und „Health as a theoretical concept", in: Philosophy ojScience 44/'1977', 542573).

10 C. Boorse hat mehrfach

menschlicher Gesundheit als -

88

Christian Hick

die „physiologische" Verfassung des Denkenden nach: Das Denken wird zum Symptom einer leiblichen Vernunft, die es aus organischer Tiefe hervorbringt (2.1.). Der andere Kreisbogen bezeichnet den umgekehrten Weg: Die produzierten Gedanken verändern nicht nur die Konfiguration der Denkwelt, sondern wirken auf die sie hervortreibenden organischen Strukturen zurück (2.2.). Wir wollen in der Folge diese gegenläufigen Analysen der Fröhlichen Wissenschaft nachzeichnen und die beiden Kreisbögen des Gesundheitskreises darstellen. Anschließend soll versucht werden zu zeigen, vor welchem Hintergrund es möglich ist, eine solche „ganzheitliche" Kreisfigur zu denken. Es wird deutlich werden, daß die psychosomatische „Durchlässigkeit" des Gesundheitskreises, d. h. die freie Kommunikation zwischen bewußter Denkwelt und dem organischen Lebens-System der leiblichen Vernunft, auf eine Ontologie des absoluten Scheins angewiesen ist, wie sie Nietzsche am Ende der Vorrede zur Fröhlichen Wissenschaft andeutet und in den nachgelassenen Fragmenten weiter entwickelt hat.

2.1. Denken als

Symptom des Leibes

Die Transmutation der Philosophie zu einer klinisch-diagnostischen Hilfswissenschaft wird im zweiten Abschnitt der Vorrede zunächst fast unmerklich vorbereitet:

„Man hat nämlich, vorausgesetzt, dass man eine Person ist, nothwendig auch die Philosophie seiner Person." (KSA 3, 347)

Philosophisches Denken ist nicht eine interesselose Ideenschau; es geht ihm auch nicht um Übereinstimmung mit dem von ihm gedachten Gegenstand. Denken ist, in radikaler Umwendung auf das scheinbar Selbstverständliche, das Denken einer Person, eines „organischen Lebens-Systems" und nicht die Teilhabe an einem wie immer beschaffenen Reich transpersoneller Wahrheit. Durch dieses „Auf-den-Leib-Stellen" der Philosophie eröffnen sich neue Möglichkeiten, Abgründe für das klassische Wahrheitsdenken, neue Horizonte für eine Philosophie, die sich als Gesundheitswissenschaft und diagnostisches Werkzeug versteht. Die Inhalte des Denkens werden abhängig von Kraft und Stärke des Denkenden: „Bei dem Einen sind

es seine Mängel, welche Reichthümer und Kräfte." (KSA 3, 347)

philosophiren,

bei dem Anderen seine

Und für Nietzsche waren es in der Menschheitsgeschichte zumeist die Mängel, die herrschten und philosophierten." Mängel nicht bloß sozialer oder intellektueller Art, sondern in letzter Analyse physiologische Schwächen, Abnormalitäten und Krankheiten. Die Arbeit des Philosophen wandelt sich: nicht länger muß er als Wahrheitssucher die inhaltliche Richtigkeit theoretischer Aussagen prüfen. Als neue und letzte Aufgabe bleibt ihm nur übrig nachzuweisen, in welcher Weise Krankheit oder Gesundheit als physiologische Basis des Philosophierens das in ihnen wurzelnde Denken verändern und prägen: -

-

11

Vgl.

hierzu

vor

allem KSA 5, 270 ff. über das

„schöpferische Ressentiment".

Denken als Symptom

-

89

Symptome als Gedanken

„Was wird aus dem Gedanken selbst werden, der unter den Druck der Krankheit gebracht wird?" (KSA 3, 347) Diese Frage kann nicht durch einen unbeteiligten Beobachter geklärt werden. Die Antwort setzt eine erhaltene „psycho-somatische" Einheit voraus. Das Denken muß an seinem Ursprung aus der physiologischen Primärstruktur aufgespürt werden. Hier kann nur die Vivisektion des Erkennenden, das philosophische Lebens-Experiment, das den „Geist auf der That ertappt", weiterführen. Nach Nietzsche werden also Wahrheiten und Systeme, jede Physik und Metaphysik von physiologischen Schwächen oder Stärken diktiert: Denken ist ein Symptom leiblicher Zustände. Dies wäre zunächst eine einfache lineare Ausdrucksbeziehung. Aber die Reflexivität des Denkens, sein Schleierspiel, erlaubt Ausdrücke höherer Ordnung: Verstellungen und Mißverständnisse. Das Denken als Symptom des Leibes ist, wie jedes Denken, durch die konstitutive Eigenschaft absichtlicher oder unabsichtlicher Täuschungen und Enttäuschungen ausgezeichnet: wo gedacht wird, wird immer auch schon getäuscht und mißverstanden. Denken konstituiert sich als Mischung aus Dichtung und Wahrheit. So ist es nicht verwunderlich, daß das Denken nur selten die physiologischen Zustände in reiner Form wiedergibt. Mißverständnisse des Leibes sind an der Tagesordnung. Dies ist bedenklich, weil solche Mißverständnisse nicht im Bereich der Selbstauslegung Einzelner verbleiben, sondern in Denksysteme und Traditionen der „Heerde", d. h. in Kultur und Philosophie eindringen:

„Die unbewusste Verkleidung physiologischer Bedürfhisse unter die Mäntel des Objektiven, Ideellen, Rein-Geistigen geht bis zum Erschrecken weit, und oft genug habe ich mich gefragt, ob nicht, im Grossen gerechnet, Philosophie bisher überhaupt nur eine Auslegung des Leibes und ein Mißverständnis des Leibes gewesen ist." (KSA 3, 348) -

Werturteile werden zu „Symptomen bestimmter Leiber". Das Denken, das sich aus der methodischen Isolierung des cogito befreit und in seiner realen Denkwelt aufgesucht wird, kann diese leiblichen Stigmata nicht länger verstecken. Die ganze Wahrheit des Denkens ist seine Leibgebundenbeit. Die kartesische Reduktion auf die Gewißheit des rein formalen Denkvollzuges hatte jede inhaltliche Bestimmung dieser Gewißheit eliminiert. So kann das nur der Gewißheit seiner Existenz gewisse cogito ohne „Gottes Hilfe" nicht in die immer noch zweifelhafte konkrete Wirklichkeit seiner Existenz zurück. Wird die konkrete Wirklichkeit dagegen primär zugelassen, im Verzicht auf die kartesische Reduktion, im Verzicht auf bösen Geist und guten Gott und auf Gewißheit! -, offenbart sich das Denken in seiner leiblichen Prägung. Als Korrelat hat ein in dieser Weise konkretes leibliches Denken nicht Wahrheit und Falschheit, sondern Krankheit oder Gesundheit: -

„Bei allem Philosophiren handelt es sich bisher gar nicht um Wahrheit', sondern um etwas Anderes, sagen wir um Gesundheit, Zukunft, Wachsthum, Macht, Leben ..." (KSA 3, 349) ,

diagnostische Anwendung dieses Verfahrens findet sich die ganze abendländische Philosophiegeschichte unter den Verdacht der Krankheit gestellt. Zugespitzt bis zur Karikatur, aber in der konsequenten Logik des Gesundheitskreises, sieht der Aphorismus 134 vegetarische Diätfehler als Ursache der raschen Verbreitung pessimistischer Philosophien. Das europäische Mittelalter wird in dieser Sicht zur geistigen Ausformung fortgesetzter Trunkenheit: Als erste

Christian Hick

90

„Mittelalter, das heisst die Alkoholvergiftung Europa's." (KSA 3, 486.) Das Mißverständnis des Leibes bleibt aber, wenn Gedankenfreiheit gegeben ist, im reflexiven Milieu menschlicher Existenz nicht unbefragt bestehen. Selbst wenn sich philosophisches Denken aus manifest Pathologischem speist, resultiert keineswegs notwendig eine pathologische Selbstauslegung. Die transfigurierend-reflexive Kraft des Philosophen kann Mißverständnisse des Leibes und pathophysiologische Data in „geistigster Form und Ferne" (KSA 3, 349.) zu ebenso vielen Gesundheiten aufklären und „verklären".

„Ein Philosoph, der den Gang durch viele Gesundheiten gemacht hat und immer wieder macht, ist auch durch ebenso viele Philosophien hindurchgegangen: er kann eben nicht anders als seinen Zustand jedes Mal in die geistigste Form und Ferne umzusetzen, diese Kunst der Transfiguration ist eben Philosophie." (KSA 3, 349) -

Philosophie ist Alchimie, die Krankheiten und Schmerzen zu Gesundheits-Denken wandelt. Zu Weihnachten 1882, die Fröhliche Wissenschaft war am 20. August erschienen, schreibt Nietzsche an Overbeck nach dem Abbruch seiner Beziehungen zu Mutter und Schwester und dem krisenhaften Scheitern seiner Verbindung zu Lou von Salomé: -

„Dieser letzte Bissen Leben war der härteste, den ich bisher kaute und es ist immer noch möglich, daß ich daran ersticke [...] Wenn ich nicht das Alchemisten-Kunststück erfinde, auch aus diesem Kothe Gold zu machen, so bin ich verloren. Ich habe die allerschönste Gelegenheit zu beweisen, daß mir ,alle Erlebnisse nützlich, alle Tage heilig und alle -

Menschen

göttlich' sind!!! Alle Menschen göttlich. -'"2

Die durch diese alchimistische Umwandlung von Schmerzen entstehenden „goldenen" Gesundheits-Gedanken sind allerdings Gedanken besonderer Art. Sie sind Gedanken, die in ihrer befreienden Kraft der Lösekraft des Schmerzes, den Auflösungen der Krankheit entsprechen. Philosophie, die sich aus der Krankheit, aus Schmerz und Dysfunktionen speist und sie transfiguriert, ist dadurch zugleich die Befreiung vom bloßen Funktionieren im „Schweigen der Organe",13 Befreiung von der organischen Langeweile des vegetativen Lebensgefühls. Schmerz vertieft, aber nur im Umweg über das Denken und für Nietzsche in einem spezifischen Sinn: das schmerzhafte Leben wird interessant, es wird der Stagnation des Unproblematischen, der Versuchung des Nihilismus entrissen. Mit der Neuschöpfung von Gesundheiten aus den Abgründen des schmerzlichen Verdachts und des verdächtigenden Schmerzes erschafft der Philosoph eine neue Welt: echt und problematisch. Diese alchimistische Transmutation von Alltagswelten in ein problematisches „X" und die daraus entspringende Freude am X wird zum neuen Glück des Erkennenden:

„Erst der große Schmerz ist der letzte Befreier des Geistes, als der Lehrmeister des grossen Verdachtes, der aus jedem U ein X macht, ein achtes rechtes X, das heisst den vorletzten Buchstaben vor dem letzten [...] Der Reiz alles Problematischen, die Freude am X ist [...] 12 KSB 6, 365, 312, Brief von Nietzsche an Franz Overbeck in Basel, Rapallo, 25. Dezember 1882. 13 R. Leriche, Einführung zur Encyclopédie française Bd. 6, 1936, zit. n. Georges Canguilhem, Le normal et le pathologique, 3. Aufl., Paris 1991, 52.

Denken als Symptom

Symptome als Gedanken

91

-

bei [...] geistigeren, vergeistigteren Menschen zu gross, als dass diese Freude nicht immer wieder wie eine helle Gluth über alle Noth des Problematischen, über alle Gefahr der Unsicherheit, selbst über die Eifersucht des Liebenden zusammenschlüge." (KSB 3, 351)

purgierenden und verklärenden Kraft philosophischer Denk-Praxis, die festgefahrene „leibfeindliche" Interpretationen umwerten kann, bewirkt aber auch die physiologische Basis selbst einen „gesunden" Wechsel von Interpretationen. Die rätselhaften, im natürlichen Licht der Vernunft nicht erklärbaren Wechsel von festen Anschauungen und Überzeugungen, der Verfall von Wahrheiten, die schleichende Auflösung und Ablösung „ewiger Werte", finden in der physiologischen Fundierung dieser Gedankenwelten ihre Erklärung:

Neben dieser

„Dein neues Leben hat jene Meinung für dich getötet, nicht deine Vernunft: du brauchst

sie nicht mehr, und nun bricht sie in sich selbst zusammen und die Unvernunft kriecht wie ein Gewürm aus ihr an's Licht." (KSA 3 [307], 545)

Das wechselhafte Schicksal von Wertsystemen moralischer oder ästhetischer Natur bildet nur das Echo auf wechselnde physiologische Zustände. Kristallisationspunkte, Geschmacks- und 'Wert-Urteile entstehen aus dem physiologischen Wert-Fluß durch die Verstärkung physio-

logischer „Absonderlichkeiten" einflußreicher Mächtiger, die ihre physiologischen BedürfWertsystemen festsetzen. Moral und Ästhetik reflek-

nisse in moralischen oder ästhetischen

tieren die Gesundheitsbedürfhisse der „Machthaber":

„Sie haben den Mut, sich zu ihrer Physis zu bekennen und deren Forderungen noch in ihren feinsten Tönen Gehör zu schenken: ihre ästhetischen und moralischen Urtheile sind solche ,feinsten Töne' der Physis." (KSA 3, 406)

Die für gültig gehaltenen moralischen und ästhetischen Urteile orientieren sich also durchaus an der Gesundheit, aber nicht an der Gesundheit jedes Einzelnen, sondern an Gesundheitswertungen großer Einzelner, denen sich die Einzelnen der Masse unterwerfen, an denen sie aber auch, sofern es sich um unbekömmliche Wertschätzungen handelt, zugrunde gehen können.

2.2. Leibliche Im zweiten

Symptome als Ausdruck des Denkens

Bogen des Gesundheitskreises wird die scheinbar eindeutige Beziehung zwischen

physiologischer Denkursache und Gedankenwirkung zur Uneindeutigkeit der Kreisbeziehung erweitert. Die aus physiologischen Zuständen hervorgegangenen Gedanken machen von ihrer Freiheit Gebrauch. Dabei können sie nicht nur im alchimistischen Sinne ihre eigene Denkwelt umwerten und transfigurieren (s. o.); sie wirken auch auf die physiologische Basis zurück. Die Gedanken, als Resultat der von der organischen „Lebens-Einheit" hervorgebrachten Denkanstrengung, inkarnieren sich in ihre leibliche Basis zurück. Sie verändern die leibliche Wirklichkeit, die sie trägt, und treiben neue organische Symptome hervor, in denen sie sich -jetzt in physiologischer Sprache ausdrücken. Das Verhältnis zwischen „Physiologie" und „Philosophie" ist also nicht ein einfach-lineares. In der vollen Kreisgestalt konstituiert sich -

Christian Hick

92

die Gesundheit als Resultat wechselseitiger Durchdringung und kreisförmiger Beeinflussung. Es wirkt eine zirkuläre „Kausalität", eine Schöpfung,14 die sich analog der von Victor v. Weizsäcker für den Gestaltkreis beschriebenen wechselseitigen Abhängigkeit von „Wahrnehmen" und „Empfinden", in gegenseitiger Verborgenheit beider Momente verwirklicht.15 Ein Beispiel für diese wirklichkeitsschaffende Kraft des „Denkens", das in pathogener aber faktisch gelungener Weise versucht, die physiologische Basis „wegzudenken", sieht Nietzsche in den idealistischen Menschen-Schwärmern.16 Im idealistischen Denken wird das Leiblichelementare als „peinlich" und „ekelhaft" aus der Selbstauslegung eliminiert. Die erste Umwertung und Abwertung des Physiologischen unterdrückte das, was als „ästhetisch be-

leidigend" galt,

„[den] inneren Menschen ohne Haut blutige Massen, Kothgedärme, Eingeweide, alle jene saugenden pumpenden Unthiere formlos oder häßlich oder grotesk, dazu für den Geruch peinlich. Also weggedacht." (KSA 9, 11 [53], 460) -

-

Eine genauere Analyse der Wechselwirkungen von Intellekt und Physiologie gibt der Aphoris127 der Fröhlichen Wissenschaft. Um ein Verständnis für diese verborgene Interaktion zu ermöglichen, muß zunächst die „Nachwirkung der ältesten Religiosität" getilgt werden. Diese besteht in dem Glauben an die Ursprünglichkeit und Nicht-Hintergehbarkeit der Willens-Kausalität als letztem metaphysischem Prinzip. Nietzsche bindet den Willen, wie schon das Denken im ersten Bogen des Gesundheitskreises, an die hedonistischen Wertungen seiner physiologischen Basis zurück, aus denen der Wille hervorgeht:

mus

„[...] erstens, damit (KSA 3, 483)

Wille entstehe, ist eine

In einem zweiten Schritt werden die

schöpfungsmacht

des „Intellects"

Vorstellung

Wertungen untergeordnet:

dieser

von

Lust und Unlust

physiologischen

nöthig."

Basis der Wert-

„Zweitens: dass ein heftiger Reiz als Lust oder Unlust empfunden werde, das ist die Sache des interpretierenden Intellects, der freilich zumeist dabei uns unbewusst arbeitet. Und ein und derselbe Reiz kann als Lust oder Unlust interpretirt werden." (KSA 3, 483) „Aus-sich-Selbst-Sein" dieses Gesundheitskreises läßt sich nicht in klassische Kausalitäten auflösen. Die Sprechakte der großen, leiblichen Vernunft, deren Gesundheitssemantik wir als Kreisgestalt beschreiben, gehören keiner Kausalsprache an. Letztlich ist alles kausale, begründend-genetische Denken ein Denken sub specie mortis: eine potentiell pathogène Flucht vor dem freien, affektiven Aufscheinen stets neu gegenwärtiger, gesunder Wirklichkeit: „Das leibverachtende Kausaldenken als Folge der Angst vor dem immer Neuen, der ständigen Veränderung sich abwechselnder Einmaligkeiten des Lebens, ist so nichts anderes als die Ankündigung des Todes, ist der Ausdruck des zum Sterben entschlossenen Organismus" (Stephan Grätzel, Die philosophische Entdeckung des Leibes, Wiesbaden 1989, 127). Die Untersuchungen Victor v. Weizsäckers zum psycho-motorischen Gestaltkreis (Der Gestaltkreis, 2. Aufl., Leipzig 1943) schärfen den Blick für nicht in Kausalbeziehungen darstellbare Wirklichkeitsbereiche. Unsere Nachzeichnung des in Nietzsches Philosophie sichtbar werdenden Gesundheitskreises stützt sich auf diese durch v. Weizsäcker eingeführten Differenzierungsmöglichkeiten. Zu Nietzsches Befreiung von der „Unwissenheit in physiologicis" und vom „verfluchten Idealismus" (KSA 6, 283) durch das Studium von Physiologie, Medizin und Naturwissenschaften vgl Wolgang Müller-Lauter, „Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluß von Wilhelm Roux aufNietzsche", in: Nietzsche-Studien 7/1978,189-

14 Das

15

16

223).

Denken als Symptom

Symptome als Gedanken

93

-

Als unbewußte Interpretationen der leiblichen Vernunft sind diese Wertungen dem Einzelnen nicht unmittelbar zugänglich. Die leiblichen Interpretationsschichten bilden die dem nackten Materialismus der Reizwelten vorgeschaltete Ebene, an denen bewußte, denkerische Umdeutungen ansetzen können. Ein Denken, das von diesen leibgebundenen Interpretationen weiß, kann eine Purgierung des interpretierten Leibes versuchen. Eine solche bewußte Klärung wird notwendig, da die unbewußten, leibgebundenen Interpretationswelten nicht alle aus der organischen Tätigkeit der einzelnen Lebens-Systeme selbst hervorgehen, also nicht in jedem Fall authentisch-gesunde Interpretationen sind. Die leibgebundene Interpretationsschicht ist vielmehr das Sediment vergangener Wertungen, früherer bewußter Wertsetzungen, die sich an der Gesundheit einzelner Mächtiger orientierten und daher für das später geborene, reifende Selbst des Einzelnen pathogen werden können.17 Die sedimentierten Wertschichten eines alten und mächtigen Denkens, welche die unbewußte Interpretations-Hülle des Leibes z. B. im mißverstehenden Sinn eines „leiblichen Idealismus" vorgeprägt haben, müssen durch bewußt neues Denken abgetragen oder umgewertet werden, so daß ein neues, leibgerechtes „Wissen", dienend dem „Menschen-Sinn", dem „Sinn der Erde" (KSA 4, 100) geschaffen wird:

„Wissend reinigt sich der Leib; mit Wissen versuchend erhöht er sich; dem Erkennenden heiligen sich alle Triebe; dem Erhöhten wird die Seele fröhlich." (KSA 4, 100) Dieses Denken muß zunächst gegen die verführerischen Selbstverständlichkeiten seiner leiblichen Basis andenken, die nur scheinbar die seine ist. In Wirklichkeit denkt es gegen die leibgebundene Interpretationshülle vergangener Wertsysteme. Die hieraus resultierende, scheinbar gegen den Leib gerichtete neue Erkenntnis Nietzsches Philosophie bringt eine erhebliche Abkühlung der tierischen Wärme mit sich. -

-

„[...] kalt strömt jede Erkenntnis. Eiskalt sind die innersten Brunnen des Geistes: ein Labsal heissen Händen und Handelnden." (KSA 4, 134) In dieser isolierenden Kaltstellung der mit dem Leib verwachsenen Wertschichten entwindet sich die leibliche Vernunft gleichsam dem organischen Schwitzkasten fremder Interpretationswelten und schafft die Voraussetzung für eine Umwertung der Werthülle des interpretierten Leibes. Denken befreit, es zerbricht „tungierend" wirkende fremd-leibliche Lustund Unlust-Wertungen, bringt Erleichterung vom Kameldienste an historisch gewachsenen Wert- und Gesundheitskristallen'8 und schafft Raum und Kraft für neue, individuelle Gesundheit:

„Er ist ein Denker: das heisst, er versteht sich darauf, die Dinge einfacher zu nehmen, als sie sind." (KSA 3, 189,504) Damit dem Denken diese Leichtigkeit gelingen kann, muß es selbst erst wieder „flüssig", wieder „fröhlich" werden bis in seine sprachliche Form hinein. Diese fröhliche Leichtigkeit als Voraussetzung jeder Umwertung ist Nietzsches Gesundheitsziel: Er will das Vorurteil vom -

17 S. o. Denken als Symptom des Leibes. 18 Zur „Kristallisierung" von Sinn in der Geschichte

vgl. KSA 5, 317.

Christian Hick

94

zeigen wie „fröhliche Wissenschaft" die große, die einzige Gesundheit ermöglicht. Auf eine solche Wissenschaft, auf eine in voller Bewußtheit fröhliche Wissenschaft, kann nicht verzichtet werden. Ein intuitives, gedankenloses Wiederfinden des gesunden Kontaktes mit der Lebenswirklichkeit ist in einem dekadenten Zeitalter nicht möglich. Unter den verernsten Denken zerstreuen und

härteten Wertungen abgelegter, lebensfeindlicher aber leibgebundener Interpretationswelten ist die Unmittelbarkeit des Lebens verschüttet und zunächst verloren. Nur durch bewußtes Gesund-Denken können diese Verhärtungen gelockert und wir von ihrer Last „erleichtert"

werden.19

Diese Aufgabe wird dadurch erschwert, daß jedes bewußte Denken

prinzipiell einer Gefahr

ausgesetzt ist, die mit „Bewußtsein" überhaupt verbunden ist: dem Verfall an die Krankheit

falscher Individualität. Das Bewußtsein erreicht nämlich, wie Nietzsche in der zentralen genealogischen Analyse des Aphorismus 354 der Fröhlichen Wissenschaft nochmals unterstreicht, zunächst gerade nicht das, was im Zarathustra als das leibliche Selbst und die große Vernunft, die Basis großer Gesundheit, angesprochen wird. Bewußtsein ist aus dem sozialen Mitteilungsbedürfnis entstanden. Es wurzelt in den sozialen Notwendigkeiten des Menschen als „Heerden-Thier". Nietzsches Gesundheitsimperativ: „Werde der Du bist" kommt also, in mißverstehender Weise über diese ursprüngliche, „naive" Stufe des Bewenn er wußtseins vermittelt werden soll, in einen inneren Selbstwiderspruch: Das im Bewußtsein sichtbar werdende Ich ist in Wirklichkeit lediglich das Ich der „Heerde". -

-

„Unsre Handlungen sind im Grunde allesammt auf eine unvergleichliche Weise persönlich, einzig, unbegrenzt-individuell, es ist kein Zweifel; aber sobald wir sie in's Bewusstsein übersetzen, scheinen sie es nicht mehr." (KSA 3 [354], 593 f.) Was Nietzsche hier als

unbegrenzte Individualität unserer Handlungswirklichkeit noch terminologisch unpräzise faßt, wird in der späteren Begrifflichkeit zum leiblichen Selbst. Bewußtsein, bewußtes Denken dagegen ist in der dauernden Gefahr, in die „naive Ebene" der nur scheinbaren Einzigartigkeit der „Heerden-Perspektive" zurückzufallen. Erst die Aufdeckung dieser optischen Täuschung, dieser „heerdenmäßigen" Verfälschung bewußter Erkenntnis eine Aufdeckung, die mit der Umwertung aller Werte gleichbedeutend ist gestattet es, mit dem „Denken" das Reich der Gesundheit zu erreichen. Ein Denken, das auf diese „aufgeklärte" Weise der Gesundheit nachdenkt, ohne sich in der Bewußtseinstäuschung der falschen Heerden-Individualität zu verlieren, ist ein schöpferisches:

-

-

„Wir aber wollen die Dichter unseres Lebens sein, und im Kleinsten und Alltäglichsten zuerst."

(KSA 3 [299], 538)

Der Medizin sind solche

Gestaltungskünste und artistischen Zauberkräfte im Lebendigen, zumindest was das „grob Stoffliche" angeht, seit alters bekannt:

19

Bereich des

J. Zwick, Nietzsches Leben als Werk. Ein systematischer Versuch über die Symbolik der Biographie bei Nietzsche, Bielefeld 1995, 125. Zwick fragt sich, ob es nicht „diese Verwandlung pathologischer Symptome in Bedeutung [war], die es Nietzsche ermöglichte, das Manifestwerden der Krankheit möglichst weit heraus-

Vgl

zuschieben."

Symptome als Gedanken

Denken als Symptom

95

-

von den Aerzten etwas zu lernen, wenn sie zum Beispiel das Bittere verdünnen oder Wein und Zucker in den Mischkrug thun." (KSA 3 [299], 538)

„Hier haben wir

Bezug auf die palliativen Sinnes-Lenkungen und -täuschungen ärztlicher Praxis und ihr künstlich-künstlerisches Moment unterstreicht die therapeutische Orientierung von Nietzsches Philosophieren. „Verdünnung" und „Verzuckerung" von Lebens-Bitternissen dürfen nicht länger als unerlaubte Kunstgriffe angesehen werden. Sie müssen auf allen Gebieten im Namen der Gesundheit systematisch angewandt werden, um den Schmerz nackter und abstrakter Wahrheit durch kunstgerecht angelegte „perspectivische Durchblicke" (KSA 3 [299], 538) zu mildern. Die eigentlich philosophische Gesundheitskunst reicht allerdings weiter als die ärztliche Täuschungs-Medizin. Die philosophische Täuschungskunst im Dienste der Gesundheit zielt auf die Struktur der Wirklichkeit selbst, ihre Kraft geht über eine bloß artistische Täuschung hinaus. Philosophisches Gesundheits-Denken kann mehr als nur besänftigen und betäuben: es vermag von der Namens-Haut her die Dinge neu zu „erschaffen". Denn Wortschöpfung als Wertschöpfung schafft Wirklichkeit. Das „Kleid des Namens", von den Mächtigen geschaffen und den Dingen gewaltsam übergeworfen, wächst an wie eine zweite Haut: Der

„Der Schein von Anbeginn wird zuletzt fast immer (KSA 3, 422)

zum

Wesen und wirkt als Wesen!"

Ist diese Hülle aus Schein eine Krankheit, genügt es keineswegs, auf den „Scheincharakter" dieser Krankheit hinzuweisen etwa unter Betonung einer dem Menschen ursprünglich zukommenden „wesenhaften" Gesundheit20 und Erkrankungen im Rückgriff auf ein solches substantielles Gesundheitsideal zu therapieren. Die Wesensebene der Gesundheit gibt es nicht, sie ist „hinzugelogen". Gesundheit kann nie unter Krankheitsmänteln „entdeckt" werden,21 sie muß stets neu geschaffen werden. Ein neuer Mantel aus Schein muß dem Haut gewordenen Krankheitsmantel übergeworfen werden: gesunde Namen müssen die Krankheit zur Gesundheit verwandeln: -

-

„[...] es genügt, neue Namen und Schätzungen und Wahrscheinlichkeiten zu schaffen, um auf die Länge hin neue ,Dinge' zu schaffen." (KSA 3, 422) Die Gesundheit ist für Nietzsche keine „verborgene",22 so daß sie durch therapeutische Aufdeckungen in ihrer substantiellen Reinheit wiederhergestellt werden könnte. Die leiblichen Zustände der je eigenen Gesundheit sind zunächst vor allem namenlos. Gesundheit muß, wenn sie als Ausweg aus Krankheit erfahrbar werden soll, beim Namen genannt werden, muß sich in neuen Namen offenbaren:

„Wie die Menschen gewöhnlich sind, macht ihnen sichtbar." (KSA 3 [261], 517)

erst der Name ein

Ding überhaupt

20 Wie bei Rousseau; vgl. Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes (1754), Paris 1969, 61 ff. 21 In einer Ontologie des absoluten Scheins (s. u.) gilt für die Gesundheit wie für die Wahrheit: „Wir glauben nicht mehr daran, dass die Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr den Schleier abzieht" (KSA 3, 352). 22 H.-G. Gadamer, Über die Verborgenheit der Gesundheit, Frankfurt a.M. 1993.

Christian Hick

96

Voraussetzung der Genesung ist also, daß in der Leibsprache neue Namen für Gesundheit erfunden werden. In diesem spezifischen Sinne ist die Fröhliche Wissenschaft, das Gene-

sungsbuch Nietzsches,23

seiner Gesundheit.

3. Momente

der Versuch einer

fortgesetzten (Sprach-)Schöpfung

im Dienste

geglückter Gesundheit

Die Genesung, den „aus sich rollenden"24 Gesundheitskreis aus Leben und Denken hat Nietzsche mit der Fröhlichen Wissenschaft gefunden, wie er in seinem Begleitbrief an Jacob Burckhardt bemerkt:

„Im Übrigen habe ich den Punkt erreicht, wo ich lebe wie ich denke, und vielleicht lernte ich auch inzwischen wirklich ausdrücken, was ich denke." (KGB 6, 235)2S Die zunächst konventionell klingende Beteuerung der Übereinstimmung von Leben und Denken liest sich vor dem Hintergrund der Kraftlinien des Gesundheitskreises wie das zusammengefaßte Resultat glückender Kreis-Gestaltung. Das Ziel einer sich im Gesundheitskreis nach Nietzsches „Therapieplan" aktualisierenden großen Gesundheit bleibt die „Genesung der Vernunft".26 Einer solchen Genesung der Vernunft, die eine Genesung von der „kleinen", diskursiven Vernunft für die „große", leibliche Vernunft ist, dient seine Philosophie des Leibes. Die Voraussetzung hierfür bildet, wie wir eingangs gesehen haben, eine Revision des Subjektbegriffes: Aus dem „Ich" der kleinen, sich selbst wissenden Vernünftigkeit soll das „Es" der großen, leiblichen, sich selbst gewissen Vernunft werden.27 Die Beschreibung der hieraus resultierenden neuen Leibwelt darf jedoch nicht in der „Grammatik des Ich-Bewußtseins" erfolgen.28 Die Darstellung von Strukturen der großen Gesundheit, die in der leiblichen Vernunft wurzeln, kann daher nicht in Form von

23 So schreibt Nietzsche an Erwin Rohde zur Ankündigung seiner Fröhlichen Wissenschaß: „[...] meine einzige Entschuldigung für diese Art von Litteratur, wie ich sie seit 1876 mache: es ist mein Recept und meine selbstgebraute Arzenei gegen den Lebens-Überdruß. Und so soll Jeder nach seiner Art für sich sein Bestes thun das ist meine Moral: die einzige, die mir noch übrig geblieben ist. [...] Ich war in allen Punkten mein eigener Arzt; und als einer, der nichts Getrenntes hat, habe ich Seele Geist und Leib auf Ein Mal und mit denselben Mitteln behandlen müssen." (KSB 6 [267], 226 f. Brief Nietzsches an Erwin Rohde in Tübingen, Tautenburg bei Dornburg, Thüringen, Mitte Juli 1882) und an Lou von Salomé nach Abschluß des Manuskripts zur Fröhlichen Wissenschaft, als er bereits die drei ersten Druckbogen in Händen hält über die 6 Jahre (1876-1882) seiner „Freigeisterei": „Oh welche Jahre! Welche Qualen aller Art, welche Vereinsamungen und Lebens-Überdrüsse! Und gegen Alles das, gleichsam gegen Tod uncí Leben, habe ich mir diese meine Arznei gebraut, diese meine Gedanken mit ihrem kleinen kleinen Streifen unbewölkten Himmels über sich." (KSB 6 [256], 216, BriefNietzsches an Lou von Salomé in Stibbe, Tautenburg bei Dornburg Thüringen, 3. Juli 1882). 24 „Bist du eine neue Kraft und ein neues Recht? Eine erste Bewegung? Ein aus sich rollendes Rad?" (KSA 4, 80) 25 Brief Nietzsches an Jacob Burckhardt in Basel (Naumburg a. Saale; vermutlich 2/3.) August 1882. 26 S. Grätzel, Die philosophische Entdeckung des Leibes, 164. 27 Vgl. hierzu ebd., 164 ff. 28 Ebd., 167, und KSA 5, 30 f.: „Zuletzt ist es schon mit diesem ,es denkt' zuviel gethan: schon dies ,es' denkt enthält eine Auslegung des Vorgangs und gehört nicht zum Vorgange selbst." -

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definitorischen Festlegungen erfolgen.29 Ansprechen lassen sich aber Momente des Gesundheitskreises, in denen das „menschlich-übermenschliche Wohlsein und Wohlwollen" (KSA 3, 637) in seiner glücklich gelingenden Kreisgestalt anklingt. (1) Zunächst ist die große Gesundheit die offene und souveräne Verbundenheit mit den durch die leibliche Vernunft aufgespannten Möglichkeitsräumen. Diese offene Verbundenheit mit Möglichem wahrt aber zugleich die Distanz: sie verliert sich nicht im Möglichen, sondern sie „tanzt" in ihm aus der Wirklichkeit kommend und mit ihr in Verbindung bleibend. Einer Wirklichkeit, von der immer wieder tanzend Abschied zu nehmen, um zu ihr zurückzukehren, im Lachen gelingt: -

„Wie vieles ist noch möglich! So lernt doch über euch hinweg lachen! Erhebt eure Herzen, ihr guten Tänzer, hoch! höher! Und vergesst mir auch das gute Lachen nicht!" (KSA 4,

367)

Das gute, das „gesunde" Lachen vereint als leiblicher Vollzug, was auf der Ebene der diskursiven Vernunft unvereinbar auseinanderfallt: Abschied und Präsenz, Distanz und Nähe. So wird eine bewußtseinsrational unverständlich paradoxe Position zu sich selbst gewonnen: eine distanzierte Gegenwart, die wie im Tanz einen rhythmischen Wechsel von „Erhebung" und „Bodenständigkeit" von Möglichkeit und Wirklichkeit gestattet.30 Große Gesundheit realisiert sich also nicht durch diskursive Negation der leibfernen Rationalität des Ich-Bewußtseins. Sie ist, in der „Es-Grammatik" ausgedrückt, tanzender Abschied vom „Geist der Schwere", von der kleinen, auf kausale Bezüge gehenden Vernunft, die sich leibblind am Leitfaden des Satzes vom Grunde vorantastet.31 Die tanzende Verbundenheit in der Distanz, das naive doch zugleich machtvolle „Spielen mit Allem" (KSA 3 [382], 637), befreit von pathogenen Verstrickungen in fossilisierten Werturteilen aller Art. Was Nietzsche von der Moral sagt, gilt für ihn ebenso auch von anderen Wert-Festsetzungen und Vorschriften, von allem äußerlich „Hygienischen", von allen Gesundheitsregeln der kleinen Vernunft: -

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„[...] wir brauchen alle übermüthige, schwebende, tanzende, spottende, kindische und selige Kunst, um jener Freiheit über den Dingen nicht verlustig zu gehen, welche unser Ideal von uns fordert. [...] Wir sollen auch über der Moral stehen können: und nicht nur stehen, mit der ängstlichen Steiflgkeit eines Solchen, der jeden Augenblick auszugleiten und zu fallen fürchtet, sondern auch über ihr schweben und spielen!" (KSA 3, 465)

29 Zu Nietzsches Begriff der „großen Gesundheit" und seiner Bedeutung für die Medizin vgl. auch H. Schipperges, Am Leitfaden des Leibes: zur Anthropologik und Therapeutik Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1975, 134-141. 30 Solche für die Bewußtseinsrationalität,queren' Begriffsfügungen in Nietzsches Denken lassen sich auch mit B. Magnus als „self-consuming concepts" beschreiben (Deification of the Commonplace: Twilight of the Idols, in: R. C. Solomon u. K. M. Higgins, Reading Nietzsche, New York 1988, 168 f.). Die Selbstauflösung abstrakter Begrifflichkeit, die Dekonstruktion von rationalen Idealen, vollzieht sich aber nur für die „kleine Vernunft" des Bewußtseins. Auf der Ebene der leiblichen Vernunft, die durch diese Dekonstruktion abstrakter Rationalität erst freigelegt wird, findet bei Nietzsche keine postmoderne Selbstauflösung der Begrifflichkeit statt: In der Leibsprache behält die große Gesundheit ihren Sinn; sie bleibt ein leibliches Ideal, auch wenn sie sich für die „kleine Vernunft" in inneren Widersprüchen auflöst. Vgl. hierzu auch J. Cadello, Nietzsche and the living body. Late- and post-modern readings of Nietzsche on health, in: Int. Stud. Phil. 25/1993 (2), 97-107. 31 Vgl. hierzu S. Grätzel, Die philosophische Entdeckung des Leibes, 119.

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(2) Da im Alltag die leib-fernen Vernunftbindungen vorherrschen, ist zunächst vor allem ein Aufbrechen aus der unmittelbaren Selbst-Sicherheit entfremdender Gewißheiten erforderlich, das nicht ohne gewaltsame Trennungen von leibgewordenen, aber leib-fremden „HeerdenGewohnheiten" und Vorurteilen gelingen kann. Das schmerzhafte Opfer ist in salutogenetischer Perspektive dem langsamen Leiden vorzuziehen: „Attentate sind besser als schleichende Verdrießlichkeiten." (KSA 9, 11 [28], 452) Ein solches gewaltsames Zurückstoßen des Lebensfeindlichen ist die Bedingung des Weiterlebens. Gesundes Leben kann nicht als homöostatisch reguliertes Gleichgewicht oder natürlich-ursprüngliche Harmonie verstanden werden. Gesunderhaltung setzt voraus, daß abgelebte Lebensfragmente ausgeschieden werden. Gesundes Leben ist ein steter Reinigungsprozeß:

„Leben das heisst: fortwährend etwas von sich abstossen, das sterben will; Leben das heisst: grausam und unerbittlich gegen Alles sein, was schwach und alt an uns, und nicht nur an uns, wird." (KSA 3, 400) -

-

Diese, vom Standpunkt des Bewußtseins aus gesehen, „grausame" Logik in Nietzsches Gesundheitslehre erklärt sich aus seinem Verzicht auf „Hinterwelten": Wo transzendente Bezüge fehlen, herrscht die immanente Logik der leiblichen Vernunft in reiner Konsequenz: „Leben das heisst also: ohne Pietät gegen Sterbende, Elende, Greise sein? Immerfort Mörder sein? Und doch hat der alte Moses gesagt: „Du sollst nicht tödten!" (KSA 3,400) -

-

dem Leben das Milieu, sich mit dem Tode zu vermitteln. Ein Stillstand positiv: die ruhende Gelassenheit in der „Einheit von Leben und ertragender Leben würde das überwältigen, das, allen von Nietzsche zurückgestellten Bedenken Tod",32 zum Trotz, lieber selbst in dauerndem Angriff verbleibt. (3) Große Gesundheit darfauch nicht als gelungene Anpassung33 verstanden werden. Im Gegenteil: mit der „Dankbarkeit eines Genesenden" berichtet Nietzsche in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft, daß die Genesung als unverhofft sich einstellende die Frucht des Widerstehens ist. Rational hoffnungslos widersteht er der Unterwerfung unter leib-fremde, aber „angeleibte", pathologisch inkarnierte Werturteile: Nur so kann für die leibliche Vernunft die „Hoffnung der Genesung" (KSA 3, 345) wachsen. (4) Widerstand ist nicht bloß passives Standhalten, sondern aktive Kraftentfaltung. Die wichtigste Vorbereitung zur Realisierung „großer Gesundheit" ist das Training des „Überwindens". Nur Menschen,

Ohne

„Hinter-Grund" fehlt -

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32 33

Vgl. hierzu F. Ulrich, Leben in der Einheil von Leben und Tod, Frankfurt a.M.

1973.

Gesundheitstheorien, die Gesundheit als Anpassung definieren, sind in Nietzsches Terminologie durch einen „Misarchismus", d. h. durch die theoretische Elimination des biologischen „Machtfaktors" gekennzeichnet. Der Weg zum Verständnis von Gesundheit ist so primär verstellt, da der aktive, herrschen- und schaffen-wollende Charakter der physiologischen Organisation verkannt wird: „Der moderne Misarchismus [...] scheint mir schon über die ganze Physiologie und Lehre vom Leben Herr geworden zu sein, zu ihrem Schaden, wie sich von selbst versteht, indem er ihr einen Grundbegriff, den der eigentlichen Aktivität, eskamotirt hat. Man stellt dagegen unter dem Druck jener Idiosynkrasie die Anpassung' in den Vordergrund, das heisst eine Aktivität zweiten Ranges, eine blosse Reaktivität [...] Damit ist aber das Wesen des Lebens verkannt, sein Wille zur Macht (KSA 5,315 f.). ,

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„die mit innerlichem Hange an allen Dingen nach dem suchen, was an ihnen zu überwinden ist" (KSA 3, 283, 526), können auch in der Leib-Ferne festgesetzter Wertungen gesunden. Diese gefährliche Suche nach dem zu Überwindenden, das „gefährlich leben", ist auch Voraussetzung jeden Genusses.34 Wie für Freud ist für Nietzsche die „Genußfähigkeit" ein zentrales Moment der Gesundheit. Soll Genuß im Dasein erfahfbar werden und große Gesundheit ist das „Tanzen" auf den sich immer wieder erneuernden Kronen der Genuß-Wellen -, muß überwunden, überwältigt und erobert werden. (5) Nietzsches Gesundheitsbegriff ist, wie sein Umgang mit Werten überhaupt, aktivisch geprägt: nicht Diäten, Vermeidungsregeln und Entsagungskuren, sondern positives Bestimmen, Schaffen, Verändern und Umwerten. Handeln, nicht Unterlassen ist seine Gesundheitsmaxime: -

„Unser Thun soll bestimmen, was wir lassen: indem wir thun lassen wir [...]. Ich will nicht mit offenen Augen meine Verarmung anstreben, ich mag alle negativen Tugenden nicht,

Tugenden, deren Wesen das Verneinen und Sichversagen selber ist." (KSA 3 [304], 543)

Gefordert sind Auswahl und aktive Umgestaltung von Situationen, bis sie der eigenen Konstitution entsprechen. Die stoische Abhärtung, die Einrichtung im abgegrenzten Feld zugewiesener Wirklichkeiten, die „kleine Gesundheit" des gleichgültigen Verzichts, wäre ein Mißverstehen bzw. Zum-Schweigen-Bringen des Leibes.35 (6) Die Zeitstruktur der großen Gesundheit ist futurisch geprägt. Sie manifestiert sich nicht im „schönen Augenblick", sondern in der anwesenden Abwesenheit offener und doch zielgewisser Zukunft. Fröhliche Wissenschaft öffnet den Zukunftsraum und befreit den Blick aus den Verstrickungen ins Vergangene und Abgelebte. Sie trainiert nicht das Gedächtnis, sondern das Vergessen36 und gibt uns den

„Glauben an ein Morgen und Uebermorgen, [...] das plötzliche Vorgefühl von Zukunft, von nahen Abenteuern, von wieder erlaubten, wieder geglaubten Zielen." (KSA 3, 346) Diese neuen, „abenteuerlichen" Ziele sind nicht mehr die alltäglichen Zwecke vernünftelnder Bewußtseinstäuschungen. Die befreite Vernunft des Leibes bringt auch die „Erlösung von der Knechtschaft unter dem Zwecke" (KSA 4, 209) hervor. Große Gesundheit ist durch a-teleologische, aber nicht ziellose Unschuld gekennzeichnet:

glaubt es mir! das Geheimnis, um die grösste Fruchtbarkeit und den grössten Genuss vom Dasein einzuernten, heisst: gefährlich leben\" (KSA 3 (283] 526). 35 „Der Stoiker dagegen übt sich, Steine und Gewürm, Glassplitter und Skorpione zu verschlucken und ohne Ekel zu sein; sein Magen soll endlich gleichgültig gegen Alles werden, was der Zufall des Daseins in ihn schüttet." 34 „Denn

-

36

(KSA 3 [306], 544). „Ohne Vergesslichkeit" gibt es „kein Glück, keine Heiterkeit, keine Hoffnung, keinen Stolz, keine Gegenwart [...]. Der Mensch, in dem dieser Hemmungsapparat beschädigt wird und aussetzt, ist einem Dyspeptiker zu vergleichen [...] er wird mit Nichts ,fertig'." Das Vergessen ist „eine Kraft, eine Form der starken Gesundheit [...]" (KSA 5, 292).

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„Wahrlich, ein Segen ist es und kein Lästern, wenn ich lehre: ,Über allen Dingen steht der Himmel Zufall, der Himmel Unschuld, der Himmel Ohngefähr, der Himmel Übermuth'" (KSA 4, 209).37

übermütige Orientierung auf die offenen Ziele freier Zukunft tritt an die Stelle der kleinmütigen Fixierungen eines durch und durch verzweckten Daseins. In diesem offenen, doch nicht orientierungslosen Zeithorizont kann sich der spezifische Gesundheitsrhythmus der großen Gesundheit entfalten. Gewöhnliche Gesundheit ist wie die Meeresstille der Seele, die für Nietzsche eben gerade keine „glückliche Fahrt" ermöglicht. Eine solche spannungs- und zeitlose Stille wäre ohnehin nur durch Betäubung oder Mortifikation erreichbar, also durch die Verwandlung des noch Lebendigen in Totes. Aber auch ihr Gegenteil, die permanent forcierte Beschleunigung des Lebensgangs, bezeichnet nicht das, was Nietzsche als Gegenmodell zur Ruhigstellung in der „kleinen" Gesundheit ins Auge faßt. Erst der Wechsel von Bewegung und Ruhe, die Nachbildung physiologischer Rhythmik, „eine fortwährende Bewegung zwischen hoch und tief und das Gefühl von hoch und tief, ein beständiges Wie-auf-Treppen-steigen und zugleich Wie-aufWolken-ruhen" (KSA 3 [288], 529) gewährleistet die stets neu gegenwärtige ZukunftsoffenDie

heit.

(7) Das Nicht-Festgestellte der großen Gesundheit, ihre vom Standpunkt des Bewußtseins schwer zu fassende Ambivalenz, ihr leibgebundener, rhythmischer Charakter und ihre widerspruchsfreie Verbindung von Dauer und Wechsel sind vielleicht am eindrücklichsten in Nietzsches Plädoyer für „kurze Gewohnheiten" zusammengefaßt (KSA 3, 295, 535). Der aus

kurzen Gewohnheit ist als Gewohnheit das Pathos der Dauer, der „Glaube der Leidenschaft" und der „Glaube an die Ewigkeit" (KSA 3, 295, 535) eigen. Die durch Gewohnheit garantierte Fülle als Voraussetzung der Erfüllung, der Sättigung ist erhalten, auf gewohnheitsmäßige Sättigung braucht nicht verzichtet werden.38 Die Sättigung bleibt jedoch „kurz", was ihren Übergang in Übersättigung und Ekel verhindert. Sie klingt ab und verschwindet, so daß in friedlichem Abschied Neues Platz findet, ein Neues, das mit dem gleichen Pathos der Dauer, der gleichen Lust an Ewigkeit ergriffen und in Besitz genommen werden kann. Dieses rhythmische Kommen und Gehen von Gewohnheiten erstreckt sich „vom Niedrigen bis zum Höchsten", d. h. von den physiologischen Grundfunktionen der Nahrungsaufnahme bis zur „höheren Physiologie" der Verdauung39 von „Gedanken, Menschen, Städten, Gedichten, Musiken, Lehren, Tagesordnungen, Lebensweisen" (KSA 3 [295], 536). Die kurzen Gewohnheiten großer Gesundheit sind scharf zu scheiden von den „dauernden Gewohnheiten" einer „einmaligen Art Gesundheit" (KSA 3 [295], 536). Hier wird sichtbar, wie sich die wandelbare große Gesundheit von der gewöhnlichen Gesundheit unterscheidet und welche Rolle der

37 Vgl. hierzu auch S. Grätzel, Die philosophische Entdeckung des Leibes.lll ff. 38 KSA 3, 295, S. 536: „Das Unerträglichste freilich, das eigentlich Fürchterliche, wäre mir ein Leben ganz ohne Gewohnheiten, ein Leben, das fortwährend die Improvisation verlangt: dies wäre meine Verbannung nach Sibirien." 39 Der Geist ist in der Tat „ein Magen", dessen Verdauungskapazität durch das Maß an kreativer Vergeßlichkeit bestimmt wird: „Vergesslichkeit ist keine blosse vis inertiae, wie die Oberflächlichen glauben, sie ist vielmehr ein aktives, im strengsten Sinne positives Hemmungsvermögen, dem es zuzuschreiben ist, dass was nur von uns erlebt, erfahren, in uns hineingenommen wird, uns im Zustande der Verdauung (man dürfte ihn ,Einverseelung' nennen) ebenso wenig in's Bewußtsein tritt, als der ganze tausendfältige Prozess, mit dem sich unsre leibliche Ernährung, die sogenannte .Einverleibung' abspielt" (KSA 5, 291). -

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Rhythmus der großen Gesundheit zukommt: Die Krankheit verhindert eine „Feststellung" des Menschen in einmaliger, rhythmusloser Gesundheit als dauernder GewohnKrankheit im

heit:

„Ich bin allem meinem Elend und Kranksein, und was nur immer unvollkommen an mir ist, im untersten Grunde meiner Seele erkenntlich gesinnt, weil dergleichen mir hundert Hinterthüren lässt, durch die ich den dauernden Gewohnheiten entrinnen kann." (KSA 3

-

[295], 536) So wird verständlich, daß die große Gesundheit als anti-homöostatisches Gesundheitsmodell kein „Zustand"40 sein kann, sondern immer Übergang bleibt, daß sie sich verlieren muß, um sich zu finden, daß sie sich aufgeben muß, um sich zu realisieren. Auf diesen bewußtseinsrationalen Widerspruch, der für die leibliche Vernunft zur tanzenden Kraftquelle wird, verweist Nietzsche in der „persönlichen" Charakterisierung des Aphorismus 382 der Fröhlichen Wissenschaft: Große Gesundheit ist

„eine solche, welche man nicht nur hat, sondern auch beständig noch erwirbt und erwerben man sie immer wieder preisgiebt, preisgeben muss!" (KSA 3, [382] 636)

muss, weil

4. Absoluter Schein als transzendentaler Grund

des Gesundheitskreises Große Gesundheit in ihrer Orientierung an der leiblichen Vernunft muß vor dem Hintergrund der durch Nietzsche betriebenen Auflösung des traditionellen Wirklichkeitsverständnisses gedacht werden. Wirklichkeit konstituiert sich nicht aus festgelegten, „dinghaften" Entitäten, sondern aus machtorientierten Wertungen und Ereignissen,41 deren Sinnstrukturen sich erst sekundär wie in einem Kristall semiotisch verfestigen (KSA 5, 317). Erst in einer auf diese Weise „genealogisch" verflüssigten Wertwelt ist das freie Wertschöpfungsspiel der großen Gesundheit möglich. In einer solchen Ereigniswelt ohne festgelegte Koordinaten wird Wertschöpfung aber auch zur notwendigen Bedingung eigenständiger Existenz. Nur durch GesundSchätzung kann in der gestaltlosen, dingleeren Welt der Nihilismus überwunden werden.

„Durch das Schätzen erst giebt Daseins hohl." (KSA 4, 75)

es

Werth: und ohne das Schätzen wäre die Nuss des

Heilung in dieser „kernlosen" Welt ohne Hintergründe ist nur als Selbstheilung möglich,42 da es keine im Hinblick auf einzelne Leiber transzendenten Orientierungen mehr gibt. Die Welt

40

41 42

Vgl. hierzu die WHO-Definition der Gesundheit als „Zustand vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens" (Co/Mfifu/i'on ofthe WorldHealth Organization, Preamble), Genf 1958; D. Callahan, „The WHO definition of .health'", in: Hastings Cent. Stud. 1: 3/1973, 77-88. G. Abel, Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin 1984, 421. „Arzt, hilf dir selber: so hilfst du auch deinem Kranken noch." (KSA 4, 100).

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ist immer unentdeckt, nicht-festgestellt, und diese Unterdeterminiertheit in Abwesenheit substantieller Festsetzungen gibt Raum für die Entfaltung einer je eigenen Gesundheit.

„Tausend Pfade giebt es, die noch nie gegangen sind; tausend Gesundheiten und verborgene Eilande des Lebens. Unerschöpft und unentdeckt ist immer noch Mensch und Menschen-Erde." (KSA 4, S. 100.) Der Leib bewegt sich mit seinen physiologischen Wertschätzungen und Überwältigungsprozessen (vgl. KSA 5, 313 ff.) in dieser Welt ohne doppelten Boden. Die substanzlose

Unbestimmtheit der leiblichen Welt lebt im Gegensatz zur festgestellten Berechenbarkeit substantialisierter Körperfunktionen. Ihr substanzloser Ereignischarakter läßt sich, traditionell gesprochen, als „Schein" kennzeichnen. Hinter diesem Schein aber fehlt das Sein: Sein oder Substanzen gehen dem Schein nicht voraus, sie sind sekundär aus ihm gewonnene Ab-

straktionsprodukte. Der Schein ist absolut, die Perspektiven sind die „Wahrheit". Der von machtorientierten Wertschätzungen getragene Schein tritt an die Stelle der Wirklichkeit „an sich":

,flchein, wie ich es verstehe, ist die wirkliche und einzige Realität der Dinge [...] Ich setze also nicht,Schein' in Gegensatz zur ,Realitäf sondern nehme umgekehrt Schein als die Realität, welche sich der Verwandlung in eine imaginative ,Wahrheits-Welt' widersetzt. Ein bestimmter Name für diese Realität wäre ,der Wille zur Macht', nämlich von Innen her bezeichnet und nicht von seiner unfaßbaren flüssigen Proteus-Narur aus." (KSA 11, 654) Die Bewertungen und der von ihnen hervorgebrachte Schein, die leibgebundene, lebensweltliche Aura, sind die eigentliche Wirklichkeit, sie bilden den Hintergrund von Nietzsches Gesundheitsverständnis. Erst in einer Welt des absoluten Scheins sind die freien, nur leibgebundenen Wertschätzungen möglich, die Gesundheit in ihren tausend Perspektiven erzeugen. Im absoluten Schein ist auch das Problem der zwischen beiden Momenten des Gesundheitskreises

psychosomatischen Kommunikation gelöst. Im verbindenden Milieu des Scheins fließen „psychische" und „somatische", „physiologische" und „philosophische" Kräfte zusammen. In der Schein-Welt der Ereignisse kommunizieren die Kräfte beider Reiche oder vielmehr: sie sind in der Macht-gezeugten Schein-Welt primär ungeschieden. In dieser Welt wird die Leibsprache gesprochen,43 es regiert das „Leibgesetz".44 43

Vgl. hierzu S. Grätzel, Die philosophische Entdeckung des Leibes, 126: „Nietzsche fand in den Untersuchungen der französischen Physiologen den adäquaten Ausdruck für dasjenige, was er in der Ablehnung der ontologischen und teleologischen Methode philosophisch schon propagiert hatte: die Leibsprache als der ursprüngliche Ausdruck und die ursprüngliche Kommunikation des Lebendigen." Da schon die Grammatik von Alltags- und Wissenschaftssprache eine „Pervertierung der Leibsprache" ist (ebd., 123), bedient sich Nietzsche der physiologischen Sprache in polemisch-therapeutischer Absicht: Die grammatisch verhärtete Sprache, als Quelle der pathogenen Festsetzung im „erdichteten" Sein und der Pervertierung des Leibes, muß wieder verflüssigt werden, wenn Genesung erreicht werden soll. Dies ist, will man innerhalb sprachlicher Diskurse verbleiben und nicht bloß schweigen, nur auf indirektem Wege möglich: durch die Vervielfältigung der sprachlichen Perspektiven, durch die Babyionisierung des Sprechens, durch „fremdsprachliche" Verwirrung. Im Durcheinander inkommensurabler Sprachen wird faktisch eine Auflockerung der Diskursstruktur und eine Annäherung an das Ideal einer leibnahen, flüssigen Sprache erreicht. Diesem Ziel der Verleiblichung des Diskurses dient Nietzsches Einführung der physiologischen Sprache in die Philosophie. Nicht daß die leibliche Vernunft sich im Sinne eines billigen -

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Als letzte Stufe der Genesung gewinnt die leibliche Vernunft im leuchtenden Schein der Ereigniswelt den Platz zurück, den sie an die abstrakte Rationalität verloren hatte. Leibliche Vernunft und die große Gesundheit als ihr Korrelat sind ursprünglicher als abstrakte Vernunft

und wahres Sein. Wird der Schein als das Wesen erkannt und Gesundheit zum Ziel der wieder verleiblichten Vernunft, ändert sich auch der Charakter des Wissens. Es wandelt sich von abstrakter Information zu leiblicher Gewißheit.45 Statt um „Wissen" oder „Wahrheit" geht es der leiblichen Vernunft in ihrem Vollzug „nur" noch um die Selbst-Gewißheit der Gesundheit. Das Koordinatensystem hat sich gedreht. Vernunft dient nicht länger dem „WahrheitsWahnsinne" (KSA 4, 374), sondern der Gesundheit, und auch dem Philosophieren soll es, jetzt voll bewußt, nicht mehr um Wahrheit, sondern, sagt Nietzsche, um das Andere (KSA 3, 349) gehen: die mit Macht spielende, lachende Lebendigkeit der großen Gesundheit. Ist dies erreicht, sind die Voraussetzungen dafür gegeben, daß der „große Ernst" (KSA 3 [382], 637), das ewig wiederkehrende Spiel beginnen kann.

„Vernunft! Verdriessliches Geschäfte! Das bringt uns allzubald an's Ziel! Im Fliegen lernt' ich, was mich äffte, Schon fühl' ich Muth und Blut und Säfte Zu neuem Leben, neuem Spiel..." (KSA 3, -

641)

Naturalismus aus der physiologischen Sprache allein verstehen könnte. Die durch die Integration physiologischer Diskurse in die Philosophie entstehende Sprachverwirrung ist ein methodisches Hilfsmittel zur Annäherung an die Leibsprache. Zur geradezu osmotischen Beeinflussung von Nietzsches Denken durch die physiologische Wissenschaft vgl. die minutiöse Analyse von H.-E. Lampl, „Ex oblivione: Das Féré-Palimpsest", in: NietzscheStudien 15/1986,225-264. Daß, wie Lampl schreibt, „sogar das Mitumfassen der Vielzahl von Eigenkontexten" in Nietzsches Sprachspielen für ein Verständnis oft „unzureichend bleibt" (ebd., 247), liegt daran, daß diese Babyionisierung der sprachlichen Kontexte methodischen Charakter hat: Zur Sprache kommen Ereignisse, die sich weder der Urschrift noch dem Palimpsest entnehmen lassen. Nicht erst die Interpretation, schon die „Sprachbildung" wird in diesen katalytischen Texten zur Aufgabe des Lesers. 44 S. Grätzel, Die philosophische Entdeckung des Leibes, 127. 45 „Die Wissensinhalte können hier also nicht gleichsam für sich behalten werden als abstraktes Wissen von etwas, sie verwandeln sich sofort zu leiblichem Geschehen in einer Unvermeidbarkeit, mit der etwa eine wiedererweckte Erinnerung im Bewußtsein aufsteigt, wenn sie in irgend einer Weise angesprochen wird." S. Grätzel, Die philosophische Entdeckung des Leibes, 116. -

Stephan Günzel

Vernünftige Körper? Körper ohne Organe! -

Nietzsche/Deleuze „Eines ist in psychiatrischen [...] Büchern sehr schockierend, und das ist die Dualität, die sie durchzieht: die Dualität zwischen dem, was ein angeblich Kranker sagt, und dem, was der Behandelnde über den Kranken sagt [...] Logos gegen Pathos [...]."'

I. Herkunft: Die Geburt der Körper aus dem Geiste der Tragödie Eine frühe Auseinandersetzung Nietzsches mit,Körpern' bzw. ihrer Rolle in der Philosophie findet sich in Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik: Nietzsche wendet sich dort der Schopenhauer-Wagner-Antwort auf das „Urproblem der Tragödie" zu, die in Nietzsches Théogonie die Frage nach dem Verhältnis von apollinischen und dionysischen Kräften, in „kürzerer" d. h. philosophischerer' „Form", die Frage nach dem Verhältnis von „Musik zu Bild und Begriff (GT 16, KSA 1, 104) meint. Schopenhauer für die Philosophie und Wagner für die praktizierende Musik sahen die Antwort in einer Spielart des wie man heute mit einem Terminus der Semiotik sagen würde ,Repräsentationalismus'. Nietzsche zitiert zu diesem Zweck über zwei Seiten aus Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung. Der zentrale Auszug darin lautet: -

-

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-

„Die Musik ist demnach, wenn als Ausdruck der Welt angesehn, eine im höchsten Grad

allgemeine Sprache, die sich sogar zur Allgemeinheit der Begriffe ungefähr verhält wie diese zu den einzelnen Dingen. [...] Alle möglichen Bestrebungen, Erregungen und Aeußerungen des Willens, alle jene Vorgänge im Innern des Menschen, welche die Vernunft in den weiten negativen Begriff Gefühl wirft, sind durch die unendlich vielen möglichen Melodien auszudrücken, aber immer in der Allgemeinheit bloßer Form, ohne den Stoff, immer nur nach dem Ansich, nicht nach der Erscheinung, gleichsam die innerste Seele derselben, ohne Körper."2

1

Gilles Deleuze in einem

Gespräch mit Intellektuellen des Mai '68 zusammen mit Félix Guattari

über ihr Buch

Anti-Ödipus, „Deleuze und Guattari erklären sich. Eine Diskussion mit Maurice Nadeau, Françios Châtelet, Roger

Dadoun, Raphael Pividal, Henri Torrubia, Pierre Clastres, Pierre Rose und Serge Leclaire", in: Félix Guattari, Mikro-Politik des Wunsches, Berlin 1977, 38-66, hier 43 (franz. in: Politique Hebdo, Nr. 33, 15. Juni 1972). 2 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I Erster Teilband, Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden, Bd. I, Zürich 1977, hier: 3. Buch, „Der Welt als Vorstellung zweite Betrachtung: Die Vorstellung, unabhängig vom Satze vom Grunde: die Platonische Idee: das Objekt der Kunst", § 52, 329; kursiv, S. G. Identisch mit dem Zitat in GT 16, KSA 1,105-107, hier 105. (Nietzsche zitiert den Text Schopenhauers allerdings nicht durchgehend und kennzeichnet dies auch nicht.)

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Stephan Günzel

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Schopenhauer „gleicht" die Musik als Sprache „hierin den geometrischen Figuren und Doch Nietzsche würde dem Heroen seines frühen Denkens nicht gefolgt sein, käme es nicht zu einer entscheidenden Verschiebung der bloßen Repräsentationsauffassung in Richtung der mimesis: Die Musik ist „nicht Abbild der Erscheinung", so Schopenhauer Für

Zahlen".3

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weiter, „sondern unmittelbar Abbild des Willens".4 Nietzsche kommentiert: „Wir verstehen also, nach der Lehre Schopenhauer's, die Musik

Sprache des Willens unmittelbar und fühlen unsere Phantasie angeregt [...]."' Die Auffassung von Welt als bloßer Vorstellung (d. h. ,Re-präsentation') ist zugunsten einer postulierten Willensindividuation aufzugeben. Die Repräsentation des Willens ist nicht mehr nach einem einfachen Abbildverhältais zu denken, sondern nach einer gesteigerten Version als ,,unmittelbar[es] Abbild". Dennoch ist die ,höhere' Form der Abbildung nur nach dem Muster der Repräsentation quasi einer Repräsentation ohne den Vorgang des Repräsentierens als die

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selbst zu denken. Mit dieser Verschiebung muß auch dem Körper eine andere Rolle zugedacht werden können: Ist die Musik in dem ,,parasitische[n] Opernwesen" nach dem „Wesen des stilo rappresentativo" als „Diener, [der] das Textwort als Herr betrachtet", gedacht, „[wo] die Musik mit dem Körper, das Textwort mit der Seele verglichen wird" (GT 19, KSA 1, 126), nach der so wird in der Wiedergeburt der Tragödie" (GT 19, KSA 1, 129) das Verhältnis Nietzsches ein anderes sein: Prophezeihung -

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„Die Tragödie saugt den höchsten Musikorgiasmus in sich hinein, so dass sie geradezu die Musik [...] zur Vollendung bringt [...] und an eine höhere Lust erinnert [...]." (GT 21, KSA 1, 134) Diese andere Funktion des Körpers ist der Körper in Aktion, der tanzende Körper, der Körper im mythisch-musikalisch-toxologischen Rauschzustand.6 Der tanzende Körper ist nicht mehr der eines Individuums der dialogisch angelegten ,,attische[n] Komödie" (GT 11, KSA 1, 76) des Euripides, sondern der mannigfaltige Körper des Chors, der repititiv das grausame Schicksal beklagt, und es in dieser Wiederholung durch sie bejaht. Der Körper durchlebt dort eine Transformation, in der sich der jeweils eigene Körper „vor sich [selbst] verwandelt" sieht, so „als ob man wirklich in einen andern Leib, in einen andern Charakter eingegangen -

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wäre"(GT8,KSAl,61).7

3 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, 329. 4 Ebd., 330; kursiv, S. G 5 GT 16, KSA 1, 107; kursiv, S.G.-In einem Fragment differenziert Nietzsche diese Auffassung hinsichtlich der Ausdrucksleistung der Sprache: „Die Gemüthsbewegung offenbart sich in einer analogen körperlichen Bewegung. / Diese wiederum wird in Rhythmus und Dynamik des Wortes ausgedrückt. Andernseits bleibt der Klang übrig als Analogon des Inhalts." (NF, Winter 1870-71-Herbst 1872, 8 [67], KSA 7, 248.) 6 Eine eigenwillige Dialektik begleitet Nietzsches frühe Auffassung: Die apollinische Ordnung ist in dem dionysischen Tanz .aufgehoben' (im Sinne ihrer .Aussetzung').-Jene scheint die .tiefere' Realität zu sein, von der der Ausnahmezustand stets eingeholt wird. Doch zu einer harmonisierenden .Aufhebung' wird es zwischen dem Gott der Ordnung und dem Gott des Chaos nicht kommen. Beide verbleiben in einem Antagonismus, welcher eben das Ringen von Kräften und nicht dialektische Arbeit ist. 7 „Dieser Prozess des Tragödienchors ist das dramatische Urphänomen [...]. Dieser Prozess steht am Anfang der

Entwicklung des Dramas." (GT 8, KSA 1, 61)

Vernünftige Körper? Körper ohne Organe!

107

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Der „aesthetischejj Sokratismus" (GT 12, KSA 1, 85), der „älter [ist] als Sokrates" (ST, KSA 1, 545) wie es in dem Vortrag „Socrates und die Tragödie" heißt8 -, hat sich „in das Musikdrama eingeschlichen und verheerend in dem schönen Körper gewirkt" (KSA 1, 545). Der Dialog bzw. das dialektische Argumentieren der Personen bricht das Konglomerat ,pathischer' Körper auf und vereinzelt sie. Der Körper des Chors, aus dem die Helden heraustreten, in welchen die Zuschauer wie die Akteure und auch die gesamte Kultur in einer Arena einbegriffen sind, diesen Körper gilt es nach voreuripidisch-vorsokratischem Modell wieder-

herzustellen.9

Statt einer verspäteten Einleitung eine Anmerkung: Zur Verortung des Körpers im Denken Nietzsches Wie bei allen topoi im Denken Nietzsches soll das selektive Lesen auf den ,Körper' hin nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich dabei um ein Thema handelt, das im Kontext der ,großen' Themen wie .Vernunft', ,Wille zur Macht', ,Herren-' und ,Sklavenmoral' erörtert werden muß. Gleich wie innerhalb von Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik dem Körper (als Metapher oder als Ausdrucksmittel) vordringlich eine musikalisch-linguistische und nicht bloß eine ,rein körperliche' Rolle zukommt, ist ,Körper' im Verlauf der Transformation von Nietzsches Denken weiteren Kontextverschiebungen unterworfen: Bezeichnet ,Körper' zumeist den ,konkreten Körper' d. h. den ,Leib' -, ist damit bisweilen ein ,Ereignisfeld' von sozialen, kulturellen und historischen Formationen sowie andernorts der Körper eines Volkes gemeint. Daß sich all diese Bedeutungen dennoch unter dem Terminus ,Körper' subsumieren lassen, verrät ein Ziel im ,direkten' Schreiben Nietzsches: Seien die Konnotationen auch abstrakt (wie im Falle des musikalischen oder des ideologischen Körpers), die Bezeichnung ,Körper' verweist den Leser stets auf einen nicht zu unterlaufenden Sachverhalt: das unmittelbar ,Erfahrbare'. Mag uns diese ,Soma-Ontologie' in unserer Körpervergessenheit auch noch so fremd sein. -

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Schon dort zeigt sich, daß es Nietzsche nicht um eine Restauration des Ursprungs ging. Tatsächlich gab es die bzw. nicht-sokratische Form der Tragödie in dieser Form nie. Sie solle im Gegenteil erst geschaffen werden. 9 In Der Wanderer und sein Schatten, stellt sich Nietzsche die Frage, was „das Vergänglichere" sei, „der Geist oder der Körper? (MA II, 77, KSA 2, 587) Nietzsches überraschende Antwort spricht die „Dauer" dem Leib zu, da dieser im „Cultus [...] wie ein fester Wort-Text immer neu ausgedeutet [wird]." (MA II, 77, KSA 2, 587) Dementgegen sind die „Begriffe und Empfindungen" jeweils wie „eine neue Seele", die dem Brauch nur „hinzukommt" (MA II, 77, KSA 2, 587). 8

vor-

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Stephan Günzel

II. Der

,organlose Körper': Antonin Artaud

Bevor jedoch diese weiteren Denk-Felder innerhalb Nietzsches ,Allgemeiner Physiologie' betrachtet werden, kehre ich noch einmal mit Blick auf Deleuze10 zum ersten Topos zurück, zum Körper als Ort der dionysischen Transformation. Die beiden zentralen Aspekte des Konzepts ,Körper', die sich hier unterscheiden lassen, sind zum einen in grammatologischer Hinsicht der Körper als Text(-Körper) und zum anderen in pathologischer Hinsicht der Körper als ,subjektiv' erfahrbarer Körper, als ,Leib'." Jener wurde von Nietzsche innerhalb der dionysischen Tragödie als Ausdrucksmittel von Gefühl, Sinn, Botschaft etc. mit einer Fähigkeit der unmittelbaren Hervorbringung und Kommunizierbarkeit situiert, diesen sieht Nietzsche als Weg zur Renaissance des dionysischen Zeitalters, in welchem die Körper mit allem Organischen und Anorganischen ,mitleiden' -

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werden.12

Ich beginne hier die Diskussion der Philosophie von Gilles Deleuze, und zwar nicht, weil sich Deleuze in diesem Punkt direkt auf Nietzsche beziehen würde, sondern da zwei zentrale Themen im Denken Deleuzes berührt sind: ,Ausdruck' und ,Pathos'. Deleuze macht sich dazu wiederum zwei andere Autoren zunutze, die für ihn in einem engen Verhältnis zu Nietzsche stehen: Spinoza und Artaud. Deleuze greift in seiner Zusammenarbeit mit dem Psychiater Félix Guattari auf einen wichtigen Begriff im späten Schreiben des Schriftstellers, Theaterregisseurs und Schauspielers Antonin Artaud zurück: den ,organlosen Körper'. Dieser entwickelte' das Konzept am Ende seines Pamphlets Schluß mit dem Gottesgericht:

10 Deleuzes fundierte und umfassende Nietzsche-Interpretation Deleuze war u. a. Mitherausgeber der NietzscheAusgabe von Colli und Montinari in Frankreich wurde v a. in Deutschland als Stiefkind der akademischen Rezeption behandelt. Die wenigen Spuren der Aufnahme sind dementsprechend verkürzend, polemisch und beruhen auf eine Voreingenommenheit, die sich zum einen aus der francophobie' an manchen Orten und zum anderen durch das Vacuum erklärt, welches die Interpretation .Heideggers hinterlassen hatte und die deutsche Philosophie zu eigenen ,Gegen-Interpretationen' zwang. Zur ,marginalen' Behandlung Deleuzes vgl. bspw. Volker Gerhardt, Vom Willen zur Macht. Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches, Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, hg. von Ernst Behler, Eckhard Heftrich, Wolfgang Müller-Lauter, Jörg Salaquarda und Josef Simon, Bd. 34, Berlin/New York 1996,204 (Anm. 3) und 210 (Anm 18), und Wolfgang Müller-Lauter, „Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht", in: Nietzsche-Studien 3/1974,1-60., hier 35 f. (Anm. 120). 11 ,Leib' hat in dieser Hinsicht Signifikanz als konzeptueller Verbund von .Körper' und ,Geist' inne. Ein eindeutiges Kriterium für die Unterscheidung zwischen ,Körper' und ,Leib' innerhalb von Nietzsches Schriften ist nicht auszumachen. ,Leib' wird von Nietzsche in Also sprach Zarathustra und im Zusammenhang mit der Kritik der institutionellen Kirche in Anspielung auf die Eucharistie verwandt. Bereits in den frühen Schriften aus der Studentenzeit Nietzsches (Zeitraum März-April 1865) findet sich eine philosophische Beurteilung der Auferstehungslehre nach Paulus, in welcher Nietzsche im Geist von David Friedrich Strauss die Überlieferung der Christuserzählung logisch wie materialistisch analysiert und nach der Betrachtung des behaupteten Übergangs vom ,,natürliche[n]" in den „geistigefn] Leib" zu dem Schluß kommt: „Jesu ist ein Gespenst." (KGW 3, „Zur Auferstehungslehre", 100-103, hier 101.) 12 Mit-leiden ist im Sinne von sym-pathés zu verstehen. Gerade daspäthos, das Mitleiden mit der Welt, bzw. die mimesis der Welt, welches in Worten unausprechlich, nur mit dem Körper darstellbar ¡st, wurde von der dialektischen Disputation zerstört: „Von jetzt ab gab es Theile der Tragödie, in denen das Mitleiden zurücktrat, gegenüber der hellen Freude am klirrenden Waffenspiel der Dialektik. Der Held des Dramas durfte nicht unterliegen, er mußte also jetzt auch zum Worthelden gemacht werden." (ST, KSA 1, 545 f.) -

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Vernünftige Körper? Körper ohne Organe!

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,,[I]hn [den Menschen; S.G.] nocheinmal, aber das letzte Mal, über den Autopsietisch gehen l[assen], um ihm seine Anatomie zu erneuem. Ich sage, um ihm seine Anatomie zu erneuern.

Der Mensch ist krank, weil er schlecht konstruiert ist. Man muß sich dazu ihn bloßzulegen, um ihm diese Mikrobe abzukratzen, die ihn zu Tode reizt:

entschließen,

Gott und mit Gott seine Organe. Denn binden sie mich, wenn sie wollen, aber es gibt nichts sinnloseres als ein Organ. Wenn Sie ihm einen Körper ohne Organe hergestellt haben, dann werden Sie ihn von all seinen Automatismen befreit und ihm seine wirkliche und unvergängliche Freiheit zurückerstattet haben."13

Artaud, der die letzten

neun Jahre seines Lebens in psychiatrischen Kliniken verbrachte, wendet sich in dem Schlußakkord dieses Textes nicht nur gegen eine Transzendenz ,Gott' dies wäre in der Geschichte des Geistes nichts Neues -, sondern gleichfalls gegen den ,Menschen'. Gegen den Menschen, wie er aufgrund seines Gottes ist, nämlich: mit Organen ausgestattet. Artaud will diesen Menschen mit all seiner humanistischen Göttlichkeit „über den Autopsietisch" schicken, um ihm „seine Anatomie zu erneuem", die nach der göttlichen Order eingerichtet ist. Der Mensch des christlichen Abendlandes ist ein ,Körper mit Organen'. Zu diesen Organen gehören ganz wesentlich Funktionalismen, d. h. die Aufgaben der Organe, welche diese im Verbund als Teil des Ganzen (des Körpers) zu erfüllen haben. Die Aufgaben der einzelnen Organe oder Körperteile sind dabei nicht durchwegs gleich: Ein Mund nimmt Nahrung auf, um diese über die Speißeröhre an den Magen weiterzuleiten, der die angedaute Nahrung an den Darmtrakt weitergibt, welcher wiederum in den Ausscheidungsapparat mündet. Doch der Mund kann auch sprechen oder küssen oder selbst als Ausscheidungsorgan dienen. Letzteres aber unterscheidet sich deutlich von den übrigen der genannten Funktionen: Ganz im Gegensatz wäre die Aktivität des Körperteils hier ,dysfunktional' zu nennen. Zwar mag es in dem entsprechenden Moment durchaus nützlich sein, die Nahrung von sich zu geben etwa weil die zu sich genommene Speise verdorben war -, aber innerhalb der dem Mund üblicherweise zugeschriebenen Funktionen fällt diese zunächst heraus. Was soll nun aber Artauds skurrile Forderung nach einem ,Körper ohne Organe' bedeuten? Und was hat Gott damit zu tun? Die Auffassung, was ein Körper ,kann' bzw. ,darf, ist so übersetze ich Artauds Forderung ,kulturrelativ' bzw. eine Frage, deren mögliche Antworten im jeweiligen ,Paradigma' einer Gesellschaft zu suchen sind.14 ,Unser' Paradigma

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13 Antonin Artaud, „Schluß mit dem Gottesgericht", in: Schluß mit dem Gottesgericht. Das Theater der Grausamkeit. Letzte Schriften zum Theater, München 1980 [1974], 7-29, hier 28 f.; kursiv, S. G Der letzte Teil dieses Textes (vgl. ebd., 26-29), der im Deutschen mit „Abschluß" betitelt ist, gibt einen Dialog Artauds mit sich selber wieder, der im Rahmen eines Rundfunkbeitrages entstand. Die Sendung, die am 28. November 1947 aufgezeichnet wurde, war 1948 kurz vor ihrer Ausstrahlung verboten worden. 14 .Paradigma' verstehe ich hier in dem Sinne, in dem Thomas S. Kuhns (vgl. die Bezugnahme im „Vorwort" von Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 11. Aufl., Frankfurt a.M. 1991 [1962], 8) .Vorbild' Ludwik Fleck

Stephan Günzel

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mitteleuropäischen, aufgeklärten Gesellschaft ist ,Gott': ,Gott' als das omnipräsente Selbstbewußtsein' Descartes; ,Gott' als Jenseits', auf das hin die protestantisch gesonnene Gesellschaft selbstlos ihr akkumuliertes Kapital wirft; und ,Gott' auch als die eindeutige Funktionalisierung der Organe: das Auge zum Sehen, der Mund zum Essen und Sprechen, die Ohren zum Hören und der Anus zum Ausscheiden.15 bzw. das der

Kontext: Foucault Woher diese Funktionalisierung? Innerhalb seiner Analyse historischer Die Ordnung der Dinge, stellt Michel Foucault fest:

Denkformationen,

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„Seit Cuvier begründet das Leben in dem, was es an Nicht-Wahrnehmbarem, an rein Funktionalem hat, die äußere Möglichkeit einer Klassifizierung. [...] Darin begründen sich

möglichen Unterscheidungen unter den Lebewesen. [...] Vom archäologischen Blickpunkt her sind es die Bedingungen der Möglichkeit einer Biologie, die sich zu diesem Zeitpunkt errichten."16 sämtliche

Seit dem 18. Jahrhundert in der neuen, die klassisch-repräsentationalistische ablösenden ,Ordnung des Denkens' wird nach Foucault eine Wissenschaft von den ,sich bewegenden Lebewesen' möglich: Zuvor konnten nur Pflanzen bzw. ,statisches Sein' in den Klassifikationsschemata des Botanikers Linnés nach sichtbaren Merkmalen wissenschaftlich' erfaßt -

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Inhalte von ,Denkkollektiven' bestimmt (Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1993 [1935]). Fleck geht dort u. a. vom Wandel der Darstellung des menschlichen Körpers innerhalb der Anatomie durch die Jahrhunderte hindurch aus (siehe bes. die vergleichenden Abbildungen, ebd., 180-184), die sich als „Ideo-Gramme" (ebd. 183)

in das Denken des Menschen einschreiben. 15 Nichts anderes meint Nietzsches Unterscheidung von .Zweck' und .Herkunft' : „Wenn man die Nützlichkeit von irgend welchem physiologischen Organ (oder auch einer Rechts-Institution, einer gesellschaftlichen Sitte, eines politischen Brauchs, einer Form in den Künsten oder im religiösen Cultus) noch so gut begriffen hat, so hat man damit noch nichts in Betreff seiner Entstehung begriffen: so unbequem und unangenehm dies älteren Ohren klingen mag, denn von Alters her hatte man in dem nachweisbaren Zwecke, in der Nützlichkeit eines Dings, einer Form, einer Einrichtung auch deren Entstehungsgrund zu begreifen geglaubt, das Auge als gemacht zum Sehen, die Hand als gemacht zum Greifen." (GM, „Zweite Abhandlung: .Schuld', .schlechtes Gewissen' und Verwandtes", 12., KSA 5,314; kursiv, S.G)- Deleuze und Guattari begreifen diese Relativität von Urteilen bzw. ihre Fundierung in Nützlichkeiten ebenfalls provozierend' in ihrer Terminologie unter Bezug auf die vorgängige .Organisierung' (als Organismusbildung) des Körpers: „Ohne Zweifel interpretiert jede Organmaschine die umfassende Wirklichkeit entsprechend ihrem eigenen Strom [...]: das Auge deutet alles in Kategorien des Sehens das Sprechen, das Hören, das Scheißen, das Ficken. Aber immer stellt sich eine Verbindung zwischen zwei Maschinen her, [... ] in der die erste den Strom der anderen abtrennt oder ihren eigenen Strom von dieser abtrennen ,sieht'." (Gilles Deleuze/Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 1988 (franz.: L'Anti-Œdipe, Paris 1972), 12. 16 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, 12. Aufl., Frankfurt a M. 1994 [1996], 328 f. Zu Deleuzes Aufnahme dieses Gedankens der Entstehung „einer organischen Tiefendimension oder eines ,pathologischen Volumens'" vgl. seine Darstellung „Der Tod des Menschen und der Übermensch", in: Gilles Deleuze, Foucault, Frankfurt a.M. 1987 [1986], 175-189, hier 181. Zum Zusammenhang von Foucaults und Deleuzes Nietzsche-Interpretation vgl. auch Scott Lash, „Genealogy and the Body: Foucault/Deleuze/Nietzsche", in: Michel Foucault. Critical Assessments, Bd. 3, hg. von Barry Smart, London/New York 1994 [1986], 14-47. —

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werden. Tiere waren von der Klassifikation ausgeschlossen und stellten dagegen eine ,unwissenschaftliche' Attraktion auf den Märkten und in den Parks der Fürsten dar. Doch jetzt ist man in der Lage, all diese bisher nicht systematisierbaren Lebewesen miteinander in Beziehung zu setzen: Die Funktion ihrer einzelnen Organe bzw. die Zweckdienlichkeit des gesamten Organismus erlaubt die Analogiebildung, in welcher die Verwandtschaftsbeziehung zwischen optisch gänzlich divergenten Tieren hergestellt werden kann. Darwin wurde möglich: Die Tiere laufen über das Autopsietableau des modernen Wissenschaftlers, der ihnen und ihren Organen ein telos zuspricht, nach welchem sie ihre Zuge-

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hörigkeit offenbaren.17 Dieses telos

ihre funktionale Transzendenz ist der ,Gott der Organe', der ihnen eine Tätigkeit zubilligt und durch den neuzeitlichen Wissenschaftler ihren Platz im

spezifische ,Sein' zuweist.18

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Wenn Artaud diesen Gott dadurch bekämpfen will, daß er einen Feldzug gegen die Organe führt, so verstehen wir nun sein Projekt: Der Mensch ist schlicht gesagt ,unfrei', da er bis in

seine Organe hinein einem göttlich-wissenschaftlichen Weltplan zu folgen hat. Der Mund hat Nahrung zu sich zu nehmen und die frohe Botschaft' zu verkünden, die Geschlechtsorgane haben für die Erhaltung des gottgleichen Menschengeschlechts zu sorgen usw. Was aber, wenn der Mund Nahrung ausscheidet, der Anus als Geschlechtsorgan dient, die Haut zur Einschreibungsoberfläche wird oder der Mensch einen ,physischen Feldzug' gegen sich selbst führt?19 Dann ist der Körper nicht nur dysfunktional, sondern auch ,unmoralisch', und beides bis zur Ununterscheidbarkeit vereint. Homosexualität: Selbstverstümmelung, Hypochondrie, Bulimie und Hysterie sind in ihrer Geschichte und bis auf den heutigen Tag zugleich von medizinischer wie religiöser Seite als ,a-normaF und ,a-moralisch' disqualifiziert ,

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worden.20

,Autopsietisch' ist dabei nicht nur eine .Metapher': Von nun an werde parallel zur „linguistischen Zerlegung"der Sprache in Phoneme die Medizin als Anatomie in der „Tiefe der Körper", im Verbund der Organe, nach dem Prinzip der „Solidarität des Organismus" (Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, 330) suchen und dabei den Körper zerlegen aber nur, um ihn als zusammengesetzten .Organismus' (als das Ganze, welches,größer ist als die Summe seiner Teile') hervortreten zu lassen. Dieses Denken, das notwendig die Diskontinuität des biologischen Klassifikationsraumes gegenüber der geschlossenen Oberfläche einer Taxinomie mit sich bringt, ermöglicht ein Denken der Historizität innerhalb der Biologie, kurz: das Evolutionsdenken Weiterhin und dies kann kritisch gegen den surrealistischen ,Vitalismus' von Deleuze und Artaud gewendet werden bewirkt dies in der Philosophie die Hinwendung zur „Animalität" (ebd., 339) und den Aufschwung der ,,wilde[n] Ontologie" (ebd., 340), der,Lebensphilosophie' z. B. eines Bergsons. Im gleichen Zuge werden die Körper der Menschen für die ,Organe des Staates' (Gesundheits-Polizei etc.) registrierbar und identifizierbar „Zum ersten Mal in der Geschichte reflektiert sich das Biologische im Politischen. [...] [Man müßte] von ,Bio-Politik' sprechen [...]" (Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a.M. 1983 [1976], 170). Es sei daran erinnert, daß Zarathustra den Seiltänzer der Stellvertreter des .letzten Menschen', der,zugrunde gehen will', um für den .Übermenschen' Platz zu machen -, der „den Kopf und das Seil [verlor]", und dessen Körper dann „übel zugerichtet und zerbrochen" auf dem Marktplatz liegt, mit der Verkehrung biblischer Worte tröstet: ,„[...] Deine Seele wird noch schneller todt sein als dein Leib: fürchte nun Nichts mehr!'" (ZA I, „Zarathustra's Vorrede", 6., KSA 4, 21 f.; kursiv, S. G) Der berühmte Fall des Dresdner Senatspräsidenten und Reichstagskandidaten Dr. Jur. Daniel Paul Schreber, der sowohl durch Freud als auch Lacan Beachtung fand, ist hier Deleuzes und Guattaris Gewährsmann: Sein Vater, Daniel Gottlieb Moritz-auf den die Bezeichnung der .Schrebergärten' zurückgeht-erprobte früh an den Kindern seine Methoden der Körperzüchtigung, das sog. .rationale Turnen', welches er ähnlich dem ,Turnvater' Jahn an dem dieses Programm u. a. getestet zum nationalen Ertüchtigungsprogramm erheben wollte. Sein Sohn wurde verbrachte mehrere Jahre in der psychiatrischen Klinik .Sonnenstein' und verfaßte dort seine Memoiren.

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Rezeption: Deleuze und Guattari Deleuze und Guattari widmen ein Kapitel des zweiten Teils von Kapitalismus und Schizophrenie, Tausend Plateaus, Artaud. Es ist betitelt: „28. November 1947 Wie schafft man sich einen Körper ohne Organe?"21 Sie spezifizieren darin den „oK", den ,organlosen Körper': Dieser organlose Körper, ist „keineswegs das Gegenteil der Organe [...]. Die Organe sind nicht seine Feinde", sondern: -

„Der Feind ist der Organismus. [...] Das Gottesgericht, das System des Gottesgerichts, das theologische System ist genau die Vorgehensweise Dessen, der einen Organismus schafft,

Organisation von Organen, die man deshalb Organismus nennt, weil Er den oK nicht ertragen kann, weil Er ihn verfolgt, ihn ausweidet [...]. Der Organismus ist keineswegs der Körper, der oK, sondern eine Schicht auf dem oK, das heißt ein Phänomen der Akkumulation, der Gerinnung und der Sedimentierung, die ihm Formen, Funktionen, Verbindungen dominante und hierarchisierte Organisationen und organisierte Transzendenzen aufzwingt, um daraus nützliche Arbeit zu extrahieren. [...] Das Gottesgericht reißt ihn [den oK] aus seiner Immanenz heraus und macht ihm einen Organismus, eine Signifikation, ein Subjekt."22 eine

Historische und gesellschaftliche Formationen haben den Körper genauer: den Leib mit Schichten ,versehen' bzw. ihn durch Stratifizierung ,organisiert': Es gibt männliche Körper oder weibliche, kranke oder gesunde. Es gibt die durch orthopädische nachklinische Pädagogik geformten Körper: den Körper des Turners, des Soldaten, des Arbeiters, der Mutter etc. Es gibt den Körper der Hysterikerin, des Schizophrenen, des masturbierenden Kindes. Sie alle sind in bezug auf Transzendenzen organisiert,23 nach denen sie beurteilt werden. Sie alle sind ,signifikante' Körper, d. h. sie sind in dem jeweiligen Gesellschaftskontext identifizierbar. Wenn dies nach Deleuze und Guattari mit Artaud zutrifft, dann bestehe die einzige Möglichkeit zur Herstellung' einer „wirklichen und unvergänglichen Freiheit" darin, sich seiner Organe und mit ihnen ihrer Transzendenzen Gott, Selbstbewußtsein, Seele und sogar dem ,Trieb', denn auch dieser (als Gegenstück zu ,Bewußtsein') ist noch von einem ,Cogito' her gedacht zu entledigen und ,sich einen Körper ohne Organe zu machen'.24 -

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Er berichtet darin

von Zuständen, in denen seine Organe vornehmlich die des Konsums, der Filiation und der Kommunikation durch ,Gottesstrahlen' verändert, zerstört und wiederhergestellt werden. (Vgl. Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, Berlin 1995 [1903], 86-118) Gilles Deleuze und Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin 1992 (franz. Mille plateaux, Paris 1980 [1974]), 205-227 Wie alle Aufsätze in diesem Buch ist auch dieser mit einem Datum versehen: Es weist auf den Tag der Radioaufzeichnung mit Artaud hin. Ebd. 218 (doppelte Auslassungszeichen nach „Er" jeweils im Original). ,Er' ist in diesem Falle ,Gott' bzw. eine entsprechende Transzendenz. An erster Stelle steht dabei die philosophische Transzendenz schlechthin das ,Subjekt' selbst. Warum dabei die zugehörigen Praktiken und Experimente ein derartiges Extrem erreichen können, die den Delirierenden in die Nähe des Todes bringen, erweist sich aus der Transzendent-Setzung des Todes innerhalb der paradoxerweise ,lebensfeindlichen' Kulturen: Nach einer verbreiteten Meinung ist er bekanntlich ,kein Ereignis des Lebens'. .Immanent' begriffen ist er jedoch die Weise des Lebens nicht-organisierter Körper. „Der organlose Körper ist das Modell des Todes. [...] Das Modell des Todes tritt hervor, wenn der organlose Körper die Organe zurückstößt und ablegt [...] bis zur Selbstverstümmelung, zum Selbstmord. [... ] Daher ist es absurd, von einem Todeswunsch zu sprechen, der in qualitativer Weise sich von Lebenswünschen abheben sollte. Der Tod -

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III. Nietzsches

„Lösung des moralischen Problems"

Doch zurück zu Nietzsche. Ich zitiere einige Fragmente aus der Zeit um Also sprach Zarathustra bzw. Jenseits von Gut und Böse: „Organisch moralisch ist die Lösung des moralischen Problems." (NF, Mai-Juni 1883, 9 [12], KSA 10, 348)25 „Die Erlösung von der Moral. I Organisch-moralisch" (NF, Herbst 1883, 16 [33], KSA 10, 511) „Das Moralische d. h. die Affekte als identisch mit dem Organischen der Intellekt als ,Magen der Affekte.'" (NF, Frühjahr 1884, 25 [93], KSA 11, 32)26 Eine andere Stelle aus den „Tautenburger Aufzeichnungen für Lou von Salomé" ist betitelt mit Zur Moral des ,Ich ". Darin heißt es: -

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„Das ,Ich' unterjocht und tödtet: es arbeitet wie eine organische Zelle: es raubt und ist gewaltthätig. Es will sich regeneriren Schwangerschaft. Es will seinen Gott gebären und alle Menschheit ihm zu Füßen sehen. Die befreiten Ich's kämpfen um die Herrschaft." 10, 13 f., hier 14) -

(NF, Juli-August 1882, 1 [20], KSA

Nietzsche folgert in prägnanterweise Formeln das Ungeheuerliche: Anders als vierzig Jahre später der ,andere' Psychologe, Sigmund Freud, dem Selbstbewußtsein mit einer triadischen Ökonomie ,auf den Leib rückt' und dabei innerhalb moralischer Denkfiguren verbleibt, indem er dem Subjekt (Ich) die Vermittlerrolle zwischen dem unkontrollierten Triebhaften (Es) und dem kontrollierenden Moralischen (Über-Ich) zudenkt,27 kritisiert Nietzsche bereits in ihrer Vorwegnahme all diese Denkfiguren zugleich: Das ,Ich' (das Subjekt) ist keineswegs ein neutraler Vermittler zwischen dem Moralischen (Gott) und dem Organischen (Affekte), sondern gleichsam „gewaltthätig", d. h. triebhaft egoistisch wie eine „organische Zelle". Das ,Ich' ist aus Nietzsches physiologischem Blinkwinkel keineswegs ,besser' als ein Einzeller. Dieses ,Ich' bringt selbst in einem organischen Prozeß („Schwangerschaft" oder Zellteilung) seinen ,Gott', d. h. seine Moral, hervor aus bloßen Gründen der Reproduktion. Hat es erst einmal seinen Gott geboren, so nutzt ihm dieser Gott zur Unterwerfung der moralisierbaren und ,organisierbaren' Massen.28 -

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wird nicht gewünscht, nur der Tod wünscht in seiner Eigenschaft als organloser Körper oder unbeweglicher Motor, wie auch das Leben in seiner Eigenschaft als Arbeitsorgan wünscht." (Gilles Deleuze und Félix Guattari, AntiÖdipus, 425 f.) Der (arbeitende) Organismus hingegen ist von seinem Begehren getrennt, welches er sich als Ziel (als Belohnung) gesetzt hat: „Man wünscht nicht den Tod, aber was man wünscht, ist tot, schon tot: Bilder." (Ebd.

436.)

25 Auch: Moralisch und organisch" (NF, Juli-August 1882, 1 [19], KSA 10,13). 26 Auch ,,[D]as Bewußtsein ist ein Organ, wie der Magen." (NF, Sommer-Herbst 1884, 27 [26], KSA 11, 282) 27 Vgl. Sigmund Freud, „Das Ich und das Es", in: Gesammelte Werke, hg. von Anna Freud u. a., Bd. 13, 9. Aufl., London 1987 [1940], 235-289 [1923]. 28 Darüber hinaus habe die Moral bisher im höchsten Maße auf den Körper selbst schädlich gewirkt": Die Asketentum fordernde, körperverachtende Moral „war bisher ein Mittel, die physiologische Grundlage des Menschen in ihrer Entwicklung zu stören." (NF, Frühjahr 1880, 3 [97], KSA 9, 72 f., hier 72) Aber die bloße Umkehrung des Verhältnisses wäre nach Nietzsche sogar der schlechtere Weg: „Keine Mythologie hat schädlichere Folgen gehabt, als die, welche von der Knechtschaft der Seele unter dem Körper spricht." (NF, Frühjahr 1880, 3 [152], KSA 9, 96., mit „233." numeriert) -

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Nietzsches „Physiologie der Macht"?9 die sein Schreiben im Rahmen einer ,Psychologie' seit den beiden Büchern von Menschliches, Allzumenschliches durchzieht,30 sieht moralische wie organische Vorgänge auf dem gleichen Niveau situiert und von dem gleichen Bestreben der Erlangung und Vermehrung von ,Machf motiviert. Wie Artaud will auch Nietzsche den Menschen deshalb über den „psychologischen Secirtischf ]" wandern lassen und „der Menschheit" den Anblick „seiner Messer und Zangen [...] nicht erspar[en]" (MA I [37], KSA 2, 59). Für die Zukunft prognostiziert Nietzsche entsprechend, daß das „Interesse an dem rein theoretischen Problem vom ,Ding an sich' und ,Erscheinung' auflhören]" und man diese Frage ,,[m]it voller Ruhe [...] der Physiologie und der Entwicklungsgeschichte der Organismen und Begriffe überlassen [wird]" (MA I [10], KSA 2, 30; kursiv, S. G.).31 „Organisch moralisch" heißt Nietzsches Meinung nach die Lösung des moral-philosophischen Problems. Die Methode einer ,Genealogie der Moral' beinhaltet wesentlich eine Obduktion und Operation der moralisierten Körper inklusive der sie organisierenden Wissenschafts- und Moralsysteme.32 Ein moralisches Leiden (Schuld) entspricht nach der genealogischen ,Behandlung' etwa Bauchschmerzen mit einer dazugedichteten, göttlichen Ursache bzw. Rechtfertigung. Der Gott läßt sich durch philosophische Radikalaufklärung abschaffen und die Bauchschmerzen werden ebenfalls vergehen

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...

IV.

,Herren', ,aktive Kräfte' und der ,Ausdruck' Spinozas

Deleuzes eigentliche Auseinandersetzung mit Nietzsche datiert vor der Zusammenarbeit mit Guattari. In der Monographie Nietzsche und die Philosophie von 1962 entfaltet Deleuze die Themen Nietzsches ausgehend von dessen Kritik wiederum an der Kritik Kants, im tran-

29 So die Überschrift eines Fragments im späten Nachlaß (NF, Herbst 1885-Herbst 1886,2 [76], KSA 12,96 f., hier 96). Der zugehörige Text zu dieser Überschrift findet sich ohne diesen Titel, aber mit dem Förster-Nietzsche/ Gast-Titel „Der Leib als Herrschaftsgebilde" in deren Zusammenstellung Der Wille zur Macht als Aphorismus 660. Weitere ausdrückliche Notizen und Rubrizierungen zu diesem Punkt finden sich in Entwürfen zu Jenseits von Gut und Böse. (Vgl. NF, Herbst 1885-Herbst 1886, 2 [82], KSA 10, 100 f.). 30 Nietzsche sieht sich selbst als Ausnahme in Deutschland (und gar in Europa), wo es an Psychologen mangele, die „über den Menschen" statt „über Menschen" (MA I, „Zweites Hauptstück. Zur Geschichte der moralischen Empfindungen", 35., KSA 2, 57), d. h. heißt über das Denken der Konstruktion .Mensch', statt über Ideosyn-

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kratismen, sprechen.

31 Der Abschnitt trägt den Titel Harmlosigkeit der Metaphysik in der Zukunft ".- Auch Begriffe sind Organe im Textcorpus! Entsprechend sind diese für Deleuze und Guattari .transzendent', wenn sie mit Bedeutung (per Definition oder Referenz) ausgestattet sind; und sie sind .immanent', wenn sie affizieren und dem Denken eine ,unendliche Geschwindigkeit' verleihen, d. h. es in Bewegung versetzen. (Vgl. Gilles Deleuze/Felix Guattari, Was ist Philosophie?, Frankfurt 1996, 42 [franz.: Q'est-ce la philosophie?, Paris 1991]) 32 Aber auch hier ist für Nietzsche noch nicht Halt zu machen. Auch innerhalb des eigenen Körperhaushalts sind gewisse Binnendifferenzierungen zu überwinden, durch die wir uns in phylogenetischen und individualgeschichtlichen Prozessen eine Hierarchie innerhalb des Körpers .anerzogen' haben: „Die Unterscheidung von höher und niedrigfer] in Bezug auf den Körper und die Organe ist nicht die Unterscheidung der Wissenschaft! Sondern je weniger wir etwas von der Thätigkeit eines Organs sehen, um so höher stellen wir es. Oder riechen! Oder fühlen! Der Ekel entscheidet über hoch und niedrig! Nicht der Werth! Hier ist ein Anfang der moralfischenj Unterscheidung gefunden! NB" (NF, Ende 1880, 7 [58], KSA 9, 329.) 33 Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, Hamburg 1991 (franz.: Nietzsche et la philosophie, Paris 1962). „

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szendentalen Verfahren die Vernunft ,ohne Gott' zu erklären.34 Anstatt Gott zu stürzen, erhielt dieser als regulative Idee einen viel gefährlicheren Ort: Immanent im Denken und dennoch als ethische Transzendenz füngierend war er im Amt verblieben.35 Deleuze findet in Nietzsche das Mittel zur endgültigen Kritik: die wie er sie nennt „Dramatisierungsmethode"?6 welche der metaphysischen Frage nach dem Wesen, „Was ist das Schöne/das Gute/das Wahre?", die Frage entgegenhält: „Wer will das Schöne/das Gute/das Wahre?" [Dfenn ", so Deleuze, das Wesen ist einzig und allein der Sinn und Wert des Dings"?1 Dieser/s „Wer?" ist aber weder eine Person, die etwas ,will', noch irgendein transzendentales Subjekt, sondern ,der Wille zur Macht' selbst ein jeweiliges „Kräftefeld",38 innerhalb dessen sich Formationen der Macht39 auf die Körper in diesen Feldern auswirken und ihnen sowohl den Eindruck der Autonomie oder des In-Besitz-Seins einer Seele als auch das Gefühl der Ohnmacht und der Unterordnung des Körpers geben können. Die Emanzipation aus den Konstellationen der Herrschaft ist jedoch möglich. Die Hauptbedingung ist und dies klingt zunächst ungewöhnlich -, daß die Einsicht in die faktischen Strukturen der Macht gerade nicht zu Bewußtsein kommen dürfen: Die Position des nietzscheanischen ,Herren' und seiner Emanzipation von der Moral gegenüber der moralisierten Existenz des ,Sklaven', der sich in Strukturen der Macht einfügt, ist äußerst instabil. -



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Gegen Hegel Dieser Gedanke läßt sich mit Deleuze durch Nietzsches Bestreben, .nicht dialektisch zu denken', erklären: In Hegels Konzeption des Herr-Knecht-Verhältnisses nach dialektischem -

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Vgl. z. B. die nachträgliche „Vorrede" zu Morgenröthe vom Januar 1886 (M, „Vorrede" 3., KSA 3, 12-15, hier 13) und in der „Vorrede" von Zur Genealogie der Moral (GM, „Vorrede", 6., KSA 5, 253) bzw. im Text (GM, „Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale?", 25., KSA 5, 405). Auf die politische Theorie übertragen formuliert Foucault entsprechend: „Im Grunde ist die Repräsentation der Macht über die unterschiedlichen Epochen und Zielsetzungen hinweg doch im Bann der Monarchie verblieben. Im politischen Denken und in der politischen Analyse ist der Kopf des Königs noch immer nicht gerollt." (Michel ,

Foucault, Der Wille zum Wissen, 110.) 36 Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, 86. 37 Ebd., 85. 38 Ebd., 45. 39 Lange vor Foucaults von Nietzsche her entwickelten ,Propädeutik' einer genealogischen Geschichts- und Sozialwissenschaft von 1971 („Nietzsche, die Genealogie, die Historie", in: Michel Foucault, Von der Subversion des Wissens, hg. von Walter Seitter, Frankfurt a.M. 1987, 69-90) die als Methode einer machttheoretischen Untersuchung 1975 in Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt 1994, Anwendung findet in der er die Segmentierung und Disziplinierung des Körpers in der anbrechenden Moderne diagnostiziert (vgl. va. „Die Zusammensetzung der Kräfte", ebd. 209-219), hebt Deleuze neun Jahre zuvor den prä-individuellen Charakter der Macht bzw. des Machtfeldes heraus. (Vgl. dazu Michael Hardt, Gilles Deleuze. An Apprenticeship Innerhalb der postanalytischen Philosophie schließt sich Richard in Philosophy, Minneapolis 1993, 31) Shusterman in Vor der Interpretation. Sprache und Erfahrung in Hermeneutik, Dekonstruktion und Pragmatismus, Wien 1996, wenn auch mit Vorbehalten Nietzsche gilt ihm als „teutonischer Protodekonstruktivist" (ebd., 46) der Deutung des „logischen Kern[s] seiner zentralen Lehre des Willens zur Macht" (ebd.) als „Somästhetik" (ebd., 132) als einer körperlich-ästhetischen Weltauffassung an. Shusterman beruft sich dabei v. a. auf eben die Stellen von ihm zitiert nach Der Wille zur Macht (!) -, die die Welt physikalistisch als „Spannungsverhältnis" zwischen ,,dynamische[n] Quanta" (NF, Frühjahr 1888, 14 [79], KSA 13, 257-259, hier 259 [WzM, Aph. 635]) auslegen. Vgl. auch NF, Frühjahr 1888, 14 [153], KSA 13, 336-338 (WzM, Aph. 584). -

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der Personifizierung der Dialektik'40 wird die der Position des anderen vorausgesetzt, damit der gegenseitige Anerkennung jeweiligen für Nietzsche bloßer Wille welcher Macht' ist sich ich lese bereits kritisch zur ,Geist' degenerieren' kann.41 In der ersten Abhandlung von Nietzsches 20-Tage-Werk Zur Genealogie der Moral, in der sich Nietzsche über die Herkunft der Unterscheidung von „Gut und Böse" bzw. „Gut und Schlecht" äußert,42 wird der deduktiv-logische Schluß im Denken des ,Sklaven', der auf eine kurze Formel gebracht lautet: „Du [der Herr; S.G.] bist böse, also bin ich gut"; dem Syllogismus des ,Herren' gegenübergestellt: „Ich bin gut, also bist du [der Sklave; S.G.] böse. "n Der Sklavensyllogismus' ist keine wirkliche Affirmation, da der Vordersatz vom anderen, dem ,Herren', und nicht von sich ausgeht. Somit wird der Schlußsatz in Abhängigkeit vom ,Herren' verbleiben, der selber hingegen in seinem Schluß von sich ausgeht. Der Trugschluß des ,Sklaven' stützt sich auf eine Fiktion, Kräfte (im Sinne von Ordnungsfeldern) in zwei Teile separieren zu können: in einen jeweiligen Akt der Kraft oder Macht und in deren Manifestation. Der ,Herr' hingegen weiß um die Funktion von Kräften und wird deshalb die Kontingenz jeglicher Ordnung und deren Neuschaffung bejahen. Die ,aktiven Kräfte' des ,Herren' stehen gegen die ,reaktiven' des ,Sklaven'. Nach der differentiellen Logik dieses nicht-dialektischen settings aber darf derjenige, dem diese ,aktiven Kräfte' zugeschrieben sind, ausdrücklich nichts von den reaktiven Kräften wissen, da er sonst in den Zustand der Absetzung von etwas' verfällt. Sein immanenter Status würde in einen transzendenten bzw. einen dialektisch bestimmten .umkippen'. Das Denken des ,Sklaven' ist also so kann man festhalten konstitutiv gekennzeichnet durch eine ,Dualität des Denkens', da der Inhalt (Manifestation) von seiner Materie (Akt) geschieden ist. Dementgegen denkt und lebt der ,Herr' die Untrennbarkeit des Aktes vom Inhalt als Ausdruck univok. Muster in Die Phänomenologie des Geistes

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Angemerkt sei, daß die Rezeption von Hegels Phänomenologie in Frankreich in diesem Jahrhundert besonders durch die Vorlesungen Alexandre Kojèves geprägt war, der Hegel stark ,anthropologisierend' las. (Vgl. Alexandre Kojève, Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes. Mit einem Anhang: Hegel, Marx unddas Christentum, Frankfurt a.M.1975 [1947]. „Sie anerkennen sich als gegenseitig sich anerkennend." (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, „Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins; Herrschaft und Knechtschaft", in: Die Phänomenologie des Geistes, Bd. 3 der Werke in zwanzig Bänden, 4. Aufl., Frankfurt 1993, 145-155, hier 147.) Die beiden „entgegengesetzten Gestalten des Bewußtseins" sind zum einen „das selbständige, welchem das Fürsichsein", und zum anderen „das unselbständige, dem das Leben oder das Sein für ein Anderes das Wesen ist; jenes ist der Herr, dies der Knecht. [...] Der Herr bezieht sich aw/den Knecht mittelbar durch das selbständige Sein; [...]. [...] Die Wahrheit des selbständigen Bewußtseins ist demnach das knechtische Bewußtsein." (Ebd. 150-152.) Gerade aber hier nähern sich Hegel und Nietzsche einander teilweise bis zur Ununterscheidbarkeit an. (Vgl. hierzu auch Michael Hardt, Gilles Deleuze, 37 f.) GM, „Erste Abhandlung: ,Gut und Böse', ,Gut und Schlecht'", KSA 5, 257-289, hier bes. 10.-17., 270-289. „Während alle vornehme Moral aus einem triumphirenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die SklavenMoral von vomeherein Nein [...] zu einem .Anders' [...] und dies Nein ist ihre schöpferische [moralschöpfende; S. G] That. Diese Umkehrung des werthesetzenden Blicks diese nothwendige Richtung nach Aussen statt zurück auf sich selber gehört eben zum Ressentiment: die Sklavenmoral bedarf, um zu entstehen, physiologisch -

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gesprochen, äusserer Reize, um überhaupt zu agiren, Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, 130. —

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ihre Aktion ist von Grund aus Reaktion." (Ebd., 10., 270

f.)

Vernünftige Körper? Körper ohne Organe!

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Mit

Spinoza

In Deleuzes für die französische Spinoza-Rezeption revolutionärer Interpretation des Denkens Spinozas, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie,44 rekonstruiert Deleuze Spinozas Philosophie über eine soma-semiologische Annäherung an dessen ,Theorie des Ausdrucks', die Deleuze untrennbar gekoppelt mit einer ,Politik der Körper' versteht. Spinoza steht quer zum repräsentationalistischen Denken der Epoche Descartes: Spinoza denkt den Vorgang der Kommunikation in jeglichem Medium an den Körper gebunden, und nicht den Körper als ein vom Sinn subtrahierbares Material der Kommunikation also nicht die Sprache vs den Körper. Der Körper ist ihm vor der Unterscheidung in Signifikanz und Signifikation ,Ort des Ausdrucks' der Ort, an dem sich Kommunikation ,ereignet'.45 Dabei wohnt jedem Körper, so Spinoza, ein conatus ein Streben' inne, wodurch es ihm möglich ist, auf „mehrere Weise affiziert [zu] werden".46 Im Zusammentreffen der Körper bilden sich jeweils ,gute' oder ,schlechte' wohlgemerkt nicht ,gute oder ,böse' Ideen, die auf,freudige' oder ,traurige' Affekte zurückzuführen sind, welche wiederum daraus hervorgingen, wie die (kontingente) Körperbegegnung eben die Körper ,affizierte'. Ist der Affekt,freudig' und die entsprechende Idee ,gut', dann folgt nach der Annahme dieses conatus -, daß ein Maximum an körperlicher (Handlungs-)Kraft zum Einsatz kommt bzw. im Falle des ,traurigen' Affekts ein ,Minimum'. Die Ideen sind am Körper qua Affekt ausgedruckt'. D. h., daß im Kontrast zur späteren Konzeption des ,Gemeinsinns' (sensus communis) durch Kant, demzufolge ethisch-moralisch-politische Entscheidungen im transzendentalen Horizont einer nie präsenten Gemeinschaft vernünftiger Wesen' deduziert sein sollen, Spinozas Vorstellung des ,Gemeinbegriffs' (notio communis) so gedacht ist, daß die ,ethischen' Handlungen bereits im Vollzug im Mitleiden mit dem/der/den Anderen (Menschen, Dingen, Natur) ,passieren' (sich ,ereignen') und sich dabei ,neue Körper' bilden, die aus zwei Personen, einem Text und dem Leser oder aus Körperteilen und ihrer Umgebung bestehen können.47 Spinozas sympathischer' Pantheismus wird in dem Moment zum -

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Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, München 1993 (franz. : Spinoza et l'expression, Paris 1968). Für das folgende zentral ist darin das 14. Kapitel „Was kann ein Körper?" (ebd. 191-205). 45 „Der eigentliche Ausgangspunkt Spinozas ist [...] dieses dritte Element, der Akt des Ausdrückens oder SichAusdrückens, der die gesamte Wirklichkeit konstituiert und sie denkbar macht. [... ] Dieser Ausdruck in actu ist das genaue Gegenteil einer Repräsentation: Spinoza hat die repräsentative Konzeption der Idee, die für das Cartesische Denken zentral ist, widerlegt. Indem er die Triade des Ausdrucks [Ausdrückendes, Ausgedrücktes und der Ausdruck selbst; S. G] an die Stelle dessen setzt, was Foucault in Die Ordnung der Dinge die .Verdopplung der Repräsentation' genannt hat [...]. [...] In Foucaults Darstellung der klassischen episteme [...] gab es für Spinoza keinen Platz."( Pierre Macherey, „In Spinoza denken", in: Friedrich Balk und Joseph Vogl (Hg), Gilles Deleuze. Fluchtlinien der Philosophie, München 1996 [1992], 55-60, hier 59 f.) 46 Baruch de Spinoza, Ethik, IV, 38. Vgl. zur Einbettung der Bestimmung des .conatus' in die Diskussion zwischen Spinoza, Leibniz und den Occasionalisten Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, 202 f. 47 „Ein Körper kann alles mögliche sein, es kann ein Tier sein, ein Klangkörper, es kann eine Seele oder eine Idee sein, es kann ein Textcorpus sein, ein sozialer Körper, ein Kollektiv sein." Gilles Deleuze, „Spinoza und wir", in: Spinoza. Praktische Philosophie, Berlin 1988, 159-169 [franz. in Revue de synthèse, Januar 1978], hier 165. 44 Gilles

la problème de

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Bei Deleuze und Guattari schließt sich hier das Thema des ,Tier-Werdens' an: Über Affektionen eröffnen sich Möglichkeiten zur ,Deterritorialisierung' bzw. Demontage oder Dezentralisierung majorisierender und standardisierter Lebensformen allen voran die des hellhäutigen und verstandesorientierten Mannes des Abendlandes

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Stephan Günzel

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Atheismus, in dem er sich konzeptionell religiösen Transzendenzen á la Kant verweigert.48 Mit anderen Worten: Spinoza hält der .Pflicht' die ,Liebe' bzw. das ,Begehren' entgegen.49

Hier verweist uns die Auseinandersetzung mit der spinozistischen Ethik auf Nietzsches Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik zurück:50 Der tragische (Text-)Körper ist der Ausdruck, die dionysische mimesis gegenüber der apollinischen Dialektik. Der TragödienChor und die Zuschauer, ja das ganze vorsokratische Griechenland wie uns Nietzsche beibringen will sind Körper in Begegnung, vor ihrer hellenistisch-christlichen Individuation und ihrer dualistischen Teilung, in Besitz ihrer vollen aktiven Kräfte, die sie zu einer Gemeinschaft der ,Herren' machen. Es handelt sich um ethisch-tragische Handlungen vor ihrer Moralisierung oder um eine Gesellschaft der pathischen Körper, die ich zitiere Deleuzes einzigen expliziten Nietzsche-Verweis in dem Spinoza-Buch ,,[w]ie Nietzsche sagen wird, ,Jenseits von Gut und Böse...' dies heißt zum Mindesten nicht ,Jenseits von Gut und -

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Schlecht'",''' sind.52

hin zu einem,Minder-Werden'. (Vgl. dazu Gilles Deleuze/Felix Guattari, „1730 Intensiv-Werden, Tier-Werden, Unwahrnehmbar-Werden ...", in: Tausend Plateaus, 317-422.) Vielleicht liegt hier eine Erklärung für das Erscheinen der Tiere als Gefährten in Also sprach Zarathustra, das schon Heidegger beschäftigt hatte: „Die Tierheit ist der leibende, d. h. der aus sich drangvolle und alles überdrängende ,Leib'. [...] Sofern [...] bestimmt die Tierheit erst den Menschen zu einem wahrhaft Seienden. Die Vernunft ist nur eine lebendige als die leibende Vernunft" (Martin Heidegger, Nietzsches Metaphysik, in: Gesamtausgabe, II. Abteilung: Vorlesungen 1919-1944, Bd. 50, hg. von Petra Jaeger, Frankfurt a.M. 1990, 1-87, Kap. 4, „Der Übermensch", 40-61, hier 42 f. [NII, 291314, hier 294]; kursiv, S.G.) Die traditionelle Bestimmung des Menschen als animal rationale soll hier durch eine .animalische Ratio' unterwandert werden. (Zu der .mehr' als,bloß metaphorischen' Bedeutung der dabei vgl. auch Martin Heidegger, „Wer ist Nietzsches Zarathustra?", in: Vorträge und Aufsätze, 7. Aufl., Stuttgart 1994 [1954], 97-122, hier 120f.) 48 „So gibt es bei Spinoza auch keine Metaphysik der Wesen, keine Dynamik der Kräfte [...]. Alles in der Natur ist ,Physik': [...] Physik der Kräfte [...]." (Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der —

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Philosophie, 205).

49 In der Niederschrift von Nietzsches Basler Vorlesung „Die vorplatonischen Philosophen", im Abschnitt über Empedokles, bei dem wie bei den anderen Vorsokratikern zwischen „Denken und Charakter" eine „strenge Nothwendigkeit [herrscht]" (PHG, 1., KSA 1, 807), ist .Sympathie' auch synonym der .Liebe' (vgl. ebd., 832) .zwischen Körpern' verwandt: „Die Kräfte, die die Atome an einander drücken und der Masse die Festigkeit geben, nennt Empedokles ,Liebe'. Es ist eine Molekularkraft, eine constitutive Kraft der Körper." (NF, Winter 1872-73, 23 [32], KSA 7, 552 f., hier 553; kursiv, S.G.) 50 Zur wichtigen Differenz zwischen der,Moral' als einer,Praktik' und der,Ethik' als einer .praktischen Philosophie' vgl. Deleuzes .Kurzfassung' seiner Spinoza-Thesen in Spinoza. Praktische Philosophie, Berlin 1988, 1157 (franz. : Spinoza. Philosophie pratique, Paris 1981 ), bes. „Über den Unterschied zwischen der Ethik und einer Moral", 27-41. 51 Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, 22\. Schlußzitat (mit anderer Hervh ) der „Ersten Abhandlung" in Zur Genealogie der Moral, die Nietzsches vorangegangenem Buch als „Losung [...] auf den Leib geschrieben ist: Jenseits von Gut und Böse '... Dies heisst zum Mindesten nicht .Jenseits von Gut und Schlecht." (GM„ 1. Abh., 17., KSA 5, 288) 52 Zur Verbindung zwischen Nietzsches ,Kritik' und dem ,Organlosen Körper' bei Deleuze und Guattari vgl. auch Dorothea Olkowski, „Nietzsche's Dice Throw: Tragedy, Nihilism, and the Body without Organs", in: Gilles Deleuze and the Theatre of Philosophy, hg. von Constantin V. Boundas und Dorothea Olkowski, New York/London 1994, 119-140. -

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Vernünftige Körper? Körper ohne Organe! -

V. Schluß: Von einer ,Geologie der Moral' Geographie der Körper'

zur

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Deleuze und Guattari legen diesen Gedanken Nietzsches, der zu denkenden Wiederkehr der griechischen Gemeinschaft und damit will ich schließen -, ihrem letzten gemeinsamen Werk, Was ist Philosophie?, zugrunde: Die Aufgabe der Philosophie so das Buch besteht neben der „Herstellung von Begriffen"53 darin, „ein Plateau, [...] eine Konsistenzebene oder, genauer, die Immanenzebene der Begriffe, das Planomenon"54 zu denken. Die ,Ebene der Immanenz' sei die Errungenschaft der antiken Griechen bzw. ihrer Philosophen gewesen.55 Im Unterschied zu den an Transzendenzen orientierten also religiösen oder quasireligiösen Denkschemata des Orients beginnt in der polis aus den Kolonien importiert ein Denken in Begriffen und ihrer immanenten Verknüpfungen, dem ,Begriffsgefüge'. Untrennbar mit der politisch-geographischen Topographie Griechenlands verbunden plateauartig, begrenzt vom Meer, worin der Stadtstaat fragmentarisch eingelassen ist, Hügeln und anderen Territorien entstand ein Markt für den Austausch von Waren und Meinungen. Dort ist das Denken wohlgemerkt: das ,vorplatonische' ein Denken ohne Transzendenzen bzw. Universalien. Die griechischen Philosophen allen voran Anaximander56 ersetzten das Denken durch eine ,Geographie', die nicht nach begrifflichen Repräsentationen, sondern nach der Beziehung des Denkens zum Territorium als einem ,Bild des Denkens' fragt. Mit den Grenzen einer Staatsmacht wird gleichfalls im Inneren eine Landkarte des Denkens' konstituiert, entsprechend dem Grad der Totalisierung und der Beschneidung der Freiheit. Die Frage nach Normen und Bräuchen wird zu einer Frage nach der ,mentalen Kartographie' der Staaten. Die Philosophie ist will sie ,kritisch' sein -, stärker noch als sie Genealogie sein muß, eine .Geologie der Moral'?1 Sie fragt nach den Schichtungen, Verwerfungen und Topographien der jeweiligen Praktiken. -

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53 Gilles Deleuze und Felix Guattari, Was ist Philosophie?, 6. Wobei sie sich auch hierbei sogleich aufNietzsche beziehen können: „NB. Was am letzten den Philosophen aufdämmert: sie müssen die Begriffe nicht mehr sich nur schenken lassen, nicht nur sie reinigen und aufhellen, sondern sie allererst machen, schaffen, hinstellen und zu ihnen überreden." (NF, April-Juni 1885, 34 [195], KSA 11, 486 f.) 54 Gilles Deleuze und Felix Guattari, Was ist Philosophie?, 42. 55 Neben Nietzsche orientieren sie sich in dieser These v. a. an Jean-Pierre Vernants Abhandlung Die Entstehung des griechischen Denkens, Frankfurt a.M 1982, [1962] (vgl. bes. ebd., „Das geistige Universum der Polis", 44-65, und „Kosmogonie und Herrschaft", 103-120). Bereits in Anti-Ödipus wird die Diskussion über den Anfang der Philosophie in Griechenland eröffnet. (Vgl Gilles Deleuze und Félix Guattari, Anti-Ödipus, 281-283.)-Zu einer großartigen Weiterführung des nietzscheanischen Gedankens über das vor-dialektische Griechenland vgl. Massimo Cacciari, Gewalt und Harmonie. Geo-Philosophie Europas, München/Wien 1995 [1994]. 56 „Anaximander ist es, der die Unterscheidung der beiden Seiten [physis und nous; S. G] zur größten Schärfe vorantreibt, indem er die Bewegung der Qualitäten mit der Macht eines absoluten Horizontes kombiniert, dem Apeiron oder dem Unbegrenzten, stets aber auf derselben Ebene. [...] Er ersetzt die Genealogie durch eine Geologie." (Gilles Deleuze und Felix Guattari, Was ist Philosophie?, 53.) Vgl. dazu Nietzsches Ausführungen in PHG, 4., KSA 1,817-822, die v. a. das Verhältnis zum Werden und so zum Tragischen wieder aufnehmen, und Martin Heideggers geophilosophische Interpretation in „Der Spruch des Anaximander ( 1946)", in: Holzwege, 1. Aufl., Frankfurt a.M. 1994 [1950], 321-373: „Das je-weilige Anwesende, táeónta, west in der Grenze (peras)" (Ebd. 368.) Das Denken des ,An-wesens' entspricht dem Denken eines ,,Bezirk[s] der offenen Gegend (ebd., -

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370).

57 So der gleichnamige Titel des entsprechenden Kapitels aus Tausend Plateaus, „10.000 v. Chr. -Geologie der Moral (Für wen hält sich die Erde?)", Gilles Deleuze und Félix Guattari, Tausend Plateaus, 59-103.

Die Philosophie soll nachdem sie die Machtgefuge bestehender Ordnungen verzeichnet hat den freien Körper, den Körper ohne Organe, denken, auf dem sich das Denken ungehindert von staatlichen Hierarchisierungen (bzw. Hierarchisierungen jeglicher Art) entfalten kann: -

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„Quer zu allen Codes der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geht es ihm [Nietzsche; S.G] darum, etwas passieren zu lassen, das sich nicht codieren läßt und sich nicht codieren lassen wird. Es passieren lassen auf einem neuen Körper, einen neuen Körper erfinden, auf dem das passieren und fließen kann, einen Körper, der vielleicht der unsere ist oder

derjenige der Erde oder der Schrift..."58

Nietzscheanisch-spinozistisch-deleuzianische Körper sind dementsprechend Körper ohne Organe oder eine Erde ohne territoriale festgeschriebene Begrenzungen oder Gemeinschaften ohne Führer oder Texte ohne Bücher.59 Das Thema dieser Werkstatt fragte nicht nur nach dem ,Körper', sondern auch nach der .Vernunft'. Ich habe bisher nichts zu „Vernunft' gesagt und werde es auch nicht selbst, sondern lasse Deleuze und Nietzsche noch einmal zu Wort kommen: -

„Die Immanenz, das Immanenzfeld, besteht innerhalb eines Verhältnisses von Vermögen zur Macht (la puissance) und Akt. Die beiden Begriffe existieren nur in Korrelation, un-

trennbar. [...] Wie nun zum Akt übergehen, und worin liegt der Akt dieser Macht? Der Akt ist die Vernunft. [...] Die Vernunft als Prozeß ist politisch."60 Dem anschließend versteht sich eine praktisch-politische Philosophie nach Deleuze als ,Ethologie der Körper' : Im Gegensatz zu einer herkömmlichen, einer materialen, einer altruistischen, einer Verantwortungs-, Gesinnungs- oder Pflicht-Ethik, welche allesamt wissent-

58 Aus dem

Beitrag Deleuzes vom Juli 1972 auf dem wichtigen Nietzsche-Kolloquium Nietzsche aujourd'hui? in Cerisy-la-Salle mit dem Titel „Nomaden-Denken", in: Deleuze, Nietzsche. Ein Lesebuch, Berlin 1979 [1965], 105121 [1973], hier 107, der sich der Frage widmet, „wer ist heute der junge nitzscheanische Mensch?" (Ebd., 105.) Als ,Nomadismus' des staatenlosen Nietzsches gilt Deleuze nicht nur dessen Wander-Dasein, sondern u. a. auch die delirierende und intensive Identifikation mit Eigennamen der Geschichte bzw. ganzen Völkern oder Rassen, die ihn so zwischen Christ und Antichrist, Antisemit und Wagnerfeind, Nationalisten und ,Nomaden im Geist' schizophren ,oszillieren' lassen. (Vgl. ebd., 115 f. und 120 f.) 59 Speziell diesen letzten Punkt untersucht Stefan Hesper in Blick auf die von Deleuze und Guattari behandelten Autoren Nietzsche, Proust und Kafka in Schreiben ohne Text. Die prozessuale Ästhetik von Gilles Deleuze und Felix Guattari, Opladen 1994. -Zur Buchkritik mit Nietzsche vgl. hier bes. 104-121. „Nietzsche schreibt [...] anorganisch" (ebd. 105; kursiv, S. G). Der,organlose Körper' oder das .Plateau' entsprechen im Schreiben dem Aphorismus, durch welchen Nietzsche das Denken in philosophischen Systemen überbordet und jeweils andere Probleme aufjeweils anderen ,Immanenzebenen' behandelt. Deleuze erarbeitet in Die Logik des Sinns, Frankfurt a.M. 1993 (franz.: Logique du sens, Paris 1969), eine weitere anders akzentuierte Nietzsche-Interpretation, die ihn innerhalb einer,Geographie des Denkens' als Vertreter der .Philosophie der Oberfläche' kennzeichnet, da er, Nietzsche, sich sowohl den dialektischen Aufstieg, wie auch das Denken in die Tiefe verweigert. (Vgl. ebd v. a. die 2. und 18. „Serie der Paradoxa" wie die Kapitel in diesem Buch heißen -, 19-28 und 162-169.) Wie er waren die vorplatonischen Griechen „oberflächlich aus Tieje\" (FW, „Vorrede zur zweiten Ausgabe", 4 KSA 3, 351 f., hier 352.) Man bedenke, daß er in diesem Gestus und mit exakt derselben Schlußpassage zwei Jahre später, 1888, seinen Bruch mit dem ,christoiden' Wagner endgültig festschreibt. (Vgl.NW, „Epilog", 2 KSA 6, -

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437-439, hier 439.) 60 Gilles Deleuze, Perikles und Verdi. Die Philosophie des Francois Chatelet, Wien 1989 [1988], 6 f.

Vernünftige Körper? Körper ohne Organe!

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Präsupposition des ethos (gr. Gewo/zwheit) als Phänomen seßhafter Kulmren übernehmen, bestätigt eine ,Ethologie' nicht schon bestehende Gefüge, sondern registriert die Bewegungen der Körper, ihr Vermögen, affiziert zu werden d. h. ihren Grad Kurz: sie erstellt eine .Kartographie der Körper' und verzeichnet, ,zu an ,Vernünftigkeit'. was ein Körper fähig ist'.61 Denn, so Nietzsche, „nur der Grad der Vernunft in der Kraft [ist] lieh oder nicht

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entscheidend" (M, 5. Buch, 548., KSA 3, 318 f., hier 318). Der Leib ist eine große Vernunft aber der Körper ist noch nicht genügend zerstört worden! '

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dazu die präzise Darstellung von Moira Gatens, „Ethologische Körper: Geschlecht als Macht und Affekt", in: The Body of Gender. Körper. Geschlechter. Identitäten, hg. von Marie-Luise Angerer, Wien 1995, 35-52 (Anm, 212-214), bes. 37-43. ,,[D]ie Kartographie [beschreibt] ein Individuum auf der Grundlage seiner materiellen Beschaffenheit und seines Potentials, etwas zu affizieren und affiziert zu werden [...] und nicht auf der Grundlage seiner Gattungsform und Funktion." (Ebd. 40.) Anders gesagt, sollen in derartigen Betrachtungen und Beurteilungen nicht Fragen der anthropologischen Klassifizierung gestellt werden, sondern bspw. Fragen nach der .sozialen Gesundheit' (inklusive der Fähigkeit sozialer Mobilität und Bindungsfähigkeit) als dem Wohlbefinden unter Freunden oder dem Aktionsvermögen im öffentlichen Raum bzw. in der .Fremde'.

Vgl.

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Cathrin Nielsen

Der Meduse ins Antlitz schauen ohne zu erstarren Zu Nietzsches

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,Physiologie der Kunst' „La réalité ne peut être franchie que soulevée". (René Char)

I. Der Kulturphilosoph Arnold Gehlen schreibt in seinen Untersuchungen,1 es sei Zeit für einen Gegen-Rousseau, denn es scheine, daß der Mensch im Naturzustand das Chaos sei, das Medusenhaupt, bei dessen Anblick man erstarrt. In diesem Jahrhundert hat das Medusenhaupt des Menschen mit seinem Antlitz wahrlich nicht gegeizt, und man wird Gehlen Recht darin geben müssen, daß Nietzsches Rede vom Menschen als dem nicht festgestellten Tier ein primär drohendes Wort ist. Denn es meint nicht nur dasjenige Tier, über das es keine endgültigen Feststellungen gibt, sondern es meint auch, wie Gehlen schreibt, das zur Chaotik, zur Ausartung bereite Tier. Zweifelsohne waren Ausartung wie totalitäre Organisation gleichermaßen fürchterlich auch ein Übermaß an Organisation tendiert zur Raserei. Es sieht demnach so aus, als sei der gegenwärtige Versuch, die menschliche Triebchaotik in Konsum und mediale Zerstreuung aufzulösen, in Hinsicht auf die Folgelasten am gangbarsten, zumindest auf Zeit. Perseus bezwang die Gorgone Medusa mittels eines Spiegels, um sich vor ihrem versteinernden Anblick zu schützen. Der special effect der medialen Welt beruht, wie Adolf -

Muschg einmal sagte, darauf, „den Zuschauer im Spiegel verschwinden zu lassen; je stärker die technische Auflösung seiner Bilder, desto virtueller wird er selbst".2 Auch das ist ein drohendes Wort. Es gibt unter anderem zu verstehen, daß die gegenwärtige Handhabe des Abgrundes Mensch offenbar versucht, das Chaos mit dem Chaos zu neutralisieren. Die Entwirklichung des Abgrundes findet durch einen eigentümlichen Mechanismus statt: er wird in die Virtualität aufgehoben, erscheint also als nicht wirklich, selbst wo er wirklich ist. Anders ausgedrückt: die Antwort auf das Medusenhaupt Mensch ist derzeit die Meduse selbst, aber negiert und zugleich zur schillernden Sanftheit einer gestreuten Chaotik potenziert.

1 2

Arnold Gehlen, Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen, Reinbek 1986, 59. Adolf Muschg, „Ungeheuer Mensch", in: DIE ZEIT 43, 21. Oktober 1994, 66.

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Cathrin Nielsen

II. Die Verschleierung des schrecklichen Grundtextes homo natura nennt Nietzsche den Nihilismus. Dieser hat eine Geschichte und einen Kulminationspunkt, nach Nietzsche die Moderne selbst, in der eine spezifische Zweideutigkeit des Nihilismus zutage tritt, die etwas mit dem Selbstverständnis des Menschen und seinem Grundtext zu tun hat. Nihilismus ist kurz:

„Die ganze Attitüde ,Mensch gegen Welt', der Mensch als ,Welt-verneinendes' Princip, der Mensch als Werthmaass der Dinge, als Welten-Richter, der zuletzt das Dasein selbst auf seine Wagschalen legt und zu leicht befindet [...]." (FW, KSA 3, 580). -

Seit Piatons Ideen, so Nietzsches These, zeichnet sich die abendländische Metaphysik als Ausdruck des menschlichen Selbstverständnisses durch den Versuch aus, den chaotischen Grundtext durch die Vernunft in eine Wiedererkennbarkeit zu zwingen. Der reflexive Ausgangspunkt ist für die Vernunft dabei der Satz vom Grund, also die Vorstellung, daß jenseits dieses Textes Strukturen der Ruhe und Ständigkeit existieren, über die sich der Mensch rückversichern kann. Durch diese Rückversicherung in eine Art sekundäre Reziprozität glaubt sich der Mensch als animal rationale geborgen. Die Metaphysik der Neuzeit treibt diese Logik noch einen Schritt weiter, indem sie die Strukturen der Ständigkeit direkt in das Cogito, den zur rationalen Selbstgewißheit abstrahierten Menschen, legt. Die verworrenen Daten der konkreten Wirklichkeit sind nun nicht mehr durch ein substanzielles An-sich, das der Vernunft zugänglich ist, gesichert, sondern allererst durch das Cogito wirklich. In diesem wird die Selbstvergewisserung per Negation vollzogen: ich bin meiner selbst nicht gewiß, weil ich die konkrete Faktizität meines Daseins in Welt und Geschichte erfahre, sondern indem ich abgesehen von ihr primär rational verfaßt bin. Die Vernunft zieht sich auf sich selbst zurück. Die Welt wird zur Vorstellung, zum rational gesetzten Bild. Dieses Bild ist dabei kein „Kondensat des Konkreten";3 das Konkrete wird vielmehr eine dem Wollen des setzenden Subjekts anheimgegebene indifferente Masse, die nur durch die moralische Perspektive, das Sollen, Wirklichkeit gewinnt. Der Mensch als weltverneinendes Prinzip legt zuletzt das Dasein selbst auf seine Waagschalen und befindet es zu leicht. Er sieht sich nach dem vermeintlichen Abzug des Grundtextes zugunsten seiner Überhöhung mit der Dynamik der Zurücknahme selbst konfrontiert. Ein Sollen, das jede Fuge zum Eingreifen negiert, erzwingt von sich aus den Hohlraum des Konjunktivs, dessen theoretische wie praktische Konsequenz eine Abbreviatur der Vernichtung darstellt. Niemand hat das klarer gesehen als Nietzsche selbst, der diese Konsequenz theoretisch zweifellos auf die Spitze getrieben hat.

3

„Physiologie der Kunst eine Grundlegung der Vernunft des Leibes", in: Nietzsche-Studien 13, 1984,394-398,396.

Stefan Grätzel,

-

Der Meduse ins Antlitz schauen

125

III. Gegen den Grundtext homo natura gerechtfertigt sein zu wollen ist nach Nietzsche die Wurzel aller sekundären Ziel- und Zwecksetzungen. Ihr impliziter Nihilismus gründet in der Annahme eines jenseitigen Zuhauses, von dessen Kategorien her das essentiell unmoralische Leben nicht nur

nicht

gerechtfertigt,

sondern auf Dauer unwirklich erscheint. Die

aus

Unlust

am

„Inconstanten, Täuschenden, Wechselnden usw" (NF, KSA 11, 203) gesetzten Weltkonstruktionen sind, wie Nietzsche schreibt, Anthropomorphismen (NF, KSA 7, 459), die an sich

selbst undurchschaut bleiben. Seine Phänomenologie dieser Ziel- und Zwecksetzungen hinsichtlich ihrer Durchlässigkeit für ihre eigenen Voraussetzungen führt ihn zu einer „verborgenen Geschichte der Philosophie" (NF, KSA 13, 492) „sofern es nämlich erlaubt ist, in dem, was bisher geschrieben wurde, ein Symptom von dem, was bisher verschwiegen wurde, zu erkennen", wie Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse schreibt (JGB, KSA 5, 38). Das Verborgene tritt zutage durch eine Diagnostik der Thesen über die Welt hinsichtlich ihrer Verschwiegenheiten. Die Verschwiegenheiten sind Logiken des Ausschlusses, primär in bezug auf ihren eigenen thetischen Charakter. „Wir erst haben die Welt, die den Menschen etwas angeht, geschaffen! Gerade dieses Wissen aber fehlt uns [...]" (FW, KSA 3, 540). Nietzsches kritische Aufmerksamkeit für den thetischen und ideologischen Charakter dessen, was wir Geist, Bewußtsein, Gesetz nennen, scheint zunächst in einem unendlichen Progreß der Negation zu enden. Wenn die einst verbindliche, weil in der Idee, in Gott, im reinen Bewußtsein gelotete Welt im Grunde eine Illusion, eine perspektivische Schätzung ist, ja wenn auch das schätzende Subjekt selbst wiederum als Fiktion negiert werden muß, dann scheint nur ein Weg offen zu bleiben, nämlich der, „lieber noch sich auf ein sicheres Nichts als auf ein Ungewisses Etwas sterben [zu] legen" (JGB, KSA 5, 23), wie Nietzsche schreibt. Aber dies sei, wie er unmittelbar fortfahrt, Nihilismus, „Anzeichen einer verzweifelnden sterbensmüden Seele" (JGB, KSA 5, 23). Worauf es hier ankommt ist, daß Nietzsche selbst sich nicht auf ein sicheres Nichts sterben legt, sondern das Ungewisse Etwas als Anzeichen, Symptom oder auch Phänomen festhält. Wenn man dieses als Interpretation begreift, das Begreifen selbst aber als ebenso perspektivischen Zugriff, könnte es sein, daß gerade die Fragilität jeder Perspektive den nötigen ,Boden' für eine Flexibilität darstellt, die weder im sicheren Nichts enden noch in einem gewissen Etwas ihre Zuflucht nehmen muß. -

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-

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IV. Im Zusammenhang mit der neuen Deutung alles Geschehens als Wille zur Macht konzentriert sich Nietzsche auf den menschlichen Leib, zunächst aus der gleichermaßen schlichten wie skandalösen Überlegung, daß mit dem traditionell als trügerisch ausgeschlossenen Leiblichen (und auch Sinnenfälligen) eine phänomenal zugängliche Dimension diesseits der Metaphysik zurückgewonnen wäre. Er schreibt:

„Aus der Selbstbespiegelung des Geistes ist noch nichts Gutes gewachsen. Erst jetzt, wo

auch über alle geistigen Vorgänge sich am Leitfaden des Leibes zu unterrichten sucht [...], kommt man von der Stelle." (NF, KSA 11, 249)

man

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sich selbst auf Dauer unwirklich gewordene Geist droht an seiner eigenen Verabsolutierung zugrunde zu gehen. Weil dieser radikale Eskapismus oder auch Wille zum Nichts, wie Nietzsche sagt (vgl. AC, KSA 6, 185), aus seinen eigenen Spiegelungen her undurchschaut bleibt, ist es nötig, ihn auf einem zunächst negativ-kritischen, dann auf einem produktiven Weg an das zu erinnern, was traditionell als das ausgeschlossene Dritte vergessen wurde, obgleich eben dieses den Ausschluß diktiert, ja fordert: der Wille zur Macht, oder genauer: die Wirklichkeit als ein widersprüchliches Kräftefeld von Willen zur Macht. Der weltlose und damit

an

„Den Menschen nämlich zurückübersetzen in die Natur", heißt es an andrer Stelle, „über die vielen eitlen und schwärmerischen Deutungen und Nebensinne Herr werden, welche bisher über jenen ewigen Grundtext homo natura gekritzelt und gemalt wurden; machen, dass der Mensch fürderhin vor dem Menschen steht [...]" (JGB, KSA 5, 169).

Diese Rückübersetzung erfolgt zunächst anhand einer Phänomenologie des Leibes. Nietzsches Gmndvermutung, die sich aus dem Aufweis der Perspektivität und aus der Genealogie der Werte ergab, ist, daß „alles, was als ,Einheit' ins Bewußtsein tritt", also auch das Bewußtsein' selber als scheinbar einheitliche letzte Bezugsgröße, „bereits ungeheuer complizirt" ist (NF, KSA 12, 205). Über seine phänomenologische Auseinandersetzung mit der Leiblichkeit versteht Nietzsche das innerste Wesen des Seins nicht als starre Entität im Sinne eines einmalig faßbaren Ausgangsgrundes, sondern als flexibles Zusammenwirken immer schon komplex verfaßter Willen zur Macht. Er faßt diese als „dynamische Quanta", die in einem „Spannungsverhältnis zu allen anderen dynamischen Quanten stehen" (NF, KSA 13, 259), ja deren Qualität in diesem Spannungsverhältnis besteht und weder in eine transzendente noch in eine transzendentale Einheit auflösbar ist. Jede Einheit ist ein perspektivisch begrenzter Zustand von nur relativer

Dauer und keine Tatsache, die Rückschlüsse auf eine letztlich verbindliche Hierarchie der Kräfte zuließe. „Es giebt kein Gesetz: jede Macht zieht in jedem Augenblick ihre letzte Konsequenz" (NF, KSA 13, 258). Die Einheit des Subjekts, welche der Mensch dem Wechsel als Grund und Ziel entgegenstellt, um den Boden für den Begriff, für das subjektsichernde System zu gewinnen, ist Fiktion. Es ist „Oberflächen-Phänomen", was bedeutet, daß hinter ihm der nie einholbare „Kampf unserer Triebe und Zustände" (NF, KSA 12, 15) steht. Das Subjekt ist bereits eine „Vereinfachung, um die Kraft, welche setzt, erfindet, denkt, als solche zu bezeichnen" (NF, KSA 12, 141). Daß das Subjekt nicht Tatbestand, sondern selbst bereits Ausdeutung einer als Willen zur Macht gefaßten Leiblichkeit ist, legt auch die folgende Bemerkung Nietzsches nahe: „Man darf nicht fragen: ,wer interpretirt denn?' sondern das Interpretiren selbst, als eine Form des Willens zur Macht, hat Dasein [...]" (NF, KSA 12, 140). Die objektiven Tatsachen, innerhalb derer das Subjekt agiert, sind somit ihrerseits nicht endgültig, sondern auf unbestimmte Dauer verfestigte Interpretationen und hierin real gewordene Selbstverständlichkeiten für den Menschen. Wahrheit ist nicht an-sich, sondern Wahr-werden, sie gibt „den Namen [ab] für das komplexe Verhalten eines ,am Werden Leidenden'".4 Das Interesse an physiologischen Abläufen ergibt sich also aus der These, daß das „sichtbare organische Leben und das unsichtbare schöpferische seelische Walten und Denken [...] einen Parallelismus" enthalten (NF, KSA 12, 139). Dieser beinhaltet zum einen die 4

Borislav

MikuliC, Sein, Physis, Aletheia, Würzburg 1987, 265.

Der Meduse ins Antlitz schauen

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methodische Prämisse, daß am reichen Phänomen der Leiblichkeit das ärmere, das Vorgehen der systematischen Vernunft, nachgezeichnet werden kann. Die Vernunft hat zwar den Anschein des Selbstreferentiellen (Satz vom Grund), basiert aber auf leiblichen Vorgängen und ist als Teil dieser zu verstehen. Wenn das Selbstverständnis des Menschen mitsamt seinem Werkzeug Vernunft in das Kräftespiel der Willen zur Macht zurückgebunden ist, dann reicht die Perspektive der logischen Kohärenz nicht aus, um das Phänomen der Wertschätzung und damit den Wert der Welt in seinen ganzen Voraussetzungen zu begreifen. Zum anderen aber kann die Interpretation als Symptom eben dieses Kräftespieles gelten (vgl. NF, KSA 12, 139) und läßt somit ihrerseits Rückschlüsse auf die Kraft, oder wie Nietzsche auch physiologisch sagt: Gesundheit5 der jeweiligen Physis zu. Beides steht in engstem Zusammenhang: der Intellekt bzw. die interpretative Aneignung von Welt gründet schon in den organischen Funktionen, wie umgekehrt die organischen Bedürfnis- und Antriebsstrukturen im interpretierenden Bewußtsein aktuell werden. Dieser psycho-physische Zusammenhang des Leibes liegt diesseits der täuschenden Reduktion der Welt auf die Verstehensweisen des ,erkennenden' Subjekts. Nietzsche bezeichnet den Leib deshalb auch als die „große Vernunft" (ZA I, KSA 4, 39), der gegenüber die Ratio der traditionellen Erkenntnislehre klein, das heißt dem Lebensdienlichen bereits untergeordnet ist. Als Gleichnis des pluralen Zusammenwirkens einer Vielfalt von Willen zur Macht ist der Leib bereits Erkenntnis, oder wie Mikulic schreibt, „die ,verkörperte' Perspektivität der Welt im Ganzen, in die nicht nur eine Wahrheit hineingehört".6 Der am Leib veranschaulichte Sachverhalt komplexer Einheit ist so zugleich flexibler Grund wie Korrektiv verabsolutierter Vereinseitigungen. Nietzsches Versuch, zu einer Kunst der Physio-Logie,7 das heißt zu einem Ausdrücklichmachen dieser Komplexität zu gelangen, ist darüber hinaus Ziel, kein radikal offenes, aber doch werdend, vorläufig.

V. In bezug auf Nietzsches psycho-physiologisch orientierte Einschätzung des die folgende Notiz aus Jenseits von Gut und Böse summarisch anführen:

Subjekts ließe sich

hüten wir uns vor den Fangarmen solcher contradiktorischen Begriffe wie ,reine Vernunft', .absolute Geistigkeit', .Erkenntnis an sich': hier wird immer ein Auge zu denken verlangt, das durchaus keine Richtung haben soll, bei dem die aktiven und interpretirenden Kräfte unterbunden sein sollen, fehlen sollen, durch die doch Sehen erst ein Etwas-Sehen wird [...]" (JGB, KSA 5, 365).

„[...]

-

5 Gesundheit und Krankheit sind ihrerseits keine festen Größen. Gesundheit hat ihren Maßstab für Nietzsche darin, wieviel von Krankhaftem, von innerem Zerfall der Leib „auf sich nehmen und überwinden kann gesund machen kann" (NF, KSA 12, 108, im Text fett). 6 Borislav Mikulic, Sein, Physis, Aletheia, 273. 7 Den Ausdruck „Kunst der Physiologie" übernehme ich von Helmut Pfotenhauer, „Physiologie der Kunst als Kunst der Physiologie? Überlegungen zur literarischen und mythologischen Faktur der Texte", in: Nietzsche-Studien 13/1984, 399-411. Pfotenhauer meint damit „Erwägungen zur Sprachfindung im Umgang mit unserer menschlichen Natur" (400). -

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Zum ersten Teil der Notiz läßt sich eine Stelle aus dem Antichristen anführen: „Der ,reine Geist' ist eine reine Dummheit: rechnen wir das Nervensystem und die Sinne ab, die sterbliche Hülle', so verrechnen wir uns weiter nichts! ..." (AC, KSA 6, 181). Im weiteren macht die obige Bemerkung auf eine vielschichtige Weise deutlich, warum Nietzsche in diesem Zusammenhang von reiner Dummheit spricht. Dumm ist die Annahme des reinen Geistes deshalb, weil sie sich hinsichtlich der Selbsteinschätzung des Menschen auf Dauer als destruktiv erweist.8 Denn sie hat Ansprüche, an denen sie scheitern muß, weil sie auf Dauer ihre eigenen Grundlagen zerstört. Der aus dem Uneindeutigen, Schmerzvollen, Widerständigen, kurz: aus der Wirklichkeit als einem Geflecht interpretativ verfaßter Machtwillen in die Welt der unbedingten Strukturen flüchtende Geist verurteilt sich im Schritt seiner Absolutsetzung zur Unproduktivität und damit, wie Nietzsche schreibt, zur Unwirklichkeit: „[...] das Unbedingte kann nicht das Schaffende sein. Nur das Bedingte kann bedingen" (NF, KSA 11, 203). Mit diesem „Grundsatz", wie es heißt, ist aber die Dummheit nicht aus der Welt geschafft. Tatsächlich bleibt ja der Geist nach Nietzsches Auffassung bedingt; zwar nicht durch ein An-sich der Dinge, dem er sich als ebensolches An-sich zu stellen hätte, aber als Ausdruck einer gleichermaßen chaotischen wie sich tendenziell (mittels der Geistigkeit) organisierenden Wirklichkeit, wie sie für Nietzsche am Leib veranschaulicht ist (vgl. NF, KSA 13, 36 f.). Aus der Perspektive des Leibes als der großen Vernunft erweist sich gerade die Annahme der Absolutheit, das heißt der selbstbezüglichen Abgeschlossenheit gegen jedwede Bedingtheit ,geist'-loser Art als besonders geistlos. Der reine Geist rüstet sich hier gegen ein Feld von Wirklichkeit, das er als das andere zu ihm selbst vor sich wähnt, während es doch als seine ungeheuer komplizierte Bedingung gerade den Grund alles Deutens und Agierens darstellt. Wenn Nietzsche nun die (auch perspektivische) Bedingtheit des Intellektes ins Feld führt, so geschieht das gleichwohl nicht aus der Intention heraus, ihn postwendend in eine Art panoptische Perspektivenlosigkeit des Leibes aufzuheben, wie manche postmoderne Interpretationen nahelegen.9 Das Postulat des .reinen' Leibes als einer Immanenz des Wirklichen, als dessen Medium eine standpunktlose Vernunft fungieren soll, ist nach Nietzsche gleichermaßen dumm. „Ein Auge, das durchaus keine Richtung haben soll11 (JGB, KSA 5, 365; Hervh. C.N.) hat in diesem Sollen faktisch eine Richtung, sei es das Pathos des ,Umsonst', das an die Stelle der produktiven Wertschätzung tritt (vgl. NF, KSA 12, 366), oder die gleichermaßen dumme wie gefährliche Selbsttäuschung über den „Ocean", der zum multimedialen Schwimmbad verniedlicht den blinden Schwimmer in „Gold und Träumerei der Güte" (FW, KSA 3, 480) wiegen soll. -

Vgl. NF, KSA 12, 119: „In praxi lief ein solches Attentat des Wahnsinns einer wahnsinnigen Selbstüberhebung des Menschen angesichts der Welt- [auf] Verdüsterung, Verkleinlichung, Verarmung des Menschen hinaus [...]". 9 Ich verweise hier insbesondere aufden ebenfalls im Rahmen derNietzsche-Werkstatt Schulpforta 1997 gehaltenen Vortrag „Vernünftige Körper? Körper ohne Organe! Nietzsche und Deleuze)" von Stephan Günzel. Hier hieß es: „Diese ,immanente' Existenzweise soll schließlich Vorbild sein für eine ,Philosophie der Immanenz', die wie Nietzsche es von der .zukünftigen Philosophie' verlangte eine Philosophie ist, die jegliche Transzendenzen als Werte einer Kultur zu kritisieren vermag selbst solch fundamentale wie die ,rein biologischen'. Der Leib ist eine große Vernunft, aber der Körper ist noch nicht genügend zerstört worden." 8

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VI. Nietzsches negativ-kritische Überführung der Wahrheit hinsichtlich ihres perspektivischen Charakters und seine Rückübersetzung des Subjekts in ein ebenso komplexes wie sich immer schon auf vorläufige Einheiten hin ausdeutendes Grundgeschehen, führen zunächst zu der Hypothese einer umfassenden Affirmation, wie sie als dionysische Kunst umschrieben wird. Affirmiert wird das als Wille zur Macht bezeichnete agonal-komplexe Kräftefeld selbst, in welches das Subjekt und mit ihm auch das Objekt zurückübersetzt wurde. Diese Rückübersetzung gilt Nietzsche weniger als radikale Destruktion als vielmehr als „Selbst-Erkenntnis, welche Bescheidenheit ist, denn wir sind nicht unser eigen Werk" (NF, KSA 12, 119). „Wir gehören zum Charakter der Welt, das ist kein Zweifel!" notiert er an anderer Stelle. „Wir haben keinen Zugang zu ihr als durch uns: es muß alles Hohe und Niedrige an uns als nothwendig ihrem Wesen zugehörig verstanden werden!" (NF, KSA 12, 33) Das meint zum einen, daß die Gegenüberstellung Mensch gegen Welt10 eine nachträgliche ist und bereits Ausdruck eines Geschehens, auf dessen Ausschluß sie basiert. Gleichzeitig gehört der Charakter der Welt jedoch auch zu uns, insofern wir nicht als unabhängiger Logos (,reiner Geist') vor der Welt, sondern als selbst interpretativ verfaßte Willen zur Macht darin sind. Darin sein heißt nach Nietzsche auch, ein kleines Stück von ihr selbst zu organisieren (vgl. NF, KSA 12, 366), gerade weil „die Welt durchaus kein Organism ist, sondern das Chaos", zu dem aber die „Entwicklung der ,Geistigkeit'" gehört als ein „Mittel zur relativen Dauer der Organisation" (NF, KSA 13,36f). Zwar bedeutet die Rückübersetzung des Menschen in die ,Natur' keinesfalls, daß der Mensch nach Absetzung der metaphysischen Gewalten in eine Art naive Immanenz zurückgeborgen würde. Doch der aus der ,Objekt'-Welt gleichermaßen zurückübersetzte ,Rest', also das, was wir unserem neuzeitlichen Selbstverständnis nach nicht sind, erhält zweifellos ein eigenes Gewicht. Die Bedingtheit der menschlichen Perspektiven ist nicht nur eine abstrakte in bezug auf das Chaos, dem sie abzuringen sind, sondern auch eine in bezug auf die Dinge, die als ebenso wirkmächtige endliche Einheiten darin sind, d. h. in der Welt als dem natürlichgeschichtlichen „Gesammtspiel dieser Aktionen" (NF, KSA 13, 371)." Immerhin heißt es bei Nietzsche: „Unser eigenes Verhalten zur Welt, unser tausendfältig schaffendes Verhalten in jedem Augenblick zeigt [...], daß Schaffen zu den unveräußerlichen und beständigen Eigenschaften der Welt selber gehört: um die Sprache der Mythologen nicht zu verschmähen" (vgl. NF, KSA 11, 205; Hervh. C. N.). Dem trägt auch der Verweis auf den Mythos Rechnung als eine Ausdrucksweise, welche über die neuzeitliche Begriffsrationalität hinaus zu verstehen geben will, was als das eigentliche, nie eindeutig aussagbare Grundgeschehen erfahren wird. So schreibt Günter Figal, Nietzsches These vom Willen zur Macht sei aus diesem Grund nicht als Aufstellung eines Prinzips zu lesen, sondern die Rede von ihm zeige die strittige Zusammengehörigkeit von geschehender Vielfalt und Einheitsbildung nur an. Dieses An-

Vgl. FW, KSA 3, 581: „[...] wir lachen schon, wenn wir ,Mensch und Welt' nebeneinander gestellt finden, getrennt durch die sublime Anmaassung des Wörtchens ,und'!" 11 Vgl. Jörg Salaquarda, „Leib bin ich ganz und gar Zum .dritten Weg' bei Schopenhauer und Nietzsche", in: Nietzscheforschung 1, 1994, 37-50, 49: „Die Verleiblichung hat uns einen neuen Zugang zur Erde eröffnet. Nietzsche hat dies in der von ihm empfohlenen Ersetzung der Sorge um die .fernsten Dinge' (die ,eschata') durch die Sorge um die .nächsten Dinge' inauguriert. Er hat die Angewiesenheit von uns leiblich existierenden 10

-

...

Menschen auf die Erde

neu

gesehen und zur Geltung gebracht."

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zeigen impliziere näher besehen den konsequenten Versuch einer Transparentmachung seiner selbst hin auf das, was zuletzt nicht im Verfügungsbereich erfahrbarer Einheitsbildung liegt.12

VII. Spätestens mit der Hinzuziehung des Leibes als einer diesseitigen, verkörperten, phänomenal zugänglichen und dennoch hochkomplexen Perspektive wird deutlich, daß Nietzsches um die Physiologie erweiterte Psychologie über ,Ideologiekritik' hinaus ein Bemühen darstellt um Einsicht in das Prozedere der Wertschätzung, in das Schaffen von Organisationsprinzipien überhaupt die Geistigkeit als ein Mittel des Lebens. „Man gestehe sich doch so viel ein: es bestünde gar kein Leben, wenn nicht auf dem Grunde perspektivischer Schätzungen und Scheinbarkeiten" (JGB, KSA 5, 53). Als Gegenmacht zur Redlichkeit des wissenschaftlichen Blickes tritt so für Nietzsche die Kunst, die verklärende bzw. interpretative Weltdeutung, produktiv in den Vordergrund. Als pure Kategorie, in die alle Formen menschlicher Daseinsbewältigungen zurückfallen, bezeichnet sie zunächst schlicht: organisierende Aktivität. Sie ist Gegenbewegung wider die Komplexität und Chaotik ihrer eigenen Fundamente. „Man ahnt, -

,Gegenkraft' der Kunst entfaltet: Im Gegenspiel zu einer Natur, mit der sie engstens zusammenhängt, genauer: im Spiel der Natur mit sich selbst. Die entscheidende Regel dieses Spiels lautet: ,actio in distans' (FW, 60)".13 Die Gegenstrebigkeit der vielen Willen zur Macht kann von einer verabsolutierten Rationalität, obgleich sie selbst aus physiologisch bedingten Bedürfnis- und Antriebsstrukturen resultiert, nicht angemessen erfaßt werden. Der wesentliche Grund für diese Unfähigkeit liegt in ihrer Logik, die als Logik des Ausschlusses gefaßt werden kann und die zur Absicherung gegen die Unwägbarkeit ihrer eigenen Fundamente formuliert wird. Ein erster Schritt zur Verflüssigung der an ihrer eigenen Abstraktheit zugrundegehenden Selbsteinschätzung des Menschen ist demnach ein zumindest kompensatorischer Verzicht auf diese Logik, welcher bedeutet, „die Vernunft in der Realität zu sehen, nicht in der Vernunft" (GD, KSA 6, 156). wie sich die

Zur Realität schreibt Nietzsche einmal:

,JSchein wie ich es verstehe, ist die wirkliche und einzige Realität der Dinge, -[...] Ich setze also nicht,Schein' in Gegensatz zur .Realität', sondern nehme umgekehrt Schein als die Realität, welche sich der Verwandlung in eine imaginative ,Wahrheits-Welt' widersetzt. Ein bestimmter Name für diese Realität wäre ,der Wille zur Macht', nämlich von Innen her bezeichnet und nicht von seiner unfaßbaren flüssigen Proteus-Natur aus" (NF, KSA 11, 654). Und an einer anderen Stelle heißt es: „[...] Schein bedeutet hier nur diese Realität noch einmal in der Auswahl, Verstärkung, Correktur ..." (NF, KSA 13, 355).

12 Günter Figal, „Letzte Götter", in: Für eine Philosophie von Freiheil und Streit, Stuttgart/Weimar 1994, dort 161. 13 Volker Gerhardt, „Von der ästhetischen Metaphysik zur Physiologie der Kunst", in: Nietzsche-Studien 374-393, 390.

148-165, 13/1984,

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In bezug auf die Physiologie der Kunst wie auch die Kunst der Physio-Logie, um die es im folgenden gehen soll, scheinen mir beide Zitate einen wichtigen Hinweis zu geben. Realität ist für Nietzsche etwas, das weder unfaßbar flüssig noch in eine imaginative Wahrheitswelt (die Welt der reinen Strukturen) zurückübersetzbar ist. Die Realität der Dinge ist ihr Schein, ihr Sich-Zeigen als fragmentarischer Schnittpunkt zwischen Einheit und Auflösung. Ihr SichZeigen verweist auf nichts anderes als auf sich selbst als Schein, als vielschichtige Prägnanz. Die Realität wird nur als ausdrücklich gemachte präsent im Unausdrücklichen belassen geht sie an sich selbst zugrunde.14 „Als ob eine Welt noch übrig bliebe, wenn man das Perspektivische abrechnete! Damit hätte man ja die Relativität abgerechnet [...]" (NF, KSA 13, 370). Gerade das Prägnant-Perspektivische ist für Nietzsche der Garant für die Relativität jeder Perspektive, für ihre Vorläufigkeit und Unfertigkeit. Umwillen einer lebbaren Perspektivenpluralität bedarf es „der Gegensätze, der Widerstände, also, relativ, der übergreifenden Einheiten [...]" (NF, KSA 13, 260). Ohne diese zumindest zeitweiligen Einheiten läßt sich der widersprüchliche Charakter der Welt gar nicht erfahren. Die Proklamation von Widerspruch, Differenz und Vielfalt ist nur dann sinnvoll, wenn sie der Einsicht in wirkmächtige, konkrete Gegensätze folgt, nicht, wenn sie als abstrakte Forderung zur Überforderung eskaliert, die notwendig in sich selbst erstarrt: „der große Gedanke als Medusenhaupt: alle Züge der Welt werden starr, ein gefrorener Todeskampf (NF, KSA 11, 360). Als unfaßbar Flüssiges gefaßt widersetzt sich die Welt als Wille zur Macht nicht der imaginativen Wahrheitswelt, auch nicht, wenn sich diese zum Zentrum ein dezentralisiertes Subjekt als Medium der Unfaßbarkeit setzt. -

VIII. Aus der Kunst als zunächst neutraler

Kategorie, in die alle Formen menschlicher Daseinsbewältigungen zurückfallen, resultieren notwendig Überlegungen, wie eine Kunst der PhysioLogie, eine der agonal-komplex verfaßten Wirklichkeit angemessene Einheitsperspektive

aussehen könnte. Helmut Pfotenhauer schreibt: „Die Affekte, die Leidenschaften, in welchen eine Sprache, in der unsere Menschennatur gegenwärtig ist, brauchen eine andere Sprache der furchtbare Charakter des Daseins (NF, KSA 13, 521) in Symbolen stets präsent bleibt."15 Das bedeutet zunächst, daß jede Hypostasierung einer Verstehensweise negativ auf das Leben zurückschlägt, wenn andere Perspektiven (meist bedrohliche oder schmerzvolle) damit nicht nur für irrelevant, sondern für nichtig erklärt werden. Das Wissen um die mögliche Vielfalt der Perspektiven ist das Wissen um jene Wunde des Daseins, die Riskiertheit, Endlichkeit und Uneindeutigkeit der menschlichen Existenz. Die Frage bleibt also, wie dieses Wissen dennoch prägnant werden, wie es gelebt werden kann ohne den Rekurs auf ein meta, das Jenseits der reinen Strukturen, und ohne die Flucht nach vom, die näher besehen eine Art prophylaktische Neutralisierung der Vielfalt darstellt und zwar durch abstrakte Totalisierung. „Die libertinage, -

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14 Volker Gerhardt, „Von der ästhetischen Metaphysik zur Physiologie der Kunst", 392: „Nietzsche sucht nicht, was auch immer das sein möge, nach dem ,Leib an sich', sondern nach der .Vernunft im Leibe', also nach einer bildenden Kraft, die sich mitteilende Einheiten schafft. In der Orientierung an Befehl und Gehorsam [...] bleibt eine organisierende, auswählende, entscheidende Instanz gewahrt, ohne die alles qualitätsloses Fließen wäre." 15 Helmut Pfotenhauer, „Physiologie der Kunst als Kunst der Physiologie?", 400.

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Princip des ,laisser aller' nicht mit dem Willen zur Macht verwechseln", notiert Nietzsche, „[...] er ist dessen Gegenprincip" (NF, KSA 13, 451). Was Nietzsche in den späten Aufzeichnungen zur ,Physiologie der Kunst' Kunst nennt, hat etwas mit dem perspektivischen Selbstverständnis zu tun. „Kunst behandelt den Schein als Schein, will also gerade nicht täuschen, ist wahr" (KSA 7, 632). Kunst meint hier nicht mehr allgemein das Daß strukturierender Aktivität, als welches die menschliche Konfrontation mit der Wunde des Daseins insgesamt zu bezeichnen wäre, sondern in einem strikteren Sinne die im Angesicht der Meduse ausgefochtenen Symbolbildungen und um ihre Vorläufigkeit wissenden Verklärungen des Daseins. Die Kunst bezieht sich auf sich selbst als etwas Vorläufiges und gibt dennoch zugleich aktiv an die Dinge ab, verleibt sie sich ein, zwingt sie in ihre ganz bestimmte Wertung, Aktions-Art, Widerstandsart (vgl. NF, KSA 13, 370). Eine ihrer physiologischen Bedingtheit angemessene Sprache oder Prägnanz des Lebens wäre die sich selbst durchsichtigste Perspektive, die zugleich wirkmächtig bleibt, der vielschichtige und vor allem seiner Vorläufigkeit bewußte Ausdruck. Die Frage nach einer möglichst flexiblen Rangordnung nimmt von hier ihren Ausgang. Die Wirklichkeit als ein Geflecht widerstreitender Willen zur Macht muß ebenso fragmentiert werden, wie der in der philosophischen Tradition tendenziell vorherrschende Logos als seiner selbst gewisse Rationalität. Hinter den Masken verbirgt sich kein wahres, lebbares das

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Antlitz.

„,Gemäß der Natur' wollt ihr lebenl Oh ihr edlen Stoiker, welche Betrügerei der Worte! Denkt euch ein Wesen, wie es die Natur ist, verschwenderisch ohne Maass, gleichgültig ohne Maass [...], denkt euch die Indifferenz selbst als Macht wie könntet ihr gemäß dieser Indifferenz lebenl" (JGB, KSA 5, 21 f.) -

Der radikalen Entfragmentisierung (Entideologisierung, Dekonstruktion) der Meduse folgt der horror vacui. In dieser eigenartigen Verkennung des Textes ist solche forcierte Rekonstruktion' oft wohl eher reaktiv, undurchschaute Transzendenz, statt »Philosophie der Immanenz'. Die ,immanente Existenzweise' entpuppt sich bei näherem Hinsehen als die eine große Transzendenz ins Nichts, als das altbekannte „Glück des Ausruhens, der Ungestörtheit, der Sattheit, der endlichen Einheit, als ,Sabbat der Sabbate'" (JGB, KSA 5, 120).

IX. „Dass der Krieg, der er ist, einmal ein Ende habe" (JGB, KSA 5, 120) das ist, wie Nietzsche in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung schreibt, der neidvolle Wunsch nach dem Glück des Tieres, das aufgeht in der Gegenwart „wie eine Zahl, ohne dass ein wunderlicher Bruch übrigbleibt" (HL, KSA 1, 249). Im Gegensatz zum Tier ist das menschliche Dasein unverwindbar Krieg, Bruch, keine Immanenz des Augenblicks, sondern „nie zu vollendendes Imperfectum" (HL, KSA 1, 249). Die Dialektik von Erinnern und Vergessen, um die es -

Nietzsche in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung geht, berührt auf ihre Weise bereits den problematischen Sachverhalt einer Kunst der Physio-Logie. Es heißt dort:

„Denkt euch das äusserste Beispiel, einen Menschen, der die Kraft zu vergessen gar nicht besässe, der verurtheilt wäre, überall ein Werden zu sehen: ein Solcher glaubt nicht mehr

Der Meduse ins Antlitz schauen

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sein eigenes Sein, glaubt nicht mehr an sich, sieht alles in bewegte Punkte auseinander fliessen und verliert sich in diesem Strome des Werdens: er wird wie der rechte Schüler Heraklits zuletzt kaum mehr wagen den Finger zu heben" (HL, KSA 1, 250). an

Was sind aber mögliche Kriterien für Grad und Grenze des Vergessens? Wie läßt sich Nietzsches spätere Rede von der großen Vernunft begreifen als einer Spannung zwischen einer dem Perspektivenpluralismus ausgelieferten Sensibilität und der Durchsetzung eines starken, einheitsbildenden Machtwillens? Wie dem Medusenhaupt des Menschlichen ins Antlitz schauen ohne zu erstarren? Nietzsche selbst schlägt physiologische Kriterien vor. Sie gipfeln in einer interpretationsbedürftigen „Bejahung, Segnung, Vergöttlichung des Daseins" (NF, KSA 13, 241), die jedoch kaum bedeuten kann, „nicht mehr, Niemandem mehr, weder dem Übel, noch dem Bösen Widerstand zu leisten" (AC, KSA 6, 201), die moderne „Toleranz und largeur des Herzens, die Alles ,verzeiht', weil sie Alles ,begreift' [...]" (AC, KSA 6, 169). Gegen die Hypertrophie der vermeindlichen Allverständigkeit, die letztenendes nur auf dem Boden einer technisch gegen die Welt gefestigten Subjektivität Fuß fassen kann,16 setzt Nietzsche die „plastische Kraft", die es vermag „aus sich heraus eigenartig zu wachsen, [...] Fremdes umzubilden und einzuverleiben" (HL, KSA 1, 251). Die Umbildung und Einverleibung von Fremdem bedarf weniger einer gutgemeinten largeur des Herzens, die, um sich stark zu halten, nur gutgemeinte Vorstellungen ihrer Objekte nachschieben kann, als vielmehr der klugen Interpretation, das heißt einer Vernunft, die um ihrer selbst willen von sich absehen kann. „Vernunft ist eine Phantasie, welche durch Schaden klug geworden ist, vermöge des zunehmend besseren Sehens, Hörens und Sicherinnerns" (NF, KSA 9, 89). Das impliziert nicht nur den Verweis auf die Komplexität ihrer eigenen Bedingtheit, sondern auch den, sich innerhalb der tatsächlichen Wirkmächtigkeit komplexer Zusammenhänge und Gegensätze nicht an das Abstraktum vom Strom des Werdens zu verlieren. In diesem Zusammenhang nennt Nietzsche es ein „allgemeines Gesetz", daß Jedes Lebendige [...] nur innerhalb eines Horizontes gesund, stark und fruchtbar werden [kann]; ist es unvermögend einen Horizont um sich zu ziehen und zu selbstisch wiederum, innerhalb eines fremden den eigenen Blick einzuschließen, so siecht es matt oder überhastig zu zeitigem Untergange dahin" (HL, KSA 1, 251). Diese Dialektik bleibt unaufhörlich; der Krieg, der der Mensch ist, findet kein Ende, weder in irgendeiner Form ideologieloser Rationalität, noch in ideologieloser, das heißt nicht mehr interpretativ verfaßter Leiblichkeit. -

X. Das Bild vom medusenbezwingenden Perseus scheint mir in nuce die Grundproblematik einer Kunst der Physio-Logie zu enthalten. Der verklärende Spiegel ist hier die „Realität noch einmal in der Auswahl, Verstärkung, Correktur..." (NF, KSA 13, 355); er blendet die Nichtfestgestelltheit nicht aus, aber er bildet sie auch nicht hundertprozentig ab. Er ist nie nur Medium, sondern immer schon Interpretation und damit ein der Wirklichkeit immanentes

16

Vgl. hierzu die Beobachtungen von Arnold Gehlen, in: Urmensch und Spätkultur, Wiesbaden 1986, bes. die Kapitel „Natur, Faktenaußenwelt" und „Fakteninnenwelt, Subjektivität".

Cathrin Nielsen

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Organisationsmoment in der Geburt der Tragödie der Apoll, der das Medusenhaupt der fratzenhaft ungeschlachten dionysischen Macht entgegenhält. In Nietzsches späteren Notizen zur dionysischen Kunst ist der Apoll in den Dionysos hineingenommen; dieser ist nicht mehr die Gottheit der gestaltlosen Raserei, sondern steht für den beherrschten Grundtext im Gegensatz zum ausgeschlossenen der abendländischen Geschichte. Der Spiegel als verkörperte Perspektivität verweist zugleich in die komplexe Bedingtheit, die er verkürzt zur Darstellung bringt. Das legt eine Bemerkung Nietzsches nahe, die lautet: „Und wißt ihr auch, was mir ,die Welt' ist? Soll ich sie euch in meinem Spiegel zeigen? Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende ..." (NF, KSA 11,610). Der Spiegel, den Nietzsche hier nennt, ist der Leib, die Gleichzeitigkeit von Chaos und deutender Organisation, und als solcher „das beste Gleichnis" (NF, KSA 11, 577) für den auf Zeit beherrschten schrecklichen Grundtext homo natura. Als komplexes, relatives Einheitsgebilde ist er nicht Medium, sondern „Gegensatz der atomistischen Anarchie, [...] ein Herrschafts-Gebilde, das Eins bedeutet, aber nicht eins ist1 (NF, KSA 12, 104). Nietzsches Auseinandersetzung mit der Leiblichkeit läßt sich nicht zuletzt als eine Auseinandersetzung mit den Resultaten der technologischen Zivilisation lesen, als der Aufweis des Grundwiderspruchs der Moderne als das unvermittelte Nebeneinander eines auf der SubjektObjekt-Dichotomie basierenden Machtwillens technischer Rationalität und einer auf sich selbst zurückgeworfenen Subjektivität. Die Dynamik des Seelischen propagiert zuletzt das unendliche Spiegel-Spiel der Perspektiven, um wiederum auf einem sekundären Wege unanstößiges Leben in seinen Vorstellungshaushalt zu leiten. Was Adolf Muschg als den special effect des medialen und medientechnischen Euphemismus bezeichnete, nämlich, den Zuschauer im Spiegel verschwinden zu lassen, basiert auf eben dieser undurchschauten Schwesternschaft von Technokratie und einer sich selbst überlassenen Subjektivität. Nietzsches Überlegungen zur Physiologie der Perspektive dagegen gelten der Frage nach der Kunst als einer nicht in die Eigengesetzlichkeit des Logos hypostasierten Physio-Logie. -

Guido Rappe

Nietzsche und der Leib Aktuelle und historische Perspektiven

Nietzsche und der Leib das ist in dreifacher Hinsicht ein anregendes und provozierendes Thema! Einmal sind da natürlich Nietzsches eigene Ausführungen zum Leib: tiefsinnig und widersprüchlich, Distanz verlangend und Zustimmung fordernd. Zum anderen ist da deren Rezeption innerhalb der Philosophie, die, an konträren Meinungen und rhetorischen Auseinandersetzungen reich, stimulierend wirkt und die eigene Position herausfordert. Und zum dritten ist das Thema Leib nach wie vor für die Philosophie ein wichtiges Forschungsgebiet, auf dem unermüdlich gearbeitet wird, ohne daß sich ein Ende absehen läßt. Ca. 100 Jahre nach Nietzsche bleiben seine Aussagen immer noch Quellen der Anregungen für eine ständig steigende Zahl philosophischer Produktionen, die sich oft ähnlich problematisch gegenüber stehen, wie Nietzsches eigene Aussagen. Als Volker Gerhardt auf die Schwierigkeiten hinwies, die eine Rekonstruktion der Philosophie Nietzsches mit sich bringt, da sich „Nietzsches Denken" in „Widersprüchen" bewege und „in allem das Extreme" suche,1 setzte er mit seiner Forderung nach einer kritischen Haltung eine Tendenz fort, in die auch Jürgen Habermas gestellt werden kann, der in ähnlicher Richtung bemerkt hatte, „die Annahme, daß es tunlich sei, die Aphorismen in ihrer Gesamtheit als ein System aufzufassen, war immer fraglich",2 und der dementsprechend davor warnte „Nietzsche als Projektionswand der eigenen Philosophie zu benützen".3 Habermas sprach weiter von der „methodischen Zweideutigkeit der quasi-biologischen Sprache" bei Nietzsche,4 wobei er sich wohl an Karl Jaspers anlehnte, der bereits harte Kritik am unscharfen Leibbegriff Nietzsches geübt hatte, indem er ihn als einen „alten Gedanken" bezeichnete, aus dem kein „näheres Verstehen" hervorgegangen sei, „wohl aber die Neigung, überall ein biologisches Sprechen als vermeintliche Einsicht einfließen zu lassen".5 Dieser kritischen Richtung der Nietzsche-Interpretation stehen eher apologetische Versuche wie der von Heinrich Schipperges oder von Stephan Grätzel gegenüber, die zu ganz anderen -

Dazu Volker Gerhardt, Pathos und Distanz, Stuttgart 1988, 163. Vgl a. folgendes Urteil über Nietzsche: „Man schätzt ihn als eine Art lebendigen Selbstwiderspruch des theoretischen Denkens." (ebd., 190) Zu weiteren Widersprüchen in Nietzsches Philosophie s. Gerhardt (ebd., 166 f. u. 171). Zu seiner Einschätzung von Nietzsches philosophischer Position s. Gerhardt (ebd., 12, 170, 181, 183 f., 188 u. 190). 2 In: Friedrich Nietzsche, Erkenntnistheoretische Schriften, hg. v. Jürgen Habermas, Frankfurt a.M. 1968, 241. 3 Jürgen Habermas: „Die implizite Form einer nicht nur unsystematisch vorgetragenen, sondern Argumentation vorsätzlich entrückten Philosophie, die allem der Zucht der aphoristischen Triftigkeit gehorcht, bietet der Interpretation einen ungewöhnlichen Spielraum. Er hat die Interpreten nur zu oft eingeladen, Nietzsche als Projektionswand der eigenen Philosophie zu benützen." (Ebd., 237 f.) 4 Ebd., 254. 5 Karl Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin 1981, 314 A. 1. 1

Guido Rappe

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Ergebnissen kamen. Insbesondere Schipperges griff Jaspers und Habermas stark an,6 bemerkte allerdings selber zu Nietzsches Verständnis vom Leib: ,„Leib' meint lediglich eine Perspektive und von verborgenen Antinomien, die das Gesamtwerk spannen, durchleuchten, erhellen auch verzerren."7 Dem kann man sich anschließen, doch weitere Ausführungen oder Aufarbeitungen der verzerrenden Antinomien unterließ Schipperges. Ähnlich sprach auch Grätzel zwar von der „euphorischen und verworrenen Darstellung" Nietzsches, die „keinen leichten Zugang zu seinen Gedanken" bietet,8 erklärte dann aber, daß Nietzsche trotz eines gewissen ,,Mangel[s] an wissenschaftlichen und inhaltlichen Kenntnissen des Leibes"9als derjenige angesehen werden könne, der „die fundierteste Theorie einer leiblichen Vernunft geschrieben hat".10 Und, so wirft er gleichsam den Fehdehandschuh allen Bestrebungen des 20. Jahrhunderts zu: „Was unabhängig von Nietzsche philosophisch zum Leib geschrieben wurde, erreicht diesen Höhepunkt nicht mehr [...]."" Damit ist die Arena der philosophischen Auseinandersetzung abgesteckt. Es sollen nun die einzelnen Stimmen zum Problem Leib ausgiebig zu Wort kommen. Als wichtigster Vertreter seiner provokativen Leibphilosophie muß natürlich Nietzsche selber gehört werden, beispielsweise wenn er in der bekannten Vorrede zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft bemerkt: „Die unbewusste Verkleidung physiologischer Bedürfhisse unter die Mäntel des Objektiven, Ideellen, Rein-Geistigen geht bis zum Erschrecken weit, und oft genug habe ich mich gefragt, ob nicht, im Grossen gerechnet, Philosophie bisher überhaupt nur eine Auslegung des Leibes und ein Missverständnis des Leibes gewesen ist." (KSA 3, 348) Das ist der Nietzsche, wie man ihn kennt, auftrumpfend, kritisch, mit einem Schlag die ganze Philosophie angreifend. Und durchaus treffend denn gefragt werden darf dies, ja sollte es immer wieder! Seine provokante Formulierung legt, indem er seine Zweifel an den bisherigen Interpretationen des Leibes in der Philosophie ausspricht, mit der für ihn typischen intuitiven Zielsicherheit gleichsam den Finger auf die Wunde der verdrängten Leiblichkeit, die bis heute nicht verheilt ist, sondern immer noch eine Behandlung von jenem „philosophischen Arzt" als wünschenswert erscheinen läßt, auf den Nietzsche wartete, und in dessen Rolle er sich selber sah. Neben seiner These von der Philosophie als „Transfiguration" eines leiblichen Zustandes in „geistige Form und Feme" ist eine weitere Erkenntnis wichtig, die er -

-

-

direkt im Anschluß

formulierte, als er schrieb:

„Es steht uns Philosophen nicht frei, zwischen Seele und Leib zu trennen, wie das Volk trennt, es steht uns noch weniger frei, zwischen Seele und Geist zu trennen. Wir sind keine Schipperges: „Habermas versucht viel zu einseitig, ,die methodische Zweideutigkeit der quasi-biologischen Sprache zu explizieren', und lastet Nietzsche den vergeblichen Versuch an, nur einen Ausweg ,im grandiosen Subjektivismus seiner Lehre vom Willen zur Macht' gesucht zu haben." (Heinrich Schipperges, Am Leitfaden des Leibes, Stuttgart 1975,154) Schipperges versuchte gegen ihn und Jaspers anzugehen, indem er sich gegen ein metaphorisches oder symbolisches Verständnis des Leibes aussprach (ebd., 210). Doch: „Was ist also Wahrheit?" fragt Nietzsche selber, und die Antwort ist nur allzu bekannt: „Ein bewegliches Heer von Metaphern (Metonymien, Anthropomorphismen, Illusionen)" (KSA 1, 880/WLS; vgl. 883).

6 Heinrich

7 Heinrich Schipperges, Am Leitfaden des Leibes, 10. 8 Stephan Grätzel, Die philosophische Entdeckung des Leibes, Stuttgart 1989, 164. 9 Ebd., 164 f. 10 Ebd., 165. 11 Ebd., 16. Berechtigt ist hier Grätzels Kritik an der Begrifflichkeit von Leib und Seele mit „stillschweigend anerkannter Vorrangstellung" der Seele und sein Hinweis, daß Nietzsche Seele und Geist kritisch behandelte und ihnen den Leib gegenüberstellte (ebd., 16 A. 5).

Nietzsche und der Leib

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denkenden Frösche, keine Objektivir- und Registrir-Apparate mit kalt gestellten Eingeweiden, wir müssen beständig unsre Gedanken aus unserem Schmerz gebären und mütterlich ihnen alles mitgeben, was wir von Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual, Gewissen, Schicksal, Verhängnis in uns haben." (KSA 3, 349)12 -

Die hier zum Ausdruck kommende Sicht einer Kontinuität von leiblichen Erfahrungen und gedanklicher Produktion, die von diesen angeregt und gegängelt wird, widerspricht dem anthropologischen Dualismus von Körper und Seele. Der Mensch kann nicht einfach zerlegt und einerseits zum Apparat reduziert, andererseits zum „rein Geistigen" stilisiert werden, ohne daß dabei der Zusammenhang von Philosophie und Leben, von Leib und Person verlorengeht und zu jenen Formen des Denkens und der allgemeinen kulturellen Situation führt, gegen die Nietzsche Zeit seines Lebens gekämpft hat. Um sich also dem Problemfeld „Nietzsche und der Leib" zu nähern und es genauer in den Blick zu bekommen, soll nun zunächst auf frühgriechische Auffassungen des Leibes bis Piaton eingegangen werden, so daß die geschichtlichen Auslöser des von Nietzsche angegriffenen menschlichen Selbstverständnisses deutlich werden. Dies ist unter den im Titel angedeuteten historischen Perspektiven zu verstehen. Um dann zu demonstrieren, wie aktuell das Problem „Leib" ist, folgt ein grober Überblick über die bisherige Erforschung des Leibes aus phänomenologischer Sicht, welcher gleichzeitig dazu dient, in kritischer Absetzung von Nietzsche und seinen Verteidigern den Leibbegriff klarer zu fassen. Das ist mit den aktuellen Perspektiven gemeint. Anschließend wird Nietzsches eigenes Verhältnis zu seinem Leib besprochen. Der Schluß faßt die Ergebnisse

zusammen.

Körper-Seele Problem in der frühgriechischen Philosophie bis Piaton Das

Bezüglich der hier zu besprechenden Leibproblematik sind zwei Konzeptionen der griechischen Philosophie besonders wichtig, nämlich erstens die Entstehung des naturwissenschaftlichen Ansatzes bei Demokrit und zweitens die Einführung des anthropologischontologischen Dualismus durch Piaton. Mit Demokrit hielt der radikale Reduktionismus der Naturwissenschaften Einzug in das philosophische Denken, nämlich die Vorstellungen des nicht mehr teilbaren Teilchen, den Atomen, zusammengesetzten Körpers, also dem Leitbild, das im weitesten Sinne auch der Physiologie zu Grunde liegt. Piaton initiierte die Lehre von der Gegenüberstellung einer unsterblichen, superioren Seele und einem sterblichen, aus

inferioren Körper, die einer Spaltung der Welt in ein Reich der unwandelbaren Ideen und ein Reich des Werdens entsprach. Vor Demokrit und Piaton herrschte ein anderes, wesentlich stärker am leiblichen Spüren orientiertes Selbst- und Weltverständnis. Dem Menschen Homers war sein Leib ein Gliederhaufen, melea genannt, ebenso unzentriert und semiautonom wie die leiblichen Zentren thumos und phrenes, die teilweise rationale Funktionen besaßen. Gefühle kamen über ihn als ergreifende Mächte, trieben ihn an, gingen mit ihm durch und verblendeten ihn so, daß er sich 12 Zur

Wertschätzung leiblichen Erlebens vgl.

a.

KSA 2, 542.

Guido Rappe

138

Spielball der Götter empfand. Die Seele, psyche, war einerseits lebendige, leibliche Kraft, andererseits, nach dem Tod, ein Schattenwesen, das im Hades, einer dunklen Unterwelt, als

existierte. Das Wort für Körper, soma, bezeichnete bei ihm wahrscheinlich nur den Leichnam und wurde erst später zum Ausdruck für den lebendigen Leib. Mit Anaximander und Anaximenes begann der Entmythologisierungs- und Rationalisierungsprozeß, der normalerweise mit dem Begriff der frühgriechischen Philosophie verbunden wird. Vom damaligen Menschen schrieb Nietzsche:

„Er stellt jetzt sein Handeln als vernünftiges Wesen unter die Herrschaft der Abstraction: er leidet es nicht mehr, durch die plötzlichen Eindrücke, durch die Anschauungen fortgerissen zu werden, er verallgemeinert alle diese Eindrücke erst zu entfärbten, kühleren Begriffen, um an sie das Fahrzeug seines Lebens und Handelns anzuknüpfen." (KSA 1,

881)

Bei Anaximenes sind diese Prozesse erst noch in den Anfangen. Er entwickelte ein dynamistisches Verständnis von Mensch und Welt, die Konzeption eines Weltstoffs, aer, der durch Verdichtung und Erschlaffung die Dinge hervorbringt. Bei Heraklit schlug der Dynamismus gleichsam um, die Gegensätze verschärften sich, und die lebendige Kraft der psyche bekam eine qualitative Dimension, die mit „trocken" für die Besten und „feucht" für die schlechteren Seelen beschrieben wurde (Fr. B 118). Bei Parmenides und Empedokles spielte die Seele kaum eine Rolle. Zu stark wurde die Philosophie des Parmenides von einer ekstatischen Leiberfahrung geprägt, die manche Forscher ganz im Gegensatz zu Nietzsche selber in die Nähe von Nietzsches Zarathustra, aber auch Buddhas Erleuchtung rückten.13 Bei Empedokles tauchte statt der psyche als wesentliche Instanz der daimon auf, die Vorstellung eines Gestaltenwandlers, der sich über große Zeiträume hinweg wie ein roter, mnemotechnischer Faden durch verschiedene Zustände hindurchzieht. Ohne hier weiter auf diese faszinierenden Konzepte eingehen zu können, sei nur betont, daß sie in klarem Kontrast zu der Sicht eines Demokrit oder Piaton stehen. Bei Demokrit bestehen Seele und Körper aus unteilbaren Teilen. Dadurch sind beide vergänglich und lösen sich nach dem Tod auf. Mit dieser Demokritischen Reduktion der Welt auf Teilchen und Strukturen, die meßbar und objektiv-methodisch erfaßbar sind, gingen mit „eisiger Konsequenz" und „rücksichtsloser Reduktion", wie Hans-Georg Gadamer charakterisierte, „alle qualitativen Gegebenheiten", aller Glanz, alle Vielfalt und alle Nuancen der vordemokritischen Zeit zugunsten naturwissenschaftlichen Denkens verloren.14 Ähnliches hatte Nietzsche erkannt, denn er schrieb, daß Demokrit, „als er sein Atom erfand", der Verführung durch den Seins-Begriff unterlag. Gemeint ist der Seins-Begriff, den Nietzsche als untergeschobene -

-

13

14

Vgl. dazu Guido Rappe, Archaische Leiberfahrung. Der Leib in der frühgriechischen Philosophie und in außereuropäischen Kulturen, Berlin 1995,142 A. 258. Nietzsche vertrat eine entgegengesetzte Interpretation des

Parmenides, denn für ihn hatte dieser wahrscheinlich im „höheren Alter" „einmal einen Moment der allerreinsten, durch jede Wirklichkeit ungetrübten und völlig blutlosen Abstraktion gehabt" (KSA 1, 836). Bis heute ist die Parmenidesinterpretation diesbezüglich gespalten. Dazu Guido Rappe (ebd., 137 ff). Hans-Georg Gadamer, „Antike Atomtheorie", in: Hans-Georg Gadamer (Hg.), Um die Begriffswelt der Vorsokratiker, Darmstadt 1986, 519 u. 524.

Nietzsche und der Leib

139

Projektion und als „grobes Fetischwesen" brandmarkte (KSA 6, 77 f.; vgl. a. KSA 6, 91)15 Hier kommt klar jene Kritik an der naturwissenschaftlichen Vergegenständlichungsweise zum Ausdruck, die Nietzsches ganzes Werk durchzieht. Der Körper wurde bei Demokrit aber noch keinesfalls dermaßen abgewertet wie bei Piaton. Im Gegenteil, bei Demokrit kann er sogar einen Prozeß gegen die Seele anstrengen und sie wegen schlechter Behandlung verklagen (Fr. B 159). So etwas wäre für Piaton undenkbar. Da sind die Karten eindeutig verteilt, und der Körper hat die schlechten. Nur die Seele ist rein und unsterblich, der Körper verunreinigt sie. Deshalb muß er unterworfen und geknechtet werden. Und selbst in der Seele gibt es noch hierarchische Verhältnisse. In der Anthropologie des Timaios wird der untere Seelenteil durch ein am Ende angebundenes eigenmächtiges Tier vertreten, nämlich die Sexualität (91b). Die Mitte, der Bereich um das Herz, wo der Mut und die Gefühle sitzen, wird einerseits physiologisch als Wärmequelle interpretiert, andererseits ist es nun eine Wachstube und Vermittlungsstation zum oberen Teil hin (70d), dem Kopf, in dessen Burg oder Akropolis der losgelöste, nur noch eine Gastrolle spielende noos, das Denken und Erkennen, herrscht (90c). Mit dieser Konstruktion des Denkens als unsterblichem Götterfunken im Kopf waren die entscheidenden Schritte hin zu jener Hypostasierung von Rationalität getan, die Nietzsche kritisierte, als er die „kleine Vernunft" gegen die „große" des Leibes ausspielte. Die kleine Vernunft entsteht, wo sie als unsterblich suggeriert und in den Kopf gesetzt wird, wobei die Trennung vom Körper sowie die Verdrängung sexueller Bedürfnisse jene Verfahren darstellen, die von Piaton bewußt in den Dienst dieses Programms zur Ermächtigung des Leibes gestellt wurden. Schon in der Geburt der Tragödie sprach Nietzsche von dem „populären und gänzlich falschen Gegensatz von Seele und Körper" und dessen „philosophischer Roheit" (KSA 1, 129). Mehrfach wandte er sich gegen die „Seelen-Atomistik", Jenen Glauben" an „die Seele als etwas Unvertilgbares, Ewiges, Untheilbares, als eine Monade, als ein Atom".16 Diesen Glauben, so Nietzsche, „soll man aus der Wissenschaft hinausschaffen!" (KSA 5, 27) Und,

im Zarathustra den „Erwachten" und „Wissenden" sagen: „Leib bin ich ganz und ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe." (KSA 4, 39) wollte er dann doch nicht ganz konsequent auf den Seelenbegriff verzichten,17 wie Allerdings das erst mit Heidegger und der neueren Phänomenologie auch bei Husserl treibt er noch sein Unwesen getan wurde. Nietzsches Kritik richtete sich immer wieder gegen „Plato's Erfindung vom reinen Geiste und vom Guten an sich". Diese war für ihn „der schlimmste, so

läßt

er

gar, und nichts

-

-

a.. „Und selbst noch Ihr Atom, meine Herren Mechanisten und Physiker, wie viel Irrthum, wie viel rudimentäre Psychologie ist noch in Ihrem Atom rückständig!" (KSA 6, 91) Und: „Wir operieren mit lauter Dingen, die es nicht gibt, mit Linien, Flächen, Körpern, Atomen, theilbaren Zeiten, theilbaren Räumen" (KSA 3, 473,112; vgl. a. KSA 3,477). Zu einer Stelle, wo Nietzsche vom „Klümpchen-Atom" als dem ,,größte[n] Triumph über die Sinne, der bisher auf Erden errungen worden ist", spricht, s. Heinrich Schipperges, Am Leitfaden des Leibes, 40. 16 Vgl. a.: Ecce homo: „Der Begriff, Seele', .Geist', zuletzt gar noch .unsterbliche Seele', erfunden, um den Leib zu verachten, um ihn krank .heilig' zu machen, um allen Dingen, die Ernst im Leben verdienen, den Fragen von Nahrung, Wohnung, geistiger Diät, Krankenbehandlung, Reinlichkeit, Wetter, einen schauerlichen Leichtsinn entgegenzubringen!" (KSA 6, 374) Statt um die Gesundheit des Leibes hätte man sich um das „Heil der Seele" gekümmert (KSA 6, 374). Zum „Seelen-Aberglaube, der als Subjekt- und Ich-Aberglaube auch heute noch nicht aufgehört hat, Unfug zu stiften", s. KSA 5,11. 17 Friedrich Nietzsche: „Es ist [...] ganz und gar nicht nöthig, .die Seele' selbst dabei los zu werden [...] Begriffe wie .sterbliche Seele' und .Seele als Subjekts-Vielheit' und ,Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte' wollen fürderhin in der Wissenschaft Bürgerrecht haben." (KSA 5, 27)

15

Vgl.

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-

Guido Rappe

140

langwierigste und gefährlichste aller Irrthümer" eines Dogmatikers (KSA 5, 12).18 Unter dem Titel „Das Vorurtheil vom ,reinen Geiste'" schrieb er in der Morgenröthe: „Überall, wo die Lehre von der reinen Geistigkeit geherrscht hat, hat sie mit ihren Ausschweifungen die Nervenkraft zerstört: sie lehrte den Körper geringschätzen, vernachlässigen oder quälen, und um aller seiner Triebe willen den Menschen selber quälen und geringschätzen" (KSA 3, 46). Schließlich kam er zu dem abschließenden Urteil: „Plato ist langweilig. Zuletzt geht mein Misstrauen bei Plato in die Tiefe: ich finde ihn so abgeirrt von allen Grundinstinkten der Hellenen, so vermoralisirt, so präexistentchristlich, [...] daß ich von dem ganzen Phänomen Plato eher das harte Wort ,höherer Schwindel' oder, wenn man's lieber hört, Idealismus als irgend ein andres gebrauchen möchte. [...] Plato ist ein Feigling vor der Realität, -folglich flüchtet er in's Ideal" (KSA 6, 155 f.). -

-

nur sehr kurze und skizzenhafte Überblick zur werden. Zur historischen Perspektive läßt sich noch griechischen Philosophie abgeschlossen anmerken, daß dann christliches Gedankengut in der platonischen Sicht die ideologische Basis fand, um auch weiter zugunsten eines Denkens, das sich um Reinheit und göttliche Nähe bemühte, Sexualität und Leiblichkeit zu verdrängen und zu verknechten." Uns die Augen dafür geöffnet zu haben, wie erfolgreich diese Entwicklung verlief und welche Perversionen sie hervorrief, ist ein Verdienst Nietzsches, für den „das Christenthum, das den Leib verachtete", „bisher das grösste Unglück der Menschheit" war (KSA 6, 137), nämlich „ein Wille über Europa", der „durch achtzehn Jahrhunderte geherrscht hat" um, wie es scheint, „aus dem Menschen eine sublime Missgeburt zu machen" (KSA 5, 83).

Mit diesen Worten Nietzsches soll dieser

Aktuelle Perspektiven Nietzsches Bemerkungen fallen in eine Zeit, wo man begann, sich dem Problem „Leib" immer mehr zu nähern und dieses zu erforschen. Stephan Grätzel hat gezeigt, daß der Leib zwar schon vorher immer wieder diskutiert wurde, daß aber erst Nietzsche mit den bisher bestehenden Auffassungen radikal brach. Allerdings und hier sehe ich im Unterschied zu Grätzel das wesentliche Problem in Nietzsches Aussagen zum Leib -, blieb seine Sicht stark physiologisch geprägt, und ein klarer Unterschied zwischen Leib und Körper ist bei ihm nicht auszumachen. Die von Grätzel nur in einer Art Ausblick behandelte phänomenologische Erforschung des Leibes setzte kurz nach Nietzsche ein. Mit Edmund Husserl rückte der für die ganze weitere -

„Es hiess allerdings die Wahrheit auf den Kopf stellen und das Perspektivische, die Grundbedingung alles Lebens, selber verleugnen, so vom Geiste und vom Guten zu reden, wie Plato gethan hat" (KSA 5,12). Gegen Piaton vgl. a. KSA 5, 28. Zu Sokrates als „Mystagogen der Wissenschaft" s. KSA 1, 99, und als „Urbild und Stammvater" des „theoretischen Menschen" (s. KSA 1, 116). Zu Plato als „das größte Malheur Europas" s. den Brief an Overbeck vom 7. Januar 1887 (KSA 15, 163). 19 Nietzsche: „Erst das Christenthum [...] hat aus der Geschlechtlichkeit etwas Unreines gemacht: es v/arfKoth auf den Anfang, auf die Voraussetzung unseres Lebens ..." (KSA 6,160; vgl. a. KSA 6, 188 u. KSA 6,307) S. a. zur christlichen „Heiligkeit" die Sicht als „eine Symptomen-Reihe des verarmten, entnervten, unheilbar verdorbenen Leibes" (KSA 6, 231). 18 Nietzsche:

Nietzsche und der Leib

141

Diskussion zentrale Unterschied zwischen Leib und Körper ins Blickfeld philosophischer Bettachtungen.20 Husserls Konzept ist unter anderem insofern bedeutend, da es nicht auf naturwissenschaftlichen Methoden beruht, sondern einen direkten Zugang zu den Dingen und Sachverhalten, den Phänomenen zu versprechen scheint. Wie weit dies letztlich gelungen ist, soll hier nicht diskutiert werden. In seiner ÄWsis-Schrift, in der er sich gegen die reduktionistischen Verfahren der Naturwissenschaften wandte, schrieb Husserl: „So sind rein wahrnehmungsmäßig Körper und Leib wesentlich unterschieden; Leib nämlich als der einzig wirklich wahrnehmungsmäßige Leib, mein Leib."21 Mit dieser Erkenntnis, die dem objektivierten Körper, also dem physikalisch-physiologischen Substrat, den subjektiv erfahrbaren Leib gegenüberstellt, wurde eine für die Phänomenologie und das moderne Leibverständnis zentrale Weichenstellung vorgenommen. Da der Schwerpunkt des Husserlschen Denkens aber auf der „Geistigkeit" lag, konnte sich eine klare Leibphilosophie bei ihm nicht voll entfalten.22 Außerdem droht durch die fast einseitige Betrachtung des Leibes vom Willens- und Wahrnehmungsspielraum des Ichs her, wie sie bei Husserl z. B. in der Rede vom Leib als „fungierendem Organ" der „kinästhetischen" Möglichkeiten des Ichs zum Ausdruck kommt,23 der von Nietzsche oben angesprochene Verdacht, daß die meisten philosophischen Auslegungen auf einem Mißverständnis des Leibes beruhen, an provokativer Schärfe zu verlieren, denn für Nietzsche ging es ja um die Wirkung vom Leib auf das Bewußtsein und nicht umgekehrt. In diesem Sinne sprach Nietzsche vom Leib als „grosser Vernunft" (KSA 4, 39) und, so führte er aus: „Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du ,Geist' nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft." (KSA 4, 39) Nicht der Leib ist also „fungierendes Organ" eines Ichs, sondern genau umgekehrt. Damit wandte sich Nietzsche natürlich nicht gegen den zeitlich späteren Husserl, sondern gegen Auffassungen, wie sie beispielsweise Georg Friedrich Hegel vertrat, als er bemerkte: „Die Eingeweide und Organe werden in der Physiologie als Momente nur des animalischen Organismus betrachtet, aber sie bilden zugleich ein System der Verleiblichung des Geistigen und erhalten hierdurch noch eine ganz andere Deutung."24

20 Edmund Husserl, Cartesische Meditationen, Haag 1973, 128, 140. 21 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die Transzendentale Phänomenologie, Haag 1976, 109. 22 Zur Kritik an Husserl siehe auch Stephan Grätzel, Die philosophische Entdeckung des Leibes, 195 u. a. 229 f. und zur „Verlegenheit aller reinen Bewußtseinsphilosophie" bei Husserl siehe auch Bernhard Waldenfels, „Das Problem der Leiblichkeit bei Merleau-Ponty", in: Philosophisches Jahrbuch, im Auftrag der Görres-Gesellschaft hg. v. M. Müller, 1967 f., 352 u. 358. Zum Problem der Selbsterfahrung bei Husserl siehe auch Richard Schmitt, On Knowing One's Body", in: Analecta Husserliana. The Yearbook ofPhenomenologicalResearch, Vol. I, Dordrecht 1972, 156 f. 23 Dazu Edmund Husserl, Cartesische Meditationen, 128, 140, 146, 152. Husserl sprach auch „von meinem orginal erfahrenen Walten", das er als der „einzig orginalen Erfahrung der Leiblichkeit als solcher" bezeichnete (Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 221 ) Vgl. a.: „Wie sehr der menschliche Leib auch zu den Körpern zählt, er ist doch ,Leib' ,mein Körper', den ich .bewege', in dem und durch den ich .walte', den ich ,beseele'." (ebd., 216) Und: „Was Leiblichkeit eigenwesentlich ausmacht, erfahre ich nur an meinem Leib, nämlich an meinem ständig und einzig in diesem Körper unmittelbar Walten. Nur er ist ursprünglich sinnhaft mir gegeben als .Organ', und als gegliedert in Teilorgane; ein jedes seiner Leibesglieder hat das Eigene, daß ich in ihm in Sonderheit unmittelbar walten kann [...]" (ebd., 220). 24 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Hamburg 1975, 328. -

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Bei Hegel verleiblicht sich der Geist, bei Nietzsche wird er verleiblicht, denn, so Nietzsche: „Der schaffende Leib schuf sich den Geist als eine Hand seines Willens." (KSA 4, 40)25 Auch an anderen Stellen bemerkte Nietzsche, daß man noch „den grössten Theil des bewussten Denkens unter die Instinkt-Thätigkeiten rechnen" müsse, und dies sogar „im Falle des philosophischen Denkens" (KSA 5, 17). Provozierend und klar ausgedrückt: „Es ist mehr Vernunft in deinem Leib, als in deiner besten Weisheit." (KSA 4, 40) Eine solche Hochschätzung des Leibes läßt sich weder bei Hegel noch bei Husserl finden. Statt dessen aber Aussagen wie folgende von Husserl: „Daß wir in unserer jeweiligen Umwelt leben, der all unser Sorgen und Mühen gilt, bezeichnet eine rein in der Geistigkeit sich abspielende Tatsache. Unsere Umwelt ist ein geistiges Gebilde in uns und unserem historischen Leben."26 Damit würde Nietzsche wohl kaum übereinstimmen. Einigkeit zwischen beiden könnte aber bezüglich einer kritischen Distanz zu den Naturwissenschaften bestehen, denn Nietzsche stand ihnen wie schon bei der Besprechung Demokrits gezeigt wurde mindestens so kritisch gegenüber, wie Husserl. So betonte Nietzsche beispielsweise, „dass es immer noch ein metaphysischer Glaube ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht" (KSA 3, 577), und Husserl sprach später vergleichbar vom „Aberglauben der Tatsachen". Nietzsche meinte, die „materialistischen Naturforscher" heftigst attackierend, weiter: „Dass allein eine WeltInterpretation im Rechte sei, bei der ihr zu Rechte besteht, bei der wissenschaftlich in eurem Sinne (- ihr meint eigentlich mechanistisch!) geforscht und fortgearbeitet werden kann, eine solche, die Zählen, Rechnen, Wägen, Sehn und Greifen und nichts weiter zulässt, das ist eine Plumpheit und Naivetät, gesetzt, dass es keine Geisteskrankheit, kein Idiotismus ist." (KSA -

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3, 625) Nun, das sind starke Worte.27 Und Nietzsche wäre nicht Nietzsche, wenn sich nicht auch

gegenteilige Einschätzungen bei ihm finden ließen. Trotz seines Angriffs auf die Naturforscher sprach er dann nämlich von der „verehrungswürdigen Kühnheit" des Descartes, der den Gedanken gewagt habe, „das Thier als machina zu verstehn", und so fährt er fort: „unsere ganze Physiologie bemüht sich um den Beweis dieses Satzes". Und diese Physiologie benutzte er dann wieder direkt gegen Descartes und dessen Ich-Auffassung, denn, so Nietzsche: „was überhaupt heute vom Menschen begriffen ist, geht genau so weit als er

25 Zum „Selbst" als „Gängelband des Ich's" und als „Einbläser seiner Begriffe" s. KSA 4,40. Dies eingewandt gegen die „Verächter des Leibes" (KSA 4, 40 f.) Zum Verhältnis von Geist und Leib s. a. KSA 4, 98 f., 163. 26 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 317. 27 Zur Kritik an der Begriffsbildung und der Entstehung von Wissenschaft s. a. die Rede von der „Herrschaft der Abstractionen" (KSA 1, 881). Vgl. auch Habermas (in: Friedrich Nietzsche, Erkenntnistheoretische Schriften, 248). Husserl hatte sich da etwas genauer ausgedrückt: „Die Naturwissenschaften haben uns die aktuelle Wirklichkeit, die Wirklichkeit, in der wir leben, weben und sind, nicht enträtselt, an keinem einzigen Punkte. Der allgemeine Glaube, daß dies zu leisten ihre Funktion und sie nur noch nicht genug weit seien, die Meinung, daß sie dies prinzipiell leisten können, hat sich Tieferblickenden als ein Aberglaube enthüllt. Die notwendige Sonderung zwischen Naturwissenschaft und Philosophie als prinzipiell anders tendierter, obschon auf Naturwissenschaft in einigen Gebieten wesentlich bezogener Wissenschaft- ist auf dem Weg sich durchzusetzen und zu klären." (Edmund Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, Frankfurt a.M. 1981, 65) Auf diesem Weg ist sie mit mehr oder weniger Erfolg bis heute. -

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Nietzsche und der Leib

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machinal begriffen ist." (KSA 6, 180)28 Es gibt durchaus auch noch andere Stellen, wo er vom Leib als „Maschine" spricht (KSA 3, 81 ; s. auch KSA 6, 116).29 Doch diese physiologische Position ist äußerst problematisch und wird auch nicht stringent durchgehalten. Schipperges, der von „physiologisch" als einem „Lieblingswort" und „Kernbegriff Nietzsches „bis in die Fragmente des Nachlasses hinein" sprach,30 gab aber auch folgende Stelle wieder, an der Nietzsche bemerkte: „Wie verschieden ist der Leib, wie wir ihn empfinden, sehen, fühlen, fürchten, bewundern, und ,der Leib', wie ihn der Anatom uns lehrt!"31 Hier wird genau der Unterschied zwischen Leib und Körper klar erkannt und thematisiert, der für die spätere phänomenologische Forschung so wichtig werden sollte! Schipperges kommt dann auch zu dem Resultat: „Keineswegs haben wir es bei dieser unbekannten Welt des Leibes mit jenen Fakten zu tun, mit denen die Naturwissenschaft allein '

zu

operieren vermag."32

Doch sollte man dann nicht besser auf die Physiologie verzichten? Hier würde Grätzel kaum zustimmen, denn zur Physiologie als „adäquatem Ausdrucksmittel der Philosophie des Leibes" bei Nietzsche schrieb er: „Die Physiologie beschreibt somit positiv das Selbstbewußtsein des Leibes. Hierbei kann sich die große Vernunft selbst erfassen. Die auf diese Art und Weise sich erfassende Leiblichkeit ist Wissen, alle anderen Formen von Gewißheit sind nur Schattierungen einer den Leib mißachtenden oder verachtenden Bettachtungsweise."33 Nur die Physiologie soll Wissen sein? Gerade sie soll das Selbstbewußtsein des Leibes beschreiben?34 Und mein mir ureigenstes Wissen von mir als Leib, als leibhafter Person, soll ich mir erst von der Physiologie bestätigen lassen, weil ich sonst einer den Leib „mißachtenden oder verachtenden Betrachtungsweise" erliege? Ist denn nicht gerade umgekehrt die Physiologie als Naturwissenschaft eine Sicht, die den Leib zum Körper degradiert und mit eisiger Konsequenz die Nuancen des subjektiven leiblichen Erlebens wegreduziert? Ich stimme zwar Grätzel zu, wenn er als Nietzsches Motiv bei dem Bezug auf die physiologischen Ergebnisse seiner Zeit angibt, „daß diese bestätigte[n], was spekulativ und intuitiv für Nietzsche schon deutlich geworden war". Nietzsche mochte in der Physiologie durchaus Ansätze sehen, seinen philosophischen Feinden einen rhetorischen Hieb zu versetzen und sie gegen die harten Naturwissenschaften auszuspielen. Solche Effekte liebte er. Doch es bleibt 28 Die eigentliche Pointe bzw. die Stoßrichtung seines Angriffs kommt dann am Schluß des Abschnitts: „Der,reine Geist' ist eine reine Dummheit: rechnen wir das Nervensystem und die Sinne ab, die .sterbliche Hülle', so verrechnen wir uns- weiter nichts! ..."(KSA 6, 181) 29 Ich kann Grätzel also nicht zustimmen, wenn er spätere Philosophen dahingehend einschätzt, zwar „einen ähnlichen Ansatzpunkt" zu haben, Jedoch ohne die Einheitlichkeit", die Grätzel bei Nietzsche sah. Diese Denker aus Medizin, Psychologie und Biologie hätten, so Grätzel, „das von Nietzsche erreichte Reflexionsniveau in dem Maße nicht erreicht". Angesichts der gerade von mir angeführten Stellen ist die folgende Begründung Grätzels kaum noch nachvollziehbar: „Nietzsche hat diesen empirischen Ansätzen diesen Punkt voraus, daß seine Konzeption den Leib nie als leeres Etwas, als Maschine oder belebtes Ding zugrundegelegt hat." (Stephan Grätzel, Die philosophische Entdeckung des Leibes, 164) Auch in Briefen taucht immer wieder das Bild vom Leib als Maschine auf (vgl. Werner Ross, Der ängstliche Adler, München 1994, 428 u. 576). 30 Heinrich Schipperges, Am Leitfaden des Leibes, 22. 31 Zitiert bei Schipperges (ebd., 24 f.) m. B. auf die Gesamtausgabe in Großoktav, Bd. II, 23; Leipzig, C. G Naumann. Von mir allerdings nicht eingesehen. 32 Heinrich Schipperges, Am Leitfaden des Leibes, 25. 33 Stephan Grätzel, Die philosophische Entdeckung des Leibes, 126. 34 Wenn Grätzel schreibt, die „physiologische Betrachtung am Leitfaden des Leibes" stellt „die Unschuld des Bewußtseins, die Unschuld der Dinge wieder her" (ebd., 137), so kann ich dem nicht zustimmen, sondern muß fragen, wie sollte sie das als eine durch Reduktion charakterisierte Naturwissenschaft?

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bei ihm der nicht terminologisch aufgelöste Widerspruch zwischen dem erlebten Leib mit all dem „Blut, Herz, Feuer", all der „Lust, Leidenschaft, Qual" und dem „Gewissen, Schicksal, Verhängniss", die wir „in uns haben", und dem Körper der Physiologie, der auf einer Beschreibungsform und Vergegenständlichungsweise beruht, der Nietzsche „Plumpheit und Naivetät" unterstellt, „gesetzt, dass es keine Geisteskrankheit, kein Idiotismus ist". Eine kritische Haltung den naturwissenschaftlichen Erfassungsversuchen menschlicher Leiblichkeit und der damit unablösbar verbundenen Subjektivität läßt sich dann als eine Art roter Faden der phänomenologischen Bewegung aufzeigen. Husserl hatte, wie erwähnt, schon hervorgehoben, daß die „bloße Körperwissenschaft" gemeint sind die Naturwissenschaften „von allem Subjektiven" abstrahiert,35 und trotz der radikalen Wende und neuen Richtung, die in der Phänomenologie dann von Martin Heidegger initiiert wurde, findet sich die grundsätzliche Unterscheidung zwischen objektivem Körper und dem je mein seienden subjektiven Leib auch bei ihm,36 denn, so warnte er, man dürfe „unser existentielles Leiblichsein nicht mit der Körperhaftigkeit eines leblosen, bloß vorhandenen Gegenstandes -

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verwechseln".37

Herrscht auch soweit Einigkeit zwischen Husserl und Heidegger, so geht diese aber nicht viel weiter. Auch wäre es eine Übertreibung, wollte man Heidegger oder Husserl als ausgesprochene Leibphilosophen bezeichnen.38 Diese Charakterisierung trifft stärker auf den durch beide angeregten Maurice Merleau-Ponty zu, dem bisher anerkanntesten Vertreter einer Philosophie des Leibes.39 Mit seinem Begriff des „objektiven Körperfs]" der „physiologischen Lehrbücher", den er dem „ursprünglichen Phänomen" Leib gegenüberstellte, betonte auch er den Unterschied zwischen naturwissenschaftlicher Vorstellung für ihn „ein verarmtes Gebilde" und dem Leib „menschlicher Erfahrung" oder dem „Wahrnehmungsleib".40 Zum Problem der physiologischen Erfassung schrieb er: -

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„Das Empfinden, also abgelöst von Affektivität und Motorik, wurde zur bloßen Rezeption

einer Qualität, und die Physiologie glaubte, die Projektion der Außenwelt ins Innere eines lebenden Wesens vom Empfänger bis in die Nervenzentren verfolgen zu können. Der also entstellte lebendige Leib war nicht mehr mein Leib, sichtbarer Ausdruck eines konkreten Ich, sondern nur mehr Gegenstand unter anderen."41

35 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 4. 36 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, hg. v. Medard Boss, Frankfurt a.M. 1987, 113. 37 Ebd., 294. 38 Zur Kritik an Heideggers Nietzsche-Interpretation s. Stephan Grätzel, Die philosophische Entdeckung des Leibes, 159 Wenn er aber Heideggers Verständnis unterstellt, das „Sichfühlen" sei „im Grunde das Sichwissen des Cogito", so geht er damit wohl etwas zu weit. 39 Stephan Grätzel (m. B. auf Charles Taylor): „Merleau-Ponty ordnet sich damit in die Reihe der Entdecker einer leiblichen Vernunft ein und kann als der bisher bedeutendste Philosophie-Vertreter in diesem Jahrhundert angesehen werden." (Stephan Grätzel, Die philosophische Entdeckung des Leibes, 203) 40 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, übers, v. R. Boehm, Berlin 1966,402. Den Unterschied zwischen „corps vivant, phénoménal, fonctionel" und „corps objectif oder „physical" faßte Bernhard Waidenfels in der deutschen Sprache mit „Leib" und „Körper" (oder in der Terminologie Husserls) als „fungierender Leib" und „Körperding" (Bernhard Waidenfels, „Das Problem der Leiblichkeit bei Merleau-Ponty", 353). 41 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 79. Waidenfels: „Der Leib ist also immer mein oder dein Leib, einem unmittelbaren Erleben und Miterleben zugänglich, der Körper ist ein Körper, einer äußeren Beobachtung und Behandlung sich darbietend." (Bernhard Waldenfels, „Das Problem der Leiblichkeit bei Merleau-Ponty", 354 f.)

Nietzsche und der Leib

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Dem schloß sich die Forschung allgemein an. So bemerkte auch Plügge aus ärztlicher Sicht: „Danach ist er Körper so wie ihn die klassischen Physiologen und Biologen sehen ein morphologisch determiniertes und reguliertes Funktionssubstrat".42 Durch diese Betrachtungsweise werden nach Plügge „die physiologischen Vorgänge und ihre Regulation von ihrem leiblichen Grund, von ihrer Verwurzelung in einer bewohnten Welt abgelöst. Die Phänomene werden zu manipulierbaren Objekten."43 Auch Autoren, die nicht aus der Phänomenologie kommen, wie beispielsweise Günter Abel, vertreten eine vergleichbare Position, wenn sie betonen: „Philosophie des Leibes darf aber nicht mit irgendeinem Naturalismus oder Biologismus oder einer Körper/Gehirn/Organismus-Ontologie verwechselt werden."44 Nietzsches oben erwähnter Verdacht von den körperlichen, „physiologischen Bedürfnissen", die für ihn hinter dem Mißverständnis des Leibes stehen, und von der postulierten Transfiguration von Physiologie in Metaphysik ist zwar berechtigt, doch drohen durch seine Formulierungen wichtige Nuancen verlorenzugehen.45 Seine physiologische Sicht stößt auf wissenschafts- und erkenntnistheoretische Probleme von erheblichem Ausmaß. Physiologische oder biologische Einheiten und Sachverhalte wie Venen und Arterien, Nervensträngen, Muskeln und Sehnen, Zellen mit Wänden, Plasma, Kernen und Genen, Blutkörperchen und Bakterien, sind wohl kaum direkt spürbar. Das, was sich dem Menschen im Schmerz oder der Wollust aufdrängt, sind „leibliche Regungen", um einen Begriff von Hermann Schmitz, einem weiteren wichtigen Vertreter einer Phänomenologie des Leibes, zu nennen.46 Auf den Ergebnissen seiner Vorgänger aufbauend, entwickelte Schmitz ein eigenes, ausgedehntes Begriffssystem, um diese leiblichen Regungen zu beschreiben. Ohne hier weiter auf die Stärken und Schwächen seines Ansatzes eingehen zu können, sei nur erwähnt, daß Schmitz ausdrücklich betonte, daß der Zusammenhang von dem, was man leiblich spürt, mit dem, was physiologisch beschreibbar ist, auf eine erkenntnistheoretische Differenz verweist, die mehr Fragen als Antworten beinhaltet. Auch bei Nietzsche findet sich die Erkenntnis dieses Unterschiedes wie oben angedeutet zumindest ansatzweise. Den „leiblichen Regungen" von Schmitz entsprechen bei ihm die „Allgemeingefühle", als jede Art Hemmung, Druck, Spannung, Explosion im Spiel und Gegenspiel der Organe" (KSA 6, 92).47 Auch der bereits mehrfach erwähnte -

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42 Herbert Plügge, Der Mensch und sein Leib, Tübingen 1967, 35. 43 Ebd., 35 f., 94. 44 Günter Abel, „Interpretatorische Vernunft und Leib", in: A. Djuric (Hg), Nietzsches Begriff der Philosophie, Würzburg 1990, 118. 45 Dazu Charles Taylor: „Mein Leib ist bereits eine andeutungsweise vorgezeichnete Richtung des Lebens und der Ort des noch nicht Bestimmten. Diese Richtung des Lebens muß ich beachten, wenn ich den Leib definieren will." (Charles Taylor, „Leibliches Handeln", in: Bernhard Waldenfels und A. Métraux (Hg), Leibhaftige Vernunft. Spuren von Merleau-Pontys Denken, München 1986, 212. 46 Zur Einführung in die Leibphänomenologie siehe Hermann Schmitz, Leib und Gefühl, Paderborn 1992, 39 ff In der von Schmitz 1995 gegebenen Interpretation (Selbstdarstellung als Philosophie, Bonn 1995) wird Nietzsche allerdings vorwiegend als „Projektionsfläche" zur Darstellung der Schmitzschen Subjektivitätstheorie benutzt, wodurch die Leibperspektive stark in den Hintergrund gedrängt wird. 47 Weiter erwähnt Nietzsche noch „in Sonderheit de[n] Zustand des nervus sympathicus", womit er aber wieder physiologisch interpretiert. Daß seine Benutzung der Physiologie gegen die philosophischen Theorien gerichtet ist und sich zu einem großen Teil daher erklären läßt, zeigt sich daran, daß er weiter bemerkte, diese Allgemeingefühle seien die eigentlichen Ursachen, die es zu erforschen gelte, nicht die „Vorstellungen, Erinnerungen, Causal-Interpretationen oder frühere begleitende Bewusstseins-Vorgänge", an die wir uns als „Ursachen-Interpretation" gewöhnt hätten (KSA 6, 92).

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Hinweis auf „Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual" usw. deutet auf leibliches Erleben im hier gemeinten Sinn hin ebenso wie das sogenannte „Muskelgefühl" (KSA 5, 32). Doch Muskelgefühle sind nicht direkte Wahrnehmungen von physiologischen Substraten

ja dabei einzeln beispielsweise Bänder, Sehnen, Nerven, Muskeln, Venen und Arterien unterscheiden können -, sondern das Spüren eines ganzheitlichen Bewegungsablaufes, der nur indirekt mit den anatomischen Muskeln zusammenhängt. Übrigens unterliegt auch der moderne Bodybuilder, der seine einzelnen Muskeln kennt, sie mit chemischen Mitteln behandelt und durch bestimmte Bewegung, dem sogenannten „Posen", hervortreten läßt, einer Täuschung, wenn er glaubt, er würde diese direkt spüren. Eine mehr oder weniger verschwommene leibliche Regung besteht nie in der Wahrnehmung eines isolierten, scharf abgegrenzten, physiologischen Substrates, sondern zieht selbst physiologisch betrachtet immer weitere Ebenen, wie z. B. Bänder, Sehnen, Nerven usw., mit ein. Das, was wir spüren, wenn sich unser Bizeps ballt, ist ein Gefühl von Kraft, das, ähnlich wie die Frische und Müdigkeit, einen ganzheitlichen, unteilbaren Charakter hat. Dieser geht bei der Erfassung von physiologischen, teil- und sezierbaren Organen und Einheiten verloren. Deutlich wird diese ganzheitliche Wirkung auch, wenn es um die Musik geht, die man nach Nietzsche mit „still gestelltem Muskelsinn", also ruhig sitzend hört. Dieses Stillstellen funktioniert eigentlich nicht, meint Nietzsche, denn, so setzt er in Klammem hinzu, „in einem gewissen Grad redet noch aller Rhythmus zu unsern Muskeln" (KSA 6, 118). Nicht zu den Muskeln, sondern zu unserem Leib, zu unserem Herz, zu unserem Gefühl kann hier präzisiert werden, denn Rhythmus ist eine durch und durch leibliche Regung. Damit ist der Überblick bis auf die heutige Zeit und die aktuellen Perspektiven geführt worden und kann hier abgebrochen werden. Doch vor dem Schluß sei noch ein Blick auf Nietzsche eigenes Verhältnis zur Leiblichkeit gestattet. sonst müßte

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man

Zu Nietzsches Verständnis seines

eigenen Leibes

Der Zusammenhang zwischen dem, was wir spüren, und den physiologischen, objektiv feststellbaren Tatsachen ist nach wie vor dunkel und bildet einen Gegenstandsbereich, von dem wissenschaftstheoretisch nicht mal klar ist, ob er überhaupt jemals gänzlich erhellt werden kann. Eine Ahnung davon hatte Nietzsche auch so jedenfalls interpretiere ich folgende Stelle in „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne", wo er vom Menschen schreibt: „Verschweigt die Natur ihm nicht das Allermeiste, selbst über seinen Körper, um ihn, abseits von den Windungen der Gedärme, dem raschen Fluss der Blutströme, den verwickelten Fasererzitterungen, in ein stolzes gauklerisches Bewußtsein zu bannen und einzuschliessen!" Hier wird wieder jener Tatbestand der spürbaren Unzugänglichkeit des naturwissenschaftlichen Körpermodells bzw. der Distanz zwischen Bewußtsein und Physiologie sichtbar, deren methodische bzw. erkenntnistheoretische Konsequenzen erst später, und nicht von Nietzsche, sondern von der phänomenologischen Forschung gezogen wurden. Die Fortsetzung dieser berühmten Stelle bei Nietzsche bringt aber Nuancen mit sich, die Aufhorchen lassen und einen Hinweis auf sein Verständnis und Verhältnis zu seinem eigenen Leib bieten, denn, so Nietzsche mit Blick auf die oben erwähnte, das Bewußtsein einschließende Natur: -

„Sie warf den Schlüssel weg: und wehe der verhängnißvollen Neubegier, die durch eine

Spalte einmal aus dem Bewußtheitszimmer heraus und hinab zu sehen vermöchte und die

Nietzsche und der Leib

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jetzt ahnte, dass auf dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtswissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend." (KSA 1, 877) Dieser Gedanke kommt fast wortgleich auch in der ersten von fünf, an Cosima Wagner adressierten „Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern" vor. Dort wird zu dem „Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen" weiter das „Ekelhafte" und „Erbarmungslose" hinzugezählt (KSA 1, 760), wodurch noch stärker deutlich wird, was für Nietzsche „das Allernächste", nämlich sein eigener Leib war.48 In der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung, spielt er den Ruhm gegen den Körper aus, denn was sei, fragt Nietzsche, an jenen großen Menschen „auf ihrem Weg zur Unsterblichkeit und zur monumentalen Historie zu begraben"? „Doch nur das," so antwortet er selber, „was sie als Schlacke, Unrath, Eitelkeit, Thierheit immer bedrückt hatte und was jetzt der Vergessenheit anheimfallt, nachdem es längst ihrer Verachtung preisgegeben war." (KSA 1, 260) Und in Menschliches, Allzumenschliches, wo der Leib für ihn wieder nur eine „Maschine" ist, spricht er von ihm in fast platonischer Diktion als von der „erbärmlichen Substanz der Schale", die als der „oft kranke und stumpfsinnige Gefängniswärter der Herr ist" gegenüber dem „vornehmen Gefangenen" (KSA 2, 632 f.). Wer mag hier der „vornehme Gefangene" sein? Und noch ein Wort zur platonischen Ausdrucksweise. Läßt Nietzsches oben angesprochene Piatondeutung auch nichts an Klarheit zu wünschen übrig, so taucht in der Fröhlichen Wissenschaft doch eine Stelle auf, die positiv auf Piaton zu sprechen kommt. Zwar seien die Ideen „schlimmere Verführerinnen" als „die Sinne", doch im Falle von „Plato's überreichen und gefährlichen Gesundheit" verteidigt Nietzsche den oben abgelehnten Idealismus dadurch, daß er ihn als Gegengewicht zu den „übermächtigen Sinnen" betrachtet (KSA 3, 624). Was genau mit „übermächtigen Sinnen", die ein Gegengewicht verlangen, gemeint ist, muß offen bleiben. Interessant ist, daß Piaton noch deutlicher gelobt wird, wo es um dessen Homosexualität geht (KSA 6, 125 f.). Diese wird von Nietzsche dann sogar allen Griechen unterschoben und geradezu verherrlicht. Zur „Cultur der Männer" bei den Griechen schrieb er:

„Die erotische Beziehung der Männer zu den Jünglingen war in einem, unserem Verständ-

unzugänglichen Grade die nothwendige, einzige Voraussetzung aller männlichen Erziehung [...] aller Idealismus der Kraft der griechischen Natur warf sich auf jenes Verhältniss [...] Je höher dieses Verhältniss genommen wurde, um so tiefer sank der Verkehr mit der Frau: der Gesichtspunkt der Kindererzeugung und der Wollust Nichts weiter kam hier in Betracht; es gab keinen geistigen Verkehr, nicht einmal eine eigentliche Liebschaft." (KSA 2, 213) nis

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Homosexualität als „notwendige" und „einzige" Voraussetzung der Erziehung bei den Griechen, kein „geistiger Verkehr" und keine „eigentliche Liebschaft" zwischen Mann und Frau? Dermaßen übertriebene Ansichten von einem Professor für griechische Philologie zu hören muß befremden. Immer wieder spielte er die Männerfreundschaft gegen die geschlechtliche

48 Zu den ,,blutige[n] Massen, Kotgedärme, Eingweide, alle jene saugenden, pumpenden Untiere- formlos oder häßlich oder grotesk, dazu für den Geruch peinlich" (GA 13, 42) siehe Heinrich Schipperges, Am Leitfaden des Leibes, 50 f.

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Liebe zwischen Mann und Frau aus.49 In der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung findet sich folgende seltsame Ansicht:: „Und wie ein Vater die Schönheit und Begabung seines Kindes bewundert, an den Akt der Entstehung aber mit schamhaftem Widerwillen denkt, so erging es dem Griechen".50 Soll man wirklich glauben, daß die Griechen so wenig Spaß am heterosexuellen Akt hatten? Nietzsche scheint das zu wollen. Die selbe Haltung wiederholt er an anderer Stelle nochmals, wo er von dem ,,widerliche[n] Geheimnis, aus welchem das neue Kind gezeugt und geboren wird", spricht. Dazu bemerkte sein Biograph Werner Ross: „Widerlich, tatsächlich, so steht es da, von der Hand des Predigers dionysischer Entfesselung."51 Es dürfte uns heute jedenfalls schwer fallen, solche Ansichten zu akzeptieren, und auch der Hinweis auf die „prüde" Erziehung seiner Zeit, den Ross gab, kann kaum davon ablenken, daß hier ein eher problematisches Verhältnis zur eigenen Geschlechtlichkeit und damit zum eigenen Leib vorliegt. Egal, ob man z. B. mit Ross oder Schmitz sado-masochistische Tendenzen verzeichnet52 oder mit Günter Schulte und der psychoanalytischen Richtung homosexuelle Neigungen konstatiert was schon Freud tat53 -, daß Nietzsche Probleme in der Liebe und insbesondere mit Frauen hatte, ist zu bekannt und braucht hier nicht weiter erörtert zu werden. Dieses problematische Verhältais zur Sexualität könnte aber ein wesentlicher Grund seiner moralischen Sensibilität, seines Hasses und seines Kampfes gegen die Verlogenheit seiner Umwelt gewesen sein. Offen bleiben muß trotz Nietzsches eigener, oft brillanter Analysen und seiner -

49 Zur „Freundschaft" bei den Griechen gegen die moderne „idealisirte Geschlechtsliebe" vgl. a. KSA 3,295, u. zur Freundschaft versus geschlechtlicher Liebe s. KSA 3,387. Vgl. a. die Auffassung von der Ehe als „Seelenfreundschaft", „welche das Sinnliche gleichsam nur als ein seltenes, gelegentliches Mittel für einen grösseren Zweck

gebraucht" (KSA 2, 278).

50 Und einen Satz weiter wiederholt er: „Das selbe Gefühl, mit dem der Zeugungsprozeß als etwas schamhaft zu Verbergendes betrachtet wird, obwohl in ihm der Mensch einem höheren Ziel dient als seiner individuellen Erhaltung: dasselbe Gefühl umschleierte auch die Entstehung der großen Kunstwerke, trotzdem daß durch sie eine höhere Daseinsform inauguriert wird, wie durch jenen Akt eine neue Generation." (KSA 1, 767) Vgl. a. Aphorismus Nr. 62 der Fröhlichen Wissenschaft. „Die Liebe vergiebt dem Geliebten sogar die Begierde." (KSA 3,425) Vgl. auch: „Wenn wir ein Weib lieben, so haben wir leicht einen Hass auf die Natur, aller der widerlichen Natürlichkeiten gedenkend, denen jedes Weib ausgesetzt ist"; und auch hier klingt wieder Verachtung an, denn „unsere Seele" blickt „verächtlich nach der Natur hin" (KSA 3, 423). Hier spricht Ekel. 51 Werner Ross, Der ängstliche Adler, 495. Man kann weitere seltsame Behauptungen finden, wie folgende: „Man empfindet namentlich in der Zeugung die Erniedrigung des Geliebtesten aus Liebe." (KSA 8,325) Vgl a. Schmitz, der die Stellen aus dem Nachlaß zitiert (KSA 7, 338 u. KSA 8, 325/Hermann Schmitz, Selbstdarstellung als

Philosophie, 275).

52 Zum Sado-Masochismus bei Nietzsche vgl. auch Werner Ross, Der ängstliche Adler, 719 u. 721. Zum Gedicht „Unter Töchtern der Wüste", das „ausschweifende Sexualphantasien in frivolen Anspielungen ausarbeitet", siehe Hermann Schmitz, Selbstdarstellung als Philosophie, 264. Zu den „seinen ,dionysischen' Schöpfungs- und Vernichtungsrausch fundierenden sadistischen und masochistischen Gelüste[n]" s. Schmitz (ebd., 266). 53 Zur Homosexualität Nietzsches s. Günther Schulte, Ecce Nietzsche, Frankfurt a.M./New York 1995. Zu Freud Schulte, ebd., 104. Obwohl sich Ross gegen eine „verschwiegene homoerotische Komponente" in Nietzsches Freundschaftsbeziehungen wandte (Werner Ross, Der ängstliche Adler, 235), spekulierte er doch häufiger darüber. So z. B. bei einem für die geplante Tunesienreise möglichen Lockmotiv der ,,hübsche[n] Araberjungen" (ebd., 565) oder über die ,,ähnliche[n] homoerotischefn] Neigung" als Motiv der Bindung zu Gersdorff (ebd., 222) Ross resümierte: „Er fiel aus der Reihe, und man kann diesen Tatbestand sowohl als priesterlichen Verzicht angesichts einer welterschütternden Mission wie auch als schlichte Anomalie auslegen. Wegerklären läßt er sich nicht."

(Ebd., 213)

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„Physio-Psychologie" (KSA 5, 38),54 wie weit er selber die Prägungen durch Erziehung und Milieu durchschaute. Besonders das ambivalente Verhältnis zu Mutter und

ganzen

Schwester verweist darauf, daß er manches nicht wahrhaben wollte. Vielleicht läßt sich auch auf ihn, der sich ja durchaus als Dichter sah, das beziehen, was er über die „grossen Dichter" schrieb. Diese hätten nämlich „Seelen, an denen gewöhnlich irgend ein Bmch verhehlt werden soll; oft mit ihren Werken Rache nehmend für eine innere Besudelung, oft mit Aufflügen Vergessenheit suchend vor einem allzutreuen Gedächtniss, Idealisten aus der Nähe des Sumpfes" (KSA 6, 434). Hier soll nicht weiter auf jenen „geistigen Ekel und Hochmuth jedes Menschen, der tief gelitten hat" (KSA 6,435), eingegangen werden. Nietzsche bemerkt selber, daß ein solcher Mensch „alle Arten von Verkleidung nöthig" findet, um sich vor der Zudringlichkeit zu schützen. Da ich nicht zudringlich werden möchte, schließe ich diesen problematischen Aspekt ab, indem ich lediglich ein zumindest in den frühen Jahren prüdes und ambivalentes Verhältnis zum Leib feststelle, das sich mit zunehmender Kritik am Christentum anscheinend besserte, zumindest, liest man Stellen, wo er, jede Verachtung des geschlechtlichen Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff ,unrein'" als „das Verbrechen selbst am Leben" und als „die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des Lebens" bezeichnete (KSA 6, 307).55

Schluß Nietzsches Leibbegriff- und hier scheint mir die anfangs erwähnte kritische Richtung der Nietzsche-Rezeption recht zu behalten ist unscharf und widersprüchlich, seine Rede von „physiologischen Bedürfnissen" irreführend, da sie sich zu stark am naturwissenschaftlichen Körpermodell orientiert. Auch wandte er sich zwar deutlich gegen die platonische Seele und eine Körper-Seele-Trennung, wollte aber nicht gänzlich auf den Seelenbegriff verzichten. Die Physiologie kann die Probleme, die Nietzsche im Blicke hatte, nicht erfassen, geschweige denn lösen. Doch mit seiner Betrachtung der Philosophie als transformierter Leiblichkeit, mit seiner These von den leiblichen Untergründen philosophischer Spekulationen sowie mit seiner Kritik am überkommenen Leibbegriff und an den zu abgehobenen Konstruktionen metaphysischer Geist- und Bewußtseinsvorstellungen traf er den Nagel notwendiger philosophischer Besinnung dermaßen auf den Kopf der gängigen Ansichten, daß dieser tief in das Fleisch des Denkens seiner Zeit getrieben wurde und bis heute drinn stecken geblieben ist. Der dadurch ausgelösten Irritation verdankt die bis heute sich entwickelnde philosophische Erforschung des Leibes viel. Und hier schließe ich mich den oben erwähnten Verteidigern Nietzsches an. Nietzsche hat trotz aller Widersprüche und allem Mangel an Präzision zum Leib viele originelle und treffende Aussagen gemacht und damit ein neues Leibverständnis eingeleitet. Daß die Philosophie und verwandte Disziplinen bis heute dabei sind, am Thema Leib zu arbeiten, zeigt nur, wie wichtig und problematisch dieses Gegenstandsgebiet ist und wie schwer wir uns tun, jene, von ihm aufgezeigte Wunde der verdrängten Leiblichkeit zu -

54 Zu Nietzsche als Erfinder der Psychoanalyse, „wenngleich nicht der Psychoanalyse als eines therapeutischen, von dritten überwachbaren Verfahrens", s. a. Günther Schulte, Ecce Nietzsche, 104. Vgl. a. Werner Ross, Der ängstliche Adler, 373 Und Grätzel: „Im wesentlichen aber wird das Feld des Unbewußten erschlossen." (Stephan Grätzel, Die philosophische Entdeckung des Leibes, 163) 55 Vgl. auch den Vorwurf: „Die Zeugung des Menschen mit dem bösen Gewissen [zu] verschwistern!" (KSA 3, 73)

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heilen. Immer noch scheint die Philosophie trotz hoffnungsvoller Ansätze das Erlebnis von Nietzsches unsanftem Abreißen der metaphysischen Pflaster, mit denen die zweitausendjährige Entwicklung zugedeckt war, nur langsam und allmählich verwinden zu können, wahrscheinlich ebenso schwer wie ihre durch den sich bietenden Anblick verletzte Eitelkeit. Als Nietzsche schon vor hundert Jahren warnte: „Hybris ist heute unsre ganze Stellung zur Natur, unsre Natur-Vergewaltigung mit Hülfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Erfmdsamkeit" (GM 3, 9, KSA 5, 357), schlug er damit nicht nur ein Thema an, daß später von Heidegger in aller Deutlichkeit philosophisch ausgearbeitet wurde, auch heute noch werden sensible und tiefer denkende Menschen trotz unserer rettungslosen Verfallenheit an die Maschinen und Techniker ihm kaum widersprechen wollen. Schuld an dieser Entwicklung trug aber nicht nur die Naturwissenschaft, sondern auch und vielleicht sogar am meisten der „Verbrecher der Verbrecher", nämlich der Philosoph, wie der Philosoph Nietzsche sagt (KSA 6, 254).56 „Philosoph sein," so provoziert Nietzsche, „Mumie sein, den Monotono-Theismus durch eine Todtengräber-Mimik darstellen und weg vor Allem mit dem Leibe, dieser erbarmungswürdigen idée fixe der Sinne! Behaftet mit allen Fehlern der Logik, die es gibt, widerlegt, unmöglich sogar, ob er schon frech genug ist, sich als wirklich zu gebärden!" (KSA 6, 75) -

56

Stellen, wo er weiter gegen die Philosophen polemisiert, sind z. B.: „Alles, was Philosophen seit Jahrtausenden gehandhabt haben, waren Begriffs-Mumien; es kam nichts Wirkliches lebendig aus ihren Händen. Sie todten, sie stopfen aus, diese Herren Begriffs-Götzendiener, wenn sie anbeten ..." (KSA 6, 74) Sie suchen den Betrüger, der sie angeblich um die Wahrnehmung „des Seienden" gebracht habe, und schreien dann glückselig: „Wir haben ihn, die Sinnlichkeit ist's!" (KSA 6, 74) ...

Dirk Solies

Die Kunst

-

eine Krankheit des Leibes?

Zum Phänomen des Rausches bei Nietzsche

1.

Kunst, Rausch und Krankheit

von Nietzsche als „Physiologie der Kunst" betitelten Projekts steht, so könnte zunächst scheinen, ein fundamentaler Widerspruch, der im Begriff des Rausches als unverzichtbarer subjektiver Bedingung von Kunstschaffen überhaupt seinen Fluchtpunkt findet. Rausch wird von Nietzsche als conditio sine qua non der Kunstproduktion gedacht: er steigere „die Erregbarkeit der ganzen Maschine [...]: eher kommt es zu keiner Kunst" (KSA 6, 116). Im Rausch findet eine Transfiguration normaler oder alltäglicher Erlebnisstrukturen statt, und zwar in Richtung auf eine genuin ästhetische Erlebnisebene hin. Nietzsche spricht hier von einer Erregung des Affekt-Systems, von einem ,,hohe[n] Machtgefühl". Die Wirkungen dieses Rausches werden wie folgt beschrieben:

Am Anfang des es

„die Raum- und Zeit-Empfindungen sind verändert: ungeheure Femen werden überschaut

und gleichsam erst wahrnehmbar die Ausdehnung des Blicks über größere Mengen und Weiten die Verfeinerung des Organs für die Wahrnehmung vieles Kleinsten und Flüchtigsten die Divination, die Kraft des Verstehens auf die leiseste Hülfe hin, auf jede Suggestion hin, die intelligente' Sinnlichkeit... die Stärke als Herrschaftsgefühl in den Muskeln, als Geschmeidigkeit und Lust an der Bewegung, als Tanz, als Leichtigkeit und Presto" (KSA 13, 14 [117]). Im rauschhaften Erleben findet also eine fundamentale Veränderung subjektiver Wahrnehmungsweisen statt, die sich als Vergrößerung der Wahrnehmungsschärfe, als perspektivische Entgrenzung, als Steigerung der Suggestibilität und als Spontaneisierung des Wahrnehmungsvollzuges selbst dokumentiert. Was sich verändert, ist nicht der Wahrnehmungsgehalt selbst, sondern es findet eine durchgehende Veränderung und Verschiebung der Erfahrungs- und Wahmebmungsperspektive gelegentlich des rauschhaften Erlebens statt. Auf die vielfältigen, einander ergänzenden Beschreibungen dieses modifizierten Erlebens im Werk Nietzsches soll hier nicht weiter eingegangen werden. Interessant ist jedoch, daß dieser Rauschzustand immer wieder mit krankhaften, hysterischen oder nervösen Zustanden analogisiert wird:

„Das Wesentliche bleibt die Leichtigkeit der Metamorphose, die Unfähigkeit, nicht zu reagiren (- ähnlich wie bei gewissen Hysterischen, die auf jeden Wink hin in jede Rolle eintreten)" (KSA 6, 118).

Dirk Solies

152

Die Unfreiwilligkeit, die Nietzsche an mehreren Stellen als Signum rauschhaft erfahrener künstlerischer Inspiration benennt,1 hat er selbst an anderer Stelle als Ausdruck krankhafter Zustände interpretiert: „Die Schwäche des Willens, bestimmter geredet, die Unfähigkeit, auf einen Reiz nicht zu reagiren, ist selbst bloß eine andre Form der Degenerescenz." (KSA 6, 83) Und weiter: „Alle Ungeistigkeit, alle Gemeinheit beruht auf dem Unvermögen, einem Reize Widerstand zu leisten man muss reagiren, man folgt jedem Impulse." (KSA 6, 109) Nietzsches Diagnose des Verhältnisses von Krankheit und Künstlerrum kulminiert schließlich in der Aussage: -

„Es sind die Ausnahme-Zustände, die den Künstler bedingen: alle die mit krankhaften

Erscheinungen tief verwandt und verwachsen sind: so daß es nicht möglich scheint, Künstler zu sein und nicht krank zu sein." (KSA 13, 14 [170])

Hierin also besteht die

grundlegende Antinomie dieses problematischen Verhältnisses:

Die

Kunst, das große Stimulans des Lebens, die große Ermöglicherin des Lebens, die eigentlich metaphysische Tätigkeit des Menschen, die Kunst als Gegenbewegung zur decadence der

Moderne soll ihrer innersten Möglichkeit nach selbst angewiesen sein auf dekadente, im Genie leibhaft gewordene Zustände? Ist also der Rausch, wie es Thomas Manns romanhafte Nietzsche-Interpretation glauben machen wollte, nichts weiter als ein schaffensnotwendiger zerebraler Stimulus, nichts weiter als individuelle „Reiz-Hyperämie", die die von Nietzsche konstatierte allgemeinkulturelle Ermüdung konterkariert? Das Moment des Genialen also ein über- und antinatürliches, durch Krankheit fremdinduziertes Prinzip? Nun, prinzipiell unmöglich wäre eine solche Formulierung nicht. Daß etwas aus seinem Gegensatz entstehe, stellt ja für Nietzsche keine Denkunmöglichkeit dar (vgl. JGB, § 2). Richtig ist ebenfalls, daß der Künstler in seinen rauschhaften Zuständen eine Distanz zu Leben und Gesundheit einnimmt, die als Präform ästhetischer Distanzierung einen genuin ästhetischen Wahrnehmungsraum überhaupt erst konstituieren hilft. Die von Nietzsche in ihren ersten Konturen vorgelegte Theorie des Rausches kommt jedoch durchaus ohne die Intervention solcher diabolischer ex machina-Effekte aus. Vorausgesetzt, man versteht den Begriff des Rausches konsequent physiologisch, d. h. als internes Körpergeschehen, das auf die Produktion von Kunst bezogen bleibt und als solches Aufschlüsse über das Verhältnis von décadence, Krankheit und Gesundheit erlaubt. Erst einem solchen endogenen, nämlich genuin physiologischen Verständnis wird es möglich, Rausch konsequent als eine perspektivische Verschiebung gewohnter oder alltäglicher Wahmehmungsstrukturen zu interpretieren, die eine Distanz zu dieser Wahrnehmungsnormalität konstituiert und damit Aufschlüsse über ihre Struktur überhaupt erst ermöglicht. Krankheit wird somit zugleich zur Ausgangsperspektive einer neuen Bestimmung von Gesundheit. Dies macht zunächst eine Differenzierung des Rauschbegriffes bei Nietzsche notwendig.

1

Vgl.

auch Nietzsches

Darstellung seines eigenen Inspirationserlebnisses in EH, KSA 6, 339 f.

153

eine Krankheit des Leibes?

Die Kunst -

2. Rausch:

apollinisch und dionysisch

Bekanntlich wird noch in der Geburt der Tragödie zwischen den disparaten „Kunstwelten" Traum und Rausch unterschieden (KSA 1, 26) und diese auf Apollinisches und Dionysisches verteilt: der schöne Schein des Traums ist die Manifestation des Apollinischen als „Vergöttlichung des principii individuationis" (KSA 1, 39), das Dionysische als „Selbstvergessenheit" des Individuums, „als ob der Schleier der Maya zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnissvollen Ur-Einen herumflattere" (KSA 1, 29 f.). Der Rausch, das ist hier wesentlich, bleibt dem Dionysischen vorbehalten und bewirkt, anders als der apollinische Traum, eine Suspendierung des Individualitätsprinzips. In seinen späten Werken verzichtet Nietzsche weitgehend auf den Begriff des Traumes und spricht stattdessen (z. B. in der Götzendämmerung) neben dem dionysischen auch von einem apollinischen Rausch:

„Der apollinische Rausch hält vor allem das Auge erregt, so dass es die Kraft der Vision [...] Im dionysischen Zustande ist dagegen das gesamte Affekt-System erregt und gesteigert" (KSA 6, 117). bekommt

Der Begriff des Rausches wird hier auf den Bereich des Apollinischen ausgedehnt, womit eine Abwertung des Apollinischen im Sinne einer statischen Seinsmetaphysik und ästhetischen Formalbestimmung einhergeht. Nur durch das Dionysische wird das Schaffensprinzip in nuce und aus interner Perspektive zum Ausdruck gebracht, wohingegen das Apollinische immer einen untilgbaren Restbestand an Gegebenem, an Rezeptivität zurückbehält.

Diese späte Abwertung des Apollinischen zugunsten des Dionysischen setzt ca. 1885/86 mit Nietzsches Neuinterpretation der Geburt der Tragödie ein.2 In seinen nachgelassenen Fragmenten (KSA 12, 2 [110]) notiert Nietzsche: in der Vernichtung auch des schönsten Scheins kommt das dionysische Glück auf seinen Gipfel. Hier also hat das rauschhaft erlebte und intern immer schon zum Schaffen und Umschaffen genötigte Prinzip des Dionysischen das Prinzip des Apollinischen, das „entzückte Verharren vor einer erdichteten und erträumten Welt" endgültig ergriffen bzw. übergriffen. Das Dionysische ist für Nietzsche, zumindest in dieser späten Selbstinterpretation der Geburt der Tragödie, das fundamentalere, das übergreifendere Prinzip, das Apollinische wird nur noch als Interpunktion, als zeitweiliges Anhalten und Zur-Ruhe-Kommen des Werdensprinzips zugelassen. Aus dieser Verteilung von Dionysischem und Apollinischem auf Werden und Sein wird nun auch die späte Aufwertung des Dionysischen einsichtig. Vor dem Hintergrund der Werdensmetaphysik des späten Nietzsche, die Werden als das ,primum mobile' und die Welt des Seins nur als eine (wenn auch notwendige!) Täuschung begreift, gilt nun auch das Dionysische als das wahrhaft konsequente Prinzip. Nur im Dionysischen, nicht im Apollinischen, findet Nietzsche die Apotheose des Werdens realisiert, die „Wollust des Werden-machens d. h. des Schaffens und Vernichtens" „

"

Pfotenhauer, Stuttgart 1985.

2 Helmut

Die Kunst als

Physiologie.

Nietzsches ästhetische Theorie und literarische

Produktion,

Dirk Solies

154

(KSA 12, 2 [HO]).3 Die verbalen Gewaltakte häufen sich in der Beschreibung des Dionysischen. Von Vergewaltigung ist die Rede, von Nötigung, Unfreiheit und Zwang. Dabei ist jedoch immer im Auge zu behalten, daß Nietzsche hier nicht von subjektiven Willkürakten spricht, sondern von ekstatischen Erlebnissen,4 die das Ich aus der Selbsthaftigkeit des Individuums heraustreten lassen, damit eine neuartige, externe Perspektive entfalten und in der endgültigen Vernichtung der Form nur ihre extreme Manifestation finden. Insofern ist die dionysische Ekstase immer auch eine Form der Aneignung und Bemächtigung von Wirklichkeit, weil nur hier, im ekstatischen Erleben, die Strukturen und Strategien rationalen Erlebens im Modus des Außer-sich-Seins transparent werden. Deshalb ist das Dionysische weit entfernt, ein absolutistisches oder gar destruktives Prinzip darzustellen; es ist die plastische Kraft, von der Nietzsche noch in seiner Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung gesprochen hatte, die aneignende, grenzziehende, horizontsetzende Potenz, deren Verkümmerung in der Moderne zum Syndrom des Historismus geführt hatte, die in Nietzsches später Fassung des Dionysischen zum Prinzip ästhetischer Aneignung interpretiert wird. Absolutistisch ist dieses Aneignungsprinzip hingegen nicht, weil es, wie sich zeigen wird, nicht innerhalb der Eitelkeit des Ichbewußtseins, des „Alles für mich", auftritt, sondern innerhalb desjenigen Prinzips, das Nietzsche im Zarathustra als „Schenkende Tugend" bezeichnet hat.

3. Décadence und Krankheit als Ausdruck

physiologischer Akkumulation In dem Kapitel „Die vier grossen Irrthümer" der Götzen-Dämmerung zeigt Nietzsche, daß der Grundirrtum der kleinen Vernunft darin besteht, eine falsche Ursächlichkeit in den Bereich geistiger Ursachen (Wille, Motiv, Ich) projiziert zu haben. Dieses Modell wird von Nietzsche seiner inneren Funktionalität nach decouvriert:

„Dieser junge Mann wird frühzeitig blass und welk. [...] Ich sage: dass er krank wurde, dass er der Krankheit nicht widerstand, war bereits die Folge eines verarmten Lebens, einer hereditären Erschöpfung." (KSA 6, 89 f.) Indem hier nicht eine individualgenetische Erkrankung, sondern die hereditäre Erschöpfung als Ursache der décadence benannt wird, rückt décadence nicht auf die Weise solitärer Individualität, sondern als Ausdruck einer Entwicklungsgeschichte in das Zentrum der Betrachtungen. Das Moment des Individuellen wird hier aus der Perspektive einer physiologischen Akkumulation verstanden. Nietzsche hat diesen Aspekt in seinen nachgelassenen Fragmenten ausgeführt: „Das ego ist hundert Mal mehr als bloß eine Einheit in der Kette von Gliedern; 3

4

Angelegt ist dieser Primat des Dionysischen freilich schon in der Geburt der Tragödie. Zwar ist hier von einem „Bruderbund beider Gottheiten" (KSA 1, 140) die Rede, doch auch hier wird die dionysische Einsicht unverkennbar als die fundamentalere benannt: „In der Gesammtwirkung der Tragödie erlangt das Dionysische wieder das Obergewicht" (KSA 1, 139). Aber nicht nur in der Tragödie, auch sonst „zeigt sich das Dionysische, an dem Apollinischen gemessen, als die ewige und ursprüngliche Kunstgewalt, die überhaupt die ganze Welt der Erscheinungen in's Dasein ruft" (KSA 1, 154 f.). Zu diesem Begriff von Ekstase vgl. Stephan Grätzel, Utopie und Ekstase. Vernunftoffenheit in den Humanwissenschaften, St. Augustin 1997.

eine Krankheit des Leibes?

Die Kunst

155

-

ist die Kette selbst, ganz und gar" (KSA 12, 10 [136]). Und an anderer Stelle: „Wir sind mehr als das Individuum, wir sind die ganze Kette noch mit den Aufgaben aller Zukünfte der Kette" (KSA 12, 9 [7]). Aus dieser Konzeption von Leiblichkeit wird nun auch einsichtig, warum die Ursachen der décadence innerhalb des Individualitätskonzepts der kleinen Vernunft weder zu finden noch zu therapieren sind. Nietzsche diagnostiziert hier eine Form von Krankheit, die für die Moderne zwar konstitutiv ist, aber nicht auf sie beschränkt bleibt. Alle im Sinne der kleinen Vernunft individualistischen Lösungen greifen zu kurz, weil sie Krankheit immer nur als individuelles und nicht in Nietzsches Sinne leibliches Phänomen begreifen. Dies bedeutet jedoch zunächst, den eigenen Leib als Ausdruck einer Entwicklungsgeschichte und damit als gegebene Faktizität zu akzeptieren. Die je eigene Weise des Umgangs mit dieser Faktizität ob als Selbstbejahung des amor fati oder als Selbstzerfleischung der décadence ist der Prüfstein der eigenen Existenz. Die phylogenetische Entwicklung äußert sich im Individuum auf die Weise angeleibter Erfahrung, deren sich das ,Genie der Mitteilung' in der ästhetischen Produktion ent-äußert. Worin besteht nun diese individualgenetische Dimension der décadence? Eingangs ist in diesem Zusammenhang bereits von „Willensschwäche" die Rede gewesen. Nun ist der Begriff Wille bei Nietzsche derart vielfältig besetzt, daß diese Zuordnung für sich genommen gar nichts erklärt. Auf die „falsche Verdinglichung" des Willensbegriffes hat Nietzsche ja verschiedentlich hingewiesen (KSA 7, 1 [62]): es

-

-

„Schwäche des Willens: das ist ein Gleichniß, das irreführen kann. Denn es giebt keinen Willen, und folglich weder einen starken, noch schwachen Willen. Die Vielheit und Disgregaron der Antriebe, der Mangel an System unter ihnen resultirt als ,schwacher Wille'; die Coordination derselben unter der Vorherrschaft eines einzelnen resultirt als ,starker Wille'; im ersteren Falle ist es das Oscillieren und der Mangel an Schwergewicht; im letzteren die Präcision und Klarheit der Richtung" (KSA 13, 14 [219]). -

Die Diagnose der „Willensschwäche" bezeichnet deshalb keine Ursache, sondern nur noch einen phänomenologisch zu konstatierenden Tatbestand. Das Prinzip Wille' ist dann lediglich eine Resultante jener endogenen physiologischen Prozessualität der Willen zur Macht. „Am Leitfaden des Leibes zeigt sich eine ungeheure Vielfachheit" schreibt Nietzsche in einem seiner späten Fragmente (KSA 12, 2 [91]). Diese „perspektivische innere Vielheit, welche selber ein Geschehen ist" (KSA 12, 1 [128]), entwickelt nun selbst eine spontane expressive Energie: „Der Mensch als eine Vielheit von Willen zur Macht': jeder mit einer Vielheit von Ausdrucksmitteln und Formen. Die einzelnen angeblichen Leidenschaften' [...] sind nur fiktive Einheiten [...]" (KSA 12, 1 [58]). Die décadence entwickelt eine eigene, eine endogene Perspektivik des Lebens, die hinter die fiktiven Einheiten der kleinen Vernunft zurückgeht, den Antagonismus der Willen zur Macht-Quanta quasi auf seiner prozessualen Tat ertappt und damit eine Auflösung jener von Nietzsche als Irrtümer deklarierten scheinbaren Entitäten herbeiführt. Es findet also durch das Auftreten der décadence innerhalb der Erkenntnis eine perspektivische Verschiebung, genauer gesagt eine perspektivische Reduktion statt. In dieser Perspektive ,von innen heraus' besteht ihr Erkenntniswert, und zwar nicht nur für den Künstler, sondern auch für den Philosophen. Bekanntlich hat sich Nietzsche selbst als décadent gesehen: ,

,

„Brauche ich nach alledem zu sagen, dass ich in Fragen der décadence erfahren bin? Ich habe sie vorwärts und rückwärts buchstabirt

[...].

Von der

Kranken-Optik

aus

nach

Dirk Solies

156

gesünderen Begriffen und Werthen, und wiederum umgekehrt aus der Fülle und Selbstge-

wissheit des reichen Lebens hinuntersehn in die heimliche Arbeit des Décadence-Instinkts das war meine längste Übung, meine eigentliche Erfahrung, wenn irgend worin wurde ich darin Meister." (KSA 6, 265 f.)

-

Die Pointe dieser Konzeption von décadence liegt in ihrer Nietzsche ebenfalls am eigenen Beispiel ausführt:

perspektivischen Brechung,

die

„Abgerechnet nämlich, dass ich ein décadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz. Mein Beweis dafür ist, dass ich instinktiv gegen die schlimmen Zustände immer die rechten Mittel wählte; während der décadent an sich immer die ihm nachtheiligen Mittel wählt. Als summa summarum war ich gesund, als Winkel, als Specialität war ich décadent." (KSA 6, 266)

An dieser für sein Selbstverständnis zentralen Stelle fächert Nietzsche den

Begriff der décadence in eine doppelte Perspektive auf: als décadence des Individuums und der Gattung. Diese doppelte Perspektive einmal als ontogenetisch, einmal als phylogenetisch gemeinten Begriff gilt es bei der Thematisierung von décadence im Auge zu behalten. Tritt die individuelle décadence innerhalb einer gattungsmäßigen Verfallslinie auf, so führt sie zu Morbidität und Verfall: décadence wird von Nietzsche hier synonym gebraucht mit Instinktunsicherheit, die sich in der Wahl des Schädlichen, Unzuträglichen äußere, oder, wie Nietzsche sagt: „das Nachgeben an die Instinkte führt hinab" (KSA 6, 72). Nur innerhalb jener Entwicklungslinie, die Nietzsche zur ,,grosse[n] Gesundheit" (KSA 6, 338) stilisiert hat, tritt décadence, wie noch im einzelnen zu begründen sein wird, als Stimulans auf. Genau diese verschiedenen Entwicklungslinien nun gelangen im individuellen Leib zum Ausdruck. Die große Vernunft des Leibes ist ja für Nietzsche die Letztursache von décadence bzw. großer Gesundheit. Nietzsches Leibbegriff zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß hier begründet wird, wie sich im Leib Geschichte anlagert. „Das Organische sammelt Erfahrungen", heißt es in einem nachgelassenen Fragment, oder auch: -

-

„In jedem Sinnes-Urtheil ist die ganze organische Vorgeschichte thätig [...] Das

Gedächtniß im Instinkt, als eine Art von Abstraction und Simplification, vergleichbar dem logischen Prozeß: das Wichtigste ist immer wieder unterstrichen worden, aber auch die schwächsten Züge bleiben. Es giebt im organischen Reiche kein Vergessen; wohl aber eine Art Verdauen des Erlebten." (KSA 11, 34 [167]) Der Leib

bringt im rauschhaften Erleben seine eigene Entwicklungsgeschichte zum Ausdruck. Und zwar nicht auf die Weise chronologischen Protokollierens, sondern auf die Weise des Akkumulierens von Zeit:5 „Der Prozeß des Lebens ist nur dadurch möglich, daß viele Erfahrungen nicht immer wieder gemacht werden müssen, sondern in irgend einer Form einverleibt werden." (KSA 11, 26 [156]) Oder, in der Sprache Zarathustras:

5

Von der „accumulierten Arbeit von Geschlechtern" als Bedingung der Schönheit spricht Nietzsche in KSA 6, 148. Den Begriff der Akkumulation hat dann Georg Simmel in offensichtlicher Anlehnung an Nietzsche in seinem Rembrandt-Buch zu einer Theorie der Rezeption von Kunst ausgearbeitet.

157

eine Krankheit des Leibes?

Die Kunst -

„Ach,

in

unserem

Leibe wohnt jetzt noch all dieser Wahn und

Fehlgriff: Leib und Wille ist

geworden. Hundertfältig versuchte und verirrte sich bisher so Geist wie Tugend. Ja, ein Versuch war der Mensch. Auch viel Unwissen und Irrthum ist an uns Leib geworden! er

da

Nicht nur die Vernunft von Jahrtausenden fährlich ist es, Erbe zu sein." (KSA 4, 100)

auch ihr Wahnsinn bricht

an uns aus.

Ge-

-

Der Künstler also ist als individueller Leib diese Entwicklungsgeschichte, die sich auf die doppelte Weise der décadence und der Gesundheit artikuliert. In diesem Zusammenhang ist auch Nietzsches therapeutisch gemeinter Appell zu verstehen, man müsse „den Leib zuerst überreden" (KSA 6, 149): „die rechte Stelle ist der Leib, die Gebärde, die Diät, die Physiologie, der Rest folgt daraus" (KSA 6, 149). Diese Konzeption von Leiblichkeit als physiologischer Akkumulation ist in Nietzsches Konzeption einer „Physiologie der Kunst" immer schon mitgedacht. Bevor jedoch die Frage

nach dem Zusammenhang von Rausch und ästhetischer Produktion angegangen werden kann, ist zunächst Nietzsches Bestimmung des ästhetischen Prozesses als einer Suggestion einer Revision zu unterziehen.

Gattungseitelkeit und physiologische Korrespondenz

4.

Zunächst ist nach der Bedeutung des Rausches für die Kunstproduktion des (genialen) Künstlers zu fragen. Das Genie ist ja für Nietzsche ein „Genie der Mittheilung" (KSA 6, 128). Genies seien „wie grosse Zeiten Explosiv-Stoffe, in denen eine ungeheure Kraft angehäuft ist; ihre Voraussetzung ist immer, dass lange auf sie hin gesammelt, gespart und bewahrt worden ist." (KSA 6, 145) und weiter unten: „Das Genie [...] ist nothwendig ein Verschwender: dass es sich ausgibt, ist seine Grosse" (KSA 6, 146). Bedingung und Ursache des Genies liegen hier nicht in der Individualentwicklung, sondern das Genie bringt, unbewußt und unfreiwillig, seine eigene angeleibte Entwicklungsgeschichte zum Ausdruck. Diese Selbstverschwendung und Selbst-Verausgabung, von der Nietzsche hier spricht, ist der Prototyp der „Schenkenden Tugend" Zarathustras: Hier wird nicht dies oder das geschenkt, sondern der Beschenker bringt sich selbst in einen Tausch ohne Gegenleistung ein ohne Rückhalt oder individuelle Reserve.6 Das Kunstwerk, um auf diesen Punkt meiner Überlegungen zurückzukommen, bringt damit nicht irgendwelche artifiziellen Fähigkeiten oder kompositorischen Fertigkeiten des Genies zum Ausdruck, sondern der Leib selbst verausgabt sich hier und wird zum Medium und Inhalt der Mitteilung. Wenn auch in den einzelnen Künsten verschiedene Kunstwevfe geschaffen werden das eigentlich Mitgeteilte ist immer die physiologische Verfaßtheit des Künstlers selbst. -

-

6 Diese Bedeutung von „schenken" als ein unplanmäßiges und nicht zielgerichtetes Sichverausgaben hat Nietzsche mit unfehlbarem Instinkt identifiziert. Die neuhochdeutsche Bedeutung .Geschenke geben' leitet sich von der ursprünglichen Bedeutung .einschenken' ab, also eigentlich ,ein Gefäß schräg haltend (damit der Inhalt ausläuft)'. Nach A. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 22. Aufl. Berlin/New York 1989, 629.

Dirk Solies

158

Nietzsche denkt in seiner „Physiologie der Kunst" das Phänomen des Ästhetischen konsequent aus der Perspektive der Produktion von Kunst.7 Es zeigt sich jedoch, daß auch die Kunst-Rezeption Gesetzen gehorcht, die sich zu den Bedingungen ihrer Produktion durchaus symmetrisch verhalten:

„Alle Kunst wirkt als Suggestion auf die Muskeln und Sinne, welche ursprünglich beim naiven künstlerischen Menschen thätig sind: sie redet immer nur zu Künstlern." (KSA 13, 14

[119])

Das Erlebnis des Schönen ist wegen dieser Suggestivfunktion von Kunst immer mit einem Zugewinn an physiologischer Kraft verbunden. Analoges gilt für das Erlebnis des Häßlichen. Das Häßliche ist für Nietzsche das Hassenswerte, weil sich hier der „entartende Mensch" (KSA 6, 124) darstellt und entäußert. Der Mensch erkennt und haßt! im Häßlichen letztlich immer nur den „Niedergangseines Typus" (KSA 6, 124): -

-

„Physiologisch nachgerechnet, schwächt und betrübt alles Hässliche den Menschen.

Es erinnert ihn an Verfall, Gefahr, Ohnmacht; er büsst thatsächlich dabei Kraft ein. Man kann die Wirkung des Hässlichen mit dem Dynamometer messen." (KSA 6, 124) In diesem Sinne wird das ästhetische Urteil Menschen verstanden:

von

Nietzsche als

Gattungs-Eitelkeit

des

„Im Schönen setzt sich der Mensch als Maass der Vollkommenheit. In ausgesuchten Fällen

er sich darin an. Eine Gattung kann gar nicht anders als dergestalt zu sich allein Ja sagen [...] Im Grunde spiegelt sich der Mensch in den Dingen, er hält Alles für schön, was ihm sein Bild zurückwirft." (KSA 6, 123)

betet

Was hier auf den ersten Blick wie ästhetischer Absolutismus und anthropomorphistische Selbstermächtigung des Genies anmutet, ist in Wirklichkeit eine physiologisch gegründete Theorie ästhetischen Fremdverstehens. Diese geht zurück auf Nietzsches Verständnis eines psychomotorischen Rapports zwischen zwei Individuen als unverzichtbarer Grundlagejeder Form von Kommunikation. Nietzsches Konzeption dieser der Kunst zugrunde liegenden „Leibsprache"8 geht bekanntlich auf seine Auseinandersetzung mit dem Begriff der induction psycho-motrice des Physiologen Charles Féré zurück.9

„Das Sichhineinleben in andere Seelen ist ursprünglich] nichts Moralisches, sondern eine

physiologische Reizbarkeit der Suggestion [...] bloße Ausgestaltungen jenes zur Geistigkeit gerechneten psychomotorischen Rapports (induction psycho-motrice meint Ch. Féré). Man theilt sich nie Gedanken mit, man theilt sich Bewegungen mit, mimische Zeichen, welche von uns auf Gedanken hin zurückgelesen werden ..." (KSA 13, 14 [119]) 7

8 9

Vgl. Nietzsches Kritik an der zeitgenössischen Rezeptionsästhetik in KSA 13, 14 [170]: „Unsere Aesthetik war insofern bisher eine Weibs-Aesthetik, als nur die Empfänglichen für Kunst ihre Erfahrungen „was ist schön" formulirt haben. In der ganzen Philosophie bis heute fehlt der Künstler..." Stephan Grätzel, Die Entdeckung der leiblichen Vernunft, Stuttgart 1989, 125. Vgl. Hans-Erich Lampl, „Ex oblivione Das Féré-Palimpset. Noten zur Beziehung Friedrich Nietzsche Charles Féré (1857-1907)", in: Nietzsche-Studien 15 (1986), 225-264. -

-

eine Krankheit des Leibes?

Die Kunst

159

-

Im Unterschied zu allen späteren psychologischen „Einfühlungs"ästhetiken setzt Nietzsche hier Kunst als grundlegenden physiologischen Prozeß an. Das Kunsterlebnis kommt daher nicht durch einen eindeutig gerichteten Prozeß einer proj ¡zierenden Sinn- und Bedeutungserteilung zustande, sondern durch ein physiologisches Korrespondenzverhältnis, das seinerseits alle sinn- und bedeutungserteilenden Prozesse überhaupt erst konstituiert. Die Mitteilung, nicht nur die zwischen Genie und Kunstbetrachter, ist also immer schon ästhetisch gegründet, oder grundsätzlicher formuliert: ästhetisches und lebensweltliches Fremdverstehen gehen auf ein physiologisches Korrespondenzverhältnis zurück, das alle ,geistigen' oder intellektuellen Verstehensprozesse überhaupt erst fundiert. Dieses Korrespondenzverhältnis manifestiert sich von produktiver Seite als ein ursprünglich nicht auf Verständnis und Kommunikation angelegtes Sichausdrücken, von rezeptiver Seite als physiologische „Suggestion auf die Muskeln und Sinne" (KSA 13, 14 [119]). Der Tanz ist für Nietzsche der Prototyp eines solchen ekstatischen Kommunikationsverhältnisses: hier treten zwei Leiber in einen direkten und unvermittelten Rapport miteinander, hier findet die physiologische Korrespondenz ihren direktesten, rückhaltlosesten Ausdruck, hier ist der Ausdruck noch ganz in die Ausdrucksbewegung aufgelöst.

Disgregation und décadence

5.

Kehren wir nochmals zu Nietzsches Bestimmung der décadence als einer Willensschwäche' zurück. Auf den resultativen Charakter des Willensbegriffes war bereits hingewiesen worden. Das Phänomen Willensschwäche' bezeichnet in Nietzsches Sinne ein physiologisches Syndrom, das sich aus der Weise des Zusammenwirkens, der gelungenen oder mißglückten Koordination leibinterner Triebe und Antriebe ergibt. In der mißglückten Koordination realisiert sich Krankheit, weil hier die große Vernunft des Leibes eine vitale Einbuße erleidet. Andererseits wird gerade dieses partielle Mißlingen von Nietzsche immer wieder als unverzichtbarer Bestandteil einer Großen Gesundheit herausgestellt: ,

,

„Der Mensch hat, im Gegensatz zum Thier, eine Fülle gegensätzlicher Triebe und Impulse in sich groß gezüchtet: vermöge dieser Synthesis ist er der Herr der Erde." (KSA 11,

27

[59])

Die D/igregation der Instinkte ist, im Gegensatz zur physiologischen Normalität ihrer aggregation, das pathogène Moment im Zusammenspiel der Instinkte. Sie erscheint aus dieser Sicht als Bedingung dessen, was man Nietzsches physiologisches „Pathos der Distanz" nennen könnte. Krankheit würde demnach gerade in einer Vergrößerung leibintemer Differenin einer Alterierung, Autonomisierung und Überspezialisierung zen und Distanzen bestehen eines Organs, die in einer partiellen De-Organisation des Leibes erfahren und erlitten wird. Im Phänomen der Krankheit findet Nietzsche das physiologische Pendant zu seiner gesellschaftsphilosophisch gemeinten Forderung nach einer Vergrößerung der Distanzen. Wobei die doppelte Perspektivik Nietzsches immer mit zu berücksichtigen ist: Was sich auf der Ebene der großen leiblichen Vernunft als Krankheit artikuliert, ist auf rein-organischer Ebene gerade die Alterierung, Überspezialisierung eines Organs oder eines ZeilVerbandes. Es könnte scheinen, als nähere sich Nietzsche mit seinem physiologisch gegründeten Ansatz einer biologistischen Position an. In Wirklichkeit geht es jedoch nirgendwo um eine -

Dirk Solies

160

positivistische Bestimmung von Krankheit. Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit sind für Nietzsche nur die Folie, auf der er seine Ablehnung der von ihm so genannten „idealistischen" Theorie des Geistes vorbringt. Insofern sind auch, wo von Koordination des Organischen die Rede ist, immer Organe als Träger der Willen zur Macht gemeint. Nur in diesem Zusammenhang ist auch die Rede von Krankheit und décadence zu verstehen: nicht die Beseitigung, der Kampf mit der Krankheit ist für Nietzsche die Bedingung einer „Großen Gesundheit". Maßstab ist dabei kein normierter Begriff von Gesundheit, sondern die physiologische Erhöhung des Lebens selbst: „Gesundheit und Krankheit: man sei vorsichtig! Der Maaßstab bleibt die Efflorescenz des Leibes, die Sprungkraft, Muth und Lustigkeit des Geistes aber, natürlich auch, wie viel von Krankhaftem er auf sich nehmen und überwinden kann gesund machen kann. Das, woran die zarteren Menschen zugrunde gehen würden, gehört zu den Stimulanz-Mitteln der großen Gesundheit." (KSA 12, 2 [97]) -

-

Das Auf-sich-nehmen

von

Krankheit bezeichnet hier nicht ein heroisches Aushalten

von

Leiden, sondern eine solche Anomalie, ein Ausbrechen und eine partielle Autonomisierung

innerhalb des Leibes zurückzuholen in die große Vernunft des Leibes. Dieses Zurückholen und nicht die Aufrechterhaltung eines statischen Zustands ist die eigentliche Leistung der großen Gesundheit. Die .stimulierende Wirkung' der Krankheit kommt dadurch zustande, daß nur durch eine solche interne Distanzvergrößerung, nur durch ein solches Ausbrechen ein progressives Moment innerhalb der großen Vernunft entsteht. Hierin besteht der ekstatische Sinn der Krankheit. Die „Große Gesundheit" ist Ausdruck der großen Vernunft des Leibes. Sie umfaßt als notwendige Bedingung die individuelle Krankheit. Was andererseits nicht bedeutet, daß jede Form von Krankheit in einer solchen großen Gesundheit aufgehen kann. Die Grenzbedingungen einer solchen Gesundheitskonzeption lassen sich selbstverständlich nicht auf normativem Wege festlegen. Ihre Bedingungen zu untersuchen, könnte bestenfalls im Rahmen einer medizinischen Anthropologie geleistet werden. -

-

6. Rausch als Residuum Wie aus den bisher angeführten Textstellen hervorgeht, denkt Nietzsche Kunst konsequent als einen oder vielmehr als den grundlegenden Verständigungsprozeß, der auch lebensweltliches Verstehen begründet. Das Moment der Physiologie ist hierbei von doppelter Relevanz: als physiologische Korrespondenz und als physiologische Akkumulation. Damit bleibt jedoch noch immer die Frage nach der Rolle der Krankheit für das Verständnis von Kunst unbeantwortet. Zwar ist schon auf das progressive Element der Krankheit innerhalb der großen Vernunft hingewiesen worden, doch die Antwort auf die Frage: „Warum bedarf das sich phylogenetisch als ,Große Gesundheit' darstellende Genie auf ontogenetischer Ebene einer Krankheit, um sich ästhetisch mitzuteilen?" steht noch immer aus. Aufschluß gibt hier eine Aufzeichnung Nietzsches aus dem Frühjahr 1888:

„meine Behauptung in diesem Falle ist, daß was heute ,gesund' genannt wird, ein niedrigeres Niveau von dem darstellt, was unter günstigen Verhältnissen gesund wäre daß wir ...

eine Krankheit des Leibes?

Die Kunst

161

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relativ krank sind schädlich, was bei

...

Der Künstler gehört zu einer noch stärkeren Rasse. Was uns schon krankhaft wäre, ist bei ihm Natur -" (KSA 13, 14 [119])

uns

Mit diesem Zitat ordnet Nietzsche den Künstler eindeutig der Entwicklungslinie der „Großen Gesundheit" zu. Die Begriffe „Krankheit" und „Gesundheit" werden hier aus ihrer Polarität entbunden und als graduelle perspektivische Abschattung ein und desselben physiologischen Phänomens betrachtet. Der Künstler, und nicht die mit ihm zeitgenössische Moderne, ist der Gesunde. Seine vorgebliche Krankheit besteht in einem Atavismus der künstlerischen Existenz, in einer Regression in phylogenetisch frühere Entwicklungsstadien, die auf die Weise der Leiblichkeit erinnert und mitgeteilt werden.10 Eine ähnliche regressive Tendenz hatte Nietzsche schon früh für das Traumerleben konstatiert: bereits im ersten Band von Menschliches, Allzumenschliches findet sich der Hinweis: „der Traum bringt uns in ferne Zustände der menschlichen Cultur wieder zurück" (KSA 2, 34)." Anders als im Traumerleben findet jedoch im Rauscherleben, wie Nietzsche schon in seiner Geburt der Tragödie gezeigt hatte, eine Suspendierung des principii individuationis statt. Das Genie erfahrt sich hier nicht mehr auf die Weise der kleinen Vernunft des Ichbewußtseins, sondern auf die Weise der großen Vernunft des Leibes. Genau dieser Erlebnismodus wird im künstlerischen Schaffen vermittelt. Diese Vermittlung ist die eigentliche Leistung der Kunst.

„Die Kunst erinnert uns an Zustände des animalischen vigor; sie ist einmal ein Überschuß und Ausströmen von blühender Leiblichkeit in die Welt der Bilder und Wünsche; andererseits eine Anregung der animalischen Funktion durch Bilder und Wünsche des gesteigerten Lebens; eine Erhöhung des Lebensgefühls, ein Stimulans desselben." (KSA 12, 9 [102]) Durch diesen Bezug auf Gattungserfahrungen versichert sich das Genie einer im oben ausgeführten Sinne suggestiven Formensprache. Kunst erinnert sich dieser Gattungsgeschichte, indem sie die rauschhafte Expressivität des Leibes zum Ausdruck bringt und dadurch auf die physiologische Korrespondenz als der Basis von Mitteilungsfähigkeit überhaupt referiert.

„Der aesthetische Zustand [...] ist der Höhepunkt der Mittheilsamkeit und Übertragbarkeit zwischen lebenden Wesen er ist die Quelle der Sprachen." (KSA 13, 14 [119]) -

Der Rausch als ästhetischer Zustand kann jedoch ein solcher Höhepunkt nur sein, weil und insofern hier eine phylogenetisch vergangene Entwicklungsstufe auf ekstatische Weise wiederholt wird. Insofern kann Kunst zwar definiert werden als „Überbleibsel von einer viel volleren Ausdrucks-Welt des Affekts, ein blosses residuum des dionysischen Histrionismus"

10

11

Ähnliches konstatiert Nietzsche für den Genuß von Rauschmitteln: „Durch Alcohol und Haschisch bringt man sich aufStufen der Cultur zurück, die man überwunden (mindestens überlebt hat). Alle Speisen geben irgend eine Offenbarung über die Vergangenheit, aus der sie wurden" (KSA 13, 11 [85]) Die gesamte Textstelle lautet: „Ich meine: wie jetzt noch der Mensch im Traume schliesst, so schloß die Menschheit auch im Wachen viele Jahrtausende hindurch [...] Im Traum übt sich dieses uralte Stück Menschenthum in uns fort, denn es ist die Grundlage, auf der die höhere Vernunft sich entwickelte und in jedem

Menschen sich noch entwickelt: der Traum bringt uns in ferne Zustände der menschlichen Cultur wieder zurück und giebt uns ein Mittel an die Hand, sie besser zu verstehen [...] Insofern ist der Traum eine Erholung für das Gehirn, welches am Tage den strengeren Anforderungen an das Denken zu genügen hat, wie sie von der höheren Cultur gestellt werden."

Dirk Solies

162

(KSA 6, 118), aber diese Bestimmung erfaßt nur die eine, gleichsam positivistische Seite des Rauscherlebens, nicht aber die ekstatische Bestimmung des Rausches selbst. Diese besteht darin, daß das ekstatische Moment (der Produktion wie auch der Rezeption von Kunst) zu

einem Heraustreten aus dem Umkreis solitärer Individualität führt und sich damit der kommunikativen oder sogar dialogisch zu nennenden Formensprache des Leibes versichert. Mit seiner Substitution des klassischen Ästhetikbegriffs durch eine Physiologie der Kunst, die den Prozeß des Ästhetischen auf leibinterne Vorgänge zurückführt, hatte sich Nietzsche, zumindest auf den ersten Blick, in eine gewisse Nähe zu biologistischen oder psychologistischen Ansätzen begeben. Hier, am Ende dieser Überlegungen, zeigt sich indessen, daß Nietzsches Bestimmung der Ästhetik als einer Physiologie darauf hinausläuft, in der rauschhaften, ekstatischen Vergegenwärtigung des Leibes die Ursprungserfahrung des Menschlichen überhaupt erfahrbar zu machen und gegenwärtig zu halten und zwar, das ist wichtig, auf die Weise einer durch perspektivische Verschiebung distanzierten und sensibilisierten Wahrnehmungsvollzuges. Die Kunst schafft ein Gedächtnis für solche Ursprungserfahrungen, die im Rausch vergegenwärtigt und mitgeteilt werden: -

„Alle Kunst wirkt tonisch, mehrt die Kraft, entzündet die Lust (d. h. das Gefühl der Kraft), es giebt ein eigenes Gedächtniß, das in solche Zustände hinunterkommt: eine ferne und flüchtige Welt von Sensationen kehrt da zurück ..."(KSA 13, 14 [119])

regt alle die feineren Erinnerungen des Rausches an,

-

Ein solches Gedächtnis zu bewahren und Leistung der Kunst angesehen werden.

zu

kultivieren kann und muß als die

eigentliche

Knut Ebeling

Der Sand im Gesicht

oder Le

Corps n'existe pas

Georges Bataille zum

100.

Geburtstag am

10.9.1997

I. mich vor ein paar Jahren nach einem Beitrag für diese Veranstaltung gefragt, so hätte ich unverblümt einige Kapitel aus einer Arbeit über die französische Nietzsche-Rezeption zum Besten gegeben, mit der ich mich damals beschäftigte. Man hätte in diesem Vortrag, den ich nicht halte, sprechen können über die Transformationen, die der philosophische Diskurs durch die Einführung der Physis erlitt; man hätte an die fast vergessene Figur des Künstler-Philosophen erinnern können, der diese Umwandlung vom Begriff des Subjektes zum Symptom eher unfreiwillig durchführte; und man hätte einige der rätselhaften Aussprüche und wundersamen Sprechakte hier verlauten lassen können, die im Umfeld dieses anticartesianischen Diskurses zu vernehmen waren. Allein, mir sind in der Zwischenzeit einige Zweifel gekommen. Mir scheint inzwischen, als wenn die Rede über den Körper ihren eigenen Status verleugnete; daß sie in dieser Rede weil sie einem gewissen Irrtum, einem gewissen Mißverständnis erliegt in diesem in und aus der Mode gekommenen Diskurs nicht eigentlich über den Körper spricht, sondern über einige Probleme des Selbstverständnisses der moderneren Philosophie. Das Mißverständnis scheint mir daraus entstanden zu sein, daß man die Beziehung zwischen Körper und Sprache ganz und gar unhierarchisch gedacht hat, so daß keine Domination des Körpers durch die Rede, die ihn ja auch befreien sollte, denkbar war. Der Irrtum bestand hier schlicht darin, daß man übersah, daß Körper weder sprechen noch schreiben können; daß der Körper nicht das ist, was artikuliert, sondern im Gegenteil das, was bei seiner Artikulation im Weg steht und hinderlich ist; daß sich der Körper also nicht verstehen läßt, ohne ihn in diesem Verständnis zu unterwerfen. Es ist natürlich eine hegelsche Spur, die ich hier verfolge, und mit der ich hinter Nietzsche zurückgehe; es ist der Einwand des Philosophen gegen die Diskursverunreinigung durch die Spuren des Sinnlichen. Man übersah also, um mit Hegel zu reden, die negative Struktur der Sprache, die den Körper überwinden und transzendieren muß, um überhaupt zu sprechen. Nach Hegel schenkt nur die Zerstörung des Körperlichen, die Negativität, das philosophische Sein. Als Bedingung für die Rede des Philosophen wäre der Körper demnach das konstitutiv Ausgeschlossene aus diesem Sein: er existiert in ihm genausowenig wie das andere, unidentische, unkommensurable, das Lacan in treuer Folge Hegels in der Weiblichkeit entdeckte, und das ihn zu seinem bekannten bonmot verführte „la femme n'existe pas" -, das ich im Titel meines Beitrags Hätte

man

-

-

-

Knut Ebeling

164

leicht abwandele. Denn der Körper hat vor dem Geist ebensowenig Existenz wie die sinnliche Verwirrung, die das Weibliche Lacan vermutlich bedeutet hat. Die Positivität des Körpers wäre demnach die Subversion des negativen Begriffs. Da der

Körper nicht direkt in die Repräsentation übernommen werden kann, könnte man auf die Idee kommen, daß es unzulässig sei, philosophisch über ihn zu reden was der Großteil unter den Philosophen sicherlich auch beherzigt hat, weswegen sie heute mit dem Vorwurf der Körperfeindlichkeit bedacht werden. Doch man schützt den Körper vielleicht auch, indem man ihn unangetastet läßt. Um ihn nicht zu dominieren, müßte man ihn womöglich nicht mehr erwähnen. Während hier jede Rede über den Körper als blinder Fleck der Philosophie wie eine unzulässige Unterwerfung und Verfälschung erscheint, wäre Nietzsches „Vernunft des Leibes" zuletzt im Schweigen des Körpers gegeben. Der präzise Ort der angesprochenen Domination wäre das unscheinbare Wort „über". Denn sobald ich etwas über den Körper sage, habe ich ihn unterworfen, seine Grenze überschritten, und sein Schweigen gebrochen. Wenn ich über meinen Körper spreche, wird er unweigerlich zum Knecht meiner Rede, die als solche körperlos ist: denn der Knecht hat in Hegels „Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft", auf deren eigentümlich martialische Figuren ich mich hier und im folgenden beziehe, keinen eigenen Körper. Er verwendet ihn, um dem Herrn -

dienen. Diese Herrschaft der Rede über den Körper wird in dem Moment problematisch, wo der Körper als erkenntnistheoretische Lücke zwischen Subjekt und Objekt auftaucht, in der die Möglichkeit dieses philosophischen man könnte auch sagen: transzendentalen „über" in der Subversion des Begriffes fragwürdig wird. Der Körper bedeutet in meinen Ausführungen nichts anderes als die Grenze der Philosophie, eine hartnäckige Infragestellung der Möglichkeit dieses philosophischen über. Anders gesagt, indem ich über meinen Körper spreche, mache ich mich weil ich als Philosoph von etwas spreche, was den Bereich der Philosophie entschieden überschreitet lächerlich.1 Auch hier behält Hegel gegen Nietzsche recht. Wenn wir also hinter Nietzsche zu Hegel zurückgehen, erscheint jede Berührung mit der Physis, auf die wir bei Nietzsche stoßen, nicht als Position der Körperlichkeit, sondern lediglich als Antastung der Negativität des Bewußtseins oder der Philosophie. Die einzige Leistung, die diese Rede über den Körper bringen könnte, wäre wenn schon die Philosophie dem negierten Körper keine Präsenz vor dem Geist zu verschaffen vermag die Aufhebung dieser Negativität des Geistes. Es handelt sich also bei Nietzsches „Vernunft des Leibes" in erster Linie um ein Problem, das die Struktur der Schrift, die Repräsentation betrifft. Ich werde über nichts anderes sprechen. Dieses Problem, das die Ästhetik systematisch seit ihren Anfängen bei Baumgarten entwickelt, ließe sich an dieser Stelle zu der schlichten Frage zusammenfassen, wie die Positivität des Körpers in die negative Struktur des Bewußtseins eingehen könnte. Die Schwierigkeit in der Beantwortung dieser Frage besteht darin, daß die philosophische Unterhaltung über den Körper Gefahr läuft, die hierachische Struktur als Umkehrung wiederherzustellen, und den Körper in gewisser Weise eher zu kolonialisieren, als ihn zu befreien. Wenn wir über den Körper sprechen, sagen wir vielleicht eine Wahrheit aus, die nicht die seine ist. Zu leicht scheint die Rede über den Körper in der Philosophie die Grenze zu überzu

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1

Der Körper wäre am Ende lächerlich, weil er nicht zu negieren ist. So schreibt Georges Bataille: „Qu'est-ce ridicule? [...] Ridicule, attribut, est sa propre négation. Mais ridicule est ce queje n'ai pas le coeur de supporter." Ich zitiere Bataille im folgenden nach der Ausgabe seiner Œuvres Complètes, Paris 1970-1988, hier: Bd. V, 81.

Der Sand im Gesicht

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schreiten, die das Sinnliche dieser Rede bedeuten könnte, wobei die Vorzeichen ausgetauscht

und die Vorherrschaft der Philosophie über die Physis nur bestätigt wird. Die Bestätigung des hierachischen Diskurses im Auswechseln seiner Vorzeichen bildet zweifellos ein fundamentales Problem der Philosophie des 19. Jahrhunderts. Doch vielleicht bieten sich an dieser Stelle, neben der Unhintergehbarkeit der hegelschen Struktur und neben der philosophischen Unhaltbarkeit ihrer Auflösung durch Nietzsche, noch andere Möglichkeiten, als entweder die philosophische Wahrheit die Unmittelbarkeit des Körpers zerstören zu lassen, oder andererseits den Körper die Philosophie zum schweigen bringen zu lassen beides Verfahren übrigens, die die jeweilige Identität der Diskurse intakt lassen. Anstatt also eine Hierachie durch die andere auszutauschen, müßte die Struktur des Hierachischen selbst verändert werden, wie Derrida nach Heidegger einmal vorschlug.2 Man müßte also versuchen, um nicht den fehlgeschlagenen Versuch weiterzuführen, die Philosophie über den Körper reden zu lassen, was den Körper zur Kolonie des Geistes hat werden lassen, die Physis umgekehrt in die Rede der Philosophie zu übersetzen. Es müßte nun darum gehen, eine philosophische Entsprechung für den Körper oder das Sinnliche zu finden; darum, sie in einer Weise in oder als Schrift zu praktizieren, die sie nicht negiert; d. h. darum, sie in einer Weise zu beschreiben, die sie da jede Beschreibung Negation ist am besten nicht einmal erwähnt. Die Philosophie müßte lernen, will sie die Dinge schonen, diese Dinge zu praktizieren, ohne sie zu berühren, über sie zu sprechen, ohne über sie zu sprechen. Nur so würde man die Grenze intakt lassen, die der Körper bezeichnet. Diese Grenze der Philosophie müßte in ihr Schreiben übernommen werden, will man der knechtischen Sprache ihren Körper wiedergeben. Nur unter Berücksichtigung dieser Grenze könnte eine „Vernunft des Leibes" formuliert werden. Es geht hier also um nichts anderes als um eine veränderte Weise der sprachlichen Aneignung. Man hat dieses Problem freilich schon vor Derrida, und nicht ohne sein Wissen, angegangen. Diese Kunst einer indirekten körperlichen Rede, die die Merkmale des körperlichen z. B. Diskontinuität und Fragmentarisierung in das Schriftliche überführt, wurde von Nietzsche angeregt und von einigen Schreibenden dieses Jahrhunderts zur Vollkommenheit entwickelt: Zum vollkommenen Scheitern der Schrift. Ich denke, man könnte einige gern als „poststrukturalistisch" bezeichnete Positionen als Versuch lesen, die Merkmale des Körperlichen im Anschluß an die surrealistischen Diskurse über Lust und Begehren in die philosophische Schrift zu überführen. Es war an einem gewissen Georges Bataille, dem diese Positionen so viel verdanken, und dessen man heute gedenken könnte, die Grenze der Philosophie, die der Körper dem Sprechenden bedeutet, auf eine Weise in die Schrift zu überführen, daß man davon sprechen könnte, er habe die Leiblichkeit in seiner Schrift praktiziert, ohne diesen Leib in ihr auch nur zu erwähnen. Anders gesagt, während die knechtische Negativität die Körperlichkeit aus der Schrift abgeschafft hatte, wird sie nun in dem Maße rehabilitiert, in dem Bataille gegen jene vorgeht. Ich möchte diese strukturelle Veränderung des philosophischen Diskurses, die Zerschlagung des transzendentalen „über", an einem naheliegenden Beispiel erläutern. In seinem einzigen expliziten Text über Nietzsche Bataille nannte ihn schlicht so: Sur Nietzsche nimmt er die transzendentale Struktur auf, etwas über Nietzsche -

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2 Nach dem

Heidegger-Wort „Neue Rangordnung und Wertsetzung heißt: das Ordnungsschema verwandeln" (Martin Heidegger, Nietzsche, Pfullingen 1961, Bd. I, 242) schreibt Derrida: „Nicht jede Hierachie ist zu beseitigen, denn die Anarchie festigt stets die bestehende Ordnung, die metaphysische Rangordnung; nicht die Termini einer gegebenen Hierachie sind zu verändern oder umzukehren; es ist vielmehr die Struktur des Hierachischen selbst, die verwandelt werden muß". Jacques Derrida, „Sporen, die Stile Nietzsches", in: Nietzsche aus Frankreich, hg. v. Werner Hamacher, Frankfurt a.M./Berlin 1986, 145.

Knut Ebeling

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auszusagen: doch nur um diese Struktur um so eingehender aufzulösen. Dieser Text geht also insofern über Nietzsche hinaus, als er die von Nietzsche ignorierte3 hierarchische Beziehung von Text und Gegenstand, Schrift und Körper selbst zum Gegenstand hat doch nur um auch diese Beziehung aufzulösen, wie wir sehen werden. -

II. Sur Nietzsche Sur Nietzsche, 1942

von Bataille direkt im Anschluß und als Erweiterung des Tagebuches Le Coupable begonnen, ist ein mit Nietzsche-Zitaten unterlegter Text Batailles, der in der Auflösung seiner eigenen negativen Struktur besteht. In Sur Nietzsche wechseln philosophische Reflektionen mit persönlichen Bemerkungen seines Tagebuches aus dem Jahr 1944 ab; während die Reinheit des philosophischen Diskurses durch alltägliche Referenzen unterbrochen wird, bestreitet Bataille einige Teile seines Buches allein aus Zitaten Nietzsches. Das nachfolgende Kapitel besteht dagegen aus Zitaten der Sekundärliteratur, die durch keinen Zwischenruf des Kompiliators unterbrochen werden. Mit diesen sekundären Quellen verfahrt Bataille so, als handelte es sich um seine eigenen Worte: Bataille geht soweit, einige Stellen Nietzsches „à mon compte"4 zeichenlos zu übernehmen, als hätte er sie selbst geschrieben.

Damit wäre die Differenz zwischen Autor und Gegenstand, Text und Thema, Schrift und Körper eingelöst und die Kunst des zeichenlosen Zitierens verwirklicht, die Benjamin einmal nahegelegt hatte. Der Text, von dem sich Sur Nietzsche offensichtlich unterscheidet und den wir hier vorerst „klassisch" nennen es geht um den erkennenden Diskurs der Wissenschaft organisiert sich durch eine Staffelung von Ableitungen, die aufeinander aufbauen, wobei eine Stelle die Anwesenheit der anderen sanktioniert. Die Textstellen sind in diesem Text so aufeinander -

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abgestimmt, daß die einzelnen Teile der kausalen Verkettung reibungslos ineinandergreifen. In dieser Reibungslosigkeit effektuiert sich die Abwesenheit des Körpers insofern, als daß dieser Text sich durch die Transzendierung des Körperlichen organisiert. Daher ist jede textliche Operation Batailles, die sich gegen diese transzendentale Referenz, gegen diese Reibungslosigkeit richtet, als Rehabilitation der verstoßenen Physis zu verstehen. Im Zusammenbruch der Möglichkeit des sprachlichen über, den ich hier beschreibe, effektuiert sich also nichts anderes als die Präsenz eines verfemten Körpers, auf dessen Unterwerfung Bataille unaufhörlich meditierte. Er schreibt: „Temps d'arrêt dans l'enchaînement: je regarde la machinerie f...]."5 Das ganze System der Bataillschen Einschreibungen in das System Hegels unter der Rubrik Nietzsches kann als Betrachtung dieser die Sätze automatisch verbindenden „Maschinerie" gelesen werden, die man als transzendent oder als theologisch bezeichnet hat (daher wird Bataille sein Schreiben atheologisch und seine konspirative Zusammenarbeit mit Nietzsche „communauté athéologique" nennen). Bataille schreibt in der 3

4 5

So schreibt Bataille an einer vielbeachteten Stelle: „Nietzsche ne connut guère de Hegel qu'une vulgarisation de règle. La généalogie de la morale est la preuve singulière de l'ignorance où demeura et demeure tenue la dialectique du maître et de l'esclave, dont la lucidité est confondante." (Œuvres Complètes, Bd. V, 128)

Ebd., Bd. VI, 33. Ebd., 157.

Der Sand im Gesicht

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aktuellen Kondition der Abwesenheit jedes Gottes als eines transzendentalen Referenten. Damit wäre er vielleicht der einzige moderne Autor, der Nietzsches Wort vom Tod Gottes ernst nimmt, d. h. es in seinem Text ausführt, indem er ihn als solchen zerstört. Anders gesagt, Bataille hört auf, seinen eigenen Text zu verwalten und in dieser Verwaltung alles Sinnliche zu zerstören. Das atheologische Schreiben besteht in der Aufkündigung jeder verwaltenden Funktion gegenüber einem Text. Das Ende der Vermittlung, die wir hier beobachten können, bedeutet das einfache Wegnehmen dieser unsichtbaren und verwaltenden Hand, die den Text bis an diesen Punkt traumwandlerisch geleitet hat. Paradoxerweise bedeutet gerade das Wegnehmen dieser transzendentalen Hand den Einbruch der Physis in die Philosophie. Es steht hier kein Referent mehr hinter dem Text, auf den er zurückläuft, und der ihn stillschweigend ordnen würde. Anders, mit Nietzsche gesagt,6 Bataille verzichtet und das vieleicht zum ersten oder zweiten Mal in einer langen Tradition philosophischer Texte auf den Täter hinter dem Text, der den Körper auf dem Gewissen hat. Das Ende dieser Verwaltung, die der Täter seinem Text angedeihen ließ, meint hier nichts anderes als das Weglassen seines organisierenden transzendenten Referenten: Gott stirbt. Das Spiel der unnegierten Textkörper, das Batailles Chance mit der Sprache spielen wollte, kann be-

-

ginnen.

Der verdeckte Referent In der Auslassung des

organisierenden Referenten fügt Bataille stillschweigend ein anderes Element es handelt sich um das andere des philosophischen Diskurses in seinen Text ein. Wenn Bataille zum Beispiel schreibt: „J'accomplis une opération souveraine en ce que mon jugement se rapporte à un élément qui n'est plus intellectuel",7 so inauguriert er damit im philosophischen Text genau die unmöglich zu objektivierende Größe, die dieser eigentlich aus sich ausschloß. Dieser unintelligible Bezug Batailles zu Nietzsche läßt sich nicht in diesem Text herstellen. Die Erfahrung einer im philosophischen Text uneingestehbaren Bindung, aus der sich der gesamte Text Batailles zu Nietzsche ergibt, ist nicht aus demselben abzuleiten. Daher möchte ich diesen Bezug als verdeckte Referenz bezeichnen. Der verdeckte Referent verwirrt die hierachische Ordnung zwischen eigenem und anderem Text. Der dabei entstehende unkenntliche dritte Text, der aus der Überlagerung oder „Überblendung"8 mit dem Text Nietzsches entsteht, ist weder Herr noch Knecht. Er wird an keiner Stelle des Textes als Figur einer kohärenten und sinntragenden Struktur ersichtlich. Bataille erhebt sich an keiner Stelle über den anderen Text, sondern spricht stattdessen von der Erfahrung des „Verstohlenen", die nichts über diesen anderen Text verlauten läßt ein zweifellos entscheidendes Fehlen.9 -

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6 Bei Nietzsche hatte es geheißen: „[Der Thäter] ist zum Tun bloß hinzugedichtet" (GMD, KSA 5, 279). 7 Georges Bataille, Œuvres Complètes, Bd. VI, 578). Bataille fügt noch andere verdeckte Referenten in seinen Text über Nietzsche ein, z. B. Nervenstörung (ebd., 141), Depression (ebd., 417) désir (ebd., 423). 8 „Das souveräne Tun [... ] ist weder positiv noch negativ. Man kann es nur in den Diskurs einschreiben, wenn man jene widerspruchsvolle Doppelbelichtung (surimpression) praktiziert, die folglich die Logik der Philosophie exzediert." Jacques Derrida, „Sporen, die Stile Nietzsches", 392. 9 Bernhard Taureck schreibt z. B. über dieses Nietzsche-Verständnis Batailles: „[...] Das heißt nicht, Bataille habe nichts zu sagen, sondern nur, daß er nichts über Nietzsche sagen kann. Das sich-wiedergefunden-Haben in Nietzsche führt bei Bataille zu einem ehrlichen Prinzip der Nicht-Interpretation." Bernhard Taureck, Französische Philosophie im 20. Jahrhundert, Reinbek 1988, 196.

Knut Ebeling

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An die Stelle des glatten und körperlosen abstrakten Bezuges eines Textes zu einem anderen tritt bei Bataille deren unkenntliche idiosynkratische Verbindung. Man kann also sagen, daß die negierte Körperlichkeit präzis in der Ungenauigkeit des verdeckten Referenten rehabilitiert wird. In der Mitte des philosophischen Textes breitet sich nun eine eigenartige

Leere aus. Indem Bataille diesen blinden Fleck in das Zentrum des philosophischen Diskurses einschleust, läßt Bataille sein Buch über Nietzsche also von einem Referenten organisieren, der in ihm selbst nicht enthalten ist; sein Schreiben geht dem Text voraus. In dieser Vorläufigkeit begegnet Bataille direkt der apriorischen Vorläufigkeit, die den philosophischen Text seit Descartes bestimmte und parodiert diese zutiefst. Denn während auch der klassische Text als von Referenten organisiert erscheint, die in ihm nicht einsehbar sind er ist apriorisch auf Verständlichkeit und Transparenz ausgelegt -, führt die Uneinsehbarkeit bei Bataille nicht zu Transparenz und Klarheit des Textes, sondern zu seiner völligen Undurchdringlichkeit und Unleserlichkeit. Der offensichtlich abwesende Referent wird also keineswegs verheimlicht; es ist dagegen die Anwesenheit Nietzsches im Text Batailles, die die Abwesenheit des transzendentalen Referenten anzeigt, so als sollte Nietzsche selbst diesen parodierenden Verlust der Transzendenz bezeichnen. Doch was bewirkt dieses wundersam fusionierte Schreiben, diese spielerische Rede, diese seltsam esoterische Feier des fremden Textes? Weshalb schreibt ein Autor einen Text über einen anderen Autoren, in dem er sich auf die gleiche Höhe mit ihm stellt? Kommen wir zu jener Figur der Communauté, die das exoterische Sprechen der Philosophie in ein esoterisches Gemurmel zu verwandeln droht. -

Communauté Die Kunst seiner auf den ersten Blick ungeordnet und chaotisch wirkenden Lektüre besteht also präzis in der Unterlassung der transzendierenden Körperlosigkeit, die die negierende wissenschaftliche Lektüre gemeinhin kennzeichnet. Bataille versucht in seinem Buch über Nietzsche, das Gelesene nicht zum Produkt eines Verständnisses und zur Funktion eines Wissens zu degradieren, und unterläuft damit die ordnende Funktion, der ein Buch bis zu diesem Zeitpunkt unterstanden hatte. Mit anderen Worten, Bataille bezieht sich auf Nietzsche nicht wie auf einen Gegenstand, über den er ein Buch schreiben will er liest ihn nicht im Hinblick auf das, was er über ihn zu sagen gedenkt, oder auch nur im Hinblick darauf, daß er überhaupt etwas über ihn sagen will -, sondern er bespricht ihn auf gleicher Höhe mit seinem eigenen Leben, das ihm keineswegs verständlicher ist als die Texte Nietzsches. Anstatt also ein Buch „Über Nietzsche" zu schreiben, und sich im Prozeß einer kritischen Lektüre von seinem Gegenstand zu distanzieren, besteht die Besonderheit dieses Nietzsche-Buches darin, daß Bataille diesen bestimmenden Bezug zu Nietzsche fallenläßt. Er spricht von Nietzsche nicht als Objekt seines Textes, Nietzsche wird zu seinem mitschreibenden und einbezogenen Subjekt, zu seinem Komplizen: Das bedeutet Bataille die Freundschaft. Denn Freund wird von Bataille emphatisch nur genannt, wer die Entgegensetzung des Menschen durch sich selbst aufhebt: „L'ordre établi qui nous est imposé est la constante négation de tout ce qui est irréductible et fier: qui n'en est pas révolté ne peut être l'ami, il est l'ennemi de l'homme."10 -

10

Georges Bataille, Œuvres Complètes, Bd. XI, 377.

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Nietzsche als Freund zu lesen, hieße, ihn nicht auf sein persönliches Verständnis zu reduzieren. Weil Bataille Nietzsche zu lesen versucht, ohne ihn zu negieren, ihn also gewissermaßen liest, ohne ihn zu lesen, ist Sur Nietzsche die Utopie eines Buches als eines anderen Umgangs mit seinem Thema, das der romantischen Idee der Freundschaft einiges verdankt. Diesen veränderten Umgang mit seinem Gegenstand, diese Auflösung von dessen eigener Gegenständlichkeit, bezeichnet Bataille auch als „Communauté": „Ma vie, en compagnie de Nietzsche, est une communauté, mon livre est cette communauté."" Es geht an dieser Stelle nicht mehr um eine originäre Philosophie, sondern um ein Schreiben in und aus der Gemeinschaft mit anderen, die die Einsamkeit des Schreibenden keineswegs aufzuheben, ihn aber wohl aus seiner identitätsmäßigen Isolation zu befreien imstande sind: das ist „la Communauté négative: la communauté de ceux qui n'ont pas de communauté".12 Doch wie verwirklicht man diese Gemeinschaft, wie schreibt sich diese Assoziation des eigenen an einen fremden Text in der dissoziativen Praxis des Schreibens?

Die

Wiederholung

vorwegzunehmen, Bataille verwirklicht diesen Anschluß an das andere durch Praxis der Wiederholung, die er direkt von der eingestanden unoriginellen eigenartige Alexandre Hegel-Rezeption Kojèves ableitete.13 Die Wiederholung stellt den Gipfel der Theorie der Communauté dar, insofern als sie ein fremdes Schreiben nicht nur assoziiert und praktiziert, sondern es in letzter Instanz korporiert und damit sakralisiert. In der Tat kann man alle textlichen Operationen, die Bataille in der Behandlung Nietzsches unternimmt, als Vermeidung jeder profanierenden sprachlichen Geste lesen. Die Freundschaft ist heilig. Am Anfang dieser Freundschaft steht bei Bataille das Sich-Wiedergefünden-Haben in Nietzsche, das Gefühl der Communauté, der Identität zweier Diskurse. Er schreibt: „Je suis le seul à me donner, non comme un glosateur de Nietzsche, mais comme étant le même que lui."14 Offensichtlich handelt es sich bei der Lektüre Nietzsches durch Bataille um die Geschichte einer privilegierten (und in dem absoluten Anspruch, den Bataille auf Nietzsche erhebt, durchaus nicht unironischen15 Beziehung. Mit diesen Zeilen, in denen Bataille immer an der Grenze zu Vereinnahmung und totaler Reklamation des fremden Gedankens operiert, wird der Parcours Batailles von Hegel zu Nietzsche lesbar als der eines zunehmenden Distanzverlustes. Im Gegensatz zum wissenschaftlichen Verfahren, das seine Autonomie in der Distanz zu seinem Gegenstand erhält, findet Bataille seine Freiheit im Eingeständnis einer totalen Distanzlosigkeit. Und im Gegensatz zu Hegel, bei dessen fortwährender Interpretation sich der Verdacht Batailles erhärtet, es handele sich beim Hegelianismus um eine Philosophie der Unterordnung und der Arbeit,16 verliert er angesichts der Sätze Nietzsches am Ende jede Um die Antwort

eine

Ebd., Bd. VI, 33. Ebd., Bd. V, 483. „Cette pensée veut être, dans la mesure où c'est possible, la pensée de Hegel telle qu'un esprit actuel, sachant ce que Hegel n'a pas su [...] pourrait la contenir et la développer. L'originalité et le courage, il faut le dire, d'Alexandre Kojève est d'avoir aperçu l'impossibilité d'aller plus loin, la nécessité, en conséquence, de renoncer à faire une philosophie originale, et par là, le recommencement interminable qui est l'aveu de la vanité de la pensée." (Ebd., Bd. XII, 326) 14 Ebd., Bd. VIH, 401. 15 Bataille witzelt einmal: „Ceux qui le lisent le bafouent [...] Sauf moi?" (Ebd., Bd. VI, 13). 16 Vgl. ebd., Bd. V, 96. 11 12 13

Knut Ebeling

170

Contenance.17 Diese Identität führt Bataille zu seinem eigenartig erscheinenden Verfahren der Wiederholung, das ich anhand einer autobiographische Notiz verdeutlichen möchte: „Je ne

commençai à lire Nietzsche qu'en 1923. Cette lecture me donna d'ailleurs un sentiment décisif: pourquoi continuer à réfléchir, pourquoi envisager d'écrire, puisque ma pensée toute avait été si pleinement, si admirablement exprimée?"18 Am Anfang seiner Wiema pensée -

derholung der Erfahrung Nietzsches steht also die Weigerung Batailles, zu wiederholen, was -

jener bereits formulierte. Denn wenn er nur verbal wiederholte, wäre er gezwungen, sich in dieser Wiederholung von dem zu distanzieren, was er als mit sich selbst identisch erfuhr. Das Gebot der Freundschaft schien ihm diese Distanzierung nicht zu erlauben. Bataille will also nicht die Worte wiederholen, sondern ein Problem, nicht eine Erkenntnis, sondern die Erfahrung, nicht die Philosophie, sondern die Physis. Es ist genau dieses unintelligible Element, das Bataille wiederholen wollte, um seine Rede in dieser Wiederholung zu sakralisieren;19 mit anderen Worten, das von Nietzsche Gesagte ist ihm zu heilig, als daß er es in

seiner Rede objektivieren und damit profanisieren könnte. In ihrer Weigerung, dieses unangeeignete Eigene zu negieren und damit der körperlosen Knechtschaft anheimzustellen, bewahrt die Wiederholung mimetisch die Physis des Gesagten: Nicht seine intelligible, sondern seine Instant-Erfahrung. Diese mimetische Wiederholung bewahrt gewissermaßen die Physiognomie der Rede, in ihr kommt das zum Tragen, was den philosophischen Diskurs zum Stürzen veranlaßt. Insofern als sich in der Wiederholung artikulieren kann, was der philosophische Bezug negieren muß, könnte man davon sprechen, daß hier der Positivität des Leibes entsprochen wird. Die Operation der Wiederholung versetzt die dissoziative Schrift in die Lage, sich ihr anderes zu assoziieren, sie gibt einem intelligiblen Leser den Rausch von Nietzsches Sensibilität zurück, bzw. sie simuliert ihn.20 Die sakralisierende Wiederholung läßt Bataille zu einem Simulakrum Nietzsches werden, einem Trugbild, das dieses Sein nur noch parodisieren kann, will er es nicht profanieren. Daher konnte Bataille seinen berühmten Satz sagen: „Nul ne peut lire Nietzsche authentiquement sans [être] Nietzsche."21 Und daher auch jene Klammern um dieses [Sein], das nicht länger seines ist. Bataille richtet seine Schrift in diesem anderen Körper ein, der nicht existiert: weil er nicht 17 Was nicht heißen soll, es gäbe keinen kritischen Bezug Batailles zu Nietzsche; Bataille entdeckt durchaus Differenzen zu Nietzsche in der Interpretation des „Willens zur Macht", den Bataille in einen „Willen zur Chance" umformuliert sehen möchte, der auch den Untertitel von Sur Nietzsche darstellt; schließlich kommt es zu einer intimen Interpretation der Ewigen Wiederkehr, die Bataille als Bewegung einer Ohnmacht versteht, die jedoch insofern unwirksam wäre, als sie keine Erfahrung produziere (ebd., Bd. VI, 158,177). Während Nietzsche jenseits der désir nur die Macht gefunden hätte, fand Bataille dort das Spiel (ebd., 431). Man müßte also Bernhard Taureck widersprechen, der behauptet, Bataille hätte über Nietzsches Lehren „nichts außer zwei Sätzen" mitzuteilen. (Bernhard Taureck, Französische Philosophie im 20. Jahrhundert, 196) 18 Georges Bataille, Œuvres Complètes, Bd. VIII, 562. Eine ähnliche Beschreibung der Geschichte der Batailleschen Nietzsche-Lektüre findet sich an einer anderen Stelle, die mit den Worten schließt: „[...] Je n'avais pas beaucoup de vanité: je pensai simplement queje n'avais plus de raison d'écrire. Ce que j'avais pensé [...] était dit, c'était

grisant." (Ebd., 640)

19 Daher läßt sich diese Sakralisierung in der Struktur des esoterischen Kommentars beschreiben, den Foucault in der Ordnung der Dinge von der repräsentierenden Struktur der Kritik unterschieden hatte. Indem der Kommentar die Entstehung des anderen Textes wiederholt, sakralisiert er diesen. Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 1974, 117. 20 Ich beziehe mich hier auf den Begriff der Simulation nach Pierre Klossowski, in: „Le simulacre dans la communication de Georges Bataille", Critique ¡95-196, Paris 1963. 21 Georges Bataille, Œuvres Complètes, Bd. VIII, 477. Wonach Bataille fortfahrt zu sagen: „Certes, on ne peut parler de lui du dehors, si l'on ne s'est soi-même trouvé dans une situation qui ne peut être connue sans l'avoir soi-même

l'éprouvée."

171

Der Sand im Gesicht

existiert. Mit Sur Nietzsche inauguriert Bataille also eine Textform, die die Erfahrung der Nicht-Identität von Begriff und Sein aus der modernen Literatur in die Philosophie übernimmt.

III. Das Schreiben der Immanenz Die Körperlichkeit eines Textes wie Sur Nietzsche effektuiert sich präzis an der Stelle, wo die verlorene Autonomie seiner Form in einer Unabgeschlossenheit zergeht, der Bataille den Begriff des „Lebens" gibt.22 Und wie im letzten Text Deleuzes wird diesem Leben, das das Buch schreibt und das sich ebenfalls durch die Abwesenheit eines organisierenden Prinzips auszeichnet, der Topos der Immanenz zugesprochen. Nennen wir diesen veränderten Bezug der Schrift zu ihrer eigenen Struktur der die Physis nicht in der Schrift, sondern als Schrift rehabilitiert also immanent; Bataille nennt ihn selber so, wenn er von den wiederholten unintelligiblen „Zuständen" Nietzsches schreibt: „Les moments de simplicité me semblent rapporter les [états] de Nietzsche à l'immanence."23 Weil sie sich auf die unnegierten Zustände bezieht, und nicht auf den negativen Gedanken, ist die Welt der Immanenz die einer eingelösten Physis. Während sich das Transzendentale durch die Auflösung jeder Körperlichkeit verwirklicht,24 artikuliert sich in der Immanenz die verlorene Physis der Philosophie. Unter dem Zeichen der Immanenz wird also der Leib in der Schrift rehabilitiert. Damit wäre die Immanenz, jener erste rein von Nietzsche inspirierte Begriff Batailles, der die Überschreitung der hegelschen Terminologie deutlich macht, das Gegenteil der negativen Handlung des Schreibens, des Tuns im hegelschen Sinn, der Arbeit, die ihren Gegenstand unter Negation des Sinnlichen verändert.25 Damit fiele das Schreiben der Immanenz aber auch der Ohnmacht -

-

anheim.

Die Ohnmacht des Autors Erfahrung der Ohnmacht seines Denkens. Ohne die transzendierende Aktivität, die Handlung, erfahrt ein Schreibender in seiner „faiblesse irrémédiable"26 die Instabilität und Diskontiuität seines Schreibens. Er schreibt (sofern man seine An dieser Stelle macht Bataille die

22 „Ma méthode ou plutôt mon absence de méthode est ma vie." (Ebd., Bd. VI, 131) 23 Ebd., 160. 24 „Ce monde d'objets qui me transcende m'enferme dans la sphère de transcendance [...] Par là ma propre activité m'anéantit, introduit en moi-même un vide auquel je suis subordonné. Je survis néanmoins à cette altération en nouant des liens d'immanence." (Ebd., Bd. V, 206) 25 Als Bezüge zur Immanenz nennt Bataille folglich: „1) erotische 2) komische 3) verwandtschaftliche 4) heilige 5) romantische." Eine Seite später fügt er den Bezug zum Opfer hinzu: „On remédie au caractère vide du monde transcendant par le sacrifice. [...] Un lien d'immanence exige une déchirure préalable du réseau transcendant de l'activité, tels sont la mise à nu, l'accouchement, la mise à mort (Sur le plan du comique, une plaisanterie révèle l'impossible au sein du possible. Le mouvement romantique érige la déchirure en principe, non sans vaine

ostentation.)" (Ebd., Bd. V, 208)

26 Ebd., 487.

Knut Ebeling

172

Tätigkeit noch so nennen möchte): „J'élabore ma pensée, je décide de son expression mais ne puis disposer de moi comme je veux. C'est à d'autres, au hasard heureux, à des moments fugitifs de détente, queje dois un minimum d'ordre [...]".27 Bataille verurteilt sich mit der Ordnung des anderen also zur Ohnmacht gegenüber dem Geschriebenen. Um jedes Mißverständnis zu vermeiden, sollte man vielleicht hinzufügen, daß diese Enteignung des Autors durch seinen Text nicht eine unbeabsichtigte Folge, sondern eine kalkulierte Operation darstellt. Bataille will präzis jede teleologische Ordnung aus seiner Schrift ausschließen. Denn wenn die Ordnung zum Stillstand, zur Lähmung führte („La mise en ordre aboutissait au compromis, au malaise, à une stagnation sans air"28), wenn sie langweilte (Je m'ennuis, je suis découragé, ayant à finir un livre, de devoir tout enchaîner dans une suite de paragraphes et de phrases"29), so geht es nun darum, das Gegenteil dieser Macht der Ordnung zu ertragen. Daher gilt es, diese Zerstörung zu affirmieren, dieses Fehlen zu behaupten, dieses Opfer zu wollen.30 Bataille unternimmt in seiner physischen Schrift nichts anderes als die philosophische Affirmation der Unordnung. Er macht dies deutlich, wenn er schreibt: „Ce livre-ci a ce sens profond: que l'état extrême se dérobe à la volonté de l'homme (en tant que l'homme est action, est projet), qu'on n'en peut même parler qu'en altérant sa nature."31 Was in dieser heillosen Unordnung endet, diese scheinbare Abwesenheit von Strenge innerhalb des Buches, ist also als Resultat der strengsten Operation Batailles zu verstehen. In Bataille erreicht das Schreiben einen Punkt, an dem die Strenge die Unordnung und die Methode die Abwesenheit derselben fordert; hier wird die Unordnung positioniert gegen das Ordnungsbestreben des Bewußtseins. Bataille schreibt: „Travailler mal, en desordre, est le seul moyen, souvent, de ne pas devenir fonction."32 und: „Rien n'est plus semblable à l'essor que la perte de con-

trôle."33

Weil eine „invincible répugnance à situer efficacement les choses"34 ihn von jeder feststellenden und gewinnbringenden Haltung gegenüber dem eigenen Schreiben abhält, muß auch sein eigenes, enteignetes Buch über Nietzsche sich die letztendliche Aussage versagen und sich jeder Ordnung enthalten. Diese Abwesenheit einer teleologischen Zielsetzung des Schreibens übernimmt Bataille von Nietzsche, dem er anmerkt: „Il ne perdit jamais le fil d'Ariane, qui est de n'avoir aucun but et de ne pas servir de cause: la cause, il le savait, coupait les ailes.[...] Comment ne pas donner de conséquences à l'absence de but inhérente au désir de Nietzsche?"35 Das Schreiben der Immanenz ist, man rät es, der Versuch Batailles, diesem intimen Wunsch Nietzsches zu entsprechen. Nur der Text, der nicht mehr folgt, nicht 27 Ebd., Bd. VI, 200. 28 Ebd., Bd. V, 513. 29 Ebd., 539. 30 Foucault deutet den Verzicht auf den kohärenten Textzusammenhang als Befreiung der Sprache, als eine Aufhebung ihrer Beschränkung zur Besonderheit, die sie der allgemeinen Sinnlosigkeit des Unumschränkten anheimfallen ließe: „Eines Tages wird man freilich die Souveränität dieser Erfahrung anerkennen und auch versuchen müssen, sie anzunehmen: nicht daß man ihre Wahrheit ausliefern sollte lächerliche Forderung angesichts von Wörtern, die für uns Grenzen sind sondern man sollte versuchen, endlich unsere Sprache von dorther zu befreien." Michel Foucault, „Zum Begriff der Übertretung", in: Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M. 1988, 77. 31 Georges Bataille, Œuvres Complètes, Bd. VI, 191. Und an einer anderen Stelle geht er noch weiter: „[...] une hécatombe des mots sans Dieux ni raison d'être est pour l'homme un moyen majeur d'affirmer sa souveraineté." (Ebd., Bd. V, 220) 32 Ebd., Bd. VI, 154. 33 Ebd., 365. 34 Ebd., Bd. V, 467. 35 Ebd., Bd. VI, 23. -

-

Der Sand im Gesicht

einmal sich

173

selbst, kann souverän genannt werden. Und nur die Souveränität überschreitet die

Körperlosigkeit des metaphysischen Diskurses. In der Unbeugsamkeit ihrer Texte selbst sich selbst gegenüber zeigt sich die größte Nähe Batailles zu Nietzsche. Ihre beharrliche Weigerung, dem Buch eine Funktion zuzuweisen, die ihre Sinne transzendiert, führt umgekehrt zur Zerstörung dessen, was man bislang als Autor verstand. -

-

So führt die Ohnmacht der Immanenz zum Verlust der Autorschaft. Aus dem Autor als machthabenden Schöpfer seiner Schrift wird durch das Einlassen der Physis ein bloßer Effekt seines Schreibens. So schreibt Bataille: „Si un livre est communication, l'auteur n'est qu'un lien d'unité de lectures différentes."36 Ohne die Leitung eines Autors, und ohne sein Vermögen zu leiten, verliert dieser Schreibende zuerst die transzendentale Ordnung der Schrift an die Unordnung („Le désordre est la condition de ce livre";37 die Bedingung der Möglichkeit von Kontinuität und Kohärenz schwindet;38 und der Autor findet sich schließlich nicht mehr mit sich selbst kongruent39). Dieser Tod des Autors bewirkt am Ende eine Auflösung des Ortes Buch, an dem sich der Schreibende befand und durch den er sich definierte. Wenn sich die Immanenz als das Gegenteil jeder transzendierenden Tätigkeit definiert, dann ist sie nicht nur das Gegenteil der Handlung, sondern auch das Gegenteil der Schrift: Wenn die Existenz der Schrift gleichbedeutend ist mit dem transzendentalen Zugriff, in dem der ohnmächtige und unwissende Mensch in seiner körperlosen Gegenständlichkeit über sich hinauswuchs, dann wird die Immanenz der physischen Schrift lesbar nicht nur als Verschwinden eines Autors in der Ohnmacht gegenüber seiner Schrift, sondern auch als Zerstörung dieser Macht, dieses Zugriffes: dieses Textes. Die Anwesenheit der Physis in der Philosophie fordert die Abwesenheit des Werkes, die Entwerkung.40 Diese Bewegung eines fortwährenden Verlustes bedeutet nicht nur eine „mise à mort de l'auteur par son œuvre".41 Sondern in der affirmierten Ohnmacht des Autors gegenüber der Niederschrift seines Buches, die sich in seinem Nietzsche-Buch so schön zeigt, ereignet sich schließlich auch die Verabschiedung dessen, was Foucault42 das „absolute Subjekt" nannte, der „Zusammenbruch der philosophischen Subjektivität". Wenn die Erkenntnis des philosophischen Subjekts hier geopfert wird, dann nur, um eine Erfahrung zu ermöglichen die freilich zunächst als Krisis auftritt. -

36

Georges Bataille, Œuvres Complètes, Bd. VI, 408. Eine zweifellos dramatische Verschiebung oder Dezentrierung, die sich an folgenden Stellen ablesen läßt: „Il n'existe pour moi qu'en rapport: C'est d'un noeud de communications réelles" (ebd.); „J'ai tourné le dos aux manières de voir partant de l'expérience humaine duye suis comme d'un fondement. [...] Le moi n'est plus un fondement mais un résultat." (Ebd., 444) Und noch eine andere Stelle zur Dezentrierung von Descartes cogito: „la pensée sous sa forme développée et subordonnée qu'au-delà du [je pense] seule appréhendait Descartes n'a pas son assise en elle-même, mais dans le maniement des solides" (ebd., Bd. V, 215). Die Verschiebung Batailles bestünde also darin, den Ort des Denkens wieder von seinen abstraktem Axiom zu ihm zu verlagern... (siehe auch Georges Bataille, Descartes, in: Œuvres Complètes, Bd. V, -

37 38 39 40

-

123 f.) Ebd., 264. Ebd., Bd. VIII, 584. „Je ne suis pas l'homme de mon livre" (ebd.).

Eingedeutschte 379).

Variante des französischen

41 Ebd., Bd. V, 174. 42 Michel Foucault, „Zum

Begriffs „désoeuvrement" bei

Begriff der Übertretung", 78-80.

Blanchot und Bataille

(ebd., Bd. VI,

174

Krise Das Problem dieses ruinösen, dem Sinnlichen ganz zugewandten Schreibens, das Schreiben zur Zerlassung des Seins bestimmen muß, wäre also zweifach: Während sich der Schreibende durch sein Schreiben keines Seins mehr versichern kann (es zergeht im Augenblick seines Schreibens), verliert, was er schreibt, jeden Wert (was nicht vom Sein spricht, findet sich nicht auf der Seite des Gewinns wieder). So schreibt Bataille: „le doute détruit successivement les valeurs dont l'essence est d'être immuable."43 Die von Bataille angestrebte „totalité immanente"44 stellt freilich ein Äquivalent der Krise, der Verzweiflung, und des Wahns dar.45 Weil Batailles Schrift nichts tun kann, um dem Effekt des Denkens auf den Schreibenden zu beeinflussen, weil sie überhaupt nichts unternehmen kann, weil diese Sprache nicht produziert, sondern verausgabt, weil sie nicht glückt, sondern scheitert, nimmt die Rede der Immanenz einen mitunter verzweifelten Ton an: die Schrift des Körpers scheint daher gleichbedeutend zu sein mit dem Modus des Erleidenden. Bataille schreibt: „Dans l'immanence tout serait subi. Il n'y aurait plus de volonté de faire (d'être puissant) [,..]".46 Wenn der Denkende nichts als

ein Effekt seiner Gedanken ist, verliert er die Fähigkeit, den sinnlichen Eindruck zu abstrahieren, ihn in einem Gedanken aufzuheben, was ja die Leistung dieser Figur Hegels ist. Die immanente Schrift findet sich stets dem Schmerz gegenübergestellt, die ihr zerstörender Entzug für das Bewußtsein bedeutet eine Konstellation, die einen Verdacht bei Bataille hervorruft: „Cette immanence impie serait-elle un présent de la souffrance?"47 Ein unabweisbarer Verdacht; vielleicht ist die Immanenz unlebbar;48 (aber das Leben steht an dieser Stelle auch nicht auf dem Spiel). Doch während das Schreiben des Körpers direkt in den körperlosen Schmerz führt, nichts zu wissen, entledigt sich Bataille in diesem Augenblick Augenblick seines höchsten Einsatzes, Augenblick des Spiels: „L'état d'immanence implique une entière [mise enjeu] de soi"49 nicht nur vom Zugriff des Knechtes, sondern auch von dem des hegelschen Herrn. Bataille schreibt: „Parvenant à l'immanence, notre vie sort enfin de la phase des maîtres."50 Während der hegelsche Herr sich nur im Modus seiner eigenen Abwesenheit besitzt, deren Transzendenz ihn zum Handeln befähigt und dessen Sinn ihn vor der Erfahrung der Leere schützt, kann sich der Schreibende der Immanenz weil er sich nicht besitzt dieser verzweifelt sinnlosen Situation hingeben und auf seinem zergehenden Sein in der Sinnverlassenheit -

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43

Georges Bataille, Œuvres Complètes, Bd. VI, 146. Bei der Arbeit dieser Desedimentierung der metaphysischen Substanz scheint Bataille klarer gewesen zu sein als Nietzsche, daß es gilt, nach dem Opfer oder der Zerstörung der Werte, der Moral und, am Ende, auch Gottes eine zweite Rechnung von Werten einzuführen, die sich nicht auf das Produzierte beschränkt. In dieser Rechnung Bataille wird sie in seinem zweiten großen Unternehmen nach der Somme Athéologique in „La Part Maudite" durchführen verhält sich der Verlust zum Ergebnis wie das Loch zum Haus: „Si ma pensée n'étais pas le mouvement d'égarement queje crois, si elle n'était pas, comme il m'a semblé, un trou qui se creuse, qu'elle sorte de maison construirait-elle?" (Ebd., Bd. VI, 442) Ebd., 20. Ebd., 21. Ebd., 473. Ebd., 159. Ebd., Bd. V, 485. -

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44 45 46 47 48 49 Ebd., Bd. VI, 170. 50 Ebd.

Der Sand im Gesicht

175

Sprache beharren: als „sujet de souffrances indéfinies, vides de sens."51 Dieser Augenblick, in dem die Sprache auf die Willkür eines Würfelwurfes und ihre Herrschaft auf den Leerlauf ihres Opfers verwiesen wird, ist dem Denken unerreichbar. Diese Distanz zum unabbildbaren Augenblick wird vom literarischen Werk Batailles einmal durchseiner leeren souveräne

messen.

Exzeß Nichtsdestotrotz deutet dieser Verlust des physischen Schreibens die rückhaltlose Verausgabung einer Schrift an, die im Prozeß ihrer Sinnzerstörung die Bedeutungen noch ein letztes Mal als Leerstellen aufblitzen läßt, die sie selbst schon nicht mehr besitzt. Daher auch die Metaphern einer metaphysischen Durchgängigkeit bei Bataille, die einen Text verherrlichen, der nicht mehr existiert: ihn verherrlichen, weil er nicht existiert: ihn verherrlichen, damit er nicht existiert. Das wäre der Exzeß. Dieser befreiende Exzeß der Batailleschen Schrift besteht in der leeren Form all dessen, was einmal transzendent und göttlich war und nun seine textliche Physiognomie in der Zerstäubung seines Sinnpotentials wiedergewinnt. So schreibt Bataille: „Cet état d'immanence est l'impiété même"52 Hier erfährt ein Schreibender die Verlassenheit von jedem Wissen, aber auch die Glückseligkeit dieses gottverlassenen Sprechens. Er schreibt: „J'imagine que saisje? d'une manière de parler si heureuse qu'elle déforme toutefois la réalité qu'elle évoque."53 Indem Bataille Auflösung und Deformation als bildend und nicht als gefährdend begreift, kann sie hier als Ausweg aus der Gefangenheit des Sprechens in den Strukturen des geistig Wirklichen und körperlich Abwesenden erscheinen; die Deformation, das Informelle, bedeuten also eine strukturelle Innovation für die Physiognomie eines Textes. Denn durch die Ohnmacht, die das philosophische Subjekt bricht, wird zum ersten Mal der gestalterische Alleinanspruch des Autors abgelöst. Neben die Formation des eigenen tritt die produktiv verstandene bildende Deformation des anderen. Unbeeinflußt von einem subjektiven Willen beginnt ein Schreiben, das andere einzulassen, es auf sich abdrücken zu lassen, um in dieser Passivität ein anderes Wissen entstehen zu lassen. Dieses „Nicht-Wissen" wird von Bataille in der Folge seines Nietzsche-Buches zu einem System entwickelt, das sich dem Hegelschen souverän entgegenstellt. Zum ersten Mal tritt dem Gestalter Hegel ein Gestaltetwerden an die Seite. In diesem ist Schreiben nicht mehr nur negierende Aktivität, sondern nun auch bergende Passivität, die geduldig die blinden Bewegungen des Lebens aufnimmt und sich an die Oberfläche der Dinge anschmiegt, die an ihr herabzurieseln beginnen wie der Sand im Gesicht, mit dem Foucault seine Ordnung der Dinge beendet.54 -

-

51 52 53 54

Ebd., 121. Ebd., 81. Ebd., 170. Vgl. dazu auch: Herbert Schnädelbach, „Das Gesicht im Sand", in: Rehabilitation des animate rationale, Frankfurt a.M. 1992.

Wolf Zachriat

Nietzsches Entwurf einer geistig-leiblichen Aristokratie

In einem Textstück von Menschliches, Allzumenschliches I beschreibt Friedrich Nietzsche die bedeutenden Aufgaben des Arztes in der Moderne, zu denen er die Förderung der „Herstellung einer geistig-leiblichen Aristokratie" (MA I, KSA 2, 203) zählt. Mit dieser interessanten Formulierung wird zu den dominierenden Staatsformen der Moderne eine Fundamental-Alternative umrissen, deren Ausformung in den ,mittleren' Schriften unter besonderer Berücksichtigung von Nietzsches Auslegung des Leib/Geist- Verhältnisses in diesem Aufsatz untersucht wird. Mit insgesamt sieben Thesen möchte ich Nietzsches psycho-physiologischen Ansatz in der Philosophie skizzieren und daran anknüpfend einige Aspekte seiner Konzeption einer neuen Aristokratie andeuten. Es ist meine Absicht, mit dieser Interpretation die Aktualität von bestimmten Aspekten dieses Entwurfs aufzuzeigen und die Unangemessenheit sowohl von Ernst Tugendhats Einordnung der politischen Philosophie Nietzsches als präfaschistisch als auch von Hans Jonas' Stigmatisierung des Nietzscheschen Entwurfs als

einer „Eskapade" nachzuweisen.1

von Nietzsche vollzogene Wendung zum Leib, die gegen rein idealistische Theorieansätze opponiert, schlägt sich auch in seiner politischen Philosophie nieder.

I. Die

Für Nietzsches Philosophie ist die Leiblichkeit des Menschen von konstitutiver Bedeutung. Bereits im Tragödienbuch werden die zentralen Elemente des Dionysischen und Apollinischen auch als physische Phänomene gedeutet, und in der unveröffentlichten Schrift Über Wahrheit und Lüge erinnert Nietzsche an die Unhintergehbarkeit des Leibes, wenn er die konstitutive Bedeutung der „Nervenreize[ ]" oder „Sinnesempfindungen" (WL, KSA 1, 884) für das menschliche Erkennen betont. Auch seine praktisch-politischen Überlegungen sind von einer Aufmerksamkeit gegenüber der Relevanz des Leibes geprägt, was sich beispielsweise in seinen Äußerungen zur Bedeutung des „politischen Triebes" und des „unbewußten Instinkt[s]" in der Politik (KSA 1, 771 bzw. 773) widerspiegelt. Schon in den frühen Schriften manifestiert sich somit eine deutliche Distanz zum leibfeindlichen Idealismus.

1

Siehe Ernst Tugendhat,

Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a.M. 1995, 218 f., bzw. Hans Jonas, Prinzip Verant-

wortung, Frankfurt a. M. 1984, 256.

WolfZachriat

178

Mit der Publikation von Menschliches, Allzumenschliches I offenbart Nietzsche der Öffentlichkeit seine Abkehr von der künstlerisch-tragischen Metaphysik und entwirft sein Programm einer aufklärerischen, historisch-psychologischen Philosophie. In markanter Abgrenzung zur traditionellen Metaphysik, die seines Erachtens nach absoluten, ewigen Wahrheiten sucht, wendet er sich den menschlichen, allzumenschlichen Problemen und deren Entstehungsgeschichte zu. Dieser Wandel dokumentiert sich auch in semer spezifischen Anknüpfung an den traditionsreichen Begriff der ,Psychologie', denn die Beschäftigung mit der Wissenschaft von der Seele impliziert bei ihm keine Ausblendung oder Geringschätzung der leiblichen Phänomene, sondern er betont ausdrücklich die außerordentliche Relevanz der „Physiologie" und „Entwickelungsgeschichte der Organismen" (MA I, KSA 2, 30) für die Auseinandersetzung mit dem Menschlichen, Allzumenschlichen. Mit diesem neuartigen, die Unhintergehbarkeit des Leibes konsequent beachtenden Denken will er sich von den überlieferten, philosophischen Ansätzen abheben, die s. E. überwiegend die Sinne verketzern.2 Sein zentraler Vorwurf an die idealistischen Apologeten des reinen Geistes richtet sich gegen die Überschätzung der Vernunft, deren Entstehung und Erhaltung sich überhaupt erst dem sich selbst organisierenden Leib verdanken.

„Sonderbar: das worauf der Mensch am stolzesten ist, seine Selbstregulierung durch die Vernunft, wird ebenfalls von dem niedrigsten Organismus geleistet, und besser, zuver-

lässiger. Die Vernunft ist ein langsam sich entwickelndes Hülfsorgan, was ungeheure Zeiten hindurch glücklicherweise wenig Kraft hat, den Menschen zu bestimmen, es arbeitet im Dienste der organischen Triebe,..." (KSA 9, 533)3 ...

In dieser Nachlaßaufzeichnung

vom Herbst 1881, die bereits in der Terminologie den Einfluß seiner intensiven Lektüre von naturwissenschaftlichen Schriften erkennen läßt, wird scheinbar die traditionelle Beurteilung von Leib und Vernunft umgekehrt.4 Im Unterschied zu Piatons wirkungsmächtiger Annahme eines Primats des Geistes, scheint der Geist hier zum Instrument des Leibes degradiert zu werden.5 Bevor dieses Verhältnis im folgenden näher untersucht wird, kann bereits jetzt festgehalten werden, daß Nietzsche die Wirkung des Leibes auf das menschliche Denken und Handeln keinesfalls marginalisiert. Bezüglich seines eigenen

2 Oft richtet Nietzsche derartige Vorwürfe an Piaton, aber auch an Malebranche, Pascal und Paulus (siehe MA, KSA 2, 23, 134, M, KSA 3, 46, 50, KSA 9, 141, 519). Im Nachlaß von 1881 subsumiert er unter dem Titel „Veränderung der Wertschätzung meine Aufgabe" als erstes „Der Leib und der Geist" (KSA 9, 470). 3 Der weitere Textverlauf wird auf S. 180 in diesem Aufsatz zitiert), vgl. Auch KSA 9, 229 u. M, KSA 3, 98. In diesen Passagen klingt bereits Zarathustras Rede an die Verächter des Leibes an, wo die kleine Vernunft ebenfalls als „Werkzeug" der großen Vernunft des Leibes beschrieben wird (ZA, KSA 4, 38). 4 Nietzsche beschäftigt sich zu Beginn der achtziger Jahre intensiv mit naturwissenschaftlichen Schriften, die sein Denken nachhaltig beeinflussen. Bedeutend sind das Lehrbuch der Physiologie von M. Forster sowie die Monographien Mechanik der Wärme von J. R. Mayer und Der Kampf der Teile im Organismus von Wilhelm Roux. Von Letzterem übernimmt Nietzsche den Ausdruck .Selbstregulierung', worauf Wolfgang Müller-Lauter in seinem interessanten Aufsatz „Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluß von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche" (in: Nietzsche-Studien 7/1978, 189 ff.) hinweist. 5 Siehe Piaton, Phaidon 66a. Auf die Komplexität von Piatons Philosophie in dieser Beziehung und auf die Vielschichtigkeit von Nietzsches Verhältnisses zu Piaton kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Siehe dazu den interessanten Aufsatz von Reinhart Maurer, „Das antiplatonische Experiment Nietzsches", in: NietzscheStudien 8/'1979, 104 ff. -

Nietzsches

Entwurf einer geistig-leiblichen Aristokratie

179

Schaffens merkt er an: „Ich habe meine Schriften jederzeit mit meinem ganzen Leib und Leben geschrieben: ich weiß nicht, was „rein geistige" Probleme sind" (KSA 9, 170). Der Leib beeinflußt gemäß dieses Ansatzes sowohl das Erkennen als auch das Handeln des Menschen und wirkt folglich auch in der Sphäre des Politischen, in der der Einzelne handelt, um eine menschliche Gemeinschaft mit zu gestalten. Diese Wirkung wird in Nietzsches Charakterisierung des großen Staatsmannes, der sich durch einen „bewegliche[n] Geist im Dienste starker Grundtriebe" (M, KSA 3, 149) auszeichnen soll, ebenso angedeutet wie in seiner Beschreibung der politischen Willensbildung der Völker, bei der nicht vernünftige Argumente, sondern die nach dem Rausch verlangenden Sinne dominieren sollen (vgl. M, KSA 3, 161). In einem Kurztext mit der Überschrift „Von der grossen Politik" bezeichnet Nietzsche schließlich das Gefühl der Macht als den zentralen Antrieb des politischen Handelns, womit er sich deutlich von rein idealistischen Theorien distanziert.

„Soviel auch der Nutzen und die Eitelkeit, von Einzelnen wie von Völkern, in der grossen Politik mitwirken mögen: das gewaltigste Wasser, das sie vorwärts treibt, ist das Bedürfniss des Machtgefühls,..." (M, KSA 3, 163 f., vgl. KSA 9, 149 u. 161). Wenn Nietzsche von dem „Gefühl" und der „Leidenschaft" der Macht spricht, dann wird deutlich, daß der elementare Antrieb des politischen Handelns s. E. nicht rein geistiger Natur sein kann, sondern immer auch durch den Leib beeinflußt ist.

II. Mit der Wendung zum Leib fördert Nietzsche keinen rein materialistischen, sondern einen psycho-physiologischen Ansatz in der Philosophie. Gegenüber einem einseitigen Idealismus fordert Nietzsche eine Aufwertung des Leibes, mit der die physische Bedingtheit des menschlichen Denkens und Handelns anerkannt wird. Gleichzeitig betrachtet er zeitgenössische Erwartungen einer vollständigen Erforschung des Leibes und seines Einflusses auf das Handeln mit Skepsis, da die Erkenntnis dieser komplexen Zusammenhänge schon aufgrund der begrifflichen und grammatikalischen Simplifizierungen nicht zu erreichen sein soll. Im Nachlaß von 1878 wird konstatiert, daß der „größte Teil unseres Wesens uns unbekannt sei" (KSA 8, 561), und in der Morgenröthe wird gefragt, ob „nicht all unser sogenanntes Bewusstsein ein mehr oder weniger phantastischer Commentar über einen ungewussten, vielleicht unwissbaren, aber gefühlten Text ist?" (M, KSA 3, 113). Treffend erkennt Wolfgang Müller-Lauter in diesem Zitat die Andeutung ,,eine[r] Abstufung hinsichtlich der Angemessenheit der Auslegungen",6 die in Spannung zu der von Nietzsche zeitweise vertretenen Annahme einer weitestgehenden Unlesbarkeit des physiologischen Textes steht. Eine angemessene Interpretation des Menschen bietet scheinbar der physiologische Materialismus, denn wiederholt konstatiert Nietzsche die Abhängigkeit des Menschen von unverfügbaren physiologischen Prozessen, die die Annahme einer geistigen Freiheit als Illusion

6

Wolfgang Müller-Lauter, „Der Organismus als innerer Kampf,

195 f.

WolfZachriat

180

demaskieren. So schreibt er: „Der Intellekt ist das Werkzeug unserer Triebe und nichts mehr, er wird nie frei" (KSA 9, 229). Wichtige materialistische Philosophen hat Nietzsche durch sein philologisches Studium der antiken Texte von Leukipp und Demokrit sowie durch die

enthusiastische Lektüre von F. A. Langes Geschichte des Materialismus kennengelernt.7 Ahnlich wie Lamettrie und d'Holbach vergleicht er den Menschen in den ,mittleren' Schriften wiederholt mit einer Maschine, allerdings mit einer dem Menschen „unbekanntefn] Maschine" (M, KSA 3, 81), und orientiert sich in verschiedenen Punkten am zeitgenössischen Materialismus. Trotz dieser Affinität wendet sich Nietzsche m. E. gegen diejenigen materialistischen Konzeptionen, die von der Annahme ausgehen, alles Wirkliche sei allein Materie und deren Bewegung. Ein Grund hierfür liegt in der problematischen Explikation der zentralen Grundbegriffe und Überzeugungen des reinen Materialismus.8 Gegen die Reduktion des Menschen auf ein unbeseeltes, rein physikalisch-chemisches Phänomen richtet sich seine Rede vom Leib als dem beseelten Körper. Im Leib erkennt er eine vorbewußte, latente Form von Geist, die eine wechselseitig Deutung der organischen Entfaltungsmöglichkeiten erlaubt und das feine Zusammenspiel der Organe weitgehend zu ordnen vermag. Später spricht er mit Bezug auf diese Ordnung von einer „Aristokratie im Leibe" (KSA 12, 96).9 Neben der vorbewußten würdigt Nietzsche auch die bewußte Form des Geistes, allerdings nur den ,unreinen' Geist, der die Unhintergehbarkeit des Leibes anerkennt. Das Verhältnis von Leib und Geist wird von ihm phasenweise unterschiedlich gewichtet, so daß in den Notizen nicht immer den Trieben, sondern auch der Vernunft eine Vorherrschaft zugesprochen wird.

„Die Vernunft ist ein langsam sich entwickelndes Hülfsorgan, was ungeheure Zeiten hindurch glücklicherweise wenig Kraft hat, den Menschen zu bestimmen, es arbeitet im Dienste der organischen Triebe, und emancipiert sich langsam zur Gleichberechtigung mit ihnen und spät, ganz spät zum Übergewicht." (KSA 9, 533) -

Bei dieser Formulierung bleibt zu beachten, daß ein Übergewicht keinesfalls eine absolute Herrschaft bedeutet und an anderen Textstellen die Skepsis bezüglich einer begrenzten Emanzipation der Vernunft weitaus größer ist. Ein weiterer Grund für Nietzsches Zurückweisung des reinen Materialismus liegt in dessen Unvermögen, sich mit den für den Menschen wesentlichen Sinnfragen auseinanderzusetzen, weil eine Vernunft jenseits der instrumenteilen Vernunft geleugnet wird (vgl. KSA 9, 403). 7 Den außerordentlichen Einfluß von Langes Buch auf Nietzsches Gesamtwerk belegt Jörg Salaquarda in dem Aufsatz „Nietzsche und Lange", in: Nietzsche-Studien 7/1978, 236 ff. 8 Kritisch äußert sich Nietzsche zum abergläubischen Begriff .Naturgesetz' (MA II, KSA 2,384), zu atomistischen Theorien (KSA 9,643), mechanistischen Gesetzen (KSA 9,530) und objektiver Materie (KSA 9,303). Die partiell positive Anknüpfung Nietzsches an den methodischen Materialismus hat Salaquarda in einem Aufsatz deutlich Zum .dritten Weg' bei Schopenhauer und herausgearbeitet (Jörg Salaquarda, „Leib bin ich ganz und gar Nietzsche", in: Nietzscheforschung 1, Berlin 1994, 37-50. 9 Meines Erachtens verwendetNietzsche den bereits erwähnten Begriff der „Selbstregulierung", um diese Leistung zu beschreiben. Siehe KSA 9,488, 532,533. Dabei werden verschiedene dynamische ,Kräfte' in Rangordnungen geeint, wobei diese Kräfte selbst wiederum pluralistisch verfaßt sind. Der Mensch erscheint demnach als eine gegliederte Einheit von gegliederten Einheiten (vgl. KSA 9, 211, 251, 483 u. 488). Im Einzelnen herrscht eine „staatliche Ordnung" von Trieben (KSA 9, 483), die wiederum komplex angelegt sind und lediglich als Einheit -

...

gelten (KSA 9, 482, vgl. 289).

Nietzsches Entwurf einer geistig-leiblichen Aristokratie

181

Neben der einseitig idealistischen Vorstellung des ,reinen Geistes' kritisiert Nietzsche demnach auch die einseitig materialistische Vorstellung des ,reinen Körpers', die den Menschen lediglich als physikalisch-chemische Gesetzlichkeit bestimmt. Wenn dagegen die von ihm geforderte Aufwertung des Leibes von bestimmten postmodernen Interpreten als eine Geringschätzung des Geistes gedeutet wird, so werden seine Kritik an einer geistlosen Wissenschaft und seine Begeisterung für das Ideal des freien Geistes nicht angemessen ausgelegt.10 Gegenüber einseitigen Absolutsetzungen versucht Nietzsche der Komplexität des Menschen als eines geistig-leiblichen Wesens gerecht zu werden, womit er den später explizit geforderten Ansatz einer „Psycho-Physiologie" (JGB, KSA 5,38) antizipiert. Wenn der Mensch weder wie eine unselbständige, allein von physikalisch-chemischen Gesetzen bestimmte Körper-Maschine, noch wie ein völlig autonomes, allein durch den reinen Geist sich selbst bestimmendes Individuum agiert, dann ist auch das politische Handeln nicht durch rein materialistische oder rein idealistische Theorien zu verstehen. Entsprechend konstatiert Nietzsche in zahlreichen Textstücken den Einfluß von geistigen und leiblichen Kräften auf das politische Denken und Handeln, wobei insbesondere die Bedeutung des Strebens nach Macht und der geistvollen Interpretationen von Machtkonstellationen hervorgehoben werden." Auch im Bereich des Politischen vertritt Nietzsche demzufolge einen psychophysiologischen Ansatz, was explizit in seiner Rede von einer „geistig-leiblichen Aristokratie"

anklingt.

III. Die dominierenden

politischen Bewegungen seiner Zeit werden von Nietzsche heftig attackiert, weil sie den unterschiedlichen geistig-leiblichen Entfaltungsmöglichkeiten der Individuen nicht gerecht werden.

Nietzsches Bemerkungen zu der Politik seiner Zeit sind geprägt von einer entschiedenen Absage an die nationalistischen sowie demokratisch-egalitaristischen und demokratisch-liberalistischen Strömungen. Deutlich richten sich seine Schriften gegen die nationalistische Begeisterung in Deutschland, in der er nach anfänglichen Sympathien bereits Anfang der siebziger Jahre die Gefahr einer „Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des ,deutschen Reiches'" (DS, KSA 1, 159) entdeckt. Auch in den mittleren Schriften wendet er sich gegen das junge Reich im besonderen und den Staat im allgemeinen, weil sie seiner Ansicht nach die Entwicklung und Ausbildung der Individuen nicht angemessen fördern. Mit Blick auf die griechische Polis und die politische Philosophie Piatons konstatiert Nietzsche, daß jede gestaltende, politische Macht versucht, die Ausweitung der Bildung zu verhindern, um die jeweiligen Staatsgesetze gegen 10 Oft wird mit postmoderner Fröhlichkeit auf die Gleichwertigkeit aller Interpretationen hingewiesen, da es laut Nietzsche nur Interpretation ohne einen verbindlichen Text gäbe. Gegen derartige Mißverständnisse hilft nur Montinaris programmatische Aufforderung Nietzsche lesen, denn dann steigen die Chancen, in den Texten Nietzsches sein Bemühen, die Pluralität und Rangordnung von Perspektiven aufzuzeigen, zu erkennen. 11 Siehe KSA 9, 161; M, KSA 3, 149. Die Bedeutung des .Strebens nach Macht' als Antrieb des Handelns ist in Volker Gerhardts Untersuchung der Macht bei Nietzsche deutlich herausgearbeitet worden (Volker Gerhardt, Vom Willen zur Macht, Berlin/New York 1996, 125 ff. „Die Psychologie der Macht in Nietzsches mittlerer Periode"). -

182

WolfZachriat

Veränderungen zu sichern.12 Besonders deutlich betont er das Defizit der deutschen Nationalisten: ihre organisatorischen Stärken können nicht über einen eklatanten Mangel an Geist hinwegtäuschen (vgl. KSA 9, 383). In Abgrenzung zum bildungsfeindlichen Nationalismus beschreibt sich Nietzsche als „guter Europäer" (MA I, KSA 2, 309) und prognostiziert die ,,unaufhaltsame[n] Demokratisierung Europas" (WS, KSA 2, 671). Trotz dieser Ansicht stellen die zeitgemäßen Demokratieentwürfe keinesfalls sein politisches Ideal dar.13 Eindringlich warnt er vor gefährlichen ethisch-politischen Tendenzen, die gerade auch von den meisten demokratischen Bewegungen gefördert werden sollen. Zentraler Kritikpunkt ist der Egalitarismus, der durch die Überwindung der sozialen Ungleichheit eine fortschreitende Abschaffung des menschlichens Leidens anstrebt. Dieser Fortschrittsoptimismus steht laut Nietzsche in der Tradition des jüdisch-christlichen Heilsdenkens, welches im Unterschied zur griechischen Metaphysik an die Erfüllbarkeit der Ideale im Jenseits glauben soll.14 Mit der Säkularisierung der jüdisch-christlichen Eschatologie etabliert sich in der Neuzeit die Vorstellung, der Mensch könne selbst für sein Heil sorgen, was Nietzsche bereits im Tragödienbuch unter dem Terminus des ,Sokratismus' kritisch untersucht. Gemäß der ,sokratistischen' Theorie soll der wissenschaftlich-technische Fortschritt im Dienste der ethisch-politischen Zielvorstellung einer „Utopie [der] allgemeinefnj Menschenliebe" (M, KSA 3, 138) eine gleichmäßige Befriedigung der stetig wachsenden Bedürfhisse der Menschen garantieren und dadurch leidverursachende Herrschaftsverhältnisse abbauen.15 Das ethisch-politische Fortschrittsdenken und das jüdisch-christliche Heilsdenken gründen nach Nietzsche auf dem Ressentiment von Denkern einer bestimmten geistig-leiblichen Konstitution.16 In dem Glauben an eine umfassende Verbesserung der conditio humana erkennt er ein „Trostmittel" derjenigen Menschen, die an der komplex-agonalen Wirklichkeit von konfligierenden, leidverursachenden Machtwillen besonders leiden, weil sich ihr reaktives Machtstreben gegenüber den aktiven, schöpferischen Kräften als ,schwach' erweist. „Die moralische Beurtheilung der Menschen und Dinge ist ein Trostmittel der Leidenden, Unterdrückten, innerlich Gequälten: eine Art Rache nehmen." (KSA 9, 65, vgl. 66, 238 u.

521)

Dieses Trostmittel, welches Herrschaft, Macht und Rangordnung als etwas schlechthin Negatives stigmatisiert und die Realisierung einer universale Gleichheit in Aussicht stellt, ist aber zugleich das erfolgreiche Machtinstrument des schwachen' Machtstrebens. Obwohl Nietzsche die partiell positiven Seiten dieses wirkungsmächtigen Machtwillens nicht verkennt, warnt er vor dessen Verabsolutierung sowie vor der Verwechslung der Gleichheitsmoral, die sich auch 12 Siehe MA, KSA 2,308 f. Teils begrüßt er deshalb den prognostizierten „Verfall des Staates" (MA I, KSA 2,306). 13 In „Der Wanderer und sein Schatten" hat sich Nietzsche teils positiv zur Demokratie geäußert, zugleich aber

betont, daß sie „etwas Kommende[s]" (MA II, KSA 2, 685) sei und sich demzufolge von den gegenwärtigen

Demokratien unterscheide. Teils sieht er in ihr auch nur ein Mittel zu Höherem (671). 14 Siehe dazu den interessanten Vergleich zwischen jüdischer und griechischer Metaphysik, zu dem Nietzsche durch seine intensive Beschäftigung mit theologischen Schriften im Sommer 1880 angeregt wird (KSA 9, 141). Siehe zu diesem Thema auch Hans Jonas, Prinzip Verantwortung, und R. Maurer, „Metaphysik und Eschatologie", in: Der Begriff der Politik, hg. v. Volker Gerhardt, Stuttgart 1990, 145 ff. 15 Siehe GT bzw. KSA 9,395. Im 20. Jahrhundert hat diese Hoffnung besonders enthusiastisch Ernst Bloch vertreten, der vom Umbau des Sterns Erde eine allgemeine Verbesserung der conditio humana erwartet (Ernst Bloch, Prinzip Hoffnung, Frankfurt a.M. 1974, 925). 16 Siehe KSA 9, 42 bzw. 554 (hier betont Nietzsche die Bedeutung der physis für die Moralen).

Nietzsches Entwurf einer geistig-leiblichen Aristokratie

183

als das vermeintlich konstitutive Element der demokratischen Ordnung präsentiert, mit der Moral schlechthin. Aus dem mangelnden Bewußtsein für die Unhintergehbarkeit des Leibes und die Grenzen des menschlichen Geistes resultieren seiner Ansicht nach die unüberwindbaren, immanenten Widersprüche des egalitaristischen Fortschrittsdenkens. Insbesondere der Absolutheitsanspruch der Gleichheitsmoral wird von ihm vehement kritisiert, weil dadurch der Vielfalt und vor allem den höheren Formen des Machtstrebens keine angemessenen Entfaltungsmöglichkeiten eingeräumt werden, sondern sie vielmehr durch vermeintlich universale, absolute Werte unterdrückt werden.'7 Die Kritik an den demokratisch-sozialistischen Utopien bedeutet aber nicht, daß Nietzsche für Gesellschaftsformen demokratisch-liberalistischer Provenienz, wie z. B. den amerikanischen Liberalismus, plädiert. Erstens soll auch in ihnen ein illusionäres ethisch-politisches Fortschrittsdenken, das das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl von Bürgern verspricht, das antreibende Element sein.18 Zweitens werden bei der Entscheidung nach jeweiligen Mehrheiten oft die geistvolleren Interpretationen unterdrückt (vgl. MA I, KSA 2, 305, u. MA II, KSA 2, 672 f.). Drittens findet sich in ihnen zwar eine Anerkennung des vielfältigen, unterschiedlichen Machtstrebens, aber mit einer Konzentration auf den ökonomisch-konsumptiven Bereich. Die einseitige Ausrichtung des Machtstrebens auf die Maximierung des S innenWohlstands wird von ihm aber ebenso deutlich abgelehnt wie die idealistische Verketzerung der Sinne.

„Der Wohlstand, die Behaglichkeit, die den Sinnen Befriedigung schafft, wird jetzt begehrt, alle Welt will vor allem das. Folglich wird sie einer geistigen Sklaverei entgegengehen, die nie noch war." (KSA 9, 554)

Folglich führt aus Nietzsches Perspektive ein Mangel an sensibel-rangordnendem Geist sowohl bei dem demokratisch-liberalistischen Denken als auch bei den nationalistischen und demokratisch-egalitaristischen Strömungen zu einer Unterdrückung des vielgestaltigen, geistig-leiblichen Machtstrebens.

ethisch-politischen Tendenzen in der Moderne entwirft Nietzsche eine aristokratische Alternative, die die Individuen gemäß eines proportionalen Gerechtigkeitsbegriffs in einer gegliederten Ordnung einen soll.

IV. Zu den herrschenden

an den dominierenden politischen Bewegungen seiner Zeit und vereinzelte Aufrufe politischen Enthaltsamkeit (vgl. M, KSA 3, 176) bedeuten keine grundsätzliche Absage Nietzsches an das politische Denken und Handeln. Gerade die gefährlichen ethisch-politischen Tendenzen in der Moderne veranlassen ihn vielmehr, eine Alternative zu konzipieren. Ähnlich

Die Kritik zur

17 Siehe M, KSA 3, 124. Vor allem gegen die politische Philosophie Herbert Spencers und Auguste Comtes sind diese Vorwürfe gerichtet (siehe KSA 9,469 u. 476, bzw. KSA 9, 362 u. 453). 18 Den Zusammenhang von sozialistischem und kapitalistischem Fortschrittsdenken hat Henning Ottmann überzeugend dargestellt (siehe Henning Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin/New York 1987, 130 f.).

WolfZachriat

184

wie in den frühen und späten Schriften wird auch in den mittleren Schriften der aristokratische Gesellschaftsentwurf allen anderen politischen Ordnungen vorgezogen. Gleichgültig ob in den beiden Teilen von Menschliches, Allzumenschliches, der Morgenröthe oder der Fröhlichen Wissenschaft, in allen Werken wird die Aristokratie als die erstrebenswerte Alternative zu den zeitgenössischen politischen Idealen vorgestellt (vgl. MA I, KSA 2, 203 f. u. 286 f., MA II, KSA 2, 507 f., M, KSA 3, 176, und FW 564). Mit dem Plädoyer für die aristokratische Staatsform zeigt sich auch, daß Nietzsches oben angedeutete Kritik am Nationalismus und Etatismus nicht die völlige Auflösung von staatlichen Ordnungen intendiert. Neben seiner Warnung vor dem geistfeindlichen, individualitätshemmenden Staat bleibt seine Sorge vor dem ordnungslosen Chaos zu beachten, denn ebenso wie die Unterdrückung des Individuellen wird auch der unbedingte Individualismus von ihm abgelehnt, weil ohne den Verzicht auf die absolute Freiheit keine Gemeinschaft, und ohne Gemeinschaft keine Kultur bestehen kann (vgl. KSA 9, 121 u. 231). Ähnlich wie Sokrates und Hegel erkennt Nietzsche die konstitutive Bedeutung des gemeinschaftlichen Zusammenlebens, dem das Individuum überhaupt erst Erziehung und Bildung sowie Handel, Wissenschaft u. v. m. verdankt.

„Die Gesellschaft erzieht erst das Einzelwesen, formt es zum Halb- oder Ganz-Individuum Also: der Staat vor, sie bildet sich nicht aus Einzelwesen, nicht aus Verträgen solcher. unterdrückt nicht etwa die Individuen: diese existieren noch gar nicht! Er macht den Menschen überhaupt die Existenz möglich, als Heerdenthieren." (KSA 9, 511)19 ...

Der

positiv konnotierte Begriff „Herdentier", der in anderen Kontexten zumeist abwertend

verwandt wird,

um einen übertriebenen Hang zu Gleichheit und Sicherheit zu bezeichnen, dieser Textstelle die grundlegende Bedeutung des gemeinschaftlichen Zusignalisiert sammenlebens für den Einzelnen. Die Warnung vor einem extremen Individualismus betont Nietzsche durch die auf den oben zitierten Text folgende Beschreibung des existenzgefährdenden Chaos im Leib, das ausbrechen soll, wenn eine bestehende Ordnung zerfällt und alle Triebe ohne Rücksicht auf die Lebensgrundlage des Leibes allein ihre Befriedigung anstreben. Erst durch neue, temporäre Rangordnungen, die dem Kampf im menschlichen Leib die selbstzerstörerischen Kräfte entziehen, können sich die Triebe wieder zu einer Einheit formieren. In den mittleren Schriften beschäftigt sich Nietzsche wiederholt mit dem Begriff ,Einheit' und distanziert sich selbstkritisch von seinem früheren Ideal einer Kultur als hermetisch abgeschlossener Einheit (vgl. KSA 8, 579). Nun erkennt er in der dynamischgegliederten Einheit des Leibes, die immer in Wechselwirkung mit der Umgebung steht, ein vorbildliches Modell, das der simplifizierenden Vorstellung von abgeschlossenen Einheiten überlegen sein soll. Der Modellcharakter der leiblichen Einheit bezieht sich vor allem auf die Verfeinerung der Seelen-Hypothese und weniger auf politische Phänomene, wobei Nietzsche sich insbesondere von politischen Organismusmodellen distanziert, weil sie den Einzelnen auf die Funktion eines ,,Organ[s] des Gemeinwesens" (KSA 9, 511) reduzieren und die Bedeutung des individuellen an

19 Nietzsche beschreibt in diesem interessanten Textstück die Herausbildung des Individuums, das sich nach dem Zerfall des gesellschaftlichen Bandes im günstigen Fall von einem vermeintlich absoluten Sittengesetz emanzipieren kann und nach einem „individuellen Gesetz" (KSA 9, 512) zu leben vermag. Diese Entwicklung bedeutet allerdings nicht, daß ein „Ganz-Individuum" völlig unabhängig von der Gesellschaft ist, sondern das es selbständig und damit nicht mehr völlig abhängig von ihr ist.

Nietzsches

Entwurf einer geistig-leiblichen Aristokratie

Gesetzes verkennen. Sein Modell des Leibes erläutert

185

folglich nicht den von ihm angestrebten

Gesellschaftsentwurf, sondern letzterer dient zur Kennzeichnung von ersterem, wenn er die Leib- und Triebeinheit mit einer staatlichen Rangordnung vergleicht (vgl. KSA 9,483 u. 488). Da Nietzsche den einzelnen Menschen als eine

gegliederte Einheit von gegliederten Einheiten

deutet, kann die von ihm angestrebte aristokratische Gesellschaftsform schließlich als eine

gegliederte Einheit von gegliederten Einheiten von gegliederten Einheiten interpretiert werden (vgl. Fn 9). Im Unterschied zu den meisten zeitgenössischen politischen Bewegungen fordern Nietzsches aristokratische Vorstellungen eine sensible Beachtung und Anerkennung der mannigfaltigen, komplexen Rangordnung im menschlichen Leben. Gemäß seinem Ideal soll die moderne Aristokratie dem vielfältigen, unterschiedlich starken Machtstreben der Individuen gerecht werden, indem sie ihnen proportional zum jeweiligen Ausmaß des Strebens angemessene Entfaltungsmöglichkeiten einräumt.20 In diesem proportionalen Gerechtigkeitsbegriff manifestiert sich der außerordentliche Einfluß von Piatons politischer Philosophie auf Nietzsche, über die auch dessen Polemik gegenüber dem „Socialisten Platon" (MA I, KSA 2, 307) nicht hinwegzutäuschen vermag. V. Nietzsches Entwurf einer modernen Aristokratie unterscheidet sich von den gewöhnlichen Deutungen dieser Staatsform, weil sie sich an einer geistig-leiblichen Rangordnung des Leidens orientiert. Nietzsches aristokratischer Gesellschaftsentwurf unterscheidet sich nicht nur grundsätzlich von den politischen Bestrebungen seiner Zeit, sondern auch von den traditionellen Vorstellungen der Aristokratie, weil weder der Landbesitz noch die leibliche Abstammung die herausgehobene Stellung der modernen Aristokraten begründen sollen. Folglich versucht seine Konzeption, sowohl eine Alternative zu nicht-aristokratischen als auch zu bekannten aristokratischen Staatsformen zu bilden. Fraglich bleibt bei dieser doppelten Alternative, gemäß welcher Rangordnung die zur Herrschaft privilegierten Besten, die ,aristoi', selektiert werden sollen. In den veröffentlichten und unveröffentlichten Texten finden sich in diesem Zusammenhang wiederholt Formulierungen, die manchen Interpreten in Erstaunen zu versetzen vermögen. Gemeint sind die Passagen, in denen implizit oder explizit auf eine Rangordnung des Leidens2^ verwiesen wird. Nietzsche entdeckt in der Fähigkeit des Leidens feine graduelle Abstufungen, und diese Unterschiede werden als Maßstab für die individuelle Vornehmheit bzw. Unvornehmheit gedeutet. Doch welche Arten des Leidens werden in diesem Kontext als die höheren gewürdigt? Offensichtlich sind es nicht diejenigen Formen des Leidens, die den Leidenden zu den hinterweltlerischen, rein geistigen Trostmitteln flüchten lassen. Ebensowenig wird das Leiden, welches den Einzelnen geistig abstumpfen läßt, von Nietzsche als be-

20 Siehe FW, KSA 3, 529 f. Demgegenüber verlangt die direkte Gerechtigkeit je Individuen (unabhängig von den jeweiligen Begabungen und Talenten). 21 Siehe MA I, KSA 2, 287 u. 299, FW, KSA 3, 541, JGB, KSA 5, 225.

gleiche Entfaltungsräume für alle

186

WolfZachriat

sonders wertvoll ausgezeichnet. Seine Beschreibungen des vornehmen Individuums in der Moderne widersprechen zumeist dem Bild des unempfindlichen Aristokraten, dessen Machtgelüste blind, also geistlos wüten (vgl. M, KSA 3, 174). In einem Textstück aus der Fröhlichen Wissenschaft und präfigurierenden Passagen aus dem Nachlaß finden sich nähere Anhaltspunkte für eine angemessene Auslegung der Vorstellung von der Rangordnung des Leidens. Unmittelbar zu Beginn des Texts Nr. 302 mit der Überschrift „Gefahr des Glücklichsten" wird das Individuum der höchsten Glücksfahigkeit, das entsprechend Nietzsches Lehre der Einheit der Gegensätze zugleich die Möglichkeit zur höchsten Leidensempfindung in sich birgt, charakterisiert und im weiteren Text durch die Nennung Homers exemplifiziert. Eine vorbereitende Nachlaßaufzeichnung vom Herbst 1881 beginnt fast wortgleich, widmet sich dann aber etwas ausführlicher dem „leidensfähigsten" Menschen.

„Feinere Sinne und einen feineren Geschmack haben, an das Ausgesuchteste und Allerbeste wie an die rechte und natürliche Kost gewöhnt sein, eines starken und kühnen Körpers genießen, dem zum Wächter und Erhalter und noch mehr zum Werkzeug eines noch stärkeren, kühneren Geistes bestimmt ist: wer möchte nicht, daß dies Alles gerade sein Besitz, sein Zustand ist! Aber man verberge sich nicht: mit diesem Besitz und diesem Zustand ist man das leidensfähigste Geschöpf unter der Sonne, und nur um diesen Preis kauft man die Auszeichnung, auch das glücksfähigste Geschöpf unter der Sonne zu sein. Die Fülle der Arten des Leides fällt wie ein unendlicher Schneewirbel auf einen solchen Menschen,..." (KSA 9, 641, vgl. FW, KSA 3, 541 u. 539 f.) Mit diesem Zitat wird die Voraussetzung des hohen Rangs der Leidensfähigkeit deutlich: sowohl der Leib als auch der Geist müssen im Verhältais zum gewöhnlichen Einzelnen besonders fein bzw. stark sein. Doch was versteht Nietzsche darunter? Es ist die Feinheit des Leibes und Geistes, durch die ein Individuum die unterschiedlichsten Perspektiven einzunehmen vermag und damit die „Fülle der Arten" des Glücks und des Leids erfahrt. Die höchste Sensibilität für das Leiden bedeutet aber auch die höchste Gefahr, wie im o. g. Textstück der Fröhlichen Wissenschaft mit Bezug auf Homer angemerkt wird, denn sie kann bewirken, daß der Mensch schon an marginalen Problemen scheitert. Um trotz der höchsten Leidensfähigkeit dem Leiden standzuhalten, bedarf es der geistig-leiblichen „Stärke", denn nur sie verhindert die völlige Abschwächung und den Zusammenbruch der Kräfte. „Stark" bedeutet m. E. in der oben angeführten Textpassage, daß der Einzelne sich nicht in den vielfältigen Perspektiven des Leidens verliert, sondern daß er sie gekonnt abzuschätzen versteht. Die starke Leib-GeistEinheit vermag demnach auch das Leiden angemessen zu interpretieren, wodurch ein vollständiges Verleiden des leid- und glückvollen Lebens abgewendet werden kann. Allerdings bedeutet dies nicht, daß das konkrete Leiden weniger fürchtbar ist oder die Gefahr eines künftigen Scheiterns endgültig gebannt wäre. Die von Nietzsche beschriebenen ambivalenten Folgen einer verfeinerten Leidensfähigkeit lassen sich auch anhand seiner eigenen Lebenszeugnisse aufzeigen. In einem Brief an den Arzt Otto Eiser vom Januar 1880 beschreibt er den fruchtbaren Aspekt seiner gesundheitlichen Qualen, die ihn zeitweise aber auch sein baldiges Ableben wünschen lassen.

„Meine Existenz ist eine fürchterliche Last: ich hätte sie längst von mir abgeworfen, wenn ich nicht die lehrreichsten Proben und Experimente auf geistig-sittlichem Gebiete gerade in diesem Zustande des Leidens und der fast absoluten Entsagung machte diese er-

Nietzsches

Entwurf einer geistig-leiblichen Aristokratie

kenntnißdurstige Freudigkeit bringt mich auf Höhen, Hoffnungslosigkeit siege." (KSB 6, 3, vgl. 6, 4 f.)

187 wo

ich über alle Marter und alle

Offensichtlich gewinnt er im Leiden neue Perspektiven und vermag diese derart zu ordnen, daß er dank seinen produktiven Gedanken die oft grauenhafte Situation ertragen kann. Auch für die politische Philosophie Nietzsches ist die Leidensfähigkeit des Einzelnen von eminent wichtiger Bedeutung, denn in dem je unterschiedlichen Vermögen des verfeinerten Leidens erkennt er einen Indikator, an dem sich eine alternative Gesellschaftskonzeption orientieren kann. Anhand der differierenden Leidensfähigkeit der Individuen kann seines Erachtens eine sinnvolle Rangordnung, die den sublimen geistig-leiblichen Geschöpfen weitere Freiräume zubilligt als den weniger verfeinerten, bestimmt werden und damit die Grundlage für eine neue soziale Ordnung geschaffen werden. Diesen Entwurf bezeichnet der entschiedene Kritiker der egalitaristischen und liberalistischen Utopien der Moderne explizit als seine

Utopie.

„Meine Utopie. In einer besseren Ordnung der Gesellschaft wird die schwere Arbeit und Noth des Lebens Dem zuzumessen sein, welcher am wenigsten durch sie leidet, als dem Stumpfesten, und so schrittweise aufwärts bis zu Dem, welcher für die höchsten sublimirtesten Gattungen des Leidens am empfindlichsten ist und desshalb selbst noch bei der grössten Erleichterung des Lebens leidet." (MA I, KSA 2, 299, vgl. MA I, KSA 2,287, u. JGB, KSA 5, 225) -

Utopie liegt der bereits angedeutete proportionale Gerechtigkeitsbegriff Piatons zugrunde, der in allen Schriften Nietzsches seinen Niederschlag findet und die Beachtung von Rangordnungen, insbesondere die Hierarchie der Leidensfähigkeit, einklagt.22 Die „bessere" Gesellschaftsordnung wäre demnach keine, in der diejenigen Individuen, die über einen groben, zur Sublimation unfähigen Leib und Geist verfügen, den höchsten Rang einnehmen, womit Nietzsche sich von den bisherigen Aristokratien und Diktaturen, aber auch von den egalitaristischen und liberalistischen Demokratien distanzieren will. Gemäß seines Entwurfs sollen Menschen mit einer großen Empfindsamkeit und Feinsinnigkeit von Leib und Geist den künftigen Adel bilden, weshalb er seine Alternative zu den dominierenden Staatsformen der Moderne auch als „geistig-leibliche Aristokratie" bezeichnet. Das feine Verstehen und Abwägen des sublim Leidenden ist allerdings nur ein, wenngleich wichtiger Aspekt seines aristokratischen Entwurfes, dessen Chancen einer Verwirklichung er mit Skepsis betrachtet, worauf auch seine Verwendung des problematischen Begriffs der Utopie deutet. Gleichwohl bleibt festzuhalten, daß die Rangordnung des Leidens für sein Modell einer modernen Aristokratie von besonderer Bedeutung ist und er sich in zentralen politischen Passagen seiner Schriften für diese „bessere Gesellschaftsordnung" engagiert hat. Dieser

22 In den mittleren Schriften ufern seine Vorstellungen aber seltener in perhorreszierende Attacken gegen alternative Konzeptionen aus (vgl. z. B. KSA 1, 767, u. MA II, KSA 2, 682).

WolfZachriat

188

VI. Problematisch sind Nietzsche Züchtungsprogramme hinsichtlich der neolamarckistischen Vorstellungen einer Verleiblichung und Vererbbarkeit von Erfahrung und Gewöhnung In dem einleitend erwähnten Textstück 243 von Menschliches, Allzumenschliches I wird konstatiert, daß ein guter Arzt durch eine Steuerung von Eheschließungen die Geburt einer

„geistig-leiblichen Aristokratie" fördern könne. Obwohl sich Nietzsche von den traditionellen

Bestimmungen des Adels als Geburts-, Erb- oder Geschlechtsadel distanziert, verzichtet er demnach nicht völlig auf die Vorstellung einer möglichen Nobilitierung durch Vererbung. Im Zentrum von Nietzsches Bemühungen um eine Fundamental-Alternative stehen zwar die Kritik an den ethisch-politischen Entwicklungen seiner Zeit und der Einsatz für eine neue Wertschätzung, die das pluralistische Machtstreben der geistig-leiblichen Subjekte anerkennt, aber daneben finden sich in seinen Schriften auch, von naturwissenschaftlichen Theorien beeinflußte, Programme zur „Züchtung" (vgl. KSA 9, 508)23 eines neuen Adels. Diese Züchtungsprogramme sind durch die Annahme beeinflußt, daß der genetische Wandel durch bestimmte Faktoren vom Menschen zu beeinflussen sei. Trotz einiger Gemeinsamkeiten mit Darwins Theorie, wie z. B. den antinaturtheologischen und antiteleologischen Ansichten, lehnt Nietzsche dessen Interpretation des evolutionären Wandels ab. Ähnlich wie der ansonsten von ihm scharf kritisierte Herbert Spencer vertritt er im Unterschied zu Darwin einen neo-lamarckistischen Ansatz, der sich auf die evolutionären Vorstellungen des französischen Naturforschers Jean Baptiste Lamarck beruft. Dieser Ansatz der sogenannten weichen Vererbung' nimmt an, daß angeeignete Merkmale die genetische Veränderung entscheidend mitbestimmen, so daß z. B. der Gebrauch bzw. Nichtgebrauch von Organen Auswirkungen auf die folgenden Generationen hat.24 Die Vorstellung einer Vererbbarkeit erworbener Merkmale, die auch von F. A. Lange als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis präsentiert wird, beeinflußt Nietzsches Programme der Züchtung einer aristokratischen ,

Gesellschaft.25

Von Geblüt. Das, was Männer und Frauen von Geblüt vor Anderen voraus haben und ihnen unzweifelhaftes Anrecht auf höhere Schätzung giebt, sind zwei durch Vererbung immer mehr gesteigerte Künste: die Kunst, befehlen zu können, und die Kunst des stolzen Gehorsams." (MA I, KSA 2, 287) „

-

was

Gewöhnung an neue Verhaltensweisen, die Zusammenführung von .geeigneten' Ehepartnern und die Vererbung der erworbenen Eigenschaften an die Nachkommen sollen demnach Zuchtmittel des neuen Adels sein (vgl. M 142 u. KSA 9, 508). Nietzsches Züchtungsprogramme sind durch die Widerlegung der neolamarckschen Annahme der Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften zumindest vom naturwissenschaftlichen Blickwinkel aus nicht überzeugend. Die modernen Evolutionstheoretiker haben sich, beeinflußt durch die Ergebnisse der Mendelschen Forschungen über genetische Veränderungen und Die kontinuierliche

23 Der Begriff der .Züchtung' ist bei Nietzsche nicht eindeutig. Meine Ausführungen beziehen sich hier lediglich auf die neolamarckistische Bedeutung dieses Begriffs bei Nietzsche. 24 Siehe Ernst Mayr, und Darwin hat doch recht, München/Zürich 1994, 155 f. 25 Siehe auch Jörg Salaquarda, „Der Organismus als innerer Kampf, 259 f. ...

Nietzsches

Entwurf einer geistig-leiblichen Aristokratie

189

die Einsichten der Molekularbiologen, weitgehend auf die neodarwinistische Annahme geeinigt, daß die harte Vererbung durch „spontane Mutationen"26 für genetische Transformationen verantwortlich ist. Trotz dieses Irrtums ist Nietzsches Programm der Züchtung eines neuen Adels damit nicht widerlegt, denn in dessen Zentrum steht die wiederholte Aufforderung an den Einzelnen, sein „höheres Selbst" (KSA 9, 351) durch die geistig-leibliche Bildung zu züchten, und nicht die Vorstellung, dieses Selbst durch andere züchten zu lassen (vgl. FW, KSA 3, 563).

VII. In den prometheischen „Risikogesellschaften" der Moderne ist Nietzsches (un)zeitgemäßer Entwurf einer „geistig-leiblichen Aristokratie" von einer beunruhigenden Aktualität. Im 20. Jahrhundert haben sich zahlreiche geistvolle und weniger geistvolle Denker mit Nietzsches politischer Philosophie auseinandergesetzt, doch sein Entwurf einer geistigleiblichen Aristokratie ist nicht einmal ansatzweise verwirklicht worden. Auch gegenwärtig erfreuen sich seine Schriften einer außerordentlichen Aktualität, was aber nicht unbedingt für seine Überlegungen zur neuen Aristokratie gilt, die sich im Zeichen der political correctness' kaum als diskussionsfähig erweisen. Folglich scheint die anfangs zitierte Feststellung von Hans Jonas, Nietzsches Konzeption sei eine unzeitgemäße „Eskapade", treffend zu sein. Äußerst negativ wird diese „Eskapade" von Ernst Tugendhat bewertet, der Nietzsches Entwurf als Versuch einer Transposition der Moral der heroischen Mythen deutet. Dieser Versuch einer Anknüpfung an die aristokratische Gesellschaftsform scheitert aus Tugendhats Perspektive jedoch an fehlenden „traditionell vorgegebenen Rangkriterien", so daß sich infolge dieses Konzepts eine „Moral des Stärkeren" etablieren würde, was Nietzsche zu einem „Vorläufer des Faschismus" werden läßt.27 Tugendhat verkennt damit aber Nietzsches Ansatz, denn dieser fordert gerade nicht die direkte Anknüpfung an antike, heroische Moralordnungen, sondern Nietzsche sucht vielmehr eine geistvolle Alternative zu vergangenen und gegenwärtigen Gesellschaftsordnungen. Ausdrücklich werden zudem die geistlos-repressiven Hierarchien von Nietzsche kritisiert und mit seinem Gegenentwurf einer geistig-leiblichen Aristokratie konterkariert.28 Sein positiver Bezug zu der sublimen Leidensfähigkeit und die damit korrelierende Geringschätzung einer geistlosen, leidverachtenden Härte verdeutlicht auch die grundlegende Differenz seiner idealen Gesellschaftsordnung zu den nationalsozialistischen Vorstellungen. Gleichwohl bedeutet dies nicht, daß er annimmt, seine Konzeption einer modernen Aristokratie sei frei von schwer zu ertragenden und leidvollen Herrschaftsverhältnissen, denn letztere sind aus Nietzsches Perspektive niemals vollständig abzuschaffen.

26 Siehe Ernst Mayr,... und Darwin hat doch recht, 173. Mayr verdeutlicht, daß Darwin selbst in dieser Frage lange Zeit unentschlossen war (144 f.). 27 Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 218. 28 Vgl. MA I, KSA 2, 66, 358. Die Kritik am geistlos-repressiven Handeln bedeutet aber nicht, daß Nietzsche annimmt, dieses Handeln könnte vollständig abgeschafft werden. Es sind allenfalls begrenzte Umformungen

möglich.

Sinnvoll ist aber nicht nur die Befreiung des alternativ-aristokratischen Entwurfs von dem Stigma des Präfaschismus, sondern ebenfalls von dem Vorwurf des Eskapismus, weil dieser Entwurf auf Probleme reagiert, die im 20. Jahrhundert noch äußerst aktuell sind und sowohl durch egalitaristische als auch durch neoliberalistische Reformen nur verschärft werden. In einer zeitdiagnostischen Analyse mit dem Titel Risikogesellschaft hat Ulrich Beck 1986 die immer deutlicher werdenden Defizite der fortschrittsgläubigen, industriellen Moderne dargelegt und in diesem Zusammenhang an die hellsichtigen Problemskizzen Nietzsches erinnert.29 Im Gegensatz zu Beck, Jonas u. a. meine ich aber, daß neben den diagnostischen auch die therapeutischen Überlegungen Nietzsches, zu denen sein Konzept einer neuen Aristokratie zählt, zumindest partiell fruchtbar sind, was abschließend mit zwei knappen Anmerkungen angedeutet werden soll. Bedeutsam ist der neu-aristokratische Entwurf in bezug auf aktuelle Diskussionen über die Rolle der Eliten in demokratisch-pluralistischen Gesellschaften.30 Nietzsches Engagement für eine neue Gesellschaftsordnung zielt insbesondere auf eine angemessene Achtung der Vielfalt der individuellen Möglichkeiten. Aus der Anerkennung dieser Vielfalt resultiert bei Nietzsche aber nicht die Forderung nach einer gleichmäßigen Entfaltung aller Individuen, sondern vielmehr der Aufruf zu einer wirksamen Förderung von außergewöhnlich begabten und talentierten Individuen, die er durch eine alles nivellierende Mediokrität gefährdet sieht. Sicherlich ist diese Sorge damals wie heute nicht unbegründet, wenn allein an die heftigen Angriffe auf den Begriff der ,Elite' in der jüngsten Vergangenheit gedacht wird. Aktuell ist auch Nietzsches verstärktes Engagement für eine bestimmte Art der Elite: die neuen Aristokraten sollen eine ethisch-politische Kompetenz aufweisen. Neben den naturwissenschaftlich-technischen Eliten, deren Bedeutung er anerkennt, aber vor deren Überbewertung er zugleich warnt, sind seines Erachtens vor allem die sublimen Denker zu fördern, die sich durch die feinfühlige Wahrnehmung einer Mannigfaltigkeit von Perspektiven einerseits und durch das kunstvolle Abwägen und Einordnen dieser Perspektiven andererseits auszeichnen. Sie sollen die schwierige Kunst beherrschen, sinnvolle Ziele zu bestimmen. Angesichts des gegenwärtigen Triumphs der neoliberalistischen Ideologie im Zeitalter der sogenannten Globalisierung wäre eine regulierende Staatskunst dringend notwendig, denn nur eine wirksame Vernunft, die sinnvolle von weniger sinnvollen Zielen zu unterscheiden vermag, kann die einseitige Ausrichtung der Partikularinteressen auf bloße Profitmaximierung korrigieren. Um eine politische Vernunft der ,,wohldefinierte[n] Zielsetzungen]"31 hat sich auch Hans Jonas bemüht, weshalb seine einleitend zitierte Kritik an der Vagheit von Nietzsches Fundamental-Alternative nicht über eine latente Affinität zu dessen neoaristokratischem Gesellschaftsentwurf täuschen sollte. Jonas deutet wiederholt an, daß die Herausforderungen in unserem technisch-prometheischen Zeitalter seines Erachtens allein durch nichterbliche Eliten, die sowohl den Horizont der instrumentellen Vernunft als auch den Horizont des reinen Geistes transzendieren, bewältigt werden können.32 Seine Gedanken über die künftige Elite und ihre Rolle in der Gesellschaft dokumentieren eine interessante Nähe zu 29 30 31 32

Siehe Ulrich Beck, Risikogesellschaft, Frankfurt a.M. 1986, 16. Ein Beispiel ist die Berliner Rede von Bundespräsident Herzog vom September 1997. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, 220. Siehe dazu das Kapitel „Neue Ethik: Die Rolle der Eliten" in: Hans Jonas, Erkenntnis und Verantwortung, Göttingen 1991, 112 ff. Mit seiner positiven Wertschätzung der Elite und seiner damit verbundenen Bestimmung des Begriffs der ,Autorität' knüpft Jonas ähnlich wie Nietzsche an die praktisch-politische Philosophie Piatons an

(vgl. 117).

Nietzsches Entwurf einer geistig-leiblichen Aristokratie

191

Nietzsches Vorstellung einer neuen Elite der Leidensfähigkeit, denn Nietzsche verfolgt nicht eine Revitalisierung von antiken Aristokratie-Modellen, sondern strebt eine gegliederte gesellschaftliche Ordnung auf der Grundlage eines neuen Autoritätsbegriffs an.33 Auch wenn der unzeitgemäße Titel viele Interpreten verschreckt, so scheint mir Nietzsches Entwurf einer neuen, geistig-leiblichen Aristokratie trotz verschiedener Probleme bedenkenswert und damit zeitgemäß.

33 Der positive Begriff der Autorität ist sowohl bei Nietzsche als auch bei Jonas deutlich von totalitären und diktatorischen Deutungen zu unterscheiden, insofern beide keinen durch Repression erwirkten, absoluten Gehorsam anstreben, sondern ein Höchstmaß an positiver Freiheit bewahren wollen. Siehe dazu Nietzsche MA I, KSA 2, 199, u. FW, KSA 3, 537 bzw. Hans Jonas, Erkenntnis und Verantwortung, 117. Freilich betont Nietzsche in diesem Zusammenhang stärker als Jonas die Notwendigkeit der Einschränkung der Freiheit von vielen Individuen, wobei er zeitweise nicht frei von gewissen Maßlosigkeiten ist.

7. Nietzsche-Werkstatt

Schulpforta:

Friedrich Nietzsche und die Kritische Theorie (23.- 26.9.1998)

Josef Simon

Nietzsche und der Gedanke einer Kritischen Theorie

I. Unter einer „Theorie" kann man den Versuch einer systematischen Zusammenschau dessen verstehen, was von einem Standpunkt aus für wirklich gehalten wird. Was für wirklich gehalten wird, muß auch möglich sein; es muß sich ohne allzu großen Verlust an Aufmerksamkeit auf das Detail widerspruchsfrei formulieren und zusammenfassen lassen. Seit Baco von Verulam soll jedoch über die widerspruchsfreie Denkmöglichkeit hinaus die Erfahrung Grundlage des Fürwahrhaltens und damit auch aller Theoriebildung sein. Kant hat das aufgegriffen, wenn auch nicht ohne kritische Distanz zum Baconschen Erfahrungsbegriff. „Erfahrung" ist nach Kant nur durch die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung der Wahrnehmungen möglich"} Diese „Vorstellung" bleibt aber unerreichbar, denn eine Verknüpfung der Wahrnehmungen kann in der Wirklichkeit immer nur subjektiv und daher nicht unbedingt notwendig sein. Aus diesem Grund kann es nach Kant „Erfahrungen im strengsten Sinne" nicht geben, „sondern nur Wahrnehmungen, die zusammengenommen die Erfahrung ausmachen würden".2 Die Vorstellung eines allgemeinen materialen Wahrheitskriteriums über das formale der Widerspruchsfreiheit in der Zusammenfassung der Wahrnehmungen hinaus ist „nicht möglich" und „sogar in sich selbst widersprechend".3 Wir können unsere Vorstellungen immer nur mit anderen Vorstellungen vergleichen, aber nicht mit etwas „außerhalb" unseres eigenen und jeweiligen Vorstellungsvermögens. Jede zu einer bestimmten Zeit als hinreichend erscheinende Zusammenfassung der bisherigen „Wahrnehmungen" zu einer „Erfahrung" kann durch weitere Wahrnehmungen in Frage gestellt werden, denn jede ergibt sich zu einer bestimmten Zeit und unter einem bestimmten „Gesichtspunkt", ohne „Übersicht" über die Welt als ein Ganzes. Das sind die Rahmenbedingungen für eine im Kantischen Sinn „kritische" Theorie. Wenn wir solch einem kritischen Bewußtsein und Selbstbewußtsein gemäß nicht bereit sind, auf unser Fürwahrhalten hin auch zu handeln, handelt es sich nach Kant um eine bloße „Meinungssache", und insofern begründet die „Kritik" das Recht der „freien" Meinung. Wenn wir dagegen, je nachdem, was „dabei im Spiele ist",4 entschlossen sind, auf der Grund„

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1 2 3 4

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 218. Immanuel Kant, Physische Geographie, Akademieausgabe Immanuel Kant, Logik, AA IX, 50. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 853.

-

(AA), IX, 157.

Josef Simon

196

läge unserer eigenen Urteilsbildung zu handeln, ohne jedoch unser Fürwahrhalten und das ihr entsprechende Handeln auch anderen zuzumuten, die sich von ihrem anderen „Standpunkt" aus ein anderes Urteil als Grundlage ihres Handelns bilden könnten, handelt es sich um eine Sache des (pragmatischen) „Glaubens", und nur wenn wir von uns aus nicht verstehen

können, daß andere es anders sehen und beurteilen könnten als wir selbst, handelt es sich um eine „Wissenssache" im kritisch-philosophischen Sinn. In diesem Sinn wollte Kant „das Wissen aufheben, um zum Glauben", aber auch wie man hinzufügen kann für die freie Meinung „Platz zu bekommen".5 Damit stellt sich die Frage, ob denn die Sätze der Kritik selbst als „Meinung", als „Glauben" oder als „Wissen" zu verstehen seien. Kant beantwortet diese Frage schon mit dem Bacon-Zitat, das er der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft als Motto voranstellt: „Von uns selbst schweigen wir. Was aber die Sache angeht, die behandelt wird, so bitten wir darum, daß die Menschen sie nicht als bloße Meinung, sondern als ein gutes Werk ansehen, bei dem sie überzeugt sind, daß es sich nicht um eine Sektenbegründung oder um willkommene Lehrmeinungen handele, sondern um eine Grundlegung der menschlichen Wohlfart und Würde überhaupt". Von „Wissen" ist hier keine Rede: Jeder soll sich das „Werk", wenn er es denn als „ein gutes" ansehen kann, für sein Leben in „Wohlfart und Würde" zu eigen machen und ihm „den guten Glauben entgegenbringen", daß es „nichts Endloses und Übermenschliches darstelle", sondern „in Wahrheit" nur „das Ende und die Grenze aller Irrtümer" bedeute,6 d. h. bei Kant: alles vermeintlichen „Wissens". „Leben" ist nach Kant das „Vermögen", nach eigenen „Vorstellungen"7 zu handeln, und „Vorstellungen", auf die hin man zu handeln bereit ist, sind „Gaubenssachen". Wenn von einer „Kritischen" Theorie die Rede ist, wie sie von Horkheimer und Adorno verstanden und mit dem Begriff einer „Aufklärung" verbunden wurde, ist zunächst an den Kantischen Begriff von „Kritik" und an einen Begriff von „Aufklärung" anzuknüpfen, dem dieser Begriff zugrunde liegt. „Aufklärung" stellt sich bei Kant nicht als besseres, sich als überlegen verstehendes „Wissen" dar und damit auch nicht als eine lehrbare Doktrin, sondern als praktischer Imperativ: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes [...] ohne Leitung eines -

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-

zu bedienen." Die Betonung liegt hier nicht auf dem „Verstand" als einem allgemeinen Vermögen, sondern auf dem eigenen Verstand. Kant beginnt in seiner Schrift zur Beantwortung der Frage, was Aufklärung sei, zwar zunächst mit Versuchen, einen „Begriff der Aufklärung zu definieren: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn [...]".' Der Versuch, einen allgemeinen Begriff, hier den der Aufklärung, zu definieren, könnte an sich endlos fortgesetzt werden, weil immer weiter nach Definitionen der definierenden Begriffe gefragt werden könnte. Er wird jedoch durch den Imperativ, „Mut" zum

anderen

5

6

7 8

Ebd., B XXX. „De nobis ipsis silemus: De re autem, quae agitur, petimus: ut homines earn non Opinionem, sed Opus esse cogitent; ac pro certo habeant, non Sectae nos alicuius, aut Placiti, sed utilitatis et amplitudinis humanae fundamenti moliri. [...] Praeterea ut bene sperent, neque Instaurationem nostram ut quiddam infinitum et ultra mortale fingant, et animo concipiant; quum revera sit infiniti erroris finis et terminus legitimus." Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B II. Hervorhebungen v. Vf. Vgl. z. B. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, AA VI, 211. Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? AA VIII, 35. Veränderte Hervorhebungen.

197

Nietzsche und der Gedanke einer Kritischen Theorie

Gebrauch des eigenen Verstandes zu haben, abgebrochen, damit die Begriffsbestimmung sich nicht im „Endlosen" und „Übermenschlichen" verläuft. Kant stellt sich damit in die neuzeitliche Tradition seit Descartes: „Definitionen" außerhalb der Mathematik können sich nicht mehr als definitive „Wesensbestimmungen" verstehen, sondern nur noch als pragmatisch abgebrochene Verdeutlichungen der zu definierenden Begriffe. Sie werden aus pragmatischen Gründen abgebrochen, wenn die Begriffe für die Definition subjektiv als hinreichend deutlich angesehen werden. Der Tradition gemäß könnte ich z. B., wenn ich, Descartes' Ansatz folgend, weiß, daß ich bin, fragen, wer oder was ich bin, und die Antwort könnte lauten: „Doch wohl ein Mensch". Dann könnte sich die weitere Frage ergeben, „was" ein Mensch sei (sed quid est homo?). Soll ich dann antworten, ein Mensch sei ein „animal rationale"? Dann könnte man weiterfragen, „was" „animal" und „was" überhaupt „Rationalität" sei, und man geriete „aus einer Frage in mehrere und noch schwierigere" (ex una quaestione in plures difficilioresque delaberer). Man würde jeweils ein Zeichen, nach dessen „Bedeutung" man fragt, weil man es in einem aktuellen Zusammenhang nicht oder nicht mehr hinreichend versteht, durch mehrere andere Zeichen ersetzen, im „Prinzip" ohne Ende. An diesem Punkt kommt es bei Descartes zu einer entscheidenden Wendung: Wenn er bemerkt, er hätte „nicht so viel Zeit' (nee jam mihi tantum otii est), daß er sie „zwischen derartigen Subtilitäten mißbrauchen wollte",9 bezieht er den Zeitbegriff auf die eigene Lebenszeit, in der zur Lösung ernsthafter Probleme der Lebensorientierung immer nur eine begrenzte, aber unbestimmt begrenzte Zeit gegeben ist. Dadurch ist der Denkhorizont wesentlich begrenzt. -

II. Um uns der Frage nach der Bedeutung Nietzsches für die „Kritische Theorie" Horkheimers und Adornos angemessen zuwenden zu können, sind diese philosophiehistorischen „Einsichten" zu bedenken. Auch wenn Adorno, wie es seiner Position entspricht, in theoretische Überlegungen die praktisch-philosophische Dimension einbezieht und „moralisch" spricht, spricht er nicht „über" das Leben wie aus einer unbegrenzten oder doch „höheren Übersicht", sondern über Reflexionen „aus" dem beschädigten Leben10 und dessen subjektiver „Beschränkung". In der „negativen" Dialektik wendet er sich gegen philosophische Ansätze, die sich, wie er es sieht, als unbedingtes, absolutes Wissen verstehen. Schon das Mittelalter konnte den antiken metaphysischen Anspruch auf unverstellte Übersicht und d. h. griechisch: auf „Theorie" nur noch über die Vorstellung einer den Menschen gewährten „Teilhabe" an einer „göttlichen Sicht" (visio dei) erklären. Die neuere Philosophie beginnt nach einer üblichen Markierung mit Descartes. Aber auch Descartes dachte die Möglichkeit von „Theorie" noch mit Hilfe der Vorstellung solch einer „Teilhabe", nun allerdings auf dem Weg über „rationale Beweise" des Daseins, d. h. der Wirksamkeit eines gütigen Gottes, der uns nicht täuschen wolle, auch wenn er es in seiner Allmacht könnte. Spätestens seit Kant aber können philosophische Beweise mangels definitiv bestimmbarer, unbegrenzt allgemeingültiger Begriffe keine Beweise im strengen -

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-

-

9 René Descartes, Meditationes, II, 5; AT VII, 25. 10 Theodor W. Adorno, Minima Moraba. Reflexionen

aus

dem

beschädigten Leben, Frankfurt a.M.

1951.

Josef Simon

198

Sinn mathematischer „Demonstrationen" mehr sein. „Beweise" sind unter kritischem Aspekt außerhalb der Mathematik nur noch als „akroamatische"" denkbar, bei denen jeder die darin verwendeten Begriffe zuletzt ohne „weitere" Erklärung ihrer „Bedeutung" so verstehen muß, wie er sie aus seinen eigenen Lebensumständen und aus seinem wesentlich räumlich und zeitlich beschränkten Horizont heraus „selber denkend" verstehen kann. Diese Einsicht soll ihm „Mut" machen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und auf sein eigenes Verstehen hin in eigener Verantwortung zu handeln. Er sieht sich damit aber wesentlich ,fremder Vernunft"12 und deren anderer Beurteilung von einem anderen „Standpunkt" aus gegenüber-

gestellt.

Die Kritik des Anspruchs auf eine „bessere" Übersicht oder, wie Kant auch sagt, auf „vornehme Töne" in der Philosophie13 ist zugleich eine Kritik des Anspruchs auf ein streng systematisches, reine Theorien formulierenden Denkens. Wenn keine Übersicht über den jeweiligen Gebrauch der Begriffe „gegeben" ist, ist auch kein System denkbar, in dem sich -

-

ein durchgehend identischer „Standpunkt" formulieren ließe. Das Fragment und der Aphorismus werden zu den noch möglichen und noch zu verantwortenden philosophischen Formen. Bei Nietzsche wird das um Systematik bemühte Denken der Tradition zu einem bloßen „Willen zum System", den er einen „Mangel an Rechtschaffenheit" nennt (GD, KSA 6, 63, kursiv, J. S.), und da sich auch dieser Wille nicht identifizieren läßt, löst auch er sich in Willensmomente auf, die sich redlicherweise in kurzen Formulierungen darstellen, ohne den Anspruch, sich nachträglich doch noch in ein System zusammenfassen zu lassen. Der stilistische Gesichtspunkt der größtmöglichen Kürze beruht auf der Einsicht, daß „nähere" Begriffsbestimmungen und -erläuterungen ohnehin subjektiv abgebrochen werden müssen, wenn sie dem Autor als für den Leser hinreichend deutlich erscheinen, und daß die kürzere Version dem Leser mehr Raum für sein eigenes Verständnis läßt. Für Nietzsche ist deshalb auch der „Gegensatz" nicht mehr „falsch" und „wahr", sondern „.Abkürzungen der Zeichen im Gegensatz zu den Zeichen selber", „die Erfindung von Zeichen für ganze Arten von Zeichen" (NF, KSA 12, 17). Damit artikuliert sich ein philosophisch reflektiertes, in sich problematisches Autor-Leser-Verhältais als ein Verhältnis von Individuen, die sich nicht mehr belehren wollen, sondern sich zugestehen, gleichermaßen aus ihren eigenen „Horizonten" heraus zu denken. An die Stelle einer philosophischen Theorie, die sich von ihren antiken Ansätzen her so systematisch wie möglich abzuschließen und darzustellen suchte und darin ein Indiz für ihre allgemeine Gültigkeit sah, tritt damit eine „Experimentalphilosophie" als Versuch des Autors mit dem Verständnis des Lesers. Nietzsches Denken verzichtet kritisch auf die Vorstellung einer, wie er es nennt, „Hinterwelt" von Bedeutungen „hinter" den Zeichen, von deren Einsicht her die Verbindung der Zeichen zu wahren Aussagen zu dirigieren wäre. Er begreift Denken und Philosophie nur noch als den immer wieder neu ansetzenden Versuch, Zeichen, die in ihrem konkreten Gebrauch und Kontext nicht unmittelbar verstanden werden oder von denen man denkt, daß sie nicht unmittelbar verstanden werden, durch immer wieder andere Zeichen zu umschreiben. Von diesem veränderten Begriff der philosophischen Darstellung her lassen sich dann auch erst die allseits bekannten „Lehren" Nietzsches verstehen, die, als „Lehren" aufgefaßt, '

systematische Zusammenhänge

zu

suggerieren scheinen: der „Wille

zur

Macht", der „Tod

11 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 763. 12 Vgl. z. B. ebd., B 849. 13 Immanuel Kant, Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, AA

VIII, 387 ff.

Nietzsche und der Gedanke einer Kritischen Theorie

199

Gottes", der „Übermensch" und die „ewige Wiederkehr des Gleichen". „Der Wille

zur

Macht" ist entgegen der Auffassung Heideggers, der darin offenbar eine „metaphysische bei Nietzsche nicht mehr als „metaphysisches" Prinzip zu Lehre" Nietzsches sieht würde Nietzsche hinter Kants Kritik der „lehrenden" Metaphysik und sogar dies verstehen; hinter den Beginn der neueren Philosophie bei Descartes zurückfallen lassen. Nietzsche versteht „den" Willen zur Macht aus der Vorstellung einer Pluralität verschiedener, einander entgegengesetzter „Willen zur Macht",14 die auch auf dem Gebiet vermeintlich „rein" theoretischer Einstellungen ihre besonderen und zuletzt individuellen, d. h. begrifflich nicht zu erfassenden „Perspektiven" gegeneinander zu behaupten suchen. Insofern handelt es sich nicht mehr um „Lehren", sondern um starke „Gegen-Begriffe" (NF, KSA 13, 603), die sich absoluten Ansprüchen destruktiv-kritisch entgegenstellen. Das gilt nach Nietzsche selbstverständlich auch für seine eigenen „Lehren". Die „Lehre" vom „Tode Gottes" ist daher auch keine andere Lehre als die vom „Willen zur Macht": als Lehre ist sie selbst „Wille zur Macht". Nietzsche „lehrt" seine „Lehren" deshalb auch eigentlich nicht „selbst", sondern läßt sie von „Personen" lehren, die in seinen Werken auftreten. Er läßt die Person, die „hinter" der Lehre steht, hervortreten. Insofern ist die Darstellung dramatisch und tragisch, weil mit dem Lehrer auch die Lehre untergeht. In der „fröhlichen", d. h. auf individueller Einbildungskraft beruhenden „Wissenschaft" im modernen Sinn verkündet die „Lehre" vom Tode Gottes der „tolle Mensch". Mit den Worten: „Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!" richtet er sich an diejenigen, die nicht an Gott glauben und deshalb auch nicht glauben, daß sie ihn getötet haben (FW, KSA 3, 481); und Zarathustra sagt gleich zu Beginn der Tragödie zu einem heiligen Einsiedler, der an Gott glaubt: „Was hätte ich euch zu geben! Aber lasst mich schnell davon, dass ich euch Nichts nehme!", und zu sich selbst sagt er: „Sollte es denn möglich sein! Dieser alte Heilige hat in seinem Walde noch Nichts davon gehört, dass Gott todt ist!" (ZA, KSA 4, 13 f.) Nicht Nietzsche, sondern Zarathustra „lehrt" den „Tod Gottes", den „Übermenschen" und die „ewige Wiederkehr", und seine Tiere sagen ihm: „siehe, du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft -, das ist nun dein Schicksal!" (ZA, KSA 4, 275)1S Die Lehren Nietzsches sind insgesamt Gegen-Lehren. Sie stehen nicht „über" anderen Lehren, sondern stellen sich gerade gegen deren Anspruch auf „Übersicht". Der „Übermensch" ist der Mensch, der den „schwersten Gedanken", den der „ewigen Wiederkehr" erträgt, weil er sein Schicksal, so wie es sich ihm darstellt, lieben und zu allem ,ja" sagen kann. Alles darf dann wiederkehren, ohne sich in einem höheren Sinn aufheben zu sollen. Auch diese „Lehre" ist keine „theoretische" Bestimmung, die in einem absoluten Sinne wahr sein und deshalb für alle gelten sollte. Auch sie ist ein Experiment, das danach fragt, wer sie ertragen kann. Nietzsche sagt ausdrücklich von sich selbst, daß er den „schweren" Gedanken selbst nicht oder doch nicht immer ertragen konnte.16 Einen Gedanken versteht, wer ihn erträgt. Der „Übermensch" könnte diesen Gedanken ertragen. -

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-

14 15 16

Vgl. Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/New York 1971. Wenn Nietzsche sich gelegentlich selbst als den „Lehrer der ewigen Wiederkunft" bezeichnet (vgl. KSA, GD, VI, 160), bezeichnet er damit zugleich sein eigenes Schicksal als Lehrer. „Ich will das Leben nicht wieder. Wie habe ich's ertragen? Schaffend. Was macht mich den Anblick aushalten? der Blick auf den Übermenschen, der das Leben bejaht. Ich habe versucht, es selber zu bejahen Ach!" (KSA, NF, X, 137).

-

200

Josef Simon

Philosophische „Lehren" verdrängen in ihrem unbedingten Anspruch den bedingten Standpunkt ihrer willentlichen Formulierung. Sie verdrängen, daß „Lehren" sich nicht unmittelbar auf „Tatsachen" berufen, sondern nur „Interpretationen" von Tatsachen sein können. Schon ihre Beschreibung folgt einer vorgegebenen „Grammatik". Die indoeuropäische Grammatik gibt nach Nietzsche z. B. ein moralisches Interpretationsschema vor, wenn sie in jedem vollständigen Satz eine Stelle für die Bezeichnung eines Subjekts als des Täters eines Geschehens vorsieht (vgl. NF KSA 12, 182). Deshalb gibt es nach Nietzsche auch eigentlich Phänomene, auch keine moralischen, „sondern nur eine moralische Interpretation gewisser Phänomene" (NF, KSA 10, 98). Die Grammatik des sprachlichen Interpretationsmediums wird dem Begriff des „moralischen Gottes" entgegengestellt. Den „eifrigen" Einwand, der geltend macht, daß dann, wenn „alles" Interpretation sei, auch dieser Satz bloß keine

Interpretation sein müsse, begegnet Nietzsche mit der Bemerkung: „nun, um so besser" (JGB, KSA 5, 37). Es ist besser, weil damit deutlich wird, daß diese „Lehre" keinen absoluten Anspruch erhebt, sondern sich nur den Lehren entgegensetzen will, die sich selbst nicht als Interpretation, sondern als Übereinstimmung mit „der Sache" verstehen. Die allgemeine Logik beißt sich dabei „in den Schwanz" (GT, KSA 1, 101). Zarathustra als Lehrer fordert anstelle einer allgemein begründbaren Moral eine Gegenmoral, die fremde Individualität anerkennt und über die Differenz von Moralvorstellungen hinaus „gerecht" sein will. Im eigenen Namen kann Nietzsche die Forderung nach solch einer „Gerechtigkeit" nicht mehr erheben wollen, denn als allgemeine Forderung wäre sie wieder moralisch, und so erfindet er dafür eine Person in der Maske des „lehrenden" Zarathustra. Zarathustra spricht: „So erfindet mir doch die Liebe, welche nicht nur alle Strafe, sondern auch alle Schuld trägt! So erfindet mir doch die Gerechtigkeit, die Jeden freispricht, ausgenommen den Richtenden!", und er fügt hinzu: „Wollt ihr auch diess noch hören? An Dem, der von Grund aus gerecht sein will, wird auch noch die Lüge zur Menschen-Freundlichkeit. Aber wie wollte ich gerecht sein von Grund aus! Wie kann ich Jedem das Seine geben! Diess sei mir genug: ich gebe Jedem das Meine." (ZA, KSA 4, 88) Die philosophische Reflexion bestimmt auch den „Willen": Zarathustra will nicht bestimmen, was für einen anderen „das Seine" sei, weil er weiß, daß er sich damit auch das Recht auf das Seine gegenüber anderen Standpunkten nehmen würde. Wenn er einem anderen nicht „das Seine", sondern „das Meine" zuspricht, gesteht er ihm ebenso wie sich selbst einen (gleich-berechtigten) „Standpunkt" als „freie Meinung", aber auch als „Glaube" zu. Er gibt ihm das, was er sich selber „gibt" und zugesteht. eine

-

III. Nietzsches „starke" Gegenbegriffe sind „bestimmte Negationen" im Hegelschen Sinn.17 Es sind Gegenthesen zu bestimmten, vorherrschenden Thesen, von denen sie damit abhängig bleiben, aber keine „höheren" oder „wahren" Positionen. Zur Wahrheit gehört, daß sie sich nicht in einer Sprache darstellen läßt, die, abgelöst von der Differenz der Standpunkte, als vermittelndes Medium „gegeben" wäre. Ein Standpunkt stellt sich dar, indem er sich von

17

Vgl. Josef Simon, „Bestimmte Negation. Ein Traktat zur philosophischen Methode", in: Mihailo Djuric und Josef Simon (Hg), Nietzsche und Hegel, Würzburg 1992.

Nietzsche und der Gedanke einer Kritischen Theorie

201

einem anderen abgrenzt und sich gegen ihn stellt. Insofern bleibt auch die „Überwindung der Metaphysik" auf die Metaphysik und die Sprache dieser Überwindung auf die Sprache der Metaphysik bezogen. Die Negation bedarf, um sich überhaupt darstellen zu können, der Position, die sie negiert, einschließlich des Sprach-Begriffs. Schon bei Kant war deutlich, daß die „Kritik" sich als „Dialektik" darstellen muß, wenn sie selbst als Position auftritt. Sie muß die kritisierte dogmatische Position in ihre Darstellung einbeziehen, d. h. sich als „negative Dialektik" darstellen. Eine „kritische" Theorie, bei deren Begriff wir damit angekommen sind, bedarf des Falschen, um sich als dessen Negation formulieren zu können. Das kann dann aber nicht mehr als ein „Falsches" im Sinne eines vorgegebenen Wahrheitsbegriffs oder einer bestimmten „Wahrheitstheorie" gemeint sein, sondern nur noch ein individuell erfahrenes, d. h. erlittenes Falsches. Mit dem Anspruch auf einen höheren Standpunkt, aus dem sich „das Ganze" systematisch und von daher auch das Falsche verstehen ließe, setzt eine Theorie „ihr" Ganzes aus ihrer Sicht als „das" Wahre. Schon Kant nannte es „sehr was Ungereimtes, von der Vernunft Aufklärung zu erwarten, und ihr doch vorher vorzuschreiben, auf welche Seite sie notwendig ausfallen müsse". „Vernunft" werde „schon von selbst durch Vernunft so wohl gebändigt und in Schranken gehalten", so daß es nicht nötig sei, „Scharwachen aufzubieten". In dieser „Dialektik" der Vernunft gegen sich selbst gebe es „keinen Sieg", um den man „besorgt" sein müsse.18 Die Vernunft des einen steht aus eigenem Recht gegen die des anderen; in der „allgemeinen Menschenvernunft" hat jeder seine „Stimme".19 Keine Position kann die andere nach absoluten Maßstäben oder ein für allemal „besiegen". „Im Geistigen" gibt es auch nach Nietzsche „keine Vernichtung" (NF, KSA 12, 312), denn seine Darstellung ist unmittelbar der Anlaß des Weiterdenkens. Denken ist das durch es selbst immer nur „pragmatisch" zu Ende kommende Weiterdenken einer „Spur",20 auf der es sich historisch befindet. Für Kant bleibt „alles unser Begreifen [...] nur relativ, d. h. zu einer gewissen Absicht hinreichend, schlechthin begreifen wir gar nichts".21 Er unterscheidet sich damit von einer Kritik, die besorgt ist, durch ihren „selbstbezüglichen Gebrauch" ihre eigene Möglichkeit zu zerstören.22 Eine solche „Zerstörung" des eigenen kritischen Ansatzes liegt nach Habermas bei Horkheimer und Adorno und auch bei Nietzsche vor. Nietzsche sieht darin jedenfalls keinen Nachteil. Er begegnet dem Einwand, seinen eigenen kritischen Ansatzes selbst zu zerstören, mit dem schon zitierten „um so besser". Aber auch schon Kant beansprucht, wenn er sagt, daß in der allgemeinen Menschenvernunft ein jeder seine Stimme habe, für sich selbst als „Philosophen" nicht mehr einen privilegierten Begriff von Vernunft oder Rationalität, in dessen Explikation er anderen definitiv sagen könnte, „was" Vernunft und „was" Rationalität „in Wahrheit" seien. Er wendet sich gegen alle „neuerdings erhobenen vornehmen Töne in der Philosophie". Gegen diesen Punkt philosophischer Selbstkritik erhebt sich „neuerdings" der Einwand der „Beliebigkeit". Es ist aber nicht „beliebig", ob man versteht oder nicht versteht, d. h. ob eine bestimmte philosophische Position, so wie der Autor sie darstellt, für den Leser von „Bedeutung" ist oder nicht. Die Sorge vor einer in den „Relativismus" führenden „Beliebig18 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 775. 19 Ebd. B 780. 20 Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, ed. Glockner, II, 30: „Was vorher die Sache selbst war, ist nur noch eine Spur". 21 Immanuel Kant, Logik, AA IX, 65. 22 Vgl. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1985, 153.

Josef Simon

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keit" versteht offenbar die kritische und selbstkritische Reflexion des Standpunkts als sich selbst absolut setzenden Standpunkt. Sie versteht auch die Kritik immer noch als Doktrin oder „Lehre", weil sie Philosophie nicht anders verstehen kann oder um ihrer eigenen Positionalität willen nicht anders verstehen will. Es liegt aber schon im allgemeinen Begriff einer Position, daß sie eine beschränkte, von anderen Positionen verschiedene ist. Wären die Positionen nicht verschieden, so hätte man einander nichts zu sagen. Die fremde Sicht kann der eigenen, gerade wenn sie fremd und „schwer" zu verstehen bleibt, den „Wink" geben, die eigene Beschränktheit zu bedenken, ohne damit schon die eigene „Überzeugung" preiszugeben. „Überredung" kann zwar nach Kant „von der Überzeugung subjektiv [...] nicht unterschieden werden" wer sich überreden ließ, hält sich selbst für überzeugt -, „der Versuch aber, den man mit den Gründen" des eigenen Fürwahrhaltens, „die für uns gültig sind, an anderer Verstand macht, ob sie auf fremde Vernunft eben dieselbe Wirkung tan, als auf die unsrige, ist doch ein, obzwar nur subjektives, Mittel, zwar nicht Überzeugung zu bewirken, aber doch die bloße Privatgültigkeit des Urteils, d. i. etwas in ihm, was bloße -

Überredung ist, zu entdecken".23

impliziert die Kritik an der Idee allgemein gültiger „Gründe" oder „Argumente". „Letztbegründungen" sind der Kritik gemäß ebenso ausgeschlossen wie ein privilegiertes Definitionsrecht als Antwort auf die Frage nach der „wahren" Bedeutung von Wörtern, Sätzen oder Texten. Nietzsche nennt dementsprechend das Individuum „etwas Absolutes", dem „alle Handlungen ganz sein eigen" seien (NF, KSA 10, 663). Er stellt folgerichtig eine Individualmoral, die keine gleichen Ansprüche an andere, aber hohe an sich selbst stellt, gegen jede „gemeinschaftliche" Moral, die er als Moral der Schwachen bezeichnet, die das Das

Bewußtsein der Individualität, und d. h. auch: ihr „Schicksal" nicht ertragen. In diesem Zusammenhang richtet er sich gegen die Antisemiten, die das Fremde, in sich gefestigte Besondere nicht ertragen, und gegen eine Aufklärung, die „der Bedeutung der Religion nicht gerecht geworden" sei (MA, KSA 2, 109), weil sie das je eigene Fürwahrhalten als das Absolute, d. h. als „Wissen" und eben nicht als „Glaube" wahr haben wollte. Der Antisemitismus war schon für Nietzsche ein Paradigma für die Unfähigkeit, ein fremdes Selbstbewußtsein anzuerkennen, das sich seiner selbst in seiner Besonderheit als Volk des eigenen Gottes und des „Bundes" mit ihm gewiß zu sein „glaubt". In Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung wird der Antisemitismus ebenfalls als „Gleichmacherei" bezeichnet.24 Eine allgemeine Aufklärung setzt einen allgemeinen Standpunkt voraus und vernichtet allen Sinn, weil sie sich mit keinem besonderen und schon gar nicht mit einem individuellen zufrieden gibt. Der Begriff einer allgemeinen Aufklärung ist demnach der Nihilismus in der Entwicklung der europäischen Philosophie. In der Dialektik der Aufklärung heißt es demgemäß: „Unter der nivellierenden Herrschaft des Abstrakten, die alles in der Natur zum Wiederholbaren macht, und der Industrie, für die sie es zurichtet, wurden schließlich die Befreiten selbst zu jenem ,Trupp', den Hegel25 als das Resultat der Aufklärung gezeichnet hat".26 Das kann sich nicht als Opposition gegen das abstrakte Denken als solches verstehen. Denken ist abstrakt, weil Begriffe Allgemeinbegriffe sind. Abstraktion war schon beim 23 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 849. 24 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947, 201. 25 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, II, 424 (zit. n. Horkheimer u. Adorno). 432 f. 26 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 24.

Vgl.

auch ebd,

Nietzsche und der Gedanke einer Kritischen Theorie

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frühen Kant „negative Aufmerksamkeit".27 Die „Dialektik" richtet sich lediglich dagegen, einen bestimmten Gesichtspunkt der Abstraktion und damit der Aufmerksamkeit und des Interesses des Denkens absolut zu setzen und dadurch die „ästhetischen" Differenzen unterhalb des jeweils untersten Begriffs zu übergehen. Solch ein „gleichmachendes" Denken ist nach Nietzsche mit dem in Europa und in der europäischen Tradition vorherrschenden, sich über die Welt ausbreitenden Begriff von „Wissenschaft" verbunden, und „das Wissen, das Macht ist", kennt auch nach der Dialektik der Aufklärung „keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt". „Technik ist das Wesen dieses Wissens"; es ist „hart genug, die Mythen zu zerbrechen", weil es „sich selbst Gewalt antut".28 Es zerstört mit seinem Begriff vom Begriff, der als unbeschränkt geltend vorausgesetzt wird und sich gegenüber „fremder Vernunft" nicht in Frage stellt, die Besonderheit der Kultur, der sich der Begriff verdankt. Nietzsche stellt diesem „Wissen" das asiatische Denken gegenüber, das verschiedene Religionen als verschiedene Weisen des Fürwahrhaltens eher als Bereicherung ansieht. Dieses Denken könne im europäischen Sinne von „Wahrheit" als dem allgemein Geltenden „nicht zwischen Wahrheit und Dichtung unterscheiden", ohne darin aber einen Nachteil zu sehen. In dem Vergleich der Kulturen wird nicht nur das exotische, sondern gerade auch das europäische Denken in seiner Eigentümlichkeit begriffen und in seinem absoluten Anspruch, der den Anspruch einschließt, selbst die „höhere" Instanz dieses Vergleichs zu sein, kritisiert. Alles hat nach Nietzsche „seine Zeit" (M, KSA 3, 19), auch wir in unserem kollektiven europäischen Bewußtsein, das sich als Fortschritt in der „Aufklärung" in einem absoluten Sinn begreift. Der Furcht vor dem anderen scheint der Mensch erst „ledig zu sein, wenn es nichts Unbekanntes mehr gibt". Sie bestimmt nach der Dialektik der Aufklärung „die Bahn der Entmythologisierung der Aufklärung", die, in der Tendenz zur Aufhebung aller Besonderheiten, auch „das Lebendige mit dem Unlebendigen ineinssetzt", so „wie der Mythos das Unlebendige mit dem Lebendigen". „Konsequente" Aufklärung geht über jede Anerkennung „fremder Vernunft" hinweg, die vom absolut gesetzten, als „Standpunkt" ignorierten eigenen Gesichtspunkt aus notwendig als „irrational" erscheint und insofern nicht logisch, sondern „nur" ästhetisch „da" ist. Sie ist „radikal gewordene, mythische Angst".29 In Adornos Ästhetischer Theorie steht gleich am Anfang:

„Zur Selbstverständlichkeit wurde, daß nichts,

was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht. Die Einbuße an reflexionslos und unproblematisch zu Tuendem wird nicht kompensiert durch die offene Unendlichkeit des möglich Gewordenen, der die Reflexion sich gegenübersieht. Erweiterung zeigt in vielen Dimensionen sich als Schrumpfung."30

Wenn es weiter heißt: Kunst habe „ihren Begriff in der geschichtlich sich verändernden Konstellation von Momenten", und dieser Begriff sperre sich gegen die „Definition",31 verweist das auf die Einsicht, daß es Definitionen überhaupt nur vor dem Hintergrund von 27 Vgl. Immanuel Kant, Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen, AA II, 190. 28 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 14. 29 Ebd., 27. 30 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1970, 9. 31 Ebd., 11.

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Selbstverständlichem, reflexionslos zu Tuendem und nicht erst noch theoretisch zu Erörterndem „geben" kann. Was sich der Definition entzieht, ist das unterhalb des untersten Begriffs ästhetisch Unterschiedene, das sich auch in der ausführlichsten begrifflichen Analyse nicht fassen läßt. Während alles andere, wenn es denn überhaupt als „rational" gelten soll, einem subjektiv beanspruchten Definitionsprivileg und darauf beruhenden „logischen Analysen" zu unterwerfen versucht wird, wird nur noch das Kunstwerk als

„etwas" gelten gelassen, das sich der begrifflichen Bestimmung, und sei es auch nur der Bestimmung als „Kunst" entzieht. Die Kunst ist als der irrationale Rest der geltenden Rationalität, als „ohne Zweck" für die besonderen Zwecke einer sich zum Allgemeinen aufspreizenden „Rationalität" begriffen. Die Auflösung der besonderen „Aura", innerhalb derer

ein Kunstwerk ohne die Frage nach seinem „Wesen", d. h. nach seiner Berechtigung unter einem vorgegebenen Begriff"von Kunst als es selbst bleiben könnte, setzt es wie alles andere einer „äußeren Reflexion" über sein „Wesen" aus, die subjektiv über den Abbruch der Analyse und damit über die „Wesensbestimmung" zu verfügen denkt. Schon Hegel hatte die Kunst „nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes"32 genannt, weil nunmehr die „Wissenschaft der Kunst" (d. h. hier: die Philosophie der Kunst als Versuch der Beantwortung der Frage, „was Kunst sei") anstelle der Kunst selbst den „höchsten" Platz einnehme. Hegel begriff jedoch auch schon das „Wesen" von etwas als „das vergangene, aber zeitlos vergangene Seyn".33 Indem das „Wesen" als Vergangenes, als die Vergangenheit einer Bestimmung, die sich zuvor für die „wesentliche" gehalten hatte, begriffen ist, ist auch die Instanz der Kritik der Kunst selbst schon in ihrer eigenen Besonderheit begriffen. Zu Nietzsches Zeit bestimmten aber nicht mehr solche philosophischen Reflexionen, sondern umgekehrt das wissenschaftliche Bewußtsein progressiver Rationalität die Philosophie. Nietzsche versuchte sozusagen dagegen „noch einmal" eine Rechtfertigung der Besonderheit als das, was dem je eigenen Denken seinen positiven „Grund" gibt, auf dem es dann überhaupt (in „Urteilen") zum „Abschluß" kommen kann, der aber zugleich bewirkt, daß es sich anders begründetem Denken (ästhetisch) gegenübersieht, das ihm und dem es selbst als „schwer verständlich" erscheint. Damit richtete er sich gegen den unreflektierten universalen Anspruch einer Kultur des „Wissens" in der Gestalt der Natur-Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gegen die „Erfindung" des Begriffs ,,,Natur' als Gegenbegriff zu ,Gott'" (AC, KSA 6, 181). Diese Polemik mußte dem Zeitgeist als „irrational" erscheinen. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, daß Nietzsche zunächst über die Künste gewirkt hat. In den Mittelpunkt des philosophischen Interesses rückte er eigentlich erst dadurch, daß Heidegger in ihm, vor allem in seiner vermeintlichen „Lehre", „alles" sei „Wille zur Macht", den Vollender der Metaphysik als der „Lehre" vom einen Sein alles Seienden sah. „Alles" konnte bei Nietzsche aber nicht mehr bedeuten, „alles" sei auf einen Willen zur Macht als ein metaphysisches Prinzip zurückzuführen. Nietzsche ging vielmehr in seiner Metaphysikkritik weiter als Heidegger: Er bezeichnete schon einen allgemeinen Begriff des Willens wie jeden Begriff, der in einem bestimmten Verständnis Allgemeingültigkeit beansprucht als „falsche Verdinglichung" (NF, KSA 12, 26). Daß „alles" Wille sei, ist für ihn eine „exoterische", polemische Aussage. „Esoterisch" gibt es nach Nietzsche „gar keinen Willen" (NF, KSA 12, 187). Wir denken zwar notwendig in einem sprachlichen Schema von Verdingli-

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32 G. W. F. 33 G. W. F.

Hegel, Ästhetik, Werke, XII, 32. Hegel, Wissenschaft der Logik, Werke, IV, 481.

Nietzsche und der Gedanke einer Kritischen Theorie

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chungen, sonst würden wir aufhören zu denken.34 Aber wir können doch denken, daß dieses Denken ein Denken in einem bestimmten Sprachschema ist, das wir „nicht abwerfen können" (NF, KSA 12, 194). Selbst der metaphysische Gottesbegriff verdankt sich nach Nietzsche dem grammatischen Schema der indoeuropäischen Sprachen, demgemäß zu jedem Tun ein Täter hinzuzudenken ist (NF, KSA 12, 101). Soweit geht die „Kritische Theorie" jedoch nicht. Sie versteht Hegel als den Vollender der Metaphysik und als den Höhepunkt einer idealistischen „Identitätsphilosophie". Darin folgt sie den Junghegelianern, die in gesellschaftlichen Verhältnissen als etwas zu Veränderndem und nicht, wie Hegel und Nietzsche, schon in der vorgegebenen Sprache den Grund der „Entfremdung" gesehen hatten. „Entfremdung" war schon bei Hegel die Notwendigkeit der Hingabe an fremdes Verstehen, das bei allem eigenen Bemühen um Verständnis doch von sich aus verstehen muß. Die „Bildung" des Bewußtseins ist bei Hegel „der sich entfremdete Geist". Er spricht in diesem Zusammenhang von einer „Aufopferung" an das fremde Bewußtsein „so vollkommen als im Tode".35 Erst das Vergessen der Selbstentfremdung, die schon im sprachlichen Weltzugang des Bewußtseins im „allgemein" Selbstverständlichen liegt, führt nach Hegel und Nietzsche zu Formen der Gesellschaft, in denen der einzelne sich als einzelner nicht „zur Sprache" bringen kann. Deshalb erscheinen solche Formen als „aufzuhebende", auch wenn sie unter den Bedingungen eines „beschädigten" Lebens nicht begriffen, aber um so

mehr erlitten werden.

IV. Aus einer besonderen Sprache gelangt man jedoch, wie der Kantianer Humboldt formulierte, nur hinaus, indem man in eine andere hinübergeht,36 die wiederum eine besondere ist. Übersetzungen von einer in eine andere sind nur auf eine „unbestimmte Weise" möglich, und jede bedeutet, wie Quine es genannt hat, ein besonderes „ontological commitment", ohne das Unter dem gesellschaftskritischen Aspekt der „Kritiman nichts (Bestimmtes) sagen kann. schen Theorie" stellt sich dagegen das traditionelle Erkenntnisproblem immer noch als das philosophische Problem einer „wahren" Theorie der Gesellschaft, die nicht nur deskriptiv der bestehenden, sondern prospektiv einer „vernünftigen" Form der Gesellschaft „adäquat" sein soll. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint das Problem der Vorschau des Wahren aus dem bestehenden Falschen. Was ist zu tun, solange man sich unter „falschen" Umständen nur ein -

„falsches Bild" und immer wieder machen kann?

nur

ein Bild

„vermöge" der eigenen Einbildungskraft

Der „Übermensch", den Zarathustra lehrt, wäre der Mensch, der das Dilemma, sich um der Orientierung im Leben und Handeln willen „Bilder" machen zu müssen auch wenn es immer wieder nur Bilder aus beschränkter Übersicht sein können -, als Schicksal „ertragen" kann, statt es theoretisch lösen zu wollen. Seine Philosophie wäre eine in diesem Sinne -

Wir hören auf zu denken, wenn wir es nicht in dem sprachlichen Zwange thun wollen, wir langen gerade noch bei dem Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehn." (KSA, NF, XII, 193) Vgl. hierzu Josef Simon, „Grammatik und Wahrheit", in: Nietzsche-Studien 1,1. 35 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, II, 389. 36 Vgl. Wilhelm v. Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss aufdie geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, Akademieausgabe, VII, 60. 34



dosef Simon

206

„tragische Philosophie". Zarathustra ist aber nicht der Übermensch; er „lehrt" ihn nur, und Nietzsche weiß, daß auch dies wiederum nur eine Lehre sein kann, die als solche ihre eigene Standpunktbedingtheit ignoriert. Dichtung kann die üblichen Grenzen der Sprache, die durch die Begriffe in ihrer gewöhnlichen Erklärung durch andere Begriffe bestimmt werden, „metaphorisch" erweitern. „Begriffe" waren nach Nietzsche „ursprünglich" selbst Meta-

phern. Sie sind erst in einem sie zu definieren versuchenden Sprachgebrauch zu „Begriffen" geworden, und die „gewöhnlichsten Metaphern, die usuellen, gelten jetzt als Wahrheiten" (NF, KSA 7, 491). Demgemäß ist die „normale" Sprache im Unterschied zu der „ursprünglichen" poetischen gerade das Besondere: Sie versucht durch bestimmte Umschreibungen der Begriffe durch andere Begriffe den ästhetischen Blick logisch festzulegen. Nach Nietzsche ist „das Dasein der Welt" überhaupt „nur als ästhetisches Phänomen [...] gerechtfertigt (GT, KSA 1, 17), und nicht in einer „möglichen" logischen Umschreibung und Unterscheidung von Phänomenen. Soweit wollte und konnte in ihrem gesellschaftlichen „Interesse" die „Kritische Theorie" nicht gehen. Sie blieb den Auseinandersetzungen mit ihrer eigenen zeitgenössisch-philosophischen Umgebung verhaftet und konnte und wollte sich nicht in eine Kritik der europäischen Philosophie im Ganzen einlassen, die auch nach Nietzsche die emanzipatorische Komponente der europäischen Kultur maßgeblich bestimmte, wie nach Hegel die Kunst in ihrer „höchsten Vollennun aber „ihre Zeit" gehabt hat und dung" ein „Vergangenes" geworden ist. Hier stellt sich immer wieder die Frage, wieweit das Denken sich jeweils die Aufdeckung seiner „Gründe" und seiner Geschichte erlauben will. Nietzsche versuchte, mit seiner Unterscheidung des Apollinischen und Dionysischen vor das vertraute metaphysische Denken und vor dessen „Grundbegriffe" zurückzuzeigen; in der Dialektik der Aufklärung wird dagegen selbst Odysseus noch als früher Typus des neuzeitlichen Bürgers vorgestellt. -

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V. „Kritischen Theorie der Gesellschaft" gehört, daß sie in Opposition zu den philosophischen Richtungen steht, die zu ihrer Zeit vorherrschten, wie die „Phänomenologie" Husserls, die „Fundamentalontologie" Heideggers und der „logische Positivismus" bzw. die „analytische Philosophie". Ältere, „klassische" philosophische Positionen haben im Verhältnis dazu eher die Bedeutung von Vorgeschichten. Die „Phänomenologie" Husserls geht von „Intentionen" aus, die dem Zeichenverstehen zugrunde liegen sollen, aber dennoch als phänomenologisch beschreibbar vorausgesetzt werden. Auch die „analytische Philosophie" unterscheidet das subjektive Sprachverstehen „grundsätzlich" von einer der Bezeichnung vorausliegenden, gegenständlichen Bedeutung. Die Bedeutung ist demnach der „Gegenstand", und „Gegenstand" ist alles, „worüber" Aussagen möglich sind. Als Bedeutung eines Satzes gilt demnach, wenn der Satz wahr ist, „das" Wahre, und wenn er falsch ist, „das" Falsche. Ob er wahr oder falsch ist (und nicht nur subjektiv für wahr oder für falsch gehalten Zu einer

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wird), soll sich in den Verifikationsverfahren der „Wissenschaft" entscheiden.37

37

Vgl. dazu vor allem Gottlieb Frege, „Über Sinn und Bedeutung", in: Funktion, Begriff, Bedeutung, hg. v. Günter Patzig, Göttingen 1966, 40 ff.

Nietzsche und der Gedanke einer Kritischen Theorie

207

„Wissenschaft" ist in diesem Kontext als die allgemeine, dem außerwissenschaftlichen Leben und seinen sprachlich-kulturellen „Lebensformen" gegenüber wahre Betrachtungsweise zu verstehen, einschließlich der Betrachtung der „Lebensformen" als „Gegenstände" von Wissenschaften. Aber auch schon Husserl kam auf den Gedanken, „Wissenschaft" überhaupt als etwas im Rahmen einer umfassenden europäischen Lebensform Entwickeltes zu begreifen,38 und nach dem späteren Wittgenstein sind gerade die „Lebensformen" in ihrer Pluralität „das Hinzunehmende, Gegebene".39 Sie lassen sich nicht definitiv vergegenständlichen. Schon im Tractatus logico-philosophicus demgemäß noch „die Welt" in „Tatsachen" „zerfallt", damit sich einzelne Sätze überhaupt als wahrheitsdefinite Formen verstehen lassen steht: „Seine Form der Abbildung aber kann das Bild nicht abbilden".40 Darin ist Wittgenstein, der seine philosophischen Ursprünge im logischen Positivismus hatte, Nietzsche wohl näher als der „Kritischen Theorie", die zwar die Möglichkeit einer wahren Beurteilung von „Lebensformen" z. B. der bürgerlichen, zu der die „wissenschaftliche" Einstellung gehört aus der Sicht dieser Lebensform negiert, sie aber dennoch nicht als das „Hinzunehmende" versteht. Sie versteht sich selbst als „negative Dialektik". Über die Negation hinaus kann sich ihr zufolge ein universaler, theoretischer Anspruch der Philosophie nicht „begründen". Insofern verharrt sie in der Negativität. Von Nietzsche her stellte sich demgegenüber die Frage, ob solche „Begründungen" in einem Absoluten „nötig" seien bzw. wem sie als nötig erscheinen. Nietzsches Philosophie ist die des „starken Menschen", der die theoretische Unüberwindbarkeit des praktisch Besonderen, das Unübersetzbare in den besonderen Weltansichten „ohne ein Finale ins Nichts" bejahen kann. Das ist für ihn, als Gedanke der ewigen Wiederkehr, allerdings der „schwerste" Gedanke. Nietzsche nennt ihn die „europäische Form des Buddhismus". „Energie des Wissens und der Kraft zwingt zu einem solchen Glauben", der wegen der unabweislichen Notwendigkeit als Glaube zugleich auch „die wissenschaftlichste aller möglichen Hypothesen" ist (NF, KSA 12, 213). Für Nietzsche ist gerade das kein Irrationalismus und auch kein gnoseologischer Pessimismus, sondern die wahre Aufklärung. Mit der kritischen Einsicht in die Unmöglichkeit sich definitiv begründender Positivität entzieht sich die „Kritische Theorie" dem traditionellen Begriff von Theorie und damit auch der „Vergleichbarkeit" mit anderen Theorien, die sogenannten „Lehren" Nietzsches eingeschlossen. Da Nietzsche in der Darstellung seiner Gedanken aber gerade die Selbstdarstellung als eines „Lehrers" vermeiden will, stimmt sie dann doch auch wieder mit ihm überein. Nach Nietzsche ist schon „etwas Beleidigendes darin, verstanden zu werden. Verstanden zu werden? Ihr wißt doch, was das heißt? Comprendre c'est égaler." (NF, KSA 12, 51) Nach Nietzsche zeigt sich auch in allem „guten" Willen zum Verstehen ein „Wille zur Macht", ein „Standpunkt", der sich das zu Verstehende einzuverleiben und damit seine eigene individuelle Differenz zu ihm aufzuheben versucht.41 Dennoch schrieb Nietzsche. Auch er wollte offensichtlich in seinen Gedanken in der „Form", in der er sie glaubte abschließen zu können, verstanden werden. Das deutet auf einen anderen „Begriff des Verstehens als den traditionellen, platonischen Begriff, demge-

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38 39 40 41

Vgl. Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Husserliana Bd. 6, Haag 1954.

Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie,

Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Teil II, XI, in: Schriften, Frankfurt a.M. 1963, 539. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus 1.2 bzw. 2.172. Vgl. Josef Simon, „Der gute Wille zum Verstehen und der Wille zur Macht. Bemerkungen zu einer .unwahrscheinlichen Debatte'", in: Allgemeine Zeitschriftfür Philosophie 12.3, 1987, 79-90.

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maß man sich mit anderen im „Selben" verstehen und darin die Differenz der Standpunkte aufheben soll: Im Lesen der fremden Texte verliert der Leser „sich"; er verliert seine festen, „gewöhnlichen" Vor-Begriffe und damit dann auch seine Vor-Urteile. Er verliert sich in dem fremden Zusammenhang, der diesen „Text als Text" ausmacht und seinen Zeichen ihren konkreten Sinn verleiht, und er „versteht" ihn, ohne noch „eine Interpretation dazwischen zu mengen" (NF, KSA 13, 460), die ihm helfen sollte, den eigenen Gesichtspunkt durchhalten zu können. Im Verständnis des Textes bleibt er nicht das identische „Subjekt", als das er sich selbst verstehen konnte, sondern wird gegen sein vorgefaßtes Selbstverständnis von ihm

mitgenommen.

CHRISTOPH MENKE

Genealogie und Kritik Zwei Formen ethischer Moralbefragung

I. 1. Zu einem angemessenen Selbstverständnis der Moral gehört ihre kritische Befragung. Eine solche kritische Befragung betrachtet die Moral von außen, denn sie erfahrt sie als eine notwendig eingeschränkte Perspektive im Gesamt unseres Lebens. Man kann diese Befragung der Moral daher eine „externe" Reflexion der Moral nennen. Zugleich aber mißversteht man die kritische Befragung der Moral, wenn man sie als nur extern versteht; sie erscheint dann als eine Zurückweisung, gar Auflösung der Moral. Der Grund dieses Mißverständnisses besteht darin zu übersehen, daß und inwiefern es sich bei dieser „externen" zugleich um eine Se/foroefragung der Moral handelt: Die Befragung der Moral von außen ist in der Moral selbst begründet. Denn recht besehen ist die Moral so verfaßt, daß sie in sich enthält, was ihr zugleich, von außen, entgegensteht. Gegenstände, die so verfaßt sind, können ,dialektisch' heißen. Zu einem angemessenen Selbstverständnis der Moral gehört daher die Einsicht in die Dialektik, genauer: die negative Dialektik der Moral. Die These von der negativ-dialektischen Verfassung der Moral steht im Zentrum der Moralphilosophie, die die sogenannte ältere Kritische Theorie, zunächst Horkheimer, dann Adorno, formuliert hat. Zugleich bezeichnet diese These, worin die ältere Kritische Theorie von der Jüngeren", Habermas vor allem, am deutlichsten geschieden bleibt: In der neuen diskursethischen Begründung der Moral, die Habermas entwickelt, soll die Moral eine Gestalt erhalten, die sie der negativen Dialektik ihrer Selbstbefragung und -begrenzung enthebt. Dieser Gegensatz im Moralverständnis der beiden Generationen der Kritischen Theorie ist gleichbedeutend mit dem ihres Verhältnisses zu dem Autor, der sich wie kein anderer der Maulwurfsarbeit verschrieben hat, „unser Vertrauen zur Moral zu untergraben" (M, KSA 3, 12): zu Nietzsches Unternehmen einer genealogischen Problematisierung der Moral. In Habermas' Sicht hat uns Nietzsche überhaupt, vor allem aber moralphilosophisch nichts zu sagen. Für Horkheimer und Adorno hingegen gehört Nietzsches „intransingente Kritik der praktischen Vernunft"1 in eine Traditionslinie der modernen Moralreflexion, die auch sie noch fortführen, die sie allerdings grundsätzlich anders fortführen wollen. Das Resultat dieser anderen Fortführung der mit Nietzsche geteilten Linie der Moralreflexion ist die These von der negativ-dialektischen Verfassung der Moral (die vor allem Adorno entwickelt hat). Genea-

1

Max Horkheimer und Theodor W.

Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1971, 85.

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210

logische Betrachtung und Kritische Theorie sind zwei Formen einer Moralbefragung, die mit demselben Problem beginnen, aber mit entgegengesetzten Auflösungen enden. 2. Diese Gemeinsamkeit, die Nietzsches Genealogie und Adornos Kritik der Moral verbindet und von Habermas' Diskursethik scheidet, läßt sich vorweg in einem Blick auf die Geschichte der modernen Moralphilosophie verdeutlichen. Für sie sind zwei Züge entscheidend. Der eine Zug ist ihre äußerst sparsame oder enge Definition des Moralbegriffs. Sie verwendet den Ausdruck ,moralisch' zur Bezeichnung einer Verhaltensweise oder verhaltensbezogenen Einstellung, deren grundlegende Eigenschaft die Orientierung an der Idee der Gleichheit ist; moralisch heißt für sie egalitär. In der moralischen Einstellung werden demnach andere als Gleiche berücksichtigt; die moralische Einstellung ist die der Gleichbehandlung. Das ist eine enge Verwendung, weil sie eine doppelte Einschränkung vornimmt: Sie nennt ,moralisch' nur Verhaltensweisen gegenüber anderen (nicht also des einzelnen zu sich selbst). Und sie nennt ,moralisch' nur Verhaltensweisen, die sich an einer bestimmten Norm, der der Gleichbehandlung, orientieren (nicht also die Orientierung an Normen überhaupt). Der zweite Zug der modernen Moralphilosophie besteht darin, daß sie eine „Reflexionstheorie der Moral" (Niklas Luhmann) ist. Das soll ausdrücken, daß die Moraltheorie hier nicht nur eine Vollzugs- oder Ausdrucksform moralischen Wahrnehmens und Beurteilens ist, sondern das moralische Wahrnehmen und Beurteilen zum Gegenstand einer reflexiven, distanzierten Betrachtung macht. Dabei ist der primäre Sinn der historisch wie systematisch primare Sinn solcher Reflexion begründend; Reflexion heißt in der modernen Moralphilosophie zunächst Begründung der Moral. Und zwar: eine Begründung der moralischen Einstellung aus anderen, n/c/ji-moralischen Interessen, Vermögen oder Praktiken. Dabei wird in der modernen Moralphilosophie ,Begründung' in einem starken Sinn, als Ableitung, verstanden. Reflexion als Begründung der Moral heißt dann, daß sich etwas Nicht-Moralisches ausfindig machen läßt, das bei allen Menschen vorliegt (das zur „Natur" des Menschen gehört) und aus dessen Vorliegen die moralische Einstellung hergeleitet werden kann. Dieser Idee der Begründung der Moral steht in der modernen Moralphilosophie eine Reflexionsform gegenüber, die Schiller, in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung, eine „anthropologische Schätzung" (im Sinn von: Ein- oder Abschätzung) der Moral genannt hat. Darunter versteht Schiller eine Beurteilung der Moral unter dem Gesichtspunkt ihrer Folgen für das menschliche Leben im Ganzen, „wo mit der [vernünftigen und daher auch der moralischen] Form auch der [,sinnliche'] Inhalt zählt und die lebendige Empfindung eine Stimme hat" (4. Brief). In dieser von Schiller eröffneten Perspektive erscheint die moralische Einstellung als eine unter und neben den anderen praktischen Orientierungen, die unser Leben bestimmen. Wie für Schiller vor allem die Geschichte der Revolution zwingend dartut, kann die moralische Einstellung der Gleichheit für diese anderen, nicht-moralischen Orientierungen beeinträchtigende Folgen haben; daher muß sie von diesen her reflexiv befragt werden. In beiden Formen der Reflexion wird die Moral mithin von außen auf etwas anderes, etwas nicht selbst Moralisches, aber Moralrelevantes bezogen. Gilt dieser Bezug in der ersten Form den Gründen für Moral, so in der zweiten den Folgen von Moral. Daher geht es der Reflexion der Moral in ihrer ersten Form um die Begründung der Moral, in ihrer zweiten Form hingegen um ihre Befragung und Begrenzung. Diese Gegenüberstellung zweier Traditionslinien der modernen Moralreflexion erlaubt nun, die Gemeinsamkeit von Nietzsches Genealogie und älterer Kritischer Theorie noch einmal genauer anzugeben: Habermas' Diskursethik gehört in die erste Traditionslinie einer Reflexion der Moral; Habermas teilt mit Kant, und das scheidet ihn ebenso von Nietzsche wie von -

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Genealogie und Kritik

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Adorno, die Idee einer reflexiven Begründung der Moral einer Begründung, die zugleich die

einzigartige, absolute oder „kategorische" Gültigkeit moralischer Sätze erweisen soll. Adorno wie Nietzsche hingegen gehören in die zweite Traditionslinie, die etwa mit Schiller eine Befragung der Moral im Blick auf ihre Folgen unternimmt: Nietzsche wie Adorno wollen zeigen, was moralische Normen und Praktiken für die Individuen bedeuten und, mehr noch, wie sie deren Leben beschädigen. Das ist die Gemeinsamkeit im Ausgangspunkt von Adorno und Nietzsche. Zugleich unterscheiden, ja widersprechen sie sich in der Konsequenz. Zwar -

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ist der Gegensatz zwischen Adorno und Nietzsche nicht wie der zwischen Habermas und Nietzsche einer zwischen Begründung und Befragung der Moral, sondern ein Gegensatz in der Befragung der Moral, zwischen zwei ihrer Formen. Deshalb ist der Gegensatz zwischen Adorno und Nietzsche doch nicht weniger tiefgreifend: er betrifft die Schlußfolgerungen aus dieser Befragung. Für diese Schlußfolgerung verwenden Nietzsche und Adorno zunächst dieselbe Figur: die einer „Selbstaufhebung der Moral" (M, KSA 3, 162). Beide verstehen diese Figur aber ganz anders. Bei Nietzsche meint „Selbstaufhebung der Moral": Freisetzung der theoretischen und praktischen Potentiale der Moral das sind die Vermögen wahrhaftiger Selbstprüfung und souveräner Selbstkontrolle3 von ihren moralischen Zwecken, um willen individueller Selbstgestaltung. Adorno dagegen erachtet die „Selbstaufhebung der Moral" für notwendig um willen gerade ihrer moralischen, auf die anderen gerichteten Zwecke: Die „Selbstaufhebung der Moral" ist für Adorno Freisetzung der sozialen Tugenden Adorno nennt die Tugenden des Mitgefühls, des Schenkens und der Solidarität von den falschen Vernunft- und Freiheitsmodellen, mit denen sie in der Moral verwachsen sind. Nietzsches Befragung der Moral soll „unsre alte Moral [...] in die Komödie" (GM, KSA 5, 255) versetzen, Adornos dagegen in eine „befreite" Praxis überführen. Die Gemeinsamkeit zwischen Adorno und Nietzsche liegt in der Frage, was die Moral für die Individuen bedeutet. Ihr Gegensatz erweist sich daran, was diese Frage für die Moral bedeutet. -

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II. 3. Nietzsche beschreibt die Aufhebung der Moral, um die es ihm geht, häufig in ästhetischen Metaphern: als ihre Versetzung in die Komödie, als den Gewinn einer ästhetischen „Freiheit über den Dingen", die uns erlaubt, „über der Moral stehen [zu] können" (FW, KSA 3, 465). Erreicht aber wird die Aufhebung der Moral das ist der Grund, warum Nietzsche von ihrer Se/fo/aufhebung spricht nur durch „redliche", „wahrhaftige" Erkenntnis. Die Auflösung, ja Zerstörung der Moral findet statt, wenn wir in das „ungeheure und neue Reich gefährlicher Erkenntnisse" vorstoßen, das Nietzsche durch eine Psychologie eröffnet sieht, die „wieder als Herrin der Wissenschaft anerkannt" wird: „ist man einmal mit seinem Schiffe hierhin verschlagen, nun! wohlan! jetzt tüchtig die Zähne zusammengebissen! die Augen aufgemacht! die Hand fest am Steuer! wir fahren geradewegs über die Moral weg, wir erdrücken, wir -

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2 Vgl. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1977, 149 f. 3 Nietzsche spricht von der Selbstaufhebung der Moral, weil ihre Untergrabung selbst wieder am Wert der Redlichkeit oder Ehrlichkeit orientiert ist: „Nachdem die christliche Wahrhaftigkeit einen Schluss nach dem andern gezogen hat, zieht sie am Ende ihren stärksten Schluss, ihren Schluss gegen sich selbst" (GM, KSA 5, 410). Ein zweiter Grund, aus dem die Aufhebung der Moral nur ihre Selbstaufhebung sein kann, ist, daß die individuelle Freiheit nur durch die moralische, die sie unterdrückt, entsteht; dazu unten, II/5.

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zermalmen vielleicht dabei unsren eignen Rest Moralität, indem wir dorthin unsre Fahrt machen und wagen" (JGB, KSA 5, 38). Die Überwindung der Moral ist für Nietzsche der Gewinn, der den „Erkennenden", diesen „verwegenen Reisenden und Abenteurern", im Gegenzug für die Gefahren, die sie auf sich nehmen, versprochen ist; über der Moral stehen, über die Moral hinwegfahren können sie, weil sich ihnen eine „tiefere Welt der Einsicht" eröffnet

(JGB, KSA 5, 39).

Immer wieder ist dieses Projekt der Moralauflösung durch Erkenntaisgewinn bei Nietzsche im Sinn einer objektivistischen, gar szientistischen Reduktion verstanden worden: als ein Projekt, das moralische Begriffe und Unterscheidungen als scheinhaft zu erweisen sucht, indem es ihnen die „wahre" Wirklichkeit „unmoralischer" Tatsachen gegenüberstellt. In der Welt objektiv feststellbarer Tatsachen so lautet dieser Einwand gibt es all das, woraus etwa den Unterschied von Gut und Böse oder die Freiheit unsere moralische Welt besteht des Subjekts zu verantwortlichem Handeln -, gar nicht. Das faßt aber nicht, worum es Nietzsche in seiner Moralbefragung geht. Daß die Moral Schein ist, kann für Nietzsche gar nicht als Einwand gegen sie gelten höchstens, daß sie sich selbst unbewußter Schein ist. Das „moralische Problem", das Nietzsche exponieren will, ist keines der Wahrheit, sondern des ,,Werth[es] dieser [der moralischen] Werthe" (GM, KSA 5, 253). Nietzsches Auflösung der Moral folgt aus seiner „Werthabschätzung" der Moral (GM, KSA 5, 402): seiner „Abschätzung" nämlich, daß der Wert der Moral gering oder schwach, genauer: daß der Wert der Moral (nur) einer für die „Geringen" oder „Schwachen" ist. Nietzsche kritisiert die Moral nicht, weil ihre Welt nicht wahrhaft wirklich, sondern weil sie nicht wahrhaft wertvoll ist.4 Jede Wertfrage ist für Nietzsche eine Frage nach dem Wozu: „Die Frage: was ist diese oder -

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jene Gütertafel und ,Moral' werth? will unter die verschiedensten Perspektiven gestellt sein; man kann namentlich das ,werth wozu?' nicht fein genug auseinanderlegen." (GM, KSA 5, 289) Wozu eine Sache dient oder gut ist, kann aber nicht allgemein bestimmt werden. Daß sie einen bestimmten Wert hat, weil sie

zu etwas

dient, heißt, daß sie einen Wert hat, weil sie

jemandem dazu dient. Die Wertfrage hat eine dreistellige Struktur: Es geht um den Wert, den eine Sache für jemanden zu etwas hat; jede Wertfrage ist für Nietzsche als Frage „Wozu?" zugleich auch die Frage „Für wen?" Deshalb so Nietzsche „kann man immer noch fragen: was sagt eine solche Behauptung [sc. die des Wertes einer Sache] von dem sie Behauptenden aus?" (JGB, KSA 5, 107) Nach dem Wert der Moral zu fragen, heißt zu fragen, was es für jemanden bedeutet, sich an den Normen dieser Moral zu orientieren, und das heißt, sie unter der Perspektive der Person zu betrachten. In dieser Befragung des Wertes der Moral aus der Perspektive der Person unterscheidet Nietzsche nun zwischen einem ersten Schritt, in dem es um die „Historie der Moral" (GM, KSA 5, 254), um die „Entstehungsgeschichte dieser [der moralischen] Gefühle und Werthschätzungen" geht, und einem zweiten Schritt, der eigentlichen „Kritik der moralischen Werthurteile" (FW, KSA 3, 579). Und zwar resultiert die Kritik aus der Historie der Moral, wenn sie konsequent durchgeführt wird; das geschieht in der Genealogie der Moral. Die -

4

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Das soll nicht bestreiten, was Bernhard Williams hervorgehoben hat: daß Nietzsches Moralpsychologie beansprucht, „realistischer" zu sein als ihre Konkurrenten (Bernhard Williams, „Nietzsche's Minimalist Moral Psychology", in: Making Sense of Humanity, Cambridge/New York 1995). Das kann aber nicht der Grund von Nietzsches Moralauflösung ist. Und zwar deshalb nicht, weil „realistisch" oder „unrealistisch" zu sein, für Nietzsche selbst wiederum eine Frage des Willens und damit des Werts ist. Vgl. dazu Jean-Luc Nancy, „.Unsere Redlichkeit!' (Ober Wahrheit im moralischen Sinn bei Nietzsche)", in: Werner Hamacher (Hg), Nietzsche aus

Frankreich, Frankfurt a.M./Berhn/Wien 1986, 169 ff.

Genealogie und Kritik

213

Historie der Moral führt die verschiedenen Moralformen auf die „Bedingungen und Umstände" zurück, „aus den sie gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben" (GM, KSA 5, 253). Für wen so lautet hier die Frage ist eine bestimmte Art moralischer Vorschrift aufweiche Weise und zu welchem Ziel von Wert oder Nutzen? Darin -

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erschöpft sich die genealogische Frage aber nicht. Sie fragt nicht nur nach dem Wert einer Moral, sondern „wozu überhaupt Moral" (FW, KSA 3, 576). Um diese Frage zu beantworten, muß der Genealoge den objektiven Blick des Historikers aufgeben: Die Frage „wozu überhaupt Moral" kann nicht „unpersönlich" beantwortet werden, sondern muß persönlich genommen werden: indem man sich „zur Moral in diese Stellung als Person" stellt, „die Moral als Problem und dies Problem als seine persönliche Nota, Qual, Wollust, Leidenschaft" nimmt (FW, KSA 3, 578). Die Befragung der Moral, die Nietzsche bis zu ihrer Auflösung vorantreiben will, ist im doppelten Sinne eine persönliche Frage: Sie ist eine Frage nach der Person, für die eine bestimmte Moral einen bestimmten Wert hat, und sie ist eine Frage durch eine Person eine Frage, in der der Genealoge die Moral zu einem jener Probleme macht, zu denen er „persönlich steht, so dass er in ihnen sein Schicksal, seine Nota und auch sein bestes Glück hat" (FW, KSA 3, 577). Indem der Genealoge so, nämlich persönlich, nach der Person fragt, für die eine Moral Bedeutung und Wert hat, wird er vom Beobachter zum Beurteiler; zum Teilnehmer, wie Nietzsche sagt (GM, KSA 5, 285), an einem „Kampf zwischen den Moralen. Die Genealogie weist den Kampf auf, der zwischen den Moralen besteht, und sie ist selbst eine Maßnahme in dem Kampf, den sie am Ursprung der Moralen aufweist.5 Das heißt: sie ist und nimmt Partei, sie unter- und entscheidet, sie wird Kritik. Die Genealogie stellt nicht nur fest, für wen, für welche Art von Person eine Moral welchen Wert hat; die Genealogie beurteilt auch noch den „Wert" einer Moral, und zwar für die Art von Person, die der Genealoge selbst ist oder sein will. Nietzsches Infragestellung der Moral ist nicht nur nicht objektivistisch (sondern persönlich), sie ist auch nicht relativistisch. Sondern normativ: Die Genealogie fragt danach, welchen Wert eine Moral hat, wenn man ,,[a]us sich eine ganze Person machen und in Allem, was man taut, deren höchstes Wohl in's Auge fassen" will (MA, KSA 2, 92). Zu bestimmen, was das heißt und wie das möglich ist nämlich: „aus sich eine ganze Person machen" -, ist die zentrale Aufgabe der „Individual-Ethik", von der Nietzsche bereits in Aufzeichnungen aus den frühen siebziger Jahren spricht (NF, Winter 1870-71 Herbst 1872, 8 [115], KSA 7, 266). Diese „Individualethik" ist zwar von neuer Art, aber nicht minder normativ als die Epiktets, Sénecas, Plutarchs, Montaignes und Stendhals, auf die sie sich beruft:6 Sie beschreibt und propagiert ein persönliches, ein eigenes, in Nietzsches Worten: ein „vornehmes" Leben in „souverainer" Freiheit. Es ist diese individualethische Konzeption, die Nietzsches Philosophie auf eine Haltung der Kritik verpflichtet: Sie hat „ihre Aufgabe, ihre harte, ungewollte, unabweisliche Aufgabe" darin, „das böse Gewissen ihrer Zeit zu sein" (JGB, KSA 5, 145), weil sie die gegenwärtigen kulturellen Verhältnisse mit der Frage konfrontiert, was sie für das „persönliche" Leben der einzelnen bedeuten. Das, nicht die objektive -

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6

Vgl. Michel Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie", in: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1978, 83 ff. Allerdings versteht Foucault hier die Nicht-Objektivität der genealogischen Erkenntnis lediglich als (epistemische) Perspektivität, nicht als (ethische) Normativität. Vgl. Hinrich Fink-Eitel, „Nietzsches Moralistik", in: Deutsche Zeitschriftfür Philosophie, Bd. 41 (1993). -Zum folgenden siehe die perfektionistische Lektüre Nietzsches von Daniel W. Conway, Nietzsche & the Political, London/New York 1997. Das geht zurück auf Stanley Cavell, „Aversive Thinking: Emersonian Representations in Heidegger and Nietzsche", in: Conditions Handsome and Unhandsome, Chicago 1990.

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Erkenntnis der wahren Verfassung der Wirklichkeit, ist die „tiefere Einsicht", die uns nach Nietzsches vorher angeführter Formulierung „geradewegs über die Moral weg" fahren läßt: die individualethische Einsicht in die Verfassung eines „vornehmen", eines wahrhaft gelingenden Lebens. Denn die Moral, das heißt die derzeit herrschende Moral der Gleichheit, gründet in einer Haltung der Feindschaft gegenüber dem gelingenden Leben. 4. Dieses Projekt einer individualethisch angeleiteten Moral- und, weiter noch, Kulturkritik teilt Adornos Kritische Theorie mit Nietzsches Genealogie. Der „Bereich", heißt es gleich zu Anfang der Minima Morada, „der für undenkliche Zeiten als der eigentliche der Philosophie galt, seit deren Verwandlung in Methode aber der intellektuellen Nichtachtung, der sententiösen Willkür und am Ende der Vergessenheit verfiel", dieser Bereich ist „die Lehre vom richtigen Leben".7 Deren Zentralidee ist die der „Autonomie" und des „Glücks" der „individuellen Existenz". Wie Nietzsches, so ist damit auch Adornos Kulturkritik von vornherein auf einen normativen Maßstab bezogen, der durch das moralische Prinzip der Gleichheit nicht erschöpft, von dem aus das moralische Prinzip der Gleichheit vielmehr beurteilt werden kann. Was Adorno „Humanität" nennt, besteht im Gelingen von Verhaltensweisen und Verhältnissen ebenso zu anderen wie sich selbst, die nicht nach dem Maß der Gleichheit zu beurteilen sind: Solidarität und Takt etwa im Verhältnis zu anderen, Freiheit und Lust im Verhältnis zu sich selbst, zur eigenen Natur. Gleichwohl ist das Gelingen dieser Verhältnisse nicht bloß ,privat'; das heißt, nicht bloß eine Frage individuell zutreffender, gar zurechenbarer Umstände (und deshalb kein Gegenstand Kritischer Theorie). Über das individuell richtige Leben entscheidet vielmehr der Zustand einer Kultur und Gesellschaft, genauer: der kulturelle Zustand einer Gesellschaft. Das muß bei Adorno nicht so verstanden werden, daß der Zustand einer Kultur darüber entscheidet, gar daß er determiniert, ob es für ein Individuum ein richtiges Leben geben kann. (Auch Adorno weist wiederholt auf die Kontingenz hin, von der individuelles Gelingen und Glück abhängt.) Von dem Zustand einer Kultur hängt vielmehr ab, ob und wie wir zu einem richtigen Verständnis des richtigen Lebens gelangen können. Jeder einzelne muß selbst entscheiden, worin er das Gelingen seines Lebens suchen will. Aber kein einzelner kann diese Suche auch nur beginnen, ohne sich auf die Muster des Gelingens zu beziehen, die seine Kultur ihm vorgibt und in die seine Kultur ihn einübt. Solche Muster umschreiben, worin das Gelingen eines Lebens besteht, und zwar nicht so sehr, welcher Inhalt als vielmehr welche Form gelingendes Leben haben muß. Diese Muster prägen das Verständnis aus und den Individuen ein, das eine Kultur von dem Gelingen des Lebens hat; ohne Bezug auf sie kann kein einzelner zu einem Verständnis seines gelingenden Lebens gelangen. Deshalb ist zwar nicht kulturell determiniert, ob unser Leben gelingt, aber es ist kulturell präformiert, wie wir das Gelingen unseres Lebens verstehen. In diesem wie man sagen kann: „hermeneutischen" Zusammenhang von gelingendem Leben und kulturellen Mustern findet das Unternehmen einer individualethisch begründeten Kulturkritik seine Begründung. Denn durch diesen Zusammenhang ist der Zustand einer Kultur relevant für das Gelingen nicht unmittelbar der individuellen Existenz, sondern, vermittelt, für das Gelingen des Verstehens oder Entwerfens ihres Gelingens. Daß es kein richtiges Leben im falschen gibt dieser wohl berühmteste Satz der Minima Moralià muß -

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7 Theodor W. 8 Ebd., 42.

Adorno, Minima Moraba, Frankfürt a.M. 1978, 7.

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Genealogie und Kritik

verstanden werden, daß das falsche Leben nur falsche Bilder des richtigen kennt. Genauer: daß die „falsche" Kultur nur Bilder oder Muster des Lebens ausbildet, in deren Aufnahme und Umdeutung die Individuen kein richtiges, kein gutes Leben mehr zu führen vermögen. „Es graut uns vor der Verrohung des Lebens, aber die Absenz einer jeden objektiv verbindlichen Sitte zwingt uns auf Schritt und Tritt zu Verhaltensweisen, Reden und Berechnungen, die nach dem Maß des Humanen barbarisch und selbst nach dem bedenklichen der guten Gesellschaft taktlos sind."9 Es ist eine Sache, eine Gesellschaft dafür zu kritisieren, daß sie einigen, gar vielen ihrer Mitglieder nicht die gleiche Gelegenheit oder Chance zu einem guten Leben bietet; das ist eine Kritik an der Ungerechtigkeit dieser Gesellschaft. Es ist eine andere Sache, eine Kultur dafür zu kritisieren, daß sie nicht die Muster bereitstellt und die Fähigkeiten ausbildet, die es den Individuen erlaubt, überhaupt eine angemessene Idee des Gelingens ihrer individuellen Existenz zu gewinnen; das ist die Inhumanität der bestehenden Kultur, auf die Adornos Kritik zielt. Das bezeichnet eine grundlegende Gemeinsamkeit von Nietzsche und Adorno: daß sie eine kritische Betrachtung der Kultur vornehmen, die nicht nur ihren Ausgang, sondern ihr Interesse im einzelnen, in dem Gelingen und Mißlingen seiner individuellen Existenz nimmt (sofern dieses Gelingen und Mißlingen kulturell bestimmt ist). Zwar unterscheidet sich Adornos „traurige Wissenschaft"10 von Nietzsches fröhlicher darin, wie diese individualethische Kritik der bestehenden Kultur verfahrt; während Nietzsche ihr ein Ideal gelingenden Lebens gegenüberstellt, spürt Adorno den Beschädigungen und dem Leiden nach, das sie verursacht." Beiden ist aber das gemeinsam, daß ihre Kritik der bestehenden Kultur sie wie Nietzsche gesagt hatte „persönlich" nimmt. Und zwar im doppelten Sinn: Adorno wie Nietzsche geht es um den Aufweis, was die bestehende Kultur für die Personen, für die Individuen in ihrem Versuch, ein richtiges Leben zu führen, bedeutet. Das aber erschließt sich dem Kritiker nur im Bezug auf seinen eigenen Versuch, ein richtiges Leben zu führen. Die kritische Erkenntnis der bestehenden Kultur ist für Nietzsche und Adorno deshalb zugleich ein Experiment des Erkennenden mit seinem Leben; er gewinnt solche Einsicht nur, indem er „danach tastet, die eigene Existenz zum hinfälligen Bild einer richtigen zu machen".12 so

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5. Eine der kulturellen Praktiken, denen die individualethische Kritik gilt, weil sie das richtige Leben der Individuen beschädigen, ist auch für Adorno die Moral. Das ist der Sinn der „Kritik an der Moral",13 die die Negative Dialektik in dem ersten ihrer Modelle auf dem Weg einer Auseinandersetzung mit Kant entwickelt. In ihr will Adorno zeigen, daß und inwiefern die „abstrakte Moralität", wie er mit Hegel sagt,14 einen „repressiven Aspekt" hat15 inwiefern sie „Zwangszüge" trägt.16 Adorno schreibt darin Nietzsches Diagnose von der „Selbst-Ver-

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Ebd., 23. Darin sieht Adornos Minima Moraba die Signatur der Gegenwart: daß sich die Muster des Richtigen der bürgerlichen Kultur aufgelöst haben, daß sich in dieser Auflösung aber keine neuen, besseren ausgebildet

haben. Denn diese Auflösung war eine in rein funktionale Rationalität. 10 Ebd., 7. 11 Zum Verhältnis zwischen „negativistischer" Methode (Ausgang vom Leiden) und positivem normativem Gehalt (Konzeption des Gelingens) in der Kritischen Theorie vgl. Axel Honneth, „Anerkennung und moralische Verpflichtung", in: Zeitschriftfür philosophische Forschung, Bd. 51, 25-44. 12 Theodor W. Adorno, Minima Moraba, 22. 13 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, 281. 14 Ebd., 235. 15 Ebd., 257. 16 Ebd., 267.

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gewaltigung" fort, die die moralische Ordnung für die Individuen bedeutet; ihr Kern ist für Nietzsche die „Lust, sich selbst als einem schweren widerstrebenden leidenden Stoffe eine Form zu geben, einen Willen, eine Kritik, einen Widerspruch, eine Verachtung einzubrennen" die „Lust am [Sich-] Leidenmachen" (GM, KSA 5, 326). Damit rückt Nietzsche, und Adorno folgt ihm darin, ins Zentrum der Moralkritik das moralische Subjekt die Frage also, wie sich zu sich selbst verhält, zu sich selbst verhalten muß, wer sich den moralischen Normen der Gleichheit unterwirft. Nietzsche wie Adorno teilen Kants Zurückführung von Moralität auf Autonomie: Moralische Gesetze sind nicht deshalb „repressiv", weil sie den Individuen von außen auferlegt worden sind. Sie sind aber auch nicht deshalb weniger repressiv, weil die Individuen sich diese Gesetze selbst auferlegt haben. Es ist vielmehr die freie Selbstauferlegung des moralischen Gesetzes, die Nietzsche als „Selbst-Vergewaltigung" und Adorno als den „repressiven Aspekt" der Moral bezeichnet; die moralische Freiheit, als Autonomie, ist für Nietzsche wie Adorno Zwang. Weder Nietzsche noch Adorno verstehen diese Behauptung so, daß alle Freiheit gleichermaßen Zwang ist. Zwar zeigt Nietzsches Genealogie, und Adornos Kritik folgt ihm auch darin, daß es keine Freiheit ohne Brechung des Naturzwangs gibt und daß diese Brechung selbst wiederum ein Zwang ist.17 Solcher Zwang des Naturzwangs ist für Nietzsche und Adorno freiheitseröffnender Zwang. Mehr noch: Es ist, oder genauer: es war der moralische Zwang der Natur, der sich in der menschlichen Geschichte als solcher freiheitseröffnender Zwang erwiesen hat: „Stellen wir uns [...] an's Ende des ungeheuren Prozesses, dorthin, wo der Baum endlich seine Früchte zeitigt, wo die Societät und ihre Sittlichkeit der Sitte endlich zu Tage bringt, wozu sie nur das Mittel war: so finden wir als reifste Frucht an ihrem Baum das souveraine Individuum, das nur sich selbst gleiche, das von der Sittlichkeit der Sitte wieder losgekommene, das autonome übersittliche Individuum" das Individuum, das ein „starkes" oder „vornehmes", ein gelingendes Leben zu führen vermag (GM, KSA 5, 293). Weil er zu diesem „Macht- und Freiheits-Bewusstsein" des sich selbst beherrschenden „Souverains" führt, war der moralische Zwang notwendig, ja berechtigt; „die eigentliche Arbeit des Menschen an sich selber in der längsten Zeitdauer des Menschengeschlechts, seine ganze vorhistorische Arbeit hat hierin ihren Sinn, ihre grosse Rechtfertigung, wie viel ihr auch von Härte, Tyrannei, Stumpfsinn und Idiotismus innewohnt" (GM, KSA 5, 293). Ist aber durch das Mittel des Zwangs, den die moralische Autonomie ausübt, diese übersittliche oder individuelle Autonomie einmal erreicht, so verliert jener Zwang seine Berechtigung; dann ist der moralische Zwang überflüssiger und deshalb unberechtiger Zwang geworden. In Nietzsches und Adornos Kritik der Moral werden Zwang und Freiheit also weder schlicht getrennt noch, ebenso schlicht, identifiziert. Keine Freiheit, die ohne Zwang entstünde und auskäme, aber nicht alle Freiheit ist gleichermaßen zwanghaft. Nietzsche wie Adorno treffen eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen der Freiheit, die beide auf Zwang beruhen und doch im Vergleich miteinander als Freiheit und Zwang unterschieden werden können. Daß die moralische Freiheit Zwang ist diese zentrale These von Nietzsches und Adornos Moralkritik besagt daher, daß sie gegenüber der individuellen Freiheit in Bestimmung und Vollzug eines gelingenden Lebens Zwang ist. Die Moral ist für Nietzsche und Adorno ein kulturelles Muster, das gelingendes oder richtiges Leben verhindert, weil sie in -

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17 Zu Nietzsche siehe Judith Butler, The Psychic Life of Power. Theories in Subjection, Stanford 1997, 63 ff. Zu Adorno vgl. K. Günther, „Dialektik der Aufklarung in der Idee der Freiheit. Zur Kritik des Freiheitsbegriffs bei Adorno", in: Zeitschriftfür Philosophische Forschung 39/1985, 229-260.

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Freiheit, als moralischer Autonomie, einübt, das es den Individuen unmöglich macht, diejenige individuelle Freiheit auszuüben, ohne die gelingendes oder richtiges ein Verständnis

von

Leben unmöglich ist. Sicherlich unterscheiden sich Nietzsches und Adornos Analysen, wenn es darum geht, diese hemmenden Folgen der Moral und vor allem, was sie hemmen näher zu beschreiben. Sind für Nietzsche die Folgen der Moral die „Verkleinerung und Ausgleichung des europäischen Menschen" (GM, KSA 5, 278), die mit der „schöpferischen Machtfülle und Herrschaftlichkeit" des „höheren Menschen" Schluß machen (JGB, KSA 5, 147), so sieht Adorno darin das „Wunschbild des ungehemmten, kraftstrotzenden, schöpferischen Menschen"18 und beschreibt solche „Herrschaft über die innere Natur"19 gerade umgekehrt als Folge der Moral. Was die Moral verhindert, beschwört Nietzsche in Bildern heroischer Größe, Adorno dagegen in solchen mimetischer Versöhnung.20 Und doch ist es auch hier wieder ein gemeinsames Motiv, das Nietzsche und Adorno artikulieren. Denn in einer wesentlichen Hinsicht bestimmen sie den Zug der individuellen Freiheit, der durch die moralische geschwächt wird, gleich. Das ist das expressive Moment individueller Freiheit. Die moralische Freiheit, das heißt: die Vorstellung eines freien Selbstverhältaisses, auf der Idee wie Praxis der Moralität aufruhen, ist die eines Subjekts hinter, oder über, seinem Tun eines Subjekts, das für sein Tun verantwortlich ist, weil es so oder auch anders handeln könnte. Die Idee eines freien Sichunterwerfens unter das moralische Gesetz setzt den „Glauben an das indifferente wahlfreie ,Subjekt'" (GM, KSA 5, 280) voraus. Denn ohne diesen Glauben, so Nietzsches Argument, kann die Forderung des moralischen Gesetzes an die „Stärke" nicht begründet werden, „dass sie sich nicht als Stärke äussere, das sie nicht ein Überwältigen-Wollen, ein Niederwerfen-Wollen, ein Herrwerden-Wollen, ein Durst nach Feinden und Widerständen und Triumphen sei". Die „Volks-Moral" redet von moralischer Verantwortung und Freiheit, „als ob es hinter dem Starken ein indifferentes Substrat gäbe, dem es freistünde, Stärke zu äussem oder auch nicht" (GM, KSA 5, 279). Das aber, so nimmt Adorno Nietzsches Einwand auf, ist die Fiktion einer ,,absolute[n] Autonomie des Willens",21 die abschneidet, was freies Handeln ausmacht. „Wahre Praxis, der Inbegriff von Handlungen, welche der Idee von Freiheit genügten, bedarf zwar des vollen theoretischen Bewußtseins. [...] Aber Praxis bedarf auch eines Anderen, in Bewußtsein nicht sich Erschöpfenden, Leibhaften, vermittelt zur Vernunft und qualitativ von ihr verschieden."22 Dieses Andere, „intramental und somatisch ineins",23 nennt Nietzsche „Kraft" und Adorno „Impuls". Freies Handeln ist nicht, als was die Idee moralischer Freiheit es erscheinen läßt, autonomes Handeln aus einer distanzierten Entscheidung über die Verwirklichung der eigenen „Kräfte" oder „Impulse"; freies Handeln ist vielmehr unhintergehbar und unkontrollierbar expressiv, die „Äußerung" -

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18 Theodor W. Adorno, Minima Moraba, 206 19 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, 253. 20 So stellt sich ihr Gegensatz aus Adornos Sicht dar; vgl. Minima Moraba, Abs. 60 („Ein Wort für die Moral") und Abs. 100 („Sur l'eau"). Dazu Gerhard Schweppenhäuser, Ethik nach Auschwitz. Adornos negative Moralphilosophie, Hamburg 1993, 166 ff. 21 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, 253. 22 Ebd., 228. 23 Ebd.

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(Nietzsche) von Kräften24 das Sichäuiiernlassen von Kräften. Wahre Freiheit, ohne die es kein gelingendes Leben geben kann, verlangt die Zurücknahme der Verdoppelung in Tun und Täter und damit die Selbstaufgabe des Subjekts als einer Instanz autonomer Verfügung. Das -

bezeichnet, weshalb das kulturelle Muster der moralischen Freiheit die Praxis individueller Freiheit verfehlen muß, ja bedrohen kann: Die Herrschaft der Moral bildet aus, oder: die Herrschaft der Moral übt ein in ein Selbstverhältnis, das das Freiheitsvermögen, seine eigenen Kräfte oder Impulse sich äußern zu lassen, so entscheidend schwächt, daß es das Gelingen individueller Existenz beschädigt.

III. Gegensatz zwischen moralischer und individueller Freiheit begründet Nietzsches Forderung nach einer Überwindung der moralischen Idee der Gleichheit. „Heute", so schreibt Nietzsche in einem Stück über die Idee der Größe, die der Philosoph seiner Zeit entgegensetzt, „wo in Europa das Heerdenthier allein zu Ehren kommt und Ehren vertheilt, wo die ,Gleich6. Dieser

heit der Rechte' allzuleicht sich in die Gleichheit im Umechte umwandeln könnte: ich will sagen in gemeinsame Bekriegung alles Seltenen, Fremden, Bevorrechtigten, des höheren Menschen, der höheren Seele, der höheren Pflicht, der höheren Verantwortlichkeit, der schöpferischen Machtfülle und Herrschaftlichkeit heute gehört das Vornehm-sein, das Fürsich-sein-wollen, das Anders-sein-können, das Allein-stehn und auf-eigene-Faust-lebenmüssen zum Begriff ,Grösse'" (JGB, KSA 5, 147). Vor allem aber gehört zum Leben solcher Größe der Bruch mit den Gleichheitsideen, durch die die „autonome Heerde" den Einzelnen Jeden Sonder-Anspruch, jedes Sonder-Recht und Vorrecht" streitig macht (JGB, KSA 5, 125); individuelles Leben kann nur als amoralisches gelingen. Was ist falsch an dieser Schlußfolgerung? Nach einer verbreiteten Lesart nennen wir sie die „liberale" ist es bereits ihre Prämisse. Nietzsche gelangt so haben wir gesehen zu seiner amoralischen Konsequenz im Ausgang von einer individualethischen Befragung der Moral: indem er den Wert der Moral danach bemißt, was sie für das Streben einzelner Individuen nach Vornehmheit und Größe bedeutet. Nach liberaler Auffassung ist es der Beginn mit einer solchen Betrachtung der Moral von außen, im Blick darauf, worin ein einzelner (wie Nietzsche in dem oben angeführten Zitat aus Die Fröhliche Wissenschaft sagte) „sein Schicksal, seine Noth und auch sein bestes Glück hat", der mit der Zurückweisung der Moral enden muß. Denn der Standpunkt der Moral ist der der Gleichheit, der gleichen Berücksichtigung aller. Die Moral unter dem Gesichtspunkt des einzelnen zu betrachten, heißt daher nichts anderes als sie unmoralisch zu betrachten: Es heißt, sich dem Schritt in die moralische Betrachtung zu verweigern, ja, den Schritt in die moralische Betrachtung zurückzunehmen, denn dieser Schritt ist eben der vom einzelnen zu Allen. Wie Nietzsche selbst, so nehmen daher auch seine liberalen Kritiker an, daß die Moral individualethisch zu befragen heißt, die Moral aufzulösen. Ich möchte dagegen im folgenden zeigen, daß diese Folgerung aus der individualethischen Moralbefragung, nicht also schon die -

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24 Das bezeichnet, worin sich Nietzsches und Adornos Verständnis des expressiven Charakters freien Handelns von demjenigen unterscheiden, das Charles Taylor im (problematischen) Rückgriff auf Herder formuliert hat: Für Taylor handelt es sich um den Ausdruck von Bedeutung, für Nietzsche und Adorno für den von Kräften.

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Prämisse, die individualethische Moralbefragung selbst, falsch ist. Das zeigt sich an Adorno. Denn ganz offenkundig hat Adorno aus seiner individualethischen Kritik der Moral, die in Perspektive und Inhalt mit Nietzsche übereinstimmt, nicht dieselben Konsequenzen wie

Nietzsche gezogen. Begründet diese Kritik bei Nietzsche eine Haltung der Zurückweisung der Moral von außen, aus einem „Jenseits von Gut und Böse" (FW, KSA 3, 633), so bei Adorno ein Projekt der inneren oder 5Wesfüberschreitung der Moral. Dessen Umriß läßt sich dem entnehmen, was Adorno an einer Stelle der Negativen Dialektik mit Bezug auf die Idee des gerechten oder gleichen Tauschs formuliert hat;25 es gilt auch für die moralische Idee der Gleichheit. Zwar hat so knüpft Adorno hier noch einmal an seine Kritik der Gleichheit an deren Idee teil an der Herrschaft des „Identifikationsprinzips". Würde sie deshalb aber „abstrakt negiert; würde als Ideal verkündet, es solle, zur höheren Ehre des irreduzibel Qualitativen, nicht mehr nach gleich und gleich zugehen, so schüfe das Ausreden für den Rückfall ins alte Unrecht." Das ist die Differenz zwischen einer „abstrakten" und der „kritischen" Negation der Gleichheit: „Kritik am Tauschprinzip [oder: am Moralgesetz] als dem identifizierenden des Denkens will, daß das Ideal freien und gerechten Tausches,26 bis heute bloß Vorwand, verwirklicht werde. Das allein transzendierte den Tausch [oder: die Moralität]." Das ist die Konsequenz aus Adornos Kritik der Moral: Transzendierung des moralischen Gesetzes als dessen wahre Verwirklichung. Die „Skepsis gegen die Rancune im bürgerlichen Egalitätsideal, das nichts qualitativ Verschiedenes toleriert" die Skepsis also, die Adorno mit Nietzsche teilt -, führt bei Adorno nicht, wie bei Nietzsche, zu einer abstrakten Zurückweisung der moralischen Idee der Gleichheit, etwa zugunsten einer Ordnung des Rangs und des Privilegs, sondern zur Forderung ihrer Verwirklichung durch ihre -

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Transzendierung.

7. Mit dieser Gegenüberstellung ist der Punkt erreicht, auf den es mir in meinem Vergleich von Nietzsche und Adorno ankommt. Diesen Vergleich habe ich mit der Frage begonnen, ob

wie Nietzsche und seine liberalen Kritiker glauben die individualethische Befragung der Moral mit ihrer Auflösung enden muß. Adornos Moralkritik zeigt, daß das nicht so ist; sie unternimmt eine individualethische Befragung der Moral, die sich als Verwirklichung der Moral durch ihre Transzendierung versteht. Was aber soll das heißen: „Verwirklichung der Moral durch ihre Transzendierung"? Das klingt wie Adorno in einem verwandten Kontext eingeräumt hat „paradox genug".27 Um die These, die mit der Gegenüberstellung von Adorno und Nietzsche demonstriert werden sollte, tatsächlich begründen zu können die These, noch einmal, daß die individualethische Befragung der Moral nicht mit ihrer Auflösung gleichzusetzen ist -, bedarf Adornos Projekt einer „Verwirklichung der Moral durch ihre Transzendierung" eine Erläuterung, die ihre anscheinende Paradoxie überzeugend aufzulösen -

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vermag. Das wird möglich,

wenn wir den Vergleich von Nietzsche und Adorno, von Genealogie und Kritik der Moral um einen entscheidenden Aspekt erweitern. Wir haben gesehen, daß Nietzsche und Adorno übereinstimmen in Methode und Inhalt einer kritischen Befragung -

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25 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, 149 f. 26 Oder: die „Idee der Egalität", die als „Inhaltliches" im allgemeinen Moralgesetz fortlebt; Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, 235. 27 Dabei geht es um das Programm einer immanenten Kritik, die zugleich eine Kritik von außen sein soll: „Sie [sc. die Identität] immanent kritisieren heißt darum, paradox genug, auch, sie von außen kritisieren." (Theodor W

Adorno, Negative Dialektik, 149)

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der Folgen der Moral für das Leben der Individuen. Wir haben auch gesehen, daß Nietzsche und Adorno einander widersprechen in der daraus abgeleiteten Konsequenz ihrer Haltung zur Moral. Für beides aber ist entscheidend ihr Begriff der Moral; in ihm schneiden sich die Linien ihrer Übereinstimmung und ihres Gegensatzes. Und zwar stimmen Nietzsches und Adornos Moralbegriff überein in der Bestimmung der Gestalt der Moral; deshalb beschreiben sie auch die Folgen der Moral für die Individuen übereinstimmend. Zugleich widersprechen sich Nietzsches und Adornos Moralbegriffe aber in der Bestimmung des Grundes der Moral; deshalb (und nicht aufgrund willkürlicher Vorlieben oder politischer Vorentscheidungen) gelangen sie zu entgegengesetzten Haltungen zur Moral. Die Gestalt der Moral, die Adorno und Nietzsche ganz parallel bestimmen, ist die eines allgemeinen, das heißt schlechthin gültigen, und inneren, das heißt selbstauferlegten Gesetzes, das die gleiche Berücksichtigung aller gebietet. Diese Bestimmung der Gestalt der Moral kann jedoch nicht ihre Existenz verständlich machen. Dazu bedarf es einer Untersuchung ihres Ursprungs, ihrer Herkunft. Beide, Nietzsche wie Adorno, sehen das Moralgesetz gleicher Berücksichtigung als ein systematisch sekundäres Phänomen, das aus einem anderen Antrieb als der in ihr manifesten moralischen „Absicht" stammt: „wir glauben, dass die Absicht nur ein Zeichen und Symptom ist, das erst der Auslegung bedarf (JGB, KSA 3, 51) einer Auslegung, die freilegen soll, was das moralische Ideal „bedeutet, worauf es rathen läßt, was hinter ihm, unter ihm, in ihm versteckt liegt, wofür es der vorläufige, undeutliche, mit Fragezeichen und Missverständnissen überladene Ausdruck ist" (GM, KSA 5, 395). Im ausdrücklichen Gegensatz zu den rationalistischen Begründungsprogrammen, die „die Pflicht der gegenseitigen Achtung [...] aus einem Gesetz der Vernunft abzuleiten"28 versuchen und ihr damit gerade jeden Grund entziehen,29 führen Nietzsche wie Adorno das Gleichheitsgesetz der Moral auf etwas anderes zurück, das in ihm seinen nur verstellten Ausdruck findet; das -

Moralgesetz verdeckt, woraus es stammt. Das aber, woraus das Gesetz gleicher Berücksichtigung stammt, bestimmen Nietzsche und Adorno auf strikt entgegengesetzte Weise; hier liegt der für ihre Haltung zur Moral entscheidende Gegensatz. In Nietzsches Sicht gründet die Moral der Gleichheit im Ressentiment: „Der Sklavenaufstand in der Moral [in dem diese Moral zur Herrschaft gelangt] beginnt damit, dass das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert" (GM, KSA 5, 270). Das ist die zentrale These in Nietzsches Moralerklärung. An ihr lassen sich zwei Schritte unterscheiden. Der erste Schritt führt die proklamierte moralische Absicht der Liebe zum anderen, wenigstens aber der Achtung für den anderen auf die Antriebe von Rache und Hass gegen den anderen zurück. Selbst „über dem Thore des christlichen Paradieses und seiner ,ewigen Seligkeit' würde jedenfalls mit besserem Rechte die Inschrift stehen dürfen ,auch

28 Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, 78. 29 Das ist die These des von Horkheimer verfaßten Moralitätskapitels der Dialektik der Aufklärung: Der aufklärerische Versuch, Moral rein aus Vernunft zu begründen, zerstört die Moral, denn so haben es die „dunklen Schriftsteller des Bürgertums" gezeigt die „formalistische Vernunft" steht nicht „in einem engeren Zusammenhang mit der Moral als mit der Unmoral" (Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, 106). Mehr noch: Indem die rationalistische Aufklärung die Moral allein aufVernunft gründen will, reproduziert sie die Feindschaft gegenüber allen Affekten und Gefühlen, eingeschlossen den moralischen, und zerstört eben damit die einzige Grundlage, die Moral haben kann (vgl. ebd., 81-83). Auch diese These wird von Nietzsche nicht nur beglaubigt, sie ist von ihm selbst bereits formuliert worden: indem er darauf hinweist, daß Kants Begründungsversuch „uns moderne Philosophen wahrhaftig nicht auf einen festeren und weniger trüglichen Boden gelockt hat". In Kants Versuch einer Begründung des ,moralischen Reiches' auf Vernunft sieht Nietzsche die pessimistische Anerkennung der „gründlichen Unmoralität von Natur und Geschichte" (M, KSA 3, 14). -

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Genealogie und Kritik

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mich schuf der ewige Hass' gesetzt, dass eine Wahrheit über dem Thor zu einer Lüge stehen dürfte!" (GM, KSA 5, 284) Diese, hält man sich nur an die manifesten Absichten, anscheinend unplausible These begründet Nietzsche durch eine strukturelle Analyse der „Werthungsweise", die der Moral der Gleichheit zugrundeliegt. Der „Sklavenaufstand", der diese Moral geschaffen hat, bedeutet nach Nietzsche eine „Umkehrung des werthesetzenden -

Blicks", der von nun an in der ,nothwendige[n] Richtung nach Aussen statt zurück auf sich selber" besteht: „Während alle vornehme Moral aus einem triumphierenden Ja zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem ,Ausserhalb', zu einem ,Anders', zu einem ,Nicht-selbsf: und dies Nein ist ihre schöpferische That." (GM, KSA 5, 270 f.) Die Forderung, daß alle gleichermaßen berücksichtigt werden sollen, gründet nach

Nietzsches These im haßerfüllten Nein-Sagen zu denjenigen, die im Vollzug ihres Lebens und in aller „Unschuld" (freilich: der „Unschuld des Raubthier-Gewissens"; GM, KSA 5, 275) das der anderen bedrohen, einschränken, hindern. Das sind, so Nietzsche, die „Starken" „volle, mit Kraft überladene, folglich nothwendig aktive Menschen" (GM, KSA 5, 272). Sie werden erst gefürchtet, dann gehaßt und schließlich zum „Bösen" erklärt: Der „Mensch des Ressentiment [...] hat ,den bösen Feind' concipirt, ,den Bösen', und zwar als Grundbegriff, von dem aus er sich als Nachbild und Gegenstück auch noch einen ,Guten' ausdenkt sich selbst!..." (GM, KSA 5, 274) Daß die Moral der Gleichheit eine Moral aus Ressentiment ist, zeigt sich daran, daß sie in ihrem Grund, und Zentrum, eine Wendung gegen den bedrohlichen Anderen, als Bösen, ist. Das ist aber nur der erste Schritt in Nietzsches Erläuterung der Moral der Gleichheit aus dem Ressentiment; vollständig wird sie erst durch einen zweiten. Denn die Moral der Gleichheit ist nicht nur deshalb negativ auf die individuelle Freiheit des anderen bezogen, weil sie diese als ,gemein-gefährlich' fürchtet, haßt und für böse erklärt. Sie ist es vielmehr vor allem insofern, als der Haß gegen die individuelle Freiheit des anderen in einem Selbstverhältais gründet (oder ein Selbstverhältnis bedeutet), das die eigene individuelle Freiheit abschneidet. Im Ressentiment, dem Grund der Moral, gehören Furcht und Haß im Verhältnis zum anderen und im Verhältnis zu sich selbst zusammen; dem Nein-Sagen zum anderen, als dem Bösen, entspricht das „Nein, das er zu sich selbst, zur Natur, Natürlichkeit, Thatsächlichkeit seines Wesens sagt" (GM, KSA 5, 332). Der Mensch des Ressentiment glaubt sich genötigt, „nothwendige und regelmässige Empfindungen zu einer Quelle des inneren Elends zu machen und dergestalt das innere Elend bei jedem Menschen nothwendig und regelmässig zu machen." (M, KSA 3, 73) Der moralische Mensch will nicht genauer: der moralische Mensch kann nicht wollen sein eigenes gelingendes Leben und bekämpft deshalb das der anderen. Damit wird klar, warum Nietzsches individualethische Befragung der Moral mit ihrer Auflösung enden muß. In jener Befragung betrachtet Nietzsche die hemmenden Folgen, die die Moral der Gleichheit für das gelingende Leben der Individuen hat, weil sie in ein falsches Verständnis der Freiheit einübt in ein Freiheitsverständnis nämlich, das gelingendes Leben unmöglich macht. In seiner Begriffsbestimmung der Moral, die wir uns soeben vor Augen geführt haben, will Nietzsche nun überdies zeigen, daß diese Folgen der Moral ihr wahrer Grund sind: Die Moral der Gleichheit führt nicht nur zu einer Schwächung der individuellen Freiheit, im Vollzug gelingenden Lebens; die Moral der Gleichheit gründet eben in dem Willen, einem „erkrankten" Willen, die individuelle Freiheit zu schwächen und gelingendes Leben als schuldhaft zu verteufeln und vergiften. Die Moral der Gleichheit ist für Nietzsche im Ganzen nichts als eine selbstvergessene Veranstaltung aus, und eine sich selbst verschleiernde Veranstaltung zur, Schwächung und Verhinderung gelingenden Lebens. -

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8. Es ist dieses homogenisierende Bild der Moral, in dem Folgen und Grund bruchlos übereinstimmen, dem Adornos Begriff der Moral aufs entschiedenste widerspricht. Dabei kann er zugleich jedoch an eine Überlegung anschließen, die Nietzsche mehrfach angestellt, niemals jedoch, soweit ich sehen kann, in seinen Konsequenzen zu Ende gedacht hat. Und das mit gutem Grund; denn diese Konsequenzen sind verheerend für seinen Moralbegriff. Dabei

handelt es sich um Nietzsches Bestimmung der Nächsten- oder Feindesliebe. Die Moral der Gleichheit, so haben wir gesehen, versteht Nietzsche so, daß sie entgegen dem Anschein als eine des Hasses verstanden werden muß. Das ergänzt er durch die Behauptung, daß, wiederum: entgegen dem Anschein, die Tugend der Nächsten- oder Feindesliebe auf dem Boden dieser Moral nicht gedacht werden kann. Nur den Vornehmen, nur also in Abschüttelung der Norm der Gleichheit ist „das möglich, gesetzt, dass es überhaupt auf Erden möglich ist die eigentliche ,Liebe zu seinen Feinden'. Wieviel Ehrfurcht vor seinen Feinden hat schon ein vornehmer Mensch! und eine solche Ehrfurcht ist schon eine Brücke zur Liebe ..." (GM, KSA 5, 273) Nietzsches Argument dafür, daß die Liebe zum Feind in der Moral der Gleichheit nicht möglich ist, ist daß diese Moral den Feind als bösen Feind haßt, und zwar deshalb, weil der Mensch dieser Moral sich selbst haßt (und der böse Feind außen verkörpert, was der Mensch dieser Moral in sich selbst haßt). Dagegen ist der vornehme Mensch zur Feindesliebe in der Lage: Er muß seinen Feind nicht hassen, denn er haßt sich selbst nicht. Gelingendes Selbstverhältais, wie es sich nur in einem starken oder vornehmen Leben findet, ist so behauptet Nietzsche in dieser Überlegung zur Feindes- und Nächstenliebe die Voraussetzung dafür, zu dem starken oder vornehmen Leben eines anderen in ein positives Verhältnis treten zu können, diesen anderen nicht als bösen Feind hassen zu müssen. Diesen Zusammenhang von (gelingendem) Selbst- und (positivem) Fremdverhältais bringt am deutlichsten ein Stück aus der Morgenröte mit dem Titel „Seinen Dämon nicht in die Nächsten fahren lassen!" zum Ausdruck: „Bleiben wir immerhin für unsere Zeit dabei, dass Wohlwollen und Wohlthun den guten Menschen ausmache; nur lasst uns hinzufügen: vorausgesetzt, dass er zuerst gegen sich selber wohlwollend und wohlthuend gesinnt sei!' Denn ohne Dieses ist er gewiss kein guter Mensch. wenn er vor sich flieht, sich hasst, sich Schaden zufügt Dann rettet er sich nur in die Anderen, vor sich selber: mögen diese Anderen zusehen, dass sie nicht schlimm dabei fahren, so wohl er ihnen anscheinend auch will! Aber gerade Diess: das ego fliehen und hassen und im Anderen, für den Anderen leben hat man bisher, ebenso gedankenlos als zuversichtlich, .unegoistisch' undfolglich gut geheissenl" (M, KSA 3, 299) In seinen Überlegungen zu Wohlwollen und Liebe führt Nietzsche somit Verhaltensweisen ins Feld, die in seiner Gegenüberstellung der Wertungsweisen in Sklaven- und Herrenmoral nicht vorgesehen, ja, die im Lichte dieser Gegenüberstellung ein genealogisches Paradox30 darstellen: Es sind Verhaltensweisen, die in der „Richtung nach außen statt zurück auf sich selber" (GM, KSA 5, 271) bestehen, in denen diese „Richtung nach außen" aber keine reaktive des Hasses, sondern einer Bejahung des anderen ist, die durch ein „Ja-sagen zu sich selber" (GM, KSA 5, 270) ermöglicht wird. Mit diesem Verständnis der Nächstenliebe, aus gelingendem Selbstverhältais, ist die Richtung angegeben, in der auch Adorno moralische Einstellungen zu beschreiben versucht, die nicht dem Verdikt über dem Moralgesetz der Gleichheit verfallen sollen, in der Konsequenz -

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30 In Anlehnung an Yirmiyahu Yovels Formulierung von dem „genealogischen Skandal", der Spinoza für Nietzsche darstellt, weil er Züge vereint, die für Nietzsche einen Gegensatz darstellen; vgl. Yirmiyahu Yovel, Spinoza and Other Heretics. The Adventures of Immanence, Princeton 1989, Bd. 2, 132 ff.

Genealogie und Kritik

223

solches gelingende Selbstverhältnis zu schwächen und beschädigen. Dabei steht für Adorno, im Kant-Modell der Negativen Dialektik, im Zentrum, was er als „das Gefühl der Solidarität mit den, nach Brechts Worten, quälbaren Körpern"31 bezeichnet. Darin sieht Adorno das Gefühl der Solidarität im Gegensatz zu der „Rationalisierung" der Moral in der Formulierung, Begründung und Anwendung eines moralischen Gesetzes der Gleichheit. Denn Solidarität ist kein „abstraktes Prinzip", sondern „somatischer Impuls" oder „spontane Regung".32 Das aber heißt zugleich, daß der Affekt der Solidarität und die Befolgung des Moralgesetzes zwei unterschiedliche, ja entgegengesetzte Weisen des Selbstverhältaisses und der Freiheit implizieren. Auch das meint der Schlußsatz von Adornos Kantkapitel, dem einzelnen bleibe „an Moralischem nicht mehr übrig, als wofür die Kantische Moralphilosophie, welche den Tieren Neigung, keine Achtung konzediert, nur Verachtung hat: versuchen, so zu leben, daß man glauben darf, ein gutes Tier gewesen zu sein".33 Handeln aus dem Gefühl der Solidarität ist das Handeln eines „guten Tiers": eines Subjekts, das sich nicht um willen der Gesetzesbefolgung von seinen „Kräften" oder „Impulsen" trennt und ihnen gegenüber frei wähnt, sondern dessen Freiheit, ja Stärke gerade darin besteht, seine Kräfte oder Impulse sich äußern zu lassen. Nur so, in Übereinstimmung, gar „Versöhnung" mit sich, seinen Kräften und Impulsen, kann der Mensch zu anderen gut sein.34 „Human sind die Menschen nur dort, wo sie nicht als Personen agieren und gar als solche sich setzen."35 Mit diesen Überlegungen zum Impuls der Solidarität nimmt Adorno die Nietzsches zur Liebe auf, aber er verändert sie auch entscheidend. Und zwar nicht nur, weil Liebe und Wohlwollen bei Nietzsche an Ehrfurcht vor und Bewunderung für's Gelingen gebunden sind, Adornos Solidaritätsgefühl hingegen wesentlich durch die Reaktion auf das Leiden des anderen bestimmt ist: „Das leibhafte Moment meldet der Erkennntais an, daß Leiden nicht sein, daß es anders werden solle. ,Weh spricht: vergeh.'"36 Vor allem aber stehen Adornos Solidaritäts- und Nietzsches Liebesbegriff in einem ganz anderen, einem entgegengesetzten Verhältnis zur Moral; das ist der für unseren Zusammenhang entscheidende Aspekt. Weil Nietzsche das Moralgesetz der Gleichheit in nichts als Ressentiment begründet sieht, muß er ihm Liebe und Wohlwollen äußerlich gegenüberstellen (das eine gehört zur Sklaven-, die 31 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, 281. 32 Ebd. 33 Ebd., 294. 34 Die oben (II/5) erläuterte expressive Verfassung der Freiheit realisiert zwar nicht, aber hat zum „Phantasma" die „Versöhnung von Geist und Natur" (Negative Dialektik, 228). Mit dieser Versöhnung verbindet sich bei Adorno die von traditionell gesprochen moralischem Handeln und gutem Leben. Denn ist moralisches Handeln die Äußerung eines somatischen Impulses (des Impulses der Solidarität) und besteht gelingendes Leben in der Entfaltung somatischer Impulse, dann so scheint Adorno zu folgern (vgl. Negative Dialektik, 291) ist moralisches Handeln eine Vollzugsform individuell gelingenden Lebens. Zum Problematischen dieses Schlusses siehen unten, Fn. 39 35 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, 274. 36 Ebd., 203. Man kann das als den griechischen Zug von Nietzsches Liebesbegriff verstehen; vgl. dazu Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt a.M. 1997,45 ff. Siehe aber auch die Deutung des ,Mehr-Wollens' der Liebe bei Alexander G. Düttmann, Was Liebe heißt in allen Sprachen und Stummheilen dieser Welt. Nietzsche, Genealogie, Kontingenz, o. O. 1996- Joas bezieht sich auf Max Scheler, „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen", in: ders., Vom Umsturz der Werte, in: Gesammelte Werke, Bd. 3, Bern 1955, v. a. 70 ff. Grundlegend bei Scheler ist die Gegenüberstellung von „griechisch" und „christlich" (die überdies unübersehbar frauen- und judenfeindlich ist; vgl. nur ebd., 43 und 53). Adornos Solidaritätsgefühl dagegen liegt quer zu dieser Unterscheidung. Denn Solidarität ist auf den leidenden anderen bezogen, aber nicht, wie die christliche Liebe, -

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,herabbeugend' (Scheler).

Christoph Menke

224

andere zur Herrenmoral); zwischen beiden soll es keinerlei Zusammenhang geben. Das ist aber weder mentalitätsgeschichtlich noch psychologisch einleuchtend und verdankt sich allein Nietzsches unplausibler Gründung der Moral im Ressentiment. Diese Konsequenz kann Adornos Theorie der Solidarität vermeiden. Denn in Adornos Analyse stehen sich Solidaritätsgefühl und Moralgesetz nicht äußerlich gegenüber, sondern es ist eben das Solidaritätsgefühl, auf dem das Moralgesetz zum einen gründet, das zum anderen aber durch das Moralgesetz, das auf ihm gründet, verstellt wird. Das bedeutet, daß Adorno, im Gegensatz zu Nietzsches homogenem, einen (im wörtlichen Sinn) „kritischen" Moralbegriff formuliert: einen Moralbegriff, der zwischen zwei grundverschiedenen Dimensionen der Moral unterscheidet. „Kritik der Moral": das heißt für Adorno, anders als in Nietzsches Genealogie, die Entdeckung eines Gegensatzes, gar Widerspruchs in der Moral die Entfaltung ihrer Dialektik: zwischen, auf der einen Seite, dem „somatischen Impuls" dem Impuls der Solidarität mit dem individuell anderen und, auf der anderen Seite, dem „abstrakten Prinzip" der Moral dem Prinzip der gleichen Berücksichtigung aller. Diesen Gegensatz faßt Adorno zugleich als den Unterschied zwischen dem Grund und der Gestalt der Moral. Das heißt, daß der Impuls der Solidarität aller Moral zugrundeliegt, daß der Impuls der Solidarität zugleich aber durch das Moralgesetz der Gleichheit nur so artikuliert werden kann, daß er um seinen Sinn gebracht wird. Deshalb faßt Adorno den kritisch aufgewiesenen Gegensatz in der Moral, zwischen Impuls und Prinzip, zwischen dem Grund und der Gestalt der Moral, auch als den Gegensatz zwischen Wahrem und Falschem:37 „Wahr sind die Sätze" die Adorno vorher angeführt hatte: „Es soll nicht gefoltert werden; es sollen keine Konzentrationslager sein" „als Impuls, wenn gemeldet wird, irgendwo sei gefoltert worden. Sie dürfen sich nicht rationalisieren; als abstraktes Prinzip gerieten sie sogleich in die schlechte Unendlichkeit ihrer Ableitung und Gültigkeit. Kritik an der Moral gilt der Übertragung von Konsequenzlogik aufs Verhalten der Menschen; die stringente Konsequenzlogik wird dort Organ von Unfreiheit."38 Auch das Moralgesetz der Gleichheit entstammt dem Impuls der Solidarität, nicht der Triade aus Furcht, Haß und Selbstqual, in der Nietzsche es begründet sieht. Zugleich aber „rationalisiert" das Moralgesetz den Impuls der Solidarität zu einem „abstrakten Prinzip" und zerstört ihn dadurch. Es ist dieser kritische Begriff der Moral, als intern gegensätzlich oder dialektisch, der Adorno zu seiner Nietzsche entgegengesetzten Haltung zur Moral gelangen läßt: der Haltung, die er als Verwirklichung der Moral durch ihre Transzendierung beschrieben hat. Diese Haltung zur Moral folgt aus der individualethischen Kritik der hemmenden Folgen, die die Moral für das gelingende Leben der Individuen hat. Das erklärt, warum die Moral transzendiert werden muß. Im Gegensatz zu dem homogenen Moralbegriff von Nietzsches Genealogie besteht die Moral aber nicht nur in einer Gestalt, die, als Moralgesetz der Gleichheit, Leben und Freiheit der Individuen beschädigt. Sondern diese Gestalt der Moral kann gar nicht verstanden werden, wenn sie nicht als verzerrter Ausdruck eines Impulses am Grunde der Moral gesehen wird, der sich, als Impuls der Solidarität, gerade auf die Individuen und ihr gelingendes Leben richtet. Deshalb ist die Transzendierung der Moral zugleich die Verwirklichung der Moral: -

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37 Mit dieser Fassung vergißt Adorno das Argument, das Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung gegen das Mitleid formuliert hatte, das mutatis mutandis auch auf das Solidaritätsgefühl zutrifft: das Argument, daß das Mitleid beschränkt, daß es „immer zu wenig" ist (93). Denn wie das Mitleid, so kann auch das Solidaritätsgefühl nur einzelnen gelten. Das ist seine Defizienz gegenüber der „Gerechtigkeit", die das Moralgesetz der Gleichheit artikuliert; das macht, trotz seiner Defizienz, die Notwendigkeit des Moralgesetzes aus. 38 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, 281

Genealogie und Kritik

225

die Transzendierung des Moralgesetzes der Gleichheit ist die Verwirklichung des Impulses der Solidarität mit den leidenden Individuen. Genauer: Die Transzendierung des Moralgesetzes der Gleichheit ist nur insoweit berechtigt, und nicht wie nach Adornos Einwand bei Nietzsche „Ausrede für den Rückfall ins alte Unrecht", als sie zugleich Verwirklichung der Moral, als sie Verwirklichung des Impulses der Solidarität mit den leidenden Individuen ist. Das ist die doppelte These, die mit Adornos anscheinend paradoxer Identifizierung von Verwirklichung und Transzendierung der Moral gemeint ist: Die Moral zu verwirklichen heißt, sie zu transzendieren; denn die Moral zu verwirklichen heißt, dem Impuls der Solidarität mit den leidenden Individuen auch im Gegensatz zum Moralgesetz der Gleichheit zu folgen. Umgekehrt heißt, die Moral zu transzendieren, sie zu verwirklichen; denn die Moral zu transzendieren heißt, sich dem Moralgesetz der Gleichheit nur um willen der Solidarität mit den leidenden Individuen entgegenzusetzen. Mit dieser wechselseitigen Erläuterung von Verwirklichung und Transzendierung der Moral hat Adorno der individualethischen Befragung der Moral einen gänzlich anderen normativen Status als Nietzsche gegeben so sehr ihre Befragung der Moral in Verfahren und Befund auch übereinstimmen mag. Ja, während die individualethische Kritik der Moral bei Nietzsche unklar zwischen privater Klage und objektiver Werttheorie39 changiert, hat Adorno dieser Kritik überhaupt erst einen klaren normativen Status gegeben. Adorno erläutert die individualethische Kritik der Moral, in der die Forderung nach ihrer Transzendierung begründet ist, als eine Kritik der Moral, aber aus Moral. Denn weil sie das Moralgesetz im Namen der Individuen und ihres gelingenden Lebens in Frage stellt, ist die individualethische Kritik selbst ein Akt der Solidarität mit den Individuen, die an der Beschädigung ihres Lebens leiden. Damit zeigt Adorno, daß die Behauptung, in der Nietzsche und seine liberalen Kritiker übereinstimmen die Behauptung, daß die individualethische Befragung der Moral ihre Auflösung bedeute -, falsch ist. Und Adorno zeigt auch, auf welcher falschen Prämisse diese Behauptung beruht: der Prämisse nämlich, daß die Dimension der Moral, der die individualethische Befragung und Kritik gilt das Moralgesetz der Gleichheit -, die ganze Moral ist. Mißversteht man wie Nietzsche und seine liberalen Kritiker die Moral als homogen, dann ist jede Kritik am Moralgesetz der Gleichheit eine Auflösung der Moral. Anerkennt man hingegen wie Adorno den Gegensatz in der Moral, dann bekommt die individualethische Kritik an der Moral ihr Recht: als Selbstkritik der Moral. -

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39 Damit meine ich Nietzsches Einwand gegen die Moral, sie bringe einen Menschentyp hervor, der in der Emerson entlehnten Formel nicht zum „Repräsentanten der Menschheit" tauge, weil sie deren Maßstab der Vollkommenheit verfehle oder unterbiete. Mit dieser Betrachtungsweise versucht Nietzsche, die Kritik an den Folgen der Moral davon abzulösen, wie die einzelnen diese Folgen erfahren oder erleiden; denn der Bezug daraufwäre wie Adorno deutlich macht selbst wieder moralisch. Wie ein solcher verbindlicher Maßstab der Vollkommenheit gewonnen werden soll, bleibt bei Nietzsche jedoch unklar. -

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Stephan Günzel

Nietzsches Schreiben als kritische

Geographie1 „Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein."2

Einleitung Entgegen der primären Frage der diesjährigen Nietzsche-Werkstatt, wie sich das Verhältnis Nietzsche zur ,Kritischen Theorie' in der Prägung des 20. Jahrhunderts ausnimmt, wird im folgenden dargestellt, wie es um Nietzsches eigene ,kritische Theorie' bestellt ist. Ob es sie gibt, steht außer Frage. Sie gehört zu den wichtigen Schritten, die Nietzsche vom zeitgenössischen Denken emanzipieren sollten. Ein Denken, das sich durch die Vorherrschaft des Geschichtlichen als Bedingung und Gegenstand des Wissens und der Wissenschaften aus-

von

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nahm. Nietzsche nennt seine kritische Theorie ,kritische Historie', kritische Geschichtsschreibung. Der Bezug zur ,Kritischen Theorie' im heutigen Sinne besteht dennoch nicht nur dem Wortlaut nach: Nietzsche setzt sich in seiner zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung implizit mit dem Ahnherren der ,Kritischen Theorie' auseinander mit Hegel, genauer: mit dessen Geschichtsphilosophie. In Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben suchte Nietzsche bekanntermaßen das Verhältais verschiedener Arten der Geschichtsschreibung zueinander und in bezug auf ,das Leben' zu bestimmen. Anhand der Textschichten wird im folgenden kurz die Entstehung der Kategorie der ,kritischen' Geschichtsschreibung nachvollzogen werden. Dabei zeigt sich, daß Nietzsche in einem in der Publikation gestrichenen Textteil, welcher allerdings eine systematische Schlüsselstelle in der Entstehung der Kategorie des ,Kritischen' bedeutet, einen hypothetischen Exkurs unternimmt, in dem er sich gegen die These einer geographisch-klimatischen Minderwertigkeit nicht-europäischer Völker exemplarisch: ,der Inder' wendet. (2.) Vorab werden deshalb die deterministisch-finalistischen Thesen Hegels zur Geographie des Wegs des Weltgeistes' betrachtet, um sie im weiteren zu Nietzsche in Beziehung zu setzten. (1.) Zum Abschluß wird Nietzsches Schreiben als ein Versuch interpretiert, durch Strategien auf der Ebene einer philosophischen Geographie den bei Hegel dominierenden Geschichtstheoremen entgegenzuwirken bzw. in Nietzsches spezifischen Stil zu durchkreuzen, wobei bisweilen eine Annäherung an Hegels geophilosophische Thesen stattfindet. Hierbei werden -

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Die folgende Untersuchung und ihre Ergebnisse wurden durch finanzielle Förderung seitens der Fritz-ThyssenStiftung ermöglicht. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1988 [1944/1969], 19.

Stephan Günzel

228

zu einem Verständnis von Nietzsches Schreiben als philosophischer skizziert und ihr Potential als ,kritische Theorie' angezeigt. (3.)

Ansätze

Geographie'

Hegels geohistorischer Determinismus

1.

von Hegel in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte in dem Abschnitt „Geographische Grundlagen der Weltgeschichte" gegebenen Auskunft: „Die Natur darf [in Betreff der Geschichte] nicht zu hoch und nicht zu niedrig angeschlagen werden"3 kommt Hegel in diesem Abschnitt detailliert auf die bedingenden Faktoren von ,Natur' für ,Geschichte' zu sprechen: ,,[I]n der kalten und in der heißen Zone kann der Boden weltgeschichtlicher Völker nicht sein",4 so Hegel. Die Urbedingung aller Geschichtlichkeit ist demnach für Hegel ohne Ausnahme für alle Völker ein sie jeweils bestimmendes ,Klima'. Und dies in einem, dem selbstgesetzten Vorbehalt Hegels zum Trotz, zunächst völlig eindeutigen Sinn, nach einem ,direkten Determinismus' gedacht:

Trotz der

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„In den äußersten Zonen kann der Mensch zu keiner freien Bewegung kommen, Kälte und Hitze sind hier zu mächtige Gewalten, als daß sie dem Geist erlauben, für sich eine Welt Der wahre Schauplatz für die Weltgeschichte ist daher die gemäßigte ist es der nördliche Teil derselben, weil die Erde sich hier kontinental verhält und eine breite Brust hat, wie die Griechen sagen. Im Süden dagegen verteilt sie sich und läuft in mannigfaltigen Spitzen auseinander."5 zu

erbauen.

Zone, und

[...]

zwar

,Geist' benötigt nach Hegels Vorstellung ein Medium gemäßigter Temperatur, um die ihm eigene Bewegung, die in dem Zustreben auf seinen Mittel- und Ruhepunkt besteht,6 gemäß ,seiner Natur' ausführen zu können. Extreme wie die nördliche und südliche Polarregion fallen .rein natürlich' als Tätigkeitsfeld des Geistes heraus. Des weiteren sei innerhalb der .bewohnbaren' Regionen die südliche Hemisphäre ebenfalls nicht geeignet, dem Geist .Heimat d. h. Europa, der Mittelmeerraum, der zu sein'. Allein die nördliche der .gemäßigten' Zonen Nordamerika sei nach ihrer geo-thermischen Formung dazu und Orient, Zentralasien, Japan in der Lage, da, nach Hegels Begründung, „die Erde sich hier kontinental verhält", d. h. eine geomorphe Einheit bildet. Im Süden dagegen sei die ,Erde' zersplittert und „verteilt [sich]". Der

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3

Georg

Wilhelm Friedrich

Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte [1837], in: Werke

in 20

Bänden, aufder Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, 4. Aufl., Frankfurt a.M. 1995, Bd. 12, „Geographische Grundlagen der Weltgeschichte", 105-133,

hier 106. 4 Ebd. 5 Ebd., 106 f.; kursiv, S. G. Hegel weiter: „Dasselbe Moment zeigt sich in den Naturprodukten. Der Norden hat sehr viele Gattungen von Tieren und Pflanzen gemeinschaftlich; im Süden, wo das Land sich in Spitzen teilt, da individualisieren sich auch die Naturgestalten gegeneinander." (Ebd., 107) 6 Einen besonderen Stellenwert in Hegels geschichtsphilosophischem Denken nimmt die Analogie zwischen dem Fallen eines Körpers gemäß des ihn bestimmenden Gesetzes der Schwerkraft und dem innersten Streben des Weltgeistes (als Projektion des Fallens auf eine horizontale Bewegung entlang der Erdoberfläche) ein. (Vgl. ebd., 32) Hegel operiert dazu auf einem von ihm vor allem in den frühen Schriften ausgebreiteten physikalistischen Tableau. (Vgl. dazu Karl-Norbert Ihmig, Hegels Deutung der Gravitation. Eine Studie zu Hegel und Newton, Frankfurt a.M. 1989) -

Nietzsches Schreiben als kritische Abseits

von

Geographie

der möglichen Kritik an

unter nur zwei Formen ist zunächst

229

Hegels kahlschlagartiger Subsumption aller Territorien

festzuhalten, daß sich hier das Argument bzw. die

Argumentationsfigur Hegels in bezug auf die Gebiete des Geistes im Durchgang geändert hat: Waren zunächst nur klimatische Bedingungen in Betracht gekommen, den Weg des Geistes zu bestimmen, so ist nun eine differenziertere Schablone an die Stelle dieser Begründung getreten: Die unterschiedlichen Formen der Landmassen bzw. ihr einheitlicher Charakter in

geographischer Hinsicht sind nun das Kriterium, das über die Vorzüglichkeit der Orte entscheidet. Der kompakte und einheitliche Norden ist für Hegel gegenüber dem vielgliedrigen und mannigfaltigen Süden der bessere und der „wahre Schauplatz für die Weltgeschichte". Hegel behandelt im folgenden intensiv die einzelnen Regionen der Erde, wobei er sich an herkömmliche Unterteilungen (,Neue' und ,Alte Welt', ,Abend-' und ,Morgenland') und an gebräuchlichen geographischen Einteilungen (,Nord-' und ,Südamerika') orientiert. Seine Beschreibungen und Wertungen können nicht im einzelnen wiedergegeben werden.7 Dennoch sollen die in ihnen enthaltenen systematischen Unterscheidungen und Beurteilungen kurz zusammengefaßt sein, da sie für die Darstellung des apodiktischen, geographischen Determi-

Hegels Deutung unerläßlich sind. Hegel unterscheidet zunächst zwischen der ,Neuen' und der ,Alten' Welt, woraufhin er jeweils beide für sich noch einmal unterscheidet: die erste in Nord- und Südamerika sowie Australien, letztere in die drei Teile Afrika, Asien und Europa. Die ,Neue Welt' verdient nach Hegel ihren Namen zu Recht, da sie nach der „physischen und geistigen Beschaffenheit" und nicht nach ihrem ,,geologische[n]" Alter „überhaupt neu"8 ist. Die Ostküste der heutigen USA befinde sich entsprechend noch im Zustand „geographische^] Unreife".9 Die ersten beiden der drei Teile der ,Alten Welt' sind in Hegels Schema wiederum in drei Bereiche zu gliedern: „Hochland", „Talebenen" und „Uferland".10 Das Kriterium für die Unterteilung ist eine zunehmende ,Globalität' durch die Erweiterung ökonomischer Interaktionsmöglichkeiten bzw. durch den Grad an Reflexivität und Identität der einzelnen Teile, die sich für Hegel am Bezug der jeweiligen Gegenden zum Wasser ablesen läßt. Klimatologische Kriterien, die von morphologischen abgelöst wurden, weichen nun hydrologischen. nismus in

Das „wasserlose Hochland" sei an sich „indifferent^"11 und sowohl durch nomadische Lebensformen auf zumeist unfruchtbaren Böden als auch durch die Abwesenheit jeglicher Rechtsverhältnisse charakterisiert.12 In Afrika entspräche dem das Gebiet „südlich von der

7 Gerade in diesem Kontext findet sich bei Hegel eine Vielzahl rassistischer Chauvinismen. 8 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke 12, 107. 9 Ebd. Dennoch ist Amerika für Hegel „das Land der Zukunft", in welchem Geschichte, die dort bislang nur als „Widerhall der Alten Welt" (ebd., 114) vorhanden war, zukünftig stattfinden wird. Für seine Untersuchung ist Amerika hier jedoch nicht von Interesse, da er .Geschichte' erörtern will. 10 Ebd., 116. Des weiteren besteht in Hegels Schema auch hier eine .innere' Rangfolge, die Afrika gegenüber Asien -

und dieses gegenüber Europa herabsetzt. Von dem, ,,[w]as eigentlich unter Afrika verstehen [ist]", nämlich „das Geschichtslose und Unaufgeschlossene" (ebd., 129), will Hegel gar nicht sprechen. Allerdings erst, nachdem er in mehreren Absätzen hinweg über die Minderwertigkeit einer an Bildern orientierten Religion, dem Fetischglauben sowie der Polygamie, dem Kanibalismus und der Eignung der ,Neger' zur Sklaverei ihrem „einzige[n] wesentliche^] Zusammenhang [...] mit den Europäern" (ebd., 128)- .reflektiert' hat. (Vgl. ebd. 121-129) 11 Ebd., 116. 12 Hegels rechtsphilosophische Schrift endet mit einem Abschnitt über ,die' Weltgeschichte, in welcher dieser die Funktion eines bzw. ,des' ,,Gericht[s]" zugewiesen wird. (Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Werke 7, 503-512 [§§ 341-360], hier 503 [§ 341]) Zugleich sind hier die jeweiligen Rechtsverhältnisse einer Kultur als Indikator ftir deren Stand -

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Wüste Sahara",13 in Asien die Gebiete zwischen den großen Gebirgen.14 Diese Gebiete sind gleichbedeutend mit dem Zustand des Geistes vor dem ,Aus-sich-heraus-, und ,Sich-gegenüber-Treten' als Bewegung vom ,an sich' in die ,Entzweiung' bzw. ,Entfremdung'. Es sei dies der Zustand der „Natürlichkeit".15 Die Talebenen, die „von großen Strömen durchschnitten" werden, ,,bilde[n] Mittelpunkte der Kultur".16 In Afrika entspräche diesem Gebiet das Stromgebiet des Nils mit der ,Hochkultur' Ägyptens, die an dessen Ufern entstand. Im asiatischen Teil entsprechen dem die Kulturen, die sich am Jangtsekiang, am Ganges und zwischen Euphrat und Tigris entwickelt haben. Der ,Weltgeist' befinde sich hier im Zustand der ,Negativität'. Er sei aus der ,Natürlichkeit' heraus sich selbst gegenübergetreten, habe aber hier noch keine Möglichkeit in den Zustand seiner Selbst-Identität' überzugehen. Gleichwie die Talebenen gegenüber dem an Wasser ärmeren Hochland mit seinen „umherschweifenden]" und „nomadischen Völkerschaften"17 in bezug auf den idealen Ort für den Weltgeist' im Vorteil seien, sind sie nach Hegel dennoch nicht der ideale Ort für diesen: Die „Völker der Flußgebiete verdumpfen[]"18 qua ihrer natürlichen Grundlage bzw. Umgebung. Erst die Küstenregionen können geeignete Orte für die Selbstwerdung des geschichtlichen ,Weltgeistes' abgeben, da sie in „unmittelbarem Verhältnisse mit dem Meere steh[en]" und so einen „Weltzusammenhang"19 garantierten. Diese Vorstellung ist zunächst kontraintuitiv. Hegel begründet sie wie folgt: ,

,

-

„Der Fluß teilt Landstriche voneinander, noch mehr aber das Meer, und man ist gewohnt, das Wasser als das Trennende anzusehen; [...]. Dagegen ist wesentlich zu sagen, daß nichts

sehr vereinigt als das Wasser [...]. Nur Gebirge trennen. [...] Das Meer gibt uns die Vorstellung des Unbestimmten, Unbeschränkten und Unendlichen, und indem der Mensch sich in diesem Unendlichen fühlt, so ermutigt dies ihn zum Hinaus über das Beschränkte."20 so

Welchen Teilen Afrikas und Asiens entspräche diese Unbestimmtheit', d. h. das Höchstmaß Freiheit? Denjenigen, die „sich", wie „Arabien" und „Syrien" in Asien, „in immerwährendem Zusammenhang mit Europa [...] befinde[n]".21 In Afrika sei dies der „herrliche [] an

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in der

Weltgeschichte genommen: Nomadische Existenzformen, wie die „Horde" oder der „Stamm" (ebd., 507 [§ 349]), befinden sich auf einer minderwertigen Stufe vor dem Gericht der Weltgeschichte. Explizit verknüpft Hegel hier zudem die „geographische" mit der „anthropologische[n] Existenz" (ebd., 505 [§ 346]). 13 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Werke 12, 120. 14 ,Natürlich' unter Abzug der Gebiete, die außerhalb des möglichen ,Bodens des Weltgeistes' liegen: „Zuerst ist die nördliche Abdachung, Sibirien, wegzuschneiden." (Ebd. 130) 15 Ebd., 77. Hegel sieht dies ausnahmslos durch die Bevölkerung der entsprechenden Gebiete verkörpert: „Bei den Negern ist nämlich das Charakteristische gerade, daß ihr Bewußtsein noch nicht zur Anschauung irgendeiner festen Objektivität gekommen ist, wie zum Beispiel Gott, Gesetz [...]." (Ebd., 122) 16 Ebd., 116. 17 Ebd., „Zweiter Teil: Die griechische Welt", 275-338, hier 280. -

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18 Ebd. 19 Ebd., „Geographische Grundlagen der Weltgeschichte", 116. 20 Ebd., 118. Doch wiederum ist dieses .höhere Maß an Freiheit' nicht nur positiv für den Menschen: „Diese unendliche Fläche ist absolut weich, denn sie widersteht keinem Drucke, selbst dem Hauche nicht; sie sieht unendlich unschuldig, nachgebend, freundlich und anschmiegend aus, und gerade diese Nachgiebigkeit ist es, die das Meer in das gefahrvollste und gewaltigste Element verkehrt." (Ebd., 119) 21 Ebd., 131 ; kursiv, S. G Ob Hegel hier Handelsschiffahrt oder umgekehrt gar die Kreuzzüge meint, läßt er offen. -

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Nietzsches Schreiben als kritische

Geographie

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Erdstrich, auf dem einst Karthago lag".22 Doch Hegel folgert daraus nicht etwa, daß das nördliche Afrika die Möglichkeit zur Freiheit hat, sondern, daß „[man] [d]iesen Teil [...] zu Euro-

pa herüberziehen

[mußte], wie dies die Franzosen jetzt eben glücklich versucht haben [...]".23

2. Nietzsches geschichtstheoretische Konzeption in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben 2.1. Nietzsches Antworten auf Hegel Nietzsche nimmt in Fragen der Geschichtsphilosophie eine Sonderstellung ein: Zunächst ist Nietzsche seit seiner Zeit in Schulpforta und spätestens durch die Begegnung mit dem Denken Schopenhauers ein entschiedener Gegner der Hegelianischen Geschichtsbetrachtung24 bzw. ihrer zeitgenössischen Vertreter, wie beispielsweise Eduard von Hartmann,25 sowie ein Verehrer der Person Burckhardts und ein Anhänger von dessen methodischer Ausrichtung.26 Im Rahmen der Vorarbeiten zum ZweitefnJ Stück der Unzeitgemäße[n] Betrachtungen, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, aus der zweiten Jahreshälfte 1873 finden sich sukzessive drei Fragmente, in denen Nietzsche aus Texten Hegels exzerpiert und die er ebenda kommentiert hat. Zunächst befaßt sich Nietzsche mit Hegels Annahme eines telos (in) der Geschichte. Nietzsche zitiert aus § 549 im dritten Teil der Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Die Philosophie des Geistes: -

,„Eine Geschichte ohne solchen Zweck und ohne solche Beurtheilung wäre nur ein schwachsinniges Ergehen des Vorstellens, nicht einmal ein Kindermährchen, denn selbst 22 23

Ebd., 121. Ebd.; kursiv, S. G. Die Folgen der Kolonialzeit bekommt Frankreich noch heute durch die ,Rassenunruhen' in den Randbezirken der Großstädte zu spüren. -

24 Nietzsche nimmt sich bereits früh den Themen der Geschichtsphilosophie an. Siebzehnjährig verfaßt der Pfortaschüler in den Osterferien 1862 für die .Germania' den Aufsatz „Fatum und Geschichte. Gedanken" (KGW 2,54-59). Darin bezeichnet Nietzsche es als „eine Vermessenheit, philosophische Probleme lösen zu wollen, über die ein Meinungskampf seit mehreren Jahrtausenden geführt ist", solange „die Einheit der Weltgeschichte und die principiellsten Grundlagen sich dem Geiste noch nicht offenbart haben" (ebd. 54; kursiv, S. G.). 25 Die Hauptauseinandersetzung Nietzsches mit Hegel findet über den Angriff gegen Hartmanns Die Philosophie des Unbewussten statt. (Vgl. Frederico Gerratana, „Der Wahn Jenseits des Menschen. Zur frühen E. v. HartmannRezeption Nietzsches (1869-1874)", in: Nietzsche-Studien 17/1988, 391-433) Da Nietzsche zum Teil aber auch bis in einzelne Thesen hinein über Hegel urteilt, ist der direkten Auseinandersetzung mit Hegel der Vorrang ge-

geben

26 Nietzsche hört im WS 1870/71 bei Burckhardt, wie er dem Freund aus der Schulzeit, Carl von Gersdorff, am 7. November 1870 aus Basel nach Frankreich in einem Feldpostbrief schreibt, „ein wöchentlich einstündiges Colleg über das Studium der Geschichte" (KSB 3, 154-156, hier 155), welches später als die Weltgeschichtlichen Betrachtungen veröffentlicht wird. (Burckhardt wiederholte hier bereits die Vorlesung vom WS 1868/69, die er dann im WS 1872/73 das dritte und letzte Mal hält.) Nietzsche hebt besonders die Behandlung von „Hegels Philosophie der Geschichte" heraus, „in einer des Jubiläums [der 100. Geburtstag Hegels] durchaus würdigen Weise" (ebd.). Er fühlt sich als „der Einzige seiner [Burckhardts] 60 Zuhörer [...], der die tiefen Gedankengänge mit ihren seltsamen Brechungen und Umbiegungen [...] begreift" (ebd.). .

Stephan Günzel

232

die Kinder fordern in den Erzählungen ein Interesse, das ist einen wenigstens zu ahnden gegebnen Zweck und die Beziehung der Begebenheiten und Handlungen auf denselben.'"27

Postwendend kritisiert Nietzsche die Präsupposition dieser Annahme, daß ,Geschichte' per ideologisch strukturiert sei: „D. h. weil es ,Weltgeschichte' giebt, muss auch im Weltprozess ein Zweck sein. D. h. wir fordern Erzählungen nur mit Zwecken [...]." (NF, SommerHerbst 1873, 29 [72], KSA 7, 661) Hegel benutzt bewußt die Doppeldeutigkeit der deutschen Vokabel ,Geschichte' im Sinne von .Erzählung' wie von ,Historie' und überträgt dann die Forderung, die an eine klassische, geschlossene Erzählung gestellt wird, auf die Historie: Sie solle einen ,Zweck' haben. Hegel:

se

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-

„Diese Vereinigung der beiden Bedeutungen müssen wir für höhere Art als für bloß äußerliche Zufälligkeiten ansehen [...]; es ist eine innerliche gemeinsame Grundlage, welche sie zusammen

hervortreibt."28

Nietzsche hält Hegel entgegen:

,,[A]ber wir fordern gar keine Erzählungen vom Weltprozess, weil wir es für Schwindel halten, davon zu reden. Dass mein Leben keinen Zweck hat, ist schon aus der Zufälligkeit seines Entstehens klar; dass ich einen Zweck mir setzen kann, ist etwas anderes." (NF, Sommer-Herbst 1873, 29[72], KSA 7, 661; kursiv, S. G) Nietzsche demaskiert nicht nur Hegels Übertragungsleistung als „Schwindel", sondern betont zugleich die Willkür, die in einer solchen Ziel- und Zweckzuschreibung liegt. ,Für sich' betrachtet könne die Mannigfaltigkeit, die ,der Geschichte' eigen ist, nie unter einem aus ihr selbst erhellenden ,Wesen' oder ,Gehalt' hervorgehen. Wenn wir einen ,Zweck' darin entdeckten, dann sei er von uns dort hineingelegt bzw. ,hineingedichtet' worden.29 In dem darauffolgenden Nachgelassenen Fragment, „Zur Mythologie des Historischen", wird die Position gegen Hegel noch verstärkt: Waren die Abfolge der Weltreiche und der Staaten für Hegel eben dem Zweck der Geschichte inhärent bzw. ihr Status in bezug auf das Recht ein Indikator für ihren Grad an Freiheit in der Geschichte, so sind die Staatsgebilde' für Nietzsche Ausdruck eines „blinden Begehren[s], existiren zu wollen", und die „Geschichte der Staaten" eine „Geschichte vom Egoismus der Massen" (NF, Sommer-Herbst 1873, 29 ,

Georg Wilhelm Friedrich Hegel zit. nach NF, Sommer-Herbst 1873, 29[72], KSA 7, 660 f. Nietzsche zitiert Hegel nach der Ausgabe von Rosenkranz aus dem Jahre 1845 [1817]. (Vgl. KGW III, 512, 1576 und 1606) 28 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke 12, 83; kursiv, S. G Hegels Methode der Zusammenfassung von Verschiedenem in einem Begriff hatte dieser bereits in der Definition der, Aufhebung' vorgezeichnet. (Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik I [1812], Werke 5, 113 f.) 29 In der endgültigen Fassung von Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben deckt Nietzsche weiterhin die psychologische Dimension von Hegels Konstruktion auf: „Man hat diese Hegelisch verstandene Geschichte 27

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mit Hohn das Wandeln Gottes auf der Erde genannt, welcher Gott aber seinerseits erst durch die Geschichte gemacht wird. Dieser Gott aber wurde sich selbst innerhalb der Hegelischen Hirnschalen durchsichtig und verständlich und ist bereits alle dialektisch möglichen Stufen seines Werdens, bis zu jener Selbstoffenbarung, emporgestiegen: so dass für Hegel der Höhepunkt und der Endpunkt des Weltprozesses in seiner eigenen Berliner Existenz zusammenfielen." (HL 8, KSA 1,302-311, hier 308.) Vgl. dazu auch die Aufzeichnung „Ungar und der Hegeische Professor" (NF, Sommer-Herbst 1873, 29 [64], KSA 7, 656 f.) -

Nietzsches Schreiben als kritische

Geographie

233

[73], KSA 7, 661 f., hier 661). „Particular- und Collectiv-Egoismen im Kampf mit einander ein Atomenwirbel der Egoismen wer wird da nach Zwecken suchen wollen!" (Ebd.)30 In dem letzten der drei Fragmente zu Hegels Geschichtsbetrachtung schließlich steigert Nietzsche seine Hegelkritik durch die Beleuchtung des moralischen Hintergrunds in Hegels -

-

Konstruktion: Wenn, so die These Nietzsches, dem Menschen durch Hegel ,erzählt' wird, das Leben verlaufe nach einem ,Plan', dann nur, um das Tun des Menschen ,gut' oder ,gerecht' zu heißen bzw.

nimmt, dass er etwas Fundamental-Werthvolleres sei als seiner Existenz, der macht ihn schlechter. Die Abstracta sind seine Erzeugnisse, seine Mittel zur Existenz -[...]." (NF, Sommer-Herbst 1873,29 [74], KSA 7, 662 f., hier 662.)

„wer dem Menschen den Glauben

alle die Mittel

zu

Die Fragmente sind nicht in die Druckfassung des Textes eingegangen, wohl aber hat die Betrachtung Spuren in der dortigen Argumentation hinterlassen. Darüber hinaus geben diese

Überlegungen

ebenfalls einen Einblick in Themen, die Nietzsche Zeit seines Schreibens Kritik der Notwendigkeit und Bejahung des Zufalls; willentliche Zweckhaben: beschäftigt überhistorische statt setzung Zweckgebung; und die Entblößung theoretischer Axiome als moralische Postulate bzw. als gewollte und benötigte ,Lebens-MitteF. Vor allem aber sind sie die Spuren, die von Hegels Geschichtsphilosophie über Nietzsches Auseinandersetzung mit ihr in Nietzsches wichtigen Text über die .kritische Historie' führen.

2.2. Nietzsches

Klassifizierung und Beurteilung der

Geschichtswissenschaften

Eine der ersten Kategorien, die Nietzsche in den Vorarbeiten zu seiner zweiten Unzeitgemäßefnf BetrachtungfJ bestimmt,31 ist die ,antiquarische' Art, Geschichte zu betrachten, d. h. sie aufzuschreiben: Die ,antiquarische Historie', der „antiquarische Trieb", setze sich ab von dem „Trieb nach dem Klassischen" (NF, Sommer-Herbst 1873, 29 [29], KSA 7, 636 f., hier 636). Anders als im späteren Text der Druckfassung spricht Nietzsche hier den Menschen dieser Kategorie insgesamt ein „Lebensbedürfniss", jenen ein „Wahrheitsbedürfhiss" (NF, Sommer-Herbst 1873, 29 [29], KSA 7, 636)32 zu. Wohingegen die erste eine Beziehung zur Vergangenheit derart unterhalte, daß sie Geschichte durch „Kunst und künstlerische^ Verklärungskraft" (NF, Sommer-Herbst 1873, 29

Entsprechend wendet sich Nietzsche gegen Hegels „Parallele der Geschichte mit Jugend, Mannesalter und Greisenalter: auch nicht die Spur Wahrheit daran!" (Ebd., 29 [48], 645 f., hier 646.) Dem entgegen formuliert Nietzsche später im Rahmen der Exzerpte aus Eugen Dührings Schrift Der Wert des Lebens vgl. NF, Sommer 1875,9 [1], KSA 8, 131-181, hier 149) ein immanentes Verständnis: „Kindheit und Knabenalter hat sein Ziel in sich, ist nicht Stufe." (NF, Frühling-Sommer 1875, 5 [186], KSA 8, 93.) 31 Für die folgende Darstellung des Zusammenhangs der Kategorienentwicklung mit Nietzsches Hegel-Lektüre vgl. auch Jörg Salaquarda, „Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung", in: Nietzsche-Studien 13, Berlin/New York 1984, 1-45, hier 15-30. 32 Nietzsche formuliert dabei radikal, daß diese Bedürfnisse einen „Trieb" der jeweiligen Art ,,verlang[en]" (NF, Sommer-Herbst 1873, 29 [29], KSA 7, 636). 30

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[29], KSA 7, 636)33 idealisiere und gleichzeitig damit,entstelle', ist die zweite so beschaffen, daß sie das Vergangene entidealisiere, objektiviere und damit dem Leben schade. Die willentliche Umformung der Vergangenheit jedoch geschehe zu ,Zwecken des Lebens' also in einer pragmatisch-praktischen Hinsicht. Sie betrachtet Nietzsche als Resultat des ,,,historische[n]' -

Urphänomen[s]", dem „Erinnern", welches im „Gleichsetzen [sc. Vergleichen] des Gegenwärtigen mit dem Vergangenen" (NF, Sommer-Herbst 1873, 29 [29], KSA 7, 636) bestehe. Menschen sollen sich an historischen Taten und Größen messen, um ihren eigenen (historischen) Status zu bestimmen sich zu vergleichen'. Würde diese Weise, die von Nietzsche als die eigentlich' geschichtliche betrachtet wird, durch ein ,bloßes' Gleichsetzen, eine Nivellierung geschichtlicher Data verdrängt, dann richte sich Geschichte ,gegen' das Leben. ,Geschichte' werde zum bloßen Sammeln von Ereignissen, bei denen nicht mehr nach dem ,Wert' für das Leben in der spezifischen Nützlichkeit gefragt werde. Geschichte werde antiquarisch', ,relativ', gar ,wertlos'.34 Neu ist an dieser Betrachtungsweise zunächst, Geschichte als ein .Bedürfnis' zu definieren. Nietzsche verabschiedet die geschichtliche Betrachtung nicht rundweg. Jedoch will er gegen den Zeitgeist vorgehen, der sich ihm in einer „Hypertrophie des historischen Sinnes" (NF, Sommer- Herbst 1873, 29 [37], KSA 7, 640) zeige. Ihm geht es darum, Geschichte wieder in den ,Dienst des Lebens' zu stellen. Neu daran ist auch die Idee, daß sie, die Geschichte, ursprünglich aus dem Leben erwuchs begleitet vom Erinnern und Vergessen, d. h. einer konstitutiven Interpretationsarbeit am Vergangenen. ,Geschichte' und mit ihr die Schreibung der Geschichte gehört für Nietzsche zu den Grundbedürfhissen der Menschen. Jedoch nur solange sie dem Menschen und seinen ,Zwecken' untergeordnet bleibe, sei sie als solche ein legitimer -

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Bestandteil des

,Lebens'.

Hegels .Erzählung' der geschichtlichen Selbst-Werdung des Geistes gehört für Nietzsche zunächst eindeutig in die Kategorie .antiquarischer', d. h. .wahrheitsbedürftiger' Geschichtsbetrachtung. Hegels .Erzählung', seine ,Mythologie',35 besteht im Zurechtordnen der Reiche (des Geistes) auf den status quo zentraleuropäischer Territorien hin. Das Denken in „Ideen ,die es lieben, sich in immer reineren Formen zu offenbaren", ist nach Nietzsche ,,[d]ie Mythologie, mit der sich die antiquarischen Menschen umgeben" (NF, Sommer-Herbst 1873, 29 [33], KSA 7, 639). „Geschichte als Wissenschaft betrieben fordert qua Wissenschaftlichkeit „Gesetze" und führe somit unweigerlich in einen „Determinismus" (NF, Sommer-Herbst 1873, 29 [40], 642),36 so Nietzsche. Genau einen solchen vertritt Hegel, wie gezeigt, im Rahmen seiner geographischen Bestimmung der Grundlagen des Weltgeistes. 33 Die Kategorisierung fußt wahrscheinlich noch auf die frühere Unterscheidung in Die Geburt der Tragödie, in der Nietzsche am Ende zwischen einer ,alexandrinischen' und einer tragischen' Kultur unterscheidet. (Vgl. Jörg Salaquarda, „Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung", 17 f.) 34 Zum Ende seiner Studentenzeit in Leipzig notiert Nietzsche zwischen Herbst 1868 und Frühjahr 1869 in ein Quartheft, in dem sich sonst nur philologische Studien finden: „Nicht alles Vergangne ist werth in Spiritus oder Pergament aufbewahrt zu werden; was ist aber der Werthmesser? Alles, was noch nicht seine Wirkungskraft verloren hat, ist werth zu leben: (ganz abzusehn ist von dem nur scheinbar Historischen zB. von den Sprachen, die in Wahrheit zu den Naturprodukten gehören.) / Alles Vergangne hat einen Werth, eben den, den Beweis zu liefern, daß es einmal war / Was sind Bücher? Der geistige Kitt in der Geschichte, das Mittel zu einer Menschenvereinigung über Menschenleben hinaus, Behufs wissenschaftlicher Ergründung oder künstlerischer

Wirkung." (HKGW 5, 188.)

35 Und dies ist die dritte Bedeutung von .Geschichte', neben ,Erzählung' und .Historie', im Sinne Hegels. 36 „Zudem sind die Gesetze wenig werth: weil sie aus den Massen und deren Bedürfnissen abgeleitet sind, also als Bewegungsgesetze der niederen Lehm- und Thonschichten." (NF, Sommer-Herbst 1873, 29 [40], KSA 7, 642)

Nietzsches Schreiben als kritische Geographie

235

Den antiquarischen Menschen und seinen Gegentypus, den ,monumentalischen' Menschen mit dem Bedürfnis nach ,klassischer', lebensorientierter Geschichtsbetrachtung, ordnet Nietzsche in der Folge der Vorarbeiten jeweils den ,unhistorischen' bzw. den historischen' Sinn zu.37 Die Einteilung, mit der die veröffentlichte Fassung von Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben beginnt, weist aber noch eine dritte Kategorie auf: den sogenannten „überhistorischen Standpunkt" (HL 1, KSA 1, 248-257, hier 254).

2.3.

„Kritik" Die ,dritte Stelle' im Schema der -

Betrachtungsweisen

Diese dritte Art, der Geschichte zu begegnen bzw. sie zu ,benutzen', wurde in Nietzsches zunächst systematisch beginnender, später literarisch' werdender Abhandlung notwendig, weil er in den Ausführungen seiner Überlegungen zu einer wichtigen Folgerung gelangte, die sich am Denken Hegels veranschaulichen läßt: Betrachtet man die These, die „Mythologie" der „Ideen", die ,„sich in immer reineren Formen [...] offenbaren'", genauer, dann zeigt sich, daß doch auch diese Erzählungen in einer bestimmten Hinsicht im ,Dienste des Lebens' stehen. Sie dienen zur Rechtfertigung der jeweiligen Situation derer, die sich diese Er,

zählungen geben. Auch Hegel ,benutzt' Geschichte für seine ,Zwecke'.38 Er deutet in sie ein Ziel und ein Prinzip hinein, welche sich zusammen in seine große Erzählung fügen. Was sich nicht einfügt, wird entweder ausgeschlossen oder erst gar nicht erwähnt. Territorialen und nationalen Markierungen werden eindeutige Stufen des Geistes (Natürlichkeit, Entfremdung, Selbstbewußtsein) zugeordnet, gewisse Territorien (Polarregionen, südliches Afrika und nördliches Amerika) von der Geschichte gänzlich ausgenommen. Auch Hegel legt die Geschichte zurecht, stellt sie ausschnittshaft und perspektivisch' dar. Zentraler Angriffspunkt für Nietzsche ist natürlich der Glaube an die Struktur des Prozesses -

selbst.39 Nietzsche ,dramatisiert' in seinem Text zu diesem Zweck die Position des historischen,

Vgl. ebd., 29 [86], 667 f.; sowie ebd., 29 [88], 669 f.; und besonders die Gliederung ebd., 29 [90], 672. Ist zunächst die Zuordnung in Nietzsches Notizen eindeutig und gleichbleibend, so ist in der letzten Auflistung der Referenzbegriff vertauscht: ,Historisch' entspricht hier .monumental',,unhistorisch' entspricht .antiquarisch'! 38 Nietzsche sieht diesen hintergründigen Zug in der Philosophie Hegels: „In andrer Art bändigte und streckte Hegel die Geschichte, er, der recht eigentlich der deutsche .Genius der Historie' zu nennen ist; denn er fühlte sich auf der Höhe und am Ende der Entwicklung und damit auch im Besitz aller ehemaligen Zeiten, als deren ordnender voifç." (NF, Sommer-Herbst 1873, 29[51], KSA 7, 646-648, hier 647) Nietzsche schließt daraus für seine Untersuchung: „Jeder Versuch, das Gegenwärtige als das Höchste zu begreifen, ruinirt die Gegenwart, weil er die vorbildliche Bedeutung des Geschichtlichen leugnet." (NF, Sommer-Herbst 1873, 29 [51], KSA 7, 647) 39 „Die antiquarische Manier, die das Klassische möglichst beseitigt oder als ganz individuelle Möglichkeit zu begreifen sucht. Weil viel Vernunft verwendet wird, irgend ein Stückchen Vergangenheit so zu begreifen, meint man zuletzt auch, dass Vernunft sie zu Stande gebracht. So entsteht der Aberglaube an die Vernünftigkeit der Geschichte: wobei die absolute Nothwendigkeit verstanden wird als Manifestation des Vernünftigen und Zweclcmässigen. Aber die grösste historische Macht ist die Dummheit und der Teufel. Es schwächt den Muth ab, so viele Möglichkeiten zu wissen als dagewesen: wenn es nicht darauf abgesehn ist, abzuschätzen (also das Klassische und Gute aus dem Vergangnen auszuscheiden), sondern nur alles als geworden zu begreifen, so lähmt der antiquarische Sinn; denn er wittert auch im Unsinnigen Zweck und Vernunft." Im Gegensatz zum späteren Text fährt Nietzsche hier in aller Deutlichkeit fort: „Die Geschichte will nur eine grosse Behandlung; sonst macht sie Sclaven." (NF, Sommer-Herbst 1873, 29 [31], KSA 7, 637 f.; überschrieben mit: „Die Schätzung der 37

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hegelianischen Menschen nach David Hume. Menschen danach gefragt, ob sie ihre eigene Vergangenheit ein weiteres Mal erleben möchten, würden dies in jedem Falle verneinen, doch mit unterschiedlichen Begründungen: ,Historische' Menschen verneinen die Frage, weil sie durch ihren Glauben an eine prozeßhafte Entwicklung hin zum ,Besseren' in der Zukunft glaubten. Der ,unhistorische' Mensch verneint entsprechend, weil er weder an eine apriorische Verbesserung noch an eine Verschlechterung seines Zustandes im Verlauf der Geschichte glaube. So folgert Nietzsche, daß der ,historische' Mensch selbst eigentlich zutiefst,unhistorisch' sei. Die Extrapolation des Rückblicks in die Vergangenheit auf die Zukunft beweise, daß „ihre Beschäftigung mit der Geschichte nicht im Dienste der reinen Erkenntnis, sondern des Lebens steht" (HL 1, KSA 1, 255). ,,[S]ie wissen gar nicht, wie unhistorisch sie trotz aller ihrer Historie denken und handeln [...]." (HL 1, KSA 1, 255) Der historische Mensch ist im Verborgenen ein .unhistorischer' Mensch. Hegel gibt sich nur den Anschein, ,historisch', d. h. ,objektiv', darzustellen. Konsequenterweise kann Nietzsche den vormals .unhistorischen' Menschen in seiner Syste-

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nicht mehr als solchen bezeichnen, da streng genommen ein jeder in der Beschäfmit tigung der Geschichte in bezug auf das Leben ,unhistorisch' vorgehe bzw. unter der Annahme einer .unmöglichen Objektivität' vorgehen müsse. Der Typus des .überhistorischen' Menschen sei in dem Sinne .unhistorisch', da er „nicht im Prozesse das Heil sieht" (HL 1, KSA 1, 255).40 Für ihn sei „vielmehr die Welt in jedem einzelnen Augenblick fertig [...] und ihr Ende erreicht" (HL 1, KSA 1, 255.). Die Systematisierungen in Nietzsches Text zeigen also hinsichtlich jeweils zweier Typen eine Parallelität auf: Der vormals historische und im Verborgenen ,unhistorische' Mensch bedient sich der ,antiquarischen' Art historischer Betrachtung, der eigentlich ,unhistorische' und in einem erweiterten Sinne ,überhistorische' Mensch bedient sich der ,monumentalischen' Art der Historie.41 Zur Hälfte des dritten Kapitels, das der Struktur nach dem bekannten Schema der Gegenüberstellung von ,Nutzen' und .Nachteil' verfahrt, wechselt Nietzsche in der Betrachtung zu einem dritten Typus, der in den Notizen zur selben Zeit relevant wird, in der Nietzsche zu den Schlüssen kommt, welche ihn den historischen Menschen als eigentlich ,unhistorischen' bezeichnen und zugleich die Kategorie des ,Überhistorischen' in die Konzeption einführen matik

nun

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Geschichte und die in ihr verschwendete Kraft".) 40 Eben an dieser Stelle zeigt eine Vorstufe des ersten Kapitels Nietzsches Unentschiedenheit in bezug auf die Benennung dieses Typs: „Aber mit welcher Begründung [Vergangenes nicht zu wiederholen; S. G.]? Mit der Begründung des un(über)historischen Menschen welcher nicht im Processe das Heil sieht [...]." (NF, Herbst 1873-Winter 1873-74, 30[2], KSA 7, 725-730, hier 728; kursiv, S. G.) 41 Sowohl aus den Gliederungen in den Aufzeichnungen als auch aus der Tatsache, daß der Betrachtung des letzteren Typs ein eigenes Kapitel gewidmet wird, in welchem (wie auch in der Diskussion der antiquarischen Position) .Vorteil' und ,Nachteil' dieses Typs von Historie gleichgewichtet betrachtet werden, erschließt sich nun, daß eine frühere Intention dieses Textes von Nietzsche war- wie bereits in Die Geburt der Tragödie zwei antagonistische Kräfte bzw. Betrachtungsarten und Handlungsweisen gegenüberzustellen, sie zueinander in Beziehung zu setzten und eine Entscheidung zwischen ihnen anzubahnen (vgl. bereits oben, Fußnote 33). -

Nietzsches Schreiben als kritische Geographie

237

lassen.42 Zunächst scheint es, daß Nietzsche nach eben dem gleichen abwägenden Schema verfahren würde. Doch der unmittelbare Eindruck täuscht. Die „dritte Art [die Vergangenheit zu betrachten]", sei „die kritische" (HL 3, KSA 1, 269 f., hier 269). Sie verfahre mit der Geschichte derart, daß sie diese „vor Gericht zieht, peinlich inquirirt, und endlich verurtheilt" (HL 3, KSA 1, 269). Doch ,,[e]s ist nicht die Gerechtigkeit, die hier zu Gericht sitzt; [...] sondern das Leben allein, jene dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht" (HL 3, KSA 1, 269). In dieser dritten Art der Geschichtsbetrachtung ist die Subjektivität des Betrachterstandpunktes bis ins äußerste gesteigert. Für Nietzsche bedeutet,kritisch' nicht etwa ein Abwägen zwischen Extremen oder eine Art ,gesunder' und angemessener Skepsis gegenüber möglichen Dogmatismen, sondern die radikale Entscheidung für das, was jemandem ,passt' bzw. was sich seinem Leben als ,dienlich' erweist. Diese dritte Art, Historie zu betreiben, ist so auch vom Inhaltlichen her gesehen den anderen beiden allen eigenen Versuchen Nietzsches entgegen, dies zu behaupten43 nicht gleichwertig beigeordnet: Sie ist die Art schlechthin, sich der Geschichte ,für das Leben' zu bedienen. Sie ist das Prinzip selbst, nach dem die Anwendung der beiden anderen Arten überhaupt für das Leben ,von Nutzen' sein kann. Dementsprechend kann Nietzsche an dem Punkt, an dem er von seiner Konzeption her eigentlich den ,Nachteil' der kritischen Geschichtsbetrachtung benennen müßte, nur sagen, daß die Nutzbarmachung der Geschichte -

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42 In dem Nachlaßfragment 29 [102] beginnt Nietzsche, mögliche Negativbilder der Beschäftigung mit Geschichte wenn die eigene Person davon ausgenommen bleibt zu entwerfen, und in eine Gliederung einzubinden: „Historie ohne alle subjectiven Anlässe, ohne Nachahmung, Pietät, gegenwärtige Noth." (NF, Sommer-Herbst 1873, 29 [102], KSA 7, 679.) Nach einer erneuten Aufzählung schließlich, in der Nietzsche noch nicht sagen kann, woran es der dritten Art von Geschichtsverfehlung mangele (vgl. NF, Sommer-Herbst 1873,29 [104], KSA 7,680), werden die drei (positiven) Inhalte mit genau den drei Typen(namen) belegt: „Der Mensch", der „schaffen [will]" ist „monumentalistisch", der, welcher „im Gewohnten verharren" will, „antiquarisch", und der, der „von Noth sich befreien" will, „kritisch" (NF, Sommer-Herbst 1873, 29 [115], KSA 7, 683). Für einige Zeit läßt Nietzsche die Systematisierung ruhen und die erste Gliederung, die dem Gang des Haupttextes im wesentlichen entspricht, wird in diese Zuordnung aufgenommen. (NF, Sommer-Herbst 1873, 29 [ 153], KSA 7, 696) Nur kurz daraufstellt Nietzsche zum erste Mal „Historisch, Unhistorisch und Überhistorisch" (NF, Sommer-Herbst 1873, 29 [157], KSA 7,697) in einen Zusammenhang. Beide Dreierkonstellationen gehen in eine letzte Gliederung ein, die der endgültigen Gliederung der späteren Schrift entspricht. (Vgl. NF, Sommer-Herbst 1873, 29 [ 160], KSA -

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7, 698).

43 So erklärt Nietzsche noch am Ende des Zweiten Kapitels: „Jede der drei Arten von Historie, die es giebt, ist nur gerade auf Einem Boden und unter Einem Klima in ihrem Rechte: auf jedem anderen wächst sie zum verwüstenden Unkraut heran. [... ] Von dem gedankenlosen Verpflanzen der Gewächse rührt manches Unheil her: der Kritiker ohne Noth, der Antiquar ohne Pietät, der Kenner des Grossen ohne das Können des Grossen sind solche zum Unkraut aufgeschossene, ihrem natürlichen Mutterboden entfremdete und deshalb entartete Gewächse." (HL 2, KSA 1, 264 f.; kursiv, S. G.)- Gerade wenn Nietzsche sich auf seine Systematisierung beziehen will, verfällt er in ein geographisch-deterministisches Sprachspiel, das Hegel genügt hätte, und in welchem .natürlichen Zugehörigkeiten' das Wort geredet wird. Bei solchen Tönen setzt auch Kittsteiner an, wenn er bemerkt: „Wären die Verfechter des Schlußstrichs unter die deutsche Geschichte etwas gebildeter, als sie normalerweise zu sein pflegen, sie könnten sich aus Nietzsches Schrift allerhand Munition zusammensuchen, denn hier böte sich ein Zusammenhang von Vergessen, Leben und Handeln an, der ihren Vorstellungen entgegenkäme." (Heinz Dieter Kittsteiner, „Vom Nutzen und Nachtheil des Vergessens für die Geschichte", in: Vom Nutzen des Vergessens, hg. v. Gary Smith und Hinderck M. Emrich, Berlin 1996, 133-174, hier 137 f.) -

Stephan Günzel

238

„immer ein gefährlicher, nämlich für das Leben selbst gefährlicher Prozess [ist]" (HL 3, KSA

1,270).44

2.4. Der fehlende Exkurs über

„die Inder" und das

„occidentalische Vorurteil" Das Großoktavheft „U II

3", in welches Nietzsche vom Herbst 1873 bis Winter 1873/74 seine Entwürfe schrieb, enthält zu Beginn eine schon abgeschlossene Fassung des ersten Kapitels der zweiten Unzeitgemäße[n] Betrachtungfj bereits überschrieben mit dem endgültigen Titel: „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie" (NF, Herbst 1873-Winter 1873-74, 30 [1], KSA 7, 725). Neben den beiden textgeschichtlichen Aspekten, daß der Blick zum einen noch auf den ,Schaden' der Beschäftigung mit Geschichte gerichtet war, und, zum anderen, Nietzsches Unentschiedenheit hinsichtlich der Kategorie des Un- bzw. Überhistorischen noch stärker zu Tage lag, ist die Aufzeichnung vor allem deshalb von Interesse, weil sich dort ebenfalls noch ein Abschnitt befindet, dessen Thematik aus der späteren Schrift gänzlich verschwunden ist.45 Nur eine an dieser Stelle für den übrigen Text ungewöhnliche Vokabel läßt auf ein fehlendes Textstück oder einen verworfenen Gedanken schließen. In der endgültigen Fassung von Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben liest sich folgender Satzteil: „Mag unsere Schätzung des Historischen nur ein occidentalisches Vorurtheil sein [...]." (HL 1, KSA 1, 256; kursiv, S. G.) Trotz Nietzsches Faszination für Schopenhauers Wendung zu asiatischen Denkweisen und trotz der oftmals seiner Zeit voraus seienden Fragestellungen ist diese Formulierung dennoch eine, die im Text isoliert zu stehen scheint. Vorangehend findet sich ein Absatz, in dem Nietzsche von der „Uebersättigung" durch ,Geschichte' und einem daraus resultierendem „Ekel" schreibt, die für ihn in der „immer neu hinzuströmenden Zeichenschrift" (HL 1, KSA 1, 256) begründet liegt, welcher der ,überhistorische' Mensch auszuweichen wisse. Der Absatz folgt wiederum direkt auf die Bedeutungsverschiebung innerhalb der Kategorien ,Historisch' und ,Unhistorisch'. Er wird beschlossen von einem Zitat Giacomo Leopardis, dessen Gedanken über die Tierherde aus dem Gedicht Nachtgesang eines Hirten in Asien Nietzsche bereits zu Beginn des ersten Kapitels -

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44 Kittsteiner wiederum resümiert diesen entscheidenden Punkt zu kurz, indem er der von Nietzsche intendierten, aber nicht durchgehaltenen Lesart folgt und „die je positiven oder negativen Aspekte jener drei Arten von Geschichtsschreibung" (Heinz Dieter Kittsteiner, „Vom Nutzen und Nachtheil", 137) als in der Schrift auf- und

ausgeführt betrachtet. 45 Manche Kritiker von Nietzsches Geschichtsauffassung vernachlässigen bei der bloßen Lektüre der Druckfassung so zwangsläufig Nietzsches kulturrelativistische Sicht, die bereits hier ihre Entfaltung findet. Berger z. B. kritisiert auf das Heftigste eine angeblich nicht vorhandene „Wahrnehmung des Fremden" (Klaus Berger, „Wahrheit und Geschichte", in: Dieter Borchmeyer (Hg.),, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben '. Nietzsche und die Erinnerung in die Moderne, Frankfurt a.M. 1996, 89-107, hier 92) in Nietzsches zweiter Unzeitgemäße[n] Betrachtung]]. Nietzsche plädiere statt dessen für einen „heute völlig unverständlichen Sieg über andere Kulturen" (ebd.). Dabei beruft sich Berger auf eine Stelle zu Ende der Schrift, in der Nietzsche nur die kulturelle Vormachtstellung des antiken Griechenlands erklärt. (Vgl. HL 10, KSA 1, 334) Bei Nietzsche steht weniger der Sieg einer einzelnen Kultur zur Disposition, als die Gefahr des Untergangs von Kulturen. -

Nietzsches Schreiben als kritische Geographie

239

paraphrasierte und den berühmten Auftakt des Buches bildet, dort jedoch nicht als Zitat gekennzeichnet ist.46 In der entsprechenden Vorstufe befindet sich an dieser Stelle kein Zitat Leopardis, wohl aber zu Anfang des Kapitels noch originale Zeilen aus dem Gedicht allerdings ebenfalls ohne Nennung des Autors. Anstelle des später eingefügten und dem einzig beibehaltenen Zitat Leopardis befand sich ein anderthalbseitiger .Exkurs' über „die Inder". Sein Anfang lautet: -

„Solche Betrachtungsart [sc. die unhistorische] ist bei uns selten und anstössig, denn wir fordern

gerade

Unersättlichkeit in der

Betrachtung

des Geschehenden und

die immer sagt, fortschreiten', im ehrenden Sinne die geschichtlichen' Völker; ja wir verachten die andersgesinnten, z. B. die Inder, und pflegen uns ihre Art aus heissem Clima und allgemeiner Trägheit, vor allem aus der sogenannte ,Schwäche der Persönlichkeit' abzuleiten: als ob unhistorisch leben und denken immer das Zeichen der Entartung und der Stagnation sein müsse. Es quält unsre Gelehrten, mit der Herstellung einer indischen Geschichte so gar nicht fertig werden zu können: sie werden selber um ihre Ableitung der Litteraturgattungen nach occidentalischem Schema misstrauisch und zweifeln selbst in solchen Allgemeinheiten, ob z. B. eine so mächtige und ausgebildete Philosophie wie die SankhyaPhilosophie vor- oder nach-buddhaistisch sei: solcher Zweifel und Misserfolge wegen rächen sie sich dann durch jene Missachtung am so querköpfigen trägen und stagnirenden Völkern. Die historischen Menschen merken nicht, wie unhistorisch sie sind und wie auch ihre Beschäftigung mit der Geschichte nicht im Dienste der Erkennmiss, sondern des Lebens steht. Vielleicht betrachten hinwiederum die Inder unsre Gier nach dem Geschichtlichen und unsre Schätzung der .geschichtlichen' Völker und Menschen als ein occidentalisches Vorurtheil, oder sogar als eine Krankheit der Köpfe [...]?" (NF, Herbst 1873-Winter 1873-74, 30 [2], KSA 7, 725-730, hier 728 f.)47

Völker, die mit diesem unersättlichen Drange weiter leben und, wie

nennen

man

Nietzsche wartet hier mit den schon bekannten Themen auf: Die selbstwidersprüchliche ,Objektivität' der Geschichtswissenschaftler und deren eigentliche Subjektivität', d. h. ihre ,Ungeschichtlichkeit'. Neu ist die Perspektive, die er einnimmt. An allen anderen Stellen, an denen Nietzsche die Historisierung kritisiert, vollzieht er dies immanent, d. h. mit Mitteln der Geschichtsphilosophie selbst oder zumindest in der internen Diskussion mit diesen. Hier jedoch führt Nietzsche ein Argument ein, das eine externe Position benötigt: Nietzsche fordert zu einem Gedankenexperiment auf, aus der Position einer existierenden Kultur zu denken, -

Vgl. Jörg Salaquarda, „Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung", 27 f., bes. Anm. 60. 47 Das Ende der Vorstufe hat weder Bezug zu dem Thema der Inder, noch kommt es im späteren Text vor. Der Text der Druckfassung beginnt mit einer parallelen Formulierung zum Anfang des letzten Absatzes im zitierten Abschnitt: „Doch lassen wir den Uberhistorischen Menschen ihren Ekel und ihre Weisheit [...]." (KSA, HL 1, KSA 1,256). Dieser Umstand wird von Salaquarda nicht berücksichtigt. Eine Vorformulierung der Textstelle findet sich bereits in NF, Sommer-Herbst 1873, 29 [88], KSA 7, 669-671. Auffallend ist hier, daß Nietzsche die 46

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Bezeichnung .geschichtlich' bei „geschichtlichen Völkern" (NF, Sommer-Herbst 1873, 29 [88], KSA 7, 670) noch nicht wie in jenem Textstück zur Kennzeichnung der Relativierung des Ausdrucks in Anführungszeichen gesetzt hat.

Stephan Günzel

240

europäischer Sicht und besonders aus der Sicht Hegelianischer Geschichtsphilosophen als .ungeschichtlich' betrachtet werde.48 Hegel hatte dem Volk am Indus zugeschrieben, seine Existenz sei im Vergleich zu der der Griechen durch die große Entfernung zum Meer und der bloßen Flußnähe „ver-

welche

aus

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-

dumpfend".49 Nietzsche scheint darauf direkt zu antworten, wenn er schreibt, daß wir „die -

48 In diesem Zusammenhang ist eine bisher unveröffentlichte Nachschrift einer Vorlesung über „Allgemeine Geschichte der Philosophie" (GSA 71/41, C II 1) durch Nietzsche während dessen zweitem Semester seines Studiums in Bonn bei Professor Carl Schaarschmidt im Jahre 1865 von größtem Interesse: Der Text wurde in die von Mette begonnene Historisch-kritische Gesamtausgabe nicht aufgenommen, da es sich ,nur' um eine Nachschrift handelt. Figl vollzieht in einem Bericht Nietzsches erste nachgewiesene Bekanntschaft mit dem (philosophischen) Denken Indiens sowie mit der Geschichte der okzidentalen Philosophie nach. (Vgl. Johann Figl, „Nietzsches frühe Begegnung mit dem Denken Indiens. Auf der Grundlage seiner unveröffentlichten Kollegnachschrift aus Philosophiegeschichte (1865)", in: Nietzsche-Studien 18, Berlin/New York 1989,455-471.) Wie aus späteren Publikationen Schaarschmidts besonders aus Der Entwicklungsgang der neueren Speculation als Einleitung in die Geschichte der Philosophie von 1857 (vgl. ebd., 461, Anm. 18) zu ersehen sei, denke dieser trotz kritischer Distanzierung im Geschichtsverständnis Hegels. (Vgl. dazu auch ebd., 469 f., Anm. 40.) Schaarschmidt vollzieht „organisch eine Dreiteilung" (ebd., 464), in der unter Ausgrenzung der „semitischen] V[ölker]" als „unphilosophisch" essentiell ,,[d]rei große Stufen" (Nietzsche zit. nach ebd.) der Entwicklungsgeschichte der Philosophie angenommen werden. Die drei seien die, indische', die .griechische' und die „neuere", die „unter dem Einfluß des Christenthums stehe" (Nietzsche zit. n. ebd.). Schaarschmidt rechtfertigt der Nachschrift Nietzsches zufolge den Dreischritt durch die Zuordnung von Bewußtseinsstufen, die von einem pantheistischen, naturverbundenen in Indien über einen subjektiven Zustand in Griechenland hin zu der „Versöhnung der Gegensätze" (Nietzsche zit. nach ebd., 465) in und mit der neueren, christlichen Philosophie führten. Nicht nur der programmatische Antisemitismus orientiert sich an Hegels Geschichtsphilosophie, sondern im Anschluß an die gegebene Darstellung- auch die Einschätzung der indischen Philosophie bzw. des indischen Denkens. Diese wird wie folgt beurteilt: „Die Indische [Philosophie; S. G] ist noch nicht gehörig durchforscht, sie zeigt nur Elemente u. besitzt keinen logische[n] Fortschritt, gehemmt durch hieratische[s] Element. Dazu wirken geographische] u. historische Eindrücke." (Nietzsche zit. nach ebd., 465; kursiv, S. G.) Daraus folgert Schaarschmidt unter der von Nietzsche verzeichneten Überschrift „,Die alte Philosophie'": „Wir schneiden die orientalische [Philosophie, S. G] einfach ab" (Nietzsche zit. nach ebd., 469). Wichtig an dem „gängigen Modell[]" (ebd.), wie Figl kommentiert, ¡st in Anbetracht der hier zur Diskussion stehenden späteren Aufzeichnung Nietzsches für das erste Kapitel in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben und somit für die Rekonstruktion von Nietzsches Abwendung von der historisch orientierten Philosophie hin zu einer .Geographie der Philosophie' das Kriterium für die Ausgrenzung der nicht-okzidentalen Philosophie als unter okzidentalen Maßstäben gerade nicht .philosophischer'. Anders als das .semitische' Denken, dem das Prädikat philosophisch a priori aberkannt wird, ist das .orientalische' Denken, welches mit dem .indischen' hier und bei Hegel gleichgesetzt wird, zunächst Teil der Geschichte der Philosophie bzw. bei Hegel der Philosophie der Geschichte. Erst die „geogr u. historische[n] Eindrücke" erlauben, die Zäsur zu setzten, die .Griechenland' als den Beginn der Philosophie auszeichnet. Anders aber als bei Hegel wird dieses Diktum von Schaarschmidt relativiert: Die indische Philosophie sei „noch nicht gehörigdurchforscht" um dies Urteil als ein ewig gültiges zu betrachten. Es liegen hier nun zwei Paradoxa vor: Zum einen ist die Begründung des Ausschlusses von Denkgebieten' -dem semitischen' auf der einen und dem .indischen' auf der anderen-in jedem Falle eine andere bzw. genau betrachtet liegt im Falle der Ausgrenzung des .semitischen' Denkens überhaupt keine Begründung vor. Zum zweiten ist die indische Philosophie zunächst der notwendige erste Schritt der Bewegung des philosophischen .Geistes' von der Natürlichkeit zur Negation im Subjektiven und weiter zur synthetischen Aufhebung des Gegensatzes im christlichen Denken, um dann aber von hier aus betrachtet als nicht mehr den Bedingungen (christlicher) Philosophie genügend gekennzeichnet werden zu können. Nietzsche könnte hieraus wiederum zweierlei für sein späteres Denken mitgenommen haben: Zum einen wurde er erstmals mit der Begründungsfigur der reziproken Kopplung von geographischen an historische Bedingungen für das .Denken' bekannt gemacht. Zum anderen konnte ihm die Chiffre .Indien' als Synonym für ein anderes Denken, aus dem das abendländische hervorgegangen und von welchem aus jenes als nicht mehr verständlich erscheine, gelten. 49 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Werke 12, 280. -

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Nietzsches Schreiben als kritische Geographie

241

andersgesinnten, z. B. die Inder" verachteten und „uns ihre Art aus heissem Clima [...] abzu-

leiten" versuchten. Durch Nietzsches vorgeschlagenen Perspektivenwechsel solle sich der Leser vorstellen, daß seine Einschätzung wie das geschichtsorientierte Denken überhaupt aus der Sicht ,unhistorischer' Völker als „occidentalisches Vorurtheil" erscheinen muß. Denn, auch wenn es nicht möglich sein sollte, zu überprüfen, ob die Sichtweise der Inder die angenommene ist, können wir uns doch eine Gruppe vorstellen, die in ihrer Kultur andere Präferenzen gesetzt hat und nach anderen Wertsetzungen urteilt. ,,[A]ls ob unhistorisch leben und denken immer das Zeichen der Entartung und der Stagnation sein müsse." Nur aus einer eurozentrischen Perspektive, die selbst nicht perspektivisch gedacht und praktiziert wird, erscheint diese andere Kultur ,minderwertig' oder .entartet' bzw. in Hegels Schema: auf einer niederen Stufe der Entwicklung des Weltgeistes angesiedelt. Nur aus dieser Perspektive schreibt man diesen Menschen eine biologisch-geographisch bedingte, „schwache Persönlichkeit" zu. -

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3. Nietzsches

Geophilosophie

3.1. Nietzsche über klimatischen Determinismus Doch Nietzsche macht dieses Gedankenexperiment nicht vollends zu seinem Credo. Es finden sich zahlreiche Hinweise und Aussagen, in denen Nietzsche die Idee eines kausalen Determinationsverhältnisses zwischen Klima und geistiger oder körperlicher Entwicklung unterschreibt. Jedoch bleiben zu Hegels geophilosophischen Theoremen gleichwohl fundamentale Unterschiede bestehen: Beispielsweise in Jenseits von Gut und Böse im letzten Abschnitt über die Frage danach, wie sich das aristokratische' bzw. die ,Herren-Moral' bestimme, erörtert Nietzsche die Herkunft von Volksgemeinschaften'. Dort zeichnet er hypothetisch eine klimatisch-sensuell-linguistische Genealogie der Entstehung dieser Gemeinschaften nach. Nietzsche fragt: „Was ist zuletzt die Gemeinheit?" (JGB, „Neuntes Hauptstück: was ist vornehm?", 268., KSA 5, 221 f., hier 221.) Nietzsches eröffnendes Wortspiel, welches die Wertung dieser Ge/we/rcsamkeiten gleich mitliefert, nach der zu suchen er sich im moralischen Kosmos innerhalb von ,Gut' und ,Böse' anschickt, wird gefolgt von einer Ellipse seiner bekannten These aus „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne":

„Worte sind Tonzeichen für Begriffe; Begriffe aber sind mehr oder weniger bestimmte Bildzeichen für oft wiederkehrende und

zusammen

pfindungs-Gruppen." (JGB, KSA 5, 221)50

kommende

Empfindungen,

für Em-

Doch Nietzsche geht hier über seine frühere These hinaus, indem er diese Entwicklung nicht wie 1873 als zwar höchst artifiziell, aber dennoch als eine notwendige beschreibt, sondern

nur

50 „Was ist ein Wort? Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten. [... ] Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue." (WL 1, KSA 1,875-886, hier 878 f.)

Stephan Günzel

242

eine Identität, zumindest eine Übereinstimmung zwischen „Empfindungen" und „Empfindungs-Gruppen" postuliert: Die Sprache als „Tonzeichen", diese als mehr oder weniger diffuse Referenzen auf innere „Bildzeichen" und diese wiederum auf „Empfindungen", schaffe die „Gemeinheit", die Voraussetzung für Intersubjektivität und Gruppen- bzw. Kulturbildung. Die „Empfindungen" seien also das, was Gemeinsamkeit ermögliche und stifte. Doch woher die gemeinsamen „Empfindungen"? Nietzsches Antwort: Es sind „ähnliche Bedingungen", wie die „des Klima 's, des Bodens, der Gefahr, der Bedürfhisse, der Arbeit", die dazu führten, daß „daraus Etwas [entsteht], das ,sich versteht', ein Volk" (JGB, 9. Hauptstück, 268., KSA 5, 221; kursiv, S. G). Nietzsche setzt diese vier ,volksstiftenden' „Bedingungen" im veröffentlichten Text in Klammern als eine Aufzählung von Möglichkeiten. In der Entwicklung des Gedankens zu Text „268" aus Jenseits von Gut und Böse nimmt der klimatische Aspekt noch die zentrale Rolle unter drei Faktoren ein, welche sich dort nicht als mögliche, sondern als vollständige -

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Aufzählung präsentieren.51 Die Genealogie eines ,Volkes' gestaltet sich nach Nietzsche also in einer Sequenz von Gemeinsamkeiten wie folgt: Klima oder „Boden" Empfindung Idee bzw. Empfindungsbild Begriff- artikulierter Ton mitteilbares Wort. ,,[D]ie Geschichte der Sprache ist die Geschichte eines Abkürzungs-Prozesses" (JGB, 9. Hauptstück, 268., KSA 5, 221), schreibt Nietzsche. An ihrem Anfang stehe ein ,Klima' oder ein gemeinsamer ,Boden' im weitesten Sinne, an ihrem Ende ein ,Volk'. Aus diesen auf klimatische Phänomene rückführbaren, gemeinsamen Empfindungsäußerungen resultieren für Nietzsche wiederum die Gruppen von bevorzugten Empfindungen, die letztlich die ,Werte' eines jeweiligen Volkes oder auch anderer Gruppierungen, ihre ,Güter', bestimmten.52 -

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hier also nicht nur die Möglichkeit einer klimatischen Bestimmung von zu, sondern verbindet sie direkt mit dem, was Menschen in diesen Klimaten als Inhalte ihrer Moral für ,wert' erachten. Sieht man von der übergreifenden Teleologie der Gesamtkonzeption ab, so war Hegels implizite These den Einfluß der verschiedenen Klimate betreffend nicht viel anders geartet: Hegel bedenkt zwar nicht den sprachtheoretischen Zwischenschritt, den Nietzsche in die Überlegung aufnimmt, doch Nietzsche gibt (Volks-)Gruppen

„Daß man sich versteht, dazu gehört noch nicht, daß man dieselben Worte gebraucht: man muß dieselben Worte auch für dieselbe Gattung innerer Erlebnisse brauchen und man muß diese gemeinsam haben. Deshalb verstehen sich die Menschen Eines Volkes besser: oder, wenn Menschen lange in ähnlichen Bedingungen des Climas, der Thätigkeiten, der Bedürfnisse zusammen gelebt haben, so gewinnt eine gewisse Gattung von solchen ihnen allen /rac/w/verständlichen Erlebnissen die Oberhand: das ic/ineWe Sich-Verstehn ist die Folge." (NF, April-Juni 1885, 34 [86], KSA 11, 448) 52 „Welche Gruppen von Empfindungen innerhalb einer Seele am schnellsten wach werden, das Wort ergreifen, den Befehl geben, das entscheidet über die gesammte Rangordnung ihrer Werthe, das bestimmt zuletzt ihre Gütertafel. Die Werthschätzungen eines Menschen verrathen etwas vom Aufbau seiner Seele, und worin sie ihre Lebensbedingungen, ihre eigentliche Noth sieht." (JGB, 9. Hauptstück, 268., KSA 5,222.) In der Vorstufe ist Nietzsches Analyse noch persönlicher: „Es [sc. das Sich-Verstehn] ist das Bedürfniß, schnell und leicht seine Bedürfnisse verstehn zu geben, was Menschen am festesten an einander bindet. Andererseits hält Nichts von Freundschaft, Liebschaft fest, wenn man dahinter kommt, daß man bei den Worten Verschiedenes meint. Welche Gruppen von Empfindungen im Vordergrund stehn, das bedingt nämlich die Werthschätzungen: die Werthschätzungen aber sind die Folge unserer innersten Bedürfnisse. / Dies ist gesagt, um zu erklären, warum es schwer ist, solche Schriften wie die meinigen zu verstehen: die inneren Erlebnisse, Werthschätzungen und Bedürfnisse sind bei mir anders. Ich habe Jahre lang mit Menschen Verkehr gehabt und die Entsagung und Höflichkeit so weit getrieben, nie von Dingen zu reden, die mir am Herzen lagen. Ja ich habe fast nur so mit Menschen gelebt. -" (NF, April-Juni 1885, 34 [86], KSA 11, 448). 51

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Nietzsches Schreiben als kritische

Geographie

243

knüpft er die Ausprägung der Sittlichkeit und die der Staatsformen an geographische Grundbedingungen von ,Klima' und ,Boden'. Der eine Unterschied zwischen Hegel und Nietzsche liegt in der Teleologie: Bei Nietzsche

bestehen diese moralischen Klimate sowohl in der Geschichte nacheinander als auch nebeneinander -jedoch ohne eine Relation zueinander. Sie sind eben alle Ausdruck eines Willens zur Mächtigkeit qua Gemeinschaftsbildung. Hegel dagegen ordnet die moralischen Klimate auf einer exakt festgelegten Route an, auf dem ,Weg der Geschichte'. Der andere Unterschied besteht in Nietzsches Einschätzung dieses von ihm diagnostizierten Sachverhalts: Für Hegel ist die moralisch-staatliche Weltlandschaft der Geschichte ,gut' in dem Sinne, daß sie angeblich .wirklich' sei.53 Für Nietzsche sind diese .Volksbildungen' unter Eindruck eines bestimmten Klimas eine Weise der Hingabe an Moral und Werte, ohne die Inhalte durch die Überprüfung ihrer Herkunft auf ihren Ursprung und damit ihren aktuellen Status, ihre Geltung zurückzuführen. Erst dann könne die ,Künstlichkeit', das Artifizielle der Moral, das gerade in der jeweiligen Abhängigkeit von den natürlichen' Bedingungen der Klimate bestehe, zum ,Vorteil' der Menschen umgestaltet werden. Ohne Zweifel mißbilligt um nicht zu sagen: verachtet Nietzsche solche Art von Werteherkunft bzw. Moralursprung, denn sie bzw. er ist ihm Ausdruck ,sklavischer' Wahrnehmungslosigkeit gegenüber den Bedingungen von Existenz überhaupt: Die „ZukunftsAufgabe des Philosophen" und der Philosophie solle es deshalb sein, „die Rangordnung der Werthe zu bestimmen" (GM, „Erste Abhandlung: ,Guf und ,Böse', ,Gut' und ,Schlecht'", 17., „Anmerkung", KSA 5, 288 f., hier 289), und unter anderem eben Moralen der bloß klimatisch-ethnischen Herkunft einen unteren Platz in der Hierarchie zuzuweisen. Dabei bestätigt Nietzsche jedoch stets die Richtigkeit der Annahme der Existenz eines klimatischen Determinismus für diesen ausgewiesenen Bereich. Der Kontext, in dem Nietzsche diese Aufgabe der ,Zukunftsphilosophie' definiert, ist sein Wunsch, den er in Zur Genealogie der Moral äußert, „eine Reihe akademischer Preisausschreiben" würden veranstaltet, in denen die „Entwicklungsgeschichte der moralischen Begriffe" (KSA 5, 288 f.) untersucht werden sollen. Neben der von ihm schon ausgearbeiteten „ethymologischefnj" soll dabei auch die „physiologischefj" (KSA 5, 289) Untersuchung eine zentrale Rolle spielen. Auch hier nennt Nietzsche als maßgebliches Beispiel die Differenz zwischen Werten, die zur „Steigerung" der „Anpassungskräfte an ein bestimmtes Klima" (KSA 5, 289; kursiv, S.G.) dienten also die klimatischen Determinanten einer bestimmten Moral verstärkten -, und Werten, die eine Herauslösung aus der Symbiose ,Moral-Klima' bewirkten. Letzteres evoziere die Ausbildung ,,eine[s] stärkeren Typus" ersteres dagegen manifestiere die Identität und Permanenz „einer Rasse" (KSA 5, 289).54 Der ,Herr' Nietzsches ist derjenige, welcher sich weitestgehend vom klimatischen Determinismus bzw. zunächst von den lokalen klimatischen Voraussetzungen emanzipiert hat, die seinen kulturellen und moralischen Kontext bestimmten. -

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53 Vgl. Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Werke 7, 24. 54 Hier handele es sich um Werte, die „das Wohl der Meisten" befördern, dort um Werte, die „das Wohl der Wenigsten" (ebd.) bewirken. ,,[A]n sich schon den ersteren für den höherwerthigen zu halten, wollen wir der Naivetät [sie!] englischer Biologen überlassen..." (GM, 1. Abh., 17., KSA 5, 289).

Stephan Günzel

244

3.2. Kritische

Geographie

Wiederum breche ich hier die Untersuchung der geophilosophischen Überlegungen Nietzsches um mich abschließend der Rückbindung an den Status des ,Kritischen' im Denken Nietzsches in bezug auf das geographische' zuzuwenden. Nietzsche entdeckt bzw. entwickelt die Dimension der ,Kritik' an einem Punkt in der Reflexion über Geschichtsschreibung, an dem er das Prinzip von (philosophischer) Geschichtsrekonstruktion gefunden zu haben glaubt. Das Prinzip, nach welchem sich seiner Meinung nach ,Interpretationen' in Historie einschreiben und sie gleichsam erst ermöglichen, ist vom ,Leben' selbst gegeben. Unabhängig vom jeweiligen Inhalt der Lebensform bestehe ein Mechanismus, der die unterschiedlichen Typen von Geschichtsbetrachtung nach zuträglich' und ,abträglich' für das ,Leben' beurteile, unterscheide, im wörtlichen Sinne: kritisiere. Bei Hegel findet Nietzsche einen exemplarischen Vertreter zwar unterscheidender, aber in seinem Sinne ,««kritischer' Geschichtsphilosophie: Hegel bedient sich zwar des Mechanismus einer apodiktisch-praktisch verfahrenden Geschichtsinterpretation, verkennt aber deren Anwendungsbezogenheit und damit die Perspektivität einer jeden Interpretation von Geschichte aus der Sicht Nietzsches. An der Frage nach der Determination von Geschichte durch geographische bzw. klimatische Faktoren entscheidet und verdeutlicht sich die Differenz zwischen den beiden Auffassungen: Hegel verurteilt aus der ihm aktuellen Sicht Europas vergangene Stationen der Geschichte als ,minderwertig'. Nietzsche arbeitet diesem ,Hegel' zweifach entgegen. In einer frühen Phase (Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben) schlägt er eine hypothetische Umkehrung der Annahme vor: Anstelle der geschichtlichen Betrachtung geographischer Bedingungen, deren Existenz Nietzsche nicht bestreitet, könnte eine geographische Betrachtung der Geschichte treten, die diese Art der Geschichtsbetrachtung oder Geschichtsbetrachtung überhaupt als einen Minderwertigkeit oder zumindest einen Ideosynkratismus der entsprechenden Menschen einschätzt. Zu einem späteren Zeitpunkt (Zur Genealogie der Moral) wendet Nietzsche die im Dienste des Lebens stehende Kritik dazu an, ein Kulturmodell zu entwerfen, welches sich durch eine aktivische Befreiung von angenommenen geographischen Determinanten auszeichnet. Die Erhebung über klimatische Bedingungen ist hier Kennzeichen des kritischen Umgestaltens von historisch vorgegebenen Bedingungen. Der Status der ,Kritik' in Nietzsche wurde im Durchgang an das Thema der .Geographie' und durch sie an das der .Geschichte' gebunden. Gleichwohl es nicht die einzig mögliche Definition von ,Kritik' innerhalb des philosophischen Denkens ist, ist sie bei Nietzsche in der genannten Konfiguration präsent. Da dieser Bereich noch zu großen Teilen in den ,tropischen' Regionen des Kontinents ,Nietzsche' liegt, sei mit dieser Expedition ein Anfang gemacht.

ab,55

55

zur geophilosophischen Relevanz von Nietzsches Denken habe ich bereits aus Anlaß der letztjährigen Nietzsche-Werkstatt ausgehend von der .Leibproblematik' bei Nietzsche vorgetragen. (Vgl. dazu die Veröffentlichung des Tagungsbeitrages von 1997 in diesem Doppelband) Zu dem auf Gilles Deleuze zurückgehenden Verständnis von Philosophie als .Geophilosophie' vgl. auch Stephan Günzel, Immanenz. Zum Philosophiebegriff von Gilles Deleuze, Essen 1998, 130-135.

Erste, vorbereitende Gedanken

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Martin Mühl

Nietzsche als

„Drehscheibe"?

Der Leib und die Normativität der Kritischer Theorie

Grundlagen

Einleitung In seinen Vorlesungen Der philosophische Diskurs der Moderne bezeichnet Habermas Nietzsche als „Drehscheibe".' Damit möchte er zum Ausdruck bringen, daß Nietzsches Philosophie eine radikale Wende in der Kontroverse über die Moderne begründet. Von Nietzsche geht eine Argumentationslinie aus, welche die modernen Bemühungen um eine Verankerung der Vernunft im Subjekt umkehrt. Zum besonderen Gegner nimmt sich Nietzsche den Versuch Hegels und seiner Nachfolger, die Lösung der modernen Probleme in der Geschichtlichkeit des menschlichen Bewußtseins zu suchen. Diese gegenläufigen Linien zeichnet Habermas in seinem Buch nach, um zu verdeutlichen, daß die Hegeische dann erfolgversprechend ist, wenn die Geschichtsphilosophie durch eine Gesellschaftstheorie abgelöst und sprachphilosophisch ausgearbeitet wird. Die von Nietzsche ausgehende Linie muß seiner Meinung nach dagegen ins Leere laufen, weil sie prinzipiell nicht zeigen kann, auf welcher Grundlage sie ihre Kritik- und Änderungsansprüche an die Moderne errichtet. Im folgenden wird dafür argumentiert, daß Nietzsches naturphilosophisches Anliegen nicht notwendigerweise mit der von Habermas ins Auge gefaßten sozialtheoretischen Rechtfertigung philosophischer Kritikansprüche kollidiert, sondern durchaus eine Interpretation erlaubt, die in der Konsequenz des Habermasschen Ansatzes liegt und für diesen sogar eine notwendige Ergänzung darstellt. Nietzsche macht auf ein Problem aufmerksam, das Habermas entgegen seiner eigenen Meinung nicht berücksichtigt und das aus sozialphilosophischer Sicht auch grundsätzlich nicht in den Blick zu kommen scheint. Zwar haben nach Nietzsche Hermeneutik, sprachanalytische Philosophie und Pragmatismus die sozialen Grundlagen allen Verstehens zu Bewußtsein gebracht, aber diese sozialphilosophische Einsicht bleibt bisher an wichtiger Stelle unzureichend. Darauf stößt uns Nietzsche. Durch seine Umkehr der geschichtsphilosophischen Perspektive auf das Verhältnis von Sozialität und Natur rückt er den Konflikt der Sozialphilosophie mit dem Naturthema in den Blick. Dieser Sachlage muß auch die normative Begründung philosophischer Kritik Rechnung tragen. Die folgende Erörterung soll verdeutlichen, daß nicht nur Nietzsches naturphilosophische Aussagen aufgrund seiner Destruktion sozialphilosophischer Voraussetzungen unzureichend begründet bleiben, sondern ein umgekehrter Begründungsmangel auch in Habermas' Kommunikationstheorie besteht.

1

Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 1985,

104.

Martin Mühl

246

Wir werden damit beginnen, Habermas' Einwand gegen den Begründungsmangel bei Nietzsche zu vergegenwärtigen, um dann gegenüberzustellen, auf welcher Grundlage Habermas selbst einen philosophischen Kritikanspruch für gerechtfertigt hält. Im dritten Schritt wird eine etwas veränderte Interpretation Nietzsches vorgeschlagen, um schließlich zu verdeutlichen, inwiefern Habermas' und Nietzsches Anliegen aufeinander angewiesen sind.

Habermas' Kritik

an

Nietzsche

Habermas legt dar, daß Nietzsche wie Hegel und seine Nachfolger das zentrale Problem der Moderne in deren „Subjektzentrismus" sieht. Der Unterschied zwischen der Hegelschen und Nietzsches Kritik liegt in der Begründung. Während für Hegel das Problem dieser Zentrierung aus der unvollständigen Integration des Subjekts in einen universalen, geschichtlichen Geist resultiert, findet Nietzsche die Ursache darin, daß der moderne Mensch seine Einbindung in die Natur zunehmend auflöst. Entsprechend suchen beide nach grundverschiedenen Lösungen des Zentrismusproblems. Während die historistische Kritik die Lösung in einer geschichtstaeoretischen Reformulierung des Subjektbegriffs ausmacht, liegt für Nietzsche das anzusteuernde Ziel in der Reintegration des Menschen in die Natur durch Auflösung des historistischen Subjektbegriffs. Hegel hält mit der Aufklärung an der Vernünftigkeit des Subjekts fest. In ihr sieht er die Chance zu dessen Emanzipation und Selbstverwirklichung. In Nietzsches Augen ist weder diese Vorstellung vom vernünftigen Subjekt eine Neuheit noch ihre Verwirklichung erstrebenswert. Vielmehr setzt sich in ihr nur ein bereits lange existierender Irrglaube fort, der den Menschen seiner natürlichen Lebensgrundlagen entfremdet und zunehmend lebensuntüchtig macht. Indem Nietzsche so dem Subjekt abspricht, über ein Vernunftvermögen zu verfügen, verzichtet mit ihm, so Habermas, „die Kritik der Moderne zum ersten Mal auf die Einbehaltung ihres emanzipatorischen Gehaltes."2 Die Argumentation kehrt sich um. Die Emanzipation ist nicht die Lösung, sondern das Problem der Moderne. Daher kann die Moderne ihre Orientierungsmaßstäbe entgegen dem Glauben des Historismus nicht durch eine

Selbstanalyse finden.3

Für die Suche nach Orientierungsmaßstäben benutzt Nietzsche wie der Historismus das Mittel der Geschichtskritik. Allerdings versteht er etwas anderes hierunter. Der Historismus beabsichtigt auf diese Weise, das immanente Ziel der Geschichte aufzudecken. Nietzsche möchte dagegen durch Geschichtskritik vor die Ursprünge des geschichtlichen Denkens zurückführen, um hier ein Bewußtsein freizulegen, das die Menschen noch nicht von der Natur entfremdet hat. Ein solches Denken findet Nietzsche im antiken Mythos vom Halbgott Dionysos. Aus dieser Aufgabenstellung folgert Habermas:

„Nietzsche benützt die Leiter der historischen Vernunft, um sie am Ende wegzuwerfen und im Mythos als dem Anderen der Vernunft Fuß zu fassen".4

2 3

Ebd., 117.

Habermas schreibt in bezug auf Nietzsche: „Insbesondere die historistische Verformung des modernen Bewußtseins, die Überflutung mit beliebigen Inhalten und die Entleerung von allem Wesentlichen läßt ihn daran zweifeln, daß die Moderne ihre Maßstäbe noch aus sich selber schöpfen könnte". Ebd., 107. 4 Ebd.

Nietzsche als Drehscheibe"? „

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Habermas hebt hervor, daß Nietzsche mit seiner Forderung nach einem geschichtlichen Rückgang auf archaische Mythen keine restaurativen Absichten verfolgt. Denn

„einerseits verstärkt die historische Aufklärung nur die in den Errungenschaften der Moderne fühlbar gewordenen Entzweiungen [...] Andererseits ist der Moderne der Weg zurück in die Restauration verlegt. Die religiös-metaphysischen Weltbilder der alten Zivilisation sind selber schon ein Produkt der Aufklärung, zu vernünftig also, um der radikalisierten

Aufklärung der Moderne noch etwas entgegensetzen zu können."5

Nietzsche negiert nicht die Moderne, sondern sucht nach einem Weg, auf dem sich das moderne Bewußtsein mit Hilfe des archaischen für Erfahrungen öffnet, denen es sich bisher aufgrund falscher Selbsteinschätzung verweigerte. Die Erfahrungen, welche Nietzsche hier vor Augen stehen, sind affektiver, nicht reflektorischer Art. Sie kommen durch rauschhafte Verschmelzungen mit anderen Menschen und der Natur zustande. Nietzsche interessiert am Mythos des Halbgottes Dionysos dessen Rolle als Gegenspieler des Gottes Apollo. Letzterer ist in der Antike eine ethische Gottheit. Er verkörpert das Prinzip der Individuation, demzufolge sich die Suche des Menschen nach sich selbst durch Unterscheidung und maßvolles Handeln in der Anschauung erfüllt. Es ist das Prinzip, nach dem sich das ursprünglich Einzelne erschauen läßt. Dem steht Dionysos entgegen. Er verkörpert die Befreiung von dem Zwang zur vereinzelnden Selbsterkenntnis und die Wiedergewinnung der grenzenlosen Einheit mit der Natur. Diese „Selbstvergessenheit" beruht auf einem rauschhaften Zustand. In ihr wird sich das Individuum seiner Verbundenheit mit Natur als der Grundlage aller Individuation inne (GT, KSA 1, 39-42).6 Nietzsche geht es infolgedessen, so Habermas, nicht wie der Romantik um eine Liberalisierung der Subjektivität gegenüber dem anderen seiner selbst. Es geht ihm nicht um die Befreiung des modernen Menschen von Leid. Es geht ihm um die Befreiung „von allen Beschränkungen der Kognition und der Zwecktätigkeit, allen Imperativen der Nützlichkeit und der Moral befreiten Subjektivität", und damit um eine „Verschmelzung mit der amorphen Natur".7 Die Schmerzhaftigkeit dieser „Entdifferenzierung" ist ihr Preis. Sich ihr wie die Romantiker durch Festhalten am Emanzipationsanspruch entziehen zu wollen, stünde ihrem Ziel entgegen. Das unumgängliche Leiden dagegen zu akzeptieren verspricht, den Menschen mit der Erneuerung und Verschönerung seines Lebens zu entlohnen. Die Aufgabe, welche in der Antike der Mythos des Dionysos übernahm, möchte Nietzsche in der Moderne der Kunst, und hier in erster Linie der Musik zuweisen. Denn indem sie ihre Wirkung nur im aktuellen Augenblick ihres Ereignisses entfaltet, verfügt sie über die „überhistorische Macht", den rein subjektiven Erlebnissen der modernen Menschen, ihren Lebensgefühlen, zum Ausdruck zu verhelfen.8 Auf diese Weise stiftet die Musik ästhetisch eine neue Mythologie. Sie hält Nietzsche für fähig, die moderne Entfremdung zwischen den Menschen sowie zwischen Mensch und Natur aufzuheben.

5 Ebd., 107 f. 6 Dazu ebd., 115. 7 8

Ebd., 117. Ebd., 108.

248

Martin Mühl

„Eine ästhetisch

erneuerte Mythologie soll die in der Konkurrenzgesellschaft erstarrten Kräfte der sozialen Integration lösen. Sie wird das moderne Bewußtsein dezentrieren und für archaische Erfahrungen öffnen [...] Er [Nietzsche] erwartet, ,daß der Staat und die Gesellschaft, überhaupt die Klüfte zwischen Mensch und Mensch einem übermächtigen Einheitsgefühl weichen, welches an das Herz der Natur zurückführt'."'

Nietzsche möchte die Moderne retten, indem er dasjenige an ihr aufgibt, was sie selbst für ihre wichtigste Errungenschaft hält. Gegen diese Umkehrung wendet Habermas ein, sie sei fundamental widersprüchlich und daher unhaltbar. Zwar spricht er Nietzsche „eine gewisse Suggestivität" zu, insofern er Maßstäbe in Anspruch nimmt, die für die moderne Kunst eine wichtige Rolle spielen.10 Diese Maßstäbe resultieren aus der erkenntnistheoretischen Aufwertung des Geschmacks zu einem Urteilsinstrument. Aber die Berufung auf derartige Maßstäbe bleibt selbst ungerechtfertigt. Anstatt hierfür Gründe anzugeben, verweist Nietzsche auf die Bedeutung entsprechender ästhetischer Erfahrungen in der Antike. Mit diesem Verweis übergeht er, daß die Beurteilung ästhetischer Fragen nicht weniger als diejenige kognitiver oder moralischer Fragen an eine Vernunft gebunden ist, die zumindest für das formale Vorgehen beim Beurteilen beansprucht werden muß. Ein Urteil, für das wir uns nicht in der einen oder anderen Weise darauf berufen, es sei vernünftig, verliert jeglichen Anspruch, auch für andere Menschen gelten zu können."

Die

sprachlichen Grundlagen der Kritik

Um Habermas' Behauptung, jede Kritik sei bereits intern mit einem Anspruch auf Vernunft verbunden, verstehen und seinen Einwand gegen Nietzsche angemessen beurteilen zu können, müssen wir uns etwas näher damit vertraut machen, was es aus seiner Sicht bedeutet zu kritisieren. Habermas zufolge bestreitet Kritik den Kritisierten die Legitimität eines Gedankens oder einer Handlung.12 Sie macht ihnen nicht streitig, Gründe zu haben, jedoch daß diese Gründe ihren internen Ansprüchen genügen. Das geschieht durch Argumentieren. Wir bestreiten hier Gründe, indem wir zugleich für andere Gründe Geltung beanspruchen. Zentral für die Geltung von Kritik ist, daß die kritisierende Person hierfür nur solche Mittel verwendet, die der kritisierten zumindest prinzipiell auch für die Rechtfertigung ihres Gedankens oder ihrer Handlung zur Verfügung stehen. In dieser Gleichheitsvoraussetzung sucht Habermas die Vernunft, die er in Abgrenzung zu Nietzsche einfordert. Eine solche Gleichheit sieht er nur in der Sprache

9 10 11

12

Ebd., 109. Ebd., 119. er [Nietzsche] kann die zurückbehaltenen Maßstäbe des ästhetischen Urteils nicht legitimieren, weil er die ästhetischen Erfahrungen ins Archaische transponiert, weil er das im Umgang mit moderner Kunst geschärfte kritische Vermögen der Wertschätzung nicht als ein Moment der Vernunft anerkennt, das wenigstens prozedural, im Verfahren argumentativer Begründung, mit objektivierender Erkenntnis und moralischer Einsicht noch zusammenhängt." Jürgen Habermas, ebd., 119 f. Auch 149. Zum folgenden insbesondere: Jürgen Habermas, Theorie des kommumaktaiven Handelns, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1981, Kap. III u. VI, und Jürgen Habermas, „Sprechakttheoretische Erläuterungen zum Begriff der kommunikativen Rationalität", in: Zeitschriftfür philosophische Forschung 50/1996, 1 f. „...

Nietzsche als Drehscheibe "? „

249

gegeben, und das nur in einer besonderen Art des Sprechens. Wenn wir Sprache als eine Art zu handeln verstehen, zeigt sie sich im einverständnisorientierten Sprachgebrauch.13 Die Gleichheitsvoraussetzung findet sich hier als Bedingung der Prozedur, mit der Einverständnis zwischen Sprechenden hergestellt werden kann. Sie ist eine rein formale Bedingung. Ihr muß auch jede Kritik genügen, damit diese die in ihr geäußerte Absicht erfüllen kann. Die prozedurale Bedingung einverständnisorientierten Sprechens bündelt genau genommen eine Reihe verschiedener, jedoch zusammenhängender Voraussetzungen. Die Verbindung von Äußerungen mit der Erwartung von Zustimmung basiert auf normativen Voraussetzungen, in die wir uns durch die Interaktionen mit Mitgliedern unserer Sprachgemeinschaft einüben. Wir beherrschen die Normen in dem Maße, wie wir fähig werden, unseren Sprachgebrauch am

Einverständnis mit anderen zu orientieren. Die so gewonnene Kompetenz umfaßt zum einen die soziale Fähigkeit, sich sowohl in die Gesellschaft zu integrieren als auch sich in ihr als Individuum zu erweisen, zum anderen die kognitive Fähigkeit der Wissensbildung. Die normativen Grundlagen des Sprechens bestehen Habermas zufolge in drei verschiedenen Geltungsansprüchen, dem Anspruch auf Wahrheit, dem auf Richtigkeit und dem auf Wahrhaftigkeit. Jede einverständnisorientierte Äußerung beansprucht alle drei Arten von Geltung. Jedoch kann explizit jeweils immer nur eine von ihnen thematisiert werden, die anderen beiden bleiben dann implizit. Die Geltungsansprüche sind gleichermaßen grundlegend für die Herstellung sozialer Beziehungen wie für die Wissensbildung. Sozialitätsstiftend sind sie aufgrund der ihnen inhärenten Pragmatik, wissensbildend dagegen durch ihre Weltbezüge. Die Geltungspragmatik besteht in der Abhängigkeit einer Äußerung von der Zustimmung der angesprochenen Person. Wichtig ist hierbei, daß die sprechende Person selbst diese Abhängigkeit zur Geltungsvoraussetzung macht. Dafür verbindet sie ihre Äußerung mit dem Anspruch, das Gesagte solle gelten. Ohne diesen Anspruch bliebe die Äußerung für die angesprochene Person belanglos, und infolgedessen könnte sie nicht reagieren. Es käme keine Handlung zustande, an der sie sich beteiligen könnte. Der Anspruch auf Geltung impliziert ein Versprechen an die angesprochene Person. Es beinhaltet, daß, sofern sie Zweifel an der Berechtigung des Anspruchs hegt, die Rechtmäßigkeit durch die sprechende Person nachgewiesen wird. Das in der Regel nur implizite Versprechen würde dann explizit erfüllt werden. Die Erfüllungsbedingung besteht wiederum in einer Argumentation. Sie ist die Begründung, die zur Rechtfertigung des Anspruchs angeführt wird. Mit der Begründung werden jedoch neue Geltungsansprüche erhoben, die selbst wiederum aufgrund anderer Rechtfertigungen beanspruchen, erfüllt zu sein usw. Mit der Einleitung einer geltungspragmatischen Handlung durch eine einverständnisorientierte Äußerung wird folglich eine Argumentationskette hergestellt, die prinzipiell unbegrenzt ist. Im tatsächlichen Sprachgebrauch wird die Kette allenfalls ein kurzes Stück geknüpft, und selbst philosophische Erörterungen, die für ihre Aussagen den Anspruch auf besonders lange Ketten erheben, bleiben immer und notwendig höchst bruchstückhaft. Das Gelingen der Einleitungshandlung gibt die sprechende Person aus der Hand und legt es in die Hände ihrer Gesprächspartnerinnen und -partner. Sie ist selbst zwar zuständig für die Erfüllung ihrer Geltungsansprüche, die Orientierung an der Pragmatik dieser Ansprüche macht die Erfüllung der mit ihnen eingeleiteten Handlung aber von der Kooperation anderer abhängig. Die sozialisierende Funktion der Geltungspragmatik basiert demnach auf dem praktischen Zusammenhang von Anspruch, Versprechen und Erfüllung. Der soziale Effekt dieser Prozedur 13

Jürgen Habermas, „Sprechakttheoretische Erläuterungen", 76 ff.

Martin Mühl

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ist eine intersubjektive Beziehung zwischen den Beteiligten. Diese besondere Art der Sozialität erhält ihre Form durch die Gleichheit in der Beziehung zwischen den Personen. Die Gleichheit ist die des Gebrauchs sprachlicher Mittel. Wir kennen bisher erst eine Voraussetzung dieser Intersubjektivität, die Pragmatik sprachlicher Geltung. Daneben gibt es noch eine andere, nicht weniger wichtige. Sie besteht in den welterschließenden Bezügen sprachlicher Äußerungen auf unterschiedliche Bereiche der menschlichen Wirklichkeit.14 Die Welterschließungsfunktion der Sprache hat ihre Grundlage ebenfalls in den Geltungsansprüchen. Entsprechend der Unterscheidung der Geltungsansprüche in Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit differenziert Habermas daher zwischen

„der objektiven Welt (als der Gesamtheit aller Entitäten, über die wahre Aussagen möglich sind); der sozialen Welt (als der Gesamtheit aller legitim geregelten interpersonalen Beziehungen); und der subjektiven Welt (als der Gesamtheit der privilegiert zugänglichen Erlebnisse des

Sprechers)."15

Welterschließungsfünktion wird jedoch von einem anderen Satzbestandteil erfüllt als die intersubjektive Pragmatik. Letztere Funktion hat ihren Platz im sogenannten performativen Teil, die der Welterschließung dagegen in der Proposition. Beide Funktionen gehören in jedem einverständnisorientierten Akt zusammen. Sie hängen hier ebenfalls durch die Geltungspragmatik praktisch voneinander ab. Durch die Pragmatik differenziert sich die Wirklichkeit in ihre drei Bereiche und formt sich so zu einer intersubjektiv geteilten Lebenswelt. In propositionalen Äußerungen kann jeder Bereich thematisiert und durch Kritik und Begründung geändert werden. So bildet sich auch das Weltverständnis durch Argumentationsketten und ihren geltungspraktischen Zusammenhang. Aber nicht nur das intersubjektive Einvernehmen, auch die Die

verschiedenen Welten beeinflussen das Verständnis von ihnen. Dieser Einfluß beruht auf Wahrnehmungen der objektiven Welt, Erlebnissen der je eigenen subjektiven Welt und auf Interaktionen in der sozialen Welt, denen die kommunizierenden Menschen ausgesetzt sind. Über die von ihnen vorgetragenen Argumente gehen sie in die intersubjektiv geteilte Lebenswelt ein. Diese knappe Darstellung soll genügen, um eine Vorstellung davon zu vermitteln, welche Grundlagen nach Habermas jede philosophische Kritik voraussetzen muß. Es sind die Voraussetzungen, mit deren Hilfe wir beim Sprechen andere dazu bewegen wollen, unser Weltverständnis aus denselben Gründen zuzustimmen, die auch uns zu diesem Verständnis motivieren. Diese Geltungsbedingungen liefern die Maßstäbe philosophischer Kritik.16 Durch Bezug auf sie kann die Philosophie die Angemessenheit von Lebensverhältnissen beurteilen und ihre Kritik rechtfertigen. Zugleich resultiert aus diesem Begründungszusammenhang aber auch, daß die Kritik von Lebensverhältnissen nur als Gesellschafts- und nicht als Kulturkritik erfolgen kann. Denn die Sprache gibt uns nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Grenze der Welterschließung vor. Wir können den von ihr gesteckten Rahmen nicht verlassen und unabhängig von unserem sprachlichen Naturverständnis den Zusammenhang von Natur und Kultur untersuchen. Daher verfügen wir unabhängig von den sprachlichen Bedingungen auch

14

15 16

Ebd., 85 ff.

Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. I, 149. Jürgen Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a. M. 1985,174. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 396 ff.

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über keine Kriterien, um zu beurteilen, inwiefern sich kulturstiftende Grundlagen auf die Natur destruktiv auswirken können.17 Auch wenn wir der Forderung zustimmen, jede Kritik beanspruche normative Grundlagen und müsse diese um der Geltung der Kritik willen ausweisen, stellen sich Zweifel ein, ob es zur Rechtfertigung von Kritik am Umgang einer Gesellschaft mit Natur, auch mit der menschlichen Natur, genügt, sich auf Bedingungen der Sozialität zu berufen. Zwar setzt Habermas für jede soziale Verständigung neben der Intersubjektivität sowohl eine subjektive Welt der Empfindungen und Gefühle als auch eine objektive Welt wahrnehmbarer Gegenstände und Ereignisse voraus. Aber in welcher Weise hängen Sprechen und Normenbildung von ihnen ab? Eine Abhängigkeit gibt es nur sprachintern. Die Erfüllung von Geltungsansprüchen hängt immer und ausschließlich von Argumenten ab. Habermas verweist zwar auf nicht-sprachliche Welten und möchte sie in die Verständigung einbinden; er macht die Herstellung von intersubjektiven Beziehungen sogar von ihrer Einbeziehung abhängig. Aber sie kennzeichnen bei ihm eher eine Leerstelle, als daß sie und ihre Bedeutung für die Sprache ersichtlich würden.18 Mit Habermas finden wir uns grundsätzlich vor dem gleichen Problem, vor dem Nietzsche auch den Historismus sah: vor der Frage nach der Bedeutung der Subjektivität des Menschen für sein Verhältnis zur Natur. Um das zu sehen, wollen wir uns Nietzsches Historismus-Kritik und seine Änderungsforderungen noch einmal genauer anschauen.

Der Konflikt zwischen historischer und leiblicher Vernunft bei Nietzsche In seiner Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben macht Nietzsche deut-

lich, daß er unter der kritikwürdigen Historisierung des Lebens die Orientierung des Lebens

dessen Geschichtlichkeit versteht. Dieses Denken hat alte Wurzeln. Es reicht in die archaische Zeit, in der die Menschen ihr Denken und Handeln noch nicht unter den Imperativ „erkenne dich selbst!" stellten und nach der „Herkunft", sondern nach den Handlungsfolgen beurteilten (JGB, § 32, KSA 5, 50 f.). Aber in seiner vollen Eigenart entfaltet es sich erst im modernen Europa und in seiner ausgeprägtesten Form in Deutschland. Hier beginnt es alles Leben zu durchdringen. Die Spitze dieser Entwicklung bildet die Hegeische Geschichtsphilosophie. Denn in ihr wird die Entwicklung am nachdrücklichsten gerechtfertigt und zum Programm erhoben. Wodurch schadet die geschichtliche Orientierung dem menschlichen Leben? Indem der Historismus geschichtliche Beschreibungen als Fakten von Lebensläufen ansieht, verwechselt an

17

„Es gibt keine Ausflucht und kein Außerhalb für die Wenigen, die in der Wahrheit sind und sich von den Vielen, im Dunkel der Verblendung Zurückbleibenden, abscheiden sollen wie der Tag von der Nacht. Eine Verletzung der von allen beanspruchten Strukturen des vernünftigen Zusammenlebens betrifft alle gleichermaßen." Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 377. Zu den diskursiven Grenzen des Umgangs mit Natur siehe auch: Jürgen Habermas, „Die Herausforderung einer ökologischen Ethik für eine anthropozentrisch ansetzende Konzeption", in: Angelika Krebs (Hg.), Naturethik, Frankfurt a. M. 1997.

18 Dieser Einwand ist von verschiedenen Autoren und in verschiedenen Varianten geäußert worden. Siehe dazu: Martin Mühl, Die Handlungsrelativität der Sinne. Zum Verhältnis von Intersubjektivität und Sinnlichkeit, Bodenheim 1997, 272 ff.

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Martin Mühl

sie mit dem Beschriebenen. Er gesteht seinen Beschreibungen Macht über das Leben zu. Nietzsche spricht von ,,blinde[r] Macht der Facta", von „Tyrannei" geschichtlicher Wirklichkeit (HL, KSA 1,311). Diese Macht besteht darin, daß der Historismus mit seinen geschichtlichen Begriffen eine Vielzahl von Lebensprozessen zusammenfaßt und ihnen ihre Individualität nimmt. Er vernichtet die Individualität der Menschen. Aber nicht nur die Einzelnen werden auf diese Weise ausgelöscht. Auch der soziale Zusammenhang zerreißt, weil die Individualität eine innovative Funktion für die Gemeinschaft besitzt, die sie nun nicht mehr übernehmen kann. Darüber hinaus stirbt die Kultur eines Volkes an der Abtötung der Individualität, weil sich Kultaren nur bilden, sofern sie von ihren Menschen gelebt werden. er

die Cuitar [kann] nur aus dem Leben hervorwachsen und herausblühen; während sie bei den Deutschen wie eine papierne Blume aufgesteckt oder wie eine Ueberzuckerung übergössen wird und deshalb immer lügnerisch und unfruchtbar bleiben muss." (HL, KSA

„[...]

1,325 f.)19

Mit dem Verlust der Individualität meint Nietzsche speziell den Verlust der Subjektivität der Einzelnen. Sie besteht in leiblichen Antrieben und Erlebnissen, nicht im Bewußtsein der Subjekte von sich selbst. Letzteres hält der Historismus für das Subjektive. Der Grund für die negative Einflußmöglichkeit der Geschichte auf das Leben liegt Nietzsche zufolge in der Eigentümlichkeit des Verhältnisses von Leben und Geschichte. Das Leben selbst ist aus Nietzsches Sicht „unhistorisch". Dennoch hängt es beim Menschen von der Historie ab. Tiere, so unterstellt Nietzsche, orientieren sich nicht an Erinnerungen, sondern am Augenblick. Der Mensch kann dagegen „das Vergessen nicht lernen"; er hängt „immerfort am Vergangenen". Aber sich erinnern zu müssen, ist für den Menschen eine Last, von der er sich befreien möchte, ohne es zu können. Er kann es grundsätzlich nicht. Nietzsche schreibt: erst dadurch, dass der Mensch denkend, überdenkend, vergleichend, trennend, zusammenschliessend jenes unhistorische Element einschränkt, erst dadurch, dass innerhalb einer umschl¡essenden Dunstwolke ein heller, blitzender Lichtschein entsteht, also erst durch die Kraft, das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen" (HL, KSA 1, 252 f.). „...

Nietzsche hält demnach das geschichtliche Denken zur Erkenntnis und aufgrund dessen zum menschlichen Leben für grundlegend. Der „blitzendef ] Lichtschein" der Erkenntnis beruht darauf, „das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen". Und dieser geschichtliche Erkenntaisakt macht den Menschen erst zum Menschen. Die Geschichtlichkeit ist die zentrale anthropologische Konstante. (HL, KSA 1, 248 f.)20 Wenn demnach „Leben" bedeutet zu vergessen, die eigentümliche Art des menschlichen Lebens aber im erinnernden, geschichtlichen Leben besteht, gibt es ein grundsätzliches Mißverhältnis zwischen Leben und Geschichte. Leben ist geradezu die Abwesenheit von Ge-

19 Zur Zerstörung der Individualität durch historische Begriffe: HL, KSA 1, 319; zur innovativen Bedeutung der Individualität: HL, KSA 1,321. 20 Ähnlich Nietzsche versteht auch John Dewey alles Leben als Bedrängnis, aus der sich der Mensch befreien möchte. Die Wirklichkeit ist grundsätzlich „prekär", und alles Handeln dient dazu, die hieraus resultierenden Lebensprobleme zu lösen. John Dewey, Erfahrung und Natur, Frankfurt a.M. 1995.

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schichte. Dennoch hat der Mensch nicht die Wahl, geschichtlich zu denken, wenn er ein menschliches Leben führen will. Der Mensch befindet sich hier offenbar in einem Dilemma, das er lösen muß, um sein Leben leben zu können. Die Moderne hat dieses Dilemma zugunsten des einen der sich widersprechenden Faktoren beantwortet und dadurch das Leben ihrer Menschen gefährdet. Die Modernen verstehen nicht mehr zu leben. Ihnen ist das Wissen abhanden gekommen, was zu leben heißt, weil sie sich mit der Betrachtung der Geschichte des Lebens zufriedengeben und die Geschichte für das Leben selbst, die Betrachtung der Geschichte infolgedessen für das Wissen vom Leben halten. Das Problem der geschichtlichen Lebensorientierung besteht daher nicht in der Geschichte selbst. Es beruht nicht auf der Tatsache, daß wir für unser Verständnis des Lebens geschichtlich denken. Vielmehr liegt es im Umgang mit dem geschichtlichen Denken bei der Lösung von Lebensproblemen. Die zu klärende Frage lautet daher aus Nietzsches Sicht: Wie müssen wir Geschichte gebrauchen, wenn sie lebensfördernd und nicht lebensvernichtend sein soll? Nietzsche unterscheidet drei Arten eines lebensförderlichen Umgangs mit Geschichte. Während zwei von ihnen das Leben dadurch verschönern, daß sie der Erbauung am Großartigen und der Versöhnung mit Widrigkeiten dienen, verhilft die dritte Art, die Kritik der Geschichte, zur Lösung von Lebensproblemen durch Bildung eines Wissens von Lebensanforderungen und -möglichkeiten. Nur mit dieser dritten wollen wir uns befassen. Nietzsche nennt die Kritik ein „Gericht" (HL, KSA 1, 269). Das Gericht der Geschichtskritik fällt seine Urteile nicht auf der Grundlage von Gerechtigkeitsvorstellungen, sondern auf der des Lebens. Das Leben selbst ist das Gericht. Mit dieser Verschiebung der Urteilsbegründung aus dem Bereich sozialer Gerechtigkeitsfragen in den eines unbewußten, natürlichen Lebens bestreitet Nietzsche nicht die Wichtigkeit der Gerechtigkeit von Urteilen, sondern er behauptet, daß Gerechtigkeitsfragen für den Versuch, die Bedingungen des Lebens aufzuspüren, irrelevant sind. Denn ob ein Urteil den Lebensanforderungen angemessen ist oder nicht, entscheidet sich nicht daran, ob das Urteil gerecht ist, sondern daran, ob es für das Leben förderlich ist. Was dieses Leben selbst ist, bleibt hier weitgehend dunkel. Aber für das geschichtliche Denken kann das Leben als das Ungeschichtliche auch nicht anders als dunkel bleiben. Dennoch läßt sich mit Hilfe der Geschichtskritik etwas anderes über das Leben in Erfahrung bringen. Es läßt sich erkennen, wie Kritik und Leben in ihrer fundamentalen Verschiedenheit zusammenhängen. Nietzsche schreibt:

„Es ist nicht die Gerechtigkeit, die hier zu Gericht sitzt; es ist nicht die Gnade, die hier das Urteil verkündet: sondern das Leben allein, jene dunkle, treibende, unersättlich sich selbst

begehrende

Macht. Sein Spruch ist immer ungnädig, immer ungerecht, weil einem reinen Born der Erkenntnis geflossen ist" (HL, KSA 1, 269).

er

nie

aus

Hier deutet sich an, daß geschichtliche Erörterungen nur dann etwas für ein Verständnis des Lebens Brauchbares beitragen, wenn sie vom Leben abhängig gemacht werden. Nur ein solcher Umgang mit Geschichte wäre ein kritischer. Die Abhängigkeit ist weder gnädig noch gerecht, sie besteht auf Gedeih und Verderb. Geschichtliche Vorstellungen sind demnach Hypothesen, die sich im Experiment des Lebens und nicht in geschichtlichen Erörterungen bewähren müssen. Weil das Leben aber nicht gnädig ist, läßt es unsere Vorstellungen und Handlungen immer wieder scheitern. Als Richter „beurteilt" das Leben unsere Vorstellungen von ihm nicht danach, ob sie geschichtstheoretisch einwandfrei gebildet wurden. Das Scheitern besagt vielmehr, daß die Vorstellungen für die Lebensführung unbrauchbar sind. Indem so die Geschichtskritik die Irrelevanz der Geschichtlichkeit eines Wissens für das Leben

Martin Mühl

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aufdeckt, bestreitet sie diesem Wissen seinen Wissensanspruch und liefert es dem Vergessen aus.

Der Zusammenhang zwischen Kritik und Leben ist demnach ein praktischer. Wir gehen kritisch mit Geschichte um, wenn wir die Aussagen über sie nicht daran bemessen, ob sie die Regeln der Geschichtsschreibung einhalten, sondern nur wenn wir ihre praktische Relevanz für das Leben beachten. Das kann aber nicht theoretisch, nämlich geschichtstheoretisch geschehen, sondern nur durch Anwendung des geschichtlichen Wissens im Handeln. Dieses falsifiziert das Wissen. Wenn der moderne Mensch aber nur durch Vergessen zu einem lebenswerten Leben findet, ihm jedoch, wie wir sahen, ein menschliches Leben ohne Erinnerungswissen nicht möglich ist, scheint er vor einer paradoxen Aufgabe zu stehen. Er muß sich um des Vergessens willen erinnern. Nietzsche formuliert dies so: „Mitunter aber verlangt dasselbe Leben, das die Vergessenheit braucht, die zeitweilige Vernichtung dieser Vergessenheit" (HL, KSA 1, 269). Diese paradoxe Anforderung verliert zu einem erheblichen Teil ihre Widersprüchlichkeit, wenn wir näher betrachten, was Nietzsche unter dem Vergessen durch Vernichtung des Vergessens' versteht. Wir können ein Ding nach einem fehlgelaufenen Versuch nur dann mit neuer Aussicht auf Erfolg handhaben, wenn wir unser bisheriges Verständnis des Dings aufgeben, es also vernichten, und durch ein anderes Verständnis ersetzen. Ebenso geht ein Leben, das an falschen Vorstellungen orientiert wird, zugrunde. Fortsetzen läßt es sich nur, wenn die Vorstellungen geändert werden. Einer neuen Vorstellung zu folgen, bedeutet aber dreierlei. Es besagt, die Vergessenheit der Routine zu vernichten, weil die gewohnheitsmäßige Handlung den eingetretenen Lebensanforderungen nicht mehr genügt. Indem wir uns unser Handeln durch eine veränderte Handlungsvorstellung erneut bewußt machen, müssen wir das Handeln ändern. Einer neuen Vorstellung zu folgen, bedeutet zweitens, den Gegenstand der Handlung zu vernichten, weil zu seiner erneuten Handhabung die Vorstellung von ihm geändert werden muß. Mit der Änderung der Gegenstandsvorstellung ändert sich für uns auch der Gegenstand. Drittens bedeutet es auch eine Gefährdung unserer selbst, derjenigen Individuen also, die ihre Handlung ändern und den Gegenstand vernichten, weil sie mit ihrer vertrauten Handlungsorientierung eine wesentliche Grundlage ihres Lebens aufgeben und durch eine ersetzen, die bisher keine Geltung hatte. Die Forderung, sich um des Vergessens willen zu erinnern, können wir demnach so verstehen, daß wir unsere Lebensroutine unterbrechen müssen, um uns der Anforderungen des Lebens bewußt zu werden. Nietzsche fährt an zuvor zitierter Stelle fort: ,

„[...] dann soll es eben gerade klar werden, wie ungerecht die Existenz irgend eines Dinges, eines Privilegiums, einer Kaste, einer Dynastie zum Beispiel ist, wie sehr dieses Ding den Untergang verdient. Dann wird eine Vergangenheit kritisch betrachtet, dann greift man mit dem Messer an seine Wurzeln, dann schreitet man grausam über alle Pietäten hinweg. Es ist immer ein gefährlicher, nämlich für das Leben selbst gefährlicher Prozess: und Menschen oder Zeiten, die auf diese Weise dem Leben dienen, dass sie eine Vergangenheit richten und vernichten, sind immer gefährliche und gefährdete Menschen und Zeiten. Denn da wir ihrer

nun

einmal die Resultate früherer Geschlechter sind, sind wir auch die Resultate

Verirrungen, Leidenschaften und Irrthümer, ja Verbrechen" (HL, KSA 1, 269 f.).

geschieht jedoch ein Erinnern ohne Rückgriff auf Geschichte? Worin besteht dieses ungeschichtliche Wissen? Die Forderung, geschichtliche Vorstellungen durch ungeschichtliche zu ersetzen, darf nur Wie

in einem relativen Sinne verstanden werden. Denn auch die

ungeschichtlichen

stammen

Nietzsche als „Drehscheibe"?

255

zufolge aus der Geschichte. Die Kritik geschichtlicher Deutungen geschieht durch Rückgriff auf andere geschichtliche Deutungen. Aber letztere genießen im Unterschied zu den kritikwürdigen keine Geltung. Sie sind nicht üblich. Wir verwenden sie vielmehr so, daß sie in Konflikt zu den geltenden geraten, um diese zu ersetzen. Die Mittel der Kritik sind demnach von derselben Art wie die Mittel der kritisierten Orientierung. Beide sind geschichtliches

Nietzsche

Denken. Aber der Gebrauch des Mittels ändert sich.

es ist nicht möglich sich ganz von dieser Kette [geschichtlicher Abhängigkeiten] zu lösen. Wenn wir jene Verirrungen verurtheilen und uns ihrer für enthoben erachten, so ist die Thatsache nicht beseitigt, dass wir aus ihnen herstammen. Wir bringen es im besten Falle zu einem Widerstreite der ererbten angestammten Natur und unserer Erkenntniss, auch wohl zu einem Kampfe einer neuen strengen Zucht gegen das von Alters her angezogene und Angeborne, wir pflanzen eine neue Gewöhnung, einen neuen Instinct, eine zweite Natur an, so dass die erste Natur abdorrt." (HL, KSA 1, 270) „...

Wie wir dem Zitat auch entnehmen können, unterscheiden sich erinnerungsorientiertes und kritisches Denken nicht nur durch den Grad ihrer Gewohnheit, zumal auch eine ungewöhnliche Handlungsorientierung mit mehrfacher Wiederholung ihre Unvertrautheit verliert. Wesentlicher ist ein anderer Unterschied. Erinnerungsorientiertes und kritisches Denken beziehen ihren Geltungsanspruch aus unterschiedlichen Quellen. Kritisches Denken beruft sich nicht auf seine schlüssige Übereinstimmung mit geschichtlichen Tatsachen. Es rechtfertigt sich also nicht mit Bezug auf die Geschichte, sondern es bezieht sein Kriterium für Wahrheit aus dem Leben. Derart praktisch bewährte historische Deutungen sind aus Nietzsches Sicht „reines Wissen" (HL, KSA 1, 267). Rein ist es, weil es von allem geschichtlichen Baiast, der nicht durch das Leben bewahrheitet wird, befreit ist. Die Lebenspraxis falsifiziert also nicht nur vermeintliches, sondern verifiziert auch brauchbares Wissen. In ihr findet sich das Wahrheitskriterium des Wissens, wenn sich dieses als „lebensdienlich" bewährt. Solches, von irreführendem Baiast gereinigtes Wissen, ist dasjenige, welches Nietzsche gegenüber der Moderne einfordert und um das er sich in seinen Schriften bemüht. Es bezieht seinen Wissensanspruch nicht aus historischen Deutungen oder vermeintlichen historischen Tatsachen. Es beansprucht also auch nicht, im herkömmlichen Sinne wissenschaftlich zu sein. Es beansprucht lediglich, lebensdienlich zu sein. Aus traditioneller Sicht kommt ihm ein eher zweifelhafter Status zu. Nietzsche bezeichnet es als Mythos. Er sieht in ihm jedoch nichts Zweifelhaftes, sondern betrachtet es als das im strengen Sinne wahre Wissen und zudem als Mittel, als „Gegengift" gegen die Verirrungen der Moderne.21 Er fordert folglich eine mythische Entkoppelung des Wissens von dessen geschichtlichem Untergrund als Ausweg aus der Moderne. Bereits seine Schrift Die Geburt der Tragödie dient dieser Aufgabe, wenn er hier mit Hilfe einer apollinischen Regie den Zugang zum dionysischen Rauscherlebnis sucht. Und auch sein Buch Also sprach Zarathustra soll exemplarisch die Arbeit des Freilegens und Erweiterns von Lebenswissen demonstrieren. Wie kann aber die mythenbildende Entkoppelung des Wissens von geschichtlicher Rechtfertigung heilsam für eine lebensuntüchtige Kultur werden?

21

Vgl. Kurt Hübner, „Vom theoretischen Nachteil und praktischen Nutzen der Historie. Unzeitgemäßes über Nietzsches unzeitgemäße Betrachtungen", in: Dieter Borchmeyer (Hg.), Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben", Frankfurt a.M. 1996, 44-46. „

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Wie wir sahen, spricht Nietzsche dem Wissen eine geschichtliche und eine lebenspraktische Voraussetzung zu. Indem er das Wissen im Mythos von seiner geschichtlichen Rechtfertigun-

nur noch der praktischen Bewährung eine Begründungsfunktion für den Wissensanspruch zubilligt, erhält der Mythos die Funktion, zwischen Geschichte und Lebenspraxis zu vermitteln. Denn sofern sich das mythische Wissen als praxistauglich erweist, gehen die ihm gemäßen Handlungen wie die zuvor an praxisuntauglichen Vorstellungen orientierten Handlungen in Gewohnheiten über und bilden eine neue Geschichte. Über den Mythos führt daher der Weg zu einem geschichtlichen Wissen vom Leben, das diesem nicht Schranken auferlegt, sondern seine Möglichkeiten fördert.22 In diesem Sinne schreibt Nietzsche, daß der am Historismus erkrankte moderne Mensch, wenn er schließlich durch den Mythos genesen ist, in die Lage kommt, „von Neuem Historie zu treiben und sich der Vergangenheit unter der

gen abtrennt und

Herrschaft des Lebens zu bedienen." (HL, KSA 1, 332) Nur wenn die Mythenbildung in eine Erneuerung der Geschichte mündet, kann sie die Kultur in einer lebensfördernden Weise beeinflussen. Eine solche Kultur steht nicht wie die moderne im Widerspruch zur Natur. Sie ist aber auch keine regredierte Kultur, sondern basiert auf einem Wissen von den natürlichen Möglichkeiten kulturellen Lebens. Weil sie sich an einem Wissen von den Bedingungen des Lebens orientiert, erhält mit ihr das Leben selbst eine verbesserte Form. Was Nietzsche sich hierunter vorstellt, umreißt er als eine „neue[ ] und verbessertet ] Physis, ohne Innen und Außen, ohne Verstellung und Convention,... als eine [ ] Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen." (HL, KSA 1, 334) Die mythenbildende Entkoppelung des Wissens von seinem geschichtlichen Hintergrund ist demnach nicht das Ziel der Geschichtskritik, sondern nur Mittel. Sie ist Mittel in sozialphilosophischer und in erkenntnistheoretischer Hinsicht. Sozialphilosophisch verspricht sich Nietzsche von ihr eine Revitalisierung der modernen Kultur. Erkenntaistheoretisch übernimmt der Mythos dagegen die methodische Funktion, eine Voraussetzung der Wissensbildung erfahrbar zu machen, die der Geschichtsprozeß nicht preisgibt, weil er grundverschieden von ihr ist. Diese Voraussetzung besteht in der Praxisabhängigkeit des Wissens. Obwohl daher Mythen in der Geschichte des Menschen und nicht als Naturereignisse auftreten, verleiht ihnen nicht ihre Geschichtlichkeit ihren Wissensstatus, sondern ihre Abhängigkeit von natürlichen Lebensbedingungen, ihre praktische Eignung zur Förderung des Lebens. Worin diese Bedingungen im einzelnen bestehen, werden wir nicht mehr untersuchen. Es soll lediglich noch daraufhingewiesen werden, daß Nietzsche sie in der Triebhaftigkeit und Affektivität des Leibes findet. Im Zarathustra gibt Nietzsche seiner Sicht der Bedeutung des Leibes eine pointierte Formulierung: ...

so redet das Kind. Und warum sollte man nicht wie die Kinder reden? Aber der Erwachte, der Wissende sagt: Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du ,Geist' nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft." (ZA, KSA 4, 39)

,„Leib bin ich und Seele'

-

22

Vgl. Volker Gerhardt, Friedrich Nietzsche, München 1995, 93 ff. Herbert Schnädelbach, Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus, Freiburg/München 1974, 86 f.

Nietzsche als Drehscheibe "?

257



Im Leib liegen demnach diejenigen Voraussetzungen, die für die Vernünftigkeit unserer Lebensführung maßgebend sind. Auch der geschichtlich gebildete Geist hat Anteil an der menschlichen Vernunft, jedoch einen nur untergeordneten. Vernünftig ist er nur, sofern er den leiblichen Bedingungen Rechnung trägt.

Nietzsche

versus

Habermas

Nietzsche-Interpretation scheint sich zu ergeben, daß Habermas' Einwand gegen Nietzsches Historismuskritik nicht trifft. Denn Nietzsche leugnet nicht die Geschichtlichkeit des Wissens, sondern hält sie für unumgänglich. Seine Geschichtskritik zielt sogar auf eine Erneuerung der Geschichtlichkeit des Lebens. Das scheint Habermas tatsächlich nicht zu Aus

unserer

beachten. Dennoch ist dieser

Gegeneinwand nur teilweise berechtigt. Denn auch wenn Nietzsche die Geschichtsabhängigkeit des Wissens nicht in Frage stellt, scheint Habermas' Einwand gegen seinen Umgang mit der historischen Vernunft und gegen die Aufgabe, die er dem Mythos zumutet, nicht unbegründet. Die Forderung, den Wissensbildungsprozeß von seinen geschichtlichen Voraussetzungen abzutrennen, kommt Wittgensteins Gedankenexperiment zur Frage nach der Möglichkeit einer Privatsprache gleich.23 Dieses Experiment endet negativ. Wenn wir von der Geschichtlichkeit des Denkens ausgehen, können wir nicht mit Hilfe dieses Denkens

das Denken von seiner Geschichtlichkeit befreien. Dies ist das kann kaum bestritten werden ein performativer Widerspruch, wie ihn Habermas Nietzsche und seinen Schülern vorhält.24 Auch wenn wir für den geschichtlichen Wissensbildungsprozeß noch leibliche Bedingungen voraussetzen müssen, können wir hierfür nur dann Zustimmung erwarten, wenn wir bei unserer Darstellung diejenigen Voraussetzungen ins Spiel bringen, aufgrund derer generell Äußerungen Zustimmung oder Ablehnung finden können. Das gilt aber gerade nicht für leibliche Bedingungen der Subjektivität, sondern, wie Habermas gezeigt hat, nur für sprachliche Bedingungen der Intersubjektivität. Diese Bedingungen müssen wir jedem Verständnis zugrunde legen. Wir können daher ein Verständnis von leiblichen Bedingungen nicht dadurch gewinnen, daß wir nach einer Methode suchen, die Sprachabhängigkeit der Verständnisbildung auszublenden. Wittgenstein schreibt zu dem Versuch, mit sprachlichen Mitteln das Nicht-Sprachliche zu denken: -

-

gibt gar kein Draußen; draußen fehlt die Lebensluft. Woher dies? Die Idee sitzt gleichsam als Brille auf unserer Nase, und was wir ansehen, sehen wir durch sie. Wir „...

Es

-

kommen gar nicht auf den

Gedanken, sie abzunehmen."25

Müssen wir demnach doch Habermas' Einwand und seiner sprachphilosophischen Konsequenz folgen? Nur teilweise. Denn Nietzsches Historismuskritik scheint einem durchaus berechtigten Motiv zu folgen. Wenn auch dessen philosophische Begründung unbefriedigend bleibt, so deutet sich in den erörterten Aussagen Nietzsches doch auch eine aussichtsreichere

23 24 25

Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt a.M. 1984, §§ Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 144 f. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 103.

199-293.

Martin Mühl

258

Rechtfertigung an. Andererseits erscheint im Licht von Nietzsche auch Habermas' Begründung philosophischer Kritik nicht so abgesichert, wie dieser selbst annimmt. In den wiedergegebenen Aussagen Nietzsches findet sich ein Hinweis, in welcher Richtung die notwendige Ergänzung gefunden werden könnte. Nietzsche zufolge ist es für ein kritisches Verständnis der Bedingungen menschlichen Lebens weit entscheidender, mit welchem Erfolg uns dieses Verständnis Handlungen auszu-

führen erlaubt, als die Beantwortung der Frage, ob das Verständnis sozialen Konventionen Er insistiert darauf, daß die soziale Wissensbildung ihren eigenen Anspruch nur einlösen kann, wenn sie auch die nicht-sozialen Folgen berücksichtigt. Der Anspruch, Wissen von etwas Belangvollem zu sein, stellt die Wissensbildung in den Dienst des Lebens und macht sie in ihrer zugestandenen Sozialität noch abhängig von nicht-sozialen Bedingungen, von der „großen Vernunft" des Leibes. Diese gegen den Universalitätsanspruch des Historismus gerichtete Forderung trifft auch Habermas. Habermas versucht die Abhängigkeit der intersubjektiven Wissensbildung von der physischen Welt und den leiblichen Befindlichkeiten zu berücksichtigen, indem er ihnen einen Platz in der Lebenswelt zuweist. Dadurch daß er aber diese als sprachlich erschlossene gegen nicht-sprachliche Bereiche der Wirklichkeit abgrenzt, gesteht er zu, daß es Dinge gibt, die nicht sprachlich sind und daß wir mit unserem sprachlichen Wissen von ihnen abhängen. Was diese Dinge aber ausmacht und wie die Sprache durch sie beeinflußt wird, bleibt dunkel. An wenigen Stellen, an denen Habermas auf technische Handlungen zu sprechen kommt, deutet sich an, daß auch er einen praktischen Zusammenhang zwischen sprachlichem Wissen und nicht-sprachlichen Handlungen annimmt.26 Aber auch diese Handlungen setzen bei ihm wiederum eine Welt voraus, von der wir nur ihre soziale Seite kennen. Es scheint so, daß wir mit Habermas und Nietzsche vor zwei grundsätzlich verschiedenen Problembereichen des Handelns stehen. Habermas zeigt, daß wir die Grundlagen der Intersubjektivität nicht in den Blick bekommen, wenn wir sie nicht auf sprachliche Bedingungen eingrenzen. Nietzsche demonstriert uns dagegen, daß sich die Subjektivität des menschlichen Weltverhältaisses nicht verstehen läßt, wenn ihre leiblichen Bedingungen nicht scharf von den sozialisierenden unterschieden werden. Beide Theoretiker stellen so die Besonderheit jeweils eines Problembereichs heraus, indem sie den anderen vernachlässigen. Dadurch verblaßt der vernachlässigte jedoch bis zur Unkenntlichkeit. Beide Autoren geben aber jeweils aus ihrer einseitigen Perspektive zu erkennen, daß die Abgrenzung nicht Unabhängigkeit bedeutet. Wenn wir uns nach der Ergänzungsfähigkeit beider fragen, deutet sich ein möglicher Zusammenhang der Problembereiche vage an. Sowohl Habermas als auch Nietzsche halten ihn für einen praktischen. Habermas zeigt, daß intersubjektive Beziehungen nur zustande kommen können, wenn sie auch subjektive und objektive Sachverhalte berücksichtigen. Nietzsche gibt zu erkennen, daß die geschichtlich gebildeten Vorstellungen eine Anleitungsfunktion für Handlungen übernehmen. Durch sie kontrolliert das Subjekt den Gebrauch seiner leiblichen Handlungsmöglichkeiten. Sie übernehmen die apollinische Handlungskontrolle zur Herbeiführung des dionysischen Rausches. Das Anliegen beider Autoren ergänzt sich zu einer mehrdimensionalen Pragmatik, die allerdings überhaupt erst die pragmatiktheoretischen Ansprüche einzulösen scheint. Es entsteht ein pragmatischer Zusammenhang zwischen zwei unterschiedlichen Pragmatiken. Diese beiden sind das Sprechen und das leibliche Handeln. Sie sind verschiedenartig, weil ihre Erfüllungsbedingungen verschiedenartig sind. Die Erfüllung ein-

genügt.

26 Zum

Beispiel: Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 374.

Nietzsche als „Drehscheibe"?

259

vernehmlichen

Sprechens zeigt Habermas in der Zustimmung der Angesprochenen bzw. in deren Kooperation. Die Erfüllung leiblichen Handelns sucht Nietzsche in affektiven Erlebnissen. Außer von den ihnen eigenen Erfüllungsbedingungen hängen Sprechen und leibliches Handeln aber auch voneinander ab. Denn erst die Orientierung an einem intersubjektiven Wissen von bestimmten Erlebnissen ermöglicht es uns, solche Erlebnisse absichtsvoll herbeizuführen. Umgekehrt kann die sprachliche Wissensbildung ihre Geltungsansprüche nur durch praktische Anwendung in nicht-sprachlichen Handlungen erfüllen. Denn mit dem Scheitern entsprechender Handlungen reißt auch die Kette der begründenden Argumente.27 Nur in dem besonderen Fall, in dem mit einer Äußerung ein Wissen über Sprache beansprucht wird, kann durch Argumentieren die Erfüllung des Anspruchs nicht nur vertagt, sondern eingelöst werden.28

Was folgt aus all dem für die von Habermas geforderte Fundierung philosophischer Kritik? Es folgt daraus, daß Habermas zur Erfüllung der Forderung zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung formuliert. Die notwendige Ergänzung findet sie in Nietzsches Anliegen. Sie muß neben den sprachlichen Grundlagen der Normenbildung auch deren

Abhängigkeit von nicht-sprachlichen, leiblichen Handlungsbedingungen berücksichtigen.29 Habermas' Bezeichnung von Nietzsche als „Drehscheibe" hat insofern nur eine relative Berechtigung. Sie gilt lediglich für Nietzsches Vereinseitigung des Problems der Moderne zum Problem mit der Natur. Aber nur aufgrund seiner Einseitigkeit wird es ihm möglich, die

Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erstmals auf das Problem zu lenken. Mit Nietzsche wendet sich daher der Diskurs der Moderne nicht wirklich gegen diese, sondern er führt eine Argumentationslinie in die Kontroverse ein, die neben der sozialen Dimension das Naturverhältnis als weitere Problemdimension der Moderne zu Bewußtsein bringt. Sie wird von den leibtheoretischen Ansätzen der nachfolgenden Lebensphilosophie, Phänomenologie und der philosophischen Anthropologie fortgeführt. Mit ihr erweitert sich das Spektrum philosophischer Kritik von der Gesellschafts- zur Kulturkritik. Denn wir gewinnen mit dem Wissen von den leiblichen Handlungsgrundlagen auch Maßstäbe für die Beurteilung der Auswirkungen einer Kultur auf die leibliche Natur des Menschen. Der moderne Emanzipationsanspruch muß diesem Sachverhalt Rechnung tragen, wenn er nicht destruktive Züge annehmen soll. Nietzsche möchte uns darauf stoßen, daß sich der kulturelle Umgang mit Natur an leiblichen Bedingungen orientieren muß, wenn er die Kompetenzen für solcher Art Handlungen nicht dauerhaft untergraben und schließlich zerstören will. Sowohl die heute fortgeschrittene Naturzerstörung als auch die zahlreichen sogenannten Zivilisationskrankheiten sowie zunehmende sensomotorische Orientierungsstörungen wie hypermotorisches Verhalten und sensorische Integrationsschwächen mit kognitiven und sozialen Folgen bei Kindern und Jugendlichen scheinen Nietzsche Recht zu geben. Die Emanzipation des Menschen und die Nutzung und Förderung seiner Möglichkeiten macht neben der sozialen auch die Naturintegration notwendig. Dabei wird die soziale Integration ihren Anspruch auf Chancengleichheit nicht hinreichend erfüllen können, wenn sie nicht zugleich die Naturintegration fördert.

27 „Die Erklärungen haben irgendwo ein Ende." Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 1. 28 Zur Pragmatik des Leibes, allerdings nicht bei Nietzsche, siehe auch: Martin Mühl, Die Handlungsrelativität der Sinne, und Martin Mühl, „Thesen zur Rekonstruktion sinnlicher Handlungsbedingungen aus der Kunstpro-

duktion",

29

n. n. v.

Vgl. Axel Honneth, Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M. 1985,

310.

Stefan Schlagowsky

Mensch Natur? Zur Nachwirkung von Nietzsches Genealogie der Moral auf Horkheimers und Adornos Forderung eines Eingedenkens der Natur im Subjekt -

„Heute lassen die Jcritische Theorie' oder die italienische und französische Nietzscherezeption die Nietzschefeindschaft des MarxismusLeninismus vergessen. Die ,kritische Theorie' kann die Aktualität einer Philosophie sehen lehren, die bereits von den .Interessen' der Erkenntnis ausgegangen war, und die .Dialektik der Aufklärung' bietet das Niveau, auf dem man über Nietzsche sprechen kann und muß"1

Einleitung vorliegenden Ausführungen folgen der erkenntnisleitenden Annahme eines Zusammenhangs der Zerstörung menschlicher und außermenschlicher Natur mit der als Emanzipation von Natur aufgefaßten Aufklärung. Diese Problemstellung wird zunächst in Auseinandersetzung mit Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Versuch einer Selbstreflexion der Aufklärung in der Dialektik der Aufklärung entwickelt. Die von Horkheimer und Adorno vor dem Hintergrund des Faschismus entwickelte Konzeption einer Dialektik des Aufklärungsprozesses ist von unhintergehbaren Einsichten getragen, deren Brisanz sich in unserer Gegenwart zunehmend erweist. Aufgrund ihres Anspruchs, die Entwicklungsdynamik zu begreifen, die in eine globale Krise der Menschheit und ihrer Grundlagen bei gleichzeitiger kulturindustriell betriebener Verblendung' des Bewußtseins führt, hat die Dialektik der Aufklärung bis heute die Bedeutung eines Ausgangspunktes weitreichender Gesellschaftskritik. Für Horkheimers und Adornos geschichtstheoretischen Entwurf, der mit dem Fortschritt immer zugleich auch auf den RückDie

schritt und die Zerstörung reflektiert, hat Nietzsches Kulturkritik als Theorie der décadence besonderes Gewicht. Grundlegend für die folgenden Überlegungen ist die auf Nietzsche zurückgehende Kritik eines das Selbstverständnis der Aufklärung konstitutierenden Gegensatzes von Mensch und Natur. Hierbei geht es jedoch weniger um den philologischen Nachweis der Nietzscherezeption Horkheimers und Adornos; der Einfluß Nietzsches ist an vielen Stellen offensichtlich und in der Literatur hinreichend diskutiert worden. Vielmehr kommt es darauf an,

1

Henning Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin/New York 1987, 6

262

Stefan Schlagowsky

die

Konvergenz der grundsätzlichen Einsichten beider Positionen in bezug auf das der

Aufklärung inhärente Verhältais des Menschen zur Natur im Lichte ihrer aktuellen Bedeutung zur Sprache zu bringen. (I): Mit einer kurzen Skizzierung der Entwicklung der Aufgabenstellung am Institut für Sozialforschung wird gezeigt, daß der dort unternommene Versuch einer Selbstreflexion der Aufklärung, angesichts der realen Infragestellung ihrer zivilisatorischen Leitwerte im Faschismus, zu dem von Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung geforderten „Eingedenken der Natur im Subjekt"2 geführt hat. (II): In einem zweiten Schritt wird die Nachwirkung von Nietzsches Kulturkritik auf Horkheimers und Adornos Konzeption eines Eingedenkens der Natur im Subjekt untersucht. Nietzsche hat ein halbes Jahrhundert vor der Dialektik der Aufklärung die abendländische Kultur infragegestellt, indem er die Ideologie des ihr zugrundeliegenden Naturverhältnisses die Entgegensetzung von Mensch und Natur problematisierte.

Abschließend ist zu zeigen, inwiefern Horkheimer, Adorno und Nietzsche in ihrer Kritik des Naturverhältaisses anthropologische und kulturspezifische Aspekte unterschiedlich gewichten. Während Horkheimer und Adorno die Geschichte der abendländischen Kultur als eine problematische Verschärfung des von ihnen als anthropologische Konstante gedeuteten Bedürfnisses des Menschen nach einer Emanzipation von Natur begreifen, geht Nietzsche von einem Bruch im Naturverhältais aus, von einer „Umkehrung der Werthe" (JGB, KSA 5, 117) am und zugleich als Beginn der abendländischen Geschichte. -

(III):

-

I. Von der Krise des Marxismus Natur im

Subjekt

zum

Eingedenken der

von Horkheimers Übernahme der Leitung des Instituts für Sozialforschung (1930) Erscheinen der Dialektik der Aufklärung (1944) läßt sich die Entwicklung der Theorie unter dem Aspekt der Kontinuität wie auch unter dem der Betonung von Brüchen betrachten. In der Literatur ist letzteres dominierend. Diese Versuche laufen in der Regel auf das Argument hinaus, daß Horkheimer und Adorno angesichts des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts in eine irrationale Negativität abgeglitten seien, die vor allem in der Dialektik der Aufklärung die theoretische Relevanz der Reflexionen beeinträchtige.

In der Zeit

bis

zum

„Unter dem Schock des Völkermordes an den Juden wurde Horkheimers kritische Theorie in den frühen vierziger Jahren zu einer geschichtsphilosophischen Reflexion des nationalsozialistischen Antisemitismus; vor allem darin liegt der ,Zeitkern' von Wahrheit der Dialektik der Aufklärung."3

2

3

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung [1944], in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt a.M. 1987, 64. Die Formulierung wird im Fortgang dieser Arbeit erläutert werden. Ulrich Wegerich, Dialektische Theorie und historische Erfahrung. Zur Geschichtsphilosophie in der frühen

kritischen Theorie Max Horkheimers, Würzburg 1994, 64.

Mensch Natur?

263

-

Horkheimers und Adornos Reflexionen auf die Entwicklungslinien der europäischen Geschichte bedeuten aber keine temporär oder theoretisch zu isolierende Phase im Sinne eines .Bruchs' in ihrer Theorie. Die Interpretation ihrer Infragestellung der Aufklärung als Dokument „distanzloser Betroffenheit und weltgeschichtlich ausholender Verzweiflung"4 verkürzt den emanzipatorischen Gehalt von Horkheimers und Adornos Versuch einer Selbstreflexion der Aufklärung und übersieht dessen Kontinuität.5 Solche Reduzierung der Infragestellung des Gangs der abendländischen Aufklärung auf einen zeitlich zu begrenzenden ,Bruch' in der Theoriebildung marginalisiert die Intention der Autoren als Übertreibung und übergeht sie im Fortgang weiterer Argumentationen. So sucht man den Anschluß an die abendländische Emanzipationstradition in Anlehnung an die empirische Sozialforschung der ,frühen Kritischen Theorie', grundsätzlich jedoch, ohne die globale Krise der Gegenwart gedanklich zu realisieren. -

„Heute will man die Dialektik der Aufklärung historisieren, aber die kritische Theorie vor Auschwitz aktualisieren: Hinter die Dialektik der Aufklärung zurück zu der von Horkheimer programmatisch entworfenen kritischen Theorie der dreißiger Jahre! Dies ist ein Postulat nicht nur von Jürgen Habermas."6 Im Widerspruch zur „gängigen Praxis werkgeschichtlicher Etappeneinteilungen"7 soll hier das Moment der Kontinuität in der Theorieentwicklung im Sinne einer Radikalisierung der Fragestellung in ihrem Zusammenhang mit vorangegangenen Reflexionen hervorgehoben werden. Zwar folgt die theoretische Zuspitzung der Eskalation der Verhältnisse, die in jenem „Zivilisationsbruch" kulminieren, für den der Name Auschwitz steht,8 das Problem jedoch, auf das Horkheimer und Adorno mit dem Eingedenken der Natur im Subjekt reflektieren, weist über dieses Zeitgeschehen hinaus.

1.1.

„Krise des Marxismus"

In der Schriftenreihe des Instituts für Sozialforschung war schon 1929 ein Buch von Horkheimer mit dem Titel Die Krise des Marxismus vorgesehen.9 Dazu ist es zwar nicht gekommen, doch bleibt der Titel seit Horkheimers Berufung zum Direktor des Instituts im Jahre 1930 bis zum Erscheinen der Dialektik der Aufklärung 1944 für die Arbeit am Institut in seiner Doppeldeutigkeit programmatisch. Zum einen wird in ihm der Versuch deutlich, die Marxsche Theorie dem weiteren Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung und der wissen4 Alfons Söllner, Geschichte und Herrschaft. Studien zur materialistischen Sozialwissenschaft 1929-1945, Frankfurt a.M. 1979,214. 5 Dagegen haben Christoph Türcke und Gerhard Bolte die schon frühe Hinwendung zur Kritik der Aufklärung in der Reflexion auf ihre avancierteste Theorie gesehen: „Diese Wendung vollzog sich im Institut für Sozialforschung nach Horkheimers Eintritt: keine Revision der Marxschen Theorie, sondern ihre Anwendung auf sich selbst, ihre kritische Durcharbeitung mit ihren eigenen Mitteln oder, philosophisch ausgedrückt: ihre Selbstreflexion." Christoph Türcke und Gerhard Bolte, Einführung in die kritische Theorie, Darmstadt 1994, 14. 6 Wolfram Stender, Kritik und Vernunft. Studien zu Horkheimer. Habermas und Freud, Lüneburg 1996, 18. 7 Ebd., 11. 8 Ebd., 17. 9 Vgl. Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, München 1986, 50.

Stefan Schlagowsky

264

schaftlichen Erkenntnisse entsprechend zu erweitern und, wo nötig, zu modifizieren. Zum anderen richtet sich der Titel gegen die Dogmatisierung der Marxinterpretation, besonders gegen das starre Festhalten an einer Revolutionserwartung. Wiggershaus versteht das Wirken Horkheimers in den ersten Jahren nach seiner Amtsübernahme als Versuch der „Überwindung der Krise des Marxismus vermittels der Durchdringung von Sozialphilosophie und empirischen Sozialwissenschaften".10 Mit der „Verlagerung des Schwerpunktes durch Erweiterung"," insbesondere um sozialpsychologische Forschungsansätze und empirische Methoden, konzentrierten sich die Institutsmitarbeiter auf die zunehmend sich aufdrängende Frage nach dem Warum des Ausbleibens der in der Theorie prognostizierten Revolution, ohne jedoch die Überzeugung von ihrer Notwendigkeit aufzugeben. Kritische Theorie galt als „der sklavensprachliche Name für die revolutionäre Theorie von Marx, die ihrem Anspruch nach Theorie der Herrschaft und Theorie der Befreiung in einem war."12 Die fortlaufende Erörterung dieser Problematik ist nachzuvollziehen von den ersten Aufsätzen in der Zeitschrift für Sozialforschung und den veröffentlichten „Diskussionsprotokollen"13 bis hin zum Erscheinen der Dialektik der Aufklärung. In den Arbeiten, Diskussionen und Briefen, die der Dialektik der Aufklärung vorangingen, wird ein Ringen um eine Theorie erkennbar, die anstelle der erwarteten Befreiung die eingetretene Krise der Zivilisation mit Millionen von Opfern vom Ersten Weltkrieg bis Auschwitz begreifen sollte und die dennoch von Hoffnung auf Befreiung getragen bleibt, wie verhängnisvoll auch immer die Gesellschaft sich entwickelt. Diese Hoffnung, d. h. das Emanzipationsinteresse der Kritischen Theorie bleibt auch über die Dialektik der Aufklärung hinaus bestehen. Zwar sei mit dem Eintreten des Faschismus die Revolution „auf unabsehbare Zeit vertagt",14 doch die grundsätzliche Möglichkeit gesellschaftlicher Emanzipation bleibt auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges das organisierende Zentrum der Kritischen Theorie. 1966 beginnt der oft als ,zu pessimistisch' ins Abseits verbannte Adorno seine Negative Dialektik mit den emphatischen Worten: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward."15 Noch diese späte Äußerung steht mit dem Bemühen der Institutsmitglieder in den Anfangen der Institutsarbeit in gedanklichem Zu-

sammenhang.

Die Diskussionen der Mitarbeiter richteten sich gegen eine Dogmatisierung der MarxInterpretation und unterzogen die Marxsche Theorie mit dem Ziel, den emanzipatorischen Anspruch ihrer Analysen zu retten, einer konstruktiven Kritik. Sie teilten zwar deren Grundprämisse, stellten jedoch die damit verbundenen Erwartungen in Frage: Auch die Kritische Theorie sieht „in der Geschichte der menschlichen Naturbeherrschung [...] einen im Grundsatz fortschrittlichen und emanzipatorischen Prozeß".16 Doch gelangen die Untersuchungen jenes wie es später in der Dialektik der Aufklärung heißen wird „Rückfalls in Barbarei" in Gestalt des Faschismus zu der These, daß die Kräfte, die einst den Fortschritt und die Emanzipation erzielten die geistigen und technischen Produktivkräfte in ihr Gegenteil umschlagen und

-

-

-

10

-

Ebd., 49.

11 Ebd., 54. 12 Wolfram Stender, Kritik und Vernunft, 26. 13 Max Horkheimer, Diskussionsprotokolle (1931-1943), in: Gesammelte

Schriften Bd. 12, Frankfurt a.M. 1985, 349-592. 14 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik (1966), in: Gesammelte Schriften Bd. 6, Frankfurt a.M. 1997, 15. 15 Ebd. 16 Ulrich Wegerich, Dialektische Theorie und historische Erfahrung, 35.

265

Mensch Natur? -

Verknechtung und Dissoziierung der Massen instrumentalisiert werden. Die Verhinderung der Emanzipation führt zur ,,internationale[n] Drohung des Faschismus: der Fortschritt schlägt in Rückschritt um."17 Mit der These vom Rückschritt, Rückfall, wird der Umschlag von Fortschritt in Rückschritt zum zentralen Gegenstand der Dialektik der Aufklärung. „Seinem Thema nach zeigt unser Buch die Tendenzen, die den kulturellen Fortschritt in sein Gegenteil verwandeln."18 Doch ist dieses Thema älter als die Dialektik der Aufklärung, und es läßt sich schon deshalb nicht anders als z. B. Ulrich Wegerich dies sieht als intellektuelle Ausfallerscheinung isolieren.19 Schon 1937 formulierte Horkheimer den Gedanken, daß „nach einer Periode des Aufstiegs, der Entfaltung menschlicher Kräfte, der Emanzipation des Individuums, nach einer ungeheuren Macht über die Natur schließlich die weitere Entwicklung hintanhält und die Menschheit einer neuen Barbarei zutreibt."20 Angesichts der Zuspitzung der Verhältnisse konzentrierten Horkheimer und Adorno sich zunehmend auf die Frage nach den historischen Wurzeln der ,,neue[n] Art von Barbarei".21 In der Dialektik der Aufklärung erkennen sie diese im Zusammenhang mit der in der Aufklärung eingenommenen Stellung des Menschen zur Natur. zur

-

-

1.2.

Eingedenken der Natur im Subjekt

In der Dialektik der Aufklärung verbinden Horkheimer und Adorno ihre Metaperspektive mit einer Rekapitulation der Menschheitsgeschichte. Dabei geht es ihnen nicht um ,objektive' Geschichtsschreibung, sondern um das Freilegen einer von der abendländischen Aufklärungstradition verdrängten Dimension.

„Unter der bekannten Geschichte Europas läuft eine unterirdische. Sie besteht im Schicksal

der durch Zivilisation verdrängten und entstellten menschlichen Instinkte und Leidenschaften. Von der faschistischen Gegenwart aus, in der das Verborgene ans Licht tritt, erscheint auch die manifeste Geschichte in ihrem Zusammenhang mit jener Nachtseite, die in der offiziellen Legende der Nationalstaaten und nicht weniger in ihrer progressiven Kritik übergangen wird."22 Durch den „Zivilisationsbruch" wird die schichte sichtbar:23

von

der

Aufklärung

unterdrückte Seite der Ge-

17 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 21. 18 Ebd., 15, Vorwort zur italienischen Ausgabe (1962/1966). 19 „Ich habe zu zeigen versucht, daß die Ereignisse des Holocausts Horkheimer und Adorno in einen tiefen innerpsychischen Konflikt stürzten. Die psychische Arbeit an diesem Konflikt leisteten sie ganz wesentlich auf der Ebene der Geschichtsphilosophie, vor allem in der Dialektik der Aufklärung. Ich habe die Dialektik der Aufklärung deshalb als eine in wichtigen Punkten mythische Reaktion auf das Trauma des Holocausts zu interpretieren versucht." Ulrich Wegerich, Dialektische Theorie, 101. 20 Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie (1937), in: Gesammelte Schriften Bd. 4, Frankfurt a.M.

1988,201.

21 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 16. 22 Ebd., 263. 23 Vgl. dazu auch das Kapitel „Das Prisma des Faschismus" in: Gunzelin Schmid

Noerr, Eingedenken, 87-93.

Stefan Schlagowsky

266

„Das extreme Phänomen in der Geschichte, der Exzeß, fungiert [...] als eine Art Prisma.

Ein Grenzfall ist für die Zivilisation im ganzen zwar nicht unbedingt repräsentativ, aber er ist signifikant für die im Rudimentären und Normalen schlummernden Destruktions-

potentiale"24

Angesichts des Rückfalls in Barbarei reflektieren Horkheimer und Adorno auf den grundsätzlichen Anspruch der Aufklärung sowie auf seine reale und mögliche Verwirklichung. „Was wir uns vorgesetzt hatten, war tatsächlich nicht weniger als die Erkenntnis, warum die

Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue

Art

von

Barbarei versinkt."25

Als das Wesen der

Aufklärung

bestimmten Horkheimer und Adorno den

Anspruch

der

Natur".26 Für diese äußerst weit gefaßte Bestimmung von Aufklärung ist „Emanzipation von besonderer Bedeutung, daß sie nicht getrennt von der systematisch vorgängigen von

anthropologischen Bestimmung eines gattungsgeschichtlichen ,,Verlangen[s] des Menschen,

die Natur zu beherrschen",27 zu denken ist. Insofern sind nach Horkheimer und Adorno auch die vor- und außereuropäischen Praktiken wie Zauberei, Magie und mythische Opferrituale Versuche der Naturbeherrschung; und in diesem Sinne heißt es in der Dialektik der Aufklärung: „schon der Mythos ist Aufklärung".28 Als problematisch bewerten Horkheimer und Adorno jedoch die Form der Naturbeherrschung, die mittels der Vernunft am Beginn der abendländischen Geschichte anhebt:

„Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein. So ist die Bahn der europäischen Zivilisation verlaufen. Die Abstraktion, das Werkzeug der Aufklärung, verhält sich zu ihren Objekten wie das Schicksal, dessen Begriff sie ausmerzt: als Liquidation."29 Die Vernunft steht bei Horkheimer und Adorno im Verdacht, für die Krise der Zivilisation mitverantwortlich zu sein. „Seit der Zeit, da die Vernunft das Instrument der Beherrschung

Gunzelin Schmid Noerr, Eingedenken, 104. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 16. Gunzelin Schmid Noerr, Eingedenken, 38 (Schmid Noerr hat das Wort von kursiv gesetzt). Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumenteilen Vernunft ( 1946), in: Gesammelte Schriften Bd. 6, Frankfurt a.M. 1991, 176 (Hervorhebung von mir). Ich werde im folgenden Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung und Horkheimers Zur Kritik der instrumentellen Vernunft als zwei einander ergänzende Werke betrachten und Unterschiede hier nicht diskutieren. Horkheimer selbst betrachtete seine Eclipse of Reason als „nächstverwandt" mit der Dialektik der Aufklärung. Max Horkheimer, Brief an Heinz Maus ( 10.12.1946); in: Gesammelte Schriften Bd. 17, Frankfurt a.M. 1996, 774. 28 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 21. Vgl. zur Kritik dieser These: Othmar F. Fett, „Mythen in der Dialektik der Aufklärung. Anmerkungen zur Odyssee als historische Quelle bei Horkheimer und Adorno", in: Joachim Müller-Warden und Harald Welzer (Hg.), Fragmente Kritischer Theorie, Tübingen 1991, 145-164. Fett hat gezeigt, daß die These „schon der Mythos ist Aufklärung" die rationalistischen Tendenzen der Kanonisierung der überlieferten Mythen im Homerischen Epos mit dem ursprünglich mythischen Weltverhältnis verwechselt. 29 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 35. 24 25 26 27

267

Mensch Natur? -

der menschlichen und außermenschlichen Natur durch den Menschen wurde das heißt seit ihren frühesten Anfängen [...] [machte] sie die Natur zum bloßen Objekt".30 Mit dem Eingedenken der Natur im Subjekt soll die Dichotomie von Vernunft und Natur aufgehoben werden, indem Vernunft sich als Werkzeug der Gattungsemanzipation und damit selbst als Natur erkennt. Nach Horkheimer und Adorno gilt es, die Vernunft, die als „Logik des Entweder-Oder [...] von Natur radikal sich emanzipierte, als diese Natur, unversöhnt und sich selbst entfremdet, wiederzuerkennen."31 -

-

einer Krankheit sprechen, welche die Vernunft befallt, so sollte diese Krankheit nicht so verstanden werden, als hätte sie die Vernunft in irgendeinem historischen Augenblick heimgesucht, sondern als untrennbar vom Wesen der Vernunft in der Zivilisation, wie wir sie bis jetzt gekannt haben. Die Krankheit der Vernunft gründet in ihrem Ursprung, dem Verlangen des Menschen, die Natur zu beherrschen, und die .Genesung' hängt von der Einsicht in das Wesen der ursprünglichen Krankheit ab nicht von einer Kur der späten Symptome. Die wahre Kritik der Vernunft wird notwendigerweise die tiefsten Schichten der Zivilisation aufdecken und ihre früheste Geschichte erforschen."32

„Wollte

man von

Diese von Horkheimer in Eclipse of Reason formulierte genealogische Fragestellung ist das Grundthema auch der Dialektik der Aufklärung. Als Reflexion auf die Veränderungen des Naturverhältnisses der Menschen im Prozeß ihrer Subjektwerdung ist dies auch im Zusammenhang mit dem von Horkheimer und Adorno beabsichtigten Projekt einer „dialektischen Anthropologie"33 zu verstehen. Die Forderung nach einem „Eingedenken der Natur im Subjekt, in dessen Vollzug die verkannte Wahrheit aller Kultur beschlossen liegt",34 steht in der Dialektik der Aufklärung an hervorgehobener Stelle: am Ende des ersten Kapitels, das der kritischen Vergewisserung des Begriffs der Aufklärung gewidmet ist. Gunzelin Schmid Noerr, der Mitherausgeber von Horkheimers Schriften, hat dem Eingedenken der Natur im Subjekt eine eigene Untersuchung gewidmet und gezeigt, daß mit dieser Formulierung das Zentrum von Horkheimers und Adornos Aufklärungskritik bezeichnet ist:

„Das Innewerden des Geistes als Gewalt, als mit sich entzweiter Natur, trägt den Namen

des ,Eingedenkens der Natur im Subjekt'. Das ist zugleich der Name für das Verfahren der Dialektik der Aufklärung selbst."35

sperrigen Formel vom Eingedenken der Natur im Subjekt wird eine genealogische Konzeption formuliert, die zugleich auch auf ihren eigenen Ursprung verweist. Schmid Noerr hat das genealogische Moment des Eingedenkens der Natur im Subjekt ebenso herausgearbeitet wie den historischen Hintergrund dieser Konzeption selbst: Mit der

30 31 32 33

Max

Horkheimer, Kritik der instrumenteilen Vernunft, 176.

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 62. Max Horkheimer, Kritik der instrumentellen Vernunft, 176. Am Ende des Vorwortes der Dialektik der Aufklärung heißt es: „Im letzten Teil werden Aufzeichnungen und Entwürfe publiziert, die teils [...] Probleme kommender Arbeit vorläufig umreißen. Die meisten beziehen sich auf eine dialektische Anthropologie." Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 23. 34 Ebd., 64. 35 Gunzelin Schmid Noerr, Eingedenken, 21.

Stefan Schlagowsky

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„Im alltagssprachlich zumal in der Form des substantivierten Verbs kaum gebräuch-

lichen Terminus des ,Eingedenkens' schwingt die Bedeutung eines fast rituellen SichErinnerns mit, bei dem das Erinnerte und die Anstrengung des Sich-Erinnerns zu einem neuen Anteil des Selbst werden soll. Der jüdische Kult kennt solches Eingedenken als Vergegenwärtigung der Geschichte des Volkes Israel."36 -

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Als Reflektieren auf die Geschichte der Subjektwerdung ist das Eingedenken der Natur im Subjekt ein genealogisches Konzept, das durch das Erinnern der Unterdrückung und der Unterdrückungsgeschichte der inneren und äußeren Natur zugleich zur Methode der Kritik wird. Wie der Mensch zum Subjekt wird, wenn er sich von Natur emanzipiert, und was dabei seiner inneren und äußeren Natur widerfahrt, ist das Problem. Die Leugnung der Naturhaftigkeit des Menschen, die Unterdrückung seiner Triebe, seiner Sinne, seines Leibes wird zum Gegenstand der Kritik, weil sich in dieser Leugnung das repressive Verhältnis des Menschen zur Natur ausdrückt. „Da diese Unterjochung der Natur innerhalb und außerhalb des Menschen ohne ein sinnvolles Motiv vonstatten geht, wird Natur nicht wirklich transzendiert oder versöhnt, sondern bloß unterdrückt."37 Das Eingedenken der Natur im Subjekt ist der Versuch, das ursprüngliche Telos der Aufklärung wie auch dessen Verlust zu vergegenwärtigen. Es erinnert die Naturhaftigkeit des Subjekts ebenso wie die Notwendigkeit, diese zu überwinden. Horkheimer und Adorno bestätigen so den ursprünglichen Anspruch der Aufklärung: Die mißlungene Emanzipation von Natur soll durch das Eingedenken der Natur im Subjekt überwunden, die „Verleugnung der Natur im Menschen [...] um der Herrschaft über die außermenschliche Natur und über andere Menschen willen"38 soll aufgehoben werden. Die Versöhnung mit der Natur ist dann zugleich Einlösung des ursprünglichen Emanzipationsanspruches und Revokation des herrschenden negatorischen Verhältnisses des Menschen zur Natur. Auf diesem Wege soll das Telos der Gattungsemanzipation zurückgewonnen werden. Kern aller zivilisatorischen Rationalität, ist die Zelle der fortwuchernden mythischen Irrationalität: mit der Verleugnung der Natur im Menschen wird nicht bloß das Telos der auswendigen Naturbeherrschung, sondern das Telos des eigenen Lebens verwirrt und undurchsichtig. In dem Augenblick, in dem der Mensch das Bewußtsein seiner selbst als Natur sich abschneidet, werden alle die Zwecke, für die er sich am Leben erhält, der gesellschaftliche Fortschritt, die Steigerung aller materiellen und geistigen Kräfte, ja Bewußtsein selber, nichtig, und die Inthronisierung des Mittels als Zweck, die im späten Kapitalismus den Charakter des offenen Wahnsinns annimmt, ist schon in der Urgeschichte der Subjektivität wahrnehmbar."39

„Eben diese Verleugung, der

36

Ebd., 23. Es folgt ebd. als Fußnote: „Auch Benjamin verwendet den Terminus in diesem Sinn. In Über den Begriff der Geschichte wird der Bezug zum jüdischen Feiertagsritus, zu Thora und Gebet, deutlich (These XV und Anhang B). Das religiöse Eingedenken der Geschichte des jüdischen Volkes dient als Modell für Benjamins Begriff der materialistischen Geschichtsschreibung. Wie das Ritual des Feiertags das Kontinuum des Alltags aufsprengt, so stellt die materialistische Historik das Geschehen gleichsam still, macht es zu einer Monade, in der die Ganzheit des jeweiligen geschichtlichen Zusammenhangs aufgehoben ist (These XVII)." Max Horkheimer, Kritik der instrumenteilen Vernunft, 106. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 78.

37 38 39 Ebd.

Mensch Natur?

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Konzeptionen eines Eingedenkens der Natur im Subjekt und einer Urgeschichte der Subjektivität gehen um noch einmal auf die Kontinuität in der Theorieentwicklung Horkheimers und Adornos hinzuweisen bis in die frühen dreißiger Jahre zurück: In seinem 1932 gehaltenen Vortrag „Die Idee der Naturgeschichte"40 hat Adorno Überlegungen zur Geschichtskonzeption vorweggenommen, die in der Dialektik der Aufklärung weiter ausgearbeitet wurden.41 Schon in dieser frühen Schrift entwirft Adorno eine „ontologische Umorientierung der Geschichtsphilosophie"42 mit dem Ziel einer „Perspektivenänderung",43 indem er es unternimmt, Natur und Geschichte in einem dialektischen Verhältnis zu begreifen. Zum einen versucht er „die übliche Antithesis von Natur und Geschichte aufzuheben",44 zum anderen hypostasiert er schon hier das „Moment der Versöhnung, als das prinzipielle Hinausgehen über den Naturzusammenhang."45 Horkheimers und Adornos Besinnung auf das verschüttete Telos der Aufklärung und ihrer wie auch immer im einzelnen divergierenden Theorien ist zugleich der Versuch einer „Rettung der Aufklärung":46 ,,[D]ie Aufklärung muß sich auf sich selbst besinnen, wenn die Menschen nicht vollends verraten werden sollen. Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der vergangenen Hoffnung ist es zu tun."47 Das eigentliche Ziel der Aufklärung ist nach Horkheimer und Adorno die Gattungsemanzipation, der Verlust dieses Zieles durch die Verdrängung des Bewußtseins der eigenen Naturhaftigkeit bedeutet für sie die Gefahr, durch eine „Revolte der Natur",48 durch eine „Rebellion der verpönten Natur"49 „zurückzusinken in Natur".50 Vom Standpunkt des Eingedenkens der Natur im Subjekt können sie die Ideologie der Getrenntaeit von Mensch und Natur kritisieren und zugleich an das Ideal der Befreiung vom Naturzwang erinnern. Damit bestätigen Horkheimer und Adorno die Grundprämisse der Aufklärungstradition: Der Mensch Diese

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40 Theodor W. Adorno, „Die Idee der Naturgeschichte" ( 1932), in: Gesammelte Schriften Bd. 1, Frankfurt a.M. 1997, 345-365. 41 „Um die Implikationen des Geschichtsbegriffs herauszuarbeiten, der der DialektikderAußlärungzugninde liegt, empfiehlt es sich, zunächst auf Adornos programmatischen Vortrag über Die Idee der Naturgeschichte aus dem Jahre 1932 einzugehen. Dessen Thematik bleibt für die spätere Geschichtsphilosophie der Kritischen Theorie bestimmend." Gunzelin Schmid Noerr, Eingedenken, 27. 42 Theodor W. Adorno, „Idee der Naturgeschichte", 355. 43 Ebd., 356. 44 Ebd., 345. 45 Ebd., 363. 46 Horkheimer und Adorno geht es darum, „das Einheitsmoment der Politik und der Philosophie konkret zu bestimmen. Wir sehen dieses Einheitsmoment im Festhalten der radikalen Impulse des Marxismus und eigentlich der gesamten Aufklärung denn Rettung der Aufklärung ist unser Anliegen". Zitiert aus dem Protokoll einer Diskussion zwischen Horkheimer und Adorno am 7.10.1946, in: Max Horkheimer, Diskussionsprotokolle, in: Gesammelte Schriften Bd. 12, Frankfurt a.M. 1985, 597. 47 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 20. 48 Vgl. für das hier nicht weiter verfolgte Thema der „Revolte der Natur": Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumenteilen Vernunft; dort das Kapitel 3 : „Die Revolte der Natur", 105 ff. „Widerstand und Aufbegehren, wie sie aus dieser Unterdrückung der Natur erwachsen, haben die Zivilisation seit ihren Anfängen bestürmt, in Gestalt gesellschaftlicher Rebellionen wie die spontanen Bauernerhebungen des sechzehnten Jahrhunderts oder die klug inszenierten Rassentumulte unserer Tage ebenso wie in Gestalt individuellen Verbrechens und der Geistesstörung. Typisch für unsere gegenwärtige Ära ist die Manipulation dieser Revolte durch die herrschenden Kräfte der Zivilisation selbst, die Benutzung der Revolte als Mittel zur Verewigung eben jener Bedingungen, durch welche sie hervorgerufen wird und gegen die sie sich richtet." Ebd., 106 f. 49 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 267. 50 Ebd., 259. -

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steht als Mängelwesen mit Naturangst vor der Übermacht der „feindlichen Natur"51 und versucht, sich von Natur zu emanzipieren. Horkheimer und Adorno stellen also nicht diese anthropologische Grundannahme in Frage, sondern problematisieren die Form der strikten Entgegensetzung von Mensch und Natur als Ideologie der Aufklärung. Aber indem Horkheimer und Adorno das Wesen der abendländischen Aufklärung in der Gattungsemanzipation begründet sehen, bewahren sie zugleich die anthropologische Grundprämisse dieser Konzeption. Insbesondere die Ontologisierung menschlicher „Naturangst" und einer „kranken Einsamkeit",52 in der aus der Sicht Horkheimers und Adornos scheinbar evident alle Natur befangen sei, als Movens der Aufklärung erscheint hierbei als fragwürdiges Verfahren einer „Konstruktion der Weltgeschichte", die im Grunde die destruktive Kraft der abendländischen Zivilisation aufdecken will.53 Ich bin der Auffassung, daß es sich um eine Verwechslung von anthropologischen mit kulturspezifischen Aspekten des Naturverhältnisses handelt, die Horkheimer und Adorno die Einsicht in die „Krankheit der Vernunft"54 versperrt. Mit dem Festhalten an der anthropologischen Prämissenkonstellation eines Mängelwesens mit Naturangst auf der einen und einer als „kranke Einsamkeit" begriffenen Natur auf der anderen Seite ratifizieren sie noch jene kulturspezifische naturnegatorische Moral, mit der die Aufklärung einsetzt. Gerade die Abwertung der sinnlich wahrnehmbaren Welt gegenüber einer von aller Sinnenhaftigkeit gereinigten außerweltlichen und damit übernatürlichen Ideenwelt ist für die abendländische Vernunft konstitutiv. Mit der anthropologischen Verlagerung der Krankheit dieser Vernunft, mithin eines spezifisch eurogenen Phänomens, in die Problematik des Menschen, erheben sie, wie schon Hegel, das Besondere der europäischen Entwicklung abermals zum Entwicklungsgesetz der Menschheit. „Und wirklich ist der Einzelne nur insoweit groß und frei, als groß seine Naturverachtung."55 Obwohl Horkheimer und Adorno diesen Bann durchbrechen wollen, bleiben sie an entscheidender Stelle stehen. Als Erkenntnisschranke gewinnt in diesem Zusammenhang ihre dem Eingedenken der Natur im Subjekt zuwiderlaufende allzu strikte Abgrenzung vom Tier grundlegende Bedeutung: „Die Dauer des Tiers, vom befreienden Gedanken nicht unterbrochen, ist trübe und depressiv. Um dem bohrend leeren Dasein zu entgehen, ist ein Widerstand notwendig, dessen Rückgrat die Sprache ist. Noch das stärkste Tier ist unendlich debil."56 Obwohl sie die strikte Entgegensetzung von Mensch und Tier, die stets stellvertretend für die Abgrenzung Mensch Natur eingesetzt wird, als kulturspezifisches, namentlich abendländisches Phänomen entlarven, bleiben sie der anthropologisierenden Darstellungsweise verhaftet. -

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„Die Idee des Menschen in der europäischen Geschichte drückt sich in der Unterscheidung Tier aus. Mit seiner Unvernunft beweisen sie die Menschenwürde. Mit solcher Beharrlichkeit und Einstimmigkeit ist der Gegensatz von allen Vorvorderen des bürgerlichen Denkens, den alten Juden, Stoikern und Kirchenvätern, dann durchs Mittelalter und die vom

51 Ebd., 249. 52 Ebd., 219. 53 Ebd., 254. 54 Max Horkheimer, Kritik der instrumenteilen Vernunft, 176. 55 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Jenenser Realphilosophie, zit. nach: Gunzelin Schmid Noerr, „Konstellationen der zweiten Natur", in: Gesten aus Begriffen, Frankfurt a.M. 1997, 25. Dort ohne genauere Angabe der Quelle. 56 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aujklärung, 279.

Mensch Natur?

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hergebetet worden, daß er wie wenige Ideen zum Grundbestand der westlichen Anthropologie gehört. Auch heute ist er anerkannt."57

Neuzeit

Im Sinne des Eingedenkens der Natur im Subjekt gilt es jedoch, die kulturspezifische Setzung des Gegensatzes Mensch Tier58 / Mensch Natur, durch eine Rekonstruktion ihrer spezifischen Entstehungsbedingungen, von ihrem anthropologistischen Schleier zu befreien. -

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II. Nietzsches Infragestellung der Entgegensetzung Mensch Natur -

Schmid Noerr hat die zentrale Bedeutung des Eingedenkens der Natur im Subjekt für Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung gezeigt, ist jedoch dem Einfluß Nietzsches auf diese Konzeption nicht nachgegangen. Ein solcher Einfluß wird in der Sekundärliteratur gelegentlich zwar berührt so etwa bei Lothar Düver,59 Wolfram Stender60 und Thomas Link61 aber selten eingehender behandelt. Dagegen hat besonders Hermann Schweppenhäuser in seinem Aufsatz „Nietzsche Eingedenken der Natur im Subjekt"62 den Einfluß Nietzsches auf die zentrale Problemstellung Horkheimers und Adornos zwar gesehen, aber er unterschätzt die Radikalität und die Brisanz, die jeweils in den beiden Ansätzen von Horkheimer, Adorno und Nietzsche liegen. Im Zuge von Horkheimers und Adornos Versuch einer Selbstreflexion der Aufklärung gewinnt Nietzsches Philosophie zunehmend an Bedeutung für die Vorstellung der Kritischen Theorie von einem Umschlagen der emanzipatorischen Kräfte. Peter Pütz weist daher zu -

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57 Ebd., 277. 58 Martin Heidegger hat 1946 in seinem .Humanismusbrief (Über den Humanismus, Bern 1947) diese abendländische Tradition zusammengefaßt. „Der Mensch gilt als das animal rationale. [...] Diese Wesensbestimmung ist nicht falsch. Aber sie ist durch Metaphysik bestimmt." (12). Nach Heidegger sind wir nicht „auf dem rechten Wege zum Wesen des Menschen, wenn wir den Menschen und solange wir den Menschen als ein Lebewesen unter anderen gegen Pflanze, Tier und Gott abgrenzen" (13), sondern wir „müssen [...] uns frei machen von der technischen Interpretation des Denkens. Deren Anfänge reichen bis zu Plato und Aristoteles zurück." (6) Doch geht es Heidegger um alles andere als ein ,Eingedenken der Natur im Subjekt'; vielmehr muß er als einer der theoretischen Vollender der prekären Entgegenstellung von Mensch und Natur betrachtet werden, insofern er die traditionelle Abgrenzung gerade dahingehend problematisiert, daß sie „die kaum auszudenkende abgründige leibliche Verwandtschaft mit dem Tier" (15) nicht überwindet. „Man denkt im Prinzip stets den homo animalis, selbst wenn anima als animus sive mens und diese später als Subjekt, als Person, als Geist gesetzt werden. Solches Setzen ist die Art der Metaphysik" (15). Dagegen weiß Heidegger: „Der Leib des Menschen ist etwas wesentlich anderes als ein tierischer Organismus." ( 14) Obwohl Heidegger den Anspruch hat, die Metaphysik zu überwinden, verbleibt er doch zugunsten seines ontologischen Humanismus der der problematischen metaphysischen Entgegensetzung von Mensch und Natur als zweier getrennter Welten verhaftet 59 Lothar Düver, Theodor W. Adorno. Der Wissenschaftsbegriff in seinem Werk, Bonn 1978. 60 Wolfram Stender, Kritik und Vernunft. 61 Thomas Link, Mensch und Natur. Zum Begriff der Natur in den sozialwissenschaftlichen Theorien der Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 1992. 62 Hermann Schweppenhäuser, „Nietzsche Eingedenken der Natur im Subjekt", in: Vergegenwärtigungen zur

Unzeit?, Lüneburg 1986, 178-205.

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daraufhin, daß schon Nietzsche „im Sinne der kritischen Theorie erkannt [hat], daß Aufklärung sich in ihr Gegenteil verkehrt hat".63 Recht

„Bereits ein halbes Jahrhundert vor dem Entstehen der kritischen Theorie hat Nietzsche die

geschichtliche Dialektik der Aufklärung erkannt. Diese Erkenntnis bleibt aber nicht auf die

Erscheinung im 18. Jahrhundert beschränkt, sondern weitet sich aus zu einer Betrachtung der gesamten Geschichte und schließlich zu der entschiedenen Ansicht von der Historizität aller Gegenstände und Begriffe. [...] Auch hierin ist Nietzsche ein Vorläufer

historische

der kritischen Theorie."6*

Angesichts der Entwicklung des Faschismus und der „Krise des Marxismus" erweiterte sich wie gezeigt der Problemhorizont der Fragestellung Horkheimers und Adornos. Diese Erweiterung folgt Nietzsches Frage nach den historischen Entstehungsgründen des „europäischen Nihilismus" (GM, KSA 5, 408) und ist als eine der nachhaltigen Wirkungen von

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Nietzsches Kritik der abendländischen Kultur aufzufassen. Insbesondere Nietzsches Genealogie der Moral wurde für den Wandel des Geschichtsverständnisses der Kritischen Theorie auschlaggebend. „Die Genealogie der Moral ist das für Adorno und Horkheimer wichtigste und am meisten bestimmende Buch Nietzsches; es wird als eines der Grundbücher kritischer Theorie adoptiert".65 Nietzsche geht es um die „Frage nach der Herkunft der moralischen Werte", von deren Klärung er die „Zukunft der Menschheit bedingt" sieht (EH, KSA 6, 330). Im Ergebnis verurteilt er die Begründung des repressiven Verhältnisses der abendländischen Geschichte zur inneren und äußeren Natur des Menschen als „lebensfeindlich" (GD, KSA 6, 83). „Die Instinkte bekämpfen müssen das ist die Formel für décadence" (GD, KSA 6, 73). Die Geschichte des Abendlandes begreift Nietzsche als „zwei Jahrtausende Widernatur und Menschenschändung" (EH, KSA 6, 313), die sich unter der aus einer frühen Umwertung hervorgegangenen Vorherrschaft lebensverneinender (asketischer) Werte der abendländischen Moral vollziehen. Widernatürlich sind diese Werte nach Nietzsche durch ihre Abwertung, ihre Negation der realen sinnlich-stofflichen Welt. Das Absehen von Natur deutet Nietzsche als ein „der Förderung, Nützlichkeit, Gedeihlichkeit in Hinsicht auf den Menschen" zuwiderlaufendes -

„Rückgangssymptom" (GM, KSA 5, 253). Nietzsche hat erkannt, daß Vernunft und Moral nicht getrennt voneinander zu denken sind, sondern daß im Gegenteil die Vernunft schon insofern moralisch ist, als sie zugleich mit der ihr zugrundeliegenden

Konzeption einer Gegenüberstellung von Wahrheit und Schein zugunempirische Welt als .unwahre', als scheinbare' abwertet. Dagegen weiß Nietzsche: „Die .scheinbare' Welt ist die einzige: die .wahre Welt' ist nur hinzugelogen ..." (GD, KSA 6, 75). Der daran orientierten rationalen Erkenntnis gilt die ,scheinbare' Welt nur als Störfaktor. Nietzsche spürt das repressive Verhältnis des Menschen zur Natur in der Vernunft selbst auf. Die empirische Welt erfahrt durch die Moral der Vernunft ihre für das repressive Naturverhältais des abendländischen Menschen entsten der Annahme überempirischer Wahrheiten die

scheidende Abwertung. Das

teleologische Moment einer auf diesem Naturverhältais gründen-

63 Peter Pütz, „Nietzsche im Lichte der kritischen Theorie", in: Nietzsche-Studien 3/1974, New York/Berlin, 180. 64 Ebd., 183 (Hervh. von mir). 65 Norbert Rath, „Zur Nietzsche-Rezeption Horkheimers und Adornos", in: Willem van Reijen und Gunzelin Schmid Noerr (Hg), Vierzig Jahre Flaschenpost, Frankfurt a.M. 1987, 74.

273

Mensch Natur? -

den Wissenschaft erscheint für Nietzsche als

„ein versteckter Wille zum Tode" (FW, KSA 3,

576). „Man hat die Realität in dem Grade

um ihren Werth, ihren Sinn, ihre Wahrhaftigkeit gebracht als man eine ideale Welt erlog Die ,wahre Welt' und die .scheinbare Welt' auf deutsch: die erlogne Welt und die Realität... Die Lüge des Ideals war bisher der Fluch ...

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über der Realität, die Menschheit selbst ist durch sie bis in ihre untersten Instinkte hinein verlogen und falsch geworden bis zur Anbetung der umgekehrten Werthe, als die sind, mit denen ihr erst das Gedeihen, die Zukunft, das hohe Recht auf Zukunft verbürgt wäre." (EH, KSA 6, 258) -

In der Genealogie der Moral fragt Nietzsche nach der Genesis des moralischen Glaubens die Wahrheit und danach, „welchen Werth" die „Werthurtheile gut und böse" haben.

an

„Sprechen wir sie aus, diese neue Forderung: wir haben eine Kritik der moralischen Werthe nöthig, der Werth dieser Werthe ist selbst erst einmal in Frage zu stellen und dazu taut eine Kenntnis der Bedingungen und Umstände noth, aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben" (GM, KSA 5, 253). -

an die Wahrheit, bzw. der einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit" (GM, „Ehrfurcht gebietenden Katastrophe KSA 5, 409), die Geschichte der abendländischen Naturnegation die Abwertung der realen Welt zugunsten einer intelligiblen prinzipiell zu problematisieren.

Es

geht

Nietzsche

darum, mit der Genealogie des Glaubens

-

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„Es ist kein Zweifel, der Wahrhaftige, in jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wissenschaft voraussetzt, bejaht damit eine andre Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte; und insofern er diese ,andre Welt' bejaht, wie? muss er nicht ebendamit ihr Gegenstück, diese Welt, unsre Welt verneinen? Es ist immer noch ein metaphysischer Glaube, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht, [...] der auch der Glaube Plato's war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist ..." (FW, KSA 3, 577) ...

-

Nietzsche, der lange vor Horkheimer und Adorno die für das Selbstverständnis der Aufklärung konstitutive Annahme der Entgegensetzung von Mensch und Natur als Ideologie entlarvte und das Eingeständnis des ,,Mangel[s] aller kardinalen Verschiedenheit zwischen Mensch und Tier" (HL, KSA 1,319) forderte: Es

war

abendländischen

„Den Menschen nämlich zurückübersetzen in die Natur; über die vielen eitlen und schwärmerischen Deutungen und Nebensinne Herr werden, welche bisher über jenen ewigen Grundtext homo natura gekritzelt und gemalt wurden; machen, dass der Mensch fürderhin vor dem Menschen steht, wie er heute schon, hart geworden in der Zucht der Wissenschaft, vor der anderen Natur steht, mit unerschrocknen Oedipus-Augen und

verklebten Odysseus-Ohren, taub gegen die Lockweisen alter metaphysischer Vogelfänger, welche ihm allzulange zugeflötet haben: ,du bist mehr! du bist höher! du bist anderer Herkunft!' das mag eine seltsame und tolle Aufgabe sein, aber es ist eine Aufgabe wer wollte das leugnen!" (JGB, KSA 5, 169) -

-

Stefan Schlagowsky

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Mit der Anspielung auf zwei berühmte Ahnherren des Abendlandes weist Nietzsche auf die Ratifizierung und Rationalisierung der Naturnegation als konstitutiv für die abendländische Metaphysik hin. Dieses Zurückübersetzen' des Menschen in Natur ist Nietzsches „Versuch einer Umwerthung aller Werthe" (GM, KSA 5, 409), die die am Beginn des Abendlandes im „Sklaven-Aufstand in der Moral" vollzogene „Umkehrung der Werthe", in der „zum ersten Male das Wort .Welt' zum Schandwort gemünzt" (JGB, KSA 5, 117) wurde, revozieren soll. Diese Anamnese der Geschichte der Subjektwerdung ist der rote Faden sowohl der gesamten Dialektik der Aufklärung wie der Genealogie der Moral. „Wenn Nietzsche sich über die ,Förderung moralhistorischer Studien' Gedanken machte, so ist ihm in der Dialektik der Aufklärung die Förderung einer solchen Studie gelungen."66 Horkheimers und Adornos Forderung eines Eingedenkens der Natur im Subjekt, das die Leugnung der Naturhaftigkeit des Menschen aufheben will, folgt Nietzsches Kritik der Naturnegation im abendländischen Glauben an die Wahrheit und der wertenden Gegenüberstellung des Menschen als erkennendem Subjekt auf der einen und der Natur als bloßer Objektwelt auf der anderen Seite.

„Die ganze Attitüde ,Mensch gegen Welt', der Mensch als Welt-verneinendes' Princip, der Mensch als Werthmaass der Dinge, als Welten-Richter, der zuletzt das Dasein selbst ,

auf seine Wagschalen legt und zu leicht befindet die ungeheuerliche Abgeschmacktheit dieser Attitüde ist uns als solche zum Bewusstsein gekommen und verleidet, wir lachen schon, wenn wir ,Mensch und Welt' nebeneinander gestellt finden, getrennt durch die sublime Anmaassung des Wörtchens ,und'!" (FW, KSA 3, 580 f.) -

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Diese

Verdopplung der Natur kritisierte nach Nietzsche auch Adorno in seiner frühen Schrift

„Zur Idee der Naturgeschichte": „In Wahrheit ist die zweite Natur die erste".67 Die kritische Stoßkraft in Nietzsches Versuch einer Umwertung der Werte, des ,Zurückübersetzens des Menschen in Natur', findet sich in Horkheimers und Adornos Forderung des Eingedenkens der Natur im Subjekt wieder: „Der herrschenden Praxis und ihren unentrinnbaren Alternativen ist nicht die Natur gefährlich, mit der sie vielmehr zusammenfällt, sondern daß Natur erinnert

wird."68

Doch obwohl Horkheimers und Adornos Forderung eines Eingedenkens der Natur im Subjekt und Nietzsches Genealogie der Moral weitreichende Parallelen aufweisen, muß zugleich gesehen werden, daß es gerade die intentionalen Differenzen sind, die beide Positionen grundsätzlich voneinander trennen. Rettung der Aufklärung und Umwertung der Werte sind trotz aller aufklärungskritischer Gemeinsamkeiten zwei divergierende Konzepte. Während im ersten das Telos der Emanzipation von Natur vergewissert werden soll, das als anthropologische Evidenz nur in bezug auf die Form seiner Einlösung, bzw. Nicht-Einlösung, zur Sprache gebracht wird, geht es im letzteren um die Kritik solch vermeintlicher Evidenz durch den Aufweis der ihr zugrundeliegenden kulturspezifischen Abwertung der Natur.

66 Norbert Rath, Nietzsche-Rezeption Horkheimers und Adornos, 88f. Das Nietzsche-Zitat findet sich in: GM, KSA 5, 288. 67 Theodor W. Adorno, „Idee der Naturgeschichte", 365. 68 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 287.

275

Mensch Natur? -

III.

Zusammenfassung

Wie die genealogischen Fragestellungen Horkheimers, Adornos und Nietzsches für eine Kritik der globalisierten Probleme unserer Gegenwart fruchtbar zu machen wären, läßt sich im hier gegebenen Rahmen nur andeuten. Neben den schon erwähnten und weiteren Parallelen zwischen Horkheimers, Adornos und Nietzsches Ansätzen bleibt es doch bei der einen entscheidenden Differenz: Während für Horkheimer und Adorno das Abendland eingebettet ist in das ,Seit-je' der Weltgeschichte, in der sich der Mensch verstanden als Mängelwesen von Natur emanzipieren will, hat Nietzsche entschieden mehr Gewicht auf die Frage nach den Ursachen der Umwertung der Werte am Beginn der europäischen Zivilisation gelegt, für die die Entgegensetzung Mensch Natur konstitutiv ist. Schmid Noerr, der, wie oben erwähnt, dem Einfluß Nietzsches auf Horkheimers und Adornos Forderung eines Eingedenkens der Natur im Subjekt nicht nachgeht, hat gezeigt, daß der Begriff,zweite Natur' sich bis in die Antike zurückverfolgen läßt. -

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Natur verwandelte' Gesellschaft wurde in der neuzeitlichen philosophischen Tradition als .zweite Natur' bezeichnet. Freilich reichen die historischen Wurzeln dieses Begriffs sehr viel weiter, in die Antike zurück. [...] Der Begriff ist historisch erwachsen aus dem allmählichen Brüchigwerden der antiken Kosmologie."69

„Die ,in

An dieser Stelle käme es im Sinne des von Horkheimer geforderten Erforschens der „tiefsten Schichten der Zivilisation"70 darauf an nachzufragen, unter welchen Voraussetzungen die antiken Kosmologien ,brüchig' werden. Leider verfolgt Schmid Noerr diesen Gedanken nicht. Im Rahmen dieser Arbeit kann nur der zustimmende Hinweis auf jene Auffassung erfolgen, wonach in dieser Frage der „Blick auf das in jeder Hinsicht fremde und neuartige Marktgeschehen [zu lenken ist], das in der frühgriechischen Antike die Verhältnisse zum Tanzen bringt [...]. [Djamit erstmals entstehen die Anfange jener vor allem der Natur sich zuwendenden ,vorplatonischen' und damit die Grundlage der gesamten (abendländischen) Philosophie in den Werken von Piaton und Aristoteles."71 Die sozioökonomischen Hintergründe des Aufkommens des münzvermittelten Warentausches in der griechischen Antike und der damit anhebende Zusammenhang von „Warenform und Denkform",72 von „Geld und Geist"73 mit der Ideologie einer Entgegensetzung von Mensch und Natur und der darin ausgedrückten Abwertung der Natur können an dieser Stelle nicht erörtert werden. Daß aber dieser Zusammenhang durchaus im Sinne von Nietzsches Genealogie der Moral von einiger Bedeutung

69 Gunzelin Schmid Noerr, Konstellationen der zweiten Natur, 22. 70 Max Horkheimer, Kritik der instrumenteilen Vernunft, 176. 71 Joachim Müller-Warden, „Die aktuelle Entwicklung Europas, erörtert im Lichte der Philosophie Friedrich Nietzsches", in: Nietzscheforschung 4, Berlin 1998, 126. Viele der grundlegenden Einsichten, die die hier vorgestellten Überlegungen tragen, sind inspiriert durch meine langjährige Teilnahme an Veranstaltungen über ,Die Geburt der Rationalität aus dem Geiste der Marktökonomie', Teil des Lehr- und Forschungsprojektes Zivilisationstheoretische Grundlagenforschung zur Geistes- und Wissenschaftsgeschichte am Fachbereich Geschichte, Philosophie und Sozialwissenschaften der Universität Hannover, geleitet von Joachim Müller-Warden. 72 Alfred Sohn-Rethel, Warenform und Denkform, Frankfurt a.M. 1971. 73 Rudolf Wolfgang Müller, GeldundGeist -Zur Entstehungsgeschichte von Identitätsbewußtsein und Rationalität seit der Antike, Frankfurt a.M./New York 1977.

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Frage nach den Entstehungsgründen des repressiven folgende Überlegung Nietzsches: für die

Naturverhältnisses ist,

zeigt

„Preise machen, Werthe abmessen, Äquivalente ausdenken, tauschen, das hat in einem solchen Maasse das allererste Denken des Menschen präoccupirt, dass es in einem gewissen Sinne das Denken ist: hier ist die älteste Art Scharfsinn herangezüchtet worden, hier möchte ebenfalls der erste Ansatz des menschlichen Stolzes, seines Vorrangs-Gefühls -

in Hinsicht auf anderes Gethier

zu

vermuthen sein. Vielleicht drückt noch

unser

Wort

,Mensch' (manas) gerade etwas von diesem Selbstgefühl aus: der Mensch bezeichnet sich

als das Wesen, welches Werthe misst, werthet und misst, als das .abschätzende Thier sich'."(GM, KSA 5, 305)

an

Vermutung Nietzsches von einem Zusammenhang des Äquivalententausches mit dem .Vorranggefühl des Menschen', mithin der Gegenüberstellung von Mensch und Natur, wird von Alfred Sohn-Rethel bestätigt, der völlig unabhängig von Nietzsche zu einer ähnlichen Einschätzung gekommen ist: Die

„In den Ausdrucksformen der zweiten Natur als Geld gewinnt das spezifisch Menschliche

seine erste gegenständliche, gesonderte und objektiv-reale Manifestation in der Geschichte. Sie kommt zustande durch die Notwendigkeit einer Vergesellschaftung in Ablösung von allen Betätigungsweisen des materiellen Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur. [...] Ich fasse die gesamte formale Seite des Warentauschs unter dem Ausdruck der zweiten Natur zusammen, die als eine rein gesellschaftliche, abstrakte und funktionale Realität in Gegensatz zur ersten oder primären Natur, in der wir uns mit den Tieren auf gleichem Boden befinden, zu verstehen ist."74 an uns

Ich bin der Auffassung, daß eine Anknüpfung an Horkheimers und Adornos Konzeption eines Eingedenkens der Natur im Subjekt und an Nietzsches Genealogie der Moral sowohl die Geschichte der Repression der inneren und äußeren Natur als auch die Reflexion auf die Bedingungen der Aufhebung dieses Naturverhältnisses auf jene genuin abendländische Ökonomie zu beziehen hat, der Natur zum bloßen Objekt der Verwertung gerät. Die Ideologie der Entgegengesetzheit von ,Mensch und Welt' ist nach der hier angesprochenen Auffassung in materialistischer Übersetzung von Max Webers berühmter Formulierung als Resultat jener „Verkettung von Umständen" zu begreifen, die bewirkten, „daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch wie wenigstens wir in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und uns gerne vorstellen ersten Menschen kalkulierende Betrachtung der Welt als Beute"76 „Des Gültigkeit lagen".75 ist nicht als anthropologisches Phänomen eine Konstante, sondern als kulturspezifisches dem Beginn der Marktvergesellschaftung geschuldet. Diese Auffassung betrifft die prinzipielle Differenz zwischen Horkheimers und Adornos und Nietzsches Ansätzen in bezug auf die Gewichtung kulturspezifischer und anthropolo-

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74 Alfred Sohn-Rethel, „Das Geld, die bare Münze des Apriori", in: Alfred Sohn-Rethel, Paul Mattick und Helmut G. Hansis, Beiträge zur Kritik des Geldes, Frankfurt a.M. 1976, 59. 75 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I (1904-1919), Tübingen 1988, 1 (Vorbemerkung). 76 Max Horkheimer, Kritik der instrumentellen Vernunft, 177 (Hervh. von mir).

Mensch

Natur?

277

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gischer Überlegungen. Die Reflexion auf urgeschichtliche Herleitungen und Überlegungen zum Menschen als .Gattungssubjekt' ist nicht überflüssig, aber dieser sehr große Bogen bleibt ohne die kulturspezifische Ableitung der besonderen Zurichtungen der inneren und äußeren Natur in der abendländischen Zivilisation zu unspezifisch für die Kritik der globalen Krise. Die „Hybris", „unsre ganze Stellung zur Natur" ebenso wie „unsre Stellung zu uns", erschien schon im 19. Jahrhundert als „Natur-Vergewaltigung mit Hülfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Erfindsamkeit" (GM, KSA 5, 357) und gilt in unserer Gegenwart als dringender zu hinterfragen denn je. ,,[D]as hohe Recht auf Zukunft" (EH, KSA 6, 258) hängt davon ab, die ebenfalls schon von Nietzsche gesehene Verdrängung der Krisendynamik aus dem Bewußtsein endlich zu überwinden.

ganze europäische Cultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: einem Strom ähnlich, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen." (NF, KSA 13 189)

„Unsere

Besinnung angesichts der dynamisierten Krise hieße, auf deren Ursprünge mit einer Genealogie der sozioökonomischen Bedingungen der Umwertung der Werte am Beginn der abendländischen Zivilisation zu reflektieren. Eine solche Genealogie vermag das abendländische Naturverhältais, das sich in der Entgegenstellung Mensch Natur ausdrückt, als Folge jenes Prinzips zu dechiffrieren, das kraft seiner Dynamik die Ausbeutung von innerer und äußerer Natur unaufhaltsam verschärft des am Gewinn orientierten Differenzgeschäftes als dem organisierenden Zentrum sämtlicher Verhältnisse. -

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Harald Lemke

Nietzsche: Kritische Theorie als Ethik

In systematischer Hinsicht läßt sich Kritische Theorie als eine Philosophie der Freiheit verstehen. Sie operiert in zwei Richtungen: ihre kritische Arbeit besteht darin, diejenigen Herrschaftsverhältaisse und Lebensbedingungen zu kritisieren, die Freiheitsmöglichkeiten unterdrücken und Menschen unfrei machen. Die Arbeit der Kritik richtet sich gegen die Unvernunft der vorherrschenden Existenzbedingungen. Die theoretische Kritik ist allerdings nur Mittel für einen anderen Zweck: als ein Denken der Freiheit geht es Kritischer Theorie vor allem darum, schon im Bestehenden die ergreifbaren Möglichkeiten zu konkreten Veränderungen und der Verwirklichung eines freien und selbstbestimmten Lebens aufzuweisen. In diesem dialektischen Selbstverständnis reflektiert eine kritische Philosophie das objektiv gegebene Potential einer Praxis der Freiheit. Durch die „dynamische Einheit"1 von Kritischer Theorie und verändernder Praxis wird eine Verwirklichung solcher Philosophie im Leben möglich wie dies der junge Marx forderte. Nur irrte Marx in dem Glauben, die philosophisch ausweisbare und theoretisch mögliche Verwirklichung von Freiheit würde mit historischer Notwendigkeit kommen. Von Marx' geschichtsphilosophischer Annahme einer gesellschaftlichen Zwangsläufigkeit der proletarischen Weltrevolution hatte sich die ältere Kritische Theorie um Horkheimer und Adorno schon in den dreißiger Jahren verabschiedet. Dazu bedurfte es nicht erst des Zusammenbruchs des Realsozialismus. Überzeugt von der Unmöglichkeit, konkrete Alternativen und ergreifbare Potentiale der Gesellschaftsveränderung aufweisen zu können, verfielen Adorno und Horkheimer in den sechziger Jahren in eine Resignation und Hoffnungslosigkeit, die ihre Kritische Theorie am Ende in die Sackgasse eines subjektiven und letztlich willkürlichen Negativismus trieben. Der sogenannte „Streit um die Erbschaft der Kritischen Theorie",2 in den Habermas Adorno und Horkheimer verwickelte, bezog sich auf das angesprochene Problem der theoretischen Aufgabe, eine ergreifbare Alternative und ein Anderes zur Unvernunft des Bestehenden aufzuzeigen, um überhaupt eine dialektische Gesellschaftstheorie formulieren zu können. Allerdings gelang es auch Habermas' Kommunikationstheorie aus den achtziger Jahren nicht, ein ausreichendes begriffliches Instrumentarium für die Fortführung einer Kritischen Theorie zu -

1 Max Horkheimer, Traditionelle und Kritische Theorie, Frankfurt a.M. 1968, 43. 2 Vgl. Helmut Dubiel, „Herrschaft oder Emanzipation. Der Streit um die Erbschaft der Kritischen Theorie"; in: Axel Honneth, Thomas McCarthy, Albrecht Wellmer (Hg.), Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1989,504-517.

Harald Lemke

280

bieten, um zur notwendigen Transformation der modernen Arbeitsgesellschaft philosophisch

beizutragen.3 Vor dem

deutung

Hintergrund dieser Entwicklung der Kritischen Theorie sehe ich die aktuelle BeNietzsches Philosophie der Freiheit, wie er sie in seiner mittleren Lebensphase,

von

Menschliches, Allzumenschliches, Morgenröte und Die Fröhliche Wissenentwickelt hat. Nietzsches Philosophie der Freiheit entspricht in ihrem dialektischen Zuschnitt, nämlich Kritik der Unfreiheit und zugleich auch Aufweis möglicher Selbstbestimmung zu sein, vielleicht weit mehr dem Programm einer Kritischen Theorie, als so mancher, der Anspruch auf diesen Namen erhebt. So muß der Schritt von Marx zu Nietzsche entgegen geläufiger Bedenken auf keine Verabschiedung ,linker Theorie' hinauslaufen, sondern kann ihre veränderte Fortsetzung bedeuten. Jedenfalls bietet Nietzsche meines Erachtens eine (un-jzeitgemäße Version einer kritischen Freiheitsphilosophie und eine in vielerlei Hinsicht reformulierbare Alternative zur Tradition der marxistischen Gesellschaftstheorie an. Nietzsche als kritischen Theoretiker anzusprechen, ruft sicherlich Irritationen hervor, wenn man bedenkt, daß gerade Habermas in Nietzsche den Wegbereiter und Vater der Postmoderne im negativsten Sinne ihrer Bedeutung sieht also als Gegenaufklärung, radikale Vernunftkritik und Absage an jede Form normativer Philosophie.4 Allerdings schießt Habermas mit seiner Polemik weit über sein Ziel hinaus. So läßt sich zwar sagen, daß Nietzsche ohne Zweifel (und avant la lettre) der postmoderne Philosoph par excellence ist, sofern man unter Postmoderne die schonungslose Kritik an der Moderne und an der Vorherrschaft instrumenteller Vernunft versteht. Denn in der Tat gehen von Nietzsche die entscheidendsten Impuls zum philosophischen Postmodemismus aus: seine Kritik an den ,großen Erzählungen' von der Einen Wahrheit, von einer metaphysischen Hinterwelt, von Gott, also von der absoluten Verbindlichkeit höchster Werte, vom Fortschrittsglauben und philosophiegeschichtlichen Teleologien, vom Glück der Arbeit und einer Moral der Selbstlosigkeit. Die folgenreiche Erkenntnis, daß all diese Erzählungen fraglich geworden sind und jede Form normativer Letztbegründung nicht länger möglich sei, daß in Nietzsches Worten ,Gott tot ist', bewertet Nietzsche aber als einen nicht rückgängig zu machenden, kritischen Aufklärungsprozeß. Er zieht aus dieser ideologiekritischen Einsicht gerade nicht die postmodeme Konsequenz, daß nichts gilt und folglich ,anything goes'. Im Gegenteil, aus der Ernüchterung darüber, daß die letzten Wahrheiten und vorherrschenden Lebensideale nur selbstgeschaffene Konstruktionen sind, folgt für Nietzsche vielmehr die Notwendigkeit, andere Lebensideale, eine nicht-metaphysische Vernunft und glaubwürdigere Wahrheiten neu zu erschaffen. Mit seiner Kritik an den alten Werten verbindet Nietzsche den Impuls, sich der schwierigen Aufgabe zu stellen, neue und zwar erstrebenswerte, wirkungsvolle und bejahbare Werte zu begründen. Nietzsches Philosophie redet keinem postmodernen Nihilismus das Wort. Weder muß man in ihm einen postmodernen Relativisten sehen, noch aber entpuppt er sich in seinem größenwahnsinnigen Versuch, neue Gottheiten zu schöpfen, als der letzte Metaphysiker. Vielmehr gibt sich Nietzsche als der erste Theoretiker zu erkennen, der im klaren Bewußtsein des Fallibilismus der höchsten Werte an deren Notwendigkeit gleichwohl festhält und sich an die Arbeit ihrer philosophischen Begründung macht. Nach einer kritischen Aufklärung über die Unmöglichkeit und Unwahrheit letzter Gründe versucht sich Nietzsche als erster nachin den Schriften

schaft,

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3 Zur Begründung dieser Einschätzung siehe Harald Lemke, Die Praxis politischer Freiheit. Zur Bedeutung Hannah Arendts Philosophie des politischen Handelns für eine kritische Gesellschaftstheorie, Maastricht 1996. 4 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1985, 104-129.

Nietzsche: Kritische Theorie als Ethik

281

metaphysischer Denker an der möglichen Wahrheit guter Gründe für eine fröhliche Vernunft. Der leichtfüßige Wanderer Friedrich Nietzsche geht einen Schritt zurück, um zwei auf einmal voran zu schreiten; er ertänzelt sich gleichsam den philosophischen Fort-Schritt der -

Freiheit. Der ,tolle Mensch' wirft seine Laterne auf den Boden, weil er mit seiner Gottsuche bei den Umstehenden nur auf Unverständnis stößt. „Ich bin zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit." (FW III [125], KSA 3, 480) Vielleicht ist Nietzsches Zeit jetzt gekommen rechtzeitig zu einem welthistorischen Zeitpunkt, den er selbst prophezeite: nach einem Jahrhundert und zu Beginn eines neuen Jahrtausends (EH [Geburt der Tragödie 4], KSA 6). Die Aktualität seiner kritischen Philosophie der Freiheit liegt jedenfalls darin, daß sie jenseits der Postmoderne Perspektiven für eine andere, eine umgewertete und künftige Moderne eröffnet. Nietzsches Freiheitsdenken liegen persönliche Lebensumstände zugrunde, die mit denjenigen vergleichbar sind, denen sich gerade heute immer mehr Menschen als Folge einer gesamtgesellschaftlichen Individualisierung konfrontiert sehen. Nietzsche ist einer der ersten, der sich philosophisch mit den praktischen und normativen Konsequenzen dieses Individualisierungsprozesses beschäftigt. Er führt dazu aus: „Der gefährliche und unheimliche Punkt ist erreicht, wo das grössere, vielfachere, umfänglichere Leben über die alte Moral hinweg lebt; das Individuum' steht da, genötigt zu einer eigenen Gesetzgebung, zu eigenen Künsten und Listen der Selbst-Erhaltung, Selbst-Erhöhung, Selbst-Erlösung. Lauter neue Wozu's, lauter neue Womit's, keine gemeinsamen Formeln mehr [...]."(JGB [262], KSA 5, 216) Nietzsche registriert diese Lebenssituation nicht einfach als eine soziologische Tatsache; er nimmt in dem gegebenen Individualismus gerade das emanzipatorische Potential, den Zuwachs an individualer Freiheit wahr. Nietzsche erkennt darin die einzigartige Chance zur Verwirklichung einer selbst-bestimmten Gestaltung des eigenen Lebens. Ausdrücklich ist für ihn das historische Subjekt dieser ergreifbaren Freiheit der „Einzelne", der „selbsteigene, freie Mensch", das „Individuum" und dessen „Selbst- und Lustgefühl", ein selbstbestimmtes Leben gestalten zu -

können.5

Von dieser Situation

ausgehend stellt Nietzsche sich die Aufgabe, das Programm zu einer

entwerfen, in dessen Zentrum im Unterschied zur traditionellen Moral keine gesetzmäßigen Normen und Tugendpflichten stehen, sondern die selbsterwählte Ethik des Einzelnen. Daraus ergibt sich für ihn die inhaltliche Aufgabe, entsprechende Werte und Lebensideale zu erschaffen. Diesbezüglich macht er sich zunächst den lebenspraktischen Umfang einer solchen Ethik klar. Eine Ethik, die sich auf die Gestaltung des alltäglichen Lebens bezieht, hat Nietzsche zufolge die ganze Fülle von dessen Kleinigkeiten „die nächsten Dinge, zum Beispiel Essen, Wohnen, Sich-Kleiden, Verkehren" zu umfassen und „zum Objekt des stätigen unbefangenen und allgemeinen Nachdenkens und Umbildens" (WS [5], KSA 2, 541) zu machen. Entsprechend gilt es, all „die nächsten und kleinsten Dinge" in den Blick zu nehmen, die vom Großteil der bisherigen Moraltheorie ignoriert6 oder verächtlich als unbedeutend aus dem Bereich der ethisch relevanten Lebenspraxis abgedrängt wurden.7 „neuen Lebensweise"

zu

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5 6

7

In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, was Nietzsche zur revolutionären Lage der Arbeiterklasse und den Möglichkeiten ihrer Befreiung ausführt; siehe: M III [206], KSA 3, 183 ff Die traditionelle Moralphilosophie hat bezeichnenderweise „allen Dingen, die Ernst im Leben verdienen, den Fragen von Nahrung, Wohnung, geistiger Diät, Krankenbehandlung, Reinlichkeit, Wetter, einen schauerlichen Leichtsinn [entgegengebracht]!" (EH, KSA 6, 374) Die Vernunft wird „falsch gerichtet und künstlich von jenen kleinen und allernächsten Dingen abgelenkt." (WS [6], KSA 2, 542)

Harald Lemke

282

Hinsichtlich des Umstandes, daß es sich bei alledem um die abenteuerliche Suche nach neuen Welten und um das Betreten noch ganz unentdeckten Neulands einer philosophischen Lebenskunst handelt, hebt Nietzsche als selbsternannter Kolumbus neuer Lebensformen die Notwendigkeit des Experimentierens hervor.8 Mit dem experimentellen Charakter eines -

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Lebens verbindet er die praktische Einsicht, daß die Verwirklichung einer Lebensweise nur über das langwierige und kleinschrittige Geschehen einer beständigen Praxis der Einübung und Angewöhnung bestimmter Lebensvollzüge möglich ist. Dazu führt er in einer längeren Passage aus:

selbstgestalteten neuen

Die chronischen Krankheiten der Seele entstehen wie die des Leibes, sehr selten nur durch einmalige grobe Vergehungen gegen die Vernunft von Leib und Seele, sondern gewöhnlich durch zahllose unbemerkte kleine Nachlässigkeiten. Wer zum Beispiel Tag für Tag um einen noch so unbedeutenden Grad zu schwach atmet und zu wenig Luft in die Lunge nimmt, so dass sie als Ganzes nicht hinreichend angestrengt und geübt wird, trägt endlich ein chronisches Lungenleiden davon: in einem solchen Falle kann die Heilung auf keinem anderen Wege erfolgen, als dass wiederum zahllose kleine Übungen des Gegenteils vorgenommen und unvermerkt andere Gewohnheiten gepflegt werden, zum Beispiel wenn man sich zur Regel macht, alle Viertelstunden des Tages Ein Mal stark und tief aufzuatmen (womöglich platt am Boden liegend; eine Uhr, welche die Viertelstunden schlägt, muss dabei zur Lebensgefährtin gewählt werden). Langsam und kleinlich sind alle diese Kuren; auch wer seine Seele heilen will, soll über die Veränderung der kleinsten Gewohnheiten nachdenken. Mancher sagt zehnmals des Tages ein böses kaltes Wort an seine Umgebung und denkt sich Wenig dabei, namentlich nicht, dass nach einigen Jahren er ein Gesetz der Gewohnheit über sich geschaffen hat, welches ihn nunmehr nötigt, zehnmal jedes Tages seine Umgebung zu verstimmen. Aber er kann sich auch daran gewöhnen, ihr zehnmal wohlzutun!" (M V [462], KSA 3, 278)

„Langsame Kuren.

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Auf diese Weise macht Nietzsche sich klar, daß die Verwirklichung einer selbstbestirnmten, freien Existenz in der alltäglichen Lebenspraxis die ganz und gar unspektakuläre Form von mühsam eingeübten Gewohnheiten, leicht mißlingenden Kunstgriffen und handgreiflich praktischen Tätigkeiten annimmt. Weil für Nietzsche die Praxis der Freiheit in der Gestaltungsarbeit des alltäglichen Lebens besteht, hat Ethik hier den Charakter einer Ästhetik der Existenz, einer Lebenskunst: „Das eigentuemlichste Produkt eines Philosophen ist sein Leben, es ist sein Kunstwerk" (KSA 7, 34 [37], 804).9 In jüngster Vergangenheit wird vor allem Foucault und nicht so sehr Nietzsche im Zusammenhang einer Neubegründung der Ethik als Ästhetik der Existenz genannt, wobei daran zu erinnern ist, daß auch Marcuse schon in den siebziger Jahren eine Annäherung der Kritischen Theorie an Überlegungen zu einer philosophischen Lebenskunst betrieb.10 Genauer betrachtet hat Foucault allerdings nur den kleinsten Teil von Nietzsches Vorarbeiten zu einer 8 „Moralisches Interregnum. [...] So leben wir denn ein vorläufiges Dasein oder ein nachläufiges Dasein, je nach Geschmack und Begabung, und tun am besten, in diesem Interregnum, so sehr als nur möglich, unsre eigenen reges zu sein und kleine Versuchsstaaten zu gründen. Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!" (M V [453], KSA 3, 274; auch: FW V [324.], KSA 3, 552 f.; FW IV [319.], KSA 3, 550 f.) 9 Vgl. auch: FW IV [299], KSA 3, 538; FW [107], KSA 3, 464; KSA 9, 7 [213], 361. 10 Vgl. Harald Lemke, „Die schwierige Lebenskunst. Foucault, Schiller und Marcuse über den ästhetischen Begriff der Freiheit", in: Michel Foucault. In Konstellationen, Maastricht 1995, 118-152. -

Nietzsche: Kritische Theorie als Ethik

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Ethik aufgegriffen. Mit anderen Worten, hinsichtlich der Ausarbeitung einer Ethik des Individuums als einer Ästhetik der Existenz ist bei Nietzsche weit mehr zu holen als bei Foucault. Ein unter Moraltheoretikern verbreiteter Einwand gegenüber Nietzsche (und Foucault) betrifft die Kritik, dieser Ansatz laufe auf einen heillosen Subjektivismus hinaus. In der Tat finden sich bei Nietzsche viele Formulierungen, die diesen Einwand rechtfertigen. Im Kern aber geht es ihm um die philosophische Begründung einer Ethik, die zwar vom einzelnen Individuum ausgeht und gewählt werden muß; die sich aber durchaus jedem und allen empfiehlt (vgl. M [108.], KSA 3, 95). In diesem Zusammenhang steht Nietzsches Theorem von der ewigen Wiederkunft allerdings nicht verstanden als metaphysisches Erklärungsmodell, sondern in dem eingeschränkten und einzig vertretbaren Sinne einer ethische Maxime. Auch wenn die verschiedenen Formulierungen und unterschiedlichen Umschreibungen erkennen lassen, daß Nietzsche das, an was er dabei denkt, nicht sicher in den Griff bekommt, so ist seine Intuition doch deutlich erkennbar und ließe sich am besten auf die allgemeine Formel bringen: „Handle so, daß du dein Leben so, wie du es im Augenblick lebst, immer wieder leben wollen könntest."" Aus dieser Maxime ergibt sich für Nietzsche, wie es in einer Notiz aus dem Jahre 1881 heißt, die „unendliche Wichtigkeit unseres Wissens, Irrens, unserer Gewohnheiten, Lebensweisen für alles Kommende." (KSA 9, 11 [141], 494) Nietzsche formuliert damit einen ethischen Grundsatz, der sich (neben dem Seitenhieb gegen das christliche Askeseideal eines in die himmlische Ewigkeit vertagten Lebens) ausdrücklich als kritische Absetzung und Umkehrung des kategorischen Imperativs versteht. Denn er legt seinen normativen Schwerpunkt nicht auf die gesetzesmäßige Verallgemeinerbarkeit eines Handlungsmotivs, weil jede Situation praktischen Handelns hinsichtlich ihrer kontextuellen Bedingungen je verschieden ist. Vielmehr legt die Verewigungsformel ihr Gewicht auf die praktisch-situative Beurteilung, inwieweit das eigene Leben im einzelnen dauerhaft und nachhaltig lebenswert, d. h. bejahbar und mit Lust verbunden werden kann. Mit dem Kriterium der ewigen Wiederkunft stattet Nietzsche seine Ethik mit einem formalen Gestaltungs- und Beurteilungsprinzip aus,12 das in seiner inhaltlichen Orientierung auf den höchsten Wert voller Lebensbejahung und erfüllter Lebenslust auch material nicht unbestimmt bleibt. Wenn also Nietzsches Konzept eines selbstgestalteten Lebens in praktischer Hinsicht den Charakter einer Ästhetik der Existenz hat, so erweist es sich mit Bezug auf seine prinzipielle Begründung als eine formale Ethik des lustvoll-guten Lebens. Nietzsche nähert sich dabei dem zentralen Anliegen der sokratischen Ethik. Insofern verwundert es nicht, wenn er den Xenophonischen Sokrates mit Begeisterung liest und seine ehemals ablehnende Haltung revidiert. Nietzsche begeistert sich daran, daß Sokrates das höchste Gut als das individuelle Glück der Lust bestimmt und auf den Denkfehler hinweist, ,Lust' bloß mit wahllosem Vergnügen und willkürlicher Bedürfnisbefriedigung gleichzusetzen.13 Gerade vor dem Hintergrund der Kritik eines falsch verstandenen Hedonismus und der möglichen Unwissenheit hinsichtlich der richtigen Lust gewinnt wie bei Sokrates auch bei neuen

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„Nicht nach feinen unbekannten Seligkeiten [...] ausschauen, sondern so leben, daß wir nochmals leben wollen und in Ewigkeit so leben wollen! Unsere Aufgabe tritt in jedem Augenblick an uns heran." (KSA 9, 503) An anderer Stelle: „Wir wollen ein Kunstwerk immer wieder erleben! So soll man sein Leben gestalten, daß man vor seinen einzelnen Teilen denselben Wunsch hat! Dies der Hauptgedanke!" (KSA 9, 11 [165], 503) 12 Er selber spricht von einer „philosophischen Gesamt-Rechtfertigung der eigenen Art, zu leben und zu denken [...]." (FW IV [289], KSA 3, 529. 13 Vgl. MA I [97], KSA 2, 94, und [98.], 95; Gernot Böhme, Der Typ Sokrates, Frankfurt a.M. 1988, 84 ff. 11

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Harald Lemke

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Nietzsche ein Wissen um das Lustvolle des ethisch Guten an Bedeutung.14 Dieses ethische Wissen der aufs eigene Wohlleben bezogenen Selbsterkenntnis betrifft die praktischen Lebensfragen, was für einen (in ethischer Hinsicht) gut ist, sowie die eigenen Wertschätzungen, in wie weit einem etwas (in ethischer Hinsicht) Lust oder Unlust macht.15 Nietzsche geht es dabei um die philosophische Aufwertung eines praktischen Wissens, das im Unterschied zu Theorie und reiner Wissenschaft einen existenziellen Bezug zur alltäglichen Lebensgestaltung hat. Ziel dabei ist, daß das Individuum sich dieses „Wissen einverleibt und instinktiv macht" (FW I [11], KSA 3, 383) wie es in der Fröhlichen Wissenschaft heißt. Nietzsches Wissenschaftskritik zielt dementsprechend auf die Aufwertung einer Selbstbildung ab, deren Wert in der Aneignung eines Wissens liegt, das für die Gestaltung eines selbstbestimmten Wohllebens wichtig ist (vgl. M [195], KSA 3, 168 ff.). Die Einheit von Denken und Existenz, die Ganzheit von persönlicher Ethik und „Wahrheit"16 zeichnet Nietzsche zufolge das eigentlich philosophische Wissen bzw. das bewußte Leben des Philosophen aus. Allerdings setzt dies voraus, „daß man den Begriff,Philosoph' nicht auf den Philosophen einengt, der Bücher schreibt oder gar seine Philosophie in Bücher bringt!" (JGB II [39.], KSA 5, 57) Mit Nachdruck setzt Nietzsche den echten Philosophen von der Existenz des Gelehrten, des Wissenschaftlers und Universitätsprofessors kritisch ab. Beinahe beiläufig liefert er so eine Neubegründung der Philosophie als Lebensweise: Gemäß der individualen Ethik zu leben heißt folglich nichts anderes, als philosophisch zu leben. Und umgekehrt wird Philosophie in der Praxis einer ethischen Lebensgestaltung verwirklicht und in der individuellen Wissenschaft eines lustvollen Lebens gelebt. Das ethische Subjekt einer selbstbestimmten Lebenspraxis ist der „Philosoph". Zweifelsohne rührt das Faszinierende an der Person Friedrich Nietzsches zu einem hohen Maße daher, daß er auf beispielhafte Weise ein in diesem Sinne echter Philosoph war und Philosophie lebte. Aufgrund der existentiellen Ganzheit von Denken und Leben ist das philosophische Wissen nicht nur das Denken der Lust (des Lustvollen), vielmehr verbindet sich umgekehrt damit auch eine Lust am Denken. Hinsichtlich dieses Wechselspiels zwischen Denken und Lust spricht Nietzsche ausdrücklich von einer „Leidenschaft der Erkenntnis". Darüber hinaus versucht Nietzsche sich mit dem, was er die „Physiologie"17 nennt, eines bestimmten Wissenstyps zu vergewissem, der die Kenntnis des Lustvollen aus der philosophischen Einsicht in diejenigen -

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„Wenn wir essen, spazieren gehen, gesellig oder einsam leben, es soll bis in's Kleinste die hohe Absicht unserer Leidenschaft uns dabei bestimmen, und zwar so, dass sie die Vernunft und die Wissenschaft in ihren Dienst genommen hat und mit tiefer Glut die gerade für sie passenden Weisungen von ihr abfragt." (M III [207], KSA 3, 185) An anderer Stelle: „Womöglich ohne Arzt leben. Es will mir scheinen, als ob ein Kranker leichtsinniger sei, wenn er einen Arzt hat, als wenn er selber seine Gesundheit besorgt. Im ersten Fall genügt es ihm, streng in Bezug auf alles Vorgeschriebne zu sein; im andern Fall fassen wir Das, woraufjene Vorschriften abzielen, unsere Gesundheit, mit mehr Gewissen in's Auge und bemerken viel mehr, gebieten und verbieten uns viel mehr, als auf -

Veranlassung des Arztes geschehen würde. Alle Regeln haben diese Wirkung: vom Zwecke hinter der Regel abzuziehen und leichtsinniger zu machen [...]." (M IV [322], KSA 3, 230) „Unsere Wertschätzungen. Alle Handlungen gehen auf Wertschätzungen zurück, alle Wertschätzungen sind entweder eigene oder angenommene, letztere bei weitem die meisten. [...] Eigene Wertschätzung: das will besagen, eine Sache in Bezug daraufmessen, wie weit sie gerade uns und niemandem Anderen Lust oder Unlust macht- etwas äusserst Seltenes!" (M II [104], KSA 3, 92) „Die persönlichsten Fragen der Wahrheit. Was ist das eigentlich, was ich tue? Und was will gerade ich damit? [...]" (M [196], KSA 3, 170) So spricht Nietzsche von der Stiftung einer neuen Lebensweise „als einer neuen und verbesserten Physis, ohne Innen und Aussen, ohne Verstellung und Convention, der Cultur als einer Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen." (HL 10, KSA 1, 334) -

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Nietzsche: Kritische Theorie als Ethik

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lebenspraktischen Bedingungen und Aufgaben gewinnt, die für eine nachhaltige Befriedigung spezifisch leiblicher und persönlicher, lebenslustverheißender Bedürfnisse und Lebensmög-

lichkeiten erforderlich sind. So umfaßt die ethische Arbeit des Wissens neben der Kenntnis des Guten auch ein Lebenwissen. Denn, da die philosophische Lebenskunst auf einem einverleibten und buchstäblich verkörperten und gelebten Wissen beruht, hängt die Ästhetik der Existenz vom ,praxologischen' Wissen ab, sich auf die betreffenden (und im folgenden noch genauer zu bestimmenden) Tätigkeiten und Lebensvollzüge auch ,lebenspraxisch' gut zu verstehen. Allerdings gelingt Nietzsche das schwierige Unterfangen einer lebenspraxisch hergeleiteten Normativität nicht, ohne immer wieder einerseits in eine deterministische Biologie abzudriften (vgl. M [109.], KSA 3, 96 f.), und andererseits in die metaphysische Theorie einer (ersten) Natur des Menschen zurückzufallen (vgl. FW [107.], KSA 3, 464 f.). Nietzsche war sich der unzureichenden Grundlage seiner „Physiologie" durchaus bewußt, weshalb er von der Notwendigkeit einer umfassend wissenschaftlichen Forschung und einer entsprechenden Erkenntnisausrichtung der Wissenschaften im ganzen (M V [453.], KSA 3, 274) und der praktischen Philosophie im besonderen spricht:

„Hat man schon die verschiedenen Einteilungen des Tages, die Folgen einer regelmäßigen Festsetzung von Arbeit, Fest und Ruhe zum Gegenstand der Forschung gemacht? Kennt

die moralischen Wirkungen der Nahrungsmittel? Gibt es eine Philosophie der Ernährung? (Der immer wieder losbrechende Lärm für und wider den Vegetarismus beweist schon, daß es noch keine solche Philosophie gibt!) Sind die Erfahrungen über das Zusammenleben, zum Beispiel die Erfahrungen der Klöster, schon gesammelt? Ist die Dialektik der Ehe und Freundschaft schon dargestellt?" (FW I [7.], KSA 3, 379) man

Auf welchen Idealen, Praktiken, Lebensvollzügen, Tätigkeiten und Gewohnheiten beruht nun die individúale Ethik eines selbstbestimmten Lebens, die den Kern von Nietzsches kritischer Philosophie der Freiheit bildet? Welche Lebenskünste und ,lebenspraxischen' Erfordernisse ermöglichen ein wohlverstanden lustvolles, philosophisches Leben? Ein Grunderfordernis, über das sich Nietzsche in seiner Auseinandersetzung mit dem antiken Ideal der vita contemplativa (vgl. M [566.], KSA 3, 329) Klarheit verschafft, betrifft den vom Einzelnen selber bestimmbaren Spielraum freier Zeit: „Wer von seinem Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sklave, gleichgültig, ob er sich Staatsmann, Kaufmann, Beamter oder Gelehrter nennt." Dieses Lebensideal, das sich im weitesten Sinne zwischen den Modellen einer ökonomischen Grundsicherung und möglicher Teilzeitarbeit bewegt „Zeitig sein äusserliches Ziel eneichen, ein kleines Amt, ein Vermögen, das gerade ernährt" (KSA 8, 16 [49], 295) -, macht an diesem Punkt die Aktualität von Nietzsches Ethik besonders deutlich. Freilich konkretisiert er mit diesen Überlegungen diejenigen lebenspraktischen Grundbedingungen für ein freies Leben, die auch schon bei Marx in einigen Formulierungen zu finden sind. So heißt es im Kapital: „Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört. [...] Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbe-

dingung."18

Darüber hinaus sieht Nietzsche die Möglichkeit zur Selbstbestimmung in drei selbstgestaltbaren Lebensbereichen: a) dem Bereich der persönlichen Beziehungen, b) dem Umgang mit der eigenen Leiblichkeit und c) der Selbsterfahrung im Kulturellen. Mit diesen philoso18 Karl Marx, Das

Kapital, Berlin 1969, MEW Bd. 25, 828.

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Harald Lemke

phischen Lebenskünsten erstellt Nietzsche weder eine beliebige noch eine rein subjektive Gütertafel. Im Gegenteil ist der entscheidende Punkt hier, daß dabei solche individualen Aufgaben der alltäglichen Lebensgestaltung in den Blick kommen, aufgrund deren Praxis und der damit verbundenen „regelmäßigen Selbsttätigkeit" für jeden ein selbstbestimmtes Leben verwirklichbar ist. So spielt für den Bereich der persönlichen Beziehungen die Praxis der Freundschaft eine zentrale Rolle. Nietzsches Zarathustra lehrt „den Freund" als „Fest der Erde und Vorgefühl des Uebermenschen". In der alltäglichen Praxis der Freundschaft verwirklicht sich ein selbstbestimmt gestaltetes Sozialleben, weil freundschaftliche Beziehungen auf der wechselseitigen Anerkennung und Gleichheit der Freiheit der beteiligten Individuen beruhen. Gleichzeitig wird individúale Freiheit, verbunden mit der geteilten Lust aneinander (KSA 9, 6 [153], 235), in der gemeinsamen Beziehung praktisch gelebt. Nietzsche zieht daraus die theoretische Konsequenz, daß die Verwirklichung eines im ganzen selbstbestimmten Soziallebens aus dem dauerhaften Gelingen einer Anzahl gleichwertiger Freundschaftsverhältnisse resultiert. In bewußter Anknüpfung an die von Epikur gelehrte und gelebter Freundschaftsutopie fragt Nietzsche seine Freunde: „Wo werden wir den Garten des Epicurs erneuern?"19 Für einen ethischen Umgang mit der eigenen Leiblichkeit gewinnen Fragen der Diätetik und Gesundheit an Wichtigkeit: „Die ethischen Bedürfhisse müssen uns auf den Leib passen!" (FW I [7.], KSA 3, 379) Dabei geht es Nietzsche sowohl um eine ausgeprägte Kultur der Bewegung und Körperlust. Andererseits geht es ihm um eine nachhaltige Aufwertung gesunder Ernährungspraktiken.20 Wie später auch für Marcuse21 hat für Nietzsche die Kunst des Kochens und der kundige Umgang mit Nahrungsmitteln den Rang einer philosophischen Lebenskunst, insofern in dieser, von der vorherrschenden Moral geringgeschätzten Lebenspraxis viele wertvolle Aspekte der Lebensqualität, der Genußfähigkeit und der Alltagskultur aufs nächste zusammenliegen und zugleich mit den fernsten Fragen des menschlichen Naturverhältaisses sowie der ernährungsphysiologischen Kenntnis gesunder Lebensmittel verknüpft sind.22

Daran anschließend und auf den Bereich von Kunst und Kultur weiter ausdehnend zielt Nietzsches Ethik auf ein neues Verständnis des kulturellen Lebens. Er lehrt „gegen die Kunst der Kunstwerke eine höhere Kunst: die Erfindung und Kultivierung des Festefeierns." (KSA 9, 11 [170], 506)23 Mit der Idee, Kunst als Ausdruck einer kulturellen Selbstverständigung und eines höheren Lustzustandes in die alltägliche Lebenspraxis zu reintegrieren,24 nimmt Nietzsche die Forderungen der historischen Avantgardebewegungen der zwanziger und sechziger Jahre vorweg, auf die sich später Marcuse mit Blick auf eine ästhetische Praxis der Freiheit erneut bezieht.25

19 Postkarte an Heinrich Köselitz vom 26.3.1879: KSB WS, [826], 399. 20 Vgl. Herbert Schipperges, Am Leitfaden des Leibes. Zur Anthropologik und Therapeutik Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1975. 21 Herbert Marcuse, Über den affirmativen Charakter der Kultur, Frankfurt a.M. 1974, 54. 22 Ein essayistischer Annäherungsversuch zu diesem geringgeschätzten Thema der praktischen Philosophie: Michel Onfray, Die genießerische Vernunft. Die Philosophie des guten Geschmacks, Zürich 1996. 23 Vgl. auch: MA II [174], KSA 2,453 f. und [175], 454 f. 24 Vgl. FW II [89], KSA 3,446. „Einstmals muß die Kunst der Künstler ganz in das Festebedürfhis der Menschen aufgehen: der einsiedlerische und sein Werk ausstellende Künstler wird verschwunden sein: sie stehen dann in der ersten Reihe derer, welche in Bezug auf Freuden und Feste erfinderisch sind." (KSA 9, 1 [81], 25) 25 Siehe dazu: Peter K\W\\2., Lebenswelt undLebenskunst. Perspektiven einerkritischen Theorie des sozialen Lebens, München 1986.

Nietzsche: Kritische Theorie als Ethik

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Durch diese positiven Bestimmungen einer philosophischen Lebenskunst vergewissert sich Nietzsche der Inhalte und Lebensaufgaben einer potentiellen Praxis der Freiheit. Dadurch ist es ihm möglich, die normativen Maßstäbe seiner Kritik an den bestehenden Lebensverhältnissen und -werten auszuweisen. Darüber hinaus setzt er seine Philosophie dadurch in eine dynamische Beziehung zu dem durch die gesellschaftliche Entwicklung bedingten Potential einer individualen Selbstbestimmung und den damit verbundenen Lebensmöglichkeiten bzw. all jenen Lebensbedingungen, die die Verwirklichung einer Ethik verhindern oder beeinträchtigen. Als negativistischer Teil von Nietzsches Gesellschaftskritik sind stichwortartig vier Punkte aufzuführen: 1) Seine Kritik an der bestehenden Moral. Nietzsche kritisiert die traditionelle, platonisch-christlich geprägte Moral, weil sie auf die Unterwerfung des Individuums, auf dessen „Selbstlosigkeit"26 und „Entselbstang" abzielt und so den leibfeindlichen und repressiven Charakter der abendländischen Kultur rechtfertigt und praktisch möglich macht. 2) Seine Kritik an den vorherrschenden Beziehungsverhältnissen. Mit der aufgewerteten Praxis und Ethik der Freundschaft gewinnt Nietzsche die Grundlage seiner Kritik an der Vorherrschaft des familiären Ehelebens und einer gefühlsbetonten Innerlichkeit und Ideologie der romantischen Liebe. Er nimmt darüber hinaus auch die Gefahr leidvoller Vereinsamung und bloß strategischer Vergemeinschaftung durch reine Zweckbeziehungen in den Blick. 3) Seine Kritik an einer bestehenden Werkästhetik und vorherrschenden Alltagskultur. Aus dem Ideal gelebter Kunst leitet er seine Ablehnung des musealen und bloß schöngeistigem Kunstgenuß einerseits und dem Mangel an alltäglicher, ganzheitlicher Lebenskunst andererseits ab. Schließlich 4) seine Kritik an dem Übergewicht des Arbeitslebens. Ausgehend von der lebenspraktischen Grundbedingung, viel freier Lebenszeit und einem Minimum an unvermeidlicher Erwerbsarbeit, richtet sich Nietzsches Ethik im Unterschied zu Marx nicht frontal und primär an die kapitalistische Wirtschaft, sondern an deren Moral. Er sieht das eigentliche Problem in der „modernen, lärmenden, Zeit-auskaufenden, auf sich stolzen, dumm-stolzen Arbeitsamkeit." (JGB III [58.], KSA 5, 76) In allen vier Aspekten gibt sich Nietzsche als Wegbereiter der Kritischen Theorie zu erkennen. Adorno und Horkheimer werden Nietzsches „Feldzug gegen die Moral", gegen das Pflichtgebot einer Beherrschung des Selbst aufgreifen und fortsetzen; die Kritik am affirmativen Charakter der modernen Kultur wird von Marcuse weitergetrieben;27 die Kritik an den existentiellen Zwängen und der sklavischen Fremdbestimmung des Arbeitslebens findet in der aktuellen Auseinandersetzung um das Ende der Arbeitsgesellschaft ihre Fortsetzung28 und auch für die Kritik an Beziehungsverhältaissen liegt ein Versuch vor.29 In den einleitenden Sätzen der Minima Morada beruft sich Adorno auf das ursprüngliche Verständnis der Philosophie als „die Lehre vom richtigen Leben". Die persönlichen Lebensumstände und historischen Erfahrungen, unter deren Eindruck Adorno im Jahr 1944 dieses -

„[...] die .Selbstlosigkeit' mit einem Worte das hieß bisher Moral." (EH [Morgenröte], KSA 6, 332) 27 Nietzsche revidiert damit seine jugendliche „Artisten-Metaphysik" (GT, „Versuch einer Selbstkritik", KSA 5, und dessen ästhetischen Utopie der Totalästhetisierungen. „Ich will der fanatischen Selbstüberhebung der Kunst Einhalt tun, sie soll sich nicht als Heilmittel gebaerden, sie ist ein Labsal für Augenblicke, von geringem Lebenswerte: sehr gefährlich, wenn sie mehr sein will." (KSA 9, 4 [223]) Die Kunst sei „Mittel zur Erleichterung des Lebens". Diese „beschwichtigen und heilen nur vorläufig, nur für den Augenblick; sie halten sogar die Menschen ab, an einer wirklichen Verbesserung ihrer Zustände zu arbeiten, indem sie gerade die Leidenschaft der Unbefriedigten, welche zur Tat drängen, aufheben und palliativisch entladen." (MA I [148.], KSA 2, 143) 28 André Gorz, Kritik der ökonomischen Vernunft, Berlin 1989; Oskar Negt, Lebendige Arbeit, enteignete Zeit. Politische und kulturelle Dimensionen des Kampfes um die Arbeitszeit, Frankfurt a.M./New York 1985. 29 Harald Lemke, Praxis der Freundschaft. Eine philosophische Grundlegung, Darmstadt 2000. 26

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Harald Lemke

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schreibt, machen nachvollziehbar,

warum für ihn zu dieser Zeit eine als Lehre vom Leben verstandene Philosophie gerade keine wie er in bewußter Anlehnung an richtigen Nietzsche sagt fröhliche, sondern nur eine „traurige Wissenschaft" sei. Er führt dazu aus:

Buch

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„Was einmal den Philosophen Leben hieß, ist zur Sphäre des Privaten und dann bloß noch

des Konsums geworden, die als Anhang des materiellen Produktionsprozesses, ohne Autonomie und ohne eigene Substanz, mitgeschleift wird. Wer die Wahrheit übers unmittelbare Leben erfahren will, muß dessen entfremdeter Gestalt nachforschen, den objektiven Mächten, die die individuelle Existenz bis ins Verborgenste bestimmen."30

Mein Versuch, im erneuten Rückgriff auf Nietzsche Kritische Theorie als Ethik zu bestimmen, läßt sich von der Überzeugung leiten, daß sich unsere gegenwärtige Lebenssituation auf grundlegende Weise von Adornos Beschreibung unterscheidet. Dieser Unterschied betrifft jedoch nicht allein eine historische Differenz, sondern auch das korrigierte Selbstverständnis des theoretischen Ansatzes selbst, in dem ausgeführten Sinne einer nachhaltigen Aufwertung und grundbegrifflichen Konzeptualisierung der individualen Ethik. Aber der entscheidende Punkt und die weitreichende Differenz gegenüber Adornos Einschätzung ist, daß eine kritische Theorie in emanzipatorischer Absicht davon auszugehen hat, daß der Einzelne in zentralen Lebensbereichen die Möglichkeit zur Selbstbestimmung tatsächlich ergreifen kann. In bezug auf die angesprochenen Lebensaufgaben entscheidet auch entgegen allen Anscheins niemand anderes als jeder für sich darüber, wie er lebt. Diese Freiheit und Willkür des Individuums schließt selbstverständlich nicht aus, daß der Einzelne die Möglichkeit eines autonomen Lebens nicht wahrnimmt, sondern sich (in diesem Sinne) traurig aber wahr mit einem Dasein begnügt, das ganz in der Sphäre des Privaten: im Konsum, in der Reproduktion eigener Arbeitskraft und in familiären Pflichten aufgeht. Für das Selbstverständnis einer als Ethik aufgefaßten Kritischen Theorie ist dabei entscheidend, daß eine Veränderung der vorherrschenden Lebensverhältnisse und die Verwirklichung einer neuen und besseren Lebensweise maßgeblich vom unvertretbaren Einzelnen ausgehen kann und nicht um in Adornos Worten zu sprechen von „objektiven Mächten bis ins Verborgenste" determiniert ist. Eine als Ethik verstandene Kritische Theorie versucht dem theoretischen Reduktionismus entgegenzuwirken, der die Fragen der individuellen Lebensgestaltung entweder einem subjektiven Relativismus oder einem objektiven Nihilismus überantwortet. Weil eine Ethik des Selbst zum einen den persönlichen Widerstand gegen die vorherrschende Selbstentfremdung und zum anderen die Selbstbefreiung aus der moralisch geforderten Selbstlosigkeit des traurigen Daseins der „Allermeisten"31 verlangt, weiß Nietzsche, daß dies viel persönlichen „Mut" und „Selbstherrlichkeit", einen „starken Willen" zur Selbstbemächtigung und einen standhaften „Willen zur Selbstverantwortlichkeit" (GD [38], KSA 6, 139) erfordert. Immer wieder äußert Nietzsche stolze Verwunderung über seinen eigenen Wagemut, -

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30 Theodor W. Adorno, Minima Moraba. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a.M. 1975, 7. 31 „Ich will sagen: die Allermeisten finden es nicht verächtlich, dies oder jenes zu glauben und darnach zu leben, ohne sich vorher der letzten und sichersten Gründe für und wider bewusst geworden zu sein und ohne sich auch nur die Mühe um solche Gründe hinterdrein zu geben, die begabtesten Männer und die edelsten Frauen gehören noch zu diesen ,Allermeisten'. [...] Es sieht dich Jeder mit fremden Augen an und handhabt seine Waage weiter, dies gut, jenes böse nennend; es macht Niemandem eine Schamröte, wenn du merken lassest, dass diese Gewichte nicht vollwichtig sind, es macht auch keine Empörung gegen dich: vielleicht lacht man über deinen Zweifel." (FW I [2.], KSA 3, 373; zum „Schein-Egoismus der Allermeisten": M [105.], KSA 3, 92 f. -

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Nietzsche: Kritische Theorie als Ethik

„auf eine gefährliche Weise den gewohnten Wertgefühlen Widerstand [zu] leisten" (JGB I [4.], KSA 5, 18) und trotz „grausamer Marter" von den „Naumburger Tugenden" abzuweichen

und dieser unwahren Welt die Andersheit seiner Lebensweise und neuen Ideale entgegen zu stellen. Dabei kann der individuelle Versuch, das richtige Leben im falschen zu realisieren, den beträchtlichen Preis einer sozialen Marginalisierung und totalen Vereinsamung kosten. Nietzsche hat mit dieser „harten" Tatsache schwer zu kämpfen gehabt und unter ihren Konsequenzen im übertragenen und buchstäblichen Sinne irrsinnig gelitten. So notiert er in der Morgenröte: „Nichts ist teurer erkauft als das Wenige von menschlicher Vernunft und vom Gefühl der Freiheit, welches jetzt unseren Stolz ausmacht." (M [18.], KSA 3, 31) Zuletzt kann Nietzsches geistiger Zusammenbruch auch als der stumme Ausdruck des Scheiterns seines stolzen Versuchs verstanden werden, trotz und entgegen der endlosen Widrigkeiten seiner Umwelt vernünftig und frei, d. h. anders und „individuell zu leben". Vielleicht wäre es wünschenswert, könnte man Nietzsches Ethik gegenüber einwenden, was Moraltheoretiker stets gegen „Individualethiken" anführen; nämlich, daß eine Ethik des Individuums auf einen unpolitischen Privatismus hinauslaufe. Bei Nietzsche läßt sich jedoch studieren, daß dies keineswegs der Fall sein muß. Zwar hat er mit einigen seiner Formulierungen auch zu diesem Vorurteil beigetragen, aber das Problem von Nietzsches Ethikentwurf ist nicht die Relativierung und Reduktion moralischer Fragen auf eine apolitische Privatmoral à la Rorty. Nietzsche hat seine Ethik durchaus ins Politische erweitert. Die eigentliche Problematik ergibt sich vielmehr daraus, daß Nietzsche seine Ethik im Zusammenhang mit, wie er sagt, „Großer Politik" denkt. Was an seiner Spätphilosophie erschreckt, ist gerade, daß das Ethikkonzept nicht länger als Baustein einer Kritischen Theorie der Befreiung und Anleitung zu einem selbstbestimmten Leben der Individuen aufgefaßt werden soll, sondern als Handbuch der zukünftigen Machthaber präsentiert wird. Nietzsche wendet sich nun nicht mehr an Freigeister32 und an ,jeden oder keinen", an die Einzelnen, die sich von den gesellschaftlichen Zwängen zu befreien versuchen. Jetzt dient die Ethik als Fürstenspiegel der wenigen „Befehlshaber" und „grossen Individuen",33 als vornehme Etikette für die oberste Herrscherkaste der zukünftigen Philosophen zu dem alleinigen Zweck, die „braven Herdentiere" zum neuen Übermenschentum zu führen. Mit seiner Phantasterei über eine politische Herrschaft großen Stils legt Nietzsche das aus der Philosophiegeschichte leidlich bekannte Kapitel ,der Philosoph als König und Befehlshaber' neu auf.34 Ausdrücklich spricht er sein Bedauern darüber aus, daß es Piaton damals auf Syrakus nicht gelang, am Hofe des Tyrannen Dionysos das Konzept der Großen Politik durchzusetzen (vgl. M V [496.], KSA 3, 291 f.). Bekanntlich spielt wenig später auch Heidegger mit diesem übelsten Gedankengut der politischen Philosophie. Allerdings sollte nicht unterschlagen werden, daß auch die marxistische Revolutionstheorie kein Glanzstück ist und auch -

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32 Nun wird „der Übergang vom Freigeist und Einsiedler zum Herrschen-müssen" (KSA 10, 16 [51 ]) vollzogen. In Vorstudien zum Zarathustra wußte Nietzsche es noch anders: „Herrschen? Meinen Typus Andern aufnötigen? Gräßlich! Ist mein Glück nicht gerade das Anschauen vieler Anderer? Problem." (KSA 10, 16 [86], 170) 33 Nietzsches Kandidaten sind Cesare Borgia, Napoleon, Cäsar, u. a. Er führt aus: „Dieser höherwertige Typus ist oft genug schon dagewesen: aber als ein Glücksfall, als eine Ausnahme, niemals als gewollt." Es kommt nun darauf an, dass man diesen Typus Mensch „züchten soll, wollen soll, als den höherwertigeren, lebenswürdigeren, zukunftsgewisseren." (AC [3], KSA 6, 170) 34 „Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetzgeber: sie sagen .sosolles sein!'" (JGB VI [211], KSA 5, 145)

nicht frei vom tödlichen Schatten großer Politik ist. Freilich überbietet Nietzsche das kaderrevolutionäre Programm des Marxismus.35 Horkheimer hatte den krassen Wechsel von Nietzsches fröhlicher Wissenschaft einer individualen Ethik hin zu den traurigen Tropen eines unbedingten Machtwillens auf dessen bitterliche Lebenserfahrungen zurückgeführt.36 Sicherlich spielt Nietzsches persönlicher Leidensweg eine entscheidende Rolle für die veränderte, harte Tonlage seiner späteren Philosophie. Aber genauer betrachtet, ist festzustellen, daß Nietzsche während der Ausarbeitung seiner Ethik deren politischen und sozialen Implikationen nur vorübergehend ausblendete und erst in den darauf folgenden Jahren ihre gesellschaftstheoretischen Aspekte in den Vordergrund rückte.37 Mit anderen Worten: Das Konzept der Großen Politik ist für Nietzsche selbst eine bruchlose Fortsetzung seiner Gedanken zur Ethik! Heißt das nun, die Ethik des Individuums münde zwangsläufig in einem politischen Totalitarismus? Antwort: Nein. Die philosophische Idee einer Ethik des Einzelnen muß so wenig in dem Grauen einer Großen Politik aufgehen, wie sie zu einem unpolitischen Privatismus zusammenschrumpfen muß. Die Tatsache, daß Nietzsche seine Ethik in ein profaschistisches Horrorszenario einmünden läßt, ist einzig und allein auf sein zutiefst anti-demokratisches Politik- und sein anti-egalitäres Gesellschaftsverständnis zurückzuführen38 und hängt über dies mit seinem pseudo-biologistischen Freiheitsbegriff zusammen. Die Gründe für diese wie man mit Nietzsche gegen Nietzsche sagen könnte „Großen Irrtümer" sind menschlichen, allzumenschlichen Ursprungs: sie lassen sich auf die selbstbetrügerische Unredlichkeit des Erkennenden zurückführen. Denn Nietzsche betrügt sich selbst über die politischen und sozialen Voraussetzungen für die gegebene Möglichkeit einer Freiheit des Individuums! Die Voraussetzungen eines ethischen Individualismus bilden die individualistischen Grundund Menschenrechte des politischen Liberalismus der Moderne. Der Gedanke einer Ethik des Individuums drückt eine widerspruchsfreie und normative Theorie der Freiheit aus, sofern allen gleichermaßen ein Recht darauf eingeräumt wird. Deshalb bildet der humanistische Universalismus menschlicher Freiheitsrechte das normative Kernstück einer Philosophie der Freiheit. So beruht die Autonomie des Einzelnen, sich überhaupt für eine Ethik der selbstbestimmten Lebensgestaltung entscheiden zu können und damit nicht zuletzt auch Nietzsches eigene Freigeisterei, auf der historischen Gegebenheit einer demokratischen Gesellschaft sowie staatlich garantierter Freiheitsrechte. In seiner radikalen Ablehnung von politischer Demokratie und liberaler Grundrechte39 zeigt sich Nietzsche gerade nicht als Kritiker der -

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35 In einer Notiz aus dem Jahre 1881 ist zu lesen: „Ich sehe die sozialistischen Körper sich bilden, unvermeidlich! Sorgen wir, daß auch die Köpfe für diese Körper anfangen zu keimen. Jene Organisationen bilden den zukünftigen Sklavenstand, mit allen ihren Führern aber darüber erhebt sich eine Aristokratie vielleicht von Einsiedlern! Es ist die Zeit des Gelehrten vorbei, der wie alle anderen lebt und glaubt! Der große Heroismus tut wieder not!" -

(KSA 9, 11)

36 Siehe Martin

Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozial-

forschung 1923-1950, Frankfurt a.M. 1976, 72 f.

37 Schon in einem Skizzenplan aus dem Sommer 1881 fuhrt Nietzsche nach dem Stichwort einer „individuellen Moral" unter Punkt 6 den Hinweis aufBefehlshaber und Große Politik an: „Die günstigen politischen und sozialen Verhältnisse für diese Einsiedler!" (KSA 9, 11 [191], 516) 38 Horkheimer meinte sogar Nietzsches feindselige Haltung gegenüber der demokratischen Bewegung und ihrem Ideal einer freien Gesellschaft mit dem Hinweis verteidigen zu können, Nietzsche habe als ihre einzigen Verfechter nur die Sozialdemokraten seiner Tage gekannt, deren Denkungsart nun einmal so langweilig und phantasielos gewesen sei; vgl.: Martin Jay, Dialektische Phantasie, 73. 39 Für Nietzsche liegen die Dinge klar: „Liberalismus: auf deutsch Heerden-Verthierung..." (GD [38], KSA 6,139)

Nietzsche: Kritische Theorie als Ethik

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Moderne und Verfechter einer Dialektik der Aufklärung. In diesem Punkt gibt er sich tatsächlich als der zu erkennen, den die stärksten Kritiker in ihm sehen: als hemmungsloser Gegenaufklärer und misanthroper Antimodernist, als ewig Gestriger und reaktionärer Kleingeist und schlechterdings nicht als emanzipatorischer und der Zukunft zugewandter Freigeist. Die Ethik des Individuums hätte sich im Politischen einzig in Form demokratischer Praxis zu erweitern. Denn demokratische Mitbestimmung bedeutet nichts anderes, als politisch selbstbestimmt zu leben; und politisch tätig zu sein bedeutet nichts anderes, als individuelle Freiheit zu praktizieren (praktisch zu verwirklichen). Daß eine Ethik des Selbst in dieser Weise notwendig in politische Praxis und demokratische Partizipation münden müßte, ist das zentrale Anliegen des späten Foucault,40 wie auch Arendts Philosophie des tätigen Lebens auf diesen Zusammenhang zwischen einer ethischen Praxis der Freiheit und demokratischer Politik aufbaut.41 Die Ethik des Individuums, wie sie Nietzsche entwirft, findet ihre politische Entsprechung und ihre gesellschaftliche Grundlage demnach nicht in „Großer Politik", sondern in der Kleinen Politik gelebter Demokratie. -

40 Foucault notiert

programmatisch: „Heutzutage eine Ethik des Selbst zu konstituieren, [stellt] eine dringende, grundlegende, politisch unerläßliche Aufgabe [dar] wenn es schließlich wahr ist, daß es keinen anderen vorrangigen und nutzbaren Widerstandspunkt gegen die politische Macht gibt als den, der im Selbstbezug auf sich liegt. [In dieser Hinsicht] muß man glaube ich die Frage der Politik und die Frage der Ethik miteinander verbinden." Michel Foucault, Freiheit und Selbstsorge, Frankfurt a.M. 1985, 54 f. Vgl. Dana R. Villa, „Beyond Good and Evil. Arendt, Nietzsche and the Aesthetization of Political Action", in: Political Theory, Vol. 20. 2, Mai 1992, 274-308. -

41

Karsten Fischer

„Schritt für Schritt weiter in der décadence"

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Zur Dialektik der Aufklärung bei Nietzsche und Adorno

In seiner jüngst edierten Vorlesung Probleme der Moralphilosophie hat Theodor W. Adorno ausdrücklich bekannt, daß er Nietzsche „am meisten von allen sogenannten großen Philosophen verdanke in Wahrheit vielleicht mehr noch als Hegel".1 In diesem Zitat klingt zugleich an, wie kompliziert diese Dankesschuld für Adorno war. Die Anknüpfung an Nietzsche erscheint zwar nach der Lektüre der Dialektik der Aufklärung und nicht nur des Jwfe're-Kapitels schlechthin evident. Viele andere Texte Adornos sind jedoch bekanntlich eher von hegelmarxistischen Motiven bestimmt, und so ist Adornos Anknüpfung an Nietzsche immer noch umstritten und theoriegeschichtlich unterbelichtet.2 Dementgegen wird nachfolgend, seinem Selbstverständnis entsprechend, Adornos schwierige Nähe zu Nietzsche als große Inspiration interpretiert,3 und zwar hinsichtlich des für Adorno zentralen Theorems, daß -

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Theodor W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, hg. v. Thomas Schröder (Nachgelassene Schriften, hg. v. Theodor W. Adorno Archiv, Abt. IV: Vorlesungen, Bd. 10), Frankfurt a.M. 1996,255. 2 Vgl. zum Verhältnis zwischen Nietzsche und Adorno aus der Literatur vor allem Josef Früchtl, „Radikalität und Konsequenz in der Wahrheitstheorie. Nietzsche als Herausforderung für Adorno und Habermas", in: NietzscheStudien 19/1990, 431 ff; Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1988; Reinhart Maurer, „Nietzsche und die Kritische Theorie", in: Nietzsche-Studien 10,11/1981/82,34 ff; Peter Pütz, „Nietzsche im Lichte der kritischen Theorie", in: Nietzsche-Studien 3/1974, 175 ff.; Norbert Rath, „Zur Nietzsche-Rezeption Horkheimers und Adornos", in: Vierzig Jahre Flaschenpost: „Dialektik der Aufklärung" 1947 bis 1987, hg. v. Willem van Reijen u. Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt a.M. 1987, 73 ff; Gillian Rose, The Melancholy Science. An Introduction to the Thought of Theodor W. Adorno, London/Basingstoke 1978; Rüdiger Sünner, Ästhetische Szientismuskritik Zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche und Adorno, Frankfurt a.M. u. a. 1986; Mirko Wischke, Die Geburt der Ethik. Schopenhauer Nietzsche Adorno, Berlin 1994; Hans Zitko, Nietzsches Philosophie als Logik der Ambivalenz, Würzburg 1991. Irreführend ist der Titel von Heinz Röttges, Nietzsche und die Dialektik der Aufklärung, Berlin/New York 1972, der Nietzsche in erster Linie „vor dem Hintergrund der Kantischen und der Hegelschen Philosophie" untersucht (27). Nähen zwischen Nietzsche und Adorno speziell in moralphilosophischer Hinsicht untersuchen Ulrich Kohlmann, Dialektik der Moral. Untersuchungen zur Moralphilosophie Adornos, Lüneburg 1997, 72 ff., und Gerhard Schweppenhäuser, Ethik nach Auschwitz. Adornos negative Moralphilosophie, Hamburg 1993, 156 ff. 3 Am Rande sei vermerkt, daß der hier unternommene Nachweis weitreichender Nähen zwischen Nietzsche und Adorno natürlich unvereinbar ist mit der von Walter Kaufmann so bezeichneten, vor allem von Lukács beförderten Nietzsche-Legende, derzufolge Nietzsche ein geistiger Vorläufer und Wegbereiter des Faschismus gewesen sein soll. Dieser Irrtum ist mittlerweile ideenhistorisch und philologisch hinreichend widerlegt worden, vor allem durch die exakten und materialreichen Studien von Walter Kaufmann, Nietzsche. Philosoph Psychologe Antichrist, Darmstadt 1982, Henning Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin/New York 1987, und Manfred Riedel, Nietzsche in Weimar. Ein deutsches Drama, Leipzig 1997. Vgl. zu Lukács' intellektueller Unredlichkeit gegenüber Nietzsche, vor allem in Die Zerstörung der Vernunft (Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Werke, Bd. 9, Neuwied/Berlin 1962, 270 ff.) Henning Ottmann, „Anti-Lukács. Eine Kritik der Nietzsche-Kritik 1

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Karsten Fischer

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ein Zusammenhang besteht zwischen Rationalisierung der äußeren Naturbeherrschung und sozialer Barbarei. Dies ist ein Denkansatz, den Adorno in Anknüpfung an Theorien Sigmund Freuds und Max Webers entwickelte, die beide bekanntlich ebenso nachhaltig wie uneingestandenermaßen von Nietzsche beeinflußt waren.4 Bei Nietzsche lassen sich prägnante Ansätze einer Diagnose der Dialektik der Aufklärung5 nachweisen, die Spuren im Denken Adornos hinterlassen haben. Die Entdeckung des Willens zur Macht, der den innersten Antrieb jedes Willens zur Wahrheit und damit auch des Interesses an der Historie bestimmt, zwingt Nietzsche methodisch dazu, mit der genealogischen Metaperspektive zu arbeiten, die es ihm ermöglicht, eine Geschichte der Geschichte in den Blick zu nehmen und eine über den Gegensatz von Natur und Kultur hinausgreifende „allgemeine Naturgeschichte" zu rekonstruieren.6 Für Nietzsche ist „alles Wesentliche der menschlichen Entwickelung in Urzeiten vor sich gegangen" (MA, KSA 2, 24 f.), in jener „Vorzeit", welche „zu allen Zeiten da ist oder wieder möglich ist" (GM, KSA 5, 307), und insofern unterliegt seiner kulturkritischen Theorie der Moderne eine zivilisationstheoretische Basis. „Die Krise der modernen Welt ist nur eine Episode im Verlauf eines endlosen Prozesses."7 Aus dieser Perspektive auf die Probleme der Moderne resultiert auch Nietzsches Interesse am Mythos, den er, wie später Horkheimer und Adorno, als Moment einer Dialektik der Aufklärung versteht. Laut Nietzsche fungiert das mythische wie auch das aufklärerische Denken als Modus der Naturbeherrschung. Ihr Sinn ist es, „der Natur ein Gesetz aufzuerlegen" (MA, KSA 2, 113). Entgegen dem Selbstverständnis der Aufklärung, demzufolge die moderne Rationalität einen qualitativen Fortschritt gegenüber mythischen Weltbildern darstellt, sieht Nietzsche beide gleichermaßen dem Willen zur Macht über die Natur und in der Folge über die Mitmenschen verhaftet. In Gestalt ihres Protagonisten Kant wirft Nietzsche der Aufklärung vor, den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit als reinen Machtzuwachs initiiert zu haben. Nietzsche zufolge hat Kant „seinen Umweg um die Moral nur desshalb genommen, um zum Gehorsam gegen die Person zu gelangen" (M, KSA 3, 188).8 Folgerichtig gilt Nietzsches Erkenntnisinteresse der Frage, aufweiche Weise und um welchen Preis die Aufklärung den Mythos beerbt hat. Bereits in der Geburt der Tragödie deutet sich an, daß Nietzsche diesbezüglich einen dialektischen Verlauf im Sinn hat:

„Der Mythus scheint uns zuraunen zu wollen, dass [...] der, welcher durch sein Wissen die

Natur in den

Abgrund der Vernichtung stürzt, auch an sich selbst die Auflösung der Natur

von Georg Lukács", in: Nietzsche-Studien 13/1984,570 ff. Adorno bemerkt treffend, in dem Buch Die Zerstörung der Vernunft manifestiere sich „die von Lukács' eigener." Lukács' Urteil über Nietzsche erfolge „im herablassenden Ton eines Wilhelminischen Provinzialschulrats" (Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur, in: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. a., Frankfurt a.M. 1970 ff, Bd. II, 252). 4 Hierzu ausführlich Karsten Fischer, Verwilderte Selbsterhaltung". Zivilisationstheoretische Kulturkritik bei Nietzsche, Freud. Weber und Adorno, Berlin 1999. 5 Natürlich verhandelt Nietzsche das Problem nicht unter dem Begriff Dialektik, vgl. Uwe Beyer, Dialektik bei „

Nietzsche?, Münster/Hamburg 1990. 6 Hans Freier, „Nietzsche Der Einbruch des genealogischen Wissens in die Kulturhistorie", in: Helmut Brackert u. Fritz Wefelmeyer (Hg.), Naturplan und Verfallskritik. Zu Begriff und Geschichte der Kultur, Frankfurt a.M. -

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1984,328. René Girard, „Der grundlegende Mord im Denken Nietzsches", in: Dietmar Kamper und Christoph Wulf (Hg), Das Heilige. Seine Spur in der Moderne, Frankfurt a.M. 1987, 270. Vgl. KSA 3, 12 ff.; JGB, KSA 5, 24 ff, 107; NF 1885-1887, KSA 12, 264 (7[4]).

Schritt für Schritt weiter in der décadence

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erfahren habe. [... ] Weisheit ist ein Verbrechen ruft uns der Mythus zu" (GT, KSA 1, 67). zu

an

der Natur' : solche schreckliche Sätze

Die Niederlage des Mythos gegen das rationalistische Weltbild hängt also unmittelbar mit dem menschlichen Naturverhältnis zusammen. Sobald der Mensch seine innere und äußere Natur als durch Planung beherrschbar erfahrt, tritt zweckrationale Kontrolle an die Stelle von Mimesis. Mit der Autorität des äußerlichen Machterfolges drängt die Rationalisierung das mythische Denken in der Folge immer weiter zurück. Gleichzeitig wächst aber das Bedürfnis nach einer Sinnstiftung für diese rationale Naturbeherrschung, so daß die ganzheitliche mythische Weltdeutung im Prozeß der Aufklärung zu einer immer stärkeren Verlockung wird. Der Versuch, Fortschritt gleichsam als aufklärerischen Wert mit eigenem Sinngehalt zu begreifen, kann als indirekte und unfreiwillige Konzession an dieses mythische Sinnbedürfhis verstanden werden. Es liegt demnach nahe anzunehmen, daß der durch Sokrates, den ersten theoretischen Menschen, mitverantwortete Rationalisierungsprozeß ungeahnte Folgekosten verursacht.9 Nietzsches Formel wenn nichts wahr ist, ist alles erlaubt (ZA, KSA 4, 340; GM, KSA 5, 399) bezeichnet aber nur die nach dem Tod Gottes virulente, ethisch-motivationale Problematik der Moderne.10 Darüber hinaus diagnostiziert Nietzsche die in ihrem totalen Erfolg angelegte, dialektische Regression der Aufklärung in Mythologie mit desaströsen Wirkungen auf das soziale Leben." Es sind, modern gesprochen, manifeste soziale Desintegrationserscheinungen und politische Krisen bis hin zur Barbarei, die Nietzsche als Konsequenz des schrankenlosen Rationalismus fürchtet:

„Die Gewässer der Religion fluthen ab und lassen Sümpfe oder Weiher zurück; die Nationen trennen sich wieder auf das feindseligste und begehren sich zu zerfleischen. Die Wissenschaften, ohne jedes Maass und im blindesten laisser faire betrieben, zersplittern und lösen alles Festgeglaubte auf [...]. Die ungeheure Bewegtheit der Menschen auf der grossen Erdwüste, ihr Städte- und Staatengründen, ihr Kriegeführen, ihr rastloses Sammeln und Auseinanderstreuen, ihr Durcheinander-Rennen, von einander Ablernen, ihr gegenseitiges Überlisten und Niedertreten, ihr Geschrei in Noth, ihr Lustgeheul im Siege alles ist Fortsetzung der Thierheit: als ob der Mensch absichtlich zurückgebildet [...] werden -

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10 11

Vgl. GT, KSA 1, 74, 145 f.: „Man denke sich eine Cultur, die keinen festen und heiligen Ursitz hat, sondern alle Möglichkeiten zu erschöpfen und von allen Culturen sich kümmerlich zu nähren verurtheilt ist- das ist die Gegenwart, als das Resultat jenes auf Vernichtung des Mythus gerichteten Sokratismus. Und nun steht der mythenlose Mensch, ewig hungernd, unter allen Vergangenheiten und sucht grabend und wühlend nach Wurzeln [...]. Worauf weist das ungeheure historische Bedürfniss der unbefriedigten modernen Cultur, das Umsichsammeln zahlloser anderer Culturen, das verzehrende Erkennenwollen, wenn nicht aufden Verlust des Mythus [...]?[... ] Wer möchte einer solchen Cultur noch etwas geben wollen, [...] bei deren Berührung sich die kräftigste, heilsamste Nahrung in .Historie und Kritik' zu verwandeln pflegt?" Vgl. Reinhard Gasser, Nietzsche und Freud, Berlin/New York 1997, 465 ff. Nietzsche konstatiert bereits für seine Zeit jenen Zustand, den Günther Anders (vgl. Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, 2. Aufl., München 1956) später-wie man sieht, bei Nietzsche entlehnt als prometheisches Gefälle bezeichnet hat: „Ueberstolzer Europäer des neunzehnten Jahrhunderts, du rasest! Dein Wissen vollendet nicht die Natur, sondern tödtet nur deine eigene. Miss nur einmal deine Höhe als Wissender an deiner Tiefe als Könnender. Freilich kletterst du an den Sonnenstrahlen des Wissens aufwärts zum Himmel, aber auch abwärts zum Chaos. Deine Art zu gehen, nämlich als Wissender zu klettern, ist dein Verhängniss; Grund und Boden weichen ins Ungewisse für dich zurück; für dein Leben giebt es keine Stützen mehr, nur noch Spinnefitden, die jeder neue Griff deiner Erkenntniss auseinanderreisst." (HL, KSA 1,313). -

296

Karsten Fischer

sollte, ja als ob die Natur, nachdem sie so lange den Menschen ersehnt und erarbeitet hat, nun vor

wollte."

ihm zurückbebte und lieber wieder zurück in die Unbewusstheit des Triebes

(SE, KSA 1,366; 378 f.)

Die Folgen einer Dialektik der Aufklärung werden hier als evolutionäre Regression beschrieben. Je weiter sich das Bewußtsein mit dem homo sapiens entwickelt, desto attraktiver und wahrscheinlicher wird der Rückfall in die „Unbewußtheit des Triebes". Indem die Wissenschaften alles Festgeglaubte auflösen, haben sie den Nihilismus, die Entwertung der obersten Werte, mitzuverantworten. „Der Anblick des Menschen macht nunmehr müde was ist heute Nihilismus, wenn er nicht das ist?... Wir sind des Menschen müde ..." (GM, KSA 5, 278)12 Dieser Nihilismus ist im Wortsinne gemeingefährlich, weil er seinem Maximum zustrebt, das er erreicht „als gewaltthätige Kraft der Zerstörung: als aktiver Nihilism." (NF 1885-1887, KSA 12, 350 f. (9 [35])) Genauer gesagt: In „Theoretisierungen" und dem „wissenschaftlichen Weltumgang" äußert sich Nihilismus.13 Bereits im Zeitraum eines Menschenalters befürchtet Nietzsche den Ausbruch eines bellum omnium contra omnes (NF 1870-1873, KSA 1, 772; NF 1869-1874, KSA 7, 342 ff. (10 [1]), und er läßt keinen Zweifel daran, daß dieses Szenario eine unmittelbare Folge der Aufklärung ist, wenn diese, im berechtigten Bewußtsein ihrer wissenschaftlichen Wahrheit, sorglos gegenüber ihren kulturpsychologischen Folgen ist: -

„Wenn [...] die Lehren [...] von dem Mangel aller cardinalen Verschiedenheit zwischen Mensch und Thier Lehren, die ich für wahr, aber für tödtlich halte in der jetzt üblichen

Belehrungs-Wuth noch ein Menschenalter hindurch in das Volk geschleudert werden, so soll es Niemanden Wunder nehmen, wenn das Volk am egoistischen Kleinen und Elenden, an Verknöcherung und Selbstsucht zu Grunde geht, zuerst nämlich auseinanderfällt und aufhört Volk zu sein: an dessen Stelle dann vielleicht Systeme von Einzelegoismen, Verbrüderungen zum Zweck raubsüchtiger Ausbeutung der Nicht-Brüder und ähnliche Schöpfungen utilitarischer Gemeinheit auf dem Schauplatze der Zukunft auftreten werden." (HL, KSA 1,319.) -

-

Hiermit bringt Nietzsche die Dialektik der Aufklärung avant la lettre bereits genau so deutlich auf den Punkt wie später Horkheimer und Adorno, die, wie das Zitat beweist: zu Recht, feststellten, daß Nietzsche „wie wenige seit Hegel die Dialektik der Aufklärung erkannt" hat,14 welche, Adorno zufolge, darin besteht, „daß durch schiere Konsequenz Motivation und Sinn von

Aufklärung verschwinden."15

Von hieraus läßt sich nun zum einen nachweisen, daß Nietzsche und Adorno/Horkheimer nicht nur in dieser Diagnose übereinstimmen, sondern daß Nietzsche die Dialektik der Auf-

Vgl. NF 1885-1887, KSA 12, 125 f. (2 [127]): „Der Nihilismus steht vor der Thür: woher kommt uns dieser unheimlichste aller Gäste? -[...] Skepsis an der Moral ist das Entscheidende. Der Untergang der moralischen] Weltauslegung die keine Sanktion mehr hat, nachdem sie versucht hat, sich in eine Jenseitigkeit zu flüchten: endet in Nihilismus ,Alles hat keinen Sinn'". 13 Josef Simon, „Nietzsche und das Problem des europäischen Nihilismus", in: Rudolph Berlinger und Wiebke Schrader (Hg.), Nietzsche kontrovers, Bd. III, Würzburg 1984, 12. 14 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1944), in: Max Horkheimer, Gesammelle Schriften, hg. v. Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt a.M. 1985 ff, Bd. 5, 67 f. 15 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, 418. 12

297

Schritt für Schritt weiter in der décadence

klärung sogar bereits als Dialektik der Rationalisierung verstanden hat, die er am Problem der Naturbeherrschung exemplifiziert. Zum anderen besteht zwischen Nietzsche und Adorno/ Horkheimer Übereinstimmung auch darin, daß es keine Alternative zu der Aporie gibt, gerade aufgrund der Dialektik der Aufklärung an der Aufklärung festhalten und sie sogar weitertreiben zu müssen. In Nietzsches Verständnis hat die wissenschaftliche Erkenntnis, entgegen allen Stilisierungen, ihre ursprüngliche raison d'être in der Naturbeherrschung:

späteren

Wissenschaft' (wie man sie heute übt) ist der Versuch, für alle Erscheinungen eine gemeinsame Zeichensprache zu schaffen, zum Zwecke der leichteren Berechenbarkeit und folglich Beherrschbarkeit der Natur." (NF 1884-1885, KSA 11, 209, 26 [227]) ,„

Die Voraussetzung jeglicher menschlicher Naturbeherrschung ist jedoch wiederum das moralische Bewußtsein. Die Beherrschung der äußeren Natur des Menschen, der natürlichen Umwelt, wird nämlich erst möglich, sobald die Menschheit den qualitativen zivilisatorischen Unterschied gegenüber der Tierwelt ausgebildet hat: die Beherrschung seiner triebhaften inneren Natur als Ermöglichungsbedingung des Verstehens und planvollen Kontrollierens der natürlichen Umwelt. „Denn wie könnte man die Natur zum Preisgeben ihrer Geheimnisse zwingen", fragt Nietzsche in der Geburt der Tragödie, „wenn nicht dadurch, dass man ihr siegreich widerstrebt, d. h. durch das Unnatürliche?" (GT, KSA 1, 67) Dieser Schritt zur doppelten Naturbeherrschung ist gekennzeichnet durch die Erfindung des schlechten Gewissens, das die Bedingung für die Verbindlichkeit moralischer Pflichtregeln bildet. Die Fähigkeit zu versprechen mit anderen Worten: die moralische Selbstbindung ist der Schlüssel zur menschlichen Naturbeherrschung qua Selbstbeherrschung. Unter dem Stichwort „Entwicklung der Menschheit" notiert Nietzsche: -

-

„Macht über die Natur zu gewinnen und dazu eine gewisse Macht über sich. Die Moral war nöthig, um den Menschen durchzusetzen im Kampf mit Natur und ,wildem Thier'."16 In diesem Sinne ist „das ganze moralische Phänomen als thierhaft

zu bezeichnen" (M, KSA diese des Menschen aber 3, 37). Gleichzeitig ermöglicht Verinnerlichung qua moralischer des seiner Freiheit und vorhistorische Ausbildung Subjektivität bewußten, Selbstbindung jene selbstbeherrschten, souveränen Individuums, als dessen Prototyp Horkheimer und Adorno

Odysseus präsentieren:

„Der Mensch wurde mit Hülfe der Sittlichkeit der Sitte und der socialen Zwangsjacke wirklich berechenbar gemacht. Stellen wir uns dagegen an's Ende des ungeheuren Prozesses,

[...] so finden wir als reifste Frucht an ihrem Baum das souveraine Individuum [...], kurz den Menschen des eignen unabhängigen langen Willens, der versprechen darf. [...] Dieser Herr des freien Willens, dieser Souverain wie sollte er es nicht wissen, [...] wie ihm, mit dieser Herrschaft über sich, auch die Herrschaft über die Umstände, über die Natur und alle -

16 Er setzt fort, als Punkt B der Entwicklung: Jsl die Macht über die Natur errungen, so kann man diese Macht benutzen, um sich selbst frei weiterzubilden: Wille zur Macht als Selbsterhöhung und Verstärkung." (NF 1885-1887, KSA 12, 208 (5 [63]).)

Karsten Fischer

298 willenskürzeren und unzuverlässigeren Creaturen (GM, KSA 5, 293 f.)

Folgerichtig

sieht Nietzsche die Grausamkeit

„im

nothwendig in die Hand gegeben ist?" Wesen

jeder

Kultur" verwurzelt

(NF

1870-1873, KSA 1, 768; vgl. M, KSA 3, 30 ff), und zwar als ihren gefeierten und genossen-

Bestandteil. Die „ganze Geschichte der höheren Cultur" besteht in einer „Vergeistigung und Vergöttlichung'" der Grausamkeit, wie Nietzsche der Blick auf Straf- und Schuldrecht zeigt, und einen kräftigen Seitenhieb auf Kant kann er sich auch in diesem Zusammenhang nicht versagen: en

,

„Im Obligationen-Rechte [...] hat die moralische Begriffswelt ,Schuld', ,Gewissen', ,Pflicht', .Heiligkeit der Pflicht' ihren Entstehungsheerd, ihr Anfang ist, wie der Anfang alles Grossen auf Erden, gründlich und lange mit Blut begossen worden. Und dürfte man -

nicht hinzufügen, dass jene Welt im Grunde einen gewissen Geruch von Blut und Folter niemals wieder ganz eingebüsst habe? (selbst beim alten Kant nicht: der kategorische Imperativ riecht nach Grausamkeit...)" (GM, KSA 5, 300 ff.) Dies ist aber kein moralisches Argument Nietzsches, sondern er problematisiert die Dialektik der doppelten Naturbeherrschung. Danach rächt sich die Beherrschung der äußeren Natur des Menschen, zu der er qua Beherrschung seiner inneren Natur fähig wurde, in einer regelrechten Dekomposition des Menschen. Wie der Mythos wußte, hat, so Nietzsche in der Geburt der Tragödie, „der, welcher durch sein Wissen die Natur in den Abgrund der Vernichtung stürzt, auch an sich selbst die Auflösung der Natur zu erfahren" (GT, KSA 1, 67). Die menschliche Zivilisation scheitert an ihrem vermeintlichen Erfolg, insofern mit der Zerstörung der natürlichen Umwelt gleichsam eine soziomoralische Erosion einher geht.17 Die den „Ursprung des schlechten Gewissens'" kennzeichnenden Schwierigkeiten des Menschen mit seiner Verinnerlichung beschreibt Nietzsche als „das vielfache Missbehagen, welches die Ansprüche der höheren Cultur dem Menschen machen" (MA, KSA 2, 471 ; vgl. GM, KSA 5, 321 ff.) 51 Jahre später nennt Freud dies Das Unbehagen in der Kultur. Formuliert man Nietzsches Überlegung in den Termini der Psychoanalyse, die er in so vielen Punkten vorweggenommen hat, dann führt die Eindämmung der natürlichen Aggressivität des Menschen zu einer Autoaggression, die in soziokultureller Hinsicht weit schädlicher ist als die ursprünglichen vindikativen Instinkte des Menschen, weil sie jene Überdrüssigkeit des Menschen an sich selber begünstigt, die als aktiver Nihilismus eine gewaltthätige Kraft der Zerstörung erreicht. Die Ursache und den Kern dieser Autoagressivität verortet Nietzsche in dem grenzenlosen rationalistischen Erkenntnisdrang:

-

„Hybris ist heute unsre ganze Stellung zur Natur, unsre Natur-Vergewaltigung mit Hülfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Empfindsamkeit; [...] Hybris ist unsre Stellung zu uns, denn wir experimentiren mit uns, wie wir es uns mit keinem Thiere erlauben würden, und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf: was liegt uns noch am ,Heil' der Seele!" (GM, KSA 5, 357) -

17 „Grundsatz: das, was im Kampf mit den Thieren dem Menschen seinen Sieg errang, hat zugleich die schwierige und gefährliche krankhafte Entwicklung des Menschen mit sich gebracht. Er ist das noch nicht festgestellte Thier" (NF 1884-1885, KSA 11, 125 (25 [248]); vgl. JGB, KSA 5, 81; GM, KSA 5, 367.

Schritt für Schritt weiter in der décadence

299

Die Dialektik der Aufklärung beschreibt er also als unselige Verquickung von innerer und äußerer Naturbeherrschung, als eine im rationalistischen Weltumgang begründet liegende Dialektik der doppelten Naturbeherrschung. Nietzsche hat den Verdacht, daß der nicht einmal auf das eigene Seelenheil Rücksicht nehmende menschliche Erkenntnis- und Aufklärungsdrang ein Symptom ist, für das Freud später den Begriff Todestrieb prägt. In der Fröhlichen Wissenschaft mutmaßt Nietzsche ausdrücklich, daß der Wille zur Wahrheit ein versteckter Wille zum Tode sein könnte (FW, KSA 3, 576).18 Nietzsche beobachtet eine Überladung zumal des politischen Triebes, der „gegen sich selbst zu wüthen anfängt und seine Zähne in das eigne Fleisch schlägt". Der in ,,Kriege[n] und Parteikämpfe[n]" zum Ausdruck kommende „Wille zur Zerstörung" ist folglich zu betrachten „als Wille eines noch tieferen Instinkts, des Instinkts der Selbstzerstörung, des Willens ins Nichts" oder eben, psychoanalytisch gesprochen, des Todestriebes (NF 1869-1874, KSA 7, 169 f., 7 [121])'" Aus diesen düsteren Analysen und Prognosen zieht Nietzsche aber mitnichten den Schluß, zur Gegenaufklärung überzulaufen. Vielmehr problematisiert er konsequenterweise auch die Dialektik seiner eigenen Aufklärung über die Aufklärung™ wenn er in Ecce Homo orakelt, daß er mit seinen Einsichten zu einem Verhängnis werde (EH, KSA 6, 366). Bei aller Kritik an der hemmungslosen rationalistischen „Belehrungs-Wuth" behält er stets die Ambiguität seiner Entdeckung im Blick: Die mit Darwins wissenschaftlicher Revolution verbundene Relativierung der menschlichen Selbstachtung ist soziomoralisch einerseits schädlich, aber nichtsdestotrotz wissenschaftlich richtig und also alternativlos. Vor allem aber verliert Nietzsche niemals aus den Augen, daß die Wissenschaften auch eine gerade soziomoralisch enorm positive Funktion haben, indem sie „den bösartigen und gefährlichen Folgen einer Ueberheizung" durch „Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften" entgegenwirken (MA, KSA 2, 209; vgl. ZA, KSA 4, 376). Kunst, Religion und Wissenschaft hält er schon in der Geburt der Tragödie für erforderlich „zur Abwehr jenes Pesthauchs", der droht, wenn die menschliche Energie nur für die „egoistischen Ziele der Individuen und Völker" verwendet würde, was bis zu einer ,,grausenhafte[n] Ethik des Völkermordes aus Mitleid" (GT, KSA 1, 100) führen könne. Nietzsche schwebt eine „,neue Aufklärung'" vor, die zur „Herrschaft des Aufgeklärten, des Übermenschen" führen soll.21 Er setzt darauf, daß einem „Verfall der allgemeinen Erdcultur", einer „Verhässlichung und endlich Verthierung des Menschen, bis in's Affen-

KSA 3, 264 f.: „Die Erkenntniss hat sich in uns zur Leidenschaft verwandelt, die vor keinem Opfer erschrickt und im Grunde Nichts fürchtet, als ihr eigenes Erlöschen [...]. Vielleicht selbst, dass die Menschheit auch dieser Gedanke vermag Nichts über uns! [...] Ja, an dieser Leidenschaft der Erkenntniss zu Grunde geht! [... ] wir wollen Alle lieber den Untergang der Menschheit, als den Rückgang der Erkenntniss!" Vgl. JGB, KSA 5, 207 f.; GM, KSA 5,366; 410; NF 1880-1882, KSA 9, 226 (6 [123]). Vgl. Ulrich Irion, Eros und Thanatos in der Moderne. Nietzsche und Freud als Vollender eines anti-christlichen Grundzugs im europäischen Denken, Würzburg 1992, 69, 86 f., 139. 19 Vgl. NF 1869-1874, KSA 7, 143 (7 [25]); NF 1885-1887, KSA 12, 215 (5 [71] 11). 20 Henning Ottmann, „Nietzsches Stellung zur antiken und modernen Aufklärung", in: Josef Simon (Hg.), Nietzsche und die philosophische Tradition, Bd. 2, Würzburg 1985,24; Josef Simon, „Aufklärung im Denken Nietzsches", in: Jochen Schmidt (Hg.), Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1989, 473 f. 21 Henning Ottmann, „Nietzsches Stellung zur antiken und modernen Aufklärung", 26. Hierin sieht Ottmann eine Überwindung des unbedingten Willens zur Macht (ebd., S. 31; vgl Friedrich Kaulbach, Nietzsches Interpretation der Natur", in: Nietzsche-Studien 10,11/1981/82, 449 f.). Es sei „Nietzsches Absicht gewesen, den .Willen zur Macht' zu einem zweifachen Einverständnis zu bewegen: zu einem Einverständnis mit einer unverfügbaren Geschichte wie mit einer unverfügbaren Natur". Nietzsches Übermensch ist demnach mehr „Mitspieler der Natur" als ,„Herr der Erde'" (Henning Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, 392 ff.). 18

Vgl. M,

-

Karsten Fischer

300

vorgebeugt werden kann, „gerade weil wir diese Perspective in's Auge fassen können" KSA 2, 206).22 Wie später Horkheimer und Adorno steht also bereits Nietzsche, den (MA, Adorno mithin zurecht als den konsequentesten Aufklärer rühmt,23 zu der petitio principii, angesichts der Dialektik der Aufklärung für eine Steigerung des aufklärerischen Denkens einzutreten. Regression lehnt er ab mit dem Hinweis aus der Götzen-Dämmerung auf die Irreversibilität evolutionärer Entwicklungsprozesse, zu denen auch der menschliche Rationalismus zählt:

hafte"

„Es steht Niemandem frei, Krebs zu sein. Es hilft nichts: man muss vorwärts, will sagen Schritt für Schritt weiter in der décadence (- dies meine Definition des modernen .Fortschritts* ...)." (GD, KSA 6, 144) Bereits an dieser Stelle ist erkennbar, wie richtig Horkheimers und Adornos Urteil ist, daß Nietzsche die Dialektik der Aufklärung umfassend erkannt hat, und so läßt sich nun an einigen Punkten demonstrieren, in welchem Ausmaß ein unmittelbarer Einfluß Nietzsches zumal auf das Denken Adornos besteht. Wie bereits angedeutet, stellt Odysseus in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärungjenes souveräne Individuum dar, dessen kulturhistorische Genese Nietzsche rekonstruiert hatte. Die Herausbildung dieses selbstbestimmten Individuums ist symptomatisch für die Dialektik der Aufklärung im Mythos: Die Niederlage des Mythos gegen das rationalistische Weltbild ist, wie Nietzsche und Adorno übereinstimmend denken, bereits darin angelegt, daß der Mythos seinerseits im Interesse der Naturbeherrschung aufklärerische Elemente gegenüber animistischen Weltbildern zur Geltung bringt. Mit der Aufklärung wird nämlich kein dem Mythos prinzipiell fremdes Element eingeführt, sondern die fortschreitende Entmythologisierung des Weltbildes erfolgt durch Übersteigerung der bereits im Mythos enthaltenen rationalen Elemente und somit als Autokatalyse des Mythos. Gegen Polyphem wie auch gegen die Sirenen obsiegt Odysseus, indem er, zweckrational kalkulierend, nicht aus dem Geltungsbereich des Mythos flieht, sondern indem er die rationalen Momente, über die er seinerseits eine mythische Figur verfügt, innerhalb des mythischen Geschehens und durch das Eingehen auf seine Spielregeln zur Geltung bringt. Es bedarf gar keiner direkten Zerstörung des Mythos. Die partielle Aktivierung seiner eigenen rationalen Potentiale setzt gleichsam eine Kettenreaktion in Gang, an der der Mythos zugrunde geht, die aber gleichzeitig auch die Aufklärung infiziert, weil sie, „im blindesten laisser faire betrieben", wie es bei Nietzsche heißt, ihre soziomoralischen Grundlagen, zuvorderst die Motivation zu rationalem Verhalten, erodiert. Es ist mithin eine regelrechte Nietzsche-Paraphrase, wenn Horkheimer und Adorno feststellen, wie die Mythen schon Aufklärung vollzögen, so verstricke sich die „Aufklärung mit jedem -

-

22 Treffend Josef Simon, „Aufklärung ¡m Denken Nietzsches", 471,474:

„Aufklärung kann nach Nietzsche also nicht als Fortsetzung eines Prozesses verstanden werden, der in einer historisch schon ausgerichteten Richtung fortzusetzen wäre. Jede Anknüpfung dieser Art wäre gerade der dialektische Umschlag in ihr Gegenteil. [...] Nietzsches .Begriff von Aufklärung setzt, als Aufklärung über ,die Aufklärung', diese Vernunftkritik fort. Vernunft wirkt auch nach ihm dadurch, daß sie sich von jedem positiven Begriff von ihr unterscheidet, d. h. von sich selbst her in eine Dialektik gerät, aus der sie immer nur als beschränkter Verstand wieder herausfindet." 23 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, 418. Vgl. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 127; Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Hans-Georg Gadamer, „Über Nietzsche und uns. Zum 50. Todestag des Philosophen" (1950), in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 13, 118 f.

Schritt für Schritt weiter in der décadence

301

ihrer Schritte tiefer [...] in Mythologie."24 Folgerichtig gleicht Adornos Klage über die „Unvernunft der herrschenden Vernunft" fast aufs Wort entsprechenden Feststellungen Nietzsches.25 Es ist ein häufig übersehener Umstand von entscheidender Wichtigkeit, daß diese Überlegung bei Nietzsche wie bei Adorno auch und gerade eine Begrenzung der Rationalitätskritik markiert, denn „nicht die Rationalisierung der Welt trägt Schuld an dem Unheil, sondern die Irrationalität dieser Rationalisierung."26 Die größte Nähe Adornos zu Nietzsche besteht aber in dem Theorem einer Dialektik der Naturbeherrschung, das beide mit einem aggressiven Anti-Kantianismus verbinden. Mit durch Nietzsche geschultem Blick sieht Adorno einen unausweichlichen Zusammenhang zwischen der auf Naturbeherrschung abzielenden Rationalität und despotischen Formen politischsozialer Herrschaft. So entspricht seine Betonung, ohne die Ausübung von Gewalt und Schrecken sei die Zivilisation nicht aufrechtzuerhalten,27 Nietzsches Hinweis auf die sociale Zwangjacke. Und wie Nietzsche in diesem Zusammenhang gegen die „Grausamkeit" des Kategorischen Imperativs polemisiert, ist auch Adornos Überlegung gegen Kant gerichtet. Dieser hatte in seiner Schrift „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte" die Verheißung rechtlich verbriefter, reziproker Gewaltbegrenzung in der Naturbeherrschung gesehen:

„Das erstemal, daß

er [der Mensch, K.F.] zum Schafe sagte: den Pelz, den du trägst, hat dir die Natur nicht für dich, sondern für mich gegeben, ihm ihn abzog und sich selbst anlegte [...], ward er eines Vorrechtes inne, welches er vermöge seiner Natur über alle Thiere hatte, die er nun nicht mehr als seine Mitgenossen an der Schöpfung, sondern als seinem Willen überlassene Mittel und Werkzeuge zu Erreichung seiner beliebigen Absichten ansah. Diese Vorstellung schließt (wiewohl dunkel) den Gedanken des Gegensatzes ein: daß er so etwas zu keinem Menschen sagen dürfe, sondern diesen als gleichen Teilnehmer an den Geschenken der Natur anzusehen habe".28

hingegen insinuiert einen zivilisationspsychologischen Zusammenhang zwischen der ideologischen Selbstermächtigung des Menschen zu gewaltsamer Naturbeherrschung und seiner mitunter blindwütigen Gewaltbereitschaft im sozialen Leben. Hiermit greift er auf den Gedanken Nietzsches zurück, daß die Selbstlegitimation des Menschen, infolge seiner Superiorität volle Verfügungsgewalt gegenüber anderen Lebewesen zu haben, keineswegs, wie Adorno

24 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 33 f. 25 „Dass die Welt nicht der Inbegriff einer ewigen Vernünftigkeit ist, lässt sich endgültig dadurch beweisen, dass jenes Stück Welt, welches wir kennen- ich meine unsre menschliche Vernunft-, nicht allzu vernünftig ist." (MA, KSA 2, 540) Vgl. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 114, 240; Theodor W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, 70 f.; Negative Dialektik, in: Gesammelte Schriften, Bd. 6,311 f.; Soziologische Schriften, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, 64; 445; Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, 102; Kulturkritik und Gesellschaft, in: Gesammelte Schriften, Bd. 10, 625 ff. 26 Institut für Sozialforschung, „Kultur und Zivilisation", in: Soziologische Exkurse. Nach Vorträgen und Diskussionen (Frankfurter Beiträge zur Soziologie, Bd. 4), i. A. d. Instituts für Sozialforschung hg. v. Theodor W. Adorno und Walter Dirks, Frankfurt a.M. 1956, 87. 27 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 79; 51; 248. Vgl. ebd., 26: „Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt." 28 Immanuel Kant, „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte", in: Kant 's gesammelte Schriften, hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Erste Abt.: Werke, Bd. 8: Abhandlungen nach 1781, Berlin 1912, 107 ff, 114, 123.

Karsten Fischer

302 Kant

meint, eine höhere moralische Entwicklungsstufe bedeutet, sondern Ausdruck einer

„primitiven Gemeinde-Moral"29 ist.

Adorno teilt Nietzsches kritische Perspektive auf Kant beinahe wörtlich, wenn er feststellt, „daß der kategorische Imperativ von Kant gar nichts anderes ist, als das ins Normative gewendete, zum Absoluten erhobene Prinzip der Naturbeherrschung selber", so daß „die Kantische Moral ihrerseits eigentlich nichts anderes ist als

Herrschaft".30 Aber mehr

noch, Adorno sieht in diesem Denken eine bewußtseinsgeschichtliche Voraus-

setzung für soziale Barbarei als letzter Konsequenz der menschlichen Selbstlegitimation

zu

grenzenloser, industrialisierter Naturbeherrschung:

„Die Blindheit der Beherrschung der äußeren Natur, die nicht danach fragt, was dieser angetan wird, geht über auf die Organisation als Beherrschung von Menschen [...]. Indem

die Gesellschaft in der Beherrschung einzelner Felder immer vernünftiger wird und immer besser funktioniert, kehrt sie immer mehr das Moment ihrer Unvernunft hervor. Sie gefährdet das Ganze, den eigenen Fortbestand."31

Adorno verkehrt Kants Hoffnung, daß die zweckrationale Nutzung der Kreatur das zwischenmenschliche Gewalttabu sichert, in ihr Gegenteil:

„Das

autonome

Pflicht

zum

Sittengesetz schlägt

antinomistisch um, reine Herrschaft über Natur in

Ausrotten, die stets schon dahinter lauerte."32

bündige Feststellung beruht auf einer äußerst komplexen, voraussetzungsvollen Überlegung, mit der Adorno stärkste Anleihen bei Freuds Arbeit über Totem und Tabu macht. Über die Möglichkeit zum Pogrom, so betont Adorno in den Minima Moralia, wird in dem Moment Diese

29 „Man kann das Entstehen der Moral in unserem Verhalten gegen die Thiere noch beobachten. Wo Nutzen und Schaden nicht in Betracht kommen, haben wir ein Gefühl der völligen Unverantwortlichkeit; wir tödten und verwunden zum Beispiel Insecten oder lassen sie leben und denken für gewöhnlich gar Nichts dabei. [...] Bringen die Thiere uns Schaden, so erstreben wir auf jede Weise ihre Vernichtung, die Mittel sind oft grausam genug ohne dass wir diess eigentlich wollen: es ist die Grausamkeit der Gedankenlosigkeit. Nützen sie, so beuten wir sie aus: bis eine feinere Klugheit uns lehrt, dass gewisse Thiere für eine andere Behandlung, nämlich die der Pflege und Zucht reichlich lohnen. Da erst entsteht Verantwortlichkeit. Gegen das Hausthier wird die Quälerei gemieden; der eine Mensch empört sich, wenn ein anderer unbarmherzig gegen seine Kuh ist, ganz in Gemässheit der primitiven Gemeinde-Moral, welche den gemeinsamen Nutzen in Gefahr sieht, so oft ein Einzelner sich vergeht. [...] Zudem erweckt der, welcher roh gegen Thiere ist, den Argwohn, auch roh gegen schwache, ungleiche, der Rache unfähige Menschen zu sein [...]. So entsteht ein Ansatz von moralischem Urtheilen und Empfinden" (MA, KSA 2, 577 f.; vgl. MA, KSA 2, 86, 98; M, KSA 3, 57). 30 Theodor W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, 155 ff. Vgl. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, AZ: „Naturbeherrschung zieht den Kreis, in den Kritik der reinen Vernunft das Denken bannte [...]: die Weltherrschaft über die Natur wendet sich gegen das denkende Subjekt selbst, nichts wird von ihm übriggelassen, als eben jenes ewig gleiche Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können. Subjekt und Objekt werden beide nichtig." Vgl. M, KSA 3, 12 ff; 188; JGB, KSA 5, 24 ff., 107; NF 1885-1887, KSA 12, 264 (7[4]). 31 Theodor W. Adorno, Soziologische Schriften, 444 f. Vgl. Theodor W. Adorno, Philosophische Terminologie. Zur Einleitung, hg. v. Rudolf zur Lippe, 2 Bde., Bd. 2, Frankfurt a.M. 1973 f., 37; Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 133: „Die Herrschaft über die Natur reproduziert sich innerhalb der Menschheit." 32 Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur, 318. -

Schritt für Schritt weiter in der décadence

303

entschieden, in dem der Mensch den mitleidheischenden Blick des von ihm tödlich verwunder Kantischen

deten Tiers

Empfehlung gemäß

mit der

legitimatorischen Rationalisierung

abweist, es handele sich ja bloß um ein Tier. Dies führt, wie Adorno durch Rekombination Freudscher Theoreme mutmaßt, zur manischen, exzessiven Wiederholung des Vernichtungsaktes am Mitmenschen, sobald dieser als animalisch diffamiert wird, wie es geradezu idealtypisch der rassistische Topos von der Affenartigkeit bestimmter Ethnien unternimmt: -

-

„Die stets wieder begegnende Aussage, Wilde, Schwarze, Japaner glichen Tieren, etwa Affen, enthält bereits den Schlüssel zum Pogrom. Über dessen Möglichkeit wird entschieden in dem Augenblick, in dem das Auge eines tödlich verwundeten Tiers den Menschen trifft. Der Trotz, mit dem er diesen Blick von sich schiebt ,es ist ja bloß ein Tier' -, wiederholt sich unaufhaltsam in den Grausamkeiten an Menschen, in denen die -

Täter das ,Nur ein Tier' immer wieder sich bestätigen müssen, weil sie es schon am Tier nie ganz glauben konnten. In der repressiven Gesellschaft ist der Begriff des Menschen selber die Parodie der Ebenbildlichkeit. Es liegt im Mechanismus der ,pathischen Projektion', daß die Gewalthaber als Menschen nur ihr eigenes Spiegelbild wahrnehmen, anstatt das Menschliche gerade als das Verschiedene zurückzuspiegeln. Der Mord ist dann der Versuch, den Wahnsinn solcher falschen Wahrnehmung durch größeren Wahnsinn immer wieder in Vernunft zu verstellen: was nicht als Mensch gesehen wurde und doch Mensch ist, wird zum Ding gemacht, damit es durch keine Regung den manischen Blick mehr

widerlegen kann."33

Die menschliche Humanität, die bereits Nietzsche als „Vorurtheil" karikiert hatte,34 schlägt, Adorno zufolge, just aufgrund der sie vermeintlich begründenden Differenzbestimmung in ihr Gegenteil um. Aus diesem Grunde problematisiert er wiederholt die für das menschliche Naturverhältais symptomatische Kantische Anthropologie, in äußerster Form polemisch zugespitzt in seinem Nachlaß-Fragment über Beethoven:

„Die ethische Würde bei Kant ist eine Differenzbestimmung. Sie richtet sich gegen die

Tiere. Sie nimmt tendenziell den Menschen von der Schöpfung aus und damit droht ihre Humanität unablässig in Inhumanität umzuschlagen. [...] Nichts ist dem Kantianer verhaßter als die Erinnerung an die Tierähnlichkeit des Menschen. Deren Tabuierung ist allemal im Spiel, wenn der Idealist auf den Materialisten schimpft. Die Tiere spielen fürs idealistische System virtuell die gleiche Rolle wie die Juden fürs faschistische. Den Menschen ein Tier schimpfen das ist echter Idealismus."35 -

Problematisierung soziomoralischer Erosion im Zuge rational legitimierter Naturbeherrschung auf die Spitze. Ebenso wie Nietzsche liegt es Adorno aber völlig fern, mit dieser Aufklärungskritik Gegenaufklärung zu betreiben. Die vielleicht wichtigDamit treibt Adorno Nietzsches

33 Theodor W. Adorno, Minima Moraba, in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, 116 f. 34 .„Menschlichkeit1. Wir halten die Thiere nicht für moralische Wesen. Aber meint ihr denn, dass die Thiere uns für moralische Wesen halten? Ein Thier, welches reden konnte, sagte: .Menschlichkeit ist ein Vorurtheil, an dem wenigstens wir Thiere nicht leiden.'" (M, KSA 3, 234) 35 Theodor W. Adorno, Beethoven. Philosophie der Musik. Fragmente und Texte, hg. v. Rolf Tiedemann (Nachgelassene Schriften, Abt. 1: Fragment gebliebene Schriften, Bd. 1), 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1994, 123 f. Vgl. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 277 f. -

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304

Karsten Fischer

ste Nähe zwischen beiden besteht vielmehr darin, daß Adorno absolut übereinstimmt mit Nietzsches Mahnung, dankbar zu sein für das dank der Rationalisierung des Weltbildes erreichte Ende der beständigen Furcht vor wilden Tieren, Barbaren, Göttern und unseren Träumen (M, KSA 3, 20). Die Auflösung der Zivilisation in Barbarei, so zwangsläufig sie in Adornos, von Herbert Schnädelbach treffend als Sozialmythos gekennzeichneter Darstellung36 auch erscheint, ist mitnichten ein Grund zur kampflosen Hinnahme dieser Verfallserscheinung: „Daß die Kultur bis heute mißlang, ist keine Rechtfertigung dafür, ihr Mißlingen zu befördern", betont Adorno in den Minima Moralia?1 Es bleibt die aporetische, Nietzscheanische Perspektive der Dialektik der Aufklärung, daß nur „die ihrer selbst mächtige, zur Gewalt werdende Aufklärung [...] die Grenzen der Aufklärung zu durchbrechen" vermag.38 Insofern ist die Selbstreflexion der Aufklärung nicht deren Widerruf.39 Das Einverständnis mit einer solchen Aporie mag dekadent sein. Für Adorno wäre dies kaum ein Einwand, geschweige denn ein Vorwurf gewesen, denn die ultimative Übereinstimmung zwischen ihm und Nietzsche besteht in einer Affirmation der décadence. Laut Nietzsches Wendung aus der Götzen-Dämmerung müssen wir, als einziges Fortschrittsmoment, „Schrittfür Schritt weiter in der décadence". Adorno sah in solcher Dekadenz sogar ein Humanitätspotential. In seinem Essay über Fortschritt bestimmt er paradox das Ende des Fortschritts als dessen Verwirklichung und sieht diese Vision verschlüsselt im Begriff der Dekadenz. Dazu verweist Adorno auf Nietzsches Turiner Zusammenbruch, bei dem er weinend ein vom Kutscher mißhandeltes Pferd umarmte. Laut Adorno denunzierte der Irrationalismus dieser décadence die von Nietzsche inkriminierte „Unvernunft der herrschenden Vernunft". Gleichzeitig setzt Adorno darauf, daß hierin auch „die sprengende Tendenz des Fortschritts" angelegt ist: „Nur die Vernunft, das ins Subjekt gewandte Prinzip gesellschaftlicher Herrschaft, wäre fähig, diese abzuschaffen." Die „Dialektik des Fortschritts" hat danach den positiven Aspekt, „daß die geschichtlichen Rückschläge, die selbst vom Fortschrittsprinzip angezettelt werden [...], auch die Bedingung dafür beistellen, daß die Menschheit Mittel findet, sie in Zukunft zu vermeiden."40 Dies entspricht Nietzsches Vertrauen darauf, durch Reflexion der Bedrohung dem Kulturverfall vorbeugen zu können, und insofern eignen dem schwarzen Schriftsteller des Bürgertums"41 und dem ihm kongenialen Negativisten doch auch konstruktive Denkansätze.

36 Herbert Schnädelbach, Zur Rehabilitierung des animal rationale. Vorträge und Abhandlungen 2, Frankfurt a.M. 1992, 234 ff. 37 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, 49. 38 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 217. 39 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, 160. 40 Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschajt, 623 ff. 41 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 130.

Bernd Kulawik

Wagnerkritik als Kulturkritik der Moderne

bei Nietzsche und Adorno

Wagnerkritiken Nietzsches und Adornos weisen bekanntlich eine Reihe von Parallelen auf, die genauer zu untersuchen sicherlich eine lohnenswerte Aufgabe wäre. Dies kann hier nicht geleistet werden, weshalb sich die Fragestellung auf einen Aspekt dieser Kritiken beschränken soll, der in beiden eine zentrale Stellung einnimmt: die Kritik am Phänomen Wagner als eine an der Kultur der beginnenden europäischen Moderne, für die Nietzsche wie Adorno in Wagner einen Prototypen sehen. Ein Hauptproblem dieser Untersuchung ist dabei natürlich, daß den Begriffen ,Kultur' und damit auch ,Kulturkritik' ebenso wie ,Moderne' bei beiden Autoren durch fortgesetzte Reflexion (Adorno) oder gelegentlich eher unsystematisch erscheinenden Gebrauch (Nietzsche) eine Vielschichtigkeit eignet, die eine sinnvolle Behandlung im Rahmen eines kurzen Beitrags auszuschließen scheint und den Vorwurf der unzulässigen Verkürzung provozieren könnte. Deshalb sei hier eingangs die Einschränkung gemacht, daß mit Kultur hier der marxistisch im Sinne der Kritischen Theorie gesprochen gesellschaftliche Überbau' gemeint sein soll. Wagnerkritik als Kulturkritik wäre dementsprechend im folgenden in zwei Bedeutungen zu verstehen: a) zum einen als eine weniger wertende denn unterscheidende (vom griechischen Ursprung krinein abgeleiteten) Kritik an Wagner als einem Vertreter jener „Kultur im engeren Sinne, wofür Hamburg einen Kultursenator hat, was Ländersache ist und wofür es nirgends genug Geld gibt",1 und als deren prominenter Bestandteil das Theater von Bayreuth funktionierte und Die

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weiter funktioniert; und b) als durchaus wertende und warnende Kritik am Phänomen Wagner,2 verstanden als Prototyp und Chiffre der Kultur der spätbürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft als einer historischen konkreten Erscheinungsform menschlicher Gesellschaften. Daß Nietzsche als einer der Begründer dieser Art von Kritik in und an der Moderne angesehen werden darf, ist wohl so weit Konsens, daß eine Rechtfertigung unterbleiben kann. Nimmt man zu ihrer Unterscheidung von früherer Kritik seitens der Intellektuellen an ihrer jeweils zeitgenössischen Gesellschaft bzw. Kultur das von Herbert Schnädelbach vorgeschlagene Kriterium der ,vollständigen Reflexivität'3 der Kulturkritik, die diesen Namen verHerbert Schnädelbach, „Kultur und Kulturkritik", in: Zur Rehabilitierung des animal rationale. Vorträge und Abhandlungen 2, Frankfurt a.M. 1992, 164. 2 Mit „Phänomen Wagner" sei hier die schon zu Lebzeiten des Komponisten schwer auflösbare Trias aus privatem Leben, musikalischem wie schriftstellerischem Werk und öffentlicher Wirkung bezeichnet, die nicht nur in der Rezeption oft als Einheit gesehen und interpretiert, sondern von Wagner selbst z. B. in seiner Autobiographie 1

3

als solche stilisiert wurde. Vgl. Herbert Schnädelbach,

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„Kultur und Kulturkritik", 168.

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Bernd Kulawik

306

soll, in modernen Gesellschaften, so scheint die .Klassifizierung' Nietzsches als eines Kulturkritikers der Moderne vollends berechtigt. Im Falle Adornos ist dies komplizierter: Er selbst wendet sich in dem 1949 erschienenen Aufsatz „Kulturkritik und Gesellschaft"4 derart scharf gegen die von ihm dort charakterisierte Form von Kulturkritik, daß es eigentlich an Vermessenheit oder mutwilliges Mißverstehen grenzen muß, ihn als Kulturkritiker zu bezeichnen oder schärfer: ihn der Tätigkeit des Kulturkritikers zu zeihen. Denn Adorno will jene Kulturkritik durch eine systematisch davon zu scheidende, kritisch-dialektische .Theorie der Gesellschaft als ganzer' ersetzt wissen, die in materialistischer Weise die ökonomische .Basis' des gesellschaftlichen Geschehens miteinbezieht. Es trotzdem zu tan, erlaubt mir die seitherige Veränderung und Differenzierung des Verständnisses von Kultur und ihrer Kritik, die Herbert Schnädelbach in seinem Aufsatz dargelegt hat,5 und deren hier wesentliches Merkmal eine gegenüber ihrem früheren KampfCharakter' erfolgte Wertneutralisierung der Begriffe Kultur und Kulturkritik ist.

dienen

-

,

Die Behandlung des im Titel genannten Themas erfordert eigentlich die Untersuchung dreier komplexer, in sich jeweils nicht trivialer und miteinander verschränkter Bereiche: Der erste betrifft das Verhältnis Nietzsches

zu

Wagner, dem schon eine eigene Nietzsche-

Werkstatt6 sowie eine nicht unbeträchtliche Sekundärliteratur

wissenschaftlicher, literaturgeschichtlicher

u. a.

Seite

von

biographischer,

musik-

gewidmet wurde, und die Rolle

von

Nietzsches Kritik in dieser Beziehung. Der zweite Bereich umfaßt die Kritik Adornos an Wagner und dabei implizit, aber gelegentlich auch explizit zugleich an Nietzsche sowie dessen Wagnerkritik. Drittens wäre zu fragen, inwieweit es sich in beiden Fällen von Kritik überhaupt ganz allgemein um Vergleichbares und im spezielleren um ,Kulturkritik' handelt, deren Begriff für diesen Fall noch dazu erst zu bestimmen wäre. Denn offensichtlich hat sich der Bedeutungsgehalt von ,Kulturkritik' historisch erheblich verschoben,7 und es ist nicht auszuschließen, daß die verschiedenen Bedeutungen, mit denen der Begriff belegt wurde, in annähernd gleichem Maße gegenwärtig und damit Anlaß zu Mißverständnissen sein könnten. Dies scheint um so wahrscheinlicher, als Nietzsche und Adorno jeweils als Kulturkritiker verstanden wurden, selbst aber an ihnen zeitgenössischen Formen von Kulturkritik ihrerseits Kritik übten. -

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Aufgrund des umfangreichen zu berücksichtigenden Materials kann es sich hier nur um den Versuch handeln, einige thesenartig verkürzte Gedanken zu präsentieren und diese zur Diskussion

zu

stellen.

Vorangestellt sei außerdem noch, daß es nicht darum gehen kann, die Inhalte der Wagnerkritiken und ihre Berechtigung zu behandeln; statt dessen sollen die eher als ,formal' zu bezeichnenden Übereinstimmungen und Unterschiede betrachtet werden. Das Objekt der Kritik wird also weitgehend neutralisiert. Anderenfalls fielen vermutlich sowohl die Korrekturvorschläge Adornos für die Aufführungspraxis Wagnerscher Werke als auch manche polemische ,Entgleisungen' Nietzsches einem Verdikt anheim. 4 Theodor W. Adorno, Gesammelle Schriften, hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1970 ff, Bd. 10/1 : Kulturkritik und Gesellschaft I: Prismen Ohne Leitbild, 11-30. 5 Herbert Schnädelbach, „Kultur und Kulturkritik", 161-164. 6 Vgl. Nietzscheforschung 2, Berlin 1995, 143-273. 7 Vgl. Herbert Schnädelbach, „Kultur und Kulturkritik". -

Wagnerkritik als Kulturkritik der Moderne

307

wie beide Autoren überhaupt zu der vorgeblichen Einsicht in das kommen konnten, was eigentlich den Hintergrund von Wagners Werk bildet oder was dieser selbst gewollt, aber aufgrund subjektiver oder objektiver Hindernisse nicht habe realisieren können, muß ebenfalls ausgeklammert werden, obwohl man nicht ohne Berechtigung wird einwenden können, daß erst dieser in gewisser Hinsicht jeweils ,idealisierte' Wagner den Hintergrund abgibt, vor dem die Kritiken möglich und zu verstehen sind. Und ebenso werden die im engeren Sinne musikalischen Aspekte der Kritiken bis auf eine Ausnahme nicht behandelt, was aber durch den gewählten Titel zumindest teilweise auch gerechtfertigt ist. Obwohl dagegen eingewandt werden könnte, daß beide Kritiken systematisch mit der Musikkritik verschränkt sind Adorno sogar explizit aus der detaillierten Analyse kleinster musikalischer Elemente erst Material und Rechtfertigung seiner Kritik bezieht bzw. zu beziehen vorgibt. Abgesehen davon, daß es unmöglich scheint, die Kritik an einem Kulturphänomen, wie es Wagner darstellt, behandeln zu wollen, ohne auf sein künstlerisches Werk einzugehen. Und selbst die außerhalb des eigentlich musikalischen Bereiches liegende, aber für Wagner natürlich zentrale Problematik des ,Mythos', die für die ,kulturstiftenden' Intentionen hinter den Werken sicherlich zentral ist und damit auf dem Weg einer Kritik ebenfalls zum Gegenstand dieser Untersuchung gehören sollte, selbst dieses Problem des Mythos kann hier nicht erörtert werden. Hier ist auf Herbert Schnädelbachs Aufsatz ,,,Ring' und Mythos"8 zu verweisen, der selbst wiederum Teil einer umfangreichen Diskussion zur Problematik des Verhältnisses von Mythos und Moderne bei Wagner ist. Die Wagner-Kritik Adornos entstand 1937 als ein Exkurs zu Horkheimers „Egoismus und Freiheitsbewegung: zur Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters" von 1936, kann somit als Teil der Kritischen Theorie insgesamt verstanden werden und ist als solcher wohl nicht unabhängig von derjenigen Nietzsches möchte man meinen. Aber selbst dies die Anknüpfung der Kritischen Theorie insgesamt an Nietzsche hat Volker Gerhardt in einer Diskussion mit Reinhard Maurer im Anschluß an dessen Untersuchung über „Nietzsche und die Kritische Theorie" vehement bestritten: Die

Frage,

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„Zwar wird [Nietzsche] oft erwähnt, aber man hat doch den Eindruck, daß Horkheimer und Adorno Nietzsche gar nicht ernsthaft an sich herankommen lassen. [...] In den Augen Adornos ist Nietzsche ein scharfsinniger und brillanter Kritiker, im übrigen aber ein fehlgeleiteter und durch die Geschichte belasteter Autor. Man denkt im intellektuellen Klima' Nietzsches, übernimmt aber nichts von seiner philosophischen Substanz. [...]

Welche für Nietzsches Denken wesentliche Erkenntnis fände sich der Schriften Adornos wieder?"9

an

entscheidender Stelle

Was die Relevanz der Nietzsche-Rezeption für Horkheimer und Adorno angeht, scheint Gerhardt auf den ersten Blick Recht zu haben; dagegen lassen sich auch die vielen direkten Nennungen Nietzsches und zumeist nur kommentierend eingesetzten Zitate aus seinen Schriften kaum ins Feld führen, denn sie sind auf den ersten Blick betrachtet inhaltlich oft in erstaunlicher Weise recht unergiebig, um nicht zu sagen: anscheinend argumentativ überflüssig. -

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8 Vgl. Herbert Schnädelbach, „Kultur und Kulturkritik", 412-430. 9 Aus der Diskussion im Anschluß an: Reinhard Maurer, „Nietzsche und die Kritische Studien 10, 11/1981/1982, 34-58, Diskussion 59-79, dort 67.

Theorie", in: Nietzsche-

308

Bernd Kulawik

Für das Wagner-Buch Adornos im Spezielleren lassen sie sich unter drei Aspekten zusammenfassen: a) Zitate und Nennungen, in denen Adorno sich distanzierend gegen eine Auffassung Nietzsches wendet, bspw.: „die seit Nietzsche reaktionär nachgebetete Phrase von der Wagnerschen Formlosigkeit [...]'"° oder „[...] wehren Wagner alle die ab, welche, auch heute, musikalisch nicht mitgekommen sind; zu ihnen zählt sein größter Kritiker, Nietzsche"" bzw. „selbst Nietzsche hat Wagner noch mit den Ohren des Biedermeier gehört, als er ihn formlos nannte."12 (Diese mehrfach bei Adorno anzutreffende Behauptung der musikhistorischen Rückständigkeit Nietzsches ließe sich vermutlich leicht widerlegen mit Zitaten wie: „Ich verstehe es vollkommen, wenn heut ein Musiker sagt: ,ich hasse Wagner, aber ich halte keine andere Musik mehr aus.'" [WA, KSA 6, 12]) b) Stellen, in denen der Verweis auf Nietzsche eher überflüssig erscheint bzw. kaum Erhellendes beiträgt, wie: „als Wagner im Konflikt mit Nietzsche von ,Triumph- und Schicksalsliedchen' sprach [in bezug auf Brahms B.K.]";13 und c) Stellen, in denen Nietzsche als mögliche Quelle gar nicht erst genannt und sogar substituiert' wird, wie im folgenden Zitat über „die Wagnersche ,Schauspielerei', das Anstößige seines Verfahrens, wie Paul Bekker [Hervh. von mir] sie mit Recht als den Kern des Wagnerschen Kunstwerks schlechthin aufgefaßt hat [...]."14 -

In bezug auf das Verhältnis der Wagnerkritik Adornos zu derjenigen Nietzsches ließe sich also anhand von oberflächlich zusammengesuchten Zitaten anscheinend eher eine weitgehende Unabhängigkeit oder eine Opposition konstatieren. Dagegen bedürfte es einer aufwendigeren Arbeit, als sie hier geleistet werden kann, den im Laufe der Vorbereitungen entstandenen Verdacht zu erhärten, daß Adornos Kritik gegen diesen ersten Eindruck in weit höherem Maße von Nietzsche abhängt, als er zuzugeben bereit zu sein scheint, ja, daß er sogar zumindest einige der Spuren, die zu Nietzsche zurückführen könnten, zu verwischen versucht. Über Adornos Motive kann dabei schon deshalb nicht spekuliert werden, weil dieser Verdacht ohne eingehendere Quellenstudien nur hypothetisch bleiben muß. Die Vermutung ließe sich wie folgt formulieren: Adornos Kritik orientiert sich stark an derjenigen Nietzsche; sie greift die meisten der von Nietzsche vorgegebenen Motive auf und ergänzt sie um einige neue; insgei. S. der Kritischen Theorie samt aber versucht Adorno, diese Motive mittels einer marxistisch orientierten Gesellschaftsauffassung mit einer Fundierung zu versehen, d. h. die .tatsächlichen' gesellschaftlichen Hintergründe der von Nietzsche kritisierten Oberflächen'Phänomene aufzudecken und am Fall Wagner als paradigmatische Chiffren der Verfallserscheinungen spätbürgerlicher Kultur und ihrer damit einhergehenden antiaufklärerischen und totalitären Tendenzen zu entziffern. Dieser Verfallscharakter äußert sich in einem Verrat an -

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10 Theodor W. Adorno, Versuch über Wagner, in: Gesammelte Schriften Bd. 13, 38. Der Versuch über Wagner ist auch als Taschenbuch stw 640: Theodor W. Adorno, Die musikalischen Monographien, leicht zugänglich; diese Ausgabe und der Band 13 der Gesammelten Schriften sind text- und seitenidentisch. 11 Theodor W. Adorno, „Wagners Aktualität", in: Musikalische Schriften I-HI, Gesammelte Schriften Bd. 16, dort 547. 12 Theodor W. Adorno, Versuch über Wagner, 52 f. 13 Ebd., 52. 14 Ebd., 32. Es scheint schwer vorstellbar, daß Adorno, der immer wieder eine genaueste Kenntnis der Nietzscheschen Texte und biographischer Ereignisse beweist, die kardinale Rolle des ,Schauspielerei'-Vorwurfs in Nietzsches Wagnerkritik und die Parallelen zur eigenen Argumentation übersehen haben sollte. Außerdem wäre zu klären, inwieweit Bekkers Vorwurf selbst von Nietzsche abhängt. -

Wagnerkritik als Kulturkritik der Moderne

309

den propagierten Idealen des progressiven Bürgertums, die Wagner zumindest „sein halbes Leben lang" (WA, KSA 6, 19) selbst vertrat ein Verrat, der durchaus im Sinne einer ,Dialektik' der Aufklärungs- und Freiheitsbestrebungen in paradox formuliert: bewußter, geradezu kalkuliert wirkender Aufgabe der Rationalität mittels Mythologisierung und Verzicht auf Autonomie mündet, letztlich damit in jene Barbarei umschlägt, die als deutscher Faschismus eben nicht zufällig gerade Wagners sich dezidiert bedienen konnte. Eine Voraussetzung dieser Verfahrensweise Adornos ist dabei die Unterstellung, daß er kraft historischen Abstandes und .besserer' bzw. ,tieferer' (gesellschafts-)theoretischer Fundierung zu diesem Weitertreiben' der Kritik Nietzsches befähigt ist, während dieser selbst dazu historisch und systematisch nicht in der Lage war. Sie ermöglicht Adorno denn auch den kaum verhüllten Anspruch, den eigentlichen' Wagner besser zu verstehen und Vorschläge zu Korrekturen zu machen, die diesen eigentlichen Wagner vor Mißverständnissen und Mißbrauch heute retten könnten. Diese Voraussetzung läßt sich in Zweifel ziehen: Aus einem Nietzsche näheren und ihn gegen Adorno verteidigenden Blickwinkel könnte man vermutlich Gründe dafür anführen, daß Adornos Voraussetzung weniger eine Fundierung als ,nur' eine Unterstellung ermöglicht was in der Struktur der Argumentation .architektonisch' gesehen vermutlich dasselbe wäre -, und daß Nietzsche durchaus nicht an einer vermeintlichen, durch seine scharfe Polemik überdeutlich hervortretenden und damit verhüllenden Oberfläche bleibt, sondern nicht zuletzt aufgrund der persönlichen Nähe sogar ein nicht nur in psychologischer Hinsicht adäquateres Verständnis des Phänomens Wagner bzw. eine bessere Einsicht in dessen Problematik zu liefern in der Lage wäre, da er nicht durch eine bestimmte Theorie auf ein Argumentationsund Beschreibungsmuster festgelegt bleibt. Allerdings glaube ich, daß auch diese Position zur Einseitigkeit tendieren dürfte und sich nicht vollständig halten ließe. Aber nicht in der Synthese aus der ,Nietzsche-These' und der ,Adorno-Antithese' scheint mir eine Lösungsmöglichkeit zu liegen, sondern in der Akzeptanz der beiden Formen von Wagnerkritik als sich ergänzende, aber nicht ohne Verluste zu vereinbarende, deren Aktualität bzw. deren Interessantes für heutige Leser nicht zuletzt in ihren jeweiligen Stärken und Schwächen liegt: je einer ,theorielastigen', rationalen und einer (vordergründig) polemischen, nichtsdestotrotz aber ebenfalls begründbaren (und durch ihren Autor Nietzsche auch versteckt begründeten) Kritik am Phänomen Wagner, die ich als wichtige und interessante Voraussetzungen für eine heutige Wagner-Rezeption ansehen möchte, welche nicht in oberflächlicher und damit gerade im Fall Wagner gefährlicher Affirmation und zugleich in vollständig verdrängender und damit ebenfalls gefährlicher Ablehnung der Kritiken steckenbleibt. M. E. hält die gegenwärtig vorherrschende Wagner-Rezeption durch die Reduktion der Nietzscheschen Kritik auf ihren biographischen Aspekt und die der Adornoschen auf ihren marxistischen' beide auf eine ungute Weise für obsolet oder für lediglich noch historischbiographisch interessant: Symptom dafür ist, daß beide Kritiken besonders aber diejenige Nietzsches heute eher als Informationsquellen über ihre Autoren denn als Beobachtungen zum Phänomen Wagner gelesen werden. Eine solche Rezeption der Kritiken überläßt in nicht ungefährlich erscheinender Weise diejenige des Phänomens Wagner der puren Affirmation. Die selbst in ihren im doppelten Sinne: theatralisch zur Schau gestellten Brechungen durch das bürgerliche Publikum goutierbare Aufführungspraxis samt,Bayreuth-Rummel' und das Vorherrschen von im positiven wie im negativen Sinne wertungsfreier, philologisch orientierter Wagner-Rezeption in der Forschung befestigen vielleicht nicht nur den Sockel eines Denkmals, sondern sichern wenn auch möglicherweise unabsichtlich den kritisch kaum noch reflektierten Weitertransport derjenigen Ideen und Gehalte im Werk, die im Fokus -

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310

Bernd Kulawik

der hier interessierenden Kritiken stehen, damit indirekt deren Aktualität in bezug auf eine Gesellschaft erweisend, die Wagners Erbe nahezu ungebrochen ,pflegt'. Um die erläuterte These zum Verhältnis der Adornoschen Kritik zu derjenigen Nietzsches zumindest am Beispiel zu erhärten, wäre es notwendig, beide als Kritiken an der (bürgerlichen) Kultur zu interpretieren eine Interpretation, die nicht nur auf ihre Rezeption als Kulturkritiken bauen darf, sondern zeigen müßte, daß sie im Selbstverständnis der Autoren begründet liegt. Vor allem aber müßte gezeigt werden, daß sie Gleiches, zumindest Ähnliches, nicht aber Konträres meinen. Zwar halte ich diesen Beweis für durchführbar, kann ihn hier aber nicht antreten, da er einen umfangreichen Exkurs in die jeweilige, aus überlieferten Äußerungen herauszuinterpretierenden Intentionen der Autoren voraussetzt. -

Es ist bekannt, daß Nietzsches teils intensive und kritische Beschäftigung mit Wagner weit vor seine erste Begegnung mit dem Komponisten in Leipzig schon in die Jugendjahre hier in Schulpforta zurückreicht; Spuren dafür lassen sich spätestens ab 1861 nachweisen. Diese Beschäftigung scheint sich aber ausschließlich auf die Musik Wagners zu konzentrieren, nicht also auf dessen Schriften und die darin formulierten ,gesellschaftstheoretischen Vorstellungen' Das anfangs recht kritische Verhältnis zur Musik Wagners weicht erst 1868 einer Begeisterung, die von ironischer Distanz aber nicht frei ist. Im November 1868 begegnen sich Wagner und Nietzsche erstmals, und es folgt die persönliche Einladung des schon nach Basel verpflichteten Nietzsche nach Tribschen. Erst jetzt nach einem Gespräch mit Wagner über Schopenhauer beim ersten Treffen in Leipzig beginnt die intensive Beschäftigung Nietzsches mit Wagners Schriften. In der folgenden Zeit wird Nietzsche in die .Propaganda-Arbeit' Wagners einbezogen, der er sich nicht entzieht. Mehrere Schriften dieser Zeit wie „Mahnruf an die Deutschen", Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik und Richard Wagner in Bayreuth fungieren wesentlich als ,Propagandaschriften', werden von den Zeitgenossen auch so verstanden. Letztere ist allerdings wohl nur vordergründig eine Propagandaschrift pro Wagner und stellt auf einer zweiten Ebene einen ,Spiegel' dar, den Nietzsche Wagner in Form von umfangreichen Übernahmen aus dessen früheren Schriften vorhält, sowie in einer dritten Schicht eine Art Idealentwurf des ,modernen Künstlers' durch Nietzsche zu verweisen ist hier auf Volker Caysas interessante Interpretation dieser Schrift.15 Damit ist schon angedeutet, daß diese vordergründigen ,Propagandaschriften' von Nietzsche nicht nur als solche gemeint gewesen seien. In ihnen wird im übrigen besonders im Hinblick auf die spätere Kritik erstaunlich genug Wagner kaum als Musiker oder Theoretiker gewürdigt, sondern zu einer Art Kulturheros stilisiert und seinem Bayreuther Projekt die Rolle einer notwendigen und einzig durch ihn (und den sich nicht nur als seinen ,Adlatus', sondern als gleichberechtigten, theoretischen' Mitarbeiter sehenden Nietzsche) ermöglichten Erneuerung der vor allem: deut.

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schen Kultur zugesprochen. Warum Nietzsche in diesen Frühschriften nicht bzw. kaum auf Wagner als Komponisten eingeht, ist eine Frage, deren Beantwortung vielleicht in einer schon unterschwelligen Kritik Nietzsches oder in einer Ablehnung dieser Musik liegen könnte. Demgegenüber steht eine ausgesprochene Differenzierung in der späteren Wagnerkritik Nietzsches, die musikalische, kompositorische, theatralische, kulturpolitische', propagan-

-

15

Vgl. Volker Caysa, .„Richard Wagner in Bayreuth' Nietzscheforschung 2, 167-191.

Oder: Der -

Künstler-Philosoph

als

Gesamtkunstwerk", in:

Wagnerkritik als Kulturkritik der Moderne

311

distische, persönliche und ideologische Aspekte behandelt sozusagen: ein Angriff an allen Fronten. Trotzdem bleiben als Hauptgründe für den Bruch Nietzsches mit Wagner (auch nach dem Zeugnis Peter Gasts) grundsätzliche Unvereinbarkeiten im Hinblick auf das in Nietzsches Sicht vor allem an der Person Wagners gescheiterte ,kulturrevolutionäre' Projekt. -

Im

folgenden

sollen

einige Kritikpunkte Nietzsches herausgegriffen,

ähnlich lautenden

Äußerungen Adornos gegenübergestellt und auf ihre möglichen kulturkritischen Aspekte hin befragt werden:

1.

Wagner als Vertreter der Moderne

Inwieweit sehen Nietzsche und Adorno Wagner überhaupt als einen Vertreter der Moderne, als symptomatischen Fall, dessen Behandlung Einblicke in diese gewährt? Erst die positive Beantwortung der Frage erlaubt die Ausweitung der Kritik zu einer der Kultur. Dabei sei eingeräumt, daß die hier vorgenommene Gleichsetzung des Verständnisses von ,Moderne' bei Adorno und Nietzsche aufgrund ihres historischen Abstandes und ihres in unterschiedlicher Weise reflektierenden Denkens problematisch ist, weshalb die Bedeutung von ,modern' hier in einem recht rudimentären Sinne auf ihren wohl kleinsten gemeinsamen Nenner als synonym mit zeitgenössisch', ,aktuell' und ,in die nächste Zukunft andauernd' reduziert bleiben soll. Darüberhinaus ist offensichtlich, daß sowohl bei Nietzsche wie auch bei Adorno mit der ,Moderne' ein historischer Abschnitt gemeint ist, der spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzt und sich durch Merkmale wie Industrialisierung und zunehmende Verbreitung einer Massenkultur auszeichnen läßt.

Nietzsche:

„Durch Wagner redet die Modernität ihre intimste Sprache: sie verbirgt weder ihr Gutes, noch ihr Böses, sie hat alle Scham vor sich verlernt. Und umgekehrt: man hat beinahe eine Abrechnung über den Wert des Modernen gemacht, wenn man über Gut und Böse bei Wagner mit sich im klaren ist." (WA, KSA 6, 12) „Wagner ist der moderne Künster par excellence, der Cagliostro der Modernität." (WA, KSA 6, 23) Adorno:

„Wagner war, trotz seiner romantisch-retrospektiven Seite, musikalisch der Prototyp von

Moderne, ähnlich wie Baudelaire, mit dem er befreundet war, literarisch es gewesen ist."16 Diese beiden Zitate mögen die Fortsetzung des als berechtigt erscheinen lassen.

16 Theodor W. Adorno, 220.

„Wagner und Bayreuth",

Vergleichs in der angestrebten Richtung wohl

in: Musikalische

Schriften V,

in: Gesammelte

Schriften Bd. 18,

Bernd Kulawik

312

Schauspielertum

2.

Als wesentliches Merkmal, in welchem Wagner als symptomatisch für die moderne Kultur angesehen werden darf, erscheint bei Nietzsche wie Adorno die Konstatierung von Wagners

,Schauspielerei':

Nietzsche:

„Ich habe erklärt, wohin Wagner gehört nicht in die Geschichte der Musik. Was bedeutet

trotzdem in deren Geschichte? Die Heraufkunft des Schauspielers in der Musik: ein capitales Ereigniss, das zu denken, das vielleicht auch zu fürchten giebt. [...] Man greift es mit Händen: der grosse Erfolg, der Massen-Erfolg ist nicht mehr auf der Seite der Echten, Victor Hugo und Richard Wagner sie man muss Schauspieler sein, um ihn zu haben! bedeuten Ein und Dasselbe: dass in Niedergangs-Culturen, dass überall, wo den Massen die Entscheidung in die Hände fällt, die Echtheit überflüssig, nachtheilig, zurücksetzend wird. Nur der Schauspieler weckt noch die grosse Begeisterung. Damit kommt für den Schauspieler das goldene Zeitalter herauf- für ihn und für alles, was seiner Art verwandt ist." (WA, KSA 6, 37 f.) „Man ist Schauspieler damit, dass man Eine Einsicht vor dem Rest der Menschen voraus hat: was als wahr wirken soll, darf nicht wahr sein. [...] Wagner's Musik ist niemals wahr. Aber man hält sie dafür: und so ist es in Ordnung. -" (WA, KSA 6, 31) -

er

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-

Adorno:

„Die Wagnersche ,Schauspielerei', das Anstößige seines Verfahrens, wie Paul Bekker sie Wagnerschen Kunstwerks schlechthin aufgefaßt hat, gründet

mit Recht als den Kern des in jener Regression."17

Mit

dieser,Regression'

meint

Adorno, daß Wagners Komponieren zurückfällt

„auf ein Vorsprachliches, ohne doch dabei des Sprachähnlichen ganz sich entäußern zu können", so „als hätte die Scheu vor der Mimik, die mit der Geschichte der abendländischen Rationalisierung stets stärker wurde und zur Kristallisation einer autonomen, sprachähnlichen Logik der Musik nicht wenig beitrug, über ihn nicht die volle Macht."18

Abgesehen davon, daß man die hier von Adorno unterstellte Tendenz in der abendländischen Musik bezweifeln kann, ja sogar das Gegenteil, eine fortschreitende Gestifizierung der Musik vom 16. bis ins 19. Jahrhundert im Unterschied zu einer zuvor überwiegenden Sprachähnlichkeit behauptet werden könnte, wäre zu fragen, worin sich die Wagnersche ,Schauspielerei' äußert, wenn diese in der innermusikalischen Beobachtung Adornos nur ,gründet'. Mit Blick auf die Kapitel „Sozialcharakter", „Mythos" und „Gott und Bettler"19 wäre zu unterstellen, 17 Theodor W. Adorno, Versuch über Wagner, 32. 18 Ebd. 19 Ebd., 11-25, 109-122 bzw. 123-133.

Wagnerkritik als Kulturkritik der Moderne

313

daß sich Adorno hier bemüht, in der musikalischen Verfahrensweise eine Manifestierung eben jenes ,Schauspieler-Charakters' der Person Wagner und ihrer ,Ideologie' zu erblicken. In der

Ästhetischen Theorie sagt Adorno dies so:

„Der Versuch über Wagner' bemühte sich am oeuvre eines bedeutenden Künstlers um die Vermittlung des Meta-Ästhetischen und Künstlerischen. Er orientierte sich, in manchen Stücken, noch allzu psychologisch am Künstler, doch mit der Intention auf eine materiale ,

Ästhetik, welche die autonomen, zumal die formalen Kategorien der Kunst gesellschaftlich und inhaltlich zum Sprechen bringt. Das Buch interessiert sich an den objektiven Vermittlungen, die den Wahrheitsgehalt des Werks konstituieren, nicht an Genese und nicht an Analogie. Seine Absicht war philosophisch-ästhetisch, nicht wissenssoziologisch. Was Nietzsches Geschmack an Wagner irritierte, das Aufgedonnerte, Pathetische, Affirmative und Überredende [man dürfte hier abkürzend wohl sagen: eben das Schauspielerische B.K.] bis in die Fermente der kompositorischen Technik hinein, ist eins mit der gesellschaftlichen Ideologie, welche die Texte verkünden."20 -

Vielleicht ist es nur eine Projektion, aber es scheint offenkundig, daß die Parallele zu Nietzsche sich hier durchaus ziehen läßt und daß die Vermeidung des Wortes ,Schauspielerei' bei Adorno vielleicht nicht zufällig ist, sondern ein ,Spurenverwischen'. Der kulturkritische Aspekt der Kritik an der Wagnerschen ,Schauspielerei' dürfte dabei bei beiden Autoren übereinstimmend in der von Wagner sowohl in den Werken als auch in seinen persönlichen Auftritten ebenso wie in seinen Schriften beabsichtigten Wirksamkeit gesehen werden, die alle schauspielerischen Mittel rechtfertigte. Natürlich ließe sich einwenden, daß diese in ihrer Mehrzahl schon immer legitime Mittel der Rhetorik und jeder an diese sich anlehnenden und ihre Mittel benutzenden Form öffentlicher Betätigung gewesen seien. Aber mit Wagner tritt eine von beiden Autoren als wesentlich neu aufgefaßte Form der Selbstdarstellung und des Selbstverhältaisses des bürgerlichen Künstlers auf, die symptomatisch für eine Entwicklung angesehen werden könnte, an deren Ende die Inszenierung des Image in der Kultur- und hier besonders der Filmindustrie ebenso steht wie Adorno dürfte dies zumindest in den dreißiger Jahren unterschrieben haben: Hitlers Auftritte.21 Kern des Arguments ist dabei weniger die moralische Entrüstung über die Lüge, die fehlende ,Authentizität', sondern die Einsicht in die Unabwendbarkeit dieser Entwicklung, die Wagner als einer der ersten erkannt und instrumentalisiert habe. Daß sich dies in der Musik niederschlägt, wird von Nietzsche wie Adorno ins Zentrum ihrer Kritiken gestellt: -

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20 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Bd. 7, 420 f., Anm. 2. 21 Eindringlichstes Zeugnis hierfür sind sicherlich die bekannten Fotoserien, in denen Hitler pathetische Positionen einstudiert und auf ihre Wirksamkeit hin zu testen scheint und die in frappierender Weise den Posen von WagnerSängern auf ihren Rollenfotos ähneln Posen freilich, die zum gängigen Repertoire gehörten. -

Bernd Kulawik

314

Wagners Musik als eine auf absichtliche Wirkung

3.

orientierte Musik

beabsichtigter Wirksamkeit' ist ein technischer Vorrang jener musikalischen Mittel in den Kompositionen Wagners gemeint, die vorrangig Wirkungen' auf das Publikum herbeiführen sollen, vor jenen, die eine an klassischen Vorbildern orientierte Struktarierung des musikalischen Kunstwerks ermöglichen und die im 19. Jahrhundert als wesentlich für seine Konstruktion angesehen wurden.

Mit

,

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-

Nietzsche:

„Will man mir glauben, so hat man den höchsten Begriff von Wagner nicht aus dem zu entnehmen, was heute von ihm gefallt. Das ist zur Überredung der Massen erfunden, davor springt Unsereins wie vor einem allzufrechen Affresco zurück." (WA, KSA 6, 28) „Wagner ist ein grosser Verderb für die Musik. Er hat in ihr das Mittel errathen, müde Nerven zu reizen, er hat die Musik damit krank gemacht." (WA, KSA 6, 23) „[...] er sagt Ein Ding so oft, bis man verzweifelt, bis man's glaubt." (WA, KSA 6, 14) -

-

Adorno:

„Unter den Funktionen des Leitmotivs findet sich denn neben den ästhetischen eine warenhafte, der Reklame ähnliche: die Musik ist, wie später in der Massenkultur allgemein,

auf Behaltenwerden angelegt, vorweg für Vergeßliche gedacht [...]."22 „Was die Psychologie hundert Jahre später Ichschwäche taufte, damit rechnet bereits die Wagnersche Verfahrungsweise. [...] Das Publikum der vielsründigen Monstrewerke wird, nicht ohne Hinblick auf die Ermüdung des Bürgers in seiner freien Zeit, als dekonzentriert vorgestellt, und während es sich mit dem Strom treiben läßt, hämmert sich ihm die Musik, als ihr eigener Impresario, durch Tosen und ungezählte Wiederholungen ein."23 Dies ist für Adorno aber nur ein Moment der berechneten Wagners Musik, deren Ursache eine tiefere ist:

Wirkung auf das

Publikum in

„Steht in seiner Zeit der Komponist der Hörerschaft bereits lyrisch entfremdet gegenüber, so tendiert Wagners Musik dahin, diese Entfremdung zu verkleistern, indem sie ins Werk als Element von dessen ,Wirkung' das Publikum einbegreift."24 Man wird sagen

können, daß Wagner also mit der von Nietzsche wie Adorno konstatierten

beabsichtigten, psychologisch berechnenden und berechneten Wirkung seiner Musik als vermutlich erster Komponist einer gesamtgesellschaftlichen, also wohl durchaus als ,kulturell' zu bezeichnenden Entwicklung Rechnung trägt, die zum Verschwinden einer nicht nur musikalischen Bildung im Publikum einer m. E. idealisierten, aktiv teilnehmenden, nachvoll-

22 Theodor W. 23 Ebd., 29. 24 Ebd., 28.

Adorno, Versuch über Wagner, 28 f.

Wagnerkritik als Kulturkritik der Moderne

315

ziehenden Einstellung zur Musik bzw. zum Kunstwerk seitens eines ,Bildungsbürgertums' und deren Ersatz durch eine passive Rezeption führte und an deren Ende als die tatsächlichen ,Gesamtkunstwerke' der Film und die Masseninszenierungen totalitärer Systeme stehen. Die Konsequenzen des hier am Fall Wagner Kritisierten reichen zumindest in der Perspektive Adornos weiter: Das Publikum, das sich von Wagners Musik zur Passivität, zum willfährigen, kritiklosen Befolgen des ihm Gebotenen überreden läßt, ist tendenziell dasselbe, das seiner Kommandierung durch politische ,Darsteller' nichts mehr entgegenstellt. Aber auch diese Beobachtung wird man bei Nietzsche zumindest schon angelegt finden. Bemerkenswert erscheint jedenfalls, daß entgegen der oben erwähnten möglichen Rechtfertigung des Wagnerschen Schauspielertums aus den Anweisungen der Rhetorik für einen Wirksamkeit anstrebenden Rhetor in beiden Kritiken das psychologische Element der Wagnerschen ,Überredungskunst' hervorgehoben wird: Gerade im Zeitalter der nicht zuletzt durch die Wissenschaft sich fortgeschritten dünkenden Aufklärung erkennt Wagner nicht in der Überredung mittels Argumenten respektive intellektuell ,überzeugend' nachvollziehbarer Konstruktion musikalischer Werke, sondern in der psychologisch fundierten ,Überwältigung' des sich ausliefernden Hörers das Mittel, eine inhaltlich fast schon beliebige Wirkung zu erreichen. Daß dazu der bereitwillige Rezipient vonnöten ist, erscheint in diesem Zusammenhang nur als Unterstützung des Verdachtes, hier ein herausragendes Beispiel der Dialektik der Aufklärung vorliegen zu haben.

-

-

-

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4.

-

Wagner als Meister der Kleinteiligkeit bei gleichzeitiger Formlosigkeit im Großen

Diese beiden dezidiert musikalischen Aspekte können, da in beiden Kritiken als wechselseitig miteinander verschränkt gekennzeichnet, hier nur kurz nacheinander vorgestellt werden; ihre Bedeutung wird dagegen erst in einer zusammenfassenden Interpretation deutlich:

4.1.

Kleinteiligkeit

Nietzsche:

„Bei Wagner steht im Anfang die Hallucination: nicht von Tönen, sondern von Gebärden. Zu ihnen sucht er erst die Ton-Semiotik. Will man ihn bewundern, so sehe man ihn hier an der Arbeit: wie er hier trennt, wie er kleine Einheiten gewinnt, wie er diese belebt, heraustreibt, sichtbar macht. Aber daran erschöpft sich seine Kraft: der Rest taugt Nichts. Wie armselig, wie verlegen, wie laienhaft ist seine Art zu entwickeln', sein Versuch, Das, was nicht auseinander gewachsen ist, wenigstens durcheinander zu stecken!" (WA, KSA 6, 27 f.) Adorno:

„Die Wagnersche Geste wird zum ,Motiv' im Augenblick, in dem sie sequenzierbar wird. [...] Wagners Sequenz steht zur symphonischen Beethovens in äußerstem Kontrast. Sie

316

Bernd Kulawik

schließt prinzipiell die .durchbrochene' Arbeit des Wiener Klassizismus aus. Gesten können wiederholt und verstärkt, nicht aber eigentlich entwickelt' werden."25 Nietzsche:

„Nochmals gesagt: bewunderungswürdig, liebenswürdig ist Wagner nur in der Erfindung des Kleinsten, in der Ausdichtung des Détails, man hat alles Recht auf seiner Seite, ihn hier als einen Meister ersten Ranges zu proklamiren, als unseren grössten Miniaturisten der Musik, der in den kleinsten Raum eine Unendlichkeit von Sinn und Süsse drängt." (WA, KSA 6, 28) „Aber vom Magnétiseur und Affresco-Maler Wagner abgesehn giebt es noch einen Wagner, der kleine Kostbarkeiten bei Seite legt: unsern grössten Melancholiker der Musik, voll von Blicken, Zärtlichkeiten und Trostworten, die ihm Keiner vorweggenommen hat [...] lauter kurze Sachen von fünf bis fünfzehn Takten [...]." (WA, KSA 6, 29) -

4.2. Der Vorwurf der Formlosigkeit Adorno wirft Wagner nicht mit Nietzsche Formlosigkeit vor, sondern nimmt ihn gegen Nietzsches ,banausischen Vorwurf sogar in Schutz. Insofern scheint es verfehlt, diesen Punkt hier heranzuziehen. Tatsächlich aber gelingt es Adorno m. E. nicht, die Nietzschesche Kritik zu widerlegen: Er zitiert zwar Alfred Lorenz' Versuch, bei Wagner große musikalische Formen nachzuweisen, distanziert sich von dessen Tabellen und Graphiken aber, da sie letztlich nicht in der Lage seien, den Vorwurf zu entkräften. Adorno: Lorenz entdeckten Großformen der Wagnerschen Musik sind nur von außen und bleiben am Ende namenlose Schemata [...]. Nicht zufällig lassen die Lorenzschen Analysen auf Tabellen sich eintragen, prinzipiell der Zeit so fremd wie die Wagnersche Formorganisation selber. Wagners Formen [...] versagen vor der Zeit."26

„Die

von

aufgestülpt

Es muß verwundern, gerade Adorno trotz des hier konstatierten mangelnden Zeitcharakters der Wagnerschen Musik von ,Formen' reden zu hören, reklamiert er doch an anderer Stelle für die Musik als Ze//kunst par excellence musikalische Entwicklung, die sich wesentlich in der Reihung nicht austauschbarer Formteile manifestiert, als deren Grundwesenszug. Adornos Vorschlag, eine ,materiale Formenlehre' für die Werke Wagners zu erarbeiten, läuft aber auf die Behauptung hinaus, daß diese sich eine je eigene, spezifische Form erschüfen. Im Falle der später von Adorno für die Analyse der Mahlerschen Sinfonien zumindest in Umrissen ausgeführten ,materialen Formenlehre' fällt dagegen auf, daß diese Werke gerade auf den Kanon vorhandener Formen zurückgreifen und aus seiner Verfremdung' erst ein wesentliches Element ihres Sinngehalts ziehen. ,

25 Theodor W. Adorno, Versuch über 26 Ebd., 39 f.

Wagner, 34.

Wagnerkritik als Kulturkritik der Moderne

317

Von seiten Nietzsches ließe sich gegen eine Beschreibung der Werke Wagners als je eigene, spezifische Formen einwenden, daß dies den Vorwurf der Formlosigkeit gerade dann nicht entkräftet, wenn man einen im 19. Jahrhundert musiktheoretischen Formbetrachtungen zugrundeliegenden, wenn auch fast schon ,versteinert' zu nennenden Kanon von Formkategorien und Formbildungstechniken voraussetzt: Mit diesem Maßstab betrachtet, ist Wagners Musik ,formlos', denn vollständig individuelle' Formen sind in dieser Sicht qua Individualität keine Elemente einer Musik als Formensprache: nur individualisierte Formen, d. h. Gebrauch und begrenzte Abwandlung wiedererkennbarer Schemata, lassen sich als Formen im emphatischen Sinne und damit als Kunstwerke innerhalb einer verbindlichen ,formellen' Sprache wahrnehmen. Wagners jeweils singuläre ,Formen' mußten dagegen dem zeitgenössischen musikalischen Analytiker erscheinen wie der Versuch einer Privatsprache dem heutigen

philosophischen.

Daß sich hierin bei Wagner aber nur vorzeitig' eine Entwicklung abzeichnet, die Adorno dann auch an späterer Musik (neben der Strawinskys selbst beim verehrten Schönberg) beobachten muß, nämlich das Verlorengehen des in der Wiener Klassik ausgeprägten Entwicklungscharakters, wäre als Symptom für das Verschwinden der Möglichkeit zur Gestaltung von Zeitstrukturen in großformatigen Kunstwerken zu sehen, das seine Parallele im Verschwinden der Möglichkeit zur ungebrochenen ,großen Erzählung' und dem Aufkommen des notwendig fragmentarischen Charakters nicht nur von Kunstwerken, sondern ebenso im philosophischen Denken im 20. Jahrhundert hätte. Hier wäre nicht nur der Bogen zu spannen zur Ästhetischen Theorie Adornos, sondern hier zeigt sich m. E. in der jeweiligen Diagnose der beiden zur Diskussion stehenden Kritiken, daß diese in der Analyse selbst wesentlich musikalischer Aspekte ihres Gegenstandes diese nicht nur musik- bzw. kunsthistorisch zum Sprechen bringen, sondern sie als Chiffren kultureller Entwicklung zu deuten vermögen in einer Weise, die ihnen über den unbestreitbaren Rang biographischer und geistesgeschichtlicher Zeugnisse ihrer Autoren hinaus Beachtung seitens heutiger Rezipienten sichern sollte. ,

III. 5. Dortmunder Nietzsche-Kolloquium

(9.-11.7.1997)

„denn ich liebe es schreibend zu denken". Der junge Nietzsche (1844-1864)

Hermann Josef Schmidt

Eröffnung

Mindestens sieben Gesichtspunkte machen ein internationales Kolloquium über die Kindheit und Schülerzeit des jungen Nietzsche wohl besonders attraktiv. Zum einen gehört Nietzsche auch außerhalb der Literatur- und Philosophieszene noch immer zu den meistgenannten, meistzitierten, meistgelesenen und umstrittensten Dichtern, Literaten und Philosophen der vergangenen Jahrhunderte. Zum anderen gibt es wohl wenige Philosophen und Schriftsteller, die so nachdrücklich auf den engen und doch so vertrackten Zusammenhang ihres Denkens, Schreibens und Lebens verweisen. Zum dritten dürfte es kaum einen philosophisch relevanten Autor geben, der unmißverständlicher als Friedrich Nietzsche bereits als Kind und noch in seinen letzten Schriften auf die Bedeutung seiner eigenen frühen Erfahrungen für sein gesamtes Leben, Schreiben und Denken verwies. Zum vierten gibt es wohl kaum einen wichtigen Philosophen und Schriftsteller der vergangenen Jahrhunderte, der auch in unserer Gegenwart noch so heterogen interpretiert und für so unterschiedliche Auffassungen, Sichtweisen, Theoreme oder auch nur Phrasen als deren Erfinder oder Popularisator verantwortlich gemacht wird. Zum fünften betont Friedrich Nietzsche gerade in seinen späten Texten in überraschender Offenheit, daß er Träger vieler Masken, und daß seine Philosophie eine Philosophie der Gänsefüßchen das meint nicht nur im Sinne einer Fehlleistung eine Philosophie der unterdrückten Zitate -, ja daß er „obscurissimus obscurorum virorum", Verstecktester aller Versteckten ist, und daß seine Gedanken verborgene, abscondita seien, Gedanken, vor denen er sich fürchtet... Zum sechsten schließlich, und das könnte weichendstellend nicht nur für Nietzscheinterpretation und Nietzscheforschung sein, gibt es möglicherweise von keinem Philosophen und Schriftsteller der zurückliegenden Jahrhunderte einen auch nur annähernd so umfangreichen und differenzierten frühen handschriftlichen Nachlaß wie von Friedrich Nietzsche. Ein Nachlaß, der siebtens ergänzt wird durch einen eher noch reichhaltigeren Nachlaß aus Nietzsches nächster Verwandtschaft, längst nicht erst beginnend mit mehr als tausend Briefen von Nietzsches Großmutter Erdmuthe Nietzsche zumal an ihren Liebling Ludwig, Nietzsches Vater, und nicht endend mit etwa 15.000 Briefen der späteren Herrin des Nietzsche-Archivs, Nietzsches Schwester Elisabeth. Wo, wenn nicht in Nietzscheforschung und Nietzscheinterpretation könnte aufgrund dieser wohl einmaligen Konstellation im Detail aufgearbeitet werden, wie sich das Verhältnis von Leben, Schreiben und Denken eines Philosophen entwickelt? Könnte so jenseits von Schreckreaktionen oder Abwehrgesten wie „Biographischer Reduktionismus", „Psychologismus" usw. -

kenntnisreich und seriös überprüft werden, ob und ggf. inwiefern Texte, zentrale Theoreme oder die denkerische Entwicklung des späten Nietzsche nietzscheadäquater interpretiert, d. h. subtiler und tiefenschärfer verstanden werden können als ohne detaillierte Kenntnis der Sprach-, Denk- und Lebensentwicklung Nietzsches? Und müßte dann nicht allmählich eine profunde Diskussion auch darüber einsetzen, ob und ggf. inwiefern Interpretationen philosophisch relevanter Texte durch Kenntnisse der Sprach-, Motiv- und Denkentwicklung des betreffenden Autors an Sachbezug und Tiefenschärfe gewinnen bzw. an projektivem Charakter und interpretativer Willkür verlieren? Derlei anzusprechen, verletzt möglicherweise noch mancherlei Tabu. Andererseits beziehen seit 1991 zumindest die Dortmunder Nietzsche-Kolloquien (DNK) ihre Legitimität primär aus dem Ansatz, Themen bei Nietzsche zu diskutieren, die nicht lediglich für die Nietzscheforschung oder Nietzscheinterpretation, sondern auch weit darüber hinaus von Bedeutung, ja exemplarisch sind. Und so freue ich mich nicht nur, sondern ich bin dafür auch dankbar, eine Veranstaltung zu eröffnen, die als nunmehr dritte einer Reihe dem jungen Nietzsche gewidmeter Veranstaltungen wohl erstmals in der Geschichte der Philosophie (und universitärer Angebote ohnedies) Leben, Denken, Fühlen, Träumen sowie Schreiben eines Philosophen im Ausgang von und in Auseinandersetzung mit Texten aus dessen Kindheit und Jugend zum Gegenstand von Vorträgen, Diskussionen sowie einer Lesung von Nietzsche- und Ortlepptexten durch den Berliner Schauspieler Matais Schrader wählt. Ich freue mich darüber, daß es gelang, diejenigen, die sich z. T. seit vielen Jahren am intensivsten mit den Texten des frühen Nietzsche auseinandergesetzt haben, als Referenten und Diskussionspartner zu gewinnen. Und nicht mudas: auch diejenigen beiden Kollegen, welche die zentralen einführenden monographischen Nietzschegesamtdarstellungen1 vorgelegt haben, beteiligen sich. Es bedarf ebenfalls kaum der Erwähnung, daß es zum Selbstverständnis derer, die in den vergangenen Jahren primär zum jungen Nietzsche publiziert haben, gehört, auch zum späteren Nietzsche längst und z. T. umfassend monographisch veröffentlicht2 zu haben. Es geht also nicht um Reservierung eines weiteren Sandkasteneckchens für Spezialisten, sondern darum, Nietzscheforschung und -inter-

pretation insgesamt voranzubringen.

Dieses erstmals in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Kulturforschung (CfK) der dänischen Universität Aarhus, vertreten durch Jörgen Kjaer, organisierte, ebenfalls erstmals von der Deutschen Forschungs-Gemeinschaft (DFG) unterstützte und wiederum im engem Konnex mit der „Förder- und Forschungsgemeinschaft Friedrich Nietzsche" (FFGFN), vertreten durch Rüdiger Ziemann, durchgeführte V. DNK fünf der zehn Mitglieder des wissenschaftlichen Beirates sind diesmal als Referenten beteiligt bildet seinerseits bereits eine Art erster Synthese, denn ihm ging vom 20.-22. Juli 1993 ein DNK ausschließlich über Nietzsches Kindheit und vom 15.-20. September 1993 die von der „Förder- und Forschungsgemeinschaft Friedrich Nietzsche" organisierte II. Nietzsche-Werkstatt für junge Wissenschaftler an Nietzsches ehemaliger Schule voraus Nietzsche in Pforta (1858-1864) -, die Nietzsches -

-

-

1

Wiebrecht Ries, Nietzsche, Hannover 1982, 5. Aufl., Hamburg 1995; Volker Gerhardt, Friedrich Nietzsche, München 1992. 2 Johann Figl, Interpretation als philosophisches Prinzip. Friedrich Nietzsches universale Theorie der Auslegung im späten Nachlaß, Berlin/New York 1982, und: Dialektik der Gewalt. Nietzsches hermeneutische Religionsphilosphie mit Berücksichtigung unveröffentlicheter Manuskripte. Düsseldorf 1984; Hermann Josef Schmidt, Nietzsche und Sokrates. Philosophische Untersuchungen zu Nietzsches Sokratesbild, Meisenheim 1969.

V. Dortmunder Nietzsche-Kolloquium

323

sechs restlichen Schülerjahren galt. Einige der damaligen Teilnehmer referieren auch jetzt. Übrigens sind nahezu alle Referate dieser beiden Tagungen im Eröffhungsband der Nietzscheforschung3 nachlesbar; und sie wirken seitdem. Die Reihenfolge der Beiträge entspricht der Reihenfolge der Referate. Die Referate von Volker Gerhardt und Jörgen Kjaer erscheinen anderenorts oder zu einem späteren Zeitpunkt. Da sich in den

Vorträgen und Diskussionen zeigte, daß das Verhältais des frühen Nietzsche Christentum und Antike selbst von den besten Sachkennern ausgesprochen kontrovers beurteilt wird, erweist es sich (bevor wir uns 2001 mit „Dionysos gegen den Gekreuzigten"? Nietzsches Denkmotiv(e) wieder dem späteren Nietzsche zuwenden) als unabdingbar, zumindest in diesen zentralen Fragen mehr Klarheit zu erzielen. Dem wird nicht zuletzt das VI. DNK vom 7.-9. Juli 1999 dienen: „Als Kind Gott im Glänze gesehn"? Der frühe Nietzsche (1844-1864) in seinem Verhältnis zu Antike und Christentum, dessen wichtigste Referate dann 2000 in diesem Jahrbuch vorgelegt werden. zu

3

III. DNK in: Nietzscheforschung I, Berlin, 1994, 135-287, und Nietzscheforschung II, Berlin II. Nietzsche-Werkstatt-Schulpforta, in: Nietzscheforschung I, 289-393.

1995, 303-15;

Hermann Josef Schmidt

„stets mein Vorhaben, ein kleines Buch zu

schreiben"

Nietzsches Leben und Texte

1844-1864, ein Überblick1

zu schreiben", war „stets" ein Vorhaben2 des dreizehnjährigen Naumburger Domgymnasiasten, der im Sommer 1858 bereits auf drei recht unterschiedliche Perioden seiner lyrischen Produktion blickt und sich nun an einer umfangreichen Autobiographie („Aus meinem Leben") versucht. Und vier Jahre später, zwei Jahre vor seinem Abitur, läßt Nietzsche in einem berühmt-berüchtigten Novellenfragment Euphorion formulieren:

Zumindest „ein kleines Buch

„denn ich liebe es schreibend zu denken, da die Maschine noch nicht erfunden ist unsre Gedanken auf irgend einem Stoffe, unausgesprochen, ungeschrieben, abzuprägen."3 Könnten wir auch diese Passage auf Nietzsche selbst beziehen, so ginge es ihm nun also längst nicht mehr primär darum, ein eigenes Buch zu schreiben, um in ihm selbst zu lesen, sondern um's Denken, bei dessen Fixierung er sich jedoch (lediglich in Folge allzu geringen technischen Fortschritts) bedauerlicherweise noch des Vehikels einer Schrift sowie einer Lautsprache bedienen muß. Eine wohl nicht unerhebliche Differenz zur Sicht des früheren und zumal des späteren Nietzsche. Doch wie auch immer: bereits der Siebzehnjährige und erst recht der Abiturient kann auf ein erstaunlich reichhaltiges, umfangreiches, gedankengespicktes Œuvre blicken; ein Œuvre übrigens, das trotz nachdrücklichster Hinweise Nietzsches auf die

Relevanz seiner eigenen und zumal frühen Erfahrungen für die Entwicklung seines Denkens (vgl. bspw. HKGW II, 119 f.) erst seit wenigen Jahren ins Blickfeld der Nietzscheforschung und -interpretation gerückt zu werden vermochte.

1

Eröffnungsreferat des V. Dortmunder Nietzsche-Kolloquium (DNK) „denn ich liebe es schreibend zu denken"

Der junge Nietzsche (1844-1864) -am 9. Juli 1997 in der Universität Dortmund.-Zitiert wird nach den derzeit besten Editionen: Nietzschetexte nach der Kritischen Gesamtausgabe Werke (1967 ff.) bzw. Briefwechsel (1975 ff.) nach Abteilung, Band und Seite; bei Texten, die in der KG noch nicht erschienen sind, nach der HistorischKritischen Gesamtausgabe Werke bzw. Briefe (1933 ff.) nach Band und Seite oder nach dem im Goethe-SchillerArchiv (GSA) der „Stiftung Weimarer Klassik" deponierten Original. Im Wiederholungsfall werden Titel gekürzt zitiert. Abbildungen der für den frühen Nietzsche zentralen Orte in: Roland Dreßler, Hermann Josef Schmidt und Rainer Wagner, Spurensuche. Die Lebensstationen Friedrich Nietzsches 1844-1869, Erfurt 1994. 2 Friedrich Nietzsche, Aus meinem Leben, HKGW I, 11; jeder hier erwähnte Nietzschetext und nahezu jedes angesprochene Problem ist z. T. ausführlichst diskutiert in meiner Monographie Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche. (I.) Kindheit, 2. Aufl., Berlin-Aschaffenburg 1991 (Abk.: Nak); II. Jugend. 1. Teilband 1858-1861. 2. Teilband 1862-1864, Berlin/Aschaffenburg 1993 bzw. 1994 (Abk.: NaJIbzw. II). 3 Friedrich Nietzsche, Euphorion, HKGW II, 71. -

Hermann Josef Schmidt

326

Bevor wir uns während unseres V. Dortmunder Nietzsche-Kolloquiums nun nicht nur in vielen Details und manchen großen Linien Texten sowie Fragestellungen des jungen Nietzsche, sondern auch Interpretationsproblemen kontrovers zuwenden, biete ich Ihnen in dreifacher Perspektive einige eher allgemeine Informationen. Teil I enthält eine pointierte Lebenskizze der Kinder- und restlichen Schülerjahre Nietzsches. Teil II skizziert Umfang, Art, Schwerpunkte, Themen und Probleme der Texte des Naumburger Kindes und Portenser Schülers. Zum Abschluß erwähne ich einige Themen und Stichworte des jungen Nietzsche, die im Blick auf den späteren Philosophen konsequenzenreich waren.

I. Leben 1. Station: Röcken 15.10.1844-30.4.1850 lebensgeschichtlichem Hintergrund4 nur wenige Stichworte: als an des Königs Geburtstag, Sonntagskind, erstes Kind, erster Sohn und künftiger Pastor preußischen des beiderseits aus Pastorenhäusern stammenden Pastorenehepaars Ludwig und Franziska Nietzsche, geborene Oehler, am 15. Oktober 1844 im Pfarrhaus des Dörfchens Röcken bei Lützen geboren, verweigerte „Fritz" nach wenigen Tagen die Brust seiner darüber verunsicherten, erst 18jährigen Mutter, mußte, um sein Leben zu retten er vertrug Kuhmilch nicht von einer aus Naumburg angeworbenen Amme gestillt werden. Großmutter Erdmuthe Zu Nietzsches

-

übernahm in den ersten Jahren einen erheblichen Teil seiner Erziehung. So hatte Fritz in gewissem Sinne drei Mütter: seine leibliche Mutter, die ihn acht Monate lang stillende Amme Hanne und Großmutter Erdmuthe. Bereits im Spätherbst 1846 wurde damit begonnen, die christliche Erziehung' des nun Zweijährigen nicht nur durch forcierte musikalische Stimulation, geistige Förderung und religiöse Beeinflussung, sondern auch durch ausdrückliche Brechung seines offenbar nicht geringen Eigenwillens mit der Ruthe voranzutreiben: „die Erweckten übernahmen in der Erziehung die Maxime der Pietisten: der Eigenwille eines Kindes muß gebrochen werden, damit das Kind später offen sein kann für Gottes Willen."5 „Du gehst zu Frauen? Vergiß die Peitsche nicht."6 Wenige Monate zuvor, am 10. Juli, war Schwesterchen Elisabeth geboren worden, auf die sich ihre Mutter nicht nur deshalb konzentrierte, weil sie besonderer Zuwendung bedürftig war und trotz neuerlicher Brustentzündung gestillt werden wollte, sondern vor allem, weil Franziska wenigstens ihr zweites Kind mehr bei sich behalten und mit ihm ihr -

4 In „Friedrich Nietzsche aus Röcken", meinem Röckener Vortrag am 15.10.1994, in: Nietzscheforschung 2, Berlin 1995, 35-60, suchte ich im Ausgang von Aufzeichnungen der nächsten Verwandten die „Verhältnisse", in denen Friedrich Nietzsche während seiner 5 1/2 Röckener Lebensjahre „erzogen" (HKGW II, 119) wurde sowie einige frühe Röckener Erfahrungen Nietzsches zu rekonstruieren; in Nietzsche absconditus (1991-94) hingegen rekonstruierte ich primär Nietzsches frühe Aufarbeitungsversuche seiner Erfahrungen vor allem aus Nietzsches eigenen frühen Texten. Dort die genauen sowie weitere Belege. Zum Hintergrund bleibt unverzichtbar insbes. Reiner Bohleys epochale Skizze: „Nietzsches christliche Erziehung", in: Nietzsche-Studien 16/1987, 174-96. 5 Reiner Bohley, „Nietzsches christliche Erziehung", 170. 6 Genauer dazu mein Vortrag: ,„Du gehst zu Frauen?' Zarathustras Peitsche ein Schlüssel zu Nietzsche oder einhundert Jahre lang Lärm um nichts?", in: Nietzscheforschung 1, Berlin 1994, 111-34. -

„stets mein Vorhaben, ein kleines Buch zu schreiben"

ill

geliebtes Puppenspielen wieder aufnehmen wollte. Ihr widerständiger zweijähriger Erstgeborener hingegen muß auch noch im Juli 1847 „oft tüchtig die Ruthe fühlen". So war Fritz früh Objekt vereinter Erziehungskunst und blieb es noch lange; er lernte Selbstbeherrschung und Schweigen. „Herzenslieschen" hingegen er- und behielt viele Frei-

heiten. Wenn es nicht gar so paradox klänge, könnte man sagen: bereits seit den ersten Anzeichen der Schwangerschaft seiner achtzehnjährigen Frau begann sich Nietzsches Vater um sein erstes Kind zu kümmern, das ihn zuhause als beeindruckenden pianistischen Improvisator und als stimmungslabiles, schonungsbedürftiges Opfer heftigster Kopfschmerzen sowie zunehmender Absenzen, in der nahen Kirche jedoch als erhebenden Prediger und zumindest als Stellvertreter Gottes erlebte. Bereits am 27. Februar 1848 wurde als drittes Kind das Brüderchen Ludwig Joseph, erklärter Liebling seiner Mutter, geboren; das erste Kind, das schmerzfrei gestillt werden konnte. Doch dann überschlugen sich die Ereignisse: als Ludwig Nietzsche erfuhr, der preußische König habe sich demütigend sogar die Farben der Berliner Revolutionäre getragen, verschlechterte sich die Gesundheit des ehemaligen Altenburger Prinzessinnenerziehers rasant. Herbst 1848 schließlich eskalierte der gesundheitliche Verfall Ludwig Nietzsches zur lebenbedrohlichen Krankheit, die nach Monaten unsäglicher Schmerzen trotz täglichen Betens, Konsultation zahlreicher Ärzte, Anwendung aller nur denkbaren Mittel einschließlich der Verschuldung der Familie, zur Blindheit, einer totalen psychophysischen Depotenzierung und am 30. Juli 1849 zum Tod Ludwig Nietzsches durch eine noch heute rätselhafte Gehirnerkrankung führte. Aufzeichnungen Franziska Nietzsches belegen, daß schon der Vierjährige darüber nachdachte, warum der liebe Gott nicht half, obwohl auch Fritz „täglich" zu ihm gebetet7 hatte: ER, nach dem Glauben oder zumindest Sprechen der wichtigsten Verwandten der Allmächtige, der für jede Reise, jedes Wetter und jede Ernte zuständig war,8 ER, der auch nach Meinung des Hausarztes allein noch helfen konnte, ER, der wenn Fritz das, was er so oft hörte, wörtlich nahm Nietzsches Vater hätte retten können, wenn ER nur gewollt hätte, ER offenbar war für die ungeheuren Schmerzen und den Tod seines gepeinigten Vaters sowie des am 4. Januar 1850 nach wiederholten Krampfanfällen verstorbenen Brüderchens verantwortlich. So drängen sich konsequenzenreiche Fragen auf: Ist auszuschließen, daß für das Kind Nietzsche schon seine Röckener Welt brüchig geworden ist? Könnte dieses Kind bereits in Röcken nicht nur elementarste Theodizeeprobleme erfahren und an ihnen zeitweilig fast erstickt sein? Könnte es einen ersten eiskalten Hauch des Nihilismus verspürt9 haben? Ab wann war Gott für Nietzsche zumindest moralisch ,gestorben'? Weist das Entsetzen des tollen Menschen über den Tod Gottes und uns als seine Mörder bis nach Naumburg, ja Röcken zurück? Den offenbar unkommentierten Sprachwechsel der Erwachsenen von täglich erflehter „Rettung durch Gott" zu „Tag der Erlösung" vollzog dieses im Alter des Sprachrealismus befindliche Kind nicht problemlos mit, konnte ihn vielleicht nicht mitvollziehen. Eine gewiß tragische Konstellation. Ist das Dichten und Denken Friedrich Nietzsches geprägt von dieser basalen, vielfach verdrängten Erfahrung eines Zerbrechens von Welt, Sinn und -

-

-

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7 Vgl. Hermann Josef Schmidt, „Friedrich Nietzsche aus Röcken", 56 ff 8 Das ist aus zahlreichen frühen Röckener Briefen und Aufzeichnungen von Großmutter Erdmuthe, Tante Rosalie und Mutter Franziska Nietzsche belegbar. 9 Zum Teil alternativ hierzu insbes. Johann Figl in seinem Röckener Vortrag am 15. Oktober 1994 „Geburtstagsfeier und Totenkult. Zur Religiosität des Kindes Nietzsche", nun in: Nietzscheforschung 2, Berlin, 1995, 21-34.

Hermann Josef Schmidt

328

Wert, von Verzweiflung über scheinbar so barmherzige Lügen und eine Verschwörung des Schweigens über nahezu alles Relevante sowie über die Häßlichkeit von Wahrheit „der liebe Gott" ein lieber Gott? -, geprägt von frühen und vielfach wiederholten Erfahrungen mangelnder produktiver Intersubjektivität, von einem vielleicht niemals mehr völlig aufhebbaren Verdacht, einer vielfach wiederholten Auseinandersetzung mit den hierdurch induzierten Problemen? Und von immer neuen Versuchen, unterzutauchen, beiseite zu treten, auf fast jede nur denkbare Weise dennoch Land zu gewinnen: „Ein Ziel doch mußt du haben" (HKGW I, 409)? Erstaunlich viele Texte Nietzsches sprechen nämlich auch hiervon; auch hiervon, nicht -

hiervon. Soweit zum Röckener Schattenerbe. In Röcken gewann das Kind Nietzsche jedoch auch seinen so intensiven Naturbezug. Außerdem war Röcken für Nietzsche lange synonym mit „Heimat": das Vaterhaus (und nicht etwa das Vatergrab) blieb Nietzsches primärer, bergender Bezugsort. Für Franziska Nietzsche hingegen nahm das Grab ihres Mannes und zweiten Sohnes den wohl zentralen Platz in ihrem Leben ein. nur

2. Station:

Naumburg

1.5.1850-4.10.1858

Im April 1850 zog die Restfamilie, Großmutter Erdmuthe nebst ihren beiden Töchtern Rosalie und Auguste sowie als Nachzügler Franziska samt ihren beiden Kindern, nach Naumburg, wo Verwandte und Bekannte wohnten: Großmutter und Tanten, in Röcken noch Kostgänger Ludwig Nietzsches, bezogen die Vorderzimmer, die sozial abgestürzte Witwe samt Kindern die beiden sonnenlosen Hinterzimmer der Neugasse 7. So verstärkten sich die Augenprobleme zumal von Fritz und Lieschen. Fritz, der seit seinem fünften Geburtstag täglich für eine Stunde in die Dorfschule ging,10 wurde sofort eingeschult und besuchte mit Knabenbürgerschule (bis Ostern 1853), Privatinstitut (bis Michaelis 1855) und Domgymnasium (bis 4. Oktober 1858) drei Naumburger Schulen, schlüpfte in imitatio patris dabei anfangs in die Rolle eines kleinen Pastors, begann spätestens im 10. Lebensjahr mit eigenen Gedichtchen und Theaterstückchen, später auch mit Kompositionen, gewann zwei intensive Freundschaften einen Freund für's Dichten, den anderen für's Muszieren und über die Freunde zwei imponierende Ersatzväter, erlebte im gemeinsamen Haushalt den dritten und vierten Sterbefall morbider Familienmitglieder, nämlich im Sommer 1855 den Tod seiner wohl tuberkulosekranken Tante Auguste, der Köchin der Familie, sowie das Hinsiechen der dominanten, schwermütig gewordenen Großmutter, die im Frühjahr 1856 Sohn und Tochter nachstarb, war vor allem während seiner anstrengenden drei Domgymnasiumsjahre mehrfach krank und wurde 10 Tage vor Vollendung seines 14. Lebensjahres als Alumnus 10.549 auf einer von Mutter Franziska konsequent angestrebten Freistelle der Stadt Naumburg Schüler der altertumswissenschaftlich orientierten, seinerzeit renommiertesten deutschen Gelehrtenschule Pforta. Vor der nur in wenigen Strichen skizzierbaren eher düsteren Naumburger Familienatmosphäre der Jahre 1850- 1856, die von den weiteren Krankheits- und Todeserfahrungen sowie dem sozialen Absturz der Kernfamilie Nietzsches geprägt blieb, ist die Genese des kleinen Dichters, Komponisten und Zeichners Friedrich Nietzsche zu sehen. Vielleicht fand Fritz mehr als in der Neugasse 7 bei den Familien seiner Freunde Gustav Krug und Wilhelm Pinder -

-

10 Brief Franziska Nietzsches

vom

11. November 1849

an

Emma Schenk

(GSA 100/836).



stets mein

Vorhaben,

ein kleines Buch zu schreiben "

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Heimat und Halt. In den Schulferien flüchtete Franziska Nietzsche „wie ein Vogel der seinem Käfig entflieht" (KGW 1/1, 287, bzw. HKGW I, 7), mit ihren Kindern zumeist zu ihren Eltern nach Pobles und lebte dort auf. Großvater Oehler war auch der erste, der das Genie seines ältesten Enkels erkannte, blieb ein wichtiger Gesprächspartner. Auch mit Ernst Ortlepp," dem vielleicht zentralen Anreger in Nietzsches zweitem Lebensjahrzehnt, müßte Fritz schon während der letzten Jahre seiner Naumburger Kindheit in Kontakt gekommen sein. Im Sommer 1856 entspannte sich zwar die engere Familiensituation dank Auflösung der so rangdifferenten Wohngemeinschaft Neugasse 7 und Umzug von Nietzsches Mutter samt Kindern in eine bescheidene Wohnung in der Nähe des Marientors (Marienmauer 621), doch die mit dem Übergang auf das Domgymnasium sowie mit dem Überspringen des untersten Semesters des Domgymnasiums verbundenen, sich steigernden Arbeitsanforderungen suspendierten weitgehend den innerfamiliären Gewinn. Schon damals stand Fritz oft um 5 Uhr in der Frühe auf; und schon damals löschte er nicht selten erst zwischen elf und zwölf Uhr nachts das Licht.

3. Station: Pforta 5.10.1858-12.9.1864 Es mag überraschen, doch es fehlte wenig, und Fritz wäre am 5. Oktober 1858 durch die Aufnahmeprüfung gefallen. Fühlte er sich genötigt, vom Domgymnasium an die Königliche Landesschule zu wechseln? Um für Oskar Oehler, seinen jüngsten Onkel, Platz zu schaffen,

da dieser anders als seine vier älteren Brüder nicht mehr dem Druck der Franke'schen Anstalausgesetzt werden, sondern in Naumburg unter liebevoller Kontrolle seiner Schwester seine Hochschulreife erringen sollte? Und um seine eigenen Karrierechanchen zu verbessern? Streikte Fritz oder etwas in ihm? Die Aufnahmeprüfung fiel jedenfalls so wenig glorios aus, daß Fritz peinlicherweise zurückgestellt wurde: so wiederholte er das erste Semester der Untertertia, verlor gegenüber seinen beiden Naumburger Freunden ein halbes Schuljahr und durchlief bis Herbst 1864 sämtliche 6 Portenser Schuljahre bzw. 12 Semester. Dem im Stil einer alten Ordensgemeinschaft oder einer preußischen Kadettenanstalt jede Minute verplanenden, demütigenden Schul- und zumal Internatsdruck war der kurzsichtige, kontaktscheue, seinen beiden Naumburger Freunden und deren Familien nachtrauernde pummelige Einzelgänger trotz Betreuung durch seinen Tutor und Religionslehrer, den erweckten 2. Geistlichen Prof. Buddensieg, und dessen Famulus Krämer, der Nietzsches erster „Oberer" war, vor allem anfangs wenig gewachsen. Insbesondere die jedes Semester abschließenden drei Prüfungswochen waren angstbesetzt, da in deren besonders gefürchteter „Vortretewoche" jeder einzelne Schüler in Anwesenheit aller Lehrer und Mitschüler durch seinen Klassenlehrer eine ggf. recht ausführliche öffentliche Beurteilung nicht nur seines Fleißes und seiner Schulleistungen, sondern selbst seines Charakters (selbstredend ohne jede Möglichkeit eines Ein- oder gar Widerspruchs) über sich ergehen lassen mußte. Schlaf von höchstens 5 bis 6 Stunden, die offenbar internatsübliche Unterernährung der rangniedersten Kleinen, die kaum heizbaren Räume des alten Zisterzienserklosters im feuchtkalten, nebeligen Saaletal, katastrophale Beleuchtungsverhältnisse und zumal die immensen und unterschiedlich ten in Halle

11

Vgl. dazu Rüdiger Ziemann, „Vom Lied kann nur der Tod mich scheiden. Zu ,Ortlepp aus Schkölen'", in: Sachsen-Anhalt. Journal für Natur- und Heimatfreunde VIII, 1998/4, 14-19, und NaJ II694-741.

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330

verteilten Arbeits- und Leistungsanforderungen in Verbindung mit dem Ehrgeiz Nietzsches und insbesondere seiner Mutter sowie von Erbtante Rosalie unterminierten seine ohnedies prekäre Gesundheit. Der Junge bemühte sich, tapfer zu sein, kontrollierte sich in seinen Briefen, doch vor allem Privatgedichte aus dem zweiten Semester, auf winzigen Zettelchen zusammengefaltet wie ein Talisman mit sich herumgetragen, verraten Todessehnsucht; und im Juli 1859 wäre der Vierzehnjährige in einem Jenaer Saalestrudel ertrunken, wenn er nicht doch noch, „als er schon halb bewußtlos war",12 gerettet worden wäre. Ein aus unabhängigen Informationen rekonstruierbarer, in der Sache nachvollziehbarer Selbsttötungsversuch. Noch drei Jahre später notierte Nietzsche beschönigend: „Jena. Verstimmung." (HKGW II, 116) Das Aufhahmebuch der Krankenstation und Briefe lassen erschließen, daß Nietzsche nicht nur 10 % seiner Schultage in der Station oder als Naumburger Rekonvaleszent verbrachte, sondern noch mehrfach über viele Wochen vor allem an Kopfschmerzen, Rheuma und Katarrh litt. Dennoch wurde er nach der Verarbeitung des Todes seines geliebten Großvaters Oehler (17.12.1859) schulisch überaus erfolgreich: 1860 erstmals Primus seiner Semesterordnung, konnte er diese Position bis in die Prima genauer: bis zur förmlichen Absetzung durch die Lehrersynode halten. So machte er wohl vor allem in seinen beiden ersten Semestern diejenigen Pariaerfahrungen, die Lesern der späten Texte Nietzsches so rätselhaft erscheinen, lernte Machtsysteme geschlossener Gesellschaften und an Besuchstagen sowie deren Folgen den Einfluß von Rang, Macht und Geld kennen, wenn adelige oder vermögende Verwandte der bei Lehrern in hochdotierter Privatpension wohnenden 20 Extraneer, welche (wie bspw. der bei Rektor Peter wohnende Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff) mit den 180 Alumnen um die Rangplätze der Schülerschaft kämpften, geruhten, der alten Pforte ihren Besuch abzustatten oder sich als edle Spender zu verewigen. So lernte er konsequent zu arbeiten, wurde und blieb selbst beim Literaturpapst Koberstein und bei Rektor Peter Spitzenschüler in Deutsch und Latein, galt als ausgezeichneter, eher inhaltlich und schon damals! meist historisch-genetisch, paenephilosophisch argumentierender Gräzist und ließ in Mathematik erst in den letzten Monaten so stark nach, daß sein Abitur gefährdet schien. Bevor Nietzsche jedoch begann, sich auf seine großen Abschlußarbeiten in Deutsch, Latein und vor allem Griechisch zu konzentrieren, hatte er in Mathematik die nämliche Note wie in Griechisch! Für Hebräisch schließlich, vielleicht verdient dies erwähnt zu werden, war der vermeintliche Theologe in spe bereits von Beginn an kaum bereit, sonderlich zu arbeiten: „zur Zeit noch unreif urteilt das Reifezeugnis!13 Das ist schon deshalb erstaunlich, weil Nietzsches erster Hebräischlehrer der (nach Meinung vieler Interpreten so heißgeliebte) erste Tutor, Religionslehrer und Konfirmationsbetreuer Buddensieg war; und ist noch erstaunlicher, weil der zweite Hebräischlehrer, der renommierte Piaton- und Plotininterpret Steinhardt, Nietzsches Lieblingslehrer in Latein und Griechisch war. Auch in Religion hatte der Abiturient natürlich die (insbesondere für Stipendien so wichtige) Bestnote: wir dürfen aber wiederum nicht übersehen, daß Nietzsches Religionslehrer Niese gerade wegen seines für Tertianer primär wissenschaftlich und für Sekundaner sowie Primaner philoso-

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12 Elisabeth Förster-Nietzsche, Das Leben Friedrich Nietzsche's. Erster Band, Leipzig 1895, 155; vgl. NAJI, 434439. 13 „Bei seiner mangelnden Kenntiß der Grammatik erscheint er zur Zeit noch unreif." Reifezeugnis vom 7.9.1864 (NaJU, S. 652).



stets mein

Vorhaben,

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"

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phisch orientierten Religionsunterrichts14 seit vielen Jahren auf der Abschußliste der auf erweckte Rechristianisierung der alten Pforte erpichten Berliner Ministerialbürokratie sowie

sogar des Ministers stand. Nietzsche verließ im Herbst 1864 Pforta jedenfalls als ein Abiturient, der glänzend auf ein Studium in Altphilologie, kaum weniger glänzend auf ein Studium in Philosophie, weit weniger jedoch auf ein Studium in Theologie und noch sehr viel weniger auf ein Leben jenseits massivster sozialer Kontrollen vorbereitet war, genauer: auf ein weitestgehend selbstbestimmtes und selbstverantwortliches Leben.

II. Texte Nun erst richtet sich unser Blick auf den jungen Schriftsteller Nietzsche sowie aufsein Œuvre. Wiederum gehe ich chronologisch vor und gebe einen nur sehr knappen Überblick.

1. Röcken Wann und unter welchen Vorzeichen Nietzsche zu sprechen, zu schreiben und zumal zu denken begann, kann erst seit wenigen Jahren rekonstruiert15 werden. Zuvor war man zumeist auf

Mythen angewiesen.

So berichtet Nietzsches Vater schon

am

26. März 1845 über erste

Sprachversuche des

knapp Halbjährigen: „seine geistige Lebendigkeit ist manchmal ganz außerordentlich", ja „er ist ein Lichtfreund sonder Gleichen." Schon dem Einjährigen „scheint das Sprechen leichter zu werden als das Laufen". Und am 2. Februar 1847, dem 21. Geburtstag seiner Mutter, deklamiert der Zweijährige sein vielleicht erstes Distichon: „Liebe Mutter ich wünsche Dir Glück,

und mir einen freundlichen Blick". Gestatten Verse und Begleitumstände einen ebensolchen Blick hinter Kulissen der vielbeschworenen Röckener Kindheitsidylle? Destruieren sie die von Nietzsches Schwester 1895 in die Welt gesetzte These, Nietzsche habe erst mit 2 14 Jahren zu sprechen gelernt?16 Auch am 11. Dezember 1847, Geburtstag von Großmutter Erdmuthe, der ungekrönten Herrscherin schon im Röckener Pfarrhaus, sagt der nun Dreijährige einen Vers auf. Seitdem dürfte das Kind, anfangs mit unterschiedlicher Verwandtenhilfe, bei jedem familiären Festtag auch poetisch präsent gewesen sein. Spätestens von seinem sechsten Lebensjahr an überreichte Fritz wohl auch schriftliche Geburtstags-, Weihnachts- und Neujahrsgaben. So hat Jörgen Kjaer Neujahrs- und Geburtstagswünsche des Siebenjährigen im Weimarer Goethe-Schiller-Archiv aufgespürt und 1990 veröffentlicht.17

Vgl. dazu Johann Figl, Dialektik der Gewalt. Nietzsches hermeneutische Religionsphilosophie mit Berücksichtigung unveröffentlichter Manuskripte, Düsseldorf 1984, 62-71, und z. T. alternativ dazu NaJII, S. 396-98. 15 Was Nietzsches Röckener Kindheit betrifft, so enthält die bisher ausfuhrlichsten Informationen wohl Hermann Josef Schmidt, „Friedrich Nietzsche aus Röcken"; dort auch für das Weitere die Belege. 16 Elisabeth Förster-Nietzsche, Das Leben Friedrich Nietzsche 's. Erster Band, 1895, 27; dazu kritisch NaK, S. 840 14

ff. 17

Jörgen Kjaer, Nietzsche. Die Zerstörung der, Humanität durch Mutterliebe, Opladen 1990,61 ; nun auch in KGW 1/1,317-19. '

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Sprechen konnte Nietzsche also schon recht früh; und zu schreiben lernte er spätestens vom Beginn seines sechsten Lebensjahres an. Doch wann und unter welchen Umständen begann das Kind zu denken? Was waren die ersten prägenden Inhalte und Probleme? Das weiß wohl noch niemand so ganz genau, doch ein terminus post quem und ein sehr früher sowie lebenslänglich relevanter Themenschwerpunkt läßt sich mittlerweile festhalten.

Das früheste mir bekannte genauere Zeugnis über Nietzsches Denken stammt aus dem Kontext der Krankheit und Leiden seines Vaters. In drei Briefentwürfen aus dem Frühjahr 1849, in denen Nietzsches Mutter über die erste längere Bewußtlosigkeit ihres Gatten berichtet, präsentiert sie ihren vierjährigen Sohn als noch vorliterarischen kleinen Selbstdenker, der „immer für sich seine Betrachtungen" abhalte, „warum der liebe Gott den Pappa nur noch nicht gesund mache", und der in strikter Anwendung seines erlernten Glaubens zu trösten versuche: „warte nur meine Mamma wenn es nur erst anfangt zu blitzen dann wird uns schon der liebe Gott eher hören". Eigenständiges Nachdenken und Erkennenwollen selbst im innerfamiliär wohl konsequenzenreichsten religiösen Kontext wären damit für das vierjährige Kind Nietzsche gesichert. Offen bleibt noch die nähere Genese des spezifischen Nietzscheschen schreibenden Denkens, das wohl erst in den frühen Naumburger Jahren einsetzt und sich ab 1853 wohl primär in Nietzsches früher poetischer Produktion materialisiert. Erst ab Winter 1855/56 sind wir dann auf sicherem Grund. Festzuhalten bleibt, daß Nietzsches frühes Sprechen, Denken und Schreiben innerfamiliär nicht nur einen hohen Rang besaß, daß es erwartet, genau beobachtet, gefördert und positiv prämiert wurde, daß Fortschritte im Verwandten- sowie Bekanntenkreis berichtet wurden, sondern nicht minder, daß auch Nietzsche selbst früh lernte, durch die Art seines Sprechens, Denkens und Schreibens seinen innerfamiliären Rang zu erhöhen, genauer: als in imitatio patris predigender Überbringer frommer Wünsche und kleiner Poet Familienfeiern zu verschönern. Das bedeutet zum einen frühestes Erlernen und Einüben adressatenorientierter Produktionen, denn schließlich will das Kind erfreuen sowie geliebt sein: und es ist intelligent und inzwischen auch diszipliniert genug, die erforderlichen Bedingungen nicht nur zu kennen, sondern zumindest meistens auch einzuhalten; zum anderen freilich entwickelt Fritz zunehmend poetische Fertigkeiten, gewinnt Freiheit im Ausdruck, beginnt auf den Text von Kirchenliedern usw. zu achten, Gedichte zu lesen. So erobert er nicht nur eigene geistige Terrains, sondern trainiert auch die Fähigkeit und entwickelt dabei wohl auch schon früh das Bedürfnis, schreibend zu denken: alles freilich mit dem Effekt, daß zumal in seinen Geschenkund Schultexten sowie im Freundesbezug Adressatenorientiertes und auf sein davon möglicherweise abweichendes eigenes Denken Zurückverweisendes zunehmend kunstvoll verbunden, ja verquickt sein dürfte.

2.

Naumburg

Vieles des soeben im Blick auf Nietzsches Röckener Jahre Skizzierten gilt auch für den Beginn der Naumburger restlichen 8 Vz Kinderjahre. Soweit ich sie überblicken kann, sind sie nach den Röckener Kleinkindjahren die wichtigsten Jahre in der geistigen Entwicklung Nietzsches: in diesen Jahren gewann und artikulierte er weitere wesentliche Erfahrungen, denn niemals mehr war so vieles für ihn so neu wie jetzt, lernte er so viele unterschiedliche Men-

„stets mein

Vorhaben,

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sehen kennen, erweiterte er von Monat zu Monat so konsequenzenreich seinen Horizont, las mit soviel Entdeckerfreude nicht nur Autoren wie Homer, Herodot, Ovid, Hölthy, Goethe, Jung-Stilling, Schiller, Hölderlin, Körner, Brentano, Lenau, Heine, Platen, Rückert, Schwab usw. usw., sondern auch Kerners Seherin von Prevorst, Ritter- und Schauerromane; und vielleicht sogar: niemals mehr war er so kreativ. Von alledem und vielem anderen finden sich Spuren in seinen frühen Texten. er

Nun endlich zu einem eher buchhalterischen Überblick des aus Nietzsches Kindheit Veröffentlichten: Um eine erste Übersicht zu geben: bereits 1938 wurden18 18 Briefe und schon 1933 Texte aus Nietzsches Naumburger Kinderjahren im Umfang von knapp 190 Druckseiten in Großoktav, größtenteils leider im Kleinstdruck, veröffentlicht. Der 1995 von Johann Figl in Zusammenarbeit mit Hans Gerald Hödl vorgelegte Eröffnungsband der Kritischen Gesamtausgabe, Werke,19 bietet Nietzsches Naumburger Kindertexte sowie 50 Zeichnungen auf etwa 360 Druckseiten; dazu kommen im ersten Briefwechselband je 15 Seiten Briefe von und an Nietzsche.20 Das bedeutet: An

Dichtungen sind ohne die Vorstufen veröffentlicht21

74 Gedichte in über 2.000 Versen, 19 Fragmente in über 500 Versen und 2 Übersetzungen in knapp 500 Versen, zusammen also knapp 100 lyrische Texte in über 3.000 Versen,22 und außerdem 6 Theaterstückchen und -fragmente, großteils in Versen auf 16-18 Druckseiten.23 An Prosatexten sind zugänglich 2 autobiographische Aufzeichnungen aus dem Dez. 1856 und Sommer 1858 auf ca. 32 Druckseiten,24 8 Novellen- und Erzählungsfragmente, Landschaftsschilderungen usw. auf ca. 13 Druckseiten,25 18 Briefe und Briefchen26 auf 13-15 Druckseiten, zusammen also Prosatexte auf etwa 60 Druckseiten;

HKGW bzw. HKGB I, München 1933, 305-447, 1-32. bzw. 1938, 1-16. KGW 1/1, Nachgelassene Aufzeichnungen. Anfang 1852-Sommer 1858, Berlin/New York 1995. KGB I, Berlin/New York 1975, 1-15 bzw. 301-26. Basis dieser Auflistungen gegenwärtig noch die Bände der HKGW I-III. KGW 1/1, 6-277, 370-82, bzw. HKGW I, 307-447. Im einzelnen: Das Königsamt (KGW VI, 3-5, bzw. HKGW I, 310 f.), Der Geprüfte (KGW 1/1, 105-09, bzw. HKGW I, 327-30), Die Charoláis, Frgm. (KGW VI, 160, bzw. HKGW I, 369), Orcadal, 2 Fragmente (KGW 1/1, 165-69, bzw. HKGW 1,372-74) und Untergang Trojas, 3 Fragmente (KGW 1/1,233-38, bzw. HKGW 1,415-20). 24 KGWI/1, 169-71, 282-311, bzw. HKGW 1,375-76, 1-32. 25 KGW 1/1, 194, 198-206, 227-30, 255-56, 269, 278, bzw. HKGW I, 390, 392-98, 411-13, 430, 445. 26 KGB 1/1, 1-15, bzw. HKGB I, 3-15. 18 19 20 21 22 23

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Doch noch immer nicht genug, denn hinzu kommen noch u. a. Aufzeichnungen Über Festungswesen bzw. ein „Festungsbuch" mit vielen Zeichnungen auf ca. 48 Druckseiten,27 z. T. auch gezeichnete Würfelorakel in z. T. kompliziertester Manier, von denen einige in Verbindung mit den militärtechnischen Aufzeichnungen stehen, auf ca. 38 Druckseiten,28 Listen der eigenen Gedichte, Aufsätze und Bücher, Aufzeichnungen zu Kompositionen, Gliederungen und Stichwortlisten bspw. zur großen Autobiographie („Aus meinem Leben") des Sommers 1858, und natürlich Aufzeichnungen unterschiedlichster Art aus Nietzsches Naumburger Schuljahren, vor allem aus der Domgymnasiumszeit!29 Dieses Kind erweckt in der zweiten Hälfte seiner Naumburger Kindheit den Eindruck, nicht nur zuweilen schreibend zu denken, sondern trotz aller familiären Belastungen und schulischen Anforderungen primär schreibend und musizierend zu existieren. So, wie es seinen Vater und Großvater Oehler als Predigten niederschreibenden Schriftsteller und Poeten noch in Erinnerung behielt (bzw. behalten wollte)? Und so wie noch oder bereits wieder der Basler Altphilologe? Oder der Privatgelehrte der achtziger Jahre? Und neben alledem hat das Kind Nietzsche nicht nur noch gezeichnet, hatte im Abgangszeugnis des Domgymnasiums in Zeichnen die einzige 1, sondern Choräle und Hirtenspiele komponiert und viele Blätter mit Noten

gefüllt30...

Wenden wir uns Schwerpunkten und Themen der einzelnen Naumburger Jahre zu, so lassen sich kaum weniger aufschlußreiche Beobachtungen gewinnen: In den Jahren 1853 1855 stehen zumindest in quantitativer Hinsicht Aufzeichnungen „Über Festungswesen" bzw. ein „Festangsbuch" mit zahlreichen Zeichnungen sowie Würfelorakel ganz im Vordergrund:31 der Neun- bis Elfjährige betreibt pseudo- oder präwissenschaftliche Kriegsspielerei, versucht nach den lebensgeschichtlichen Einbrüchen, denen er bisher hilflos ausgesetzt war und denen er noch lange ausgeliefert sein wird, wenigstens in Teilbereichen Überblick zu gewinnen, Fatum zu antizipieren, es vielleicht sogar magisch zu beeinflussen oder mit ihm zu spielen. So bekämpft Nietzsche bereits den „Riesen Zufall". Bezeichnend wohl auch, daß die kindlichen Spiele des Neun- und Zehnjährigen in Gedichte und Theaterstücke münden: „Das Königsamt" (KGW 1/1, 3-5, bzw. HKGW I, 310-11) könnte noch von 1854 und „Der Geprüfte" (KGW 1/1, 105-09, bzw. HKGW I, 327-30) aus der zweiten Jahreshälfte 1855 stammen. Die erste Geburtstagsgedichtssammlung für die Mutter stammt zwar erst vom Elfjährigen, doch auch in den Jahren zuvor dürfte er zumindest eher konventionelle, anfangs vielleicht sogar aus Vorlagen entnommene Glückwunschgedichte überreicht haben. Aus den restlichen drei Kinderjahren 1856-1858 liegt bezeichnenderweise kein abgeschlossenes Theaterstück Nietzsches mehr vor: „Die Götter vom Olymp" bzw. „Die Götter -

27 KGW 1/1, 9-63, bzw. HKGW I, 312-27. 28 KGW 1/1, 64-102, bzw. HKGW I, 333-37. 29 KGW 1/1,320-82. 30 Vgl. Friedrich Nietzsche, Der musikalische Nachlaß, hg. im Auftrag der Schweiz. Musikforschenden Gesellschaft von Curt Paul Janz, Basel/Kassel 1976. 31 KGW 1/1, 9-102, bzw. HKGW I, 312-27, 333-37. Vgl. dazu Hans Gerald Hödl, Nietzsches frühe Sprachkritik. Lektüren zu Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873), Wien 1997, 97-103. "



„stets mein Vorhaben, ein kleines Buch zu schreiben"

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auf den Olymp" (KGW 1/1, 110), die er zusammen mit Freund Wilhelm geschrieben bzw. auf der Basis seines Lust- und Listspiels „Der Geprüfte" nach den Wünschen Wilhelms weiterentwickelt und am 8.2.1856 in der Wohnung von Großmutter Pinder aufgeführt hat, sind verschollen. Was gäbe ich für diesen Text und zumal für Nietzsches gleichnamiges Gedicht (KGW 1/1, 308, bzw. HKGW I, 29)! Zwei weitere Stücke von 1856 („Die Charoláis" [KGW 1/1, 160, bzw. HKGW I, 369] und „Orcadal" [KGW 1/1, 165-69, bzw. HKGW I, 372-74]) bleiben Fragmente; statt dessen explodiert nun Nietzsches lyrische Produktion. Das ist verständlich, denn Gedichte schreiben und in ihnen zuweilen eigene Probleme aufarbeiten konnte und wollte? Fritz alleine; Stücke aufführen jedoch nicht, da war er auf beide Freunde und die Schwestern angewiesen, mußte vielfach Rücksicht nehmen. Zumindest Gustav und Lieschen waren störrisch, wollten Fritz keinesfalls die besten Rollen überlassen ...; und das Publikum war erweckt-konservativ. Ein Vergleich macht die Entwicklung aktenkundig: sind aus 1854/1855 7 Gedichte darunter zwei „Kriegslieder" und drei bemerkenswerte „Phantasieen"32 in 121 Versen erhalten geblieben, so sind es aus 1856 schon 20 Gedichte sowie 5 Fragmente in über 1.000 Versen. Dabei sind noch zumindest drei Gedichte ein „Argonautenzug" in 400 Versen, ein „Abendlied" und „Die Götter vom Olymp" sowie weitere 285 Verse der Fragmente „Vergänglichkeit des Glücks" und von „Mesenien" verschollen. Wir können also von bis zu 2.000 Versen des Jahres 1856 ausgehen. Was er-, be- und verarbeitet nun zwischen 1854 und 1856 der neun- bis elfjährige schwarze Rabe in den umgeschneiderten Kleidern seines Pastorenvaters? Anfangs, 1853 -1855, dominieren in Zeichnungen, Listen, Lexikaartikeln und aktuellen Tagesberichten Kriegsthemen insbesondere im Zusammenhang mit dem Krimkrieg und der Belagerung von Sewastopol; auch einige Gedichte und zumal viele der Orakel stehen in diesem Zusammenhang. Gäbe man in dieser Hinsicht der frühen Biographie von Elisabeth Förster-Nietzsche Kredit, so wäre zu vermuten, daß Fritz über seine Kriegsspiele und nicht (wie ich annehme) über seine Lektüre von Ovid, Metamorphosen, Schiller, Die Götter Griechenlands, oder Schwab, Sagen des klassischen Altertums, den Weg zu griechischen Mythen, zu Homer und ,den Griechen' gefunden habe. Doch Fritz sprach mit seiner kleinen Schwester zu deren Leidwesen kaum über die ihn am meisten bewegenden Probleme, denn sie konnte diese ja nicht verstehen, weil es nicht ihre Probleme waren; und weil sie viel zu jung und mit sich selbst beschäftigt war. Sewastopol jedenfalls fiel, und Troia fiel endlich auch, doch eine handvoll Athener und Spartaner verteidigte ihr so winziges Hellas erfolgreich, besiegte sogar den persischen Großkönig! Endlich einmal war der sich mit ihnen identifizierende Fritz bei den Siegern. So blieb der kleine Kriegsstratege anfangs zwar in seinem vertrauten Metier, doch er steigerte dabei seine Graecophilie bis zur Graecomanie, entdeckte ihr Leistungsvermögen und zumal ihr christentumskritisches Potential. In einem privaten Lust- und Listspiel Der Geprüfte erlaubt sich der Elfjährige nacheinander als Apollon, als unbekannter Gott (Zeus), als Sirenius und schließlich als Paris jagenden Menelaos aufzutreten, doch schon 1856 verschiebt sich die Perspektive von Selbsterlösungsszenarien und Kämpfen um Troia zu Theodizeeproblemen in .griechischem' Aufputz mit zuweilen tragischem Ausgang. Griechische Sujets bestimmen -

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weithin die poetische

Produktion, erweitem ihre Funktion, dechiffrieren sich vielleicht in einer

32 Dazu genauer Ursula Losch und Hermann Josef Schmidt, „.Werde suchen mir ein Schwans, wo das Zipfelchen noch ganz." Spurenlesen im Spannungsfeld von Text, Zeichnung, Phantasie und Realität beim etwa zehnjährigen Nietzsche", in: Nietzscheforschung 1, Berlin 1994, 267-87.

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Danksagung an Zeus, daß „wir nicht wanken",33 werden ergänzt durch Seenotsfalle und Gewittergedichte. Es dominieren Katastrophentexte. Doch warum? Leider sind gerade von den frühen Riesengedichten nur noch Fragmente auffindbar. 1857 überrascht, daß der Zwölfjährige zum 31. Geburtstag seiner Mutter zwar 10 Gedichte und 3 Fragmente in über 460 Versen34 vorlegt, daß wir aus den restlichen knapp 11 Monaten des Jahres jedoch über kein weiteres Gedicht Nietzsches mehr verfügen. Ist alles verschollen?

Hat er die Freude am Dichten verloren? Oder hat er alles selbst vernichtet? War es zu brisant? Hat jemand aufgeräumt? Erhalten sind jedoch einige eher blasse Prosatexte, Anläufe zu Novellen und eine in meinen Augen kuriose „Kleine Weihnachtsgabe für meine liebe Mutter" mit einer aufschlußreichen Vorstufe, in die er jedoch keinen eigenen Vers aufnimmt. Das gilt auch für eine zweite Weihnachtsgabe, für die er „auf Deinen Wunsch" Kirchenlieder abschreibt wie bspw. „Ich habe Lust zu scheiden, mein Sinn geht aus der Welt"! Wenden wir uns dem Inhalt der Geschenkgedichte zum 2. Februar zu, so verstehen wir die poetische Abstinenz vielleicht besser: der graecophile Zwölfjährige ich weiß, es klingt angesichts des Bildungsniveaus, über das die meisten Gleichaltrigen heutzutage verfügen, unglaublich hat inzwischen die Ebene von Mythen, die ja in seiner Version schon zuvor ins Tragische abzukippen schienen, hinter sich gelassen und ist bei der tragischen Weisheit Solons angekommen. Offenbar hat er Gründe, das nicht allzu deutlich erkennen zu lassen. So spricht im Eröffnungsgedicht ein scheinbar christlicher Glücks- genauer: Glückserkenntnissucher namens Alfonso mit der Sonne, bevor er auf Wanderschaft geht, um bei einem alten Pater, bei Fischern am Meer und zuletzt bei einem Weisen im Walde auch ihm wie so vielem anderen beim späten Nietzsche begegnen wir schon hier Auffassungen Solons zu finden: „Du weißst am besten dann selbst". Der Inhalt dieses Wissens ist bei Herodot nachzulesen: Solon betont dort, „daß das ganze göttliche Walten neidisch und unbeständig" und daß das Menschenleben „ein Spiel des Zufalls" ist; die Silenproblematik kündigt sich an. Doch derlei gehört nicht in eine poetische Geburtstagsgabe für die fromme Mutter. Spuren sollen verwischt werden mit Hilfe einer in Erwecktendiktion regredierenden „Alfonso"-Reprise, doch vorher sowie anschließend wurden sie vielleicht allzu ungeschützt offeriert wie in „Olympos", in „Rinaldo", im „Raub der Proserpina" oder in der so anheimelnden „Unsterblichkeit". 1858 nimmt der Dreizehnjährige drei Anläufe, um sein Theaterstück „Untergang Trojas" (KGW 1/1, 233-38, bzw. HKGW I, 415-20) abzuschließen, doch er beendet es nicht. Die olympischen Götter Homers scheinen in ihrer Bedeutung zu verblassen, zeigen sich als Personen wie Fritz, Lieschen, Wilhelm und Gustav, werden burlesk verabschiedet und glänzen bereits in der Geburtstagssammlung zum 2.2. durch Abwesenheit. Zeus wird nun durch die Sonne, Graecophilie wird durch Naturreligiosität oder Natursymbolik ersetzt, in oder hinter der sich manches verbergen mag. Nun dominieren Sonne, Nachtigallen, Lerchen und Adler. Nietzsches Tiere sind in diesen Jahren Vögel. In Gedichten wie „Jason und Medea", „Hecktors Abschied", „Konradin", „Barbarossa" oder „Colombo" Pflichtleistungen für den Naumburger Deutschlehrer dürften unter ihnen sein werden ebenfalls Lebensmodelle durchgespielt. Der Junge scheint zu sich, zur Natur und zu seiner Gegenwart zurückzufinden, die Röckener Traumen und frühen Naumburger Familiendramen zu bewältigen. -

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33 Schlußvers eines winzigen, mit Bleistift gekritzelten titellosen Gedichts (HKGW I, 362). 34 Möglicherweise verfügen wir dabei nur über Nietzsches Vorstufe der Reinschrift.

„stets mein Vorhaben, ein kleines Buch zu schreiben" Aus den ersten 9 Monaten 1858 kennen wir immerhin 37

337

Gedichte,

11

Fragmente und 2

Übersetzungen, in zusammen knapp 1.400 Versen, die eine Entwicklung zu mehr Realitäts-

bewußtsein belegen: es scheint fast, als würde Fritz normal(er). Doch schon kam der zweite riesige Einbruch in Nietzsches Leben, die seit dem Übergang in die Tertia (im Frühjahr 1858) mögliche und seit Jahren wohl antizipierte Verpflanzung nach Pforta. Zuvor freilich arbeitet der Dreizehnjährige an seinem frühen £cce-/zo/wo-Pendant, der riesigen Autobiographie Aus meinem Leben, die sein erstes Buch werden soll. Doch sie ist weit mehr35 als nur dieses ...; das kann man wohl nur erkennen, wenn man vom Naumburger Kind Nietzsche nicht nur diesen Text bedacht hat. Leider sind zahlreiche Gedichte verschwunden. Von 10 verschollenen Gedichten kennen wir Titel und Verszahl, von 8 weiteren noch die Titel, von einigen lediglich den Beginn des ersten Verses: kein ,Griechengedicht' ist mehr dabei, statt dessen dominiert Naturlyrik. Es gab auch „Geistliche Lieder", von denen leider ebenfalls kaum etwas erhalten ist. Waren es Geschenktexte, Pflichtlieferungen für die Schule, persönliche Bekenntnisse? Das Erhaltene wie bspw. eine „Jesus Christus"-Hymne ist freilich so unproblematisch nicht. Zur Vermutung doppelbödiger geistlicher Auslassungen fügen sich auch einige Passagen der Nietzsches Naumburger Jahre abschließenden Autobiographie recht gut. Soweit zu Nietzsches literarischem Œuvre der Naumburger Jahre. Wo zeigt sich Nietzsche als kleiner Denker, wo versteckt er sich, wo drischt er vielleicht nur verwandteerquickende Phrasen?

3. Pforta Wie kaum anders zu erwarten, stellen die 6 Jahre bzw. 12 Semester der Portenser Schüler- und Alumnenexistenz den Großteil der zugänglichen Texte der ersten 20 Lebensjahre Nietzsches. Vor sechs Jahrzehnten wurden aus diesem Zeitraum 224 Briefe und weitere Nietzschetexte auf über 1.200 Seiten vorgelegt.36 Das entspricht dem Drei- bis Vierfachen der Naumburger Kindertexte. Während im ersten Band des Briefwechsels noch fünf weitere Briefe und die 197 Belegzettel Nietzsches an seine Tutoren hinzukamen, so daß nun 426 .Briefe' Nietzsches und 66 Briefe an ihn auf knapp 400 Druckseiten zugänglich sind,37 stehen die für Nietzsches Portenser Jahre vorgesehenen Werkbände kurz vor dem Druck. Sie sowie der Nachbericht dürften noch einige hundert Druckseiten unbekannter Texte (vor allem Mitschriften aus der Schule und weitere Ausarbeitungen) sowie einige Zeichnungen präsentieren. Beim Vierfachen der Naumburger Textmenge wird es also zumindest bleiben. Doch wie auch immer: je umfangreicher die bereits zugängliche Textmenge, desto weniger tiefenscharf verständlicherweise ein Überblick! So liste ich zuerst nur verschiedene Textkategorien in quantitativer Perspektive auf. Um wieder mit dem Einfachsten zu beginnen:

35

Vgl. Hermann Josef Schmidt, „Nietzsche ex/in nuce. Früheste Schülerphilosophie in ihrer grundlegenden Bedeutung für die Nietzscheinterpretation", in: ZDPh VI ( 1984), Heft 3 : Nietzsche, 139; genauer in NaK, 445-548.

36 In der HKGW I, 33-304, II und III 1-68, München 1933-35, und HKGB 37 KGB I, Berlin/New York 1975, 15-297 bzw. 327-436.

I, München 1938, 17-257.

Hermann Josef Schmidt

338 An

Dichtungen sind ohne die Vorstufen veröffentlicht

111 deutschsprachige Gedichte in knapp 3.400 Versen,38 18 lateinische Gedichte in knapp 240 Versen, 32 Fragmente in weiteren 340 Versen und 8 Übersetzungen in über 270 Versen, zusammen also knapp 170 lyrische Texte in über 4.200 Versen, 1 Drama (Prometheus39) sowie 2 Dramenfragmente (Die Verschwörung des Philotas40 und Ermanarich)41 auf ca. 45 Druckseiten. An Prosatexten sind

u. a.

zugänglich

27 Aufsätze bzw. Abhandlungen für den Deutschunterricht auf 108 Druckseiten,42 6 Aufsätze bzw. Abhandlungen in lateinischer Sprache für den Lateinunterricht auf 40 Druckseiten,43 4 Aufsätze bzw. Abhandlungen in lateinischer oder in teils lateinischer, teils griechischer und teils deutscher Sprache für den Griechischunterricht auf 93 Druckseiten,44 8 echte45 „Germania"-Vorträge und Aufsätze auf 58 Druckseiten,46 14 autobiographische Aufzeichnungen bzw. Lebensläufe auf 78 Druckseiten,47 2 Novellen- bzw. Erzählungsfragmente auf 9 Druckseiten,48 426 Briefe, Briefchen und Bestellzettel49 auf 282 Druckseiten,

alles in allem eine riesige Menge an Texten, die bspw. noch durch tagebuchartige Auflistungen, Unterrichtsmitschriften usw. zu ergänzen ist. Es versteht sich von selbst, daß wenige Doppelnennungen kaum vermieden werden können.

38 Einschließlich der Gedichte Klang aus der Ferne, Rhapsodie und Fröhlich ist das Pförtnerleben in zus. 148 Versen, die in NaJ II, S. 316, 319 f. und 616 erstmals vorgelegt wurden. 39 HKGW I, 62-69. 40 HKGW I, 156-81, und HKGB, 95 f., bzw. KGW 1/1, 102 f. 41 KGW II, 142, 144-54. 42 Sie verteilen sich wie folgt: 1858 3, 1859 8, 1860 2, 1861 =4, 1862= 1, 1863 5, 1864 4. 43 Sie verteilen sich wie folgt: 1861 1, 1862 2, 1863 1, 1864 2. 44 Sie verteilen sich wie folgt: 1862 1, 1864 3. 45 Wohl nur wenige der erhaltenen „Germania"-Arbeiten Nietzsches sind im strengen Sinne als „echte" „Germania"Arbeiten aufzufassen, sind also nicht untergeschobene Portenser Deutschaufsätze, an Portenser Schulfesten öffentlich deklamierte, für andere Anlässe ausgearbeitete oder aus der Schublade gezogene Gedichte. 46 Sie verteilen sich wie folgt: 1860 1, 1861 3, 1862 2, 1863 1. 47 Sie verteilen sich wie folgt: 1858 1, 1859 2, 1860= 1, 1861=3, 1862 2, 1863 1, 1864 3. Mein Leben vom 18.9.1863, enthalten in Band III von Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, München 1956, 107-11, ist berücksichtigt. 48 Sie verteilen sich wie folgt: 1859 1, 1862 1. 49 KGB 1/1, 15-297, bzw. HKGB I, 17-257. =

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„stets mein

Vorhaben, ein kleines Buch zu schreiben"

339

Berücksichtigen wir wenigstens bei den Dichtungen die Chronologie, so sehen wir, wenn wir uns auf die abgeschlossenen deutschen Gedichte beschränken, daß aus den drei letzten Monaten von 1858 nur drei Gedichte in 60 Versen, aus dem Folgejahr hingegen 38 Gedichte in nahezu 1000 Versen erhalten blieben. 1860 waren es 5 Gedichte in über 100, 1861 16 Gedichte in über 330 und 1862 22 Gedichte in über 800 Versen. 1863 fällt die Kurve wieder auf 14 Gedichte in über 700 und in den 8 lA Monaten von 1864 schließlich auf 13 Gedichte in über 400 Versen zurück. Wir müssen aber davon ausgehen, daß zumal zwischen 1862 und 1864 viele brisante Gedichte verschenkt oder vernichtet wurden oder verschollen sind. Eigentümlicherweise liegen die quantitativen Relationen bei den Dramen und zentralen privaten Prosatexten ganz ähnlich: nachdem wir aus 1858 allenfalls die wenigen Stichworte zu den Freiheitsreflexionen besitzen, ist das Frühjahr 1859 markiert durch ein „Prometheus"Drama samt Anhang und der Sommer sowie Herbst durch das so reichhaltige „Pforta"Tagebuch sowie die „Philotas"-Dramenfragmente. Dazwischen liegt Nietzsches lyrische Eruption des Frühsommers. Und während wir aus 1860 kaum einen sonderlich relevanten Text besitzen, verstärkt sich 1861 einerseits wieder die lyrische Produktion mit dem Höhepunkt einer vermeintlichen Dante-Byron-Paraphrase, und andererseits kulminiert Nietzsches zunehmend philosophische Prosaschriftstellerei in einem seiner Konfirmation (10.3.) dicht folgenden ersten Vortrag („Kindheit der Völker") vor seinen beiden Naumburger Freunden. Ein Theodizeeprobleme reflektierender „Lebenslauf folgt im Mai; der Herbst hingegen zeitigt den vielbesprochenen Hölderlinaufsatz („Brief an meinen Freund" usw.,) Noch deutlicher sticht Nietzsches Frühjahrs- und Herbstpräferenz für geistig hochrangige Leistungen im Folgejahr hervor. Schon das Frühjahr 1862 bringt mit „Ermanarichs Tod" samt Vorstufen und zumal mit dem „Fatums-Willenfreiheits-Christentums-Quartett" aus dem April konsequenzenträchtigste Texte. Der Spätherbst hingegen ist dominiert von abgründigen Totensonntagsgedichten, „Ermanarich"-Dramenentwürfen, einer „Kriemhild"- und einer „Aias"Analyse, also von scheinbar heterogenen Texten, deren Brisanz erst aus ihren Beziehungen zueinander, zu den erwähnten Arbeiten des Frühjahrs 1862 sowie zu Nietzsches Grundproblempartitur deutlich wird. Wer hier isoliert, verfehlt die Tiefendimension. Zwischen April und Herbst liegt das Fragment der „Euphorion"-Novelle und manche aufschlußreiche lyrische Produktion. Die beiden letzten Jahre in Pforta stehen zwar unter dem Primat der großen Abschlußarbeiten: für Deutsch die umfangreiche Analyse der „Ermanarich"-Sage, abgeschlossen im Oktober 1863, für Latein die „Livius"-Arbeit ebenfalls aus dem Oktober 1863 und die „Tacitus"-Abhandlung aus dem Februar 1864, für Griechisch schließlich die so hintergründige „König-Ödipus"-Abhandlung von April-Mai 1864 sowie die nicht minder umfangreiche Valediktionsarbeit zu „Theognis von Megara". Nietzsche hat es übrigens geschafft, zumindest nahezu alle größeren Schularbeiten so anzulegen, daß er in ihnen auch eigene Probleme aufzuarbeiten vermochte. Deshalb ist es so wichtig, diese Untersuchungen nicht weiterhin zu übergehen.50 Nietzsche findet zwar auch für Gedichte noch Zeit, doch von seiner lyrischen Produktion haben wir fast nur Entwürfe (wie bspw. „Noch einmal eh ich weiterziehe"). In Reinschrift auf Oktavblättern überlieferte größere Gedichte sind wohl samt und sonders 50

Vgl. insbes. die Untersuchungen von Renate G. Müller, Antikes Denken und seine Verarbeitung in Texten des Schülers Nietzsche, Dissertation Univ. Dortmund vom 22.11.1993, die im Anhang eine Übersetzung der griechisch-lateinischen Schularbeiten und Gedichte Nietzsches bietet, sowie in Nietzscheforschung 1 ff, Berlin, 1994 ff, und inhaltlich in extenso NaK und NaJ 1 sowie //.

Hermann Josef Schmidt

340

Schulleistungen

des

(wie

Jahrzehnte

zuvor

Ernst

Ortlepp)

zum

poeta laureatus portensis

Arrivierten, der bei nahezu jedem Schulfest und Festakt vorzutragen hatte

...

Wie konsequenzenträchtig eine Berücksichtigung verschiedener Kategorien ausfallen müßte, erkennt man daran, daß z. B. bei den deutschsprachigen Gedichten zumindest zwischen (A 1) den Pflichtleistungen für den Deutschunterricht, (2) den am jährlichen Schulfest oder (3) an weiteren Schulakten wie Dichtergeburts- oder Todestagen, religiösen Terminen oder dem 18. Oktober, Jahrestag der Leipziger „Völkerschlacht", öffentlich deklamierten und zuvor von verschiedenen Fachlehrern korrigierten Gedichten einerseits und eher privaten Geschenkgedichten (B) wie bspw. (4) an die Mutter, (5) an die Schwester, (6) an die frömmelnde Erbtante Rosalie Nietzsche oder den nicht weniger frömmelnden Pastorenonkel Eduard Ohler, (7) an eher brave Portenser Schulfreunde wie Paul Deussen oder (8) an weniger angepaßte Schulkameraden wie Rainer Granier oder Guido Meyer zu unterscheiden ist, daß davon bspw. (C 9) den Freunden Wilhelm und Gustav zugängliche Gedichte abgegrenzt und hiervon wieder (D 10) echte Privatgedichte Nietzsches unterschieden werden müßten, wenn es darum ginge, zwischen unterschiedlich adressatenbezogenen und eigene Sichtweisen enthaltenden Gedichten Nietzsches zu unterscheiden, Nietzsches Denken besser zu erkennen und zu verstehen. Doch noch längst nicht genug, denn zu derlei synchronen Differenzierungen kämen die diachronen. Oder macht es keinen Unterschied, ob wir Gedichte des vierzehn- oder des neunzehnjährigen Nietzsche lesen? Zur Verdeutlichung der Problemlage ein zweites, kaum weniger brisantes Beispiel. Ich erwähnte autobiographische Aufzeichnungen bzw. Lebensläufe. Da finden wir aus Sommer und Herbst 1859 das umfangreiche „Pforta"-Tagebuch, Gedichte, Episoden, Reflexionen und vieles andere von erheblicher Aufschlußkraft enthaltend, jedoch mit zumindest einem zweiten Leser rechnend, ja diesen ansprechend; und wir finden den offiziellen Lebenslauf, den der Abiturient Nietzsche zum 7.9.1864 seiner von Lehrer zu Lehrer wandernden Valediktionsarbeit, die auch jüngeren Schülern zur Lektüre zugänglich war, als geistiges Vermächtnis beifügt. Schon im Oktober 1858, Nietzsche war erst wenige Tagen Alumne, wurde als Aufsatz „Mein Leben", und im Mai 1861, wenige Wochen nach der Konfirmation, „Mein Lebenslauf zur Benotung eingefordert. Zu Letzterem gibt es nicht nur eine abweichende Vorstufe, sondern noch einen alternativen ,Lebenslauf, den Nietzsche im Kontrast zu den offiziellen Anforderungen geschrieben hat: dieser nun liegt nicht nur auf einem völlig anderen Niveau, denn hier philosophiert der Sechzehnjährige vielleicht erstmals, indem er einige Gedankenketten seines wenige Monate zurückliegenden ersten „Germania"-Vortrags vor seinen Naumburger Freunden weiterführt, sondern dieser Text ist seinerseits wieder Pendant eines aufschlußreichen Gedichts, das nahezu alles sprengen könnte, was bisher zum frühen Nietzsche geäußert wurde: „Mich trieb der Geist einst in des Waldes Nacht".51 Damit spätestens wären wir aber nicht nur auf einer ganz anderen Ebene, nämlich bei Nietzsche, sondern auch in einer anderen Dimension. So wären also quer zur (a) Chronologie und nochmals quer zu (b) tradierten Textkategorien auch (c) zentrale Textadressatengruppen bzw. Grade der Textauthentizität zu unterscheiden.

51 HKGW

I, 275 f.; dazu ausführlich NaJ 1, S. 561-77.



stets mein

Vorhaben, ein kleines Buch zu schreiben

"

341

All das hier konsequent durchzuführen ginge viel zu weit. Einem gründlichen, sensiblen, geistes- und humanwissenschaftlich ebenso wie philosophisch interessierten, psychologisch vielleicht nicht völlig naiven und altertumswissenschaftlich nicht ganz ahnungslosen, unvorLeser der Texte des frühen Nietzsche wäre dann nach wohl nur wenigen Stunden Lektüre deutlich, in welchen Bezügen Nietzsche seine weiterführenden Gedanken entwickelte; und in welchen eben nicht.

eingenommenen

III. Weiterwirkendes Um abschließend wieder inhaltlicher zu werden, liste ich fast im Sinne von Reizvokabeln einiges chronologisch auf, was Lesern der Texte des späteren Nietzsche so vertraut sein dürfte, daß mein Postulat streng chronologischer Interpretation bzw. einer exakten chronologischen Analyse52 zumindest verständlich und in Verbindung mit meiner These, „daß die für Nietzsches gesamtes Denken [...] zentrale Ausbildung der denkerischen Motive und z. T. Inhalte bereits in seiner Schülerzeit erfolgt und seitdem Nietzsches Denken so monoton bestimmt, daß gegenüber der verwirrenden Vielfalt einzelner Thesen usw. Nietzsches denkerische Grundintentionen, Grundprobleme und Grundspannungen als relative Konstanten seines Denkens angesehen werden können",53 mittlerweile plausibler, vielleicht sogar wohlbegründet und beherzigenswert erscheint. Die Beispiele sollen auch die Plausibilität meiner These erhöhen, daß die vielbeschworene Disjunktion von Biographie und Philosophie zumindest solange von einem Abwehrgestus kaum zu unterscheiden ist, solange sie lediglich als Alibi benutzt wird, die Sprach-, Motiv- und Denkentwicklung des betreffenden Autors weiterhin unberücksichtigt lassen zu können. März 1845. Gilt die Aussage seines Vaters, die „geistige Lebendigkeit" des knapp Halbjährigen sei „manchmal ganz außerordentlich", für Nietzsche nicht bis in den Januar 1889? Und ist die Charakterisierung „ein Lichtfreund sonder gleichen" nicht eine fast schon glänzende Diagnose der Aufklärungsintentionen Nietzsches? Wann suchte Nietzsche nicht „klaren Himmel" in nahezu jederlei Hinsicht? März 1849. Stellt die erwähnte Schilderung des Nachdenkens des Vierjährigen durch seine Mutter: „hält immer für sich seine Betrachtungen, warum Gott den Pappa nur noch nicht gesund mache", nicht fast Wort für Wort eine geradezu programmatische Abbreviatur Nietzschescher Eigenheiten („immer für sich", „seine Betrachtungen"), Schwerpunktthemen und Probleme („Warum"-Fragen, genealogische Perspektiven, Theodizee- und Moralprobleme usw.) dar?

Springen wir mangels weiterer tiefenscharfer Belege zu Nietzsches eigenen Texten! 1853/55. Zu den frühesten Texten gehört ein „Kriegslied" (KGW 1/1, 34, bzw. HKGW I, 319 f.); noch in den Januartagen 1889 verschickt Nietzsche Kriegserklärungen. 1855/56. Spätestens als Elfjähriger ist Nietzsche bei ,den Griechen', als Primaner ist er es in seiner freiwilligen Ödipus-, Theognis- und Symposionanalyse, als Student und vor allem 52

Vgl.

dazu schon meine

Monographie Nietzsche

und Sokrates.

Philosophische Untersuchungen zu

Nietzsches

Sokratesbild, Meisenheim 1969, 2, sowie „Nietzsche ex/in nuce", 138. 53 Vgl. meinen Beitrag „Friedrich Nietzsche: Philosophie als Tragödie", in: Josef Speck (Hg), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Neuzeil 111, Göttingen 1983, 209, ebenso „Nietzsche ex/in nuce", 139.

Hermann Josef Schmidt

342

als Basler Dozent bleibt er es, ja streng genommen wird Nietzsche bis zum Zusammenbruch von der Perspektive zumal des archaischen Griechentums als generellen Kriteriums nie ganz frei...; er vermag sie allerdings vielfältig zu kaschieren. In „Der Geprüfte" erlöst sich Nietzsche-Sirenius durch griechische Götter, prüft sich in der Rolle eines unbekannten Gottes, der sich als Zeus offenbart, arrangiert die Prüfung als Apollon, hinter dessen Maske als musagetes er noch lange als Dichter und Komponist agiert. In seinen Würfelorakeln54 versucht das Kind den mantischen Apollon zu beschwören, doch für Ödipus (1864) und Orestes wird Apollon zum Rätsel, ja zur Gefahr, in der Geburt der Tragödie zum ästhetischen Prinzip Seefahrergedichte, Meeres-, Klippen-, Insel- und Hafensymbolik seit spätestens Februar 1856. 1856/57. Daß Nietzsches Glückssuche Glückserkenntaissuche ist, zeigt schon „Alfonso": über Glück dichtet und reflektiert Nietzsche bis 1888. Schon der Zwölfjährige ist bei der tragischen Weisheit Solons angekommen; auch ihr ist Nietzsche wohl niemals ganz entschlüpft doch mit ihr hat es der christlich Erzogene nicht auszuhalten vermocht. Gespräche mit der Sonne, Sonnenthemen, Sonnensymbolik von den frühesten Kindertexten über Zarathustra bis zu „Die Sonne sinkt..." 1858. Das Wagnisthema als Kolumbusthema: seit „Colombo". Die autobiographische Tendenz: bis Ecce homo. 1858/59. Das Freiheitsthema im Blick auf Gott „nicht gut nicht böse", also bereits jenseits von gut und böse philosophisch-theologisch in den „De libertate"-Reflektionen der ersten Pfortazeit und dramatisch in „Prometheus" aus dem Frühjahr 1859 in verschiedenen Perspektiven (Prometheus, Iapetos, Zeus, Chor usw.) durchgespielt. In den „De voluntatis libertate"-Reflektionen finden wir explizit die Willens-, Willensfreiheits- und Fatumsthematik und -problematik, die Nietzsche über „Fatum und Geschichte" (1862), Schopenhauers Willensmetaphysik (ab 1865) bis zur Spätphilosophie („amor fati", „ego fatum", Wille zur Macht) verfolgt. In den zum Prometheus-Drama gehörigen Fragezeichen und beigefügten Notizen (HKGW I, 69-73) antizipiert Nietzsche das Kulturprogramm der Zeit der Geburt der Tragödie: „Man will wohl die Zeiten eines Aeschylos erneuen"! Und in der angeschlossenen Frage: „giebt es keine Menschen mehr, daß man wieder Titanen erscheinen lassen muß?" (HKGW I, 69) präludiert Nietzsches Konzeption des Übermenschen. ...

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Eigentlich genügt es schon, doch ich könnte nun Jahr für Jahr bis in den Herbst 1864 konsequenzenreiche Ansätze Nietzsches auflisten. Aus Zeitgründen nur noch wenige Hinweise: 7559. In „Philotas" tritt bezeichnenderweise im überlegen geführten Gespräch mit keinem geringeren als Alexander dem Großen erstmals ein Philosoph auf; er entwirft ein für Nietzsche lange gültiges Programm: „Die Weisen sind allein ganz unabhängig, Nur von sich selbst regieret. Sie sind frei" (HKGW I, 177). Am Ende seines „Pforta"-Tagebuchs setzt er als epistemologisches Katastrophenprogramm Religion, „die Grundveste alles Wissens!", ironisch gegen: „Groß ist das Gebiet des Wissens, unendlich das Forschen nach Wahrheit!" (HKGW I, 154) -

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54

Vgl.

Hans Gerald

Hödl, Nietzsches frühe Sprachkritik, Wien 1997, 97-103

„stets mein Vorhaben, ein kleines Buch zu schreiben"

343

1861. Als direkte Konfirmationsfolgen verstärkte kritische Reflexionen: noch im nämlichen Monat (in „Kindheit der Völker") Hinweis auf „für Religion [...] gefährliche Muthmaßungen" (HKGW I, 235); im Mai These des angeborenen Grundcharakters jedes Menschen, Spekulationen über Fatum und Weltprinzip ein „urbößes Etwas", „Welt [...] als Urseele", „Urgeist" im „Lebenslauf (HKGW I, 276-78); in einem fulminanten dionysischen Geheimtext vielleicht eine Selbstverfluchung eines dionysosmörderischen Christentums (HKGW I, 275f); und im „Hölderlinaufsatz" aus dem Oktober unterstellt Nietzsche Differenzen innerhalb der Theologie dem Urteil der Philosophie.55 Diese Sichtweise wird er nicht mehr ändern, nur radikalisieren. 1862. Im Frühjahr treiben „Fatum und Geschichte" samt Folgetexten Aufklärung rasant voran: die vermeintlichen Stufen der „Vermessenheit" (HKGW II, 54) enthalten Nietzsches eigenes Philosophieprogramm bis tief in die achtziger Jahre;56 die Christentumskritik antizipiert Sichtweisen des späten Nietzsche; das intendierte „System des Reellen" (HKGW II, 54) trifft die Intentionen der naturphilosophischen Spekulationen der siebziger und achtziger Jahre; die Aversion gegen „unsre ganze bisherige Philosophie" (HKGW II, 55) „alles Schleiermacher"! ist für den späten Nietzsche charakteristisch; der „große Philosoph" als „Prophet" (HKGW II, 57) schließlich tritt nicht nur in Also sprach Zarathustra auf. Eine Fluchkaskade in Fawsr-Manier57 in einer Vorstufe des Gedichts „Ermanarichs Tod" endet bereits mit „Fluch dem Glauben".58 Der späte, scheinbar so deplazierte Untertitel des Antichrist hat eine lange Vorgeschichte Kaum mehr überbietbar deutlich ist Nietzsche bereits im Herbst: zwar nicht in offiziellen Texten, sondern in privat gebliebenen „Ermanarich"-Dramenentwürfen fällt erstmals das Stichwort „Christenhaß", bezeichnenderweise zweimal als Charakterisierung der nach Nietzsches Gegenwarts-Ich gezeichneten heimlichen Hauptgestalt Bekka (HKGW, II 147, 149), der „für das Heidenthum seinem Grundchakter nach eingenommen" (HKGW, II 149) sei. Für Nietzsche sind die Würfel längst gefallen. Und dabei bleibt es, bis der Kranke nach 1891 zum frommen Kind regrediert. Schließlich 1864. Nietzsche spürt in seiner Ödipus-Pcnalyse der Ödipus-Tragik nach: „Es ist ein dämonischer Zug in diesem Eifer, der, je aufgeregter er das Wahre zu ergründen strebt, [...] in immer tiefere Irrsale hineinreißt." (HKGW, II 374) Auch dieser Ödipus ist und bleibt ein Selbstportrait Nietzsches: freilich mit dem Unterschied, daß er die Sphinx (d. h. seine immense Frage- und Problematisierungskapazität) in sich zeitweilig zu töten suchte, sie aber auch einsetzte, ermutigte, sich und sie pries. So war und blieb dieser Ödipus zwar immer auf der Suche nach Kolonos als Ort der Erlösung, um doch jeden Halt zerstören, zerdenken zu müssen: vom Christentum über die homerischen Götter, ,die Griechen', Schopenhauers Philosophie, Richard Wagners reformatorische Intentionen usw. usw. Und um im Naumburger Weingarten sowie in Weimar in der Villa Silberblick zu verdämmern? Ein Ödipus als Maske des Dionysos, dessen blutendes Haupt ein sich selbst verfluchender, verzweifelter „Mönch" schon 1861 in Händen hielt? -

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...

...

55 Vgl. Hermann Josef Schmidt, „Friedrich Nietzsche: 56 Vgl. Hermann Josef Schmidt, „Friedrich Nietzsche: 57 Johann Wolfgang Goethe, Faust I, Verse 1605 f. 58 Vgl. NaJ 11,260.

Philosophie als Tragödie", 219-21, und NaJ I, 586-600. Philosophie als Tragödie", 221-24, und NaJ II, 48-84 u. ö.

Kurt Jauslin

Hexensprache der Vernunft Bilderfluchten und Flucht der Bilder in den Kindertexten Friedrich Nietzsches

Die folgende Untersuchung handelt von einigen Metaphern hauptsächlich in Gedichten des Kindes aus den Jahren 1854 bis 1858, also der Naumburger Zeit, Texten, die vorsichtig ausgedrückt schon durch ihr äußeres Erscheinungsbild unter einen Kunstverdacht geraten, den sie weder erfüllen können noch wollen. Ich werde mich hüten, diese Texte in einen Dialog mit dem späteren Werk des Philosophen zu setzen. Obwohl ich natürlich Hermann Josef Schmidt einräume, daß dies ohne weiteres möglich ist, und zwar in nahezu jede Richtung. Genauso stimme ich selbstredend Jörgen Kjaer darin zu, daß diese Texte, eben wegen ihrer Ambivalenz, immer nur als „Teile eines polyphonen Aussagenkomplexes" zu lesen sind,' und allen Kritikern darin, daß sie literarisch vollständig redundant sind. Das verschließt sie aber nicht der Analyse. Die metaphorische Rede gibt, unabhängig von ihrer poetischen Qualität, immer Hinweise auf das Woher und Wohin. Das Kind übernimmt Bilder und Motive aus seinen Lektüren, ohne Rücksicht auf ihren ursprünglichen topologischen Zusammenhang und ohne zwischen wirklichen und fiktiven Welten streng zu unterscheiden. Gleichwohl wäre es falsch zu sagen, daß es die Bedeutung der eingeübten Metaphern nicht verstanden hätte, sondern: die Bedeutungen sind suspendiert. Das meine ich mit der Flucht der Bilder. Die Bedeutungen flottieren im Untergrund der Texte; sie stellen die Kulissen für die wechselnden Ordnungen, die ihnen die Vorstellung entwirft: das meine ich mit den Bilderfluchten, mit denen die Innenbühne der Imagination möbliert ist. Insofern zitieren die Texte auch die Arbeitsweise der großen Poesie, deren Auftritt immer daran zu erkennen ist, daß sie überkommene Bedeutungen suspendiert. Mit andern Worten: sie sind vom Interpreten vollständig ernst zu nehmen. Das hermeneutische Problem von Kindertexten besteht darin, daß sie, gemessen an den Strategien der poetischen Produktion, unreflektiert sind, daß die Zusammenhänge, die sie stiften, nicht historisch vermittelt, sondern spontan im Sinne einer privaten Mythologie gesetzt sind. Das macht die Texte hermetisch. Andererseits legt ihre offenkundige Epigonalität nahe, nach den Quellen für die kryptischen Zitate zu fragen. Die suspendierte Bedeutung wird deutlicher, wenn sie an der Quelle gemessen werden kann, die das Kind benützt hat. Man kann das an den beiden Paraphrasen erkennen, die der 13jährige zu zwei Gedichten Walthers von der Vogelweide geschrieben hat. -

-

1

Vgl. dazu: Hermann Josef Schmidt, Jeder tiefe Geist braucht die Maske'. Nietzsches Kindheit als Schlüssel zum Rätsel Nietzsche?", in: Nietzscheforschung 1, Berlin 1994,137-160. Jörgen Kjaer, „Nietzsches Naumburger Texte: synkretistischemythopoetische Theodizee oder antichristliche Theodizeekritik?", in: Nietzscheforschung2,Berlin „,

1995,341-367.

Kurt Jauslin

346

1. Unter der Linden Das eine Gedicht ist das Taglied sommerliche Liebesnacht im Gras

Walthers, ein vollkommen erotisches Gedicht, das eine besingt: am Morgen danach und mit der Stimme der Frau:

„Unter der linden

der heide, unser zweier bette was, Da mugt ir vinden schone beide gebrochen bluomen unde Gras."2 an

da

Nietzsche beginnt seine Variante ganz im Ton seines Vorbildes bis zur mittelhochdeutschen Form des Imperfekts: „Da der Sommer kommen was", und er zitiert die Naturbilder des alten Liebesgedichtes wie Versatzstücke herbei: Blumen und Gras, Wiese und Hain, den Lindenbaum und die Nachtigall, aber die ursprüngliche erotische Bedeutung ist vollständig suspendiert. Tatsächlich wird das Modell Walthers in sein Gegenteil verkehrt: Das redende Ich der Umdichtung erzählt, wie es über den Anger geht und unter dem Lindenbaum einschläft, und zwar allein (KGW 1/1,250). Anders als Nietzsches Paraphrase ist aber das Taglied kein Traumgedicht. Das Taglied des Minnesangs ist Akt der Erinnerung, Beschwörung einer in der Gegenwart weiter wirkenden Vergangenheit. Bei Walter gibt es eine einheitliche Wirklichkeit aus Vergangenheit und Gegenwart. Nietzsches Version setzt in der romantischen Tradition auf den Kontrast von Traum und Wirklichkeit. Der Traum als poetische Instanz ist zweite Wirklichkeit, die es in der Intention Walters nicht geben kann. Die Schlußpointe Nietzsches widerruft allerdings das pseudoromantische Konstrukt: der Schläfer erträumt sich keine Geschichte; er träumt nur, daß er schlafe, d. h. die Traumarbeit bringt es nicht zu einer Gegenwelt der Poesie, sondern nur zu einer Doublette der zu Beginn beschworenen und zitierten Naturwirklichkeit. Gemessen am Original stellt sich die Kopie als subtiler Akt der Vermeidung dar. Die Nachahmung des Originals führt weder zu einer neuen mimetischen Bedeutung noch zurück in eine erkennbare Wirklichkeit des jugendlichen Autors, die doch irgendwo vorhanden gewesen sein muß. Es handelt sich um Mimikry: ich glaube nämlich keine Sekunde daran, daß ihm die erotische Bedeutung des Taglieds entgangen wäre. Nicht nur, weil das bei einem fast 14jährigen schon ziemlich ausgeschlossen ist, sondern weil Kinder keine Hemmung kennen: die Geschwister Brontë haben seit ihrem 10. Lebensjahr in ihren Büchern ein vollkommen erotisiertes Universum erschaffen, in dem selbst der Herzog von Wellington zu einem Byronschen Helden und erotischen Maniak mutiert.3 Die Suspendierung der erotischen Bedeutung ist ein Akt der Vermeidung, absichtlich oder nicht, und die offenbare Bedeutungslosigkeit des Textes rührt daher, daß ein Ersatz für die verlorene Bedeutung nicht in Sicht war. Walthers „Under der linden" ist kein Traumgedicht, sondern eine Feier des Eros, der auch in der Erinnerung immer gegenwärtig bleibt. „Als ich über die Wiese kam", heißt es in der

Zit. nach: Die deutsche Literatur- Texte und Zeugnisse, Bd. I, 2: Mittelalter 2, hg. v. Helmut de Boor, München 1965, 1729. 3 Charlotte Branwell Emily Anne Brontë, Angria & Gondal, hg. v. Elsemarie Maletzke, Frankfurt a.M. 1987. 2

Hexensprache der Vernunft

347

zweiten Strophe, „war mein Liebster schon da, und wie er mich empfangen hat, darüber will ich ewig selig sein."4 Seligkeit, verheißt die ketzerische Botschaft, ist weder Traum noch himmlisches Versprechen, sondern die irdische Gewißheit der Lust. Im Gegensatz dazu ist der Traum für Waltaer eine Metapher der Vergänglichkeit, Sommnium Vitae, wie es seine Alterselegie ausspricht (ich zitiere zur Verdeutlichung die neuhochdeutsche Version von Peter Rühmkorff):

„Oweh wie sind verschwunden alle meine Jahr ist mir mein Leben erfunden oder ist es wahr? Was ich wähnte, es wäre, gab es das überhaupt, Oder hab ich geschlafen und einem Traum geglaubt?"5 Die Elegie beklagt das Verschwinden der Welt und des wird und nicht mal die Erinnerung bleibt:

eigenen Körpers, wie alles weniger

„Manche schöne Tage gehen mir noch durch den Sinn Wie ein Schlag ins Wasser sind sie dahin."

Eben diese Elegie ist das Vorbild für Nietzsches zweiten Versuch, ein Gedicht Walthers zu variieren, und wieder wird das Original ins Gegenteil verkehrt: Walthers Vanitasklage über die Vergänglichkeit des Lebens und der Welt verwandelt sich in ein Lehrgedicht über den Unterschied von Schule und Ferien. Die verschwundene Bedeutung scheint endlich durch die eigene Autobiografie ersetzt. Nietzsche zitiert den Anfang der Elegie korrekt: „O weh! s ist schon vergangen, alle meine

Zeit". Aber macht daraus ein recht reales

Klagelied über das Ende der Ferien:

„Ach könnt ich doch die Zeiten erneuen wo mein Tritt Frei

von

der Schule marter durch Busch und Wiesen

(KGW 1,1, 271)

glitt!"

Wie im Taglied die Bedeutung des Erotischen, so ist hier die Bedeutung des Elegischen suspendiert. Der Dichter beschließt, sich in das Unvermeidliche zu fügen, sich einstweilen seinen Schularbeiten zu widmen, also ganz unelegisch neu zu beginnen, bis die nächsten

Ferien kommen:

„Drum will auch ich bis wieder die schöne Zeit erscheint, Ohn' Trauer meine Arbeit thun. So hab ich's

gemeint."

Der

14jährige hat eine Elegie über seine Pflichten geschrieben, und damit dem Elegischen seinen Eros entzogen: die Pflicht wird zur Panacée gegen die Lust ernannt. Der eigentliche Skandal aber ist, daß der Junge die Schularbeiten erotisiert, wie ja tatsächlich der Protestantismus einen Eros der Arbeit entwickelt hat, der die Pflicht an die Stelle der Lust setzt. Auf den ersten Blick hat die Übersetzung der großen Elegie in die eigene kleine Realität etwas 4 5

Prosaübersetzung von mir.

Zit. nach: Peter

Rühmkorff, Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich, Reinbek 1975, 56.

Kurt Jauslin

348

anrührend Naives. Das hält aber nicht vor, die Naivität ist gespielt. Er läßt sich nämlich gern in die Schulpflicht nehmen. Der Verdacht drängt sich auf, daß dieser Junge sich klammheimlich auf die Schule freut und froh ist, der häuslichen Familie ledig zu sein. Die Schule, die einen fest in die Arme nimmt, ist vielleicht doch die bessere Mutter, und die Familie, fern davon, eine Quelle der Geborgenheit zu sein, vielmehr der Ort, wo man auf alles gefaßt sein muß. Der Vorsatz der Pflichterfüllung richtet die frei flottierenden Bilder wieder auf die einheitliche Bedeutung aus, die eine Tagebuchnotiz vom 15.8.1859 rechtfertigt:

„Man sagt gewöhnlich: Schuljahre sind schwere Jahre, ja

es

sind auch Jahre die sehr

folgenschwer für das ganze Leben sind, es sind auch Jahre die der Jugend schwer fallen, weil sich der frische Geist in enge Schranken schließen muß, aber es sind auch gerade für

solche denen die Jahre schwer fallen, oft recht leere Jahre. Deßhalb kommt es nun sehr auf die Benutzung derselben an; die Hauptregel ist daß man sich in allen Wissenschaften, Künsten, Fähigkeiten gleichmäßig ausbildet und zwar so daß Körper und Geist Hand in Hand gehen." (HKGW I, 127) Ich will den Besinnungsaufsatz zum Thema „Mens sana in corpore sano", der statt dem Tagebuch dem Turnvater Jahn gewidmet sein könnte, einmal mit dem Schulaufsatz eines zehnjährigen Autors kontrastieren, der genau zehn Jahre jünger als Nietzsche ist, aus unserer Sicht also nahezu Zeitgenosse. Dieser Zehnjährige löst die zeittypische Aufgabe, sich in die Schulzeit eines Jungen aus dem 16. Jahrhundert zu versetzen, zunächst ganz ordentlich, aber schon bald fällt er aus der Rolle und endet wie folgt:

„Es ist mir piepegal, ob Alexander ein berühmter Mann war! Piepegal ist mir das

...

Weiß

man, ob die alten Römer

überhaupt jemals existiert haben? Vielleicht ist Latein eine erfundene Sprache, und wenn es sie doch gegeben hat, sollen sie mich doch Rentner werden lassen und ihre Sprache für sich behalten! Was habe ich ihnen denn getan, daß sie mich mit ihrem Kauderwelsch martern! Kommen wir zu den Griechen Diese widerliche Sprache wird von keinem Menschen in der ganzen Welt gesprochen! Ah! Verflixt und zugenäht! ...

Verflucht noch mal, ich will Rentner werden; das ist doch Scheiße, sich die Hosen auf den Schulbänken abzuwetzen Himmel Arsch und Zwirn!"6 ...

...

Es ist keine Denunziation, wenn man feststellt, daß der Text des 10jährigen Arthur Rimbaud denn um ihn handelt es sich authentische Rede ist, die Tagebuchnotiz des kleinen Fritz dagegen fremdbestimmte. Selbst die Bewegung des schreibenden Denkens verläuft in beiden Texten entgegengesetzt: Rimbaud bedient zunächst halb widerstrebend die eingeforderte Rollenprosa, bis er sie abrupt von sich wirft. Fritz Nietzsche wappnet sich dagegen sozusagen vor jedem Satz mit den Requisiten der verordneten Sinngebung. Die Zurückweisung der Rolle durch Arthur führt zur Konstruktion eines autonomen schreibenden Ich. Die Aufrüstung der Sprache mit Sinngebungen durch Fritz dagegen zeigt einen Ich-Verlust an. Hier konstruiert sich einer als an das Fremde Verlorener. Noch einmal: Ich will den Jungen nicht nach alten Mustern als „kleinen Stockphilister" oder frömmelnden Musterknaben denunzieren. Tatsächlich vermitteln die Texte keine solchen Gewißheiten, weil ihre Bewegung vielmehr einen Verlust anzeigt, nämlich den Verlust der -

-

6

Arthur Rimbaud, Das poetische Werk, München 1979/80, Neudruck Frankfurt a.M. o.J., 479.

Hexensprache der Vernunft

349

Kindheit. Der „autoritäre Charakter", der die diskursive Prosasprache prägt, weist daraufhin, daß die seit dem Tod des Vaters vakante Überich-Position neu besetzt wurde: aus der pädagogischen Maschine von Pforta erhob sich der vertraute Predigerton. Die frühen pseudopoetischen Texte dagegen wehren sich gegen die moralische Aufrüstung des Kindes, indem sie die suspendierten Sinngebungen nicht ersetzen. Das in der poetischen Form wirkende Unbewußte hebelt die Rationalisierungen aus. Die Texte gewinnen Authentizität daraus, daß sie das Anlegen der Rüstung selbst zum Thema machen. Ihre verborgene Wahrheit liegt nicht im Sinngewinn, sondern im Verbergen des Verlustes. Das erotische Ich Walthers von der Vogelweide ließ sich nur dadurch dekonstruieren, daß es gleichsam Wort für Wort umkostümiert wurde. Wir sind Zeugen eines Kostümwechsels auf offener Bühne. Denn in der Tat gelingt es dem kleinen Poeten ja gerade nicht, die von Walther entliehenen Topoi wieder mit Sinn zu erfüllen. Sie bleiben leer. Das gilt auch für die frühen Versuche, die antike Mythologie neu zu erzählen. Sie erfinden dem Mythos keine sinnvolle Ordnung, sondern Fritz nutzt die Versatzstücke der Mythologie für Maskeraden und Scharaden und projiziert, wie u. a. Jörgen Kjaer gezeigt hat,7 problemlos die griechische über die christliche Bilderwelt. Die Dekonstruktion des überlieferten Sinnes läßt sich am besten an einzelnen Topoi beobachten. Sie halten einen historischen Vorrat an Sinngebungen vor, die sich gleichsam präparativ isolieren lassen, ohne daß antithetische Bedeutungen verschwinden müssen. Ich werde versuchen, das Motiv anhand dreier Bildkomplexe aus den Texten des Jungen näher zu beschreiben: dem Blitzschlag, dem Schiffbruch und dem Festungsbau. In allen drei Fällen lassen sich die Bilder hinreichend genau definieren, so daß die Gefahr des bloßen Interpretierens minimiert ist. Alle drei Bildkomplexe funktionieren aber auch allegorisch, d. h. sie ändern bei jeder Drehung der Figur ihre Bedeutung. Sie sind also für die Konstruktion wechselnder Sinngebungen, bzw. deren Dekonstruktion, offen. Im folgenden kommt es mir nicht auf Vollständigkeit an, sondern darauf, den Drehpunkt der Metapher zu fixieren.

2. Der Blitz Daß im Gewitter die Stimme des HERRN spreche, wurde dem Jungen sowohl von der antiken wie von der christlichen Mythologie versichert. 1856 zitiert er in einer „Achilleis" eine pseudoantike Version:

„Da donnert es laut es glänzet der Achter vom Scheine Des mächtigen Blitzstrahls, von Juppites rechte geschleudert Da wogte das Meer denn die Götter entbrennen Vom

heftigen Kampfan einander [...]." (KGW 1/1, 161)

an dieser Stelle bleibt der Jungautor merkwürdig diffus, was die Bedeutung der Metabetrifft: Zwischen Blitzstrahl und Götterkampf wird z. B. kein deutlicher Kausalzupher sammenhang konstruiert, und klar ist eigentlich nur, daß Jupiter der Herr der Blitze ist, der

Auch

7

Jörgen Kjaer, „Nietzsches Naumburger Texte", 349

Kurt Jauslin

350

sich im Gewitter offenbart, nicht anders als der Gott der Bibel, der unter dem Gewitters den eigenen Lebenslauf verheert hat:

Topos

des

„ungetrübt war unser Leben dahin geflossen, wie ein heller Sommertag; aber da thürmten sich schwarze Wolken auf, Blitze zuckten und verderbend fallen die Schläge des Himmels nieder."

(KGW 1/1,285)

Die Reminiszenz aus der autobiografischen Skizze des 14jährigen zitiert unverhohlen den alttestamentarischen Rache- und Mördergott des Deuteronomium, der unberechenbar zuschlägt. Im selben Text rückt er das Gewitter aber auch in einen pantheistischen Zusammenhang zwischen der Natur und der Gegenwart Gottes:

„So hat auf mich stets ein Gewitter den schönsten Eindruck gemacht; der weithin krachende Donner

u.

die hell aufzuckenden Blitze vermehrten

nur

meine Ehrfurcht gegen Gott."

(KGW 1/1,288). Das Modell des Gewitters als Théogonie hat seinen biblischen Ursprung im Gott des Bundes, der sich im 2. Buch Moses seinem Volk Israel zum ersten Mal zeigt: „Und es geschah am dritten Tag, als es Morgen wurde, da brachen Donner und Blitze los, und eine schwere Wolke lagerte auf dem Berg [...] weil der Herr im Feuer auf ihn herabkam". (19,16) Strafe und Offenbarung treten im allegorischen Modell als zwei Gesichter derselben Figur auf. Sie sind gleichermaßen Théogonie, wie der 14jährige mustergültig in einem Gedichtfragment formuliert:

„Im Blühen und verblühn er vieles lehret

In Blitzesflammen er den Sünder schrecket Das Donnerrollen (seinen) Ruhm vermehret."

(KGW 1/1,239)

Den Blitz als Modellfall der benannten Gedicht:

Théogonie

zitiert noch Gottfried Benn in seinem danach

„Naht er sich in Gewittern Als der die Felsen verschiebt Und von den Bösen den Bittern die Kühe den Priestern gibt." Benn

allerdings hebt die Allegorie auf, da sie nur Illusion sei, die das Leiden verschleiert:

„Wie mußten sie alle leiden um so zum

Traum

zu

fliehn."8

Für Fritz Nietzsche war eine solche Demaskierung der Bilder nicht denkbar. Unverkennbar ist freilich auch, daß ihm die komplette Reproduktion der angelernten Muster mißlingt. In der 8 Gottfried Benn,

„Theogonien",

in: Gesammelte

Werke, Bd. 3, hg.

v.

Dieter Wellershoff, München 1960, 68.

Hexensprache der Vernunft

351

Entfremdung des Textes von den biblischen Originalen wird, ähnlich wie bei der Dekonstruktion der Bedeutungen in den beiden Varianten zu Walther von der Vogelweide die Anstrengung der Maskerade sichtbar, die zwischen changierenden Bedeutungen nicht zu unterscheiden vermag. Eines kann offenbar in keinem Fall angehen: daß man nämlich das Gewitter einfach als ein physikalisches Naturereignis behandelt, dessen Entstehung spätestens seit der Entdeckung der Elektrizität vollkommen einleuchtend zu erklären ist. Vergeblich hat Lichtenberg in seinem Aufsatz über Gewitterfurcht den Göttingern vorgerechnet, daß die Zahl der vom Blitz Erschlagenen, gemessen allein an der Zahl der Kinder, die in ihrer Stadt in einem Winter an der Cholera sterben, eine quantité négligeable bleibt, daß also der Blitzschlag als göttliche Strafaktion, schon rein statistisch betrachtet, eine unsinnige Konstruktion ist.9 Selbstverständlich hat ihm niemand geglaubt, zumal der Professor selbst lebenslang und ungesund von der Konstruktion von Blitzableitern fasziniert war. Der Blitzschlag liefert der protestantischen Ethik die urtümliche Demonstration von Schuld und Strafe als Ursache und Wirkung und damit ein schlagendes Exempel dafür, daß Gott jederzeit alles sieht und jede Unbotmäßigkeit unnachsichtig ahndet. Heinrich von Kleist hat, gänzlich unberührt von Lichtenberg, die Kausalität katechetisch knapp formuliert: „Dem Kapitän v. Bürger, vom ehemaligen Regiment Tauentzien, sagte der, auf der neuen Promenade erschlagene Arbeitsmann Brietz: der Baum, unter dem sie beide stünden, wäre auch wohl zu klein für zwei, und er könnte sich wohl unter einen anderen stellen. Der Kapitän Bürger, der ein stiller und bescheidener Mann ist, stellte sich wirklich unter einen andern: worauf der c. Brietz unmittelbar darauf vom Blitz getroffen und getötet ward."10 Kleists Notiz aus seinen Berliner Abendblättern schlägt sämtliche biblischen Vorbilder an Prägnanz, da er dem Herrn auch noch die Gründe für sein Handeln liefert, nach denen jener gar nicht verlangt hatte. Die Nemesis nämlich ahndet unverzüglich das Vergehen, daß der Prolet Brietz seinen Baum nicht mit einem preußischen Edelmann teilen wollte. Der Kapitän Bürger ist schon wegen seiner Zugehörigkeit zum ehemaligen Regiment Tauentzien eine moralische Instanz, während sein Kontrahent gleich als „der erschlagene Arbeitsmann Brietz" eingeführt wird, für den also das Erschlagenwerden die eigentlich angemessene Existenzform ist. Das ist wahrhaft calvinistische Ethik. Dieser Herr der Heerscharen, der im Gedichtfragment von 1858 „In Blitzesflammen [...] den Sünder schrecket", kommt erstaunlicherweise im Gewittergedicht des 12jährigen Fritz von 1856 nicht vor. Dort fungiert er als Beschützerinstanz gegen die unberechenbare Natur:

„Durch die schwarze dunkle Nacht Fahren Blitze auf und nieder Und nur der der oben wacht Der beschützt der Menschen Güter."

(KGWI/1, 123)

9

Georg Christoph Lichtenberg, „Über Gewitterfurcht und Blitzableitung", in: Schriften und Briefe, hg. v. Wolfgang

Promies, 3. Band, München 1972, 130-137. 10 Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, hg.

v.

Helmut Sembdner, 2.

Bd., 2. Aufl., München 1961,262.

Kurt Jauslin

352

Natürlich ist auch diese Formel nur ein Topos, nämlich der vom Bund mit der Gottheit, die ihre schützende Hand über die ihr ergebene Gemeinde hält: in der biblischen Tradition also die Version des Exodus, gegen die des Deuteronomium. Allerdings scheint das frühe Gewitter-Gedicht dem Anspruch der Religion irgendwie nicht gewachsen zu sein. Die schützende Hand nützt nämlich nichts, weil sich der Blitz gar nicht um sie kümmert:

„Bald stehn von dem Hause da Nur noch Kohlen und auch Asche Der Brandstätte etwas nah Steht die Bürgerwache da. Habt Erbarmen Für die Armen Welche durch die Feuersnoth Habn verlor'n ihr täglich Brod. Lasset milde Gaben fliesen Auf die, die des Brodes missen Denn sie brauchens für den Winter Die nun armen Väter und Kinder."

(KGWI/1, 123/124) Noch einmal: die minore poetische Qualität ist nicht der Bedeutungsträger, sondern die Dekonstruktion der tradierten Sinngebungen bestimmt die Bilderflucht. Die ,Botschaft' des Gedichtes ist tatsächlich überraschend klar: daß nämlich die Menschen einander gegen das Unglück beistehen sollen, weil sie eine andere Hilfe nicht zu erwarten haben. Wenn diese Folgerung aus der bürgerlichen Moral naiv ist, so rechtfertigt die Naivität der Wahrheit auch die Naivität der Sprache, und das Gedicht wäre eine stimmige sprachliche Äußerung. Gleichwohl muß dem Autor aufgefallen sein, daß das Produkt nicht so recht im Einklang mit der Religion seiner Väter war. Zwei Jahre später, 1858, schreibt der 14jährige eine Variante, in der nicht nur die Sprache geglättet ist, sondern auch die Theodizee richtig gestellt wird, dahingehend, daß nicht der Nächste, sondern der Höchste die für das Erbarmen zuständige Instanz ist. Das neue Gewitter-Gedicht findet für den himmlischen Zerstörungsakt eine Formel, die der Junge offenbar für korrekter hält:

„Was bleibet uns Armen Die Flamme verzehret

Das, was uns ernähret O Himmel halt ein Uns schrecklich zu sein Erbarmen! Erbarmen!"

(KGW 1/1,221) Korrekt wird endlich Gott als zuständiger Ansprechpartner benannt. Zugleich aber stellt sich die Frage nach der Zuständigkeit des Gebets gegenüber einer Schreckensherrschaft, in der sich

Hexensprache der Vernunft

353

der Allmächtige als der unzurechnungsfähige Gott des Deuteronomium erweist. Ohne sich dessen bewußt zu werden, findet Fritz Nietzsche für sein Problem, den Zusammenhang zwischen Glaube und Erfüllung, Schuld und Strafe zu ordnen, in beiden Gewitter-Gedichten schon jene epistemologische Ordnung, die Arno Schmidt ihr in einer Anekdote gegeben hat.

„Erzählen? Da die verwitwete Frau Geheimrat eben das Mirakel berichtet hatte, wie bei

einem Großfeuer in Neuenkirchen das Exemplar von des seligen Arndt ,Paradiesgärtlein' anschließend unversehrt im glimmenden Schutt aufgefunden worden war, steuerte ich diese Anekdote bei: In einem mecklenburgischen Dorf (flugs erfand ich Namen und Daten) hatte ein alter frommer Bauer seine Familie beim Gewitter zu sich in sein Stübchen versammelt. Schon zwei Bußlieder waren zu Ende gesungen; aber dem Alten wurde es immer unheimlicher in der engen Kammer. Er stürzte hinaus ins Freie und wurde unverzüglich vom Blitz getroffen!"11 -

Die Variante Arno Schmidts erläutert, warum die sprachlichen Ordnungsbemühungen des Jungen ständig in epistemologischen Katastrophen enden. Der Grund liegt darin, daß er seine Ordnung von einer Instanz abhängig macht, über die er außer vagen Vermutungen nichts weiß im Gegensatz zu Kleist, der sich über die Beweggründe Gottes vollkommen im Klaren ist. Wie Kleist aber will auch Fritz ihn aus seinen Werken erkennen. Weil eben diese Werke ihm aber einen offensichtlich gespaltenen Gott vorführen, verfällt er unwillentlich in das Modell Arno Schmidts, dessen bewußte Ironie gegenüber Kleists unfreiwilliger Komik ihm natürlich verborgen bleibt. Meine Analyse hat Nietzsches Scheitern am Gewitter-Topos als Dekonstruktion eines tradierten Sinn-Zusammenhanges erklärt, der durch keinen andern zu ersetzen war. Der Jungautor selbst war sich über das, was in seinen Texten vorging, alles andere als im klaren. Trotzdem würde ich eine naheliegende Folgerung für unzulässig halten: daß er nämlich den Gewitter-Topos schlicht nicht verstanden habe. Dagegen spricht nicht nur seine unbestreitbare Intelligenz, sondern auch das Ausmaß an religiöser Unterweisung, die ihm zuteil wurde. Die anrührende Bemühung des Poeten, der Geschichte einen Sinn zu finden, läßt eher auf eine (unbewußte) Weigerung schließen, etwas zu verstehen, was man besser nicht versteht. Der Zusammenhang zwischen dem Blitz und der Gegenwart Gottes gehörte schließlich zu seinen frühesten Lernerfahrungen. Denn 1849 berichtet seine Mutter, wie der Viereinhalbjährige sie während er schweren Krankheit des Vaters zu trösten sucht: „warte nur meine Mamma wenn es nur erst anfangt zu blitzen dann wird uns schon der liebe Gott eher hören."12 Hermann Josef Schmidt hat für das Zitat gleich zwei Briefbelege Franziska Nietzsches gefunden, die nahezu übereinstimmen. Die Authentizität ist demnach ziemlich gesichert. Franziska Nietzsche wird sich den Ausspruch schon deswegen gemerkt haben, weil sie ihn nicht verstanden haben kann: zwar weist das Kind auf die Gegenwart Gottes im Gewitter hin, zweifelhaft bleibt aber, ob es sich um den Richtergott handelt oder den Erlösergott und worin die Erlösung bestehen soll. Einerseits nämlich ist der Blitz das Signal zum Jüngsten Gericht nicht nur in der apokryphen Offenbarung des Petrus, in der „die furchtbaren Blitze des Himmels [...] die Welt erschrecken",13 sondern auch in den Worten mit denen Jesus das Ge-

11 Arno Schmidt, „Todesstrafe bei Sonnenschein", in: Bargfelder Ausgabe I, 4, Zürich 1988, 57 f. 12 Zit. nach: Hermann Josef Schmidt, „Friedrich Nietzsche aus Röcken", in: Nietzscheforschung2, Berlin 13 Die andere Bibel, ed. v. Alfred Pfabigan, Frankfurt a. M. 1991, Das Neue Testament, 145.

1995, 56.

354

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rieht verkündet: „Denn gleich wie der Blitz ausgehet vom Anfang und scheinet bis zum Niedergang; also wird auch sein die Zukunft des Menschensohnes." (Math. 24.27) Andererseits berichtet derselbe Autor des Matthäus-Evangeliums über den Engel des Herrn der Auferstehung, der den Stein vom Grab wälzt: „Und seine Gestalt war wie der Blitz, und sein

Kleid weiß als der Schnee." (Math. 28.2-3). Der Topos ist also nicht nur ambivalent, sondern er entzieht sich dem Entweder-Oder der pädagogischen Weltordnung. Im Blitz materialisiert sich die Unmittelbarkeit, die dem Kind ausgetrieben worden ist: jene Unmittelbarkeit, die dem Schreiben des kleinen Arthur Rimbaud zwanglos zukommt, während sie in keinem Text des kleinen Fritz und übrigens auch nicht des großen Friedrich Nietzsche! zu finden ist. Man könnte sogar sagen, daß Nietzsche die ungeheure Anstrengung seiner philosophischen Konstruktion nur unternommen habe, um aus der fremdbestimmten Philologie wieder zur Unmittelbarkeit vor- (oder zurück-) zustoßen. Die Weiterentwicklung der Gewitterallegorie aus der kindlichen Unmittelbarkeit hinaus zeigt hinreichend, daß die Erfahrung der Unmittelbarkeit in der Überblendung von Vatergott und Gottvater, von Strafe und Erlösung, als Schuld ausgelegt wird, d. h. aber, daß die kindliche Erfahrung der Unmittelbarkeit schon der Blitz gewesen ist, der sofort durch den Donner der Schuldzuweisung ausgelöscht wird. Oder mit den Worten Jesu im Anschluß an das Gewitterbild zum Jüngsten Gericht: „Wo aber ein Aas ist, sammeln sich die Adler." (Matth. 24.28) Dem Terror der pädagogischen Weltordnung begegnet der Junge darin ist Hermann Josef Schmidt zuzustimmen14 dadurch, daß er die gesetzten Vorbilder parodiert. Parodie sind die Varianten zu Walther von der Vogelweide, und es handelt sich um Parodie, wenn er die Bedeutungen tradierter Topoi, wie Blitzschlag und Schiffbruch, nicht übernimmt, sondern diese Bedeutungen aussetzt oder exakter dekonstruiert: damit meine ich kein Interpretationsverfahren, sondern eine fast körperlich erfahrbare Ablösung von Sinnschichten aus den Vorbild-Texten. Fritz hat die aus der christlichen Überlieferung auf ihn überkommenen eindeutigen Lesarten der Topoi entfernt. Damit ist auch allen Versuchen, die Bilder als Anleitung zu moralischen Handlungsweisen zu lesen, die Grundlage entzogen. Anders als Hermann Josef Schmidt finde ich aber keinen Hinweis dahingehend, daß er das aufgegebene Erklärsystem, das in seinem Ursprung ein klerikal simplifiziertes Christentum war, durch ein anderes wiederum geschlossenes Erklärsystem ersetzt hätte. Die Dekonstruktion des Sinnes ist durchaus total. Die von den tradierten Bedeutungen befreiten Bilder verweigern sich einer erneuten diskursiven Vereinnahmung. Sie können, nachdem sie den von der Vaterwelt zugewiesenen Sinn verloren haben, nicht neu rationalisiert werden. Denn im Diskursiven steht dem Jungen das zeigen die Versuche in seinen Aufsätzen ganz deutlich noch kein alternatives Erklärmodell zur Verfügung. Die poetischen Texte sind, trotz ihrer minoren Qualität, den theoretischen in diesem Punkt weit überlegen, so wie die wortlose Bilderwelt der Zeichnungen ihrerseits allen Texten überlegen ist. Poetische Texte sind nicht durch ein diskursives Erklärsystem einfach in eine andere Sprache zu übersetzen. Sie bleiben, unabhängig von ihrer poetischen Qualität, darin autonom, daß sie das Rätsel ihrer Existenz ungelöst lassen. Die poetische Bilderwelt ist nicht mehr sie selbst, wenn man versucht, sie diskursiv aufzulösen. Mit andern Worten: insofern ich an der Eigenwirklichkeit der poetischen Texte festhalte, kann ich nicht behaupten, Fritz habe in ihnen -

-

-

-

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14 Hermann Josef Schmidt, .„dergleichen drechselt man als Gymnasiast auf Bestellung.' Nietzsches Naumburger Texte, eine Replik auf Jörgen Kjaers .andere Interpretation' nebst einigen prinzipiellen Anmerkungen", in: Nietzscheforschung 2, Berlin 1995, 369-380.

Hexensprache der Vernunft

355

bestimmte Problemkonstellationen konsequent durchgespielt. Sie wären dann auch verschwunden. Das Poetische und das Diskursive sind nicht Ausdrucksformen für ein und dasselbe, sondern es handelt sich um durchaus Verschiedenes. Es geht also auch nicht darum, ob der Junge bewußt oder unbewußt gehandelt hat eine Frage, die ohnehin nicht zu entscheiden ist -, sondern darum, daß er ein bestimmtes Medium gewählt hat, das ein anderes ausschließt. Darin liegt ein Stück Vermeidungsstrategie: Der poetische Text enthebt ihn nämlich von der Verpflichtung, sich explizit für oder gegen die mächtige Vaterwelt zu entscheiden. Schließlich könnte ja auch in dem, was aus emotionalen Gründen abgewehrt werden muß, ein Grund oder vielleicht sogar ein Abgrund von Wahrheit enthalten sein. Die Hexensprache der Bilder eröffnet die Möglichkeit, die für unvermeidlich gehaltene Antinomie zwischen Herrensprache und Sklavensprache zu umgehen. Zwar verdeutlichen die Texte, daß die Christlichkeit in schwer überbrückbare Widersprüche zu der eigenen kindlichen Erfahrungswelt verstrickt ist, aber die autoritäre Prägung durch den Vatergott ließ sich doch nicht einfach absprengen. Der Junge hat, um überhaupt zu überleben, die Schutzschicht des Wohlverhaltens gebraucht; er hat, um als er selbst zu überleben, die Schutzschicht einfach durchlöchert und schaut nun einigermaßen fasziniert in die Unterwelt der brodelnden Bilder. Daß die Griechen ihm gegen die christliche Lesart dieser Bilder eine Alternative geboten haben, will ich nicht abstreiten. Allerdings scheint es mir, daß sich zu diesem frühen Zeitpunkt die Mythologien noch überlappen. Die Bilder sind ihm noch nicht durch die Zuweisung alternativer Bedeutungen differenziert: er wird noch nicht Dionysos gegen den Gekreuzigten setzen können. -

3. Nach dem Schiffbruch Mehr noch als das Gewitter hat den jungen Autor der Topos vom Schiffbruch fasziniert. Kein Wunder: während das Gewitter immer auf die disziplinierende Schulderfahrung verweist, erzählen die Schiffbrüche Geschichten von der Seefahrt, die gerade wegen der mit ihnen verbundenen Gefahren das Versprechen von Freiheit und Unmittelbarkeit vorhalten. Schon die Bücherliste des 11jährigen nennt „Abentheuerliche Reisen zu See und Lande" (KGW 1/1, 111). Und man ist ihm irgendwie fast dankbar, daß inmitten des klassischen Bildungsschuttes, den er in einem jedem Schulzwang vorauseilendem Gehorsam um sich aufhäuft, doch noch die wilde Blume der Kolportage ans Licht dringen darf. Die Faszination ist beträchtlich, wie allein die große Zahl der Seefahrten und Schiffbrüche in den Gedichten ab 1856 belegt. Tatsächlich steht der erste genuin philosophische und epistemologisch einwandfreie Satz in einem Gedicht des 12jährigen; er lautet: „Schiffe müssen untergehn" (KGW 1/1, 120). Dieser Satz ist sowohl lebenspraktisch wie metaphorisch völlig korrekt: die grundsätzliche Endlichkeit alles Bestehenden ist die ökonomische Grundlage der Seefahrt und die metaphorische Grundlage für den Topos ,Seefahrt als Lebensbahn'. Hans Blumenberg hat die von Fritz angedeutete Epistemologie des Schiffbruchs diskursiv entfaltet: „Der Schiffbruch ist [...] so etwas wie die ,legitime' Konsequenz der Seefahrt, der glücklich erreichte Hafen oder die heitere Meeresstille nur der trügerische Aspekt einer so tiefen Fragwürdigkeit."15 Blumenberg beruft sich auf den Ausspruch des Zenon von Kiton, 15 Hans

Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a.M. 1979,

12.

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Diogenes Laertius überliefert ist: „Erst als Schiffbrüchiger bin ich glücklich zur See gefahren."16 In der Antike findet er auch den Topos von der Entdeckung der Welt durch den Schiffbruch. Der sogenannte „Schiffbruch des Artistipp" konstruiert bereits eine Formel der Aufklärung: Der nach dem Schiffbruch gestrandete Aristipp findet geometrische Figuren vor, die in den Sand gezeichnet sind, und damit eine gemeinsame Sprache der Philosophie. Ich könnte also jetzt unvermittelt den Absprung probieren von dem kindlichen Apriori in die spätere Philosophie, etwa in den Abschnitt „Im Horizont des Unendlichen" der Fröhlichen Wissenschaft, wo der Satz steht: „Und es gibt kein ,Land' mehr", oder in die SchiffbruchMetapher, die Zarathustra in dem Abschnitt „Vom Getümmel" entwickelt. Ich verzichte darauf nicht nur, weil Blumenberg die Schiffbruch-Philosophie Nietzsches schon entfaltet hat, sonder im

dern vor allem aus Gründen der oben skizzierten Enthaltsamkeit, und um nicht einen unmittelbaren Zusammenhang vorzutäuschen, den es nicht geben kann. In dem Gedichtfragment „Rettung" von 1856 sind, nicht anders als bei den Notfällen durch Blitzschlag, die bekannten metaphorischen Bedeutungen suspendiert. Das Gedicht folgt Blumenbergs Topos vom „Schiffbruch mit Zuschauer"; es erzählt, wie Boote hinausfahren und die Schiffbrüchigen retten. Jedoch ist die metaphysische Ausgangsformel merkwürdig ins Assekuranzhafte gewendet:

„Schiffe müssen untergehn

Zwar durch Pulver und durch Feuer Solcher Unfall zahlt sich theuer."

(KGWI/1, 120) Beschwörung elementarer Gewalten beruft sich nicht auf den allerhöchsten Weltenlenker. Metaphysische ist nur als Parodie einer ökonomischen Wirklichkeit erkennbar. Der Jungpoet geriert sich als Versicherungsvertreter und Begründer des Seenotrettungsdienstes, der wie Die

Das

die Feuerwehr im Gewitter die Stelle der rettenden Gottheit besetzt hält, denn: „Alle die gerettet waren" sind dies „Durch den Edelmuth der Schaaren". Die Dekonstruktion der in der Schiffbruch-Metapher enthaltenen Sinnschichten wird noch deutlicher in dem Gedicht „Meeres Sturm", übrigens das zweite Gedicht der ersten Sammlung, ein Hinweis, wie wichtig dem Jungen das Seefahrt-Motiv gewesen ist. Das Gedicht will weder den Schiffbruch noch den rettenden Hafen auslassen, findet aber keinen Kausalzusammenhang zwischen beiden. Die Rettung erweist sich als paradox: das Schiff muß erst untergehen, bevor es den Hafen erreichen kann:

„Jetzt erfaßt es der Wogen mächtig(er) Schwall, Sie werfen es gegen den Felsenwall Wo es zerschellte die Mannschaft verlohrn Solch' Schiff, das Unglück sich auserkor'n.

Kehrt nun der heitre Himmel wieder So kommt die liebe Sonne nieder Beleuchtet nun in goldner Pracht Das Meer das wüthete und kracht.

16 Ebd., 14.

Hexensprache der Vernunft

357

Dann ist die alte Ruh zurückgekehrt, Und niemand hat es nun verwehrt Wenns Schifflein von der Meeresbahn Zurückkehrt in den Hafendamm."

(KGWI/1, 117) Charakteristisches Merkmal dieses Gedichtes ist der unvermittelte Tempuswechsel. Der chaotische Umgang des Poeten mit den Erzählzeiten überschreitet das mögliche Ausmaß sprachlicher Hilflosigkeit bei weitem. Er ist Hinweis darauf, daß ihm tatsächlich die verschiedenen Vergangenheiten unsortiert in die Gegenwart münden. Mit andern Worten: er ist auf ein unverständliches metaphyisches Paradoxon gestoßen, das ihm das Kontinuum des Erzählens ruiniert. Kindergeschichten sind nur in den Rekonstruktionen der Erwachsenen gefällig und geheuer. Echte Kindererfindungen behaupten dagegen das Elementarrecht der Phantasie auf die Gegenwart der Extreme. Wenn Fritz Materialien aus frühen Leseerfahrungen umsetzt, löst er sie auch aus der Ordnung der alten Geschichten. Der Urstoff der Bilder bricht sich Bahn, und es entstehen die charakteristischen Bruchstellen, die meist als Fehlleistung des Kindes interpretiert werden. Es sollte aber klar sein, daß gerade darin, und nicht in der angelernten Reproduktion der Ordnungen, die ursprüngliche Kreativität ans Licht tritt. Die Bedeutungen der Schiffbruchmetapher, über die der Junge nichts genaues weiß, diffundieren in den Text. Der Zusammenhang zwischen Schiffbruch und Hafen gehört zu den Topoi, in denen sich frühzeitig die Dialektik der Aufklärung abgebildet hat. Die Aufklärung erkannte in der Ausfahrt zu neuen Ufern das Prinzip des Fortschritts und setzte damit Montaignes Formel vom „allgemeinen Schiffbruch der Welt" außer Kraft. Der Schiffbruch wurde von der Regel zum kalkulierten Ausnahmefall, der technisch und durch humanes Verhalten beherrschbar zu machen war. „Der Hafen", so die Erläuterung Hans Blumenbergs, „ist keine Alternative zum Schiffbruch; er ist der Ort des versäumten Lebensglücks."17 Der Untergang der französischen Fregatte „Medusa" hat dieser Vorstellung einen entscheidenden Stoß versetzt: auf dem Floß, mit dem die Überlebenden durch die Wasserwüste irrten, regierten nicht Besonnenheit und Humanität, sondern Wahnsinn und Kannibalismus. Die Nachtseite der Aufklärung erwies sich in den Grenzen des Fortschritts und im Verlust der Humanität als wirkliche Wirklichkeit. Théodore Géricault hat mit seinem „Floß der Medusa" ein Gegenbild zu Delacroix Revolutionsbild „Die Freiheit führt das Volk" gemalt: der Fetzen am Mast, an den ein Verzweifelter sich klammert, ist an die Stelle der nackten Frau mit der wehenden Tricolore getreten. Das neue Paradigma des Schiffbruchs ist Caspar David Friedrichs „gescheiterte Hoffnung": ein Traum aus Licht, Himmel und Eis, aus dem der Mensch verschwunden ist. Erst die Fortschritte der Küstensicherung und die Mechanisierung der Seefahrt schienen die Beherrschung des Schiffbruchs in greifbare Nähe zu rücken, so daß er sogar zum Fanal der Rettung werden konnte. Fontanes John Maynard rettet seine Passagiere indem er das brennende Schiff zum Scheitern bringt:

17

Ebd., 35.

Kurt Jauslin

358

„Und in die Brandung was Klippe was Stein

jagt er die Schwalbe mitten hinein."18

Auf den Steuermann kommt es an, der die Signale richtig weiß. Das erklärt auch Fritz in einem weiteren Gedicht:

zu

lesen und danach

zu

handeln

„Auf dem Meere segeln Schiffe

Wissen wohl die Felsenriffe Da der Leuchtturm nah Auf dem Schiffe sitzt ein Mann Der s ganz prächtig kann Vor dem Steuer da.

Aber wenn der Morgen graut Nach dem Hafen man umschaut Da des Leuchtturms Schein Mit dem hellen Tag verschwindet Und das Schiff den Hafen findet Und jetzt fährt es ein."

(KGWI/1, 148)

Unverkennbar ist in diesem Gedicht des immer noch 12jährigen Ordnung eingekehrt, die sich nicht zuletzt darin äußert, daß der Tempuswechsel aufgegeben ist: alles ist Gegenwart. Und zwar die immerwährende Gegenwart des Steuermannes, den Fontane in einer fast schon blasphemischen Weise identifiziert hat:

„John Maynard war unser Steuermann Aus hielt er bis er das Ufer gewann Er hat uns gerettet, er trägt die Krön, Er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn." Die Rettung aus dem Schiffbruch als Heilsgeschichte, Christus, der am Steuer steht und die Passagiere des Weltenschiffs sicher ans Ufer bringt durch seinen Opfertod unter der Dornenkrone. Fontane verknüpft die christliche Ikonologie mit der des technischen Fortschritts zu einer neuen Heilsgeschichte der bürgerlichen Selbstgewißheit: Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott. Der freilich ist aus dem Zentrum der bürgerlichen Ideologie gerückt und von einer direkt eingreifenden zu einer bloßen Begründungsinstanz geworden. Bis ein weiterer Schiffbruch den Glauben an den Sieg der Technik über das Elementare relativierte: beim Untergang der Titanic spielte die Bordkapelle, glaubt man der Überlieferung, wieder den alten Choral, der

die Distanzen aufheben will: „Näher mein Gott zu Dir." Der kleine Fritz Nietzsche ist in seinem Gedicht gewiß weit entfernt von der pointierten Steuerung der Projektionen, wie sie Fontane vornimmt. Den himmlischen Steuermann, der das Schiff sicher durch die Nacht und um die Klippen lenkt, bis es den hellen Tag und mit ihm den Hafen gewinnt, wird man allerdings kaum eskapieren können. Im 7. Gedicht aus dem 18 Theodor Fontane, Werke, Schriften und Briefe I, 6, 2. Aufl., München

1978, 287.

Hexensprache der Vernunft

359

gleichen Jahr nämlich führt er die Rettung aus dem Schiffbruch direkt auf den Eingriff des Weltenlenkers zurück:

„Zum Glücke kommt ein Schiff gefahren Bei dem die Leute in Sicherheit waren Doch nachher dankten alle Gott Der sie errettete vom Wassertod."

(KGWI/1, 122) D. h. es wird sozusagen der Gegenchoral zu dem der Titanic zitiert: „Nun danket alle Gott", der die unerwünschte Annäherung an seine ewige Gegenwart noch einmal gnädig verschoben hat. Vorsichtig ausgedrückt, wird man feststellen dürfen, daß die Schiffbruch-Metapher bei Fritz Nietzsche mehrfach kodiert ist, sowohl nach ihren Ursprüngen wie in ihren Folgen. Gilles Deleuze hat zwar Nietzsches Philosophieren mit dem Aufbruch der Schiffbrüchigen auf dem Floß der Medusa verglichen, jenem Schiffbruch, der die Nachtseite der Aufklärung in den Grenzen des Fortschritts und im Verlust der Humanität vor Augen geführt hatte: als ihre tatsächliche Wirklichkeit. Deleuze hat zugleich das Scheitern Nietzsches in der Lebenswelt als einen insgeheim gewollten Schiffbruch beschrieben, als ultimative Selbstbestrafung: „Erfolg ist gut, Scheitern ist besser."19 Nach dieser Lesart hätte das schuldbeladene Kind den Philosophen schon vor seinem Anfang besiegt. Liest man die Metapher aber im alternativen Code nach dem Muster des glücklich überstandenen Schiffbruchs, so hätte das Kind den Kampf in einem völlig andern Sinn gewonnen. Der Schiffbruch ist, wie bereits die antike Erzählung vom Schiffbruch des Aristipp belegt, nicht nur der Topos vom Scheitern menschlichen Strebens und vom Untergang seiner Welt und damit eine Probe der Ataraxia, sondern auch von der Gründung einer neuen Welt, durch jenen, der sich aus dem Schiffbruch retten kann. Der Schiffbruch ist der Beginn der Robinsonade. Der Junge hat sie in Gedichtform formuliert: „Cecrops. 1500. Die Sage von Cecrops und der Gründ(ung) Athens". Der Schiffbrüchige, der darin geschildert wird, macht sich daran, aus dem Nichts eine neue Welt zu konstruieren:

„Und traurig trat er jetzt heraus

Empfing ihn doch kein Vaterhaus

Er nimt deshalb die Hölzer all Die kommen mit dem Wasserschwall Er baut sich eine kleine Wehr Für wilde Tiere und das Meer Die Leute die das Land bewohnen In guter Weise noch verschonen Nur einer ihm berauben wollt Bekam dafür einen derben Sold Er schoß ihn nieder mit dem Bogen Und warf ihn in die Meereswogen. Als dies hab'n die Leut gesehn 19 Gilles

Deleuze, „Nomaden-Denken",

in: Nietzsche. Ein Lesebuch

von

Gilles Deleuze, Berlin 1979, 111.

Kurt Jauslin

360 Am

Tage noch sie zu ihm gehn Sie erkannten ihn als ihren König Dieses freut ihn gar nicht wenig. Und einer Burg er nun erbaut Die ringsum in die Lande schaut Die Leute helfen ihm dabei Er traute nun auf ihre Treu."

(KGWI/1,

135

f.)

In diese Erzählung ist ersichtlich eine ganze Menge an Lesefrüchten eingeflossen, darunter die seit Defoe gängigen Motive von Hüttenbau aus den Resten des Schiffes und von der Auseinandersetzung mit den Eingeborenen. Grundsätzlich aber folgt diese Robinsonade nicht dem Modell Defoes und dessen Utopie, endlich gefunden zu werden und in die Zivilisation zurückzukehren. Die Robinsonade Nietzsches ist die der „Insel Felsenburg" von Johann Gottfried Schnabel, deren Utopie lautet: nicht mehr aufgefunden werden. Ziel dieser Robinsonade ist die Schaffung einer autarken neuen Welt, die Unmittelbarkeit neu etablieren kann, vor der Schuld, Sühne und Rechtfertigung, die gesamte christlich-abendländische Erlösungsmaschine, mit deren Hilfe die Unmittelbarkeit domestiziert werden konnte, verschwunden sind. Schnabels Utopie, eines der einflußreichsten deutschsprachigen Bücher des 18. Jahrhunderts, wurde 1829 durch Tieck neu ediert und in dieser Form bis in die Gegenwart immer wieder neu aufgelegt, ein Modell auch für das fortschrittsgläubige 19. Jahrhundert: Es ist die Robinsonade der Aufklärung, die einzige, die eine Zukunft hat, das kolonialistische Modell als Staatsutopie. Sie leugnet die Erfahrung des Schreckens auf dem Floß der Medusa und widerspricht der aus der Einsicht in diese Erfahrung formulierten Skepsis Herders: „Was man von Moralität und Philosophie aus dem Schiffbruche rettet, ist kaum der Rede wert."20 Die Geburt einer neuen Welt aus dem Schiffbruch und die Erzählung ihrer fiktiven Geschichte ist auch das Modell, das die Kinder des Reverend Patrick Brontë in ihrer Chronik von Angria entworfen haben. Für sie war Herders Argument obsolet: sie kannten keine Moralität. Dem 14jährigen Nietzsche dagegen mußte ein Modell, das sich nicht auf die Dialektik von Sünde und Erlösung berief, zum Skandal werden, eine Lesart des Schiffbruchs, die in einem pseudoromantisch-religiösen Lehrgedicht zu widerrufen war:

„Doch hüte dich! zwar zeiget Ein Eiland sich dem Blick So herrlich daß du meynest Hier wohnet nichts als Glück. Doch ist's ein schlimm Gebilde Der eignen Phantasie Du suchst es zu erreichen Und findest es doch nie."

(KGW 1/1,224 f.)

20 Hans

Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer, 44

Hexensprache der Vernunft

361

Das „Schifferlied" von 1858 läßt die Flucht der mehrfach codierten Bilder in der Eindeutigkeit des Emblems enden: Der Steuermann ist das gute Gewissen, der Wind der Wille Gottes. Das Versmaß ist der von Brentano erfundene Voksliedton der „Loreley": Vierzeiler, paarweise gereimt, dreihebige Jamben, alternierend mit männlichem und weiblichem Versende:

„Zu Bacharach am Rheine Wohnt' eine Zauberin, Sie war so schön und feine Und riß viel Herzen hin."21 Vielleicht liegt es an dem einprägsamen Ton, der auch von Heine im Buch der Lieder häufig verwendet wird, daß man bei der Lektüre ständig das Gefühl hat, hier würden lauter gute Bekannte zitiert. Die Suche nach den realen Vorbildern erweist sich dann aber als merkwürdig schwierig. Eindeutig verifizierbar ist nur die Eingangszeile, „Die Welt sie gleicht dem Meere", die Heines „Fischermädchen" variiert: „Mein Herz gleicht ganz dem Meere".22 Zu den maritimen Allegorien des Gedichtes hat Hermann Josef Schmidt das Vorbild gefunden in dem Kirchenlied „Es kommt ein Schiff geladen", das ebenfalls im Loreley-Ton Brentanos geschrieben ist:

„Das Schiff geht still im Triebe, Es trägt eine teure Last; Das Segel ist die Liebe, Der Heilig Geist der Mast."23

Entscheidend aber ist das Motiv der Desillusionierung, das die poetische Imagination einer Insel der Glückseligen als „ein schlimm Gebilde der eignen Phantasie" entlarvt. Sie findet sich in dieser Schärfe eigentlich nur bei Brentano, der als Lektüre aber erst in Pforta nachzuweisen ist durch Zitate aus den Rheinmärchen, die Rüdiger Ziemann identifiziert hat.24 Es handelt sich also eher um eine Verwandtschaft der Projektionen, die aus der gemeinsamen Abwertung der poetischen Imagination gegenüber dem Gewicht der christlichen Wahrheit resultiert. Im Gegensatz zu Heines Illusionsbrüchen, die das Gebilde der Phantasie auf seinen materiellen Grund zurückführen, zielt Brentano auf eine metaphysische Begründung, letzten Endes auf das Motiv der christlichen Erlösung. In dem Gedicht „Wenn der lahme Weber träumt er webe" beschwört Brentano zwar die Allmacht der Phantasie, die aber letzten Endes vor der „Wahrheit" keinen Bestand habe:

21 Clemens Brentano, Gedichte, hg. v. Wolfgang Frühwald, Bernhard Gajek und Friedhelm Kemp, München 1979, 115. 22 Für den Hinweis auf das Gedicht Heines danke ich Rüdiger Ziemann. 23 Hermann Josef Schmidt, Nietzsche abscondilus oder Spurenlesen bei Nietzsche. Kindheit. Teil 1/2, Berlin/ 24

Aschaffenburg 1991,330. Rüdiger Ziemann, „Das liebe ewige

Leben Zur Brentano-Lektüre des jungen Nietzsche", in: Nietzscheforschung 1, Berlin 1994, 335-350. Ziemann identifiziert ein Beziehungsmuster, das nicht am Wortlaut, sondern an der Melodie orientiert ist, nach der These des Tragödienbuches, „nach welcher im strophischen Lied die .Melodie' in jeder Strophe von neuem ihre sprachliche Inkarnation sucht." (Ebd., 349) -

Kurt Jauslin

362

„Kömmt dann Wahrheit mutternackt gelaufen,

[...]

Rennt den Traum sie schmerzlich übern Haufen."25

Schmerzlich ist es, daß die Phantasie eine falsche Realität vorspiegelt. Nietzsches Schifferlied folgert daraus, daß es nur darauf ankomme, die Phantasie durch die richtige Auslegung der Bilder so zu kanalisieren, daß das Schiff ruhig in den Hafen einlaufen kann: „Dann wirst du Ruhe finden / Und ewig glücklich sein." Die religiöse Wendung kommt nicht durch Aufklärung zustande, die endlich die Topoi enttarnt und außer Kraft setzt, sondern dadurch, daß die Phantasie domestiziert wird. Bei Brentano dagegen hält die große Illusionsmaschine immer schon die einzige Wirklichkeit vor; sie imaginiert auch die Möglichkeit der Religion als radikale Absage gegen eine wirkliche Wirklichkeit. Gott ist in dieser Konstruktion nicht die jenseitige Instanz, die einen in den himmlischen Hafen rettet, sondern er wird kraft der Imagination selbst zum Bewohner jenes Großreiches der Phantasie, das Fritz in seinen Gedichten zugleich zu erreichen und zu vermeiden sucht. Die Frage stellt sich, ob er denn das „schlimme Gebilde der eignen Phantasie", bewußt oder unbewußt, einmal verwirklichen konnte, und das ist in der Tat der Fall: im Festungsbuch.

4. Der Bau der Festung Das

Festungsbuch des 10- bis 12jährigen (KGW 1/1, 9-104) gehört zu den frühesten erhalZeugnissen für die Kreativität des Kindes. In Texten und Bildern konstruiert Fritz Nietzsche ein Binnenreich der Phantasie, das seinen realen Kern in der Verteidigung der Festung Sewastopol hat, ähnlich wie die Reiche von Angria und Gondal der Geschwister Brontë ihren Ursprung im Feldzug Wellingtons hatten. Bemerkenswert an diesem Gedankenspiel ist, daß die Bilder nicht den Text illustrieren, sondern: Bilder und Texte sind getrennte und in ihrer Intention deutlich unterschiedene Bedeutungsträger und Ausdrucksformen. Während die Texte den Kriegsverlauf nachzeichnen, sind die Bilder fast ausschließlich damit befaßt, die Festung zu konstruieren und ihr ein Bedeutungsfeld zu erfinden, das über den Seekrieg auch Motive der Entdeckungsreisen aufnimmt: Polarnacht und Nordlicht, Schiffbruch und Inseln, also durchaus die Topoi, die sich in den unmittelbar anschließenden Getenen

dichten wieder finden. Diese Bilder sind nicht nur Zeugnisse einer weit überdurchschnittlichen zeichnerischen und malerischen Begabung, sondern auch einer Freiheit und Unmittelbarkeit des Ausdrucks, die in keinem einzigen der Texte aus der Schulzeit erreicht wird. Der Grund solcher unverstellten Präsenz liegt darin, daß die Bilder nicht der Selbstzensur unterzogen wurden. Sprache scheint ein verräterisches Medium, weil sie immer eindeutige Lesarten anbietet. Wer redet, hegt den unbegründeten Verdacht, er werde auch verstanden, einfach weil jeder wissen müsse, was die Wörter bedeuten. Bilder sind enigmatisch: jede Bedeutung, die ein anderer in sie hineinliest,

gefahrlos geleugnet werden: vor den andern wie vor sich selbst. In der Sprache Sigmund Freuds heißt dies, daß das Unbewußte sich in den Bildern ohne Furcht vor den Sanktionen des

kann

25 Clemens

Brentano, Gedichte, 611.

Hexensprache der Vernunft

363

Überich äußern kann, weil die Verschlüsselung der Traumarbeit für das Überich nicht zu entziffern ist. Im Falle des Festungsbaus existiert ein Schlüssel, der lange vor Freud erfunden worden ist und der nicht zufällig den jungen Friedrich Nietzsche besonders interessiert hat: der Tristram Shandy von Laurence Sterne. Leider teilt er nicht mit, wer ihn auf das Buch hingewiesen hat, noch was der konkrete Anlaß für das brennende Interesse an der Lektüre gewesen ist, aber allein die mehrfache Zitation betont den Ausnahmefall dieses Lektüre-Projektes. In den Tagebuchaufzeichnungen vom August 1859 notiert er mehrfach den Wunsch, das Buch anzuschaffen, und „Ich bin außerordentlich begierig es kennenzulernen." Und dann heißt es: „Meinen Tristram Shandy habe ich bekommen. Ich leße jetzt den ersten Band und leße ihn immer wieder von Neuen. Zuerst verstand ich das meiste nicht, ja sogar es gereute mich, ihn gekauft zu haben, Jetzt aber zieht er mich ungemein an; ich notire mir alle frappanten Gedanken. Mir ist eine so allseitige Kenntniß der Wissenschaften, eine solche derung des Herzens noch gar nicht vorgekommen." (HKG I, 151)

Zerglie-

Die Anziehungskraft des Romans könnte damit zusammenhängen, daß er für den Komplex des Festungsbaus und die Faszination vom Kriegswesen, die in den Aufzeichnungen weiter reflektiert wird, gleichsam ex post, ein Erklärmodell bereithält. Einer der durchgängigen Erzählstränge des Romans und in der Tat sicher eine bis dahin unerhörte „Zergliederung des Herzens" ist die Geschichte von Tristrams Uncle Toby. Dieser Onkel Toby, ein ehemaliger Artillerieoffizier war bei der Belagerung der Festung Namur von einem abgesprengten Stein in die Leiste getroffen und verletzt worden. Verunsichert über das Ausmaß des Schadens, verbrachte er erst mal ein Jahr im Bett, bis ihm der rettende Einfall kam: Mit Hilfe seines Faktotums Corporal Tim baut er die Festung Namur in seinem Garten mit ihren sämtlichen Gräben und Bastionen nach und rekonstruiert so in der Wirklichkeit ein Erklärsystem für seine Krankheit. Allerdings ist es eben das Erklärsystem, das danach Tobys Ehefeldzug gegen die Witwe Wadman zum Scheitern bringt. Aus begreiflichen Gründen nämlich möchte die Witwe Wadman vor der Eheschließung wissen, wo denn Toby von dem Stein getroffen und verletzt wurde. Für Onkel Toby ist dies eine seiner leichtesten Übungen, hat er doch die Festung selbst gebaut. Und so zeigt er Mrs. Wadman auf dem Plan von Namur den mit einer Nadel markierten Ort seiner Verletzung.26 Man sieht: die „Steckenpferde", die auch Fritz nach seiner eigenen Versicherung „von der frühesten Kindheit an" geritten hat (HKG I, 152), sind nicht ganz geheuer. Die Festungen haben Ober- und Unterwelt, Bastionen und Kasematten, wie 1859 in der Rückschau geschildert: „hohe Thürme mit gewundenen Treppen, Bergwerke mit unterirdischen Seen und innerer Beleuchtung und endlich Burgen, die zugleich mit meiner dritten Liebe zum Kriegswesen, angeregt vorzüglich durch den großen russischen Krieg." (HKG I, 152) Die „Liebe zum Kriegswesen" ist, wie das Muster des Ehefeldzugs zeigt, eine Projektion, mit deren Hilfe die grundlegende körperliche Realität komplett ausgeblendet werden kann: das Festungswesen ist nur die Überdeckung der unterirdischen Hohlräume. Onkel Toby verliert seinen Ehefeldzug, weil ihm die körperliche Wirklichkeit seiner Projektion abhanden gekommen ist, während Corporal Tim mühelos nachweist, daß die Artillerie nur eine Metapher 26 Laurence Sterne, Leben und Meinungen des Tristram

Shandy, Gentleman, Stuttgart 1985, 735 f.

Kurt Jauslin

364

der Sexualität ist, gemäß der Feststellung Lichtenbergs, daß alles wesentliche im Leben durch Röhren bewerkstelligt wird. Toby verweigert sich der Demaskierung der Metapher: „Mir gefällt der Vergleich besser", sagte mein Onkel Toby, „als die Sache selbst."27 Das könnte auch Fritz von sich sagen, der in seinen Texten die „Sache selbst" immer vollständig in den Metaphern verschwinden läßt. Wie Toby hat er, peinlich befragt, beharrlich auf die falsche Stelle gezeigt, für die er auf dem Zeichenblatt doch die richtigen Bilder gefunden hatte: die als Gang durch den Wald kaschierte geöffnete Festung erweist sich in ihrem System von unterirdischen Gängen als eine Uterus-Landschaft (Abb. 1). Die Festung, die den Körper vor der Einwirkung der andern und vor den schlimmen Gebilden der eignen Phantasie beschützen soll vergeblich, wie das Beispiel Onkel Tobys zeigt -, ist zugleich der Ort, dem diese Gebilde entspringen; sie ist die Produktionsstätte der Phantasie, deren Projektionen in den Zeichnungen des Jungen nach dem Muster des Theaters geordnet sind. Die Festung ist von Anfang an als Theaterraum konzipiert, mit dem Turmbau als Bühne, den umlaufenden Bauten als Zuschauerraum und dem Innenhof als Spielfläche (Abb. 2): eine vollständige Reproduktion des Globe Theatre. In den Konstruktionszeichnungen Nietzsches wird daraus mehr und mehr eine Kulissenbühne entwickelt, die schließlich durch die Zeichnung einer Guckkastenbühne bestätigt ist (Abb. 3). In seinen biografischen Aufzeichnungen vom Herbst 1859 hat Fritz diesen Zusammenhang zwischen dem „Soldatenwesen" und dem „Bühnenwesen" ohne Zögern hergestellt: aus „Sewastopols Untergang", so versichert er, geht das im Bild festgehaltene „Theater des arts" hervor (HKG I, 152). Die Konvergenz der Bilderfluchten in der Überblendung von Festung und Theater mündet in den Topos der Stage Allegorie, nach der Theaterräume immer Weltbühne und Ort der Projektionen sind, Piatos Höhle und damit nichts anderes als Kopfinnenraum: der Spielplatz der Phantasie, die damit wieder in ihre Rechte eingesetzt ist gegen die Verbote der Vater- und Lehrer-Religion. Mit seinen Festungsbauten und Plänen hat Fritz wie Onkel Toby eine Landkarte seiner Verletzung entworfen und ihren Ort fixiert: im Kopf. Und zwar mt er das, da er die Bilderfluchten nicht verläßt, epistemologisch vollkommen korrekt. Mit andern Worten: psychoanalytisch gesprochen mag es wohl geboten sein, Toby auf seinen Irrtum hinzuweisen. In den Spiegelungen der Bilder aber gibt es den Irrtum nicht. Die Karte stimmt immer. Ich bin am Ende angelangt. In der Zeit, die zur Verfügung stand, habe ich die meisten Themen nur anreißen können. Und natürlich bleibt die spannende Frage offen: Was wird er damit machen? Schließlich kann man das Kopftheater nicht einfach verlassen wie ein beliebiges Schulzimmer: man trägt es als Lebensraum mit sich. Schließlich ist es dieser Spielraum, den er später mit den Figuren seiner Philosophie bevölkert hat, die eben in den frühen Figurationen nicht zu erkennen sind, weil die Metapher immer schon für sich spricht. Wer aus der frühen Hexensprache den Weg in die spätere Philosophie weisen will, müßte auch den Punkt gefunden haben, in dem die Flucht der Bilder zum Stillstand gekommen ist: eine Ordnung der Kulissen, die durch keine Epistemologie gedeckt ist. Die Hexensprache der frühen Fantasiewelten von Emily Brontë, Arthur Rimbaud und Friedrich Nietzsche hinterläßt der Philosophie die Überzeugung vom Vorsprung des Poetischen vor dem Diskursiven. Das Poetische hat den Vorzug, daß es das Paradoxon aushält, nach dem Leben und Werk unver-

einbar bleiben und trotzdem Texte sind, die nebeneinander gelesen werden. Jeder Versuch, das Dilemma diskursiv zu entfalten, führt sofort zu solchen Exzessen unfreiwilliger Komik, wie sie Gilles Deleuze unterlaufen. Er entwirft ein progressives 27

Ebd., 703.

Hexensprache der Vernunft

365

von der Umwertung der Werte über den Willen zur Macht bis zur Konstruktion des Übermenschen im Motiv der ewigen Wiederkehr, das eben jenes Hegeische Primat des Begriffs installiert, das Nietzsche, seiner Ansicht nach, beseitigen wollte.28 Alle solchen reduktionistischen Modelle müssen geradezu absehen von der Existenz der Hexensprache der Bilder. Sie sind gezwungen, Nietzsche in eine Sprache zu übersetzen, die nicht mehr seine eigene ist. Die Auslegungen erweisen sich immer als paradox: Ordnungssysteme für die Anarchie. Sie werfen nur die Frage auf: Wenn's das gewesen sein soll: Warum hat er eigentlich die Philosophie nicht gleich aufgegeben, da doch Montaigne

Begriffssystem

sämtliche sogenannten „Lebensprobleme" bereits für ihn gelöst hatte? Es ist zu differenzieren, nicht nur im Blick auf das Ende der Kindheit, das der Blitz markiert hat, sondern auch auf das Ende des Philosophen in einem wie immer zu lesenden Schiffbruch. Sofern das Scheitern als selbst auferlegte Strafe für das schuldbeladene Kind verstanden wird, war Nietzsche tatsächlich ein Fall für die Psychiatrie, und es war sein persönliches Pech, daß er in die Hände von Mutter und Schwester fiel, weil Sigmund Freud als der korrekte Ersatz- und Übervater der Epoche noch nicht zur Verfügung stand: er hat ihn sozusagen knapp verfehlt. Betrachtet man dagegen den Schiffbruch als Beginn der großen Robinsonade, von der eine Rückkehr gar nicht vorgesehen ist, so erweist sich die klinische Diagnose als Projektion der in der Erlösungsmaschine eingeschlossenen Bürger auf den Philosophen, der in Wahrheit endlich zu jener Unmittelbarkeit vorgestoßen war, nach der das Kind verlangt hatte: indem er sein bürgerliches Leben, samt der daraus und dagegen entwickelten Philosophie dafür aufgab. Es muß eine Entscheidung getroffen worden sein aus der Einsicht, daß sowohl die Philosophie wie die poetischen Fiktionen immer aus der Unmittelbarkeit hinaus in ein Als Ob führen: Zarathustras Gegenwart liegt immer schon jenseits der Texte. Die frühen Binnenwelten der Phantasie verweigern sich der Abschiebung in das Als Ob. Sie sind der Stachel im Fleisch der Normalität. Sie stellen die entscheidende Frage, was denn Wirklichkeit sein solle. Rimbaud hat bekanntlich der Poesie abgeschworen zugunsten des Räuberdaseins in der ökonomischen Wirklichkeit, dem unverstellten Wirken des Leviathan. Emily Brontë wählte das andere Extrem: die Selbstauflösung in der Fiktion; sie hat Gondal nie verlassen und starb mit 29 Jahren im Zustand der Jungfräulichkeit, nachdem sie den wahnwitzigsten aller Liebesromane geschrieben hatte: soviel zur Macht der Fiktionen. Nietzsche hat gewissermaßen und dies durchaus im Einklang mit seiner Sozialisation den Mittelweg zwischen Räuber-Leben und Pentaesilea-Tod eingeschlagen: er wurde ein deutscher Professor. Die Alternativen sind nur Schein: weder war im Fall Rimbauds der Körper mit der Ökonomie noch im Fall Nietzsches der Geist mit der Wissenschaft kompatibel. Die künstlichen Paradiese sind nicht einholbar. Die Hexensprache der Vernunft, die ihre Spiele auf der Innenbühne inszeniert, setzt selbst schon eine Wirklichkeit, die Alternativen ausschließt. In einem der letzten Gedichte vor ihrem Tod hat Emily Bronte ihre Weigerung, Gondal aufzugeben, im allzeit schlagenden Argument aller Gedankenspieler formuliert: -

-

„Wie sollt ich wieder leben in der trostlosen Welt."29 An einem seiner letzten Tage von Turin wird er dem Ruf der dunklen Schwester Hochmooren von Yorkshire in die Flucht der Bilder gefolgt sein.

28 Gilles Deleuze, Nietzsche. Ein Lesebuch von Gilles Deleuze, 19-43. 29 Emily Brontë, R. Alcona an J. Brenzaida, in: Angria & Gondal, 351.

aus

den

Kurt Jauslin

366

C^__Á I

^.^'^S Abb. 1

(KGW 1/1,70)

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Hexensprache der Vernunft

367

Abb. 2

f

(KGW 1/, 15)

T

Abb. 3

(KGW 1/1,44)

Hans Gerald Hödl

„Vom kleinen Stockphilister zum Kritiker

der greisenhaften Jugend" Reflexionen zum Kontext von Bildungsprogramm und Selbstentwürfen Nietzsches 1858-1865 Selbst ein Entwurf

1.

Einleitung: Selbstthematisierungen in Nietzsches Werk

„Mein Wesen enthüllt sich ob es sich entwickelt!

überladen mit fremdem Character und fremdem Wissen. Ich entdecke mich selbst." (NF, Frühling-Sommer 1878, KSA 8, 506; 28 [16]) So notiert sich Nietzsche im Kontext von Aufzeichnungen teils autobiographischen Charakters im Jahr 1878. In dieser Notiz klingt ein Thema seines gesamten Philosophierens seit seiner Jugendzeit bis zu Ecce Homo an, das Verhältnis von Fremd- und Selbstbestimmung, die Frage, anders gewendet, danach, wie er, in Adaption eines bekannten Verses von Pindar, sagt: „Wie man wird, was man ist."1 Die Notiz erscheint mir deshalb als zentral, weil sie, im Kontext der einschlägigen Aufzeichnungen Nietzsches aus den Jahren 1875-1878 gelesen, Nietzsches späte Selbstdarstellung in einem Punkt bestätigt. Was Nietzsche über das Verhältnis seines Lebens zu dem seines Vaters in Ecce homo sagt, läßt sich, mit weitreichenden Konsequenzen für die von Nietzsche im Spätwerk vorgebrachte Typologie, in diesen AufVon Kindheit

1

-

an

Pythnischen Ode, V.72, lesen wir: y¿voi', oîcjç eooi uaöcJv, in der Obersetzung von Dieter Bremer (Pindar, Siegeslieder, Griechisch-Deutsch, hg., übers, und mit einer Einfuhrung versehen von Dieter Bremer, München 1992, 125): „Komm zur Kenntnis, von welcher Art Du bist"; Curt Paul Janz führt die Übersetzung „werde, wie du es lernst, zu sein" (Curt Paul Janz, Nietzsche. Biographie, München 1980, I, 191) an. Die Übersetzung „Werde, der du bist" geht darauf zurück, daß man das Partizip ua0c3v wegläßt und nur die Worte yevoi', oîcoç èooi übersetzt. Martin Heidegger löst die Partizipialkonstruktion folgendermaßen auf „möchtest du hervorkommen, als der, der du bist, indem du lernst", wobei er auf seine Bestimmung des altgriechisch verstandenen Seins als „Erscheinen" abhebt: „Dies meint nicht etwas Nachträgliches, was dem Sein zuweilen begegnet. Sein west als Erscheinen." (Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1976, 77.) Das Pindarsche Motto hat Nietzsche jedenfalls bereits 1867 verwendet, als er an der Universität Leipzig eine Preisschrift (das Thema war von seinem Lehrer Ritschi auf ihn hin abgestimmt worden), „De fontibus Diogenis Laertii", einreichte. Auch in einem Brief vom 3. November 1867 an Rohde spielt Nietzsche auf diese Worte an, wenn er den Freund an „unser Gedenkmai" in Leipzig erinnert, „das wir Nirwana tauften und das meinerseits die festlichen Worte, die sich als siegreich erwiesen haben, trägt yÉvoi, oîgjç éoai." Auch im 1. Abschnitt, „Das Honig-Opfer" von ZA IV legt Nietzsche Zarathustra diese Worte in den Mund, nachdem dieser sich als der „bösartigste aller MenschenFischfänger" bezeichnet hat: „Der nämlich bin ich von Grund und Anbeginn, ziehend, heranziehend, aufziehend, ein Zieher, Züchter und Zuchtmeister, der sich nicht umsonst einstmals zusprach: ,Werde, der du bist!'" (KSA 4, In der 2.

297).

Hans Gerald Hödl

370

Zeichnungen nachweisen. Es handelt sich mithin bei der Selbstdarstellung in Ecce homo nicht bloß um Stilisierung und Neuinterpretation. Natürlich interpretiert Nietzsche im Verlauf seines Denkweges auch sein Leben, dem ja dieser Denkweg in gewisser Weise entspricht, stets neu, aber wie sollte dies bei einem kritischen, radikal perspektivischen Denker auch anders sein, der über die Stationen seiner Entwicklung gesagt hat, es handle sich um Stufen, über die er hinweg mußte? (Vgl. GD, „Sprüche und Pfeile 42", KSA 6, 66) Die angesprochenen Aufzeichnungen belegen aber auch, daß er zu dieser Zeit sich mit seinen schriftlichen autobiographischen Aufzeichnungen aus der Jugendzeit beschäftigt hat.2 Sie sind also in meiner Interpretation Zeugnis eines Knotenpunktes, einer entscheidenden Situation, was Nietzsches Verhältnis zu seinem Leben und die Ausrichtung seines Selbstentwurfes betrifft. Abgesehen von den allgemein bekannten biographischen Daten aus der Zeit von 1875-1878, die dies auch belegen, wie die zusehends manifest werdende Abkehr von Wagner und von der Philologie als Beruf, entspricht dies, wie gesagt, Nietzsches späterer Selbstinterpretation. Es ist hier nicht Zeit und Ort, die systematischen Implikationen, die die Selbstthematisierung in Nietzsches Werk hat, genauer zu beleuchten. Meiner Ansicht nach hat aber nur eine philosophischsystematische Interpretation der biographischen Bezüge in Nietzsches Philosophie Aussicht darauf, diese Dimension seines Denkens so in die Interpretation einzubinden, wie es von Nietzsche intendiert war. Dieser hat sich nämlich selbst eindeutig jenseits der Alternative zwischen biographischem Reduktionismus und philosophischer Ausblendung der „biographischen Dimension" gestellt. Er entwickelt auf der einen Seite eine genealogische Methode der Philosophiegeschichtsschreibung, die die historisch wirkmächtig gewordenen Systeme von Wertsetzungen und deren Begründung auf die „psychophysiologischen Dispositionen ihrer Urheber" zurückführt,3 und wendet diese in seinen letzten Schriften auf sich selbst an.4 Auf der anderen Seite verwahrt er sich gegen eine biographische Rückführung seiner Schriften auf ihn

selbst, mit deutlichen Worten im Nachlaß:

„Ich habe bei meinen Kritikern häufig den Eindruck von Canaille gehabt: Nicht, was man

sagt, sondern daß ich es sage und inwiefern gerade ich dazu gekommen sein mag, dies zu sagen das scheint ihr einziges Interesse, eine Juden-Zudringlichkeit, gegen die man in

praxi den Fußtritt als Antwort hat.

Man beurtheilt mich, um nicht mit meinem Werke zu man haben: erklärt dessen Genesis damit gilt es hinreichend für abgethan." [zu] 10 Herbst KSA 465 f.) 1887, 12, (NF, [20], -

thun

-

-

Ebenso deutlich, aber gemäßigter im Ausdruck, sagt er dies in Ecce homo: „Das Eine bin ich, das Andre sind meine Schriften. -" (KSA 6, 298) Man sieht also, so stark Nietzsche auch betont hat, daß das eigene Leben und Erleben eine Quelle seines Philosophierens ist, so sehr

3

Vgl. Mazzino Montinari, „Nietzsches Kindheitserinnerungen aus den Jahren 1875 bis 1879", in: Nietzsche lesen, Berlin 1982, 22-37, sowie meine Arbeit „Dichtung oder Wahrheit? Einige vorbereitende Anmerkungen zu Nietzsches erster Autobiographie und ihrer Analyse von H. J. Schmidt", in: Nietzsche-Studien 23/1994,285-306, 296 f. (Anm. 39), und meinen im Druck befindlichen Beitrag „Nietzsche, Jesus und der Vater", in: Gotthard Fuchs und Ulrich Willers (Hg.), Theodizee im Zeichen des Dionysos. Friedrich Nietzsches Fragen jenseits von Moral und Religion. Vgl. Jörg Salaquarda, „Noch einmal Ariadne. Die Rolle Cosima Wagners in Nietzsches literarischem Rollenspiel",

4

Vgl.

2

in: Nietzsche-Studien 25/1996, 99-125, 99. Werner Stegmaier, „Nietzsches Kritik der Vernunft seines Lebens. Zur Deutung von ,Der Antichrist" und ,Ecce Homo'", in: Nietzsche-Studien 21/1992, 163-183.



Vom kleinen Stockphilister zum Kritiker

"

371

dagegen verwahrt, hier eine einfache Abhängigkeit konstruieren zu wollen. Grundlegend scheinen mir zwei Züge von Nietzsches Reflexion auf die biographische Seite des Denkens zu sein: erstens sein typologisches Denken5 und zweitens seine Thematisierung hat

er

sich

Philosophierens als „Transfiguration",6 was eben mehr und anderes heißt als eine eindeutige Abhängigkeit vom Werk dem Leben gegenüber. Was Nietzsches Genealogie, wie er sie sowohl auf andere als auch auf sich selbst anwendet, von der von ihm inkriminierten pöbelhaften Zudringlichkeit unterscheidet, scheint mir die Wertung zu sein, die diesen Beobachtungen gegeben wird. Nicht auf eine mehr oder minder zufällige Privatkonstitation von Herrn Sokrates oder Herrn Nietzsche werden hier die „Werke" zurückgeführt, sondern epochale Wertsetzungen werden in der Analyse epochaler psychophysiologischer Dispositionen kritisiert.7 Nietzsche begreift schließlich in Ecce homo sein Selbst als paradigmatisch für Krankheit und Gesundungsmöglichkeit seiner Epoche, indem er sich als décadent und antidécadent zugleich auffaßt. Zur dort vorgetragenen Typologie gedes

hört seine Heredität ebenso wie die Distanz zu ihr. Doch dies kann in diesem Rahmen nicht weiter systematisch verfolgt werden. Heredität und Distanz zu ihr reflektiert Nietzsche aber ebenso in den von mir eingangs erwähnten privaten Aufzeichnungen aus 1875-1878, die ihre Spuren in Menschliches, Allzumenschliches, Der Wanderer und sein Schatten und Vermischte Meinungen und Sprüche hinterlassen haben, ohne dort direkt verhandelt zu werden. Ich interpretiere die von mir zitierte Aufzeichnung als einen Leit- und Programmsatz seiner Beschäftigung mit seinem eigenen Leben, Erleben und Werden, wie es ihm in persönlichen Erinnerungen präsent wurde, die ihn wohl zum Teil auch anhand der Aufzeichnungen aus seiner Jugendzeit beschäftigt haben.

2. Nietzsches Bildungsprogramm in seinen Aufzeichungen 1858-1865: ein knapper Überblick Im Zusammenhang mit seinen Kindheitserinnerungen, in denen neben anderem auch das Bild des Vaters beschworen wird, ist jene eingangs zitierte Notiz entstanden. Sie zeigt, wie Nietzsche hier bereits seinen Lebens- und Denkweg interpretiert, als ein Freiwerden von Fremdbestimmung und ein Zu-Sich-Selbst-Kommen, ein Entdecken seiner selbst, das heißt, die Verdeckungen, unter denen sein Selbst auch für ihn verborgen war, ablegen, abstreifen, entfernen und beseitigen. Darin ist das zwiespältige Verhältnis von Erbschaft und Inbesitznahme des eigenen Wesens thematisiert, die der Entwicklung zu sich selbst vorange-

5

Vgl. dazu z. B. die Ausfuhrungen zum „Typus" des Erlösers, AC 29 ff. (KSA 6,199 ff.) oder die Verwendung des Begriffes „Typus" in GD, z. B. in „Das Problem des Sokrates 2" (KSA 6, 67 f.) oder in „Streifzüge 20" (KSA 6, 124) oder auch die nachgelassene Aufzeichnung 13, 303 f.

KSA 6

7

-

14

[123] aus dem Frühjahr 1888 (Vorstufe zu „Streifzüge 14"),

dazu Abschnitt 3 der Vorrede zur zweiten Auflafge von FW, KSA 3, 349 f., und Paul van Tongeren, „Die Kunst der Transfiguration", in: Roland Duhamel und Erik Oger (Hg.), Die Kunst der Sprache und die Sprache der Kunst, Würzburg 1994, 84-105, insb. 94-98. Es muß betont werden, daß sich in dem, was in den biographisch orientierten Interpretationen jeweils das Muster der „genealogischen" Erklärung des Werkes Nietzsches abgibt, nicht so sehr Nietzsches Wertsetzungen, als diejenigen seiner Interpreten zeigen.

Vgl.

Hans Gerald Hödl

372

hende und unausweichliche Fremdbestimmung. Dieses ambivalente Verhältnis nun ist, wie ich meine, in Äußerungen Nietzsches in seinen ersten Selbstbeschreibungen bereits enthalten, die ich unter dem Titel „Selbstentwürfe und Bildungsprogramm" zusammenfasse. Der Rückblick von jener Notiz zu diesen Aufzeichnungen ist durch den philologisch erbrachten Nachweis, daß Nietzsche zur Zeit der Abfassung von Menschliches, Allzumenschliches sich mit diesen beschäftigt hat, mehr als eine durch eine äußerliche Interpretationsperspektive herangebrachte Assoziation. Die Natur dieser Ambivalenz von Nietzsches Selbstverhältnis wird das Thema meines Vortrages gewesen sein. Ich beziehe mich im folgenden auf Nietzsches frühe autobiographische Besinnungen aus den Jahren 1858-1865 und darin auf das, was ich Nietzsches Bildungsprogramm nenne. Darunter verstehe ich ein selbstverordnetes Programm und nicht die ihm von außen zuteil gewordene Bildung. An anderer Stelle habe ich zu zeigen versucht, daß in der Mehrzahl der hierher gehörigen Lebensrückblicke und Lebensentwürfe (ich meine, daß sie diese Doppelnatur haben), aus so unterschiedlichem Anlaß sie auch entstanden sein mögen und an welche Adressaten auch immer sie sich richten mögen, das Thema des selbstverordneten Bildungsprogrammes in durchaus unterschiedlicher Bewertung und

Akzentuierung angestimmt wird.8 Ich gebe hier eine kurze Skizze -

-

dieser

Zusammenhänge.

Auffallend ist zunächst die

Rolle, die Dichtkunst und Musik in der ersten Autobiographie des Dreizehnjährigen (KGW 1/1, 281-311; 4 [77]) sowohl in der Selbstdarstellung Nietzsches und seiner Inbedeutende

Zusammenhang der Schilderung seiner beiden Freunde Gustav und Wilhelm spielt.9 Dabei stellt Nietzsche die freundschaftlichen Beziehungen zu den beiden nicht nur mittels der Thematisierung der gemeinsamen Interessen dar, sondern läßt die Freunde in diesem Punkt jeweils in der Linie der väterlichen Erbschaft stehen. Seine eigenen Versuche auf den entsprechenden Gebieten beschreibt er dagegen als autodidaktisch, womit er ein in späteren Lebensbeschreibungen oft variiertes Thema erstmals anklingen läßt, nämlich die fehlende väterliche Leitung, ein Umstand, der ihm seine eigene Erziehung sozusagen selbst überlassen hat. Wie sehr ihn dies beschäftigt hat, zeigt ein gegen Ende seines ersten Jahres in der Eliteschule Schulpforta geführtes Tagebuch, in dem er sein Bildungsprogramm vorstellt (HKGW 1, 152 ff). Die Schilderung seiner verschiedenen Vorlieben und „Steckenpferde" seit seiner Kindheit gipfelt in einer Auflistung seiner Neigungen in fünf Gruppen. Hier läßt er diese Neigungen noch durch die Religion umfaßt sein,10 wenn er einen Schlußsatz von grandiosem Gestus unter diese Darstellung setzt: teressen als auch im

„und über alles Religion,

die Grundveste alles Wissens! Groß ist das Gebiet des Wissens unendlich das Forschen nach Wahrheit!" ,

(HKGW 1, 154)

Vgl. meinen Beitrag „Musik, Wissenschaft und Poesie im Bildungsprogramm des jungen Nietzsche oder: ,Man ist über sich selbst entweder mit Scham oder mit Eitelkeit ehrlich'", in: Günther Pöltner und Helmuth Vetter (Hg), Nietzsche und die Musik, Frankfurt a.M/Berlin/New York/Paris/Wien 1997, 17-43. 9 Zumindest in einer Disposition hatte Nietzsche diese Bezugnahmen noch viel umfangreicher geplant. Vgl KGWI/l,279f;4[75]. 10 Skeptisch gegenüber dieser Darstellung ist Hermann Josef Schmidt in seiner Lektüre des Textes; vgl. Hermann Josef Schmidt, Nietzsche absconditus. Jugend 1, Berlin/Aschaffenburg 1993,469 f. Ich komme darauf unten kurz 8

zurück.



Vom kleinen Stockphilister zum Kritiker"

373

In der für die Schule bestimmten Autobiographie aus dem Jahre 1861 geht er auf die Vielzahl seiner Neigungen bloß summarisch ein, hebt jedoch diejenige zur Musik hervor." Zu seinem Bildungsprogramm und damit verbundenen Selbstentwürfen gehört sicherlich auch der mit seinen Freunden Pinder und Krug gebildete Verein „Germania". Aufsein Bildungsprogramm weist er auch in seiner Lebensbeschreibung Mein Leben aus dem Jahr 1863 hin; in Naumburg habe er begonnen, „mit der Würde eines kleinen Stockphilisters das Leben und die Bücher kennen zulernen.'"2 Wiederum verbindet er mit dem Beginn der Gymnasialzeit das Aufkeimen von „neuen Interessen und Bestrebungen"13 und hebt unter diesen die Neigung zur Musik hervor, äußert sich aber selbstkritisch über das damals von ihm verfolgte Ziel der Selbstausbildung als Dichter, Komponist und Gelehrter.14 In der Folge beschreibt er den wohltätigen Einfluß, den die Erziehung in Schulpforta, wo er sich „einer größeren Sammlung und Richtung der Kräfte auf größere Ziele zu befleißigen" hatte, auf diese seine geistige Ausbildung ausgeübt hat. Dieses Thema nimmt er wie nicht anders zu erwarten auch in dem ebenfalls Mein Leben betitelten Lebenslauf, der der Pfortenser Valediktionsarbeit über Theognis beigefügt ist, wieder auf. 1863 scheint Nietzsche sozusagen eine Metareflexion auf seine Selbstentwürfe durchgeführt zu haben, sich die Erzählung von sich selbst in neuer Weise anzueignen versucht durch Distanznahme zu seinen eigenen „philiströsen" Bestrebungen. Ein Anklang15 an den von Nietzsche später gegen David Friedrich Strauss verwendeten Begriff des „Bildungsphilisters"16 darf hier meines Erachtens mitgehört werden. Die Distanznahme zu sich selbst zeigen aber insbesondere die wenigen erhaltenen an den Schulkollegen Granier gerichteten Briefe, einem frühen Bruder im freien Geist. Ein Brief an Granier vom Ende 1865, der Nietzsches Unzufriedenheit mit dem Verbindungsleben in Bonn ausdrückt, zeigt deutlich, daß Nietzsche am Konzept eines Bildungsprogrammes festhält und Freundschafts- wie Vereinsleben diesem Zwecke der gegenseitigen Förderung und nicht dem sich miteinander Gehenlassen dienen sollen.17 Nietzsche hat also seit 1858 an seinem Bildungsprogramm nicht nur prinzipiell festgehalten, es im einzelnen immer wieder thematisiert, revidiert und neu ausgerichtet, er hat es ebenso zu einem Werkzeug der Kritik, einem Maßstab ausgebildet, an dem er andere und sich selbst mißt. So wie er noch in Ecce homo sein Leben und das anderer an diesem dann weiterentwickelten und neuinterpretierten Maßstab messen wird. Weisheit, Klugheit, die Geschichte seiner Schriften: Nietzsche beschreibt in Ecce homo sein Leben auch unter der Perspektive des Bildungsprogrammes. -

-

„Zu gleicher Zeit entwickelten sich auch verschiedne Lieblingsneigungen, von denen einige sich bis jetzt erhalten haben. Ins Besondere war es die Neigung zur Musik, die im Laufe der Zeit nur zunahm und jetzt unerschütterlich fest in meiner Seele wurzelt." (HKGW 1, 284) 12 Mein Leben. Autobiographische Skizze des jungen Nietzsche, Frankfurt a.M. 1936. Der Text wird nach dieser Faksimile-Ausgabe zitiert, hier: 15.

11

13 Ebd. 14

„Ich [

] hatte mich so in die Idee, mir ein Universalwissen- und können ich in Gefahr war, ein rechter Wirrkopf und Phantast zu werden." Ebd. .

.

[sie!] anzueignen, hineingelebt, daß

.

15 Eigentlich: Vorklang. 16 Den Nietzsche in EH anläßlich der Besprechung der Schrift als seine Sprachschöpfung hervorhebt; vgl. KSA 6, 317. 17 Vgl. KSB 2, 82 ff.; in diesem Brief kritisiert Nietzsche die Burschenschafter als .greisenhafte Jugend', vgl. auch den Brief vom 20. Oktober 1865, in dem Nietzsche der Burschenschaft ,Frankonia' seinen Austritt bekanntgibt, KSB 2, 88 f.

Hans Gerald Hödl

374 Man wird

an

meiner Behandlung der hier kurz skizzierten Texte ohne weiteres bemängeln

können, daß ich eine Zusammenfassung eines Aspektes derselben gebracht habe, die voll-

ständig von der Adressatenbezogenheit dieser Texte zu abstrahieren scheint. Im folgenden geht es nun, nach dieser Skizze, vor allem um Überlegungen zur Adressatenbezogenheit von Nietzsches Texten. Um zu einer differenzierten Bewertung dieser Relation zu kommen, muß ich allerdings zunächst den familiären Hintergrund von Nietzsches Selbstthematisierungen kurz beleuchten, um zu zeigen, wie das in der Notiz von 1878 anklingende Thema und die darin sich manifestierende Ambivalenz von Nietzsches Selbstverhältnis sich in seine frühesten Aufzeichnungen zurückverfolgen läßt.

3.

Selbstthematisierung als Fremdbestimmung

Geht es um Nietzsches Selbstthematisierungen, so geht es um die Geschichte, die er von sich selbst erzählt, in unterschiedlichen Kontexten, an verschiedene Adressaten gerichtet. Die Thematisierung des eigenen Selbst bringt wenigstens drei Instanzen ins Spiel und setzt niemals voraussetzungslos ein. Ein wichtiger Text der zeitgenössischen philosophischen Diskussion bringt diesen Umstand mit den folgenden Worten zu Gehör: „Schon vor seiner Geburt ist das Kind und sei es nur durch den ihm gegebenen Namen als Referent der von seiner Umwelt erzählten Geschichte gesetzt, zu der es sich später ein neues Verhältnis wird schaffen müssen."18 Auf unseren Zusammenhang angewandt, bedeutet dies: die Selbstthematisierung als Spezialfall der erzählten Geschichte, die eine Einheit zwischen Erzähler und Referent etabliert, die sich auf der Ebene der Subjekttheorie als Spaltung des Subjektes in referierendes und referiertes darstellt, findet einen von anderen gesetzten Spielraum von Erzähler, Referent und Adressat vor,19 der eine Einheit von Referent und Adressat etabliert. In der Fremdthematisierung spricht also jemand zu mir und über mich. Anrede und Gegenstand der Erzählung haben im Angeredeten ihre Einheit, der seinerseits in angeredete Person und Gegenstand der Anrede gespalten erscheint. Analoges gilt für die Selbstthematisierung. Im folgenden nenne ich diese Einheit von Einheit und Spaltung der Einfachheit halber „Stelle" oder Position, obwohl, wie gezeigt, damit eher ein labiles Beziehungsgeflecht als eine abgrenzbare Stelle innerhalb desselben gemeint ist. Die Bewegung der Selbsterzählung, insofern sie eine der Selbstgewinnung gegen die Überfrachtung mit fremdem Wesen darstellt, kann man somit als die Emanzipation aus der passiven Position als Referent und Adressat in die aktive Position als Erzähler/Referent auffassen. Von klein auf bewegen wir uns in uns von anderen zugeschriebenen Rollen und Verhaltensweisen, innerhalb derer sich unser Selbstbezug, vermittelt über den Bezug anderer zu uns, entwickelt. Man kann dies, was die frühesten uns überlieferten Aufzeichnungen von Nietzsches Hand betrifft, beispielhaft an zwei, als Grundlage für eine philosophische Interpretation eher ungewöhnlichen Textarten zeigen. Beide sind ohne den Kontext ihrer Entstehung schwer zu interpretieren und einem angemessenen Verständnis wohl nicht zugänglich. Einerseits spiele ich auf einen Aspekt der Aufzeichnungen des Knaben -

-

18 Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, aus dem Französischen von Otto Pfersmann, Wien

1986,56. Lyotard: Sender, Empfänger, Referent. Diese Terminologie, die vom aus der Maschinensprache bekannten input/output-Schema ausgeht, scheint mir eine anthropologische Vorentscheidung zu implizieren, die in der Rede von .Erzähler' und Adressat' auf Distanz gehalten werden soll

19 Bei

,



375

Vom kleinen Stockphilister zum Kritiker"

Nietzsche über private Würfelorakel an, in denen sich seine Erwartungshaltung den familiären Festen gegenüber manifestiert: über die geäußerten Wünsche und die angeführten Wunscherfüllungsmöglichkeiten erfahren wir etwas über das Spiel von Selbsteinschätzung und Fremdeinschätzung, das auch über diese festlichen Anlässe vermittelt wurde, zu denen man einander zu beschenken pflegt, dem Geburtsfest und dem Weihnachtsfest.20 Deutlicher zeigt sich dies bei den in der Familie Nietzsche anläßlich von Festen vorgetragenen vorgefertigten Gedich-

ten,21 von denen aus ein gleitender Übergang zu den später zu diesen Anlässen von Nietzsche selbst hervorgebrachten Gedichten in zumindest einer Hinsicht festzustellen ist.22 Eine auch nur oberflächliche Analyse der familiär vorgegebenen Texte zeigt, daß, besonders in den an die Mutter gerichteten Schreiben, mit den von Nietzsche vorgebrachten Wünschen Thematisierungen seiner eigenen Rolle innerhalb der Familie verbunden sind.23 Genau diese Verbindung zeigen auch die Widmungsgedichte, die Nietzsche 1856 und 1858 Sammlungen eigener Gedichte voranstellt, die er seiner Mutter zu derem Geburtsfest überreicht.24 Er agiert hier also innerhalb der familiären Erzählung, indem er beginnt, die ihm zugeschriebene Stelle als

Referent/Adressat auf die Stelle Erzähler/Referent hin zu verlassen. Er ist nicht mehr bloß der Darsteller von ihm von anderen zugeschriebenen Rollen, er verfaßt seine Rollentexte selbst. Dabei scheint er zunächst nichts anderes zu tun, als sich in der Art und Weise, wie ihn die Familienerzählung referiert, zu erzählen, also die ihm zugeschriebene Rolle in eigenen Worten zu übernehmen. Er paraphrasiert die familiäre Erzählung und übernimmt damit die Stelle des Erzählers. Dadurch wird sozusagen die Stelle des Adressaten in diesem Spiel frei. Natürlich ist das Kind von klein auf nicht bloß auf die Rolle des Adressaten festgelegt, sondern übernimmt auch in mehr oder minder großem Ausmaß diejenige des Erzählers, des Sprechenden, die andere Adressaten impliziert. Hier geht es jedoch um den Sonderfall des öffentlich artikulierten Selbstverhältnisses. Im Fall Nietzsches läßt sich nun zeigen, wie dies innerfamiliär zunächst in einem quasi rituellen Rahmen dokumentiert wird, zu dem auch Briefe von Verwandten und Bekannten an Nietzsche gehören. In diesem Rahmen finden wir zwei Arten von Dokumenten. Die einen, in denen Nietzsche zwar als Sprecher auftritt, aber, wo er über sich spricht, da er ja vorgefertigte Texte vorträgt, in die Rolle als Erzähler nicht nur von außen eingesetzt wird, sondern auch in den diesbezüglichen Passagen der Texte die Stelle als Referent/Adressat einnimmt. Er übernimmt, einfach ausgedrückt, eine Fremdthematisierung und gibt sie als Selbstthematisierung aus, resp. wird er dazu angehalten, dies zu tan. Davon unterscheiden sich die anderen Texte zunächst wenig, in denen Nietzsches erste eigene Selbstthematisierungen sich aussprechen. Es ist derselbe Rahmen, innerhalb dessen sie entstehen, wie bei den vorgefertigten Texten, es handelt sich um dieselbe Adressatin wie bei den meisten von diesen. Es scheint also, daß Nietzsche mit den selbstgefertigten Widmungsgedichten bloß zeigt, daß er die

-

-

20

Vgl. KGW 1,1, 84; 1 [64Z] und 102; 1 [76], wo ein „Geburtstagsorakelarium" genannt wird. Eine kurze Analyse des „Weihnachtsorakulariums" (1 [64Z]) habe ich in meiner Arbeit Nietzsches frühe Sprachkritik. Lektüren zu Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne", Wien 1997, 101 f., gegeben. Vgl. grundlegend dazu Johann Figl, „Geburtstagsfeier und Totenkult. Zur Religiosität des Kindes Nietzsche", in: Nietzscheforschung 2, Berlin 1995, 21-34, 22-27; Johann Figl, „Festtagskult und Musik im Leben des jungen Nietzsche", in: Günther Pöltner und Helmuth Vetter (Hg.), Nietzsche und die Musik, 7-16, 8 ff. Vgl. zum folgenden meinen oben, Anm. 2, genannten Beitrag „Nietzsche, Jesus und der Vater". Wie dies erstmals Jörgen Kjaer in seiner Monographie Nietzsche. Die Zerstörung der Humanität durch Mutterliebe, Opladen 1990, 60-64, beschrieben hat. Vgl. KGW 1/1, 115; 2 [1]; 215 f.; 4 [9]. Diesen Zusammenhang habe ich in dem Aufsatz „Nietzsche, Jesus und der Vater" näher begründet. „

21

22 23 24

Hans Gerald Hödl

376

vorgefertigten gelernt hat, daß er also die familiäre Rollenzuschreibung internalisiert hat, daß er, mit anderen Worten, ein braves Kind ist. Denn die Rollenzuschreibung in der familiären Erzählung ist ja nicht nur im Indikativ Präsens verfaßt, sondern zumindest auch im Futur, im Optativ und im Imperativ. Da beide Textsorten schon auf der vordergründigen Ebene mit verschiedenen Adressaten operieren, ist die Sache natürlich noch komplizierter. Der religiös-rituelle Kontext der Feste bringt nämlich noch zusätzlich Gott ins Spiel, der, wie in religiösen Texten üblich, an der Stelle, wo er um Beistand angerufen wird, wo der Text sich also zum Gebet entwickelt, vom Referenten, dem Gegenstand der Erzählung, zum Adressaten, dem Angesprochenen, wird. Aber auch Nietzsche selbst ist stets als Adressat gegenwärtig, da er ja sozusagen die ihm zugeschriebene Rolle als das, was er sein kann und soll, thematisiert. Bei beiden Textsorten haben wir es also mit einer Mehrzahl von Adressaten und einem vielschichtigen Spiel mit den „Positionen" im Sprachspiel zu tun. Innerhalb meiner Ausführungen muß von den auch dokumentierten „Rollenspielen", die Nietzsche mit seinen Freunden inszeniert, und die bis zu einem gewissen Grad ja auch öffentliche Selbstdarstellungen sind, abgesehen werden. Sie werfen eigene hermeneutische Probleme auf, da auch der Kontext dieser Spiele den engeren familiären Rahmen überschreitet. Angemerkt muß werden, daß die Thematik des Rollenspiels bis in Nietzsches Spätphilosophie hinein von Lektion der

Bedeutung bleibt.25

4. Nietzsches

Selbstbeschreibungen

Diese kleine Skizze sollte aber zeigen, daß in Nietzsches Aufzeichnungen Selbstthematisierungen aufzufinden sind, die aus der Zeit vor eindeutig dem genus litterarium Selbstthematisierung zuzuordnenden Aufzeichnungen, wie Tagebuch und Autobiographie, stammen resp. unabhängig von diesen in anderen Texten enthalten sind. Diese genuin autobiographischen Aufzeichnungen entstehen also nicht unvermittelt, sozusagen einem von außen oder von innen eingegebenen willkürlichen Imperativ gehorchend, sondern haben bereits Vorläufer und Parallelen in anderen Texten, widmen sich explizit einem in diesen Texten implizierten Thema, machen eine latente Problematik manifest. Es ist dieselbe Problematik, die Nietzsche 1878 als seinem Lebensweg inhärent betrachtet. Neben einigem anderen, was man diesen Texten entnehmen kann, neben anderen Funktionen, die sie besitzen, wie „Erinnern", Rechenschaft ablegen von den eigenen Tätigkeiten, der Zusammenfassung des Erreichten und dem S ich-Vergegenwärtigen von Plänen und Zielen, haben diese Texte also auch die Funktion, die genannte Bewegung innerhalb der von mir eingeführten Instanzen der Selbsterzählung auszuführen. Diese Bewegung ist ein Aspekt auch all dieser Funktionen, sozusagen ihre „subjektive" Seite. Betrachtet man die Texte nun unter diesem Aspekt, so meine ich, daß man mittels zweier Nietzsche-Zitate die Bewegung der Selbstentwürfe in diesen Selbsterzählungen als diejenige „vom kleinen Stockphilister zum Kritiker der greisenhaften Jugend" betrachten kann. Meiner Ansicht nach ist evident, daß man diese Texte als eine Art Entwicklungsroman lesen kann. Die Entwicklung besteht darin, wie Nietzsche es 1878 für sich selbst notiert hat, in der Bewegung von der Belastung mit fremdem Charakter und Wissen der Rollenzuschrei-

25

Vgl.

den oben, Anm. 3 genannten

Beitrag von Jörg Salaquarda, „Noch einmal Ariadne".



Vom kleinen Stockphilister zum Kritiker"

311

bung von außen zu sich selbst, zum eigenen Standpunkt der erzählten Geschichte gegenüber in dem Nietzsche das Bei-Sich-Selbstzu gelangen. Dies bedeutet, daß bis zum Ecce Homo Angekommen-Sein feiert, die verklärte Stunde der Aneignung des eigenen Wesens als Erzähler, Referent und einziger würdiger Adressat der Erzählung26 ein schwer entwirrbares Geflecht von Nietzsches Versuchen, den Standpunkt des Erzählers zu übernehmen einerseits und der ihm und seinem Auftreten vorgängigen Erzählung andererseits vorliegt, wenn man Selbstthematisierungen Nietzsches vor Augen hat. Hermann Josef Schmidt kommt das Verdienst zu, in seinem Nietzsche absconditus bereits in den Jugendschriften Nietzsches diese Bewegung herausgestellt zu haben, die Texte Nietzsches konsequent als Dokumente des Weges zum eigenen Selbst interpretiert zu haben.27 Er liest aber meines Erachtens die in -

-

-

diesen Texten zu konstatierenden Dissonanzen, Brüche und Widersetzlichkeiten, die insbesondere die Art, in der der Junge jeweils sich selbst in der familiären Erzählung positioniert, zu einfach als eine bewußte Strategie des sein eigenes Selbst gegen die Überfrachtung durch fremden Charakter festhaltenden und festschreibenden kleinen Philosophen. Vor allem in der Art und Weise, wie er das Problem der Adressaten handhabt, läßt sich dies zeigen. Wie meine Ausführungen darlegen sollten, ist, ungeachtet der realen Adressaten eines spezifischen Textes, die Selbstthematisierung Nietzsches, wie die jedes anderen Menschen, grundsätzlich zunächst über andere vermittelt, die somit, auch wo nicht ursprünglich angesprochen, sozusagen natürlicherweise die Rolle des Adressaten mitbestimmen. Anders gesagt: ein nicht direkt adressierter Text wendet sich, wie man sagt, an einen idealen Leser. Dieses „Ideal" ist nun bis zu einem gewissen Grad vom introj ¡zierten Bild der bislang erlebten realen Adressaten mitgebildet. Ebenso ist beim Abfassen von Texten das Bild des ja nicht direkt anwesenden realen Adressaten stets mehr oder minder vom jeweils ausgebildeten Ideal des Adressaten überhaupt und dem Ideal des realen Adressaten mitbestimmt. Der Spielraum der literarischen Strategie wird aber ein anderer sein, ob ein realer Adressat direkt angesprochen wird, wie in Briefen, Widmungen, zu einem Anlaß für jemanden verfaßten Texten, oder ob es sich um Texte handelt, die von vornherein im Horizont einer quasi allgemeinen Anrede, also als an einen idealen Adressaten gerichtete Texte, verfaßt sind. Dazu kommt, daß im Lehrer-Schüler-Verhältais der Lehrer sozusagen als Platzhalter der Allgemeinheit, dem idealen Adressaten schlechthin, auftritt. Eine Funktion der Schule, sofern man in ihr Texte zu verfassen lernt, ist es also auch, die Herausbildung des Adressatenideals, zu dem das eigene Selbst in Korrespondenz (im mehrfachen Wortsinn) steht, zu befördern. Nietzsches Selbstthematisierungen im sozusagen manifesten Sinn wenn man also davon absieht, daß jeder nicht vollkommen formalisierte Text zumindest Spuren von Selbstthematisierung in sich eingeschrieben hat aus den Jahren 1858-1865 liegen uns nun als Lebensbeschreibungen, Tagebücher und Briefe vor. Die realen Adressaten der Briefe sind in den meisten Fällen bekannt oder erschlossen. Bei den übrigen Texten muß man versuchen, solche, die sich an -

-

26

27

Vgl. das Motto zu Ecce homo, KSA 6,263; die Suspendierung der Zeit, die darin liegt, wie auch die Parallele zum .siebten Tag' des ,Gottes der Genesis' hat Sarah Kofman in ihrer Ecce-Homo-Leküre herausgearbeitet: „Des Vendages à la Claude Lorrain",in: Explosion!. De T „Ecce Homo" de Nietzsche, Paris 1992, 145-159. Sie weist auch daraufhin, daß das autobiographische Projekt Nietzsches sich bis ins Jahr 1858 zurückverfolgen läßt. Allerdings zitiert sie nur die Briefe Nietzsches an W. Pinder und seine Tante Rosalie, dieses Projekt betreffend, nicht aber die Autobiographie Nietzsches aus dem Jahr 1858, die sie irrtümlich mit der in GM, Vorrede 3, von Nietzsche beschriebenen ,,erste[n] philosophische^] Schreibübung" (KSA 5, 249) zu identifizieren scheint (158 f.). Die Untertitel der einzelnen Bände paraphrasieren auch den Untertitel von Ecce Homo.

Hans Gerald Hödl

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keinen realen Adressaten direkt wenden, von solchen, die direkt adressiert sind, zu unterscheiden. Die Pfortenser Lebensläufe von 1858 und 1861 (HKGW 1, 33 f; 276-284) sowie der der Valediktionsarbeit 1864 (HKGW 3, 66 ff.) beigegebene sind klar adressiert, sind aber innerhalb des komplexen Lehrer-Schüler-Verhältnisses zu lesen. Des weiteren liegen ein Lebenslaufaus 1858, ein Tagebuch aus 1859 (HKGW 1, 116-155) und eine Lebensbeschreibung aus 186328 vor. Bis zum Ende der Studentenzeit ist noch Nietzsches „Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre" (HKGW 3, 295-315) und das für die Erziehungsbehörde in Basel verfaßte curriculum vitae (HKGW 5, 250-256) sowie die anläßlich der Promotion entstandene lateinische Lebensbeschreibung zu berücksichtigen. Am interessantesten von diesen (als extrapolierter Bezugspunkt der Analysen früherer Texte) ist rein formal der Basler Lebenslauf, der eine diplomatische, zweckgebundene und sachliche Endstufe aus Vorarbeiten von hoher Privatheit, die man rückwärts als Dekonstruktion der Endstufe lesen könnte, hervorgehen läßt.29 Dieser Text, der zwar nicht Thema meiner Ausführungen ist, zeigt etwas für die Interpretation von Lebensbeschreibungen Wichtiges sehr deutlich: auch ein aus einem formalen Grund erfordertes curriculum vitae kann, gerade, da dessen Abfassung mitunter an entscheidenden Lebenswenden verlangt wird, Anlaß zu über den Zweck hinausgehender, ja ihm zuwiderlaufender biographischer Besinnung sein. Ein Grundthema von Nietzsches frühen Autobiographien taucht nun in den Vorstufen zum Basler Lebenslauf als Nietzsche existentiell bedrängende Fragestellung auf: Ist ein theoretischer oder ein künstlerischer Lebensentwurf vorzuziehen? Daß dies ein Grundthema von Nietzsches Denkweg ist, muß nicht mehr bewiesen werden.30 Ich kann in diesem Rahmen die Thematisierung dieser Problematik in Nietzsches Werk nicht im einzelnen darstellen, nur darauf hinweisen, daß sich hier neben wechselnden Herangehensweisen Nietzsches auch unterschiedliche Haltungen konstatieren lassen, was dem experimentell-perspektivischen Charakter seines Denkens entspricht. Es zeugt jedenfalls in vielfacher Hinsicht von pädagogischem Instinkt (man kann diesen positiv oder negativ bewerten), daß in Schulpforta von den eben in die Schule aufgenommenen und damit in einen neuen Lebensabschnitt eingetretenen Untertertianern als erster Aufsatz im Deutschen „Mein Leben" verlangt wurde. Nietzsche hat nun sozusagen im vorauseilenden Gehorsam eine ungeheure Fleißarbeit geliefert. Im Sommer vor dem Wechsel nach Schulpforta verfaßt er „sein Leben". Dieser Text hat keinen klaren Adressaten. Es gibt einige Indizien, die dafür sprechen, daß es sich nicht um einen „Geschenktext" handelt,31 es gibt keinerlei

28 29

Vgl. oben, Anm. 12. Vgl. dazu wiederum

meinen Beitrag „Musik, Wissenschaft und Poesie im Bildungsprogramm des jungen Nietzsche". 30 Zumindest kann man Nietzsches Aussage in seiner Selbstrevision im 1887 geschriebenen Vorwort zur Zweitauflage von GT als Kurzbeweis heranziehen: bis 1887 sei er der Aufgabe nicht fremd geworden, an die er sich in GT erstmals herangewagt habe: „die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens..." (KSA 1, 14). 31 Hauptargument ist, daß der Text selbst nirgends als gewidmeter Text erkenntlich ist und daß der Manuskriptbefund es auch ausschließen läßt, daß eine diesbezügliche Seite verlorengegangen wäre (es fehlen genau die vier Seiten, die anscheinend Elisabeth herausgerissen hat; vgl. meinen oben, Anm. 2 genannten Beitrag in NietzscheStudien 23). Weiters gibt Nietzsche andere Zwecke an. Dazu kommen weitere Beobachtungen. So spricht Nietzsche im Brief Nr. 23 an Franziska Nietzsche von seinem grünen Kasten, in den er „alles wie Bleistift, Schere, Nähzeug hineinstecken könne" (KSB 1, 19), im Brief 28 wird wieder ein solcher .Kasten' erwähnt (aus dem Brief geht hervor, daß es sich um ein Kästchen, keinen Schrank handelt man hat mir gesagt, dies sei nur für einen Österreicher nicht ohnehin klar); im Brief 231 von Ende April 1861 bittet er nun, man möge ihm seine Lebensbeschreibung senden, „die in dem grünen Kasten liegt", da er sie „zu einer anzufertigenden Lebensbeschreibung" -



Vom kleinen Stockphilister zum Kritiker"

379

Indizien dafür, daß es sich um einen solchen handelt, wenn man die von Hermann Josef Schmidt darin vorgefundene „Kontrastkompositionstechnik"32 abzieht. Diese Lesart stellt allerdings eine Interpretation der literarischen Gestaltung Nietzsches dar, die schon davon ausgeht, daß es sich um einen Geschenktext handelt. Daß Nietzsche die familiäre Problematik in seinen Texten aufarbeitet und wie er dies tut, muß hingegen nicht so gedeutet werden. Damit meine ich, daß selbst wenn man Schmidt zugesteht, daß sich die von ihm konstatierten Kontraste zwischen frommen Sprüchen, die einen gütigen Gott thematisieren, und -

beängstigenden Erfahrungen der Bedrohung und Gefährdung durch Mächte, die eigentlich

neben diesem Gott keinen Platz hätten, resp. die dunkle Seite desselben darstellen, in den Texten des jungen Nietzsche findet man dies nicht als bewußte literarische Strategie des Knaben lesen muß. Dies ergibt sich nur dann, wenn prinzipiell zwischen „esoterischen"33 und „exoterischen" Texten unterschieden wird. Die nächste Stufe, die Schmidt supponiert, ist die von esoterischem und exoterischem Sinn der Texte, da, wie Schmidt anzunehmen scheint, in der Atmosphäre der Familie Nietzsche die Möglichkeit der Geheimhaltung nicht gegeben ist. Interpretiert er doch selbst Nietzsches „Tagebuchaufzeichnungen" aus 1859 unter dem Hinweis auf die „Naumburger Leserinnen".34 Freilich ist, wie ich meine, auch die privateste Selbsterzählung des Knaben im Kontext der familiären Erzählung geschrieben und kommentiert diese, bei wachsender „Enthüllung" des eigenen Wesens und Abstreifens des fremden -

lag also bei seinen Sachen. Unter den Weihnachtswünschen 1858 finden sich auch .Bücher zur Biographie'. Die Biographie wird in einem Brief an Wilhelm Pinder erwähnt. Am 1. Februar 1859 schickt Nietzsche Pinder eine Art Fortsetzung, die eine Schilderung seiner Befindlichkeit von der Aufnahme in Pforta enthält: Er setzt also den Text fort (die Absicht ist schon dem Text selbst zu entnehmen), er ist also nicht abgeschlossen, dies könnte ein Indiz dafür sein, daß der erste Teil kein Geschenktext für die Mutter war. Daß er mit Wilhelm darüber korrespondiert, erhärtet diese Interpretationsrichtung. Am 6.2.1859 bittet er Wilhelm mit dem Versprechen der Verschwiegenheit darüber andern gegenüber -, er möge ihm seine Biographie senden. Aus all dem folgt, daß Nietzsche zwar nicht verheimlicht hat, daß er diesen Text abgefaßt hat, daß dieser aber auch nicht ein direkt gewidmeter gewesen ist. Die Möglichkeit, daß es einen zweiten Text gegeben habe, meine ich ausschließen zu können. In meinem oben, Anm. 2 genannten Beitrag in Nietzsche-Studien 23 habe ich nachgewiesen, daß entgegen der Vermutung Schmidts Elisabeth Nietzsche 1895 keine andere Fassung dieser Biographie vorgelegen hat. Freilich hätte 1858 ein solcher existieren können. Dadas Manuskript MP III4 jedoch alle Züge einer Reinschrift zeigt und es unwahrscheinlich erscheint, daß Nietzsche erstens zwei Reinschriften einer solchen relativ umfangreichen Schrift abgefaßt hätte (eine mit, eine ohne Widmung), zweitens so etwas weder irgendwo erwähnt wird noch sich eine solche Schrift erhalten hat, kann man diese Möglichkeit nicht in Betracht ziehen. Denn wir können in einer Interpretation der Texte des jungen Nietzsche nur von den vorliegenden Texten oder von aus Mitteilungen darüber philologisch sauber rekonstruierbaren Texten ausgehen. Eine Unterscheidung zwischen „geheimgehaltenen" Schriften und solchen für die familiäre Öffentlichkeit bestimmten läßt sich in den frühesten Aufzeichnungen Nietzsches, soweit ich sehe, auch nirgends feststellen. Die Autobiographie ginge, wenn man davon ausgeht, daß, was für Pinder gilt, auch für Nietzsche galt, sogar eher in die Richtung „Geheimhaltung", allerdings ist dies Spekulation und nicht zu beweisen (und wird von anderen Umständen auch relativiert). Vgl. Hermann Josef Schmidt, Nietzsche absconditus. Kindheit, 542 ff, 552 (Kontrasttechnik), 562; „Kontrastierung" als literarische Strategie des Knaben Nietzsche wird von Schmidt z. B. 185, 480 f.; 598, Anm. 16, brauche. Sie

-

32

thematisiert. 33 Die dann nur Nietzsche selbst als Adressaten hätten. 34 Hermann Josef Schmidt, Nietzsche absconditus, Jugend 1, 467 ff. setzt in der Analyse die Unterscheidung zwischen beabsichtigter Wirkung auf „Naumburger Leserinnen" (467) und der ,,schmunzelnde[n] Heimtücke" des ,,hintersinnige[n] Jungen" (469), der in der Formulierung den oberflächlichen Sinn ins Gegenteil verkehre und damit dekonstruiere, voraus. Das dort gebrachte Argument des Anklanges an den Schlußsatz der 1858er Biographie (467, falls als Argument gemeint) setzt voraus, was es beweisen will, nämlich die entgegen dem buchstäblichen Sinn der interpretierten Äußerung über die Religion zu konstatierende Abkehr von derselben.

Hans Gerald Hödl

380

Charakters35 auf individuelle Weise. Schmidts Problem ist aber, daß er unbedingt zwischen

einer „exoterischen" und einer „esoterischen"36 Sprechweise des Knaben unterscheiden will. Die Kriterien zur Unterscheidung derselben kann er aber nur aus der Unterscheidung von Privattext und Geschenktext37 ziehen. Mit der Einschreibung der aus dieser Unterscheidung gewonnenen Beschreibung der literarischen Strategie des Knaben in Texte, deren Charakter als „öffentlicher" Text38 nur aus der Konstatierung des Vorhandenseins nämlicher Strategie erschlossen wird, gerät er jedoch in einen Zirkel, der mir gerade kein hermeneutischer zu sein scheint. Er setzt, mit einem Wort, voraus, was er beweisen will.39 Sowohl in der Biographie aus 1858 als auch im Tagebuch von 1859 konstatiert er Paradefälle von angeblich nur in Hinblick auf die familiäre Leserschaft entstandenen Formulierungen, ohne daß er einen Beweis dafür, daß hier im Hinblick auf gerade diese Rezipienten formuliert wird, bringt, der darüber hinausginge, daß des Knaben Texte eben naturgemäß in diesem Kontext formuliert sind. Sind sie das aber nun, so gilt dies für alle Texte des Knaben. Somit fällt aber die ganze Unterscheidung im Ansatz weg. Das bedeutet wiederum nicht, daß man nun von der Lesart, diese Texte dokumentierten den Weg Nietzsches zu sich selbst, abgehen müßte, allerdings wird man gegenüber der „Wahrheit" oder „Verläßlichkeit" von Nietzsches Formulierungen zu einer anderen Einschätzung gelangen. Ich meine, daß man aus diesen Texten wirklich auch Konflikte ablesen kann, daß diese aber von ihm nicht primär als Abwehr- und Emanzipationskampf gegen und von einer eindeutig identifizierbaren Umwelt zu lesen sind, sondern in „Nietzsche" selbst eingetragen sind. Es ist meines Erachtens auch richtig, daß man sich von der einfachen Vorstellung des christlichen Kindes verabschieden muß, das irgendwann, man weiß nicht zu sagen, wie, wo und warum zum „Antichrist" wird. Dennoch können sich auch Untersuchungen wie diejenige von Martin Pernet,40 die noch den Studenten als christlich integrierten Gläubigen anzusehen scheinen, auf gewisse textliche Evidenzen stützen. Zöge man zur Interpretation von Nietzsches Werdegang wie auch seiner späteren biographischen Bezüge nun seine eigene Philosophie der Auflösung eines als „Bleibendes im Wandel" letztlich essentialistisch gedachten Subjektes in interpretative Machtprozesse zumindest in Betracht, so würde sich die ganze Diskussion um „Masken" und „Rollen", die von der naiven Vorstellung ausgeht, es gäbe ein außerhalb dieser existierendes Subjekt, das noch dazu als das eigentliche dem Autor in direkter Introspektion zugänglich ist, von Nietzsches, wohl auch aus Beobachtungen an seinem eigenen Werden entstandenen, polyphonen Denken her wie immer man nun die Relationalität der Person auch interpretieren mag transformieren. Die -

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35 Nietzsche wird im § 3 von „Warum ich so weise bin" die Unterstellung der Verwandtschaft mit seiner Familie als Attentat auf seine Göttlichkeit die göttliche Rolle in der Erzählung" auffassen (vgl. KSA 6,268). 36 Die Kategorien stammen von mir. 37 Oder sonst irgendwie als „öffentlich" stigmatisiertem Text. 38 Die man sonst, so es sich nicht um Schularbeiten, Briefe u. ä. handelt, anhand der Kriterien der Widmung oder Zueignung erkennen könnte wie etwa die Geburtstagsgedichte für die Mutter. 39 Diese Argumentation ist gegenüber dem Vortragstext etwas erweitert, weil Schmidt in einem Brief an mich gemeint hat, die Konstatierung einer petitio principii in seinem Werk sei eher meine Erfindung. Nimmt man „Erfindung" in einem früher noch gebräuchlichen Sinn von „etwas auffinden", so ist's mir recht. Jedenfalls danke ich Schmidt für die Offenheit, mit der er kritische Diskussionen seiner Thesen zuläßt und fördert. 40 Martin Pernet, Das Christentum im Leben des jungen Nietzsche, Opladen 1989. -

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Vom kleinen Stockphilister zum Kritiker"

381

genannte Polyphonie ist eben selbstverständlicherweise nicht unproblematisch, sie ist nicht etwas Glattes, Rundes, Festes.41 Ich habe nun den Verdacht, daß Nietzsches häufige Zitierung der Religion in den frühen

autobiographischen Schriften von 1858 und 1859 vor allem den Sinn der Defragmentierung, der Herstellung eines einheitsstiftenden Sinnes hat und daß Nietzsche darin seinen alten Kinderglauben sozusagen fortspinnt, indem er die Rolle, die Gott in den frühen ihm vorgegebenen Selbstthematisierungen innehat, Referent, Adressat und Garant der erzählten Geschichte zu sein, in seine Selbsterzählungen mit übernimmt. Je mehr er nun die Stelle als Erzähler einnimmt, desto mehr wird „Gott" ausgeblendet, wird zum Atmosphärischen, zum Merkmal der Landschaft seiner Herkunft: 1863 spricht er davon, daß er „als Pflanze nahe dem Gottesacker, als Mensch in einem Pfarrhause geboren" sei.42 Diese Distanzierung wird in der Phase möglich, deren Aufzeichnungen dokumentieren, daß Nietzsche nun in einer Metareflexion noch einmal Abstand zur eigenen Geschichte der Selbstentwürfe nehmen kann, quasi nicht mehr in der Perspektive des stetig Vorwärtsstrebenden befangen ist, sondern diese selbst noch einmal perspektivieren, in Frage stellen, kritisch zu untersuchen vermag. Daß er das theoretische Rüstzeug dazu sich während seiner Selbsterziehung angeeignet hat, wird spätestens mit „Fatum und Geschichte" manifest, wo er auf theoretischer Ebene das Problem von Selbst- und Fremdbestimmung in den Blick bekommt. Von da an, wo ihm sozusagen der alte Garant der Einheit immer mehr abhanden kommt, sucht Nietzsche neue Möglichkeiten, die im nun wieder offenen Horizont von den unerschrockenen und abenteuerlustigen Luftschifffahrern des Geistes und den wagemutigen Genueser Entdeckern aufgesucht werden sollen.43

41 Mit anderen Worten, dies ist keine beruhigende Erklärung, die den Emanzipationskampf von „Nietzsche contra Christentum" abdreht, sondern hier wird es erst spannend, aber u. a. auch deshalb, weil Nietzsche, als er sich in einem Brief an Malwida v. Meysenbug erstmals als „Antichrist" bezeichnet, hinzufügt: „Verlernen wir doch ja das Lachen nicht!" (KSB 6, 357). 42 Vgl. Friedrich Nietzsche, Mein Leben, 14. 43 Hier versage ich mir und den Lesern aus ästhetischen Gründen die „gelehrte Befriedigung" (KSA 7,437; 19 [55]); man weiß, was gemeint ist.

Pia Daniela Volz

„Mein Träumen und mein Hoffen?" Narzißtische Traumstimmung und Traumdichtung beim jungen Nietzsche Für Anna Buchheim

Viele wiederkehrende Motive in der Jugenddichtung Nietzsches wie etwa das Bild der Seefahrt, des Schiffbruchs, des Vogelflugs sind vor allem in den Interpretationen Hermann Josef Schmidts in ihrer Entwicklungsdynamik und ihrer poetologischen Bedeutung ausführlich vorgestellt werden, hingegen hat das Motiv des Traumes und des Träumens bisher kaum Aufmerksamkeit gefunden. Ich möche daher versuchen mit einer der psychoanalytischen Profession eigenen Überzeugung, daß die leisen, verschwiegenen Untertöne die aufschlußreichen sind an einigen Beispielen aufzeigen, inwiefern sie auf eine básale narzißtische Problematik Nietzsches hinweisen. Ein 80 Verse langes Herzgedicht des 17jährigen Nietzsche hebt an mit nicht untypischem pubertärem melancholischem Duktus: -

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„So schwer mein Herz, so trüb die Zeit Und nie Genügen: [...] Und wer mir auch sein Herz geschenkt Wohin die Lieben? Und wer mit Wasser mich getränkt Wo sind sie alle blieben? Und jeder helle Sonnenblick, Der mich getroffen -? Wer nahm den letzten Rest von Glück, Mein Träumen und mein Hoffen?"1

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Sind das nicht klischeehafte Formulierungen aus dem Wortarsenal der allzubekannten romantischen „Weltschmerz"-Dichtung in Eichendorff schem Wehmutston oder schon ironisch gebrochen in Heine'scher Manier? Ist gerade die letzte Frage nicht rein rhetorisch? Schmidt versteht diese allerdings als letzte Steigerung' der darunterliegenden Frage nach dem ureigensten Selbst, gefaßt im Bild des zuckenden Herzens.2 Tritt die Trias Glück, Träumen, Hoffen hier an die Stelle der christlichen Trias Glaube, Hoffnung, Liebe? Einem Beispiel wie diesem in dem „Träumen", reales wie erdichtetes-dichterisches, als eine Verdichtung aus Hoffnung auf zukünftiges (Liebes)Glück und Vergegenwärtigung von ,

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n. Hermann Josef Schmidt, Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche. II. Jugend, 2. Teilbd. 1862-1864, Berlin/Aschaffenburg 1994, 337. 2 Ebd., 342.

1

Zit.

Pia Daniela Volz

384

Vergangenem eine Art ,halluzinatorischer Wunscherfüllung' zu sein scheint lassen sich viele, beliebig viele weitere „Traumstellen" an die Seite stellen: -

„In seinen Schattenräumen (des Waldes) Vergass ich allen Schmerz Es kam in stillen Träumen Der Friede in mein Herz."

(Heimkehr, 1859) „Verlass mich nie, Mein Glück, du bunter Traum!" (Ohne Heimat, 1859) „Da zieht der hoffnungsvolle Jugendtraum Noch einmal an dem matten Herz hinüber"

(Verloren, I860) „Weiß nicht, ob die Stunde Meiner Lust verblüht; Traumhaft die Erinnrung Singt ihr seltsam Lied."

(Heimkehr, 1863)

Während das „Traumhafte" eine der Lyrik eigene, typische, nicht weiter zu hinterfragende Ingredienz zu sein scheint, nimmt in den Biographien diese Nachtseite des sensiblen Knaben breiten Raum ein. Unbestritten ist

es

Joachim Köhlers

Verdienst, in seiner Nietzsche-Bio-

graphie Zarathustras Geheimnis (1989) eindringlich wie keiner vor ihm sein Augenmerk auf die schaurigen Alpträume Nietzsches gelegt zu haben. Immer wieder taucht der Geist des toten Vaters als ,schaurig weiße Gestalt', als Mitternachts-Spuk, als Klanggespenst auf, wobei Köhler in überzeugender Weise den Bogen spannt vom Orgeltraum des fünfjährigen Knaben (vom Begräbnis des Vaters) bis hin zu „Zarathustras-Nachtwandler-Lied": „Aus tiefem Traum bin ich erwacht: [...] Weh spricht: Vergeh! Doch alle Lust will Ewigkeit -". (KSA 4, 398 ff.)3 -

-

von „Vaterschmerz, Väterschmerz, Urväterschmerz" tönt, redet „so heimlich, so schrecklich, so herzlich". Der rote Faden, die verschlüsselte Botschaft' in Nietzsches

Die alte Glocke, die

Lebenslabyrinth ist für Köhler dabei die geheimgehalten-phantasierte (und nur verstecktverschämt ausgelebte) homoerotische Lustwelt Nietzsches mit ihrer Kehrseite der nächtlichen Straf- und Schreckphantasien. Schmidt kritisiert wiederum diese Alptraum-Theorie als zu einseitig: ihm erscheint Nietzsche nicht als Opfer seines Wiederholungszwanges, in ewiger „Wiederholung des Gleichen" immer neue Bilder für sein Kindheitstrauma (den Verlust des Vaters) aufzuhäufen, er legt das Augenmerk vielmehr auf die gelungene Selbst-Überwindung Nietzsches im neurotischen Unglück. 3

Siehe dazu auch Karl Heinz Bohrer, Der Abschied. Theorie der Trauer. Baudelaire. Goethe, Nietzsche. Benjamin, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1997. Bohrer setzt neben die in seinen früheren Arbeiten herausgearbeitete ästhetischen Kategorien des Schreckens und des Plötzlichen einen weiteren ästhetischen Modus: die Figur des reflexiven Abschieds mit dem .sehnenden Klagelaut über einen unersetzlichen Verlust'.



Mein Träumen und mein

Hoffen?

"

385

Mich wiederum fasziniert die geheime Ambivalenz von Alptraum und Liebestraum, wie sie als unheimliche Traumstimmung in den überlieferten Träumen Nietzsches auftritt, wobei (im Sinne von Freuds gleichnamigen Essay4) das Unheimliche auch deswegen so schreckt, weil in Anlehnung es das zutiefst Heimelige, Alt-Vertraute ist. Mit, Traumdichtung' möchte ich Nietzsches an Schmidts Vorstellung von Nietzsches auto-bibliotherapeutischer Meisterung Bemühen kennzeichnen, das Unerträgliche in Bannung durch das Wort ästhetisch-lustvollerträglich zu gestalten. Wenn ich im folgenden eine traum-analoge Auslegung einiger weniger Beispiele vorlege, so wandle ich damit das Gesamtmotto der Tagung „denn ich liebe es schreibend zu denken" fokusierend auf die innere Phantasiewelt Nietzsches- sinngemäß ab: „denn ich liebe es träumend zu schreiben", was so viel heißt wie: „denn ich versuche schreibend meine Träume zu vergessen". Die existentielle Antinomie zwischen Libido und Lethe (um hier eine Freuds „Lebens- und Todestrieb" vorausgehende Formulierung aufzugreifen) imponiert bei Nietzsche als sehnsüchtiges Erhoffen einstigen unvergessenen Glücks in einer kindlich-vergeßlichen Ewigkeit oder schöpferischen Vergessenheit (wie beim Kind, das sich lachend die ,bösen Träume von der Stirne streicht') und einem Hoffen, daß das Ersehnte als zu schmerzlich gefühlte Nähe nie in Erfüllung gehen möge. Aber liegt das nicht fernab von Nietzsches eigener Traum-Theorie? Mit stupend akribischer Quellenaufspürarbeit hat Hubert Treiber5 gezeigt, wie Nietzsche, angeregt durch die Lektüre von Hermann Helmholtz' Physiologischer Optik (1867) Augenbilder und Traumbilder unkonventionell zusammenbringt, nämlich die dem Traum durch Vorspiegelung einer zweiten Realität zugeschriebene illusionäre Wirkung zur Aufklärung und Desillusionierung des Seh- und Wahrnehmungsvorgangs benutzt. Seine theoretischen Äußerungen über das Phänomen des Träumens (vor allem in der Tragödienschrift) entsprechen ganz dem Bildungsstand seiner Zeit: z. B. Leibreize als Traumvoraussetzung aufzufassen; endooptische Erscheinungen als phantastische „Schlummerbilder" zu deuten; den Traum als uraltes Menschheitserbe zu begreifen, seinen Illusionscharakter hervorzuheben und seine Hieroglyphensprache im Sinne einer Erzählsymbolik für deutungswürdig zu halten. '

,

-

-

-

-

„Unsere Träume sind [...] symbolische Scenen- und Bilder-Ketten an Stelle einer erzählen-

den Dichter-Sprache, sie umschreiben unsere Erlebnisse oder Erwartungen oder Verhältnisse mit dichterischer Kühnheit und Bestimmtheit."6

Mag dies von den erlebten Traumbildern gelten, so scheint mir beim lyrischen Träumen das Gegenteil der Fall zu sein. In der Jugenddichtung fungieren die Worte wie „traumhaft" „träumerisch" „träumend" eher als Verdichtungsworte für gemischt-unbestimmbare, in sfumato getauchte Gefühlswelten: lebensmüd- und lebenssehnsuchtsvoll, todesbang und liebestoll, schlummernd-ruhend, unruhig bewegt, nicht wissend gefühlsverwirrt ist da das lyrische Ich, beunruhigt durch das Nicht-Faßbare, das es überkömmt, „überthaut" aus unwägbaren Tiefen oder Untiefen. Meine These ist, daß das chiffreartige Wort „Traum" immer dann von Nietzsche eingesetzt wird, wenn es gilt, in ihrer schmerzhaften Konflikthaftigkeit schwer -

faßbare Gefühle

4 5

zu

überdecken und

zugleich

ins Wort

Sigmund Freud, Das Unheimliche, Frankfurt a.M. 1963, 45-84. In: Hubert Treiber, „Zur ,Logik des Traumes' bei Nietzsche",

zu

bringen.

Doch

was

wäre der

in: Nietzsche-Studien 23/1994, 1-41. S. auch Christina M. Lissmann, Der Traum bei Nietzsche, Diss. Wien 1996. 6 Hubert Treiber, „Zur ,Logik des Traumes' bei Nietzsche", 27.

Pia Daniela Volz

386

Konflikt? Zunächst einmal die für jedes Lebensalter neu aufbrechende Dialektik von befriedigender Phantasiewelt und begrenzender enttäuschender Realität. So könnten wir Nietzsches Jugendgedichte denn auch als kompromißhafte Tagtraum-Gebilde auffassen, die unbewußte Triebimpulse und Bindungswünsche in entstellter, abgewehrter Form aufweisen. Diese Auffassung von der Dichtung als Umgang mit imaginierten Spiel-Objekten geht bekanntlich auf Freud7 und müßte (was hier zu weit ab führt) in den Kontext moderner Kreativitätstheorien gerückt werden. Wenden wir uns zunächst dem folgenden „Traumgedicht" zu, um uns zu fragen, was wir über das lyrische Ich erfahren? Es ist ein Gedicht ohne Titel des 17jährigen Nietzsche vom Juli 1862, das Schmidt als „Weltschmerzgedicht" im Tone romantischer Ironie, ganz auf der Linie der ,Lebensmüdigkeitsgedichte' des Vorjahres auffaßt:8

„Die Vergangenheit ist mir lieber als die Gegenwart; aber ich

glaube an eine bessere Zukunft.

Entflohn die holden Träume, Entflohn Vergangenheit, Die Gegenwart ist schaurig, Die Zukunft trüb und weit. Ich habe nie empfunden Des Lebens Lust und Glück, Auf Zeiten längst entschwunden Schau traurig ich zurück. Ich weiß nicht, was ich liebe, Ich hab nicht Fried noch Ruh, Ich weiß nicht, was ich glaube, Was leb ich noch, wozu?

Ich möchte sterben, sterben Schlummern auf grüner Haid', Über mir ziehen die Wolken, Um mich Waldeinsamkeit. Des Weltalls ewge Räder Rollen im kreisenden Lauf, Des Erdballs rostge Feder Zieht stets sich von selber auf.

7

8

Sigmund Freud, „Der Dichterund das Phantasieren", in: Das Unheimliche, 7-18: „Der Dichter tut nun dasselbe wie das spielende Kind; er erschafft eine Phantasiewelt, die er sehr ernst nimmt [...] während er sie von der Wirklichkeit scharf sondert." (8) Zit. n. Hermann Josef Schmidt, Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche. II. Jugend, 136, und nach Ms. Korrekturen

von

Hermann Josef Schmidt.

„Mein Träumen und mein Hoffen?

"

387

Wie schön, so 'rumzufliegen Als Luft um den kreisenden Ball, In alle Winkel zu kriechen versiegen im schwebenden All! Wie schön, die Welt zu verschlingen In universellen Drang. Und dann eine Zeitschrift zu schreiben Über den Weltumfang. In meines

Magens Schlünde ich Zwängt Unendlichkeit, Bewies dann durch tausend Gründe, Endlich sei Welt und Zeit. Der Mensch ist nicht der Gottheit

Würdiges Ebenbild Von

Tag zu Tag vertrackter

Nach meinem Urcharakter Gestalt' ich mir auch Gott. Ich wacht von schweren Träumen Durch dumpfes Läuten auf."

Schmidt weist unter der Überschrift „Ein Selbstbekenntnis?" überzeugend nach, daß das Gedicht in Nietzschespezifischer „intrapsychischer Polyphonie" im Sinne einer Synthese von „vertraut und neu" zugleich wichtige Themen anschlägt, als da wären: der Vanitas-Habitus eines jungen Hamlet, das Changieren zwischen den Zeiten, mit Rekurs auf eine glückliche „frühkindliche Vergangenheit oraler und akustischer Verwöhnung", die Sinnkrise des fehlenden „wozu?", das Bild der kosmischen Uhr und ihrer Triebfedern, die Glaubenskrise, das Umkippen ins erleichterte Lachen, der religionskritische Ansatz à la Feuerbach. Auch das Motiv des Träumens scheint vertraut: so gehören die holden Träume zur romantischen Staffage und die schweren Träume zum Vatertrauma. Bleibt offen, zu welchem Selbst-Verständnis sich das Text-Ich bekennt (das natürlich nicht identisch mit dem des jungen Nietzsche sein muß). Das Eingangs-Motto scheint geradezu eine Bestätigung der Auffassung Freuds zu sein, der eine Phantasie als ,gleichsam zwischen drei Zeiten schwebend' beschreibt, in dem ein aktueller Eindruck der Gegenwart, der die Erinnerung an ein infantiles Glück weckt, in Zukunft als erfüllt dargestellt wird.9 Die Einrahmung des Gedichts durch die Anfangszeilen: „Entflohn die holden Träume" und die Endzeilen

9

Sigmund Freud, „Der Dichter und das Phantasieren", 12: „wie der Wunsch einen Anlaß der Gegenwart benützt, um sich nach dem Muster der Vergangenheit ein Zukunftsbild zu entwerfen."

Pia Daniela Volz

388

„Ich wacht von schweren Träumen durch

dumpfes Läuten auf

gibt dem

Gedicht m. E. insgesamt den Charakter eines Tagtraums: die Vergangenheit, die die Nacht, Kindheit, auf die nur eine sentimentale Rückschau möglich ist, sind als flüchtig und illusionär doppelt „entflohn"; das poetische Ich findet sich unsanft in der „schaurigen Gegenwart" wieder, die durch Unsicherheit und Nicht-Wissen gekennzeichnet ist. Was wunders, daß sogleich die romantische Todessehnsucht einsetzt, die in anderen Gedichten ausdrücklich als „träumend Entschlummern" beschworen wird. Die Flucht aus der Realität wird als Grandiositätsvorstellung in der Phantasie lustvoll erlebt:

„Wie schön, so 'rumzufliegen

Versiegen im schwebenden All!" Der prometheisch-faustische Drang, die Welt im Universalwissen denkend zu erkennen, konfrontiert dann allerdings wieder mit der Begrenztheit der Realität:

„Bewies dann durch tausend Gründe Endlich sei Welt und Zeit."

Endprodukt dieses kühnen Denkens ist auch die Einsicht, daß die Gottesvorstellung letztlich eine Projektion der eigenen welterschaffenden Großartigkeit ist: „Nach meinem Urcharakter

gestalt ich mir auch Gott." In der Phantasie ist dem Dichter und dem Ich alles möglich. Doch um welchen Preis? Die Ahndung der Hybris führt zum Erwachen und das „dumpfe Läuten" mahnt wie wir noch sehen werden nicht nur an Tod, sondern an alte Schuld. Das Aufwachen entläßt aber ins alte Elend der Gegenwart und nur im erneuten Dichten erhält sich der Glaube an eine bessere Zukunft. Während Schmidt im Inhalt des Gedichtes eine gelungene Ironisierung und Distanzierung des jungen Nietzsche von seinen pubertätsspezifischen Lebensproblemen erkennt, neige ich eher der Aufassung zu, daß selbst das Dichten Nietzsches Lebensproblem nicht lindem konnte, sondern ihn zu immer neuen dichterischen Höhenflügen gezwungen hat. Welcher Art mochte dies Problem gewesen sein? Ein Vers aus dem bereits erwähnten Gedicht mit dem Titelmotto „Mein Träumen und mein Hoffen?" spitzt ein Jahr später die Problematik noch zu. Es heißt da: -

-

„Die Schrift, die auf dem weißen Grund Ein Gott gezogen: Der Gott war ich und dieser Grund hat sich und mich belogen. -'"°

10 Hermann Josef Schmidt,

Jugend, 2. Teilbd., 338.

„Mein Träumen und mein Hoffen?"

389

Das Thema, das hier aufbricht, ist die Identitätsunsicherheit, die alte Frage: Wer bin ich im Grund? Das Kind (nach antiker Vorstellung einer Wachstafel vergleichbar, die von den Eltern beschrieben wird) findet sich hier auf sich selbst zurückgeworfen vor. Es hat sich selbst in der großartigen Projektion seines Gegenübers „erfunden". Da aber die spiegelnde Anerkennung für das, was es wirklich war und fühlte, ausblieb, mußte der Verdacht der ,Schauspielerei', der Selbstverfehlung, des Nichts-Sein als Schatten auf die Seele und Körper fallen. So gesehen läßt sich das Dichten als Medium nicht der Selbstverwirklichung, sondern der Selbstvergewisserung begreifen, als potenterer Erbe der Mutter, die niemals dem werdenden Selbst genug Realisierungsformen zur Verfügung stellen kann. Wenn wir nun in aller problematischen Verkürzung diese básale Verunsichertheit des lyrischen Ich als Selbstbekenntnis Nietzsches auffassen, so ist damit schmerzlich klar sein Grundproblem artikuliert: seine narzißtische Neurose, die zwar dichterisch ausgesprochen, ironiosiert, distanziert, aber nicht geheilt werden konnte. Ich meine damit (in Anlehnung an Kohut") ein Konzept von Narzißmus im Sinne einer Störung des Selbst-Regulations-Vermögens, das Ergebnis einer zentralen Liebesversagung in der Kindheit ist mit der Folge, daß das Ich seine Libdio von der Welt abzieht und auf sich zurückführt. In der eigentümlichen Überbesetzung des Ich-Ideals und eines grandiosen Selbst geht die Welt verloren. Ein phantasiertes Ich (ein „reines Ich", ein Traum-Ich) wird zum Schutzwall sowohl vor den Bedrängnissen der Außenwelt als auch vor den (Trieb)gefahren der Innen-Welt. Diese Störung resultiert m. E. bei Nietzsche aus einer subtilen Interaktions-Störung, die Mutter und Sohn von Geburt an entzweite und bei ihm eine tiefe (fixierte) Sehnsucht nach der pränatalen Seligkeit zurückließ. Ich sehe Nietzsche dabei weniger als Opfer einer angeblich kalten, überforderten, bigotten, prüden Mutter (oder wie die Zerrbilder auch immer sein mögen),12 sondern vermute ein tragisches Scheitern dieses Mutter-Kind-Paares. Über die Gründe des Scheiterns kann im nachhinein nur spekuliert werden; bekanntlich hat Schmidt einige Fingerzeige gegeben.13 Wenig bekannt ist etwa, daß Nietzsche einige wenige Tage nach der Geburt wegen „Brustentzündung" von seiner Mutter nicht mehr gestillt werden konnte und die mütterliche Brust auch nach Abheilung derselben verweigerte, die einer Naumburger Amme Hanna aber acht Monate lang akzeptierte. Warum ist diese für das erste Lebensjahr Nietzsches so ,lebenswichtige' Person bisher in der Nietzsche-Literatur nirgends aufgetaucht? Was wußte der ältere Nietzsche von ihr? Wurde sie in der Familie verschwiegen'? Es gibt Anzeichen, daß Franziska neidisch auf die ,Nebenmutter' diese bald wieder aus dem Haus haben wollte und bei ihren beiden anderen Kindern das Glück betonte, selbst gestillt zu haben. Sollte gar die süße Milch der Amme die Basis jenes frühen Glücks Nietzsches sein, von dem es in einer kurzen autobiographischen Notiz 1858 heißt: -

-

-

11 Ralph J. Butzer, Heinz Kohut zur Einführung, Hamburg 1997. 12 Sehr kritisch z. B. Jörgen Kjaer, Die Zerstörung der Humanität durch Mutterliebe, Opladen 1990. Er nennt Franziska Nietzsche eine .narzißtische Mutter', die ihren Sohn als Heilsbringer ihrer Erwartungen gesehen hat (und daraus ihren Selbstwert bezogen hat), aber deren .größte gemeinsame Nähe in Gedanken an den Toten (Mann) bestand'. Siehe dazu auch Klaus Goch, Franziska Nietzsche, Frankfurt a.M. 1994. Bei Goch entsteht ein gerechteres' Bild der Persönlichkeit von Nietzsches Mutter in ihrer idiosynkratischen Religiosität bzw. pathologischen Trauerreaktion. 13 Siehe dazu Hermann Josef Schmidt, „Die Genese des Tiefenpsychologen Nietzsche". Vortrag auf dem Dortmunder Nietzsche-Kolloqium (1995). Gespannt dürfen wir auch sein auf die Ergebnisse der intensiven Forschungen von Ursula Losch (Dortmund), die basierend auf dem Studium der ausgedehnten Verwandtschafts-Briefwechsel manch Unbekanntes über Nietzsches Mutter zu Tage fördert.

Pia Daniela Volz

390

„Mein frühste Jugendzeit floß still und ungetrübt dahin und umsäuselte mich sanft gleich einem süßen Traum"?14

Möglicherweise ist die fehlende Passung zwischen Friedrich und Franziska Nietzsche (denken wir nur an das Wort des späten Nietzsche „Mir mißfällt die Stimme meiner Mutter") eine Facette mißglückter Empathie in dieser Mutter-Kind-Dyade, die eine Entwicklung elementaren Ur-Vertrauens gestört hat. So ist z. B. die hypertrophische (von Freud bekanntlich als einzigartig gepriesene) Introspektionsfähigkeit (Einfühlung in die eigene innere Welt) Nietzsches m. E. Folge seiner existentiellen Verunsicherung in der Beziehung zum Anderen, zum Mitmenschen und zugleich Basis seiner genialen seismographischen Begabtheit im Aufspüren von Fragwürdigem. Gestört war und blieb bei Nietzsche um mit Kohut zu sprechen das „KernSelbst", jene kohärente, dauerhafte und zugleich wandelbare, im Laufe des Lebens im Umbau begriffene Struktur, die den Kern der Persönlichkeit (Gefühl des Sich-Gleich-Bleibens auf einer Zeitachse) darstellt. Das bipolar gedachte Selbst entsteht, indem zum einen das Kind den einen Pol des Größenselbst (der aus der Funktion der liebevoll spiegelnden Eltern als Selbstobjekte entsteht) mit der Ambition von Stärke, Erfolg und Effektanz (Selbstachtung, Selbstwertgefühl) aufbaut (und später zugunsten des Real-Ich relativiert); zum anderen, indem der Pol mit den basalen Idealen sowie selbstberuhigenden Funktionen (aus der idealisierenden Elternimago entstehend) wachsen kann. Der energetische Spannungsbogen zwischen diesen beiden Polen wird durch den Bereich der progressiven Neutralisierung (Bereich der kreativen Begabungen und Fähigkeiten) reguliert. Auf Nietzsche bezogen mag das bedeuten, daß die mangelnde Entidealisierung des Vaters (verhindert durch den frühen Tod) zum Persistieren eines grandios-exhibitionistischen Selbst führte, da die Mutter aufgrund ihrer Depressivität nicht für die Strukturauffüllung (und entwicklungsgemäß vorübergehenden Idealisierung) zur Verfügung stand. Zwar hatte die Internalisierung der Vater-Imago stattgefunden, aber um den Preis einer Überbesetzung der Ich-Ideal-Bildung in Form eines schlechten Gewissens.15 Dem grandiosen Selbst stand ein verborgenes in „Selbstüberwindung negiertes" schwaches Selbst gegenüber, das zu seiner Vergewisserung und Beruhigung immer auf äußere Selbstobjekte (z. B. die ihn anhimmelnde Schwester, Freunde wie Peter Gast) angewiesen war. Bei einem primären Defekt im Selbst enspricht dem Selbstobjektbedürfhis der Spiegelung (dem frühen „Glanz im Auge der Mutter") im späteren Leben die Spiegelübertragung, d. h. die Verwendung des Du nicht als Objekt, sondern als Selbstobjekt. Der Andere wird als Stützung der Kohärenz erlebt und benötigt und wird fünktionalisiert, um den eigen Selbstwert zu erhöhen. Ich denke z. B. an das S ich-Verweigern Lous als Schülerin, was bei Nietzsche zum Umschlag in enttäuschte Hoffnung und entwertenden Haß führte, und an die ,Unersetzbarkeit' seiner Mutter als Selbstobjekt, was zu der unauflöslichen Angewiesenheit in alltagspraktischen Dingen führte. Bei der ähnlich gelagerten Zwillings- oder Alter Ego-Übertragung (die dem Selbstobjekt-Bedürfhis nach Gleichheit und Zugehörigkeit entspricht) wird der Andere als getrennter Träger der eigenen Vollkommenheit erlebt (hier denke ich an die Erschaffung Zarathustras als Alter Ego'). Bei Nietzsche lassen sich die typischerweise unklaren -

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,

14 Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, Bd. III, 39. 15 Der Psychiater Gaetano Benedetti machte in seinem Aufsatz „Die narzißtische Problematik bei Nietzsche" auch darauf aufmerksam, daß die „Wunderliche Drei-Einigkeit", die sich Nietzsche im Alter von 12 Jahren ersann, nämlich „Gott-Vater, Gott-Sohn und Gott-Teufel", eine narzißtische Problematik der „umgekehrten Selbstspiegelung mit einer Wende zur Selbstnegation" verrät (in: Narzißmus beim Einzelnen und in der Gruppe, Bern

1989, 11-21).

„Mein Träumen und mein Hoffen?"

391

Beschwerden der narzißtischen Persönlichkeitsstörung finden wie Gefühle der Leere und Depressivität, starke Kränkbarkeit und Reizbarkeit sowie (masochistisch) perverse Phantasien. Charakteristisch ist ein intensiv empfundener seelischer Schmerz, der aus der beständigen Differenz zwischen aktuellem und ideellem Selbstzustand hervorgeht (und sich in Unwertgefühl, Schuld und Scham äußert). Nun können Selbstobjekterfahrungen in der Beziehung zu anderen Menschen und/oder zu Dingen der Außenwelt (Kunst, Literatur) gemacht werden. Das strukturell schwache Selbst entwickelt also kompensatorische Strukturen, die aber, sofern das Ich im narzißtischen Selbstbezug verhaftet bleibt, zu kreativen Lösungen, nicht aber zur Heilung führen können. Vielleicht ist jetzt besser verstehbar, warum ich aus Zeilen wie den folgenden über den alterstypischen Weiteskapismus eines Pubertierenden hinaus die básale narzißtische Problematik heraushöre:

„Ich habe nie empfunden

Des Lebens Lust und Glück Ich weiß nicht, was ich liebe"

So verstanden entsprechen die ,holden Träume' möglicherweise einem sich Zurückphantasieren zu frühen Erfahrungen prä- und postnataler Rêverie des Neugeborenen an der milchspendenden Brust (ein Ausdruck, der das selige Entschlummern des satten Säuglings kennzeichnet). Das Gegenteil zum Glück einer seligen Gewissheit der ,guten Brust' stellen Vernichtungsphantasien des Säuglings dar, die Melanie Klein im Bild der ,bösen', d. h. der versagenden Brust gefaßt hat. Die ,schweren Träume' sind so gesehen Ausdruck von Bedrohtheitsgefühlen des Selbst, die vor allem durch Verlusterfahrungen und Abschiedssituationen aktiviert werden. Pointierter gesagt: beim pubertierenden Nietzsche mit seiner über das Alterstypische hinausgehenden Identitätsunsicherheit hat das (Tag)Träumen und Dichten stabilisierenden Selbst-Objekt-Charakter, d. h. Selbstberuhigungs- und Selbstvergewisserungsfunktionen. In seiner inneren Welt gibt es wohl archaische Selbst-Objekte (dafür spricht seine Sehnsucht nach der Rückkehr in den Mutterleib Erde, wobei die Mutter zugleich als Verfolgerin, als melancholische Mère mortifière faßbar wird, wie z. B. in der Angst vor dem lebendig Begraben-Werden) und es gibt zudem psychische Strukturen, die aus der Verinnerlichung entstanden sind (wie der idealisierte Vater), aber es gibt keine echten Objekte. Oder schärfer gesagt: die wichtigsten und störendsten Objekte sind die Toten. Die Unsicherheit des ^jährigen Nietzsche, was menschliche Bindung anbelangt, ist in seiner autobiographischen Aufzeichnung „Mein Leben" (1863) bezeugt:

„Und so entwächst der Mensch allem, was ihn einst umschlang, er braucht nicht die Fesseln zu sprengen, sondern unvermutet, wenn ein Gott es gebeut, fallen sie ab; und wo ist der

Ring, der ihn endlich noch umfaßt? Ist es die Welt? Ist es Gott?"16

Und wo, könnten wir ergänzend hinzufügen, ist die „goldene Kette des Selbst"? Das fragile Ich, das starke Abschottung (Panzerung, Burgwall) vonnöten hat, fühlt sich durch die geistige Einverleibung der Welt mächtiger. Alles Äußere wird als Teil des Ich be16 Friedrich

Nietzsche, Werke

in drei

Bänden, Bd. III, 110.

Pia Daniela Volz

392

trachtet oder anders gesagt: in der narzißtischen Blase sucht das Ich im Textraum einen Zugang zur Welt finden das Nicht-Identische ist ausgelöscht. Hier ist eine Vorstufe des langen Traum-Gedichtes bezeichnend, die den Selbstbezug grammatikalisch in der Schwebe beläßt: „Als ich mich noch in der Heimat Der Kindheit Lenz umfieng"17 -

Hier geht es mir weniger um den Wechsel von Aktiv (ich umfieng) zu passiv (ich wurde umfangen) sondern um den Selbstbezug ich mich, der in dieser Vorstufe als Variante unentschieden bleibt. Für dieses Ich-bezogene Ich kann es letztlich nichts Neues geben: -

„Des Erdballs rostge Feder Zieht stets

selber sich auf."

von

Die narzißtische Zufuhr erfolgt in der Überkompensation der und Alles zu sein:

Phantasie, Luft und Alles, Eins

„Wie schön, so ,rumzufliegen Als Luft um den kreisenden Ball, in alle Winkel

zu

kriechen

Versiegen im schwebenden All". Dieses Ich behauptet also

sich, es umgebe als Medium (als Luft) die ganze Welt.

In dieser eine ins nicht das regressiven, grandiosen Mutterleibsphantasie erfolgt Verkehrung Gegenteil: Ei schwebt im Fruchtwasser, sondern das Flugglücksgefühl löst sich ins All auf. In der Realität festzustellen, daß die Erwachsenen mächtiger sind als das kleine Kind, ist bei narzißtisch gestörten Kindern in der oral-kannibalistischen Phase des späteren ersten Lebensjahres mit dem Melancholie-Gefühl zutiefst verbunden, gar nicht richtig zur Welt gekommen zu sein. Dieses Gefühl der Fremdheit, sich selbst und der Welt gegenüber, läßt sich auch als distanzierender Versuch verstehen, Ängste vor vernichtender Selbstentwertung fernzuhalten. Die .ohnmächtige Wut' beinhaltet einen unstillbaren Rachedurst, die narzißtische Kränkung („endlich zu sein") auszumerzen und Ausgleich am verfolgten Objekt zu suchen; im Kosmos der Selbstbezogenheit gibt es daher ein starkes Maß an nicht neutralisierter Aggressivität: von

„Wie schön, die Welt zu verschlingen Im universellen

Drang"

Verse wie diese wirken so gesehen tatsächlich ironisch-distanzierend (wie Schmidt sie liest), da das „wie schön" den ganzen Abgrund des „Welt-Hungers" verbirgt. Das sprachliche Bemühen ist lustvoller Verkehr mit den verbalen Repräsentanzen der Welt (der Mutter der

Objekte):

„Und dann eine Zeitschrift zu schreiben Über den Weltumfang." 17 Hermann Josef Schmidt, Jugend, 2.

Teilbd.,

142.



Mein Träumen und mein

Hoffen?

"

393

Manch einer wird den kosmischen Radius nur im Kontext der faustischen Wissensbegierde verstehen wollen, ein Analytiker hat hier auch die Phantasie von der schwangeren Welt und der möglichen Frage des Kindes: Wer ist hier im Weltenleib? Ist die Mutter in mir? Habe ich sie verschluckt oder fühle ich mich selbst als Teil der Mutter, die mich einverleibt hat? Die Grandiosität der Schwangerschaftsphantasie „Weltumfang" wird durch die Dialektik von Unendlichkeit und Endlichkeit relativiert. Die Gabe der Rede (und des Denkens) ist Trost für die Trennung von der Mutter (entflohn die „holden Träume" des primären Narzißmus). Im Satz verkehren die mit infantilen Triebregungen libidinös besetzten Wörter nach syntagmatischen Regeln miteinander, doch wächst neben dem Wunscherfüllungspotential auch das

Konfliktpotential:

„Von Tag zu Tag vertrackter" Hier schweigt des Dichters Höflichkeit (es folgt eine Zeile Lücke). Die ,Grammatik des Vaters' (um hier einen Lacanschen Ausdruck zu bemühen) verhindert, daß sich Subjekt und Objekt zu nahe kommen:

„Nach meinem Urcharakter (Subjekt) Gestalt ich mir auch Gott"

(Objekt als Selbstobjekt).

Das dumpfe Glockengeläut übertönt die tiefe Verschmelzungs-Sehnsucht, die Sehnsucht nach einem Eins-Sein mit dem idealen omnipotenten Selbstobjekt (wir könnten sagen: mit dem himmlichen Vater und dem irdischen Vater vor der Erkrankung). Die Idealisierung von Autarkie („gestalt ich mir") dient zugleich der Abwehr von Abhängigkeit: in diesem Zusammenhang ist die verworfene Vorfassung interessant, die zu einer unausgefüllten Lücke führte:

„Das Göttliche prägt sich dem Menschen Mit

ewigen Stempeln auf ein"

In der Prägung durch die „Gottheit, die den Stempel aufdrückt" steckt zwar mehr Sicherheit über die Herkunft aus dem Göttlichen, doch auch eine große Abhängigkeit, deren Abwehr die Verkehrung ins Gegenteil erfordert: nun prägt das Ich die Gottheit: „Nach meinem göttlichen Bilde schaff ich mir auch Gott". Solche gotterzeugenden Allmachtsphantasien sind besonders schambesetzt; ich finde deshalb Schmidts Hinweis nützlich, daß der Schlußakzent des Aufwachens am Läuten der dumpfen Glocken auch insgeheim auf die drei „Phantasien" des Zehnjährigen verweist, in denen das Problem des nächtlichen Einkotens (und damit die Fäkalienvorstellung des Todes) angedeutet ist.18 Ist nicht gerade die Herkunft des Menschen zwischen Urin und Faezes (Augustinus) und das, was ihm nächtens wider Willen widerfährt, ein schwerwiegendes Argument gegen seine Göttlichkeit? Was die realen Träume anbelangt, so war Nietzsche Physiologe genug, die Frage nach der Natur des auslösenden Leib- oder Nervenreizes für Handlungen im Traum aufzuwerfen und zugleich die Symbolik des Triebes anzuerkennen:

18

Ebd., 143.

Pia Daniela Volz

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„Unser waches Leben ist ein Ausdeuten innerer Triebvorgänge mit Hülfe des Gedächtnisses an alles Empfundene und Gesehene: eine willkürliche Bildersprache davon, wie das Träumen von der Sensation im Schlafen." (Notiz 6 (81), in: KSA 9, 216.) Ein Traum

aus

der Pfortaer Zeit 1859 ist hierfür ein hübscher Beleg:

„Es ist eigentümlich, wie rege die Phantasie im Traume ist; ich, der ich immer des Nachts

Bänder von Gummi um die Füße trage, träumte, daß zwei Schlangen sich um meine Beine schlängelten, sofort greife ich der einen an den Kopf, wache auf und fühle, daß ich ein Strumpfband in der Hand habe. -""

Uns braucht nicht der in der Wiege mit den Schlangen spielende junge Herakles einzufallen; dieser Traum wird von Nietzsche klar als Leibreiztraum aufgefaßt: der Druck des Gummibandes wird von der regen Phantasie zur sich am Bein hochringelnden Schlange .umgedeutet'. Ich zitiere dieses Beispiel eines überlieferten realen Traumes Nietzsches deshalb, weil wir uns hier (wie auch sonst) hüten sollten, allzu schnell eine triebbestimmte Auslegung zu geben der Art: Welche Schlangen quälten Nietzsche nachts? Bei narzißtischen Regulationsstörungen sind heftige Triebe schwer zu bewältigen: hier ist es aber gerade das Traum-Ich, das mutig der Schlange an den Kopf greift, es erwacht und weiß, was es in der Hand hat. Die moderne Traumdeutung starrt daher nicht mehr (nur) auf Phallus-Symbole, sondern versteht einen solchen Traum gerade unter dem Aspekt der anflutenden Körperreize eher unter der Per-

spektive der Selbst-Ermächtigung und Selbstvergewisserung eines unsicheren Ich. Ich möchte diese Betrachtungsweise noch an einem zweiten realen Traum vertiefen, und zwar am Orgeltraum, der in der Autobiographie „Aus meinem Leben" (1858) überliefert ist. Die einleitende Bemerkung des 13jährigen Nietzsche zu seinem Vorhaben begründet die Notwendigkeit des Aufschreibens mit dem Wunsch, Wesentliches festzuhalten und der Flüchtigkeit des Gedächtnisses zu entreißen: „Die Reihen der Jahre fliegen an meinem Blicke gleich einem verworrenen Traume vorüber".20 Der Text ist Ausdruck einer Selbstvergewisserung (wie bin ich der geworden, der ich bin) in einer pubertären Schwellensituation, nämlich dem Abschied von Naumburg als Mutterort und der bevorstehenden Übersiedlung nach Schulpforta. In der ersten berichteten Kindheitserinnerung taucht ein gemeinsamer Gang mit dem Vater auf, bei dem die Kirchenglocken das Fest der Auferstehung Christi anzeigen ein erhebender Klang, der sogleich ins Wehmütige umschlägt, weil ans Verlorene erinnernd. Unmittelbar im Anschluß an die Szene dann die Erinnerung an den Friedhof! Bald schon fällt auf die Schilderung der Dorfidylle („die Sonnenstrahlen auf der Spiegelfläche und die munteren Fischlein spielen zu sehen, das war meine größte Lust") der Schatten des Unheimlichen. Nietzsche erwähnt das Bild des heiligen Georg in der Pfarrkirche, dessen Anblick ihn immer mit „ge-

-

-

heimem Schauder erfüllte":

„Die hehre Gestalt, die furchtbaren Waffen und das geheimnißvolle Halbdunkel ließen mich ihn immer nur mit Scheu betrachten. Einst, so geht die Sage, sollen seine Augen er-

19 Friedrich Nietzsche, Werke In drei Bänden, Bd. III, 47. 20 Ebd., 13.

„Mein Träumen und mein Hoffen?" schrecklich gefunkelt worden wären. -"21

haben,

so

Der Blick des Drachentöters wird

395

daß alle, die ihn

uns

angesehen hätten,

mit Grausen erfüllt

später noch beschäftigen! Die nächste mir auffallende

„Erinnerungslücke" ist, daß die Geburt von Schwesterchen Elisabeth (Juni 1846) mit keiner Silbe erwähnt, wohl aber das Brüderchen Joseph als „allerliebstes Kind" (Februar 1848) bezeichnet wird. Im Bild des Gewitters wird sodann der Schicksalschlag von der Erkrankung des Vaters gefaßt: die „ungeheuren Schmerzen" des infolge von Hirndruck erblindeten Vaters mußten dem 4 3/4 Jahre alten Jungen furchtbar im Ohr geklungen haben. Der Vater starb am 30. Juli 1849, so daß dessen Tod als „sanftes und seliges Entschlafen" bezeichnet wahrhaft als ,Erlösung' empfunden werden mußte. Auch die Konklusion in dem Ausruf, J\ch Gott! Ich war zum vaterlosen Waisenkind, meine liebe Mutter zur Witwe geworden! —"

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erscheint mir bemerkenswert: Mutter und Sohn werden hier parataktisch aufgereiht, als habe jeder seinen eigenen Schmerz, und doch ist es erst dieser wiederum gemeinsame Schmerz des Verlustes, der Mutter und Sohn in einem Satz vereint. Vier Seiten sind in der Autobiographie herausgerissen; sie waren wie Hans Gerald Hödl aufgrund von Vorstufen vermutet, auch dem Lebenslauf der Mutter gewidmet.22 Der überlieferte Text hat daher erschreckend wenig Mutter-Präsenz aufzuweisen. Ein Gedicht des jungen Nietzsche, „Am Meeresstrand" tituliert (März 1863), handelt von einer trauernden Frau und der Tragik eines Mutter-Sohn-Verhältnisses: -

„Ihr Herze rührt ein ferner Traum, Ein Lied von froher Kinderlust Sie singt es leise, unbewußt, ein Lied von goldner Kinderzeit [...] Doch was sie träumt, doch was sie sinnt Die Wolken wissen's und der Wind. [...] Ihr Sohn war in die Fern hinaus, Sie träumt, daß es ihm wohl ergeht, Sie fürchtet, wenn ein Sturmwind weht, Sie hat ja nichts als ihn allein [...] Sie war sich selbst ein dunkler Traum, Und sollte sie's nicht andern sein? Drum schwieg sie stets und blieb allein." -

-

Wenn aber die Mutter ein „dunkler Traum" ein blinder Spiegel bleibt, wie kann sich dann das Kind darin erkennen?23 Wahrscheinlich ist, daß die trauernde junge Witwe Franziska Nietzsche für ihre Kinder tatsächlich nicht ganz gefühlsmäßig „präsent" sein konnte. Der 13jährige selbst erinnert sich an das Begräbnis seines Vaters im Jahr 1849 mit dem Bild einer Spaltung (die dem Bewußtsein Unerträgliches getrennt zu halten sucht): Der Körper ,

21 Ebd., 14. 22 Hans Gerald Hödl, „Dichtung oder Wahrheit? Einige vorbereitende Anmerkungen zu Nietzsches erster Autobiographie und ihrer Analyse bei H. J. Schmidt", in: Nietzsche-Studien 23/1994, 285-306. 23 Der junge Autor Nietzsche scheint seine Zuflucht zum Leben schlechthin genommen zu haben, am Ende der Autobiographie (von 1858) heißt es: „Ein Spiegel ist das Leben. / In ihm sich zu erkennen, / Möcht ich das erste nennen, / Wonach wir auch nur streben!!" Zit. nach Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, Bd. Ill, S. 39.

Pia Daniela Volz

396

des Vaters wurde dem Schoß der Erde anvertraut, während die „schauende Seele" der Himmel empfing. Als unvergeßlich wird der dumpfe Glockenklang beschrieben. Dieser Klang kehrt in dem Traum wieder, den der junge Nietzsche nun acht Jahre später erstmals schildert. Er will ihn so als 5 l/4jähriger unmittelbar vor dem Tod des 2jährigen Bruders gehabt haben (Ende Jänner 1850): -

-

„In der damaligen Zeit träumte mir einst, ich hörte in der Kirche Orgelton wie beim Begräbniß. Da ich sah, was die Ursache wäre, erhob sich plötzlich ein Grab und mein Vater im Sterbekleid entsteigt demselben. Er eilt in die Kirche und kommt in kurzem mit einem kleinen Kinde im Arm wieder. Der Grabhügel öffnet sich, er steigt hinein und die Decke sinkt wieder auf die Öffnung. Sogleich schweigt der rauschende Orgelschwall und ich erwache. -"24 Wir haben hier also eine Totenerscheinung im Traum vor uns: Das Wort Traum (von althochdt. troum) wird von manchen etymologisch auf das Sanskrit-Wort „druh" (= Totenerscheinung) zurückgeführt. Dem Volksglauben nach (und schon in den Traumbüchern der Antike) bedeutet es Unheil, im Traum Tote zu sehen: es kann nicht nur den Tod dessen bedeuten, der da im Traum gesehen wird (der kleine Joseph), sondern auch gemäß der animistischen Vorstellungen (wenn Blicke töten) auch den Tod des Träumers. Die schrecklichen Augen des heiligen Georg der Anblick des erblindeten Vaters der „Vater im Sterbekleid": wie soll man mit einem derart erschreckenden Anblick umgehen? Nietzsches Antwort: „und kühn selbst dem Tod ins Auge schauen".25 Als Leser ahnen wir nur, welche Erleichterung das Erwachen aus diesem Alptraum bedeutet haben muß, ahnen denn wir erfahren nichts von den Gefühlen des Träumers in diesem anscheinend wie eine kleine Sacherzählung gestalteten Traumbericht. Der Träumer hört und und schaut wie gebannt zu, weil er die Ursache dessen ergründen will, was sich da vor seinem Auge abspielt. Der Charakter der hypnagogen (hypnopompischen) Halluzination macht uns schauern: die Totenerscheinung („er eilt sogleich") wirkt wie ein Spuk, rasch, vorübergehend, ein flüchtiges Bild. Das intellektuelle Verstehen-Wollen schärft den Sinn des wahrnehmenden Träumers, der sich gleichwohl wie gelähmt empfinden muß: die Handlung läuft unbeeinflußbar ab und endet in totengleicher Stille. Der Tote spricht nicht er handelt er raubt, nimmt hinweg die Musik schweigt. Ein Text, der in seiner Gefaßtheit, den erlebten Schrecken zu bannen sucht und der als verdichtete Fassung vergessen wir das nicht nicht mit dem erlebten Traum identisch ist! Die Autobiographie fährt fort: -

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„Den Tag nach dieser Nacht wird plötzlich Josephchen unwohl, bekommt die Krämpfe und

wenig Stunden. Unser Schmerz war ungeheuer. Mein Traum war vollständig in Erfüllung gegangen. Die kleine Leiche wurde auch noch in die Arme des Vaters gelegt. Bei diesem doppelten Unglück war Gott im Himmel unser einziger Trost und Schutz."26 stirbt in

-

24 Ebd., 17. 25 Ebd., 38. 26 Ebd., 17.

„Mein Träumen und mein Hoffen?

"

397

Was ist dieser Traum nun: ein „Wahrtraum" oder ein „Wunschtraum"?27 Wenn das Traumbild Mimikry der Wirklichkeit wird, d. h. in Wirklichkeit das Geträumte eintritt, beinhaltet das Eintreten des Geschauten zumindest die Gewißheit, nicht den Verstand zu verlieren. Und doch wirkt die Gabe der Vorhersehung (der clairvoyance) zu haben wie die schwere Bürde eines unseligen Wissens. Schmidt machte darauf aufmerksam, daß in Elisabeth Förster-Nietzsches Biographie der Traum so dargestellt ist, als habe ihn Fritz der Mutter berichtet, während der vorliegende Text so klingt, als ob ihn Nietzsche wohlweislich für sich behalten hätte. Könnte der scheinbar so exakt datierte Traum auch eine Deckerinnerung sein? Die Vermutung ist, daß der kleine Fritz längst schon vorher die Sorge der Mutter um den kleinen Bruder mitbekommen hatte und daß sich die Geschwister Fritz und Lieschen in solch sorgenvoll überschattetem Milieu fest aneinander gehalten hätten, kurz, ob nicht diese besondere dramatische Nacht (vor dem Tod des Bruders) den Charakter einer ersten gemeinsamen Nacht hatte, eine, in der Elisabeth mit geschickter Hand den Bruder aufzuregen und zu trösten versuchte: zur

„Nun also träumte Fritz, daß wenigstens der Vater nicht mehr allein sein müsse und die kleine Schwester besuchte ihn in der nämlichen Nacht, Wärme suchend und schenkend. (So waren Ludwig und Joseph, Fritz und Lieschen vereint; nur Franziska blieb allein in ihrer -

Depression)."28

Wohl kann ich folgen, daß die Entdeckung der Nachterotik für Nietzsche als eine „Kette von Tod Ambivalenz Lust Angst Geschlecht Weib"29 erlebt worden sein mag. Und doch scheint es mir in dem überlieferten Traum keinen Anhalt dafür zu geben, daß Thanatos und inzestuöser Eros hier in eins fallen. Doch ist es ein psychologisierender Gemeinplatz, daß (wie der Freud-Schüler Wilhelm Stekel exemplifizierte) Personen im Traum libidinöse Bedeutung haben können, genauer, daß Verwandte die Rolle der Genitalien spielen, und zwar der Vater als das Geburtsglied (der Gebärvater), der Bruder ebenfalls den Penis oder den Hoden repräsentierend. Unter dieser Perspektive rangiert für einen, der einen Vater hat, der das Leben (Lust) schenkt und doch auch das Leben (den kleinen Bruder) wieder nimmt, das freie Klavierspiel (ffeudianisch auch als Genitalspiel aufzufassen) weit vor der Wollust. Wenn der Mons veneris als sich öffnender Grabhügel phantasiert wird, so verwundert nicht ein Ekel vor dem ,widerlichen Geheimnis' der Zeugung, ein Mutter-Angst-Abgrund Was könnte die Feststellung: „Mein Traum war vollständig in Erfüllung gegangen" noch bedeuten? Könnte das Motiv der Erfüllung nicht auch im Sinne eines Wandlungstraums verstanden werden: der tote Vater möge endlich aus dem Gesichtsfeld des Träumers verschwinden, damit er selbst endlich Ruhe fände. Die gefürchtete Rückkehr der Toten als „Nachzehrer oder Wiederkehrer" entspringt der animistischen Furcht vor der dämonischen Macht der Todtenseelen. Der Vater, der als Todesengel den kleinen Bruder entführt verrät sich darin nicht auch die Kinderangst, selbst geholt zu werden? Muß eine derartig im Traumbericht schizoid anmutende Affektabgespaltenheit nicht später zum Pathos der Distanz verklärt werden? Ich meine damit die auffallende Verdrängung der Ängstlichkeit, die sich durchgehend bis hin zum Zarathustra zeigen ließe, der kein Düsterling, kein „Traum-Hans" (KSA 4, 355) sein will. ...

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27 Hermann Josef Schmidt, Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche. 28 Ebd., 652. 29 Ebd., 848.

Kindheit, Teil 3, 847.

Pia Daniela Volz

398 In einer zweiten Fassung überliefert Nietzsche denselben (1861), also drei Jahre später, noch einmal:

lauf

Orgeltraum in seinem „Lebens-

„Einige Monate darauf betraf mich ein zweites Unglück, das ich durch einen sonderbaren Traum vorausahnte. Mir war es, als hörte ich aus der nahen Kirche dumpfen Orgelton. Überrascht öffne ich das Fenster, das der Kirche und dem Friedhof zugewandt war. Das Grab meines Vaters tut sich auf, eine weiße Gestalt steigt herauf und verschwindet in der Kirche. Die düsteren, unheimlichen Klänge rauschen fort; die weiße Gestalt erscheint wieder, etwas unter dem Arm tragend, das ich nicht deutlich erkannte. Der Hügel hebt sich, die Gestalt versinkt, die Orgel verstummt ich erwache. Am folgenden Morgen wird mein jüngerer Bruder, ein lebhaftes und begabtes Kind, von Krämpfen überfallen und ist in einer halben Stunde tot. Er wurde ganz unmittelbar an dem Grabe meines Vaters beerdigt. -"30 -

Die wesentlichen Unterschiede in den beiden

Fassungen scheinen mir zu sein:

Version 1:

Version 2:

erhob sich plötzlich ein Grab mein Vater im Sterbekleid entsteigt er kommt m. e. kl. Kind im Arm wieder Die kl. Leiche wurde auch noch in die Arme des Vaters gelegt

das Grab meines Vaters tut sich auf eine weiße Gestalt steigt herauf etwas unter dem Arm tragend ganz unmittelbar a. d. Grabe beerdigt

Unter der Perspektive der modernen Traumforschung, ob und wie wir Affekte träumen, scheint mir dieser zweite überlieferte Traum sprechender zu sein als der erste. Der Traumtext wirkt in manchem undeutlicher („eine weiße Gestalt", „etwas tragend") und doch wirkt er ausgeschmückter: das Traum-Ich ist nicht mehr gelähmt, es öffnet ein Fenster, es versucht zu erkennen, es ist neugierig Was die Wahrnehmung anbelangt, so ist hier in diesem Traum ...

(wie Nietzsche) dem Auge das Ohr als erkennendes semantisches Organ vorgeordnet (Nietzsche entwirft bekanntlich später eine „akroamatische" Phänomenologie der Hör-Welt). Hier im Traum markiert der Orgelton den Klang der Wahrheit und das Gehör läßt sich (im Unterschied zum Auge) nicht verschließen (dies ist auch die auditive Seite der auch sonst bei

Oralität wie in „Zarathustras Nachtlied"). Das Gehörte (die „akustische Halluzination") zwingt zum Näher-Hinschauen. Wir können in der zweiten Traumfassung aber auch eine ganz wesentliche DistanzierungsArbeit im Hinblick auf die typisch narzißtische Todesvereinigungs-Phantasie am Werk sehen. Köhler wies daraufhin, daß die Erlkönig-Zutat „Er hat den Knaben wohl im Arm" in dieser 2. Fassung fehlt. Tatsächlich wird in der ersten Version das Geholt-Werden Josephs als Vereinigung mit dem Vater geschildert ikonographisch mittelalterlichen Darstellungen verpflichtet, in der die kleine Seele (in Gestalt eines Säuglings) in den Armen eines Engels gen Himmel gehoben wird. Eine andere Vermutung zu der Phantasie des Geholt-Werdens wäre die, daß Nietzsche sich unbewußt mit Joseph als einem infantilen Selbst identifiziert haben könnte. Im Horizont der Theodizee-Frage mochte Nietzsche dann durchaus gehadert haben: Warum er und nicht ich? Warum nur durfte nicht ich mit meinem Vater in den Himmel?' -

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30 Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, Bd. III, 93.



Mein Träumen und mein

Hoffen?

399

"

In der zweiten Fassung wird weniger von Nietzsches eigenem Wunsch spürbar, ebenfalls im Tod mit dem Vater vereint zu sein, als „süßer Traum nach langem Leide", wie z. B. noch die Ermanarich-Dichtung vom Frühjahr 1862 Vater und Sohn, den Greis und und den Jüngling im süßen Kuße, im Sterben endlich vereinigt darstellt. Schmidt kritisiert im Hinblick auf eine derartige Todessehnsucht mit Recht, Köhler habe mit der von ihm betonten Angst des Kindes, es könne als nächstes geholt werden (kein Wunder, das es Einschlafstörungen hat), und dem leitmotivisch aufgefaßten Wiedergänger-Motiv (die „mahnende Stimme des Vaters", das Glockenklanggespenst, Daimonion, Tristans seltsame Weise) nur einen Aspekt des ambivalenten Vaterbildes (der Vater als unterweltlicher Todesdämon) berücksichtigt. Es ist hier nicht der Ort, um auf die verschiedenen Facetten von Nietzsches Vaterbild einzugehen: den frühen Vater der Zaubermacht Musik, des freien Phantasierens am Klavier, den strafenden, züchtigenden Vater usw. Auffällig bleibt Nietzsches Idealisierung des Toten, die bis hin zum Ecce homo mit einem traurigen narzißtischen Triumphgefühl des einzigen männlichen Überlebenden einhergeht: -

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„Das Glück meines Daseins, seine Einzigkeit vielleicht, liegt in seinem Verhängniss: ich bin, um es in Räthselform auszudrücken, als mein Vater bereits gestorben, als meine Mutter lebe ich noch und werde alt... Mein Vater war... zart, liebenswürdig und morbid, wie ein nur zum Vorübergehn bestimmtes Wesen, eher eine gütige Erinnerung an das Leben, als das Leben selbst" (KSA 6, 264). -

Charakterisierung des hl. Josef (aus dem Sommer 1863): „Der Charakter des Josef fromm, leichtgläubig (auch Träumen) zartfühlend, enthaltsam"32 klingt wie eine Beschreibung

Auch eine

eigenen Vaters (und der eigenen Wesensart). Der Vater war und blieb in des Wortes doppelter Bedeutung eine Traumgestalt. Wir könnten in dem änigmatischen (sphinxhaften) Bekenntnis Nietzsches aus dem Ecce homo den negativen Ausgang des Ödipuskomplexes herauslesen, wonach aufgrund des in Erfüllung gegangenen vatermörderischen Impulses das Schuldbewußtsein als Todesdrohung fortlebt und nur die Identifizierung mit der Mutter („als meine Mutter lebe ich noch") übrig bleibt. Diese Konstellation disponiert nach Freud bekanntlich zur Homosexualität und zur narzißtischen Objektwahl: der Erwachsene will einen anderen Mann so lieben, wie die Mutter ihn als Jungen geliebt hat und ihr dergestalt treu bleiben („und werde alt"). des

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Es bleibt noch die Frage nach dem „Wunschcharakter" des Traumes. Bekanntlich haben nach Freud Träume, in denen der Tod einer geliebten verwandten Person vorgestellt wird, die Bedeutung, daß der Träumer dieser Person in der Kindheit wohl einmal den Tod gewünscht haben mag. Ein Motiv für einen solchen Todeswunsch wäre z. B. die Eifersucht eines älteren Geschwisters bei der Ankunft eines jüngeren Geschwisterchens. Das Trauma des Vatertodes traf Nietzsche entwicklungspsychologisch gesehen in einer sensitiven Zeit, in der so mutmaßt auch Schmidt der Junge sich durch die Geburt von Elisabeth und Joseph entthront und benachteiligt gefühlt haben mußte. Der Knabe könnte daher äußert erschreckt über die ,Allmacht seiner Gedanken' gewesen sein, nämlich daß sein Wunsch, den gehaßten Rivalen um die Gunst der Mutter zu beseitigen, so bald in Erfüllung ging. Mehr noch: unbewußt mochte der Tod des Vaters und des Bruders als Doppelmord erscheinen. Schmidt bezeichnet -

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31 Hermann Josef Schmidt, Jugend, 2. 32 Ebd., 366.

Teilbd., 260.

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Pia Daniela Volz

400

denn auch die Rekonstruktion, Nietzsche könne sich als magischer Mörder seines Vaters und Brüderchens verstanden haben als „entsetzlichste und modrigste Gruft" Nietzschescher Innerlichkeit." Die Wirkung des traumatischen Verlustes bestand wohl vor allem in der Internalisierung eines strengen Über-Ichs (das Gewissen als .ewige Wiederkehr' des toten bzw. des todbringenden Vaters). Mit anderen Worten: Nietzsches pers¡stierende Identifizierung („als mein Vater bin ich bereits gestorben") weist daraufhin, daß er sich aufgrund unbewußter Schuldgefühle nicht zu ent-identifizieren vermochte.34 Eine andere Wunsch-Bedeutung ist zuletzt noch zu erwähnen: der ambivalente Impetus des kleinen Knaben, den Vater von Gott errettet wissen zu wollen (wie alle Verwandte rings um ihn flehte er Gott um Heilung an) und doch insgeheim zugleich dem Vater eine Verkürzung des Leidens und ein endlich Einschlafen-Können zu wünschen.35 Was, wenn Gott nicht grausamer Mörder des Vaters wäre, sondern seinerseits hilfloser Helfer, der dies Geschick nicht abzuwenden vermochte?36 Ist diesem Gott der Väter noch zu trauen? Das Grab, das sich da auftut, erschüttert den Kinderglauben. Für die glaubenszertrümmernde Wucht des Vatertraumas spricht noch ein anderer von der Schwester aus der Pfortaer Zeit überlieferter Traum Nietzsches:

„das ganze Pfarrhaus von Pobles habe in Trümmern gelegen, und die arme Großmama hätte allein unter dem zerbrochenen Gerüst und Balkenwerk

gesessen".37

Nietzsches Schwester fügt an, Franziska Nietzsche, selbst abergläubig, habe verboten, diesen Traum (den der junge Nietzsche kurz vor dem Tod des Großvaters David Ernst Oehler in Pobles gehabt haben soll) weiterzuerzählen. Hier wiederholt sich das Vorauswissen, das sensible Reagieren auf eine Kastastrophenstimmung: der Tod des Großvaters repräsentiert den Verlust der zweiten Heimat Pobles, zumal wenn wir uns an Nietzsches Wort erinnern, wonach man sehr viel mehr das Kind seiner Großeltern als das seiner Eltern sei... Die Trümmersymbolik der eingestürzten Kirche verweist zudem auch auf den Verlust der geistlich-religiösen Heimat. An dieser Stelle wird spätestens deutlich, daß das Wort „Traum" in der Jugenddichtung mehrfach determiniert eine Verlust-Beschwörung ist: sich auf den Verlust von geliebten Personen, von Heimat und von „glücklicher Kindheit"38 beziehend.

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33 Hermann Josef Schmidt, Kindheit, Teil 3, 888. 34 Natürlich könnte man an dieser Stelle dem Psychoanalytiker Wurmser (Die Maske der Scham, New York 1997) folgen und aufzeigen, inwiefern Nietzsches Werk eine .Philosophie des Konflikts' ist: sie verarbeitet zum einen die Konflikthaftigkeit der eigenen Biographie und ist eine Philosophie, die insgesamt auf einer Konfliktpsychologie basiert. Auffällig ist das splitting eines ambivalent erlebten Über-Ichs: einerseits wurde die eigene Kränklichkeit durch das Gegenbild der ,großen Gesundheit' kompensiert andererseits ging die Verachtung allen Mitleids mit einer Selbstaggressivität einher, die nach außen projiziert wurde (Grausamkeit und Askese als Grundzüge des Christentums). 35 Hermann Josef Schmidt, Kindheit, Teil 3, 852. 36 Ebd., 885. 37 Ebd., 888. 38 Mit Recht behauptet Schmidt, daß sich Nietzsches angeblich „glückliche Kindheit" und der großartige Vater als „Mythos" dechiffrieren lassen, als „Versuch Nietzsches, sich die Vergangenheit erst zu (er)schaffen, die er so gern gehabt hätte (s. Hermann Josef Schmidt, Jugend II, 2, 189). „Durch die Uminterpretation seiner Kindheit in eine besonders glückliche und des Vaterbildes ins fast Ideale verschlechtert -ja zerstört Nietzsche die Möglichkeit klarer Einsicht in die Kontinuität seiner Entwicklung und beraubt sich dadurch der beglückenden Einsicht, daß ,

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Mein Träumen und mein Hoffen?

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"

Ich fasse dabei den Mythos von der glücklichen frühen Kindheit und die „holden Träume" Deckerinnerung auf, die die schmerzliche Realität des frühen Verlusts der Symbiose verbergen soll. So scheint das traumanaloge Dichten immer wieder narzißtische Kränkung und unaufhörlicher Reparationsversuch in einem zu sein. Erst die bittere Realität des Wahns hat ab 1889 der halluzinatorischen d. h. erdichteten Wunscherfüllung ein Ende gesetzt. Vor dem Überscheiten des Rubicon in die Manie war jedoch in vielen fluglustigen Phantasien seine Majestät das Ich der Held vieler Träume. Hierzu ein überraschendes Selbstbekenntnis Nietzsches vom Herbst 1881: als

„Dazu sehe ich schlecht und meine Phantasie ist (im Traum und im Wachen) an Manches

gewöhnt und hält manches für möglich, was Anderen nicht immer bereit sein würde. Ich fliege im Traum, ich weiß, daß es mein Vorrecht ist, ich erinnere mich darin nicht eines Zustandes, wo ich nicht zu fliegen vermöchte. Jede Art von Bogen und Winkeln mit einem leichten Impuls auszuführen, eine fliegende Mathematik das ist ein so eigenes Glück, daß es gewiß bei mir die Grundempfindung des Glücks auf die Dauer durchtränkt hat. Wenn -

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mir ganz wohl zu Muthe werden will, bin ich immer in einem solchen freien Schweben, nach Oben nach Unten willkürlich, ohne Spannung das Eine und ohne Herablassung und Erniedrigung das Andere. ,Aufschwung' so wie Viele dies beschreiben ist mir zu muskelhaft und gewaltsam. Ich verstehe die Korybanten und selbst das dionysische Wesen am besten als Versuche von ungeflügelten Thieren, sich Flügel einzubilden und sich über die Erde zu heben. Lärm gewaltsamster Bewegung wie ein ungeheures Flügelschlagen es wirkt zuletzt fast als ob sie in der Höhe wären." (KSA 9, 655) es

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Dieses Beispiel eines Flugtraums beginnt unvermittelt als ob eine vorausgegangene Argumentation ausgelassen sei mit der Traumfigur des gehenden Blinden' und dem Vergleich zwischen der künstlerischen, kreativen Produktivität im Traum und im Wachen. Das besondere, nicht ohne narzißtischen Stolz geschilderte Erlebnis des Fliegens ist nicht das eines Pegasus oder eines Vogel Albatross, eines ängstlichen Adlers oder melancholischen Geiers. Es ist ein „eigenes Glück" und „Vorrecht". Nun sind lustbetonte Träume vom Fliegen, Fallen oder Schwimmen häufig, erfordern aber, wenn sie wirklich etwas über ihren Träumer verraten sollen, individuelle Deutungen. Freud führte bekanntlich das Behaglichkeitsgefühl des Fliegens auf die Erinnerung des Träumers an kleinkindliche Bewegungsspiele zurück (Bezugspersonen lassen die Kleinen durch die Luft fliegen), wobei im Traum die haltenden Hände wegfallen und das Selber-Fliegen im Vordergrund steht, oft mit sexuellen Lustgefühlen verbunden. Die erotische Deutung der Fliege(Schwebe)Träume beruft sich laut Paul Federn auf das starke Vibrationsgefühl des Körpers bei Erregung und die häufige Verbindung mit Erektionen oder Pollutionen, gewissermaßen als Phänomenen der Aufhebung der Schwerkraft, wobei an die geflügelten Phallen der Antike zu denken sei. Nietzsches Beschreibung seiner Fluglust rekurriert dagegen auf die mythische Figur der Kureten, Jungkrieger, die in ekstatischer Weise als Wirbier oder Drehtänzer in Verbindung mit Dionysos treten und die Illusion einer Erhebung in die Lüfte erzeugen. Nietzsche, der -

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[...] selbsterarbeitete Entwicklung im Sinne positiver Evolution gesehen werden könnte." (Hermann Josef Schmidt, Jugend II, 2, 190) Die (frühkindliche) Persönlichkeitsverformung beschreibt er als Folge des sog. Naumburger Grundkonfliktes von 1858 ebenfalls als Narzißmus-Problematik, nämlich als Konflikt zwischen religiöser Tradition und „Selbstseins- und Selbsterfahrungs- sowie Selbstbe- und Selbstermächtigungstendenz Nietzsches" (Hermann Josef Schmidt, Kindheil, Teil 3, 786). seine

Pia Daniela Volz

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Anhänger der Nervenreiztheorie des Traumes, decouvriert das „Als ob" des Aufschwungs, den er sich lieber sublimiert, mytholgisiert vorstellt denn „muskelhaft und gewaltsam". Spannung und Herabspannung („Erniedrigung" des Erregungspotentials) sind wie Lust und Unlust kein echter Gegensatz. Oben und Unten sind eins wie in der (kleinkindlichen) Omnipotenzphantasie, der alles möglich und leicht erscheint. Das Dionysische steht nicht nur an dieser Stelle als Chiffre für ein orgiastisches Erlebnis der geschlechtlichen Erregung, der geheimen Lust, der ein menschlicher (männlicher) Partner fehlt. Der Text bekundet das Glück des Solipsisten, das Schwelgen in der Sphäre der Autonomie, der ungeheuren Freiheit, der Befreiung von allen irdischen Schwerkraft-Hemmnissen, des „Selbstorgiasmus" narzißtischer Prägung. Aufschwung ist so verstanden auch ein Ausdruck des ,Willens zur Macht', des ehrgeizigen Machtstrebens mit dem Ziel, alle Mitmenschen zu überflügeln. In den antiken Traumdeutungsbüchern fungierte das Fliegen zudem als Symbol der Ortsveränderung, der Reise einschließlich der letzten in den Tod. Schon Artemidoros stellt sich vor, daß die Seele, vom Körper losgetrennt in raschem Vogelflug zum Himmel aufsteigt. Wenn wir zur Jugendlyrik zurückgehen, könnte man ausgehend von dem traumanalogen Charakter von Tagtraumphanasien und Dichtung das Gedicht „Zwei Lerchen" (1858) auch als frühes Beispiel für einen dichterisch gestalteten Flugtraum lesen. Schmidt faßt das Gedicht als Widerspiegelung körperlicher Erfahrung des Pubertierenden auf,39 und zwar weniger im intersubjektiven Sinne (also etwa als Reflex von Erfahrungen Nietzsches mit Jugendfreund Wilhelm oder mit Schwester Elisabeth), sondern intrasubjektiv-konflikthaft. Die erste Lerche schreckt auf ihrem Flug zur Sonne aus „Furcht vor Qual" zurück möglicherweise um die Schmerzhaftigkeit erster Masturbationserfahrungen wissend, sie verkörpert das intellektuelle Prinzip. Die zweite Lerche, mehr dem Drang gehorchend, fühlt sich hingegen im Aufflug mutig genug und gelangt (autoerotisch verstanden) bis zum Höhepunkt: die Entgrenzung in der Erfahrung der „unbesiegbaren Lust" klingt wie das Erlebnis einer grenzsprengenden Todeserfahrung. Diese Lesart folgt also dem Motiv des Fliegens als phallisch-exhibitionistischem Auftrieb (Erektion) einschließlich der Blendung (das „Auge bricht"), die von Schmidt -

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als blickbrechendes ekstatisches Entzücken bzw. als Ausdruck der schuldbeladenen Gewissensbisse (angesichts der als schrecklich geschilderten schädlichen Wirkungen der Masturbation) verstanden wird. Weniger unter triebdynamischer Perspektive, sondern im Kontext der zuvor ausgebreiteten selbstpsychologischen Lesart, wonach die Flugmetapher als autoregulative Figur zu verstehen ist) klingt für mich die weitere von Schmidt vorgeschlagene Lesart plausibel: nämlich die Sonne als Bild für das „eigentliche Selbst" aufzufassen. Ich würde modifizierend von der internalisierten Vaterimago sprechen, entlang der unbewußten Gleichung Sonne Helios Gott Vater. Demnach begrenzt sich die erste Lerche in ängstlicher Selbstbescheidung, während die zweite sich selbstverzehrt bzw. sich in der Selbstblendung zerstört. Tertium non datur. Ein dritter Seins-Entwurf zwischen Selbstverfehlung und Selbstzerstörung scheint nicht gegeben. Auch in Nietzsches späterer Vorstellung von erotischer Freundschaft scheint im Typus der narzißtischen Objektwahl das Erheben zu zweit ein übermenschlich-göttliches Glück zu verheißen: =

=

=

„Der Freund als Dämon und Engel. Sie haben füreinander das Schloß und Kette. In ihrer Nähe fällt eine Kette ab. Sie erheben sich einander. Und als ein Ich von Zweien nähern sie

39 Hermann Josef Schmidt,

Kindheit, Teil 3, 623 ff.

„Mein Träumen und mein Hoffen?"

403

sich dem Übermenschen und jauchzen über den Besitz des Freundes, weil zweiten Flügel giebt, ohne den der eine nichts nützt."40

er

ihnen den

So betrachtet fällt mir an den „Zwei Lerchen" auch der Mechanismus der Zweiteilung bzw. Spaltung auf, jenes Auseinanderfallen von divergierenden und als der einen Seele unvereinbar erscheinenden Selbst-Anteilen. Der kleine Lichtfreund Fritz, der sich seinem sonnengleichen Vater zu nähern suchte und sich nach seiner anderen irdischen Hälfte sehnte Wir können mit Schmidt die Lerche als robust-jubilierende Identifizierung mit der vitalen Mutterimago auf dem Weg zum Vater verstehen, während die Nachtigall eher für das musische Erbe des sensiblen Vaters steht. Doch jenseits der Zuordnung der Vogelarten zu Elternfiguren möchte ich beim Motiv des Fluges den Ausfluchtcharakter betonen: der Dichter gestattet sich in ...

grandioser narzißtischer Vollkommenheit ein freies Schweben in der Phantasie, bei dem die Dinge eben auch so wundersam undinghaft in der Schwebe bleiben, wie es in vielen Jugendgedichten beschworen ist: „In stillen Stunden sinn' ich oft, Was mir so sehnlich bangt und graut, Wenn unvermerkt und unverhofft Ein süßer Traum mich überthaut.

Weiß nicht, was ich hier träum' und sinn, Weiß nicht, was ich noch leben soll, Und doch, wenn ich so selig bin, Schlägt mir mein Herz so sehnsuchtsvoll. -"41 Ist dies Gedicht des 17jährigen vom August 1862 für Schmidt ein Indiz für inzestuöse Sehnsucht nach Elisabeth und möglicherweise sogar Ausdruck der Verdrängung der Schuldgefühle anläßlich des wieder gesuchten tatsächlichen Liebeskontaktes, plädiere ich mehr dafür, das hier Erträumte im Zwischenreich der Phantasie zu belassen. Das Wesen des Träumerischen besteht gerade darin, in der Spannung zwischen Realität und Idealität einen Intermediärraum zu eröffnen, in dem unausgelebte Sehnsüchte und Seins-Entwürfe probehalber durchgespielt werden können. Dies scheint mir auch in folgendem Gedicht aus dem Jahr 1858 der Fall zu sein: Der Lindenbaum

„Am Brunnen vor dem Tore, Da steht ein Lindenbaum; Ich träumt' in seinem Schatten So manchen süssen Traum.

40 Zit. 41 Zit.

n. n.

„Unter ein grünen Baum

Träumte mir ein süser Traum: Ich wäre zu den Bronnen Gegangen vor der Sonnen Damit der Lindenbaum mehr Des Schattens gäbe her Als ich da gesessen was

Joachim Köhler, Zarathustras Geheimnis, Nördlingen 1989, 446. Hermann Josef Schmidt, Jugend 11,2, 168.

Pia Daniela Volz

404 Meine Sorge ich ganz vergaß Und entschlief in dichtem Gras" Nun bin ich manche Stunde

entfernt von jenem Ort, Und immer hör ich's rauschen: Du fandest Ruhe dort!" Wilhelm Müller

Friedrich Nietzsche

Wohl kannte Nietzsche Walther von der Vogelweide „Unter der Linden" und Schuberts „Winterreise" mit den Gedichtvorlagen Wilhelm Müllers, in denen das Liebchen längst von

einem Anderen träumt. Der Traum fungiert in diesen Gedichten als Inbegriff der Täuschung und Illusion. Und nicht selten stilisiert sich der junge Melancholiker Nietzsche als SchubertVerehrer im Duktus des fahrenden Gesellen:

„und ich fahr in bangen Träumen Meine Straße mit Schmerz und

Klag."

Der Lindenbaum, in dessen Holz die Liebesschwüre eingeritzt sind, wird in Nietzsches Version in bedeutsamer Variante zum Ort der erträumten Seligkeit, die nur im Entschlafen zu erreichen ist. Das lyrische Ich ist da auf der Suche nach Vergessen, nach Schlafen-Können, nach Lethe-Schlaf, nach dem satten Gestillt-Sein, nach ,geträumter Speise'. Eine tiefe ungestillte (orale) Sehnsucht, wie sie noch später im „Nachtlied Zarathustras" durchklingt und auch hier Ausdruck einer basalen narzißtischen Öde-Erfahrung ist:

„Und auch meine Seele ist ein springender Brunnen. [...] Ein Ungestilltes, Unstillbares ist in mir [...] Ach, dass ich dunkel wäre und nächtig! Wie wollte ich an den Brüsten des Lichts saugen! [...] Aber ich lebe in meinem eignen Licht, ich trinke die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen. Ich kenne das Glück des Nehmenden nicht; und oft träumte mir davon, dass Stehlen noch seliger sein müsse, als Nehmen. [...] Viel Sonnen kreisen im öden Räume: zu Allem, was dunkel ist, reden sie mit ihrem Lichte mir schweigen sie." (KSA 4, 136 f.) -

Renate G. Müller

EIMAPMENH, MOIPA, TYXH/FATUM, SORS, FORTUNA Zu verschiedenen Aspekten von

jungen Nietzsche

„Schicksal" beim

In der Überschrift zu dieser Untersuchung stehen drei griechische und drei lateinische Begriffe, die man allesamt mit „Schicksal" übersetzen könnte. Der älteste dieser Begriffe ist mit Sicherheit „moira", von dem Verb „meiromai" (zuteilen), es bedeutet Anteil, Los, womit es weitgehend dem lateinischen „sors" entspricht, was ebenfalls „Los" bedeutet. Während „moira" ursprünglich weitgehend den persönlichen, dem einzelnen Menschen zugemessenen Anteil meinte, wurde in der späteren philosophischen Reflexion häufig das Wort „heimarmene" verwendet, dem in etwa das lateinische „fatum" entspricht. Schon bei Heraklit ist der Begriff der heimarmene mit der Weltordnung verbunden „touto de ginesthai kath' heimarmenen",1 die ihrerseits in der Notwendigkeit (ananke) gründet. In der Spätantike gibt es eine Fülle philosophischer Schriften „peri heimarmenes" oder „de fato" („Über das Schicksal"). Allerdings ist diese von mir vorgenommene Einteilung nur ein ganz grobes Schema. Auch der Begriff „moira" wird abstrakt verwendet, ebenso wie fatum persönlich verwendet wird; beide sind sehr umfassende Begriffe (insbesondere „fatum", wie sich auch bei Nietzsche zeigt). Das letzte Paar „tyche" und „fortuna" kann man im Deutschen häufig als mit „Glück" übersetzt finden, vor allem in Texten des vorigen Jahrhunderts, obwohl dies irreführend ist, denn tyche/fortana bedeuten das zufällige Geschehen, sind also keineswegs mit eudaimonia oder lat. beatitudo/felicitas zu verwechseln. Die Verquickung dieser im antiken Denken weitgehend getrennten Begriffspaare ist im Deutschen allgegenwärtig. Insbesondere in der griechischen Antike blieben die Schicksalsvorstellungen weitgehend schwammig, d. h. eine klar umrissene Definition von „Schicksal" gab es nicht, so wenig wie es kanonisierte Göttervorstellungen gab. Das Problem mit dem Schicksal ist sogar noch schwieriger, weil es einmal unpersönlich und einmal personifiziert, im Singular und im Plural, als zufügende eigenständige Macht oder als etwas, das dem Menschen (durch Götter) zugefügt wird, auftaucht. Die dichterische Freiheit der Griechen und der Ausdrucksreichtum der griechischen Sprache sind verantwortlich dafür, daß wir das gesamte Spektrum vor uns ausge-

breitet sehen. Nietzsche hat sich in seinem achtzehnten und neunzehnten Lebensjahr verstärkt mit der Schicksalsproblematik beschäftigt, wie bekannte Texte wie „Fatum und Geschichte" offenkundig belegen. Ich will Ihnen aber nun anhand einer Reihe kleiner, noch kaum beachteter Texte zu zeigen versuchen, wie und mit Hilfe welcher antiken Figuren der Schüler Nietzsche das Schicksalsproblem beleuchtet und verhüllt. Gerade an der kleinen Form des Epigramms 1

Heraklit, Frg.

A8

(Diels/Kranz).

406

Renate G. Müller

wie später des Aphorismus wird Nietzsche schreibend seine Gedanken entwickelt haben, indem er lange daran schliff und feilte. Auf den Seiten 110 und 111 der HKG W II finden wir zehn kurze lateinische Epigramme, die jeweils vier bzw. sechs Verse umfassen. Es handelt sich um Gedichte für fünf Männer und fünf Frauen, die in der HKG einander gegenüberstehend angeordnet sind (in der Handschrift stehen sie in einem Heft aufeinander folgenden Blättern). So scheint es nur Entsprechungen zu geben, denn, wenn wir uns die linke Seite oder die der Männer ansehen, bemerken wir, daß es sich um fünf historische Personen handelt, und zwar eine aus der griechischen und vier aus der römischen Antike, auf der Frauenseite dagegen geht es um drei mythische und tragische Gestalten aus der griechischen Welt und zwei historische Personen aus der römischen Welt. Bei allen Epigrammen handelt es sich um schulische Arbeiten; der Herausgeber gibt dazu an: „Die Gedichte sind korrigiert 17 Octbr 62., 6 Nobr 62., 2 Decbr 62, 8Janar 63., 20 April 63., 4 Juni 63., 5 Juli 63., 17 Augut 63, 9 Septbr 63" (HKGW II, 444) Das vorherrschende Wort für Schicksal „fatum" wird in den Epigrammen über Augustus und Maecenas sowie denen über Andromache und Cassandra verwendet. Überdies fallen die Schicksalswörter „sors" im Zusammenhang des Epigramms über Augustus, „fortuna" im Epigramm über Claudius Civilis und „Parca" in dem über Cassandra. Wir werden im folgenden sehen, daß aber auch die übrigen Epigramme, die nach oberflächlichem Hinsehen scheinbar vom Schicksalsbegriff unberührt sind, nämlich diejenigen über Solon, Claudius Caligula, Antigona, Livia und Cornelia, ihren Beitrag zur Schicksalsproblematik beim jungen Nietzsche

geben.

Ich beginne mit einer ansatzweisen Analyse der beiden Epigramme zu den mythischen und tragischen Frauenfiguren Andromache und Cassandra. Andromache, führt die Reihe der Epigramme über Frauen an. Ich möchte zuerst einmal meine Übersetzung vorausschicken: „Weil du Ärmste Hektar und den Knaben, die Lieben, hältst, bleibst du eine Wonne der Götter und lieblich anzuschauen. Wonne und trauerkündend zugleich, weil dir ein solches Geschenk der Götter das böswillige Schicksal zuteilt." Die ersten beiden Verse stellen Andromache so dar, als ob man ein Bild vor sich sähe. In den Sagen des klassischen Altertums von Gustav Schwab, die sicher auch in der Ausgabe, die Nietzsche als Fleißprämie bekommen hatte, reich illustriert waren, findet man noch heute eine ganz rührend gezeichnete Familienszene mit Hektar, Andromache und dem kleinen Astyanax. Das wird in der Zeit der Spätromantik sicher noch eher der Fall gewesen sein. Der Gebrauch der Wörter „deliciae" (Wonne) und „dulce" (süß, lieblich) scheint mir aber auch eine leise Ironie des Schülers Nietzsche anzudeuten. Wichtiger ist jedoch, daß Nietzsche hier eine völlig Unschuldige darstellt, der das Schicksal ein so schweres Los zugeteilt hat. Aber Vorsicht: hier steht weder „Schicksal" (fatum im Singular), sondern „fata" (PL), noch „Los", wie es noch in dem Gedicht „Hecktors Abschied" der Fall war, sondern „tale deorum munus". Die im Deutschen nicht wiederzugebende Pluralform ist eindeutig angelehnt an die dreifache „moira", auch diese häufig in der griechischen Literatur im Plural „moirai", später personifiziert als Klotho, Lachesis und Átropos. Das lateinische Wort „munus" ist wie so viele andere mehrdeutig: es kann von „Bestimmung", „Aufgabe" bis zu „Geschenk", „Gnade" alles bedeuten. Noch vertrackter wird es bei dem Verb „corripiant". Ein flüchtiger Leser würde vielleicht übersetzen „weil das böswillige Schicksal dir ein solches Geschenk der Götter raubt", was sich auch sehr glatt anhört, allerdings könnte man auch hintersinniger übersetzen „weil das böswillige Schicksal ein solches Geschenk der Götter für dich ergreift" (d. h. dir zuteilt). Wir sehen hier ganz deutlich, welche Möglichkeiten dem Schüler Nietzsche, der schon so früh ein Meister der Masken war, zur Verfügung gestanden haben, etwas zu verstecken, indem

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die Mehrdeutigkeit eines Wortes und speziell die Bedeutungsvielfalt der lateinischen Sprache benutzte. Was aber ist mit „tale deorum munus" inhaltlich gemeint? Nun, was anderes als das tragische Schicksal, das sie erfährt; den Mann von Achilles getötet und dann wie ein Aas durch den Staub geschleift, die Ermordung des kleinen Söhnchens auf so grausame Weise er

(es wird auf Felsen zerschmettert), ihr eigenes späteres Leben als Sklavin. Daran „delektieren" sich Götter? Und hier wird es dann egal, ob wir „Bestimmung, Ge-

schenk oder Gnade" übersetzen. Die letzte Variante zeigt die Diskrepanz am deutlichsten. Eine „Gnade der Götter" solche schrecklichen Erlebnisse? Noch etwas: welche unterschiedlichen Gottes- und Schicksalsvorstellungen würden durch die verschiedenen Übersetzungen „weil das böswillige Schicksal dir ein solches Geschenk der Götter raubt" und „weil das böswillige Schicksal dir ein solches Geschenk / eine solche Bestimmung der Götter zuteilt" evoziert? Welche Beziehung besteht zwischen den Göttern und dem Schicksal, den „fata"? Im ersten Fall würden die Götter zwar hehr und unschuldig bleiben, aber auch hilflos erscheinen, da das Schicksal die von ihnen Beschenkte ohne weiteres berauben kann. Es würde so etwas wie ein Schwarz-Weiß-Muster entstehen: gute, aber schwache Götter böses und mächtiges Schicksal. Im zweiten Fall sieht es eher so aus, daß das Schicksal Handlanger und Vollstrecker vielleicht auch Partner für perverse Götter ist. Die Beziehung ist viel subtiler. Es folgt: Cassandra. Ich übersetze: -

„Die Geschicke eines glücklichen Menschen sind flüchtig dir, Kassandra, und die Gunst der Götter flieht wie ein leichter Schatten. Wenn die böswillige Parze dir einst Schwereres gab, kehrt es bald wie ein Trugbild ins Nichts zurück (oder: löst es sich bald wie ein

Trugbild auf)".

Die drei letzten Verse sind eine lateinische Nachdichtung der Verse 1327 ff. aus dem Agamemnon von Aischylos.2 Mit einem Vorgriff auf eine spätere Arbeit Nietzsches, einen Kommentar zu einer Passage des Agamemnon mit vielen eingearbeiteten Zitaten, möchte ich die dortige deutsche Übersetzung Nietzsches dieser drei Verse heranziehen: „O weh des Menschenlebens! wenn es glücklich ist, ein Schatten stürzt es; wird es aber kummervoll, ein feuchter Schwamm darüber gleitend löscht das Bild" (HKGW II, 254). Die Metapher des feuchten Schwammes, der ein Bild wegwischt, ist sicherlich treffend wiedergegeben durch „detersa in nihilum ut imago". Aber von einer „favor deorum" (Gunst der Götter) ist an dieser Aischylosstelle nicht die Rede. Worauf bezieht sich Nietzsche? Nun, auf Apollon, der eine besondere Beziehung zu Kassandra, aber auch zu der ganzen Stadt Troja und zu Hektar hat, von dem er sich schließlich abwendet,3 so daß es Achill möglich wurde, ihn mit Hilfe Athènes zu töten. Auch diese Anspielung kann also im Text stecken; eher aber ist hier auf das Geschenk angespielt, das Kassandra von dem um sie werbenden Gott Apollon erhalten hatte, die Gabe der Weissagung. Dieses Geschenk war ein Beweis der Be„günsf'igung Kassandras durch Apollon. Kassandra aber hat den Gott getäuscht, ist aufsein Werben nur zum Schein eingegangen; deshalb hat sich auch die Gunst Apollons verflüchtigt

2 3

eutychounta men skia tis an trepseien, ei Vgl. Ilias XXII 213. „...

de

dystychoi, bolais hygrosson stoggos olesen graphen.

Renate G. Müller

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und sich sogar in den Rachewunsch des Apollon (Zerstörer)4 des dunklen Aspekts des Lichtgotts verkehrt. Es läßt sich also festhalten, daß in diesen beiden Epigrammen ein eher düsterer Schicksalsbegriff dominiert. Ein schrecklicher Tod trifft wie ein Verhängnis („Göttergeschenk") die wehrlose und unschuldige Andromache. Bei Cassandra liegt der Fall etwas anders, sie hat den Gott getäuscht und dadurch möglicherweise ein schwereres Schicksal auf sich gezogen, bei ihr müßte man also Willensfreiheit konstatieren, die Schuld und Bestrafung nach sich zieht. Somit wären wir fast bei einem selbstinduzierten Schicksal, wenngleich dies der Aussage „die böswillige Parze gab dir" zu widersprechen scheint. Die Parze (hier im Sing, vielleicht als Korrelat zu dem einen Gott Apollon) ist übrigens die lateinische Entsprechung für Moira und ein personifiziertes fatum. Aber Nietzsches Text führt noch weiter: Das eben Gesagte ist nur das Vorspiel für eine pessimistische Weltsicht, die Nietzsche schon in einem früheren Epigramm (vom Juli des gleichen Jahres) geäußert hatte: „Quidquid terra tulit, rapiunt necis hórrida fata." (HKGW I, 304) und die biblisch anmutende Fortführung „Omnia pulvis erant, omnia pulvis erunt" zeigt diese noch deutlicher. Ganz extrem aber wird diese pessimistische Sicht in dem Text, dem das Motto für dieses Kolloquium entnommen ist, dem „Euphorion". „Und schleppe jetzt eine Klapper an der Tretmühle recht behaglich langsam das Seil, das man Fatum nennt, bis ich verfault bin, der Schinder mich verscharrt, und nur einige Aasfliegen mir noch ein Wenig Unsterblichkeit zusichern?" (HKGW 11,70) Das dritte Frauenepigramm handelt von Antigona und ihrem problematischen Schicksal. Der erste Teil dieses Epigramms bezieht sich auf die Antigone des Sophokles. Kreon, der Herrscher von Theben, hatte verboten, den Leichnam des im Kampf gegen die Stadt gefallenen Polyneikes zu bestatten. Das wollte und konnte Antigone nicht hinnehmen, vor allem deshalb, weil sie ihren Bruder Polyneikes liebte, auch wenn er gegen die Stadt vorgegangen war. Ihren „liebevollen Sinn" schildert Sophokles schon zu Anfang der Tragödie im Dialog mit Ismene: „den Bruder werd' ich selbst begraben. Schön ist mir nach solcher Tat der Tod. Von ihm geliebt, lieg ich bei ihm, dem Lieben, dann, die fromm gefrevelt hat",5 und wenig später: „Ich jedoch, ich gehe hin und berge des geliebten Bruders Leib im Grab."6 Etwas schwieriger ist es, „divis sacrata mens" im Text nachzuweisen. In diesem Dialog zwischen Antigone und Ismene wird der Gegensatz zwischen menschlichem Gesetz und göttlichem Gebot zwar deutlich gemacht, nirgendwo wird aber gesagt, daß der Geist der Antigone den Göttern „geweiht" (oder „geheiligt") ist. Antigone sagt zu Ismene: „du, wenn dir's gefallt, entehre, was bei Göttern hoch in Ehren steht!"7 Dies bezieht sich auf das Befolgen des göttlichen Gebots der Bestattung. Dadurch, daß Antigone das Gebot befolgt, weiht sie ihren Geist, ja sich selbst, den Göttern. Wenn wir aber die Konfliktsituation bedenken, und daß sie sich durch ihr Handeln dem Tod ausliefert, bekommt das Wort „geweiht" noch einen anderen Beiklang. Man könnte es so verstehen, als ob ein Opfertier geweiht würde. „Welch dummer Hochmut ist es, mit dem König Juppiter zu kämpfen, der in ewiger Macht thront und alles bewegt." Dabei denkt man zuerst an Kreon, der für sein Vergehen so grausam -

-

So eine etymologische Deutung des Namens „Apollon" (abgeleitet von gr. apollymi ich zerstöre). Diese und die folgenden Stellen aus Sophokles' Antigone zitiert nach: Sophokles, Tragödien und Fragmente, gr. u. dt., hg. u. übers, v. W. Willige, München 1966, 71-74. 6 Ebd., 80 f. 7 Ebd., 76 f.

4 5

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mit dem Tod seines Sohnes und seiner Frau bestraft wird. Das Nichtbestatten der Leiche wird aber im allgemeinen als Vergehen gegen die Götter der Unterwelt angesehen. Nur an einer Stelle sagt Antigone mit Bezug auf Kreons Verbot: „Es war ja nicht Zeus, der es mir verkündet hat".8 Dieser zweite Satz des Epigramms kann sich aber auch auf eine andere Person beziehen, die auch in dieser Tragödie des Sophokles9 erwähnt wird, aber nicht nur dort, sondern auch bei Aischylos10 und Euripides." Es handelt sich um Kapaneus, einen der Sieben gegen Theben. Dieser hatte geprahlt, nicht einmal Zeus könne ihn daran hindern, die Stadt zu erstürmen. Daraufhin wurde er von Zeus mit dem Blitz erschlagen. Der letzte Teil des Epigramms hört sich wiederum sehr fromm an; wir wollen aber versuchen, etwas hinter die fromme Tünche vorzudringen. „Hochmut und eitle Taten kommen zu Fall". Das Wort „Hochmut" (fastas) bezieht sich auf den vorigen Satz; es kann also sowohl der Hochmut des Kreon als auch der noch weitergehende des Kapaneus der sogar als „Gottverächter"12 bezeichnet wird gemeint sein. Deren „eitle Taten (facta vana) kommen zu Fall"; das hört sich sehr christlich an. Das Wort „vanus" kann aber auch noch anders übersetzt und interpretiert werden: es kann auch „nichtig", „erfolglos", „vergeblich" bedeuten, ebenso wie „prahlerisch" und „abenteuerlich". Das Vorgehen des Kapaneus wurde auch prahlerisch genannt; und es war letztendlich vergeblich. Und „das Menschliche vergeht"; hier sehen wir eine Ähnlichkeit zu einem früheren Epigramm: „Ein Geschlecht stirbt und ein neues Geschlecht der Menschen kommt; alles vergeht."13 Das hier stehende „humana cedunt" könnte man bei einer naiven Interpretation als Zusammenfassung des früheren verstehen; das „Menschliche" hat als Gegensatz zum Göttlichen eben das Merkmal der zeitlichen Begrenztheit und Vergänglichkeit, soweit es den individuellen Menschen betrifft. Die Spezies Mensch dagegen wird schon in dem frühen Epigramm als etwas dargestellt, dem eine gewisse Unsterblichkeit innewohnt. „Humanus" kann man aber nicht nur als „menschlich", sondern auch im Sinne unseres Fremdwortes „human" interpretieren. Dann würde der Satz lauten, das Humane, Menschenfreundliche vergeht. Das könnte man einerseits auf den konkreten Fall der Antigone beziehen, denn die Bestattung des toten Bruders ist für Antigone nicht nur ein göttliches Gebot, sondern auch eine Frage der Menschlichkeit; andererseits aber allgemein auf eine Verrohung der -

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Sitten, eine décadence.

Die letzte Zeile dieses Epigramms „aber der Geist, der der Götter immer eingedenk ist, bleibt unter deren Schutz" scheint mir eine blanke Ironie zu sein, gerade wenn man sich das traurige Ende der Antigone vor Augen führt. Aber auch, wenn wir an Nietzsches Biographie denken den schrecklichen Tod des Vaters und an all das, was Nietzsche schon in früheren Jahren an Religionskritischem versteckt geäußert hat, kann diese Formulierung nur ein Rückschritt (was ich bezweifle) oder Ironie sein. Durch die Diskrepanz zwischen frommer Formulierung einerseits und andererseits der Tatsache, daß die (von den Göttern) verlassene Antigone sich das Leben nimmt, wird die Ironie meines Erachtens mehr als deutlich und der fromme Ton dieses letzten Teils entlarvt. -

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8 Ebd., 450. 9 Ebd., 131 ff. 10 Aischylos, Sieben gegen Theben, 423-446. 11 Dort noch dramatischer dargestellt in den Phoinikerinnen, 1172-1186. 12 Aischylos, Sieben gegen Theben, 441 (theous atizon). 13 „Gens périt et nova gens hominum venit; omnia cedunt." (HKGW I, 304)

Renate G. Müller

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Noch ein anderer Aspekt: Antigone verhält sich „kata moiran", am besten zu übersetzen mit „wie es sich geziemt" folgt dem, was in der antiken Literatur vielfach aisa oder moira Dios (Gesetz des Zeus) genannt wird, geht aber dennoch unter. Hier sollte man vielleicht einmal anmerken, daß der Begriff „moira Dios" doppeldeutig ist. Je nachdem, ob man den Genitiv als subiectivus oder obiectivus versteht, bedeutet er „Gesetz des Zeus" oder „Gesetz für Zeus", was impliziert, daß die Moira auch über Zeus stehen kann. Dies läßt sich aus antiker Literatur auch belegen. In diesem Falle wäre der mächtige „König Juppiter" (Zeus) hilflos; Antigone und andere bleiben eben nicht unter seinem Schutz, denn er vermag sie nicht zu schützen. Auch nach dieser Interpretation ist der Vers „bleibt unter deren Schutz" also eine Ironie. Und wenn wir noch einen Schritt weitergehen, können wir sagen, diese Götter oder dieser Gott sind für die eigene Lebensführung irrelevant. Kommen wir nun zu den beiden Epigrammen auf der Männerseite, die ebenfalls das am meisten verwendete Wort für Schicksal „Fatum" in sich bergen. Damit machen wir gleichzeitig einen riesigen Sprung aus der Zeit des griechischen Mythos in die römische Kaiserzeit. Im ersten Teil des Epigramms Augustus rühmt Nietzsche das „Los" (Schicksal; lat. sors) des Augustus, das ihm „immer eine wohlgewogene Gönnerin" war. Das können wir durch sein Leben bestätigt finden. Zuerst einmal dadurch, daß er, obwohl er nur der Großneffe Caesars war, durch diesen adoptiert und zum Haupterben bestimmt wurde. Trotz vieler Schwierigkeiten gelang ihm die Durchsetzung seiner Ansprüche als Erbe Caesars. Auch im Kampf gegen die Caesarmörder konnte er sich behaupten; zu diesem Zweck schloß er mit Marcus Antonius und Lepidus das sog. 2. Triumvirat. Später zwang er zuerst Lepidus, als dessen Verhalten seinen Wünschen zuwiderlief, das Triumvirat zu verlassen. Während Octavian seine Feldzüge mit glücklichem Ausgang führte, hatte Antonius im Osten weniger Glück. Aufgrund der Affäre mit Kleopatra kam es zum Bruch zwischen den beiden, und Augustus konnte Antonius letztlich besiegen. Er war damit auf dem Gipfel seiner Macht angelangt. Als er nach Rom zurückkehrte, konnten die Tore des Janustempels geschlossen werden, was ein Zeichen für Frieden war: die später immer wieder gerühmte ,pax augusta'. All dies mag Nietzsche vor Augen gewesen sein, als er diese Verse schrieb, gerade auch seine Rolle als ,Friedensfürst' und ,pater patriae' kann ihn dazu bewogen haben zu schreiben, „dich feiert der heilige Seher für alle Zeit". Die Friedenszeiten waren in Rom äußerst spärlich. Dadurch daß Augustas sich durchsetzte, sein Schicksal in die eigene Hand nahm und den Prinzipat schuf, brachte er gleichzeitig Rom Frieden und Ordnung. Der zweite Teil des Epigramms aber nimmt auf den privaten Bereich des Augustas Bezug, und zwar auf die Freundschaft des Horaz. Auch der im vorigen genannte „heilige Seher" (vates sacer) kann Horaz sein. Die Freundschaft, die Nietzsche hier nennt, hat es sicher gegeben, auch wenn sie nicht ganz unproblematisch war.14 Daß Nietzsche so großen Wert auf Freundschaft legte, können wir gut nachvollziehen. Er blieb in Pforta doch ziemlich isoliert und versuchte mit allen Mitteln, die Freundschaft zu den Naumburgern Wilhelm Pinder und Gustav Krug aufrechtzuerhalten. Und gerade in diesem Jahr 1862 begann auch das Interesse der Freunde an der „Germania" abzubröckeln. Seit Juni hatte nur noch Nietzsche selbst Beiträge dazu geliefert (vgl. HKGW II, 98 f.). Wie sehr muß Nietzsche sich einen solchen ,Litera,

turfreund'

14

gewünscht haben!

Augustus bot Horaz das Amt seines Privatsekretärs an, was dieser ablehnte; Augustus war zwar davon enttäuscht, entzog ihm aber seine Freundschaft nicht. Seine Gedichte schätzte er hoch und

überzeugt, (vgl. Sueton,

Vita

Horati, 16-41)

war von

ihrem dauernden Wert

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Die Freundschaft zu Horaz ist gleichzeitig auch ein Bindeglied zu Maecenas, dem das nächste Epigramm gewidmet ist. Auch Maecenas war mit Horaz befreundet. An Maecenas wandte sich Augustas, um Horaz als Privatsekretär für sich zu gewinnen. Dazu muß man auch die Freundschaft zwischen Maecenas selbst und Augustas sehen. Maecenas schreibt in einem Zusatz zu seinem Testament an Augustas: „Sei des Horaz wie meiner eingedenk!"15 In diesem Epigramm geht Nietzsche besonders auf dessen Rolle als Förderer der Künste (,Mäzen') ein. Und zwar spricht er jetzt aus der Sicht eines armen Poeten', der eben keinen ,Mäzen' hat, nicht zurechtkommt und deshalb „sein Schicksal verwünscht". Dieser wird sich dann anstatt sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen an Maecenas wie an einen Schutzpatron wenden und sich von ihm posthumen Ruhm und „Reichtum" (im Original steht „opes", was u. U. auch „Einfluß" bedeuten kann) erhoffen, ja sogar daran „glauben". Ein zweifelhafter Trost für den armen Poeten! Meines Erachtens ist dies von Nietzsche recht ironisch gemeint. Kommen wir zum Epigramm über Claudius Civilis. Hier fallt zunächst auf, daß Nietzsche einen falschen Namen benutzt, der korrekte Name wäre Iulius Civilis. Dieser Civilis war ein Bataverfürst16 und Führer des Bataveraufstandes 69/70 gegen Rom. Seine Geschichte erzählt Tacitus in den Historien Buch IV und V. Was Nietzsche hier an ihm rühmt, ist seine Stammes- und Heimatverbundenheit. Diese nennt Tacitus nicht, wohl aber den Zorn des Civilis auf die Römer, nachdem er zuerst unter Nero in Ketten nach Rom gesandt worden war, später auch unter Vitellius abermals in Gefahr geriet, weil das römische Heer seinen Tod verlangte.17 Dieser Haß mag ihn wohl zur Rückbesinnung auf seine Wurzeln gebracht haben. Im zweiten Teil des Epigramms vergleicht Nietzsche Civilis mit Arminius; beide waren Germanenfürsten mit hohen Positionen im römischen Heer. (Arminius war außerden: auch römischer Bürger und Ritter.) Arminius verlieh „ein trügerisch-günstiges Schicksal (fallax fortuna secunda) den Untergang der Römer und der Knechtschaft". Mit dem „günstigen Schicksal" spielt Nietzsche auf die für die Römer katastrophale Schlacht im Teutoburger Wald (9 n.Chr.) an, wodurch Arminius einen Teil Germaniens vor der „Knechtschaft" bewahrte. Aber er schreibt nicht nur „fortuna secunda", sondern ,fallax fortuna secunda". Wodurch ist dieses Schicksal trügerisch? Vielleicht dadurch, daß es dem Arminius zwar zuerst einen Erfolg bescherte, ihn in seinem weitergehenden Bemühen eines allgemeinen Germanenaufstandes jedoch scheitern ließ. Auch die Tatsache, daß Thusnelda von Germanicus nach Rom überführt wurde und mit seinem Söhnchen Thumelicus in dessen Triumphzug mitlaufen mußte, muß ein dunkler Aspekt seiner „fortuna" gewesen sein, desgleichen sein Tod durch den Verrat von ,

-

-

Verwandten.18

Ein solcher Erfolg wie dem Arminius blieb Civilis verwehrt, dafür ist aber auch sein weiteres Schicksal nicht so dramatisch. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß die Bataver kurz davor waren, sich von ihm loszusagen, beschloß er, sich den Römern zu unterwerfen, was Tacitus lakonisch kommentiert: „[...] abgesehen davon, daß er an seinem Unglück genug hatte, bewog ihn hiezu die Hoffnung sein Leben zu retten, die gar nicht selten

15 „Horati Flacci ut mei esto memor." Sueton, Vita Horati, 15. 16 Die Bataver waren ein germanischer Stamm am Niederrhein. 17 Vgl. Tacitus, Historien IV, 13 18 Vgl. Tacitus, Annalen II, 88.

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auch starke Herzen einlenken läßt."19 Wenn wir uns diese Geschichte des Civilis im Hinblick auf die Schicksalsproblematik ansehen, können wir feststellen, daß hier jemand durch kluge Überlegung und überlegtes Handeln sein Unglück (fortuna adversa widriges Schicksal) beenden bzw. ein unglückseliges Schicksal wie das des Arminius (fallax fortuna secunda) von sich abwenden kann. Ich komme nun zu dem ersten Epigramm, das mit Solo, überschrieben ist. Nietzsche wendet sich ihm mit der Anrede juste Solo" (gerechter Solo) zu. Damit ist eine Eigenschaft genannt, die einen Idealbegriff griechischen Denkens (dikaiosyne) impliziert; mit diesem Attribut wurden nur wenige ausgezeichnet. Der gerechte Solon wird aufgefordert, aus dem „schwarzen Tartaros" zurückzukehren. Ist dies griechischem Denken entnommen? Im allgemeinen läßt sich hierzu folgendes sagen: Seit der griechischen Frühzeit (Homer) glaubte man, daß der Mensch in einer kraftlosen Form als Schatten seiner selbst im Hades weiterlebte. Dieser Ort ist von der Welt der Lebenden vollkommen getrennt. Man glaubte auch nicht, daß die Toten zurückkehren und in die Welt der Lebenden eingreifen könnten. Die Erinnerung an den Toten wurde durch den Totenkult wachgehalten, insofern blieb dem Toten ein Stück Unsterblichkeit, bis die Erinnerung an ihn erlosch. Allerdings gab es eine Möglichkeit, daß der Tote wiederkehrte: wenn der Tote nicht bestattet worden war oder keinen Kult bekam, konnte er zurückkehren. Dies entsprach dem allgemeinen griechischen Volks=

,

-

-

glauben.

Daneben kennen wir noch die Vorstellung von der Seelenwanderung, die auch schon früh in Griechenland bekannt gewesen sein muß (möglicherweise vermittelt durch Handelskontakte nach Ägypten und Asien, insbesondere Indien). Philosophisch ausgeprägt hat sich diese Lehre in bestimmten Schulen (z. B. bei den Pythagoreern). D. h. die Seele eines Menschen kann in späteren Generationen wiederkehren, indem sie wiedereingekörpert (reinkarniert) wird. Das kann sowohl in ein Tier, sogar in eine Pflanze oder in einen Menschen geschehen. So behauptete der von Nietzsche in einem früheren Text20 zitierte römische Schriftsteller Ennius, er habe die Seele Homers. Beide Vorstellungen muß Nietzsche schon gekannt haben. Die Erinnerung an Solon wurde gewiß immer wachgehalten; wir wissen schon von dem Kind Nietzsche (vgl. „Alfonso"), daß er die Weisheit Solons kannte.21 Die zweite Möglichkeit, nämlich der Metempsychose, wäre vielleicht noch interessanter, aber damit würden wir uns zu sehr der Spekulation nähern. Die „zu verehrenden Gesetze" des Solon werden schon bei Herodot genannt, der über den Besuch aller Gelehrten bei Kroisos berichtet, so kam

„auch Solon aus Athen, der den Athenern auf ihr Geheiß Gesetze gegeben und dann zehn Jahre auf Reisen gegangen war. Unter dem Vorwand, die Welt zu sehen, war er auf Forschungsreisen gegangen, in Wirklichkeit aber, damit er nicht genötigt werden könne, eins von den Gesetzen aufzuheben, die er gegeben hatte. Denn selbst durften die Athener es

nicht tun; durch schwere Eide waren sie nämlich

anzuwenden, die Solon ihnen gegeben hatte."22

gebunden, zehn Jahre lang die Gesetze

19 Tacitus, Historien V, 26. 20 „Quibus caussis motus Cicero in exilium concesserit", HKGW II, 43-53. 21 Vgl. etwa „Alfonso" aus dem Jahre 1857, HKGW I, 377 ff. 22 Herodot, Historien 1, 29, übers, v. Eberhard Richtsteig.

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Um welche Gesetze handelt es sich? Am bekanntesten sind wohl diejenigen, die die Abschaffung der Schuldknechtschaft und die Bodenreform betreffen. Diese bedeuteten einen schweren Einschnitt in die bisher gültigen athenischen Rechte.23 Er nahm aber u. a. auch Änderungen im Familienrecht und in der Verfassung vor. Daß die Gesetze Solons „zehn Jahre kaum beachtet worden sind", resultierte aus der Unzufriedenheit, die seine Reformen sowohl bei den Reichen (ihnen gingen die Reformen zu weit) als auch bei den Armen (ihnen gingen sie nicht weit genug) hervorriefen. Soweit ist der historische Bezug dieses Epigramms klar. Jetzt schließt sich jedoch ein rätselhafter Vergleich an: „Sind deine zu verehrenden Gesetze nicht zehn Jahre kaum beachtet worden, die des neuen Gesetzgebers schon durch Tausende von Jahren?" Eine andere mögliche Übersetzung lautet: „Sollen nicht deine kaum zehn Jahre bewahrten Gesetze auch für/durch die Tausende [Jahre] eines neuen Gesetzgebers zu verehren sein?" Wer ist dieser neue Gesetzgeber? Das Wort „neue" impliziert, daß er jünger ist als Solon. Wenn seine Gesetze aber „schon durch Tausende von Jahren" beachtet worden sind, müßten wir einen Zeitraum von ,zumindest' zweitausend Jahren annehmen. Somit verbleibt uns die Spanne von ca. 560 v. Chr. bis zur Zeitenwende. Wer kann in dieser Zeit Gesetze aufgestellt haben, die Jahrtausende lang Gültigkeit hatten/haben? Ich meine, daß wir hier auf eine andere Ebene kommen, und zwar von der juristischen zur philosophischen und/oder religiösen. Um dies zu belegen, muß ich noch einmal auf den eingangs zitierten Herodot zurückkommen: Dort fragt Kroisos seinen berühmten Gast, wer der glücklichste Mensch sei. Solon führt zwei Beispiele an und kommt dann zur Konklusion, wenn jemand „unversehrt, frei von Krankheit und Leiden, glücklich an seinen Kindern und wohlgestaltet" ist, „Wenn er außerdem sein Leben noch glücklich beendet, dann verdient der, den du suchst, glückselig genannt zu werden."24 D. h. Solon propagiert einen weltimmanenten Glücksbegriff. Im folgenden wird dies noch weiter bis zu einem weltimmanenten und komparativen Glücksbegriff geführt; keine Spur von einer Zweiweltenlehre! Diese ist dagegen nur zwei Jahrhunderte später von Piaton propagiert worden, und hat durch das Christentum teilweise verschärft durch Jahrtausende ihre Gültigkeit behalten. Durch diese Vorstellung ist die Erde zu einem Jammertal' verkommen und die Seligkeit erst im Jenseits zu erreichen. Und eben auf dieser Vorstellung basieren auch bestimmte moralische „Gesetze", die unter Vernachlässigung weltimmanenter Glücksmöglichkeiten dazu dienen sollen, in den Genuß der,ewigen Seligkeit' zu gelangen. Möglicherweise erscheint manchem diese Interpretation als zu weit hergeholt, wenn man aber die früheren Texte Nietzsches kennt und weiß, wie sehr ihn gerade diese Problematik beschäftigt hat, hält man sie zumindest für plausibel. Ein Ansatzpunkt für eine weitere mögliche Interpretation, die sich an diese anschließen könnte, wäre das entscheidende Gesetz des Solon, nämlich die Befreiung von der Schuldknechtschaft. Durch dieses Gesetz hat Solon das Schicksal von Tausenden armer Bauern zum -

-

,

Bengtson: „Die Lastenabschüttelung als Ganzes bedeutete einen ungemein starken Eingriff in das Privateigentum, wie ihn Attika und ganz Griechenland vorher wohl niemals erlebt hatten. Tausende von Grundbesitzern wurden schwer geschädigt, eine noch größere Zahl von hörigen Bauern gelangte wieder in den freien Besitz des Landes. Solons Agrarreform hat den attischen Staat auf eine völlig neue wirtschaftliche und gesellschaftliche Grundlage gestellt und die dominierende Stellung des Adels stark erschüttert." (Griechische Geschichte, München 1965, 97)

23 Dazu Hermann

24

Herodot, Historien 1, 32.

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Positiven

verändert, nicht also nur für sich (wie Civilis) sondern für viele andere das Ruder

herumgerissen und sie vor dem Verhängnis bewahrt. Bleiben wir aber noch einen Moment beim Begriff der Schuldknechtschaft. Wenn wir uns

rein historischen Rahmen lösen, bringt uns das vielleicht auf eine Spur: Seit Tausenden Jahren wird dem Menschen Schuld zugewiesen, seit dem Sündenfall ist er ein Schuldknecht geworden, die Lehre von der Erbsünde machte ihn gar zu einem prinzipiell Schuldigen. Hätte es da nicht Aufgabe eines neuen Gesetzgebers sein sollen, diese Befreiung von der Schuld zu postulieren, wie es vielleicht der historische Jesus intendierte, was aber durch die paulinische, kirchliche Tradition sabotiert wurde? Noch etwas: Solon ist einer der sieben Weisen. Deren Sprüche wie „Erkenne dich selbst" und „Nichts im Übermaß" sind Nietzsche wohlbekannt gewesen. Insbesondere der Spruch „Erkenne dich selbst" ist neben „Werde, der du bist" für Nietzsche, den Tiefenphilosophen, ein sein Leben bestimmendes Motto gewesen. „Erkenne dich selbst" als Postulat zum Selberdenken, zur dissoziierten Betrachtung, zur Lösung aus der Schicksalsverhaftetheit. Das Epigramm endet mit einem Distichon, das Nietzsche schon vorher einmal als Epigramm vorgelegt hat. „Viel Weisheit bringt viel Schmerz mit sich, und wer viel lehrt, muß viel leiden."25 Der Parallelismus läßt die beiden Satzteile fast bedeutangsidentisch erscheinen; bei genauerem Hinsehen könnte man aber auch folgendes bemerken: Wer Weisheit hat, muß diese ja nicht unbedingt aussprechen und schon gar nicht lehren. Weisheit verursacht also dem sie Besitzenden selbst Schmerzen. (Interessant ist auch, daß nicht eine bestimmte Weisheit Schmerzen verursacht; sondern daß Weisheit ,an sich' etwas Schmerzvolles ist.) Wenn man aber (diese Weisheit) lehrt, muß man „leiden", z. B. unter dem Unverständnis der zu Belehrenden. Sicher hat Solon unter dem Unverständnis, der Ablehnung und den Querelen seiner Zeitgenossen gelitten. Ich meine aber, daß dieser Vers (die allgemeine Fomulierung impliziert dies ja auch) über Solon hinausgeht und daß Nietzsche sein eigenes Leiden an und unter seiner „Weisheit" Erkenntnis ansprechen wollte. Nietzsche mag auch hier schon seinen Zwang zur (Selbst)erkenntnis als sein Schicksal empfunden haben. Von dem weisen, maßvollen und gerechten Solon kommen wir sozusagen zum Gegenpol Claudius Caligula. Mit diesem Epigramm über Caligula ist Nietzsche weiter in die römische Kaiserzeit vorgedrungen. Caligula, dessen eigentlicher Name Caius Iulius Caesar Germanicus26 war, regierte als Nachfolger des Tiberius von 37 bis 41 n. Chr., und zwar zunächst maßvoll, später jedoch verfiel er dem ,Caesarenwahnsinn'. „Oderint dum metuant" (mögen sie mich hassen, wenn sie mich nur fürchten) machte er zu seinem Wahlspruch und tat alles, um die anderen zum Fürchten zu bringen. Er zeigte sich in seiner Grausamkeit wirklich als „Unmensch", als „häßliches, szeptertragendes Tier". „Göttliche Ehre" hatte schon Augustus besonders im Osten des Reiches zu Lebzeiten bekommen, und einen Monat nach seinem Tode im Jahre 14 wurde er vom Senat unter die Götter erhoben; aber Caligula wollte nicht nur den Kaiserkult, sondern er steigerte sich in den Anspruch, als Inkarnation des höchsten Gottes und anderer Götter verehrt zu werden, hinein, verlangte sogar auch für seine Lieblingsschwester Drusilla göttliche Verehrung. Sein Zeitalter vom

von

=

25 Dies ist die Übersetzung von „Multa doloris habet secum sapientia multa / Et qui multa docet multa necesse pati."

(HKGW I, 304)

26 D. h. er gehörte noch zum julischen Zweig des später ,Julisch-Claudischen' genannten Herrscherhauses. Wollte Nietzsche den Familiennamen des von ihm so respektierten Caesar nicht für dieses Scheusal verwenden?

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hat ihn so lange „göttlich genannt", bzw. göttlich nennen müssen, wie er sich auf die Macht der Militärs stützen konnte, d. h. bis zu seiner Ermordung im Jahre 41. Hier möchte ich einmal einen Text Nietzsches heranziehen, den er fast gleichzeitig schrieb, nämlich „Erstes Buch der Lieder von Horaz. Anmerkungen v[on] F. Nietzsche" (HKGW II, 135-138) Dort fällt der Satz: „Wir begegnen hier der geläuterten Ansicht der Alten, denen das Schicksal als die unvermeidliche Folge unsrer Handlungen erschien." (HKGW II, 137) Welche „Ansicht der Alten" meint Nietzsche, worauf bezieht er sich in der Antike? Am Schluß von Piatons Politeia spricht im großen Endzeitmythos (614b-621b) ein Prophet im Namen der Tochter der Notwendigkeit (Lachesis):

„Eintägige Seelen! Ein neuer todbringender Umlauf beginnt für das sterbliche Geschlecht. Nicht euch wird der Dämon erlosen, sondern ihr werdet den Dämon wählen. Wer aber zuerst gelost hat, wähle zuerst die Lebensbahn, in der er dann notwendig (ex anankes) verharren wird. Die Tugend ist herrenlos, von welcher, je nachdem jeglicher sie ehrt oder geringschätzt, er auch mehr oder minder haben wird. Die Schuld ist des Wählenden; Gott ist schuldlos."27 Besonders schuldig machen sich diejenigen, die gierig nach einem Tyrannenschicksal greifen wie Caligula. Was Caligula auf der Männerseite darstellt, nämlich das verbrecherische Element, soll Livia auf der Frauenseite repräsentieren. Hierbei handelt es sich um Livia Drusilla, die später Iulia Augusta genannte (58 v. Chr.-29 n. Chr.), die zunächst mit Ti. Claudius Nero verheiratet war. Ein Sohn aus dieser Ehe war der spätere Kaiser Tiberius. Im Jahre 38 heiratete sie Octavian (den späteren Augustas), obwohl sie von Claudius schwanger war.28 Auf diese Tatsache scheint Nietzsche hier anzuspielen. Aufweiche Szene Nietzsche sich allerdings bezieht, ist mir unbekannt. Auch bleibt es unverständlich, daß er sie so negativ zeichnet. Er betont ihre „glänzende Schönheit" (splendida forma), mit der sie das Herz des Augustas „in Fesseln geschlagen" hat. Diese Schönheit erwähnt auch Tacitus, Nietzsche weicht aber ansonsten doch sehr von dessen Schilderung ab, die ich zum Vergleich einmal hier anführen möchte: -

„Ihre Sittenreinheit im häuslichen Leben entsprach dem alten Brauchtum; aber sie

war

den Frauen der alten Zeit zugebilligt hätte. Als Mutter war sie Gattin nachgiebig, und so paßte sie sich gut dem intriganten Wesen herrschsüchtig, als ihres Mannes und der Verstellungskunst ihres Sohnes Tiberius an."29 freier als

man es

Augustus ließ sich nicht von ihr scheiden, obwohl er keine Kinder von ihr bekam.

Das läßt auf eine glückliche Ehe schließen. Aus den Worten des Tacitus wird meines Erachtens deutlich, daß sie auf diplomatische Art die Festigung ihrer eigenen Position sowie in späteren Jahren die Thronnachfolge für Tiberius betrieb. Insofern erscheint die Charakterisierung Nietzsches überzogen und unpassend. Man 27 Piaton, Politeia X 617d-e, übers, v. F. Schleiermacher. 28 Tacitus schreibt dazu: „Dann fand Caesar [Octavian] an ihrer Schönheit Gefallen und nahm sie dem Gatten weg. Ob dies gegen ihren Willen geschah, ist unbekannt; aber es erfolgte so eilig, daß Caesar ihr nicht einmal Zeit zur Niederkunft ließ, sondern sie in schwangerem Zustand in sein Haus führte."Annalen 5,1,übers, v. W. Sontheimer. 29 Ebd.

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kann ihr (was Tacitus ja auch tat) Herrschsucht unterstellen, nicht aber „einen verbrecherischen Charakter". Das geschieht wohl nur, um eine Parallele zu Caligula herzustellen: „Scélérate tyranne" (verbrecherischer Tyrann) dort, „mens scelesta" (verbrecherischer Sinn) hier. Das letzte der Epigramme ist Cornelia gewidmet. So negativ die Zeichnung der Livia ist, so positiv ist diejenige der Cornelia, die besonders bekannt ist durch ihre Söhne, die Gracchen. Sie wurde als Vorbild einer römischen Frau angesehen. Nach dem Tod ihres Mannes verheiratete sie sich nicht noch einmal, obwohl sie vielfach umworben wurde, sondern widmete sich ausschließlich der Erziehung ihrer ursprünglich zwölf Kinder, von denen aber nur zwei Söhne und eine Tochter am Leben blieben. Die Analogie zu Nietzsches Mutter springt in die Augen; dafür spricht auch, daß Nietzsche hier in der ersten Person spricht: „O ich möchte dich doch als Mutter auf den Gemälden sehen können ...". Das süßliche Vokabular wird aber weder der etwas herben Cornelia noch der strengen Franziska Nietzsche gerecht, es ist aber wohl dem Zeitgeist angepaßt. Desgleichen fällt auf, daß diese Cornelia seltsam überhöht dargestellt wird. Es entsteht der Eindruck, daß Nietzsche (da er ja auch von Gemälden spricht) wie vor einem Madonnenbild steht oder vor einer Annaselbdritt. Der letzte Satz zeigt auch den patriotischen Ansatz Nietzsches: Cornelia wird als Frau gezeigt, die dem Vaterland (!) Söhne gebärt. Ihre Treue dem Vaterland und den Söhnen gegenüber (also wiederum implizit eine Anspielung auf den Verzicht auf eine neue Ehe) wird hervorgehoben. In dieser Treue (zu ihren Söhnen und dadurch in ,guter' römischer Tradition zur Familie ihres verstorbenen Mannes) besteht auch ihr Gegensatz zu der vorher besprochenen Livia.30 Auch Livia denkt ja an ihren Sohn, aber eben nicht als einen Claudier, sondern als ihren eigenen Sohn, dem sie zum Thron verhelfen will. Cornelia wird auch als „felix" (Glückliche) angesprochen, in ihr verwirklicht sich also nach Meinung Nietzsches ein glückliches Frauenschicksal und ein gelungenes Frauenleben. Sie gibt mit ihrem Leben ein Beispiel und ein Vorbild für die Lebensführung anderer Frauen. Hier endet unser kleiner Durchgang durch die zehn Epigramme. Folgendes läßt sich wohl festhalten: Neben dem Schicksal ausgelieferten Figuren wie Andromache und Antigone gibt es die Möglichkeit, den eigenen Willen durchzusetzen, allerdings mit allen dazugehörigen Konsequenzen (Cassandra). Es gibt auch den vom Schicksal Begünstigten (Augustas) und den vom Schicksal Getäuschten (Arminius) und denjenigen, der sich entscheidet und handelt und dadurch ein schweres Schicksal von sich abwendet (Civilis). Es entscheiden sich auch Caligula und Livia, aber sie entscheiden sich falsch, sie greifen gierig nach dem Los des Verbrechers. Das erste und das letzte Epigramm haben einen besonderen Stellenwert: Denn der weise und gerechte Solon auf der Männerseite und die treue und mütterliche Cornelia für die Frauen zeigen den Weg der rechten Lebensführung, den Weg der Versöhnung zwischen dem Vorgegebenen und der eigenen Gestaltung, zwischen Fatum und Geschichte. -

-

30 Diese beiden Epigramme zeigen eigentlich recht deutlich Nietzsches Einstellung zur Frau, die er zu dieser Zeit vertreten hat. Sie ist sehr konservativ: die Frau, die sich und ihre Möglichkeiten zugunsten ihrer Kinder opfert, wird als positiv dargestellt, eine Frau, die ihre Möglichkeiten realisiert (Livia), wird verteufelt.

RÜDIGER ZlEMANN

Ein Logis im Saalthale Mutmaßungen über den Dichter Ernst Ortlepp

„Jedes Gedicht ist gewissermaßen ein Kuß, den man der Welt gibt, aber aus bloßen Küssen werden keine Kinder."1

Man kennt dieses Bonmot aus Sammlungen merkenswerter Äußerungen Goethes. Sehr viel weniger bekannt ist der Mann, der es uns überlieferte. Wahrscheinlich geht es hier um den Besuch, den Goethe in seinem Tagebuch unter dem 29. Juli 1828 vermerkte:

„Besuchte mich ein junger Mann namens Ortlepp aus Schkölen, dessen Geisteszustand ich bedauern mußte. Er zeigte schon früher ein gewisses poetisches Talent, hat sich aber in die ästhetisch-sentimentalen Grillen so verfitzt, daß er gar kein Verhältnis zur Außenwelt finden kann. Er ist schon 28 Jahre alt und

gab mir zu peinlichen Betrachtungen Anlaß."2

Man kann den Zusammenhang des Geprächs wenigstens teilweise rekonstruieren, in dem die zitierte Äußerung fiel. Ortlepp beginnt seinen Bericht: „Goethe warf mir einmal das Paradoxon hin, daß ein Gedicht eigentlich gar nichts sei."3 Die Frage, ob ein Gedicht nichts oder etwas sei, wirkt seltsam schief. Es geht wohl um Belang und Wirklichkeit des poetischen Werks. Ortlepp scheint dem Gedicht wesentlich mehr Wirklichkeit, Bedeutung und Wirkung im intersubjektiven Raum zugeschrieben zu haben, als es Goethe genehm war, und da Ortlepp dies erkannte, milderte er seine These ins Heitere, ohne sie aufzugeben. Er schreibt weiter:

„[...] ich fragte ihn ferner, ob denn ein Kuß nichts sei, und setzte hinzu, wenn er Küsse für nichts achte, so müsse ich auch fortan alle seine Gedichte für nichts achten."4 Das Gedicht ist also wenigstens eine Berührung, die wahrgenommen wird und eine wahrnehmbare Reaktion veranlaßt. Offensichtlich stand dem Goetheschen „Paradoxon", nach welchem Gedichte nichts seien, ein vergleichbares „Paradoxon" gegenüber. Man könnte ein großes Wort nicht sehr verfälschend sagen: Ohne Gedichte wäre das Leben ein Irrtum. Einen solchen Satz hätte Ernst -

-

1 Goethes Gespräche, neu hg. v. Flodoard Frhr von 2 Ebd., 5. Bd., Leipzig 1911, 151. 3 Ebd., 3. Bd., 240. 4 Ebd.

Biedermann, 3. Bd., Leipzig 1910, 240.

Rüdiger Ziemann

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wohl noch in seinen späten Jahren unterschrieben. Goethe sah das anders. 1795 schrieb Schiller in einem Brief an ihn:

Ortlepp

„So viel ist indeß gewiß, der Dichter ist der einzige wahre Mensch, und der beßte Philosoph ist

nur

eine Carricatur gegen ihn."

Auf diesen Satz ging Goethe mit keinem Wort ein. Es fällt auf, daß unter den Großen der deutschen Literatur, die Ortlepp in seinen Schriften mit offensichtlicher Kennerschaft zitiert, Romantiker kaum vorkommen; die Ausnahmen sind E. T. A. Hoffmann und Heinrich Heine. Man findet Seitenhiebe in Richtung der romantischen Dichter und man findet Texte, denen man entnehmen kann, daß ihr Autor Novalis mit Aufmerksamkeit gelesen hat. Solche anonymen Zitate sind gar nicht sehr selten mit Berufungen auf Goethe verbunden. So geschieht es auch am Ende eines Aphorismus aus den Belustigungen und Reisen eines Todten, an dessen Anfang wir lesen: -

„Etwas Mystisches muß jeder Dichter haben. Denn

was will der Dichter anders als in die Tiefen des die in eindringen Weltgeistes, geheimnißvollen Abgründe der Natur, und in die verborgenen letzten Zwecke alles Lebens und Handelns? Ist es nicht sein Streben, das Unergründliche zu enthüllen, den Schleier aller Mysterien zu lüften, und die hinter der äußern Hülle der Gegenstände innerlich wirkenden Kräfte mit den zarten, geistigen Kräften der Ahnung zu erfassen?"5

Die hinter der äußern Hülle der Gegenstände innerlich wirkende Kraft wir kennen nicht nur Nietzsches Spott über die zweigeteilte Welt, die Welt hinter der Welt usw., auch für den Goethe der späteren Jahre ist derjenige nur eine Verspottung wert, der „ins Innre der Natur"6 dringen will. Ortlepp geht noch weiter. „[...] wenn der Mensch die Sprache der Kunst redet, so spricht unmittelbar der Gott aus ihm",7 lesen wir in der Vorrede zu den „Schillerliedern" von 1839, und wir erfahren dort auch, daß der Sprache Gottes, die wir durch die Natur vernehmen, jene gleichrangig ist, die von „auserwählten Menschen" gesprochen wird, die Kunst. Goethe hat sich von solcher Hypertrophierung des Poetischen ferngehalten. Eine karge, aber sehr genaue Fassung seines Standpunkts zu diesem Thema finden wir in einem späten -

Spruch:

„Jüngling, merke dir, in Zeiten

Wo sich Geist und Sinn erhöht: Daß die Muse zu begleiten, Doch zu leiten nicht versteht".8

Daß er eben dies offensichtlich nicht ,gemerkt' hatte und begreifen wollte, mußte Goethe an dem jungen Dichter Ortlepp stören. Wenn die Überlieferung richtig ist, haben wir hier die

5 Ernst Ortlepp, Belustigungen und Reisen eines Todten, 6 Goethes Werke, Hamburg 1958, Bd. 1, 359. 7 Ernst Ortlepp, Schillerlieder, Stuttgart 1839, VII. 8 Goethes Werke, Bd. 1, 327.

Leipzig o. J. [1840], 56.

419

Ein Logis im Saalthale

letzte der tadelnden Äußerungen Goethes über die Neigung eines hochbegabten jungen Menschen zu geistigem und vor allem ästhetischem Rigorismus vor uns, Äußerungen, die man gern gegen den „Höfling" und „Geheimrat" ausspielte und ausspielt, standhaft übersehend, daß Goethe über etwas spricht, das sehr viel mit seinem eigenen Weg zu tan hat. Als Ortlepp fragte, ob denn ein Kuß gar nichts sei, spielte er vielleicht auf einen Text an, den auch Goethe kannte; in Schillers „An die Freude" gibt der Chor „der ganzen Welt" einen wahrhaft ,dionysischen' Kuß. Goethe kannte wahrscheinlich nicht die Komposition, die den Weltruhm des Gedichts begründete. Anders liegen die Dinge im Falle Ortlepps. Auch wenn er die Sinfonie zu diesem Zeitpunkt noch nicht gehört haben sollte, dürfte er doch mit dem publizistischen Echo auf das Werk und wohl auch mit der Partitur vertraut gewesen sein. Der Blick auf diese Werke Beethovens und Schillers könnte zu verstehen helfen, weshalb Ortlepp den auch für Goethe wichtigen Begriff der Gestalt mit dem des Kusses verband.9 Ortlepps offensichtlichem Insistieren begegnet Goethe mit einem der für ihn charakteristischen Ausweichmanöver: Er nimmt freundlich Ortlepps Bild an und überzieht es mit einem Hauch von Rokoko-Erotik. Der Dichter, als der junge Daphnis, gibt seiner Doris, die hier auch „die Welt" heißen kann, einen Kuß, der wie könnte es anders sein natürlich keine Folgen hat. Ortlepps Schlußsatz rundet die Szene schön und genau ab: „Worauf er denn nach seiner -

-

gewöhnlichen Art abbrach."10 Goethe wußte einiges von diesem Menschen, der ihn offensichtlich ängstigte. 1821 hatte man ihm eine seltsame Schrift überreicht: Es war die Übersetzung seiner Iphigenie aufTauris ins Griechische, die der hochbegabte und fleißige Pforta-Schüler Ernst Ortlepp angefertigt hatte."

Ortlepp Goethe gesehen hat, wissen wir nicht. Wenn es richtig scheint, die oben angeführte Äußerung auf das Jahr 1828 zu datieren,12 stützt sich diese Zuweisung allein auf die Tatsache, daß für dieses Datum eine Tagebucheintragung Goethes vorliegt. Derartigen Schwierigkeiten begegnet man immer wieder, wenn man nach Daten dieses Lebens sucht. Mit einiger Sicherheit können wir nur über Ortlepps Werke sprechen, wobei es nicht leicht ist, an die Bücher zu gelangen. Mit Ausnahme der Beethoven-Erzählungen wurde kein Werk Ortlepps nach seinem Tode wieder aufgelegt.13 Gelegentlich benutzte man einzelne seiner Übersetzungen der Gedichte Byrons für andere Ausgaben. Wie oft

Das romantische Bild des Künstlers, der in und hinter seinem Werk verschwindet, ist so auf eigene Art in Ernst Ortlepp Wirklichkeit geworden. Was wir über ihn sagen können, stützt sich auf die poetischen und allgemein literarischen Werke. Daneben gibt es allerdings markante Spuren seines Daseins in den Biographien berühmter Zeitgenossen. Der jüngste der berühmten Menschen des 19. Jahrhunderts, die durch Ortlepp Anregungen und Aufregungen erfuhren, war Friedrich Nietzsche.

9 „Goethe lächelte, als ich ihn an einige seiner plastischen Gedichte erinnerte und ihn fragte, ob denn die Gestalt auch nichts sei" (Goethes Gespräche, 3. Bd., 240). 10 Ebd. 11 Vgl. ebd., 5. Bd., 151. Es ist nicht richtig, Goethes Reaktion bei der Übergabe als eine Äußerung von Antipathie zu deuten; der Dichter konnte ja nicht gut seinen Besucher zum stummen Zeugen einer stundenlangen Lektüre

machen. 12 Biedermann datiert das von Ortlepp wiedergegebene Gespräch auf 1825; auch dafür lassen sich Argumente anführen. 13 1999 erscheint eine einbändige Auswahl aus dem lyrischen Werk in der von Roland Rittig betreuten EDITION STEKO des Verlags Janos Stekovics (Halle).

Rüdiger Ziemann

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Ernst Ortlepp wurde 1800 in Droyßig als Sohn eines Pfarrers geboren, 1806 übersiedelte die Familie nach Schkölen; Droyßig war und ist ein Dorf, Schkölen war und ist eine Stadt. Letzteres muß der Besucher wissen, sonst bemerkt er es nicht. Beide Orte wurden 1815 preußisch. Der junge Ernst Ortlepp trat also in die sächsische Fürstenschule Schulpforte ein und machte sein Abitur an der preußischen Schule. Für ihn blieb das alte Schulpforte immer das gleiche Paradies. Wie später Nietzsche gehörte auch Ortlepp zu den jungen Leuten, die besonderes Glück nötig hatten, um auf die teure Eliteschule zu gelangen. Ihm half seine außerordentliche musikalische Begabung. In Pforte war das mit einer Schulstelle verbundene Amt eines Organisten vakant geworden. Diese Stelle erhielt der zwölfjährige Ortlepp. Das schon erwähnte kuriose Beispiel der Übersetzung eines Dramas von Goethe ins Griechische zeugt ebenso von hervorragenden Leistungen in dieser sehr auf die klassische Philologie orientierten Schule wie von dem frühen Interesse für die zeitgenössische Dichtung. Nach dem Abitur ging Ortlepp nach Leipzig, um Theologie zu studieren; diese Studienrichtung verstand sich ja eigentlich von selbst. Aber schon hier scheinen sich die Neigungen des jungen Mannes aus Schkölen in Richtungen ausgeweitet zu haben, die für ihn eigentlich nicht vorgesehen waren. Er wurde offenbar nicht fertig und mußte 1825 heimkehren, da der Vater noch weitere Söhne zu versorgen hatte. Einige der Schriften, die nach 1830 in Leipzig herauskamen, waren in Schkölen entstanden. Von hier aus unternahm Ortlepp wohl auch die Reise, die er in den Belustigungen und Reisen eines Todten beschreibt. Der Titel lehnt sich sehr modern an die 1830 erschienenen „Briefe eines Verstorbenen" des Fürsten Pückler-Muskau an. Es beginnt nun, was Ortlepps Leben bestimmen sollte: Die poetische Existenz, die gegen alles Profane behauptet und verteidigt wird, und die lebenslange Ehe mit der Armut. Diese Armut hatte nicht zu allen Zeiten die Gestalt des lebensbedrohenden Mangels, aber es genügte schon, daß der Sohn eines Kleinstadtpfarrers eigentlich nie über die Mittel verfügte, die man benötigte, um in der eleganten Gesellschaft Leipzigs nicht aus dem Rahmen zu fallen. Die Reisen, in denen er wichtige Voraussetzungen für die poetische Produktion sah, konnte er nicht machen. Wo er reisen konnte, hinderte ihn seine Armut daran, aus den Aufenthalten in fremder Umgebung den vollen Gewinn zu ziehen. Der Held seines Romans Leben, Abenteuer und Meinungen des deutschen Michel logiert in einem der ersten Frankfurter Hotels und ist vom Glanz dieses Hauses und von der Interessantheit seiner Gäste sehr beeindruckt. In den Belustigungen und Reisen schreibt Ortlepp über die Übernachtung in Frankfurt und der Leser erfährt hier ganz nebenbei, daß auch Ortlepp von den Borniertheiten seines Jahrhunderts nicht frei war: -

„Ich logierte in einem hassenswerten Gasthofe unter einem unerträglichen Getümmel von Handwerksburschen, Juden, Franzosen u. s. w. Dadurch, daß ich auf meiner ganzen Reise die großen Hotels nicht besuchen konnte, verlor ich auf jeden Fall so manche interessante Bekanntschaft und angenehme Stunden, wie sie nur der Umgang mit Gebildeten gewährt. Es ist ein übeles Zusammensein mit Menschen, bei denen man gar nichts für den Geist findet."14 Wir kennen die Vorbilder, denen Lord Byron.

14 Ernst

Ortlepp seine poetischen

Ortlepp, Belustigungen und Reisen eines Todten,

199.

Reisen nachträumte: Goethe und

Ein

Logis im Saalthale

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1830 begann die Zeit, in der wir die seines höchsten Ruhms sehen dürfen. Er ging wieder nach Leipzig, arbeitete vor allem publizistisch und veröffentlichte in schneller Folge Gedichte. Er war einer der Ersten, welche die Politik in den Kreis der poetischen Behandlung zogen, schreibt Heimich Kurz.15 Die politische Dichtung der Jahre zwischen der Julirevolution und dem Verbot des „Jungen Deutschland" hat er wesentlich mitgeprägt. Als sich die Polen 1830/31 von der russischen Herrschaft zu befreien suchten, stand Ortlepp mit seinen Polenliedern in der ersten Reihe der deutschen Dichter, die für die Aufständischen sprachen und die Schutzmacht des ancien régime angriffen. Ortlepps Polenlieder kamen sehr schnell heraus; sie erschienen bereits 1831. Daneben und in den nächsten Jahren entstanden in schneller Folge große Gedichte und Gedichtsammlungen, mit denen der Dichter auf die aufgeregte politische Situation in Leipzig und in anderen Gegenden Deutschlands nach der Julirevolution reagierte. Er wurde nun „einer der wichtigsten Mitarbeiter in Herloßsohns ,Komet"'.16 Der Komet war eine 1830 gegründete literarische Zeitschrift mit entschieden liberalem Engagement. Seinen Herausgeber, den Dichter Herloßsohn, wird man unter denen, welche Ortlepps Lebensgang berührten, trotz aller Qualitäten dieses Mannes nicht zu den Großen des Jahrhunderts rechnen wollen, und vielleicht gilt das auch von dem anderen Chefjournalisten, mit dem Ortlepp in Leipzig zu tun hatte. Heimich Laube redigierte seit 1833 die Zeitung für die elegante Welt, deren „musikkritischer Mitarbeiter"17 Ortlepp vorher gewesen war. Ilges berichtet von dem Zerwürfnis beider und einer scharfen Kritik Laubes an den Arbeiten Ortlepps. Wahrscheinlich haben die konservativen Positionen Ortlepps den entschiedeneren Laube gestört. Ilges bemerkt zu der Kritik:

„Bei Laubes Ansehen und dem Ruf der ,Zeitung für die elegante Welt' dem litterarischen

war

dieses Urteil

Totschlage Ortlepps gleich!"18

sehen, wahrscheinlich wird hier der Bekanntheitsgrad des jungen Laube hoch angesetzt. Mehr Glück war anscheinend einer anderen Bekanntschaft beschieden, der mit Richard Wagner. Von ihr wissen wir nur durch den Briefwechsel des Komponisten. Wagner hatte damals noch nicht viel an Bedeutendem geschrieben; das kann erklären, weshalb er zu jener Zeit in den Schriften des musikinteressierten und musikkundigen Ortlepp nicht erwähnt wird. Auffälliger ist es schon, daß wir dem dann doch bekannten Musikdramatiker auch in den späteren Arbeiten unseres Dichters nicht begegnen. Im Jahre 1835 sehen wir Ortlepp wieder im Zusammenhang mit einer prominenten Persönlichkeit, mit seinem berühmtesten Leser. Es handelt sich um den Staatskanzler Fürst von Metternich. Diesem war Ortlepps schmales Büchlein „Fieschi" begegnet, und er hat es offensichtlich recht gründlich gelesen. Wer beweisen wollte, daß Ortlepp ein eigentlich unpolitischer Dichter war, fände in diesem kleinen Buch Unterstützung. Hier wird ja geradezu das Muster eines aktuell-politischen Stoffes verarbeitet. Joseph Fieschi, Korse und entschiedener Parteigänger seines Landsmanns Napoleon Bonaparte, hatte den Feldzug nach Rußland mitgemacht und war dann in die Dienste Murats getreten. Nach Napoleons und Murats Sturz Man muß das nicht so zu

15 Heinrich Kurz, Geschichte der neuesten deutschen Literatur, 3. Aufl., Leipzig 1874, 27. 16 Hans-Georg Werner, Geschichte des politischen Gedichts in Deutschland von 1815 bis 1840, Berlin 17 Richard Wagner, Sämtliche Briefe, Leipzig 1967, Bd. 1, 657. 18 F. Walther Ilges, Blätter aus dem Leben und Dichten eines Verschollenen, München 1900, 87.

1969, 296.

422

Rüdiger Ziemann

nahm Fieschi an einem Zug nach Neapel teil, der Murats Herrschaft wiederherstellen sollte. Bekanntlich mißlang der Zug. Das Todesurteil für Fieschi wurde nur deshalb nicht vollstreckt, weil Fieschi nicht neapolitanischer Staatsbürger war. Meyers Lexikon, das sich auf eine französische Quelle beruft, berichtet, Fieschi habe in der folgenden Zeit auf Korsika 10 Jahre wegen Diebstahls im Gefängnis gesessen. Nach der Julirevolution von 1830 ging er nach Paris, wie auch andere Europäer, denen es an der rechten Zufriedenheit mit dem ancien régime mangelte. In Paris beging Fieschi nach unserer Quelle Unterschlagungen, weshalb er seine Stelle verlor. Wegen seiner Mittellosigkeit soll er den Plan gefaßt haben, den „Bürgerkönig" Louis Philippe zu ermorden. Man muß nicht außergewöhnlich skeptisch sein, um die Ungereimtheiten dieser Darstellung zu sehen. Sensationell war dann die Technik des Attentats: Es wurde eine Kampfmaschine eingesetzt, die aus 24 gleichzeitig abzufeuernden Gewehrläufen bestand. Unter den vielen Toten war auch ein Marschall von Frankreich, der König erhielt nur leichte Verletzungen. Fieschi und seine zwei Mitverschworenen wurden zum Tode verurteilt und am 16. Februar 1836 hingerichtet. Ortlepps Gedicht erschien also noch zu Lebzeiten Fieschis. Vergleiche hinken bekanntlich, aber gewisse Gemeinsamkeiten der französisch-korsischen Schwierigkeiten mit den russisch-polnischen, von denen Ortlepp ja sehr viel verstand, kann er eigentlich nicht übersehen haben. Davon finden wir in seinem Gedicht nichts. Wir erfahren, daß Fieschi von den Franzosen nichts hält, aber es wird nicht deutlich, warum das so ist. Gegen die geschichtlichen Fakten betont dieser Fieschi, daß der Mord allein seine Tat gewesen sei. Betrachtet man das Gedicht unter dem Aspekt der poetischen Qualität, muß man es wohl zu den besten unseres Dichters zählen. Es gehört zu einer Gruppe von Texten, die uns insofern besondere Schwierigkeiten machen, als sie in Gefilde des moralischen Denkens vorstoßen, vor denen auch die Dichter aus guten Gründen zurückschrecken. Solche Gedichte begegnen uns deshalb fast immer als Rollengedichte; hier spricht nicht ein freies lyrisches Ich, dessen Nähe zum Dichter ja nie ganz zu ignorieren wäre, sondern eine Gestalt, die einen Namen trägt. Dieser Fieschi läßt sein Leben Revue passieren. Er, der den Tod erwartet, hat erkannt, daß alles nichts ist, und kann nun über die spotten, die das nicht wissen. Die Rede ist reich gegliedert. Der Held erinnert sich daran, daß er auch Hoffnungen und Vertrauen hatte, daß er an ihnen festhalten wollte, als die große Lüge längst deutlich war. Schließlich erkannte er die Leere des Himmels, und so wandte er sich dem Teufel zu. Wie Faust möchte man sagen, und die sprachlichen Anlehnungen an Goethes Dichtung sind in der Tat nicht zu überhören. Wer aber nun einen Handel um die Seele erwartet, wird enttäuscht. Der Teufel ist eine neue Wahrheit, das Weltprinzip wird entdeckt: Nicht Gott, nicht Weltgeist, nicht Wille sondern der Mord. Auch die lapidare Verkündung der neuen Einsicht parodiert grausam einen fröhlichen Vers Goethes: „Ich hab mein Sach' auf Mord gestellt." Es wird nun ein großes Panorama einer Welt entrollt, in der alles Mord ist. So hat sich der Mörder in den ewigen Gang der Welt eingefügt und kann ruhig erwarten, daß der Mord auch an ihm vollzogen wird. Diese Allharmonie des Mordens hebt am Ende auch den Unterschied von Gott und Teufel auf. Das Gedicht steht nicht ganz einsam in der Geschichte unserer Literatur. Verwandte Texte hat man unter den Begriffen des „romantischen Nihilismus" und der „Zerrissenheit" zusammengefaßt, und man hat immer wieder auch auf den Einfluß der Byron-Lektüre hingewiesen. Erinnert sei etwa an das große Gespräch zwischen Lucifer und Kain im zweiten Akt des KainDramas, in dem Kain erfahrt, daß unsere Wertungen von Gut und Böse nur so sind, weil in dem großen „Zweikampf der Zufall des Kriegsglücks Gott „einen Sieger zwar doch keinen höhern!" werden ließ; wäre es anders gegangen, lebten wir mit der Hierarchie der LuciferWerte. Deutsche Spuren solcher Lektüre fanden wir etwa bei Wilhelm Müller oder Lenau, -

-

Ein

Logis im Saalthale

Ali

aber wir müssen diese Nachfolge nicht bemühen, da Ortlepp Byrons Dichtungen besser kannte. Bei den genannten deutschen Dichtern und im Grunde auch bei Byron gibt es allerdings nicht die extreme Zuspitzung, die uns in Ortlepps Text begegnet.19 Unter dem Datum des 31. Oktober 1835 wies Metternich seinen Gesandten in Dresden an, des Ortleppschen Gedichts wegen beim zuständigen sächsischen Minister vorstellig zu werden. Der Kanzler hatte das Gedicht wirklich gelesen und fand -

-

„eine krankhaft aufgeregte, aller religiösen und moralischen Bande entledigte und nur dem dämonischen Instinkte des Bösen hingegebene Phantasie" am

Werke. Die Verse, die

von

der mordenden Welt

sprechen, würden

„durch ihre Gottlosigkeit Abscheu erregen [...], trügen sie nicht noch deutlicher den Stempel eigentlicher Verrücktheit an sich." Der Kanzler äußerte seine absolute Verständnislosigkeit darüber, daß dergleichen „in einem christlichen und zivilisierten Staate" die Zensur passieren könne, daß diese Nachlässigkeit viel schlimmer sei als Laxheiten der Zensur gegenüber „Schriften mit politisch liberaler Tendenz, selbst politisch aufwiegelnden Inhalts."20 Metternichs Schreiben ging auch an die zuständigen Behörden des Bundes und Preußens, also nach Frankfurt und Berlin. So wurde Ortlepps Büchlein auf großer Fläche konfisziert. Es ist noch seltener geworden als die anderen Bücher des Dichters.21 Sechs bzw. zwölf Wochen nach Metternichs Brief folgte das große Verdikt gegen das „Junge Deutschland" in Preußen und im Bund. Die Annahme ist nicht von der Hand zu weisen, daß das Ärgernis des Ortlepp-Buches wenigstens den Termin des Verbots mitbestimmt hat. So deutlich die Differenz zwischen den Jungdeutschen und Ortlepp war, in den Ängsten der Herrschenden trennte sie wenig. Ortlepp verlor durch dieses Ereignis nicht nur die dringend benötigten Einkünfte aus dem Buch, sein Mangel an Mitteln für den Lebensunterhalt diente dann 1836 zur offiziellen Begründung für seine Ausweisung aus Leipzig; es dürfte keinen Zweifel daran geben, daß der eigentliche Grund in des Dichters unpassender Gesinnung zu suchen ist. Eigentlich endet damit die Zeit der Gegenwärtigkeit Ortlepps in der deutschen Literatur. Obgleich noch viele bedeutende Schriften entstanden, lebte Ortlepp von nun an in zunehmender Einsamkeit. Die nächsten sieben Jahre, die er in Württemberg, vor allem in Stuttgart, verlebte, waren mit Übersetzer- und Herausgebertätigkeit ausgefüllt. Es entstanden: eine Boccaccio-Übersetzung, eine Neuausgabe der Satiren Rabeners, eine Shakespeare-Übersetzung, die erste vollständige deutsche Ausgabe der Gedichte Byrons, eine dreibändige Byron-Biographie, in

19 In der Diskussion wies Kurt Jauslin auf die Nähe dieser Gedanken zu denen des großen Monologs hin, in welchem der Held in der ersten Szene des dritten Akts von Grabbes Herzog Theodor von Gothland sein verzweifelt nihilistisches Weltbild entwickelt. Ortlepp dürfte das 1827 erschienene Drama gekannt haben. Für eine persönliche Bekanntschaft der beiden Dichter, die fast gleichaltrig waren und zur gleichen Zeit in Leipzig studierten, gibt es allerdings in ihren Schriften keine Zeugnisse. 20 Zit. nach Ludwig Geiger, „Ernst Ortlepp und die Zensur", in: Euphorion, XIII/1906, 806; vgl. zu diesem Vorgang: Hans-Georg Werner, Geschichte des politischen Gedichts in Deutschland von 1815 bis 1840, Berlin 1969,332 f. 21 Ich habe die Kenntnis des vollständigen Textes Hermann Josef Schmidt zu verdanken

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der zeitgenössische Äußerungen zu Leben und Wirken des Dichters wiedergegeben und kommentiert wurden; diese Lebensbeschreibung nutzte Nietzsche noch im letzten Jahrzehnt seines Schaffens. Angesichts dieser vielfältigen Unternehmungen verdient es schon Respekt, daß die Arbeit an den eigenen Dichtungen in beträchtlichem Umfang weitergeführt wurde; sie mündete in der Ausgabe der Gesammelten Werke, deren erste Bände 1845 erschienen. Diese Ausgabe erscheint heute wie der Beginn eines neuen Aufschwungs in Ortlepps Dichten, der dann besonders durch die Revolution von 1848 gefördert wurde. Hier sah Ortlepp noch einmal eine Chance als politischer Dichter. Der problematische Begriff kann fast ohne Bedenken benutzt werden, weil Ortlepp selbst im ersten Band der Gesammelten Werke seine lyrischen Arbeiten mit Ausnahme der Polenlieder unter den Sammeltiteln „Politische und historische Gedichte" und „Kleine politische Gedichte" zusammenstellte.22 1848 erschien in Frankfurt der dem deutschen Parlament gewidmete lyrische Zyklus „Germania". Sicher war mit dieser durchaus beachtenswerten Publikation die Erwartung einer finanziellen Unterstützung durch das Frankfurter Parlament verbunden, und offensichtlich schlug hier wieder eine Hoffnung fehl. 1852 hört sich dann der Titel der neuesten Gedichtsammlung die, wie immer bei Ortlepp, viele ältere Gedichte in die Erinnerung brachte ganz anders an: „Klänge aus dem Neckarthal". Der Dichter wollte wohl dem Interesse des Publikums an der Eigentümlichkeit des Regionalen entgegenkommen, das in diesen Jahrzehnten einen Aufschwung erlebte, da es einiges an Enttäuschung kompensieren konnte. 1853 mußte Ortlepp Stuttgart verlassen. Er war auch für diese Stadt zu arm geworden. Jetzt haben wir von dem letzten Jahrzehnt Ortlepps zu sprechen, das für den Zusammenhang unserer Tagung besonders wichtig ist und das andererseits zu den dunkelsten Kapiteln jeglicher Ortlepp-Biographie gehört. Dunkel das meint, daß hier viele Einzelheiten, die für das Bild dieses Mannes wichtig wären, keineswegs gesichert sind, das meint aber auch, daß in den vertrauten Ortlepp-Bildern für diese Jahre besonders gern dunkle Töne verwendet werden. Zum fast obligatorischen Vokabular gehören da: „Landstreicherleben", „Bettelgedichte", „verkommen". Man sollte doch die wenigen Fakten, die wir immerhin haben, bedenken. So sehr verkommen kann ein Mann nicht sein, der mit 54 Jahren es nicht nur unternimmt, die philologische Lehrberechtigung zu erwerben, sondern dieses Ziel auch als Fünfündfünfzigjähriger erreicht. Daß er dann schließlich nicht angestellt wurde, muß auch nicht daher rühren, daß er so heruntergekommen wirkte, wie wir immer wieder lesen. Wer das glaubt, möge doch heute versuchen, als sechsundfünfzigjähriger examinierter Philologe ohne pädagogische Berufserfahrung eine Anstellung an einem Gymnasium zu erhalten. Und geradezu komisch wirken die empörten Äußerungen auch der wohlmeinenden Biographen darüber, daß Ortlepp sein Talent schließlich dadurch für seinen Lebensunterhalt zu nutzen suchte, daß er sich um Aufträge für Hochzeitsgedichte, Versöhnungsschreiben in Versform und dergleichen und um wie man heute sagen würde Sponsoren bemühte. Er unternahm sogar den Versuch, in die poetische Rüstungsproduktion einzusteigen, indem er dem Prinzen Wilhelm von Preußen, von dessen besonderen Qualitäten er aus seinen letzten Jahren im Südwesten sicher viel gewußt hat, einen Band Preußischer Soldatenlieder widmete. Alle Schwierigkeiten in Ortlepps Leben gründen letztlich in der Entscheidung für den Beruf -

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22 Es mag an der magischen Dreizahl liegen, daß diese drei Bände in der Literatur immer wieder wie eine abgeschlossene Edition behandelt werden (Gesammelte Werke in drei Bänden), obwohl in den Bänden nichts auf eine solche Abgeschlossenheit hinweist. Die Gestaltung des ersten Bandes widerspricht der Annahme sogar eindeutig; jedem der zitierten Gruppentitel folgt als Untertitel „Erste Abtheilung".

Ein Logis im Saalthale

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des Dichters, für das Dichten als Beruf. Das hieß, eine Reihe von Vorstellungen, die in unserer Kultur etabliert waren, zusammenzuführen: einerseits das romantische Bild des Dichters, der die letzten Wahrheiten der Welt verwaltet, des eigentlichen Pontifex maximus, der vielleicht in Gottes, aber jedenfalls in keines Menschen Diensten steht; andererseits das Bild des tüchtigen Mannes, der sich durch Stadium und Praxis befähigt hat, auf einem bestimmten Gebiet alle anfallenden Aufgaben zu erfüllen. Auch das letztere Bild ist ein Dichterbild. Es sei schließlich daran erinnert, daß unser aller Vorstellungen vom Berufsdichter immer noch recht unsicher sind. Der Ernst Ortlepp der letzten Jahre, der vor allem in Naumburg, nahe seinem geliebten Pforta, und im Ort seiner Kindheit, in Schkölen, lebte, der Ortlepp, den der junge Nietzsche kannte, war das, was wir heute einen schwer zu vermittelnden älteren Langzeitarbeitslosen nennen würden, und die sozialen Probleme, die solche Menschen trotz besserer Hilfemöglichkeiten auch heute haben und bereiten, kennen wir. Wer nun war der Dichter Ernst Ortlepp? Er war ein politischer Dichter insofern, als er ein anderes Deutschland wollte, und er war ein nicht sehr politischer Dichter insofern, als man ihn keiner der politischen Strebungen seiner Zeit mit einiger Zuverlässigkeit zuordnen kann. Mit den „Jungdeutschen" verbanden ihn stilistische Eigenheiten und die Schlagwörter, die sich am weitesten für möglichst viele große Inhalte öffnen. Daß er Laube und Gutzkow nicht schätzte, mag man aus privaten VerStörungen erklären; aussagekräftiger ist die Distanz zu Börne, von dem er mit deutlichem Respekt sprach. Ortlepp lebte aus den Ideen von 1813 und 1817 und aus der deutschen Vergangenheit. Wiederholt verspottet er die Zeitgenossen, die ständig die „alten Perücken"23 schmähen. Er war ein Gegner des deutschen „Ländermangs" um einen Begriff von Jahn zu benutzen -, und doch ließ ihn seine tiefe Bindung an die Tradition deutscher Kunstleistangen, vor allem der Musik, vor der Zeit bangen, da es die kleinen deutschen Residenzen nicht geben würde. Sein Geschichtsbild dominiert eine Reihe von Bildern großer Persönlichkeiten, deutscher oder als deutsch deklarierter Herrscher von Arminius bis zu Friedrich II. oder Carl August und großer Künstler, an deren Spitze wir noch vor Schiller, Goethe und Jean Paul den romantischen Beethoven des 19. Jahrhunderts sehen. -

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„Drum soll der Sänger mit dem König gehen,

Sie beide wohnen auf der Menschheit Höhen!"24

dieses Schillerwort steht unsichtbar über Ortlepps Werk. Seine Gedichte sprechen mit das Vorbild Schiller hat Ortlepp nie verleugnet von der Freiheit und für die es aber ist die „Freiheit, welche Fürst und Volk beglückt",25 wie es schon 1832 heißt. Freiheit, noch in der Tradition der Fürstenerziehung. Das Deutschland, das er steht durchaus Ortlepp in schönen großen Visionen auferstehen sieht, ist eine Monarchie, in der frei geschrieben und gesprochen werden kann. Die sozialen Probleme, vor allem die der unteren Schichten, sollen offenbar durch die Gerechtigkeit gelöst bzw. verringert werden. Ortlepp hat natürlich die sozialen Bewegungen wahrgenommen, aber seine Aufmerksamkeit für sie war gering. Seine Gedichte gegen „Communismus" und „Anarchie" lassen genauere Kenntnisse nicht vermuten.

großem Ton

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23 Gottlieb Wilhelm Rabener 's sämmtltche Werke, mit einem Vorwort,

l.Bd.,3.

neu

24 Friedrich Schiller, Die Jungfrau von Orleans, Erster Akt, zweite Szene. 25 Ernst Ortlepp, Germania, Frankfurt 1848, 95.

hg.

v.

Ernst

Ortlepp, Stuttgart 1839,

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Die Ideen Saint-Simons, denen Ortlepp in seiner Leipziger Zeit auf Schritt und Tritt begegnen mußte, nahm er offensichtlich nicht wahr. Andererseits wirkt es rührend, wenn der arme Ortlepp, dem wohl kaum jemals ein Zollkommissar auch nur einen Heller abnehmen konnte, 1831 dichtet:

„Säet freien Handel! Aus der Hölle Schlünden heult er nach Erlösung auf! Bannt die brudermörderischen Zölle, Die im Lande sperren seinen Lauf! Laßt den Reichthum nicht zum Bettler werden! Denn zuviel ist schon der Noth auf Erden, Und des Wohlstands Blume, thauberaubt, Senkt zum Tode schon ihr welkes Haupt."26 Solche Appelle kann man als Versuche Ortlepps interpretieren, sich bei den reichen Kaufleuten Leipzigs einen guten Namen zu machen. Wenn er sich später huldigend an gekrönte Häupter wendet, sehen freundliche Interpreten da immer wieder den Opportunismus des Heruntergekommenen. Es lohnt aber wohl doch den Versuch, ihm zu glauben, wenn er in seinem „Dichtergruß an den Erzherzog Johann" schreibt: „Ich brauchte kein Gefühl mir zu erborgen."27 Obgleich alle Umstände anders waren, er hat immer seinen ihm gemäßen Platz oben gesehen. Und es lief seiner aristokratischen Denkart sehr zuwider, daß dieses „Oben" zunehmend durch das geschickte Manipulieren mit Geld definiert wurde.

„Wer diesen Koth besitzt, der führt die Zügel, Und wem er fehlt ach, der bleibt ewig klein!"28 -

lesen wir in „Im Januar 1848". Anscheinend glaubte Ortlepp wirklich, daß in einem einheitlichen Deutschland unter dem deutschen Kaiser, dem Ortlepp noch in seinem letzten Band entgegenjubelte, dieser „Koth" eine untergeordnete Rolle spielen werde. Wir gebrannten Kinder des 20. Jahrhunderts können ein durchaus ungelehrtes und vielleicht auch unbegründetes Mißvergnügen schwer unterdrücken, wenn wir Nietzsches gar zu lockerem Umgang mit Krieger- und Vernichtungsmetaphorik begegnen. Ähnliche Schwierigkeiten bereitet es auch dem historisch denkenden Leser, wenn er bei Ortlepp zwar nur allgemein erfährt, wie das kommende Deutschland aussehen wird, wenn in den Visionen aber ein Moment wiederkehrt: Vor dieser Germania werden alle Völker beben. Hätte Ortlepp das warnend gesagt, müßten wir in ihm einen Propheten sehen, aber er artikulierte seine Hoffnung. Wo Ortlepp von der gegebenen Situation des deutschen Volkes spricht und „Volk" hat bei ihm im allgemeinen nicht die soziale Konnotation -, da kann man an für uns schwierige Verse von George denken; auch hier ist ein Geschlecht, das sich von Schande reinigen, das sich vor seinen Vorfahren schämen muß. In dem eben zitierten Gedicht „Im Januar 1848", das sich an -

26 Ernst Ortlepp, Gesammelte Werke, 1. Bd., Winterthur 27 Ernst Ortlepp, Germania, Frankfurt 1848, 90. 28 Ebd., 47.

1845, 78 f.

All

Ein Logis im Saalthale

Schillers „Die Götter Griechenlandes"

Volk":29

anlehnt, be- und verklagt Ortlepp das „thiergewordne

„Da stirbt Religion, Gefühl und Sitte,

Da zieht ein Geldgeruch von Haus zu Haus Wie eine Pest umher in unsrer Mitte

Und mit dem Werth des Menschen ist Der

es

aus."30

„Werth des Menschen" und das Dasein

von „Religion" gehören hier offensichtlich Diese gewohnte schlichte Einheit wird der Leser weniger selbstverständlich finden, der andere Texte des gleichen Autors kennt, wie das schon erwähntes Fieschi-Gedicht, das „Vaterunser des neunzehnten Jahrhunderts" oder die Rede des Teufels in Leben, Abenteuer und Meinungen des deutschen Michel?1 In dem Roman finden wir einen Schlüssel zu diesen „blasphemischen" Texten. Dort agiert eine Figur, die nach einer Gestalt E. T. A. Hoffmanns benannt ist. Kapellmeister Kreisler phantasiert an der Orgel über ein Thema aus Jean Paul. Man lauscht dem zusammen.

„Entsetzen einer ewigen Nacht, der Hölle dann fallen wie freundliche Mondstrahlen himmlische Melodien herab in die schaudervolle Finsterniß."32 ...

Auch auf Jean Pauls „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei" wäre hier zu verweisen. Es ist immer wieder der Weg des Menschen an die Grenzen seiner Welt, seiner Vorstellungen, ein S ich-Ausprobieren im Extremen. Dieser Mensch geht mit seinem Gott ins Gericht und rechnet ihm vor, daß es sich mit ihm nicht lohnt. Indem er so den endgültigen Trennungsstrich zieht, kommt ihm die Ahnung eines schrecklichen Verlusts. Er ist froh, daß die Trennung nicht endgültig ist. Das große strukturelle Muster dieses Vorgangs ist sicher die erste Szene des Faust:

„Erinnrung hält mich nun mit kindlichem Gefühle, Vom letzten ernsten Schritt zurück."

Auch Faust wendet sich dann ja der Natur zu, die für Ortlepp immer voller Hilfe war. Das Gedicht „Vaterunser des neunzehnten Jahrhunderts", das wahrscheinlich früher als „Fieschi" entstand,33 zeigt deutlich diese Verwandtschaft; noch die Choralstrophen, die Ortlepps Gedicht schließen, erinnern an den Schluß der ersten Szene im ersten Teil der FaustTragödie. Faust ist ja nicht eigentlich „bekehrt"; er wird nur vom Heimischen, Vertrauten dort zurückgehalten, wo er eigentlich nicht mehr bleiben wollte. So „widerlegt" auch in Ortlepps Gedicht der zweite Teil nichts von dem, was im ersten gesagt wurde. Der Sprecher des Gedichts entscheidet sich nicht für oder gegen die Wahrheit. Im eindimensionalen sprachlichen 29 Ebd., 45. 30 Ebd., 44. 31 Ernst Ortlepp, Gesammelte Werke, 3. Bd., 104 f. 32 Ebd., 211 f. 33 Es ist nicht zu übersehen, daß Ortlepp die Gedichte in der ersten Gruppe des ersten Bandes chronologisch ordnet. Auch das Gedicht zum 100. Geburtstag Washingtons (22.2.1832) dürfte eine Arbeit des Jahres 1831 sein. Somit gibt es Gründe, für das Entstehungsjahr des Gedichts 1831 einzusetzen.

Rüdiger Ziemann

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Werk erscheint dem schnellen Blick das als das wahrhaft Gemeinte, der „Schluß".

was

zuletzt gesagt wird,

„So sang der Dichter in tiefer Nacht, Die Hölle

war

in ihm

aufgewacht"34

beginnt der zweite Teil. Was da „aufgewacht" war, gehörte also ihm an, hatte in ihm geschlafen und wurde nun wieder zur Ruhe gebracht, „verdrängt", wie man modern sagen würde. Hier muß nicht wiederholt werden, was oft genug festgestellt wurde, daß der zweite Teil sehr konventionell ist, also an vieles erinnert, das man kennt. Ilges, der das „Vaterunser" recht einleuchtend als „Perle der gesamten Ortleppschen Poesie"35 bezeichnet, meint dann die Verse des zweiten Teils schmähen zu müssen.36 Das legt sehr den Verdacht einer unachtsamen Betrachtung nahe. Den polymetrischen Gebilden des ersten Teils folgen im zweiten im wesentlichen nur zwei Formen: der Bericht in Faustversen und durchweg als Zitat vorgestellt ein Kirchenlied in recht anspruchsvollen Strophen,37 welches in der Tradition der „Naturpredigt" steht, die seit der Barockpoesie eine große Bedeutung für das Motivpotential unserer Lyrik hat. Das alles ist gewiß ,harmlos', und es läßt sich die Vermutung nicht von der Hand weisen, daß hier ,abgelenkt', Zensoren etwas vorgespielt werden sollte.38 Man muß diesem Verständnis des Werkes nicht widersprechen, wenn man weitere Bedeutungsschichten -

-

sucht. Im Vertrauten, im „Klischee" kann der schwache, der auch von der Erkenntnis schwer verletzte Mensch leben. Von hier aus erscheint es nicht notwendig, in diesem Textteil einen „Wiederruf' (!)39 finden zu wollen. Das auch deshalb nicht, weil faktisch den Aussagen des ersten Teils nirgends widersprochen wird; mehr noch: das kontrastierende Bild der gichtigen' Welt scheint ja schon in der zehnten Versgruppe des ersten Teils kurz auf, so daß man den zweiten Teil auch als die vollklingende Ausführung eines Themas aus dem ersten Teil lesen kann. Überall außerhalb der Menschheit ist die Schöpfung vollkommen. Da aber alles, was die „Krone der Schöpfung" betrifft, höchst mißlungen ist das wird ja im ,rein negativen Vaterunser' deutlich genug gesagt -, reproduziert das ganze Gedicht den ,Widerspruch in sich selbst', den das Kontragebet beklagt und um dessen willen es den Angebeteten verklagt. Das Gedicht hat eine gleichsam epische Hilfsstruktur, zu der „Rollen" gehören. Der „Dichter" singt nur das ,rein negative Vaterunser'; der Text des predigenden Chorals ist nicht der seine. Die nicht zusammenstimmende, in sich zerrissene Welt ist ein festes Thema in Ortlepps Dichtung. Wir finden es auch im Trauerspiel Enrico und Blanko. Dort spricht der Held von der nur in Augenblicken der Liebe erlebbaren harmonischen Welt, die immerhin in ihrer Möglichkeit die Verfehlung des Schöpfers teilweise zu entschuldigen und so den Vorwurf zu relativieren vermag: -

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Ernst Ortlepp, Gesammelte Werke, 1. Bd., 57. F. Walther Ilges, Blätter aus dem Leben und Dichten eines Verschollenen, 133. Ebd., 140. Die Strophe, die wir auch in der Barockdichtung häufig finden, hatte ihre erste Blüte offenbar im 16. Jahrhundert; Luther benutzte sie in mehreren Liedern. 38 Hermann Josef Schmidt, Nietzsche absconditus. II. Jugend, 2. Teilband 1862-1864, 721. 39 F. Walther Ilges, Blätter aus dem Leben und Dichten eines Verschollenen, 134.

34 35 36 37

429

Ein Logis im Saalthale

„Ein Stümper nur sann diese unvollkommene Aus Purpur und aus Lumpen zusammengeflickte Welt Sich aus, und rief Sie an das Licht, Um sich die Langeweile

zu

vertreiben."40

Auch in der milderen Kritik dieses Dramentextes

an

der Arbeit Gottes wird dem

,hohen

Schöpfer' vorgeworfen, ,furchtbare Gegensätze'41 zugelassen zu haben. Wahrscheinlich müssen wir auch die Anmerkung zur Zäsur42 des Gedichts anders lesen, als dies etwa Ilges tat,43 der da recht naiv den überflüssigen Versuch sieht, einem Mißverständnis vorzubeugen. Es lohnt schon, der Ironie in diesem Verfahren nachzugehen,44 die Ortlepp aus sich reflektierendem Erzählen übernimmt. Wer im Kunstwerk etwas erklären muß, hat seine Aufgabe nicht bewältigt und/oder steht außerhalb der autonomen Welt des Werks. Von daher versteht es sich leicht, daß solches Erläutern zum poetischen Spiel werden kann. Wollte man die Ironie in Ortlepps Werk beschreiben, hätte man es mit einem recht vielschichtigen Phänomen zu tun. Da ist manches einfach flach und verdeckt das viel wichtigere Verfahren, durch wiederholte Brechung Perspektiven unsicher zu machen. Dieses Verfahren wiederum kann die Betrachtung durch weniger starre Gesichtspunkte reicher machen, kann aber auch einfach obrigkeitlicher Verfolgung die Orientierung erschweren. In dem Text „Beethovens Monument" lesen wir nach einer Erwähnung der Französischen Revolution die Parenthese: „- das Wort Revolution möchte ich beiläufig gesagt anspucken -". Hier folgt ein Fußnotenzeichen, das auf eine Note verweist: „Anmerkung des Setzers: ,Das ist jedenfalls satirisch gemeint.'"45 Damit wird die Verbindung zwischen dem, was gemeint ist, und der meinenden Person ganz locker. Die Formen, mit denen sich Kunst gegen Fremdbestimmung zur Wehr setzt, sind eben Formen; mit ihnen kann immer auch gespielt werden, und Ortlepp liebte offensichtlich

derartiges Spielen.

Noch enger als heute waren in der Zeit der „Heiligen Allianz" die Interessen der staatstragenden Kräfte mit denen der großen Kirchen verbunden. Wir dürfen nicht zu viel Übertreibung vermuten, wenn wir in Heines „Erinnerung aus Krähwinkels Schreckenstagen" lesen:

40 Ernst Ortlepp, Gesammelte Werke, 2. Bd., Winterthur 1845, 16. 41 Ebd., 15. 42 Die Anmerkung markiert eine Zäsur insofern, als sie sich an das erste der beiden „Amen!" des Textes anschließt. Sie fördert die Annahme einer Zweiteilung und das weitgehende Übersehen der Marke nach dem Vers: „Und die Welt ging unter mit einem Krach. -" Diese Marke legt eigentlich nahe, das Gedicht als ein dreiteiliges zu lesen. 43 F. Walther Ilges, Blätter aus dem Leben und Dichten eines Verschollenen,l34; vgl. hierzu: Hermann Josef Schmidt, Nietzsche absconditus. II. Jugend, 2. Teilband 1862-1864, 714 f. 44 Auch diese Anmerkung erinnert an Grabbes Gothland-Drama (vgl. Fn. 19). Der Dichter verweist in einer Anmerkung (III, 1) darauf, daß die schrecklichen Reden des Helden in weiteren Teilen des Stücks und durch andere Gestalten gleichsam geistig-moralisch ausbalanciert werden. Hier läßt sich ebenfalls nicht eindeutig zwischen Ironie und pedantischer Leseanweisung unterscheiden. 45 Ernst Ortlepp, Gesammelte Werke, 2. Bd., 192.

Rüdiger Ziemann

430

„Wer sich von seinem Gotte reißt,

Wird endlich auch abtrünnig werden Von seinen irdischen Behörden."

Bedenkt man dies nicht, mag man durchaus mit Recht Erwägungen über den zweifelnden Frommen oder den frommen Zweifler anstellen; die im einfachsten Verständnis politische, revolutionäre Dimension des „Vaterunsers" muß dabei übersehen werden. In den Belustigungen und Reisen eines Todten notiert Ortlepp aus einem Gesangbuch, also einer Schrift, die der Befestigung im Glauben an den lebendigen Gott dient: -

-

„O große Noth, Gott selbst ist todt."46 Aus dem Zusammenhang läßt sich nicht erschließen, ob Ortlepp die Quelle gekannt hat. Es handelt sich um Johann Rists „Klägliches Grab-Lied Über die traurige Begräbnisse unsers Heilandes Jesu Christi, am stillen Freitage zu singen", das heute noch unter den von Friedrich von Spee stammenden Anfangsversen „O Traurigkeit! O Herzeleid!" in den evangelischen Gesangbüchern zu finden ist.47 Gesangbuchtexte werden ja immer wieder mit liturgischen Bedürfnissen und theologischen Positionen in Übereinstimmung gebracht, und da ist es schon interessant, daß die Fassung, die Ortlepp zitiert, weitestgehend mit dem Text Rists übereinstimmt; es wurde nur im zweiten Vers „liegt" durch „ist" ersetzt.48 Die Rede vom Tod Gottes scheint auch heute Gesangbucheditoren so unerträglich zu sein, daß sie diese Wendung nicht übernehmen können, sondern daß sie den Text so umformen müssen, daß auf jeden Fall vom Tod Jesu die Rede ist. Wir können nicht sicher sein, daß Ortlepp die Textsituation übersah; für unseren Zusammenhang genügt, daß er hier eine erheiternde Spannung bemerkte. Die Notiz deutet auf eine Religiosität, die ihren Gegenstand freier, konfliktreicher und dogmenferner behandeln kann als das 19. Jahrhundert, das vor den Denkschwierigkeiten der Religion mit andächtiger Folgsamkeit kapituliert. Goethes und Ortlepps Teufel und der lyrische Sprecher des „Vaterunsers" sprechen Wahrheiten aus, aber ihnen gehört nicht das letzte Wort. Das gibt es nicht. Hermann Josef Schmidt hat im vierten Band seines großen Werks49 Hypothesen zu den Beziehungen zwischen Ortlepp und dem jungen Nietzsche formuliert, denen man nicht mit durch Fakten begründeten Argumenten widersprechen und die ich natürlich nicht erweitern kann. Es gibt Gedichte des jungen Nietzsche, die an Ortleppszenarien erinnern. Ortlepps vertrackte Religiosität hat sicher nicht Nietzsches Abschied vom Christentum bewirkt, sie kann diesen Abschied durch ihre Offenheit erleichtert haben. Die Annahme, das VaterunserGedicht habe Nietzsches Entfernung aus religiöser Abhängigkeit gefördert, setzt immerhin die Kenntnis dieses Gedichtes voraus, die wir auch nur annehmen können; selbst dann wäre daran zu erinnern, daß der junge Nietzsche Dichtungen offenbar sehr in den Mustern musikalischer Kompositionen aufnahm, was eine genaue Realisierung sprachlich geformter Meinungen wenigstens nicht befördert haben dürfte. Die Liebe zur offenen Natur, die zentrale Bedeutung, 46 Ernst Ortlepp, Belustigungen und Reisen eines Todten, Leipzig o. J. [ 1840], 104. 47 Für den Hinweis habe ich Günter Härtung zu danken. 48 Es kann angesichts der Editionsgewohnheiten des 17. Jahrhunderts nicht ausgeschlossen werden, daß ein Druck mit der zitierten Fassung existierte. 49 Hermann Josef Schmidt, Nietzsche absconditus. II. Jugend, 2. Teilband 1862-1864, 694-741.

Ein Logis im Saalthale

431

die in beider Weltbildern die Kunst hat, finden wir bei sehr vielen Künstlern der Epoche. Sicher ist, daß der Autor Ortlepp fast alle Beschäftigungen Nietzsches mit dem Werk Byrons begleitete. Sicher ist aber auch, daß der junge Nietzsche in der umfangreichen Namenliste, die er ein Jahr nach Ortlepps Tod für einen Vortrag über politische Dichter zusammenstellte, ihn

nicht erwähnt.50 Das zuverlässigste Zeugnis der Bekanntschaft beider ist Nietzsches Bericht über Ortlepps Tod und Begräbnis. Reiner Bohley meinte, Nietzsche habe auf „Ortlepps Tod nicht sentimental" reagiert.51 Immerhin imitiert das beeindruckende Prosastück, mit dem Nietzsche den Tod des alten Poeten meldet, eins der bedeutendsten Werke des europäischen „Sentimentalismus", den Roman, der unsichtbar und ungenannt bei jenem Gespräch des jungen Ortlepp mit dem alten Goethe zugegen war, den Roman über einen, in dem man wie dann in Dionysos einen Bruder des Gekreuzigten gesehen hat, einen, von dem man mit nicht zu starker Vergröberung auch sagen könnte, er habe sich „in die ästhetisch-sentimentalen Grillen so verfitzt, daß er gar kein Verhältnis zur Außenwelt finden" konnte. Der junge Nietzsche hat die letztere Äußerung Goethes über Ortlepp sicher nicht gekannt; er kannte aber den WertherRoman, und man möchte nicht glauben, er habe nur den Rhythmus einiger Sätze gehört und -

ein Bild

-

gesehen, als er schrieb:

„Der alte Ortlepp ist übrigens todt. Zwischen Pforta und Almrich fiel er in einen Graben

und brach den Nacken. In Pforta wurde er früh morgends bei düsterem Regen begraben; vier Arbeiter trugen den rohen Sarg; Prof. Keil folgte mit einem Regenschirm. Kein Geistlicher. Wir sprachen ihn am Todestag in Almrich. Er sagte, er gienge sich ein Logis im Saalthale zu miethen." (KSB 1, 288) Der Text hält des alten Dichters Willen zum Tode gegenwärtig und überläßt doch den Tod der Majestät des Zufälligen. Durch sorgfältig komponierte Äußerlichkeiten macht der junge Nietzsche ahnbar, was er an diesem Menschen entdeckte, der mit sich und der Welt nicht zurechtkam.

50 Friedrich Nietzsche, Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe (Fotomechanischer Nachdruck), München 1994, Bd. 3, 117; allerdings findet man inmitten einer umfangreichen Liste von Personennamen das Wort „Polen", das mit Sicherheit auf einen Punkt über die deutsche Polendichtung hinweist, in deren Zusammenhang der junge Nietzsche Ortlepp eigentlich behandelt haben müßte. 51 Reiner Bohley, „Der alte Ortlepp ist übrigens todt", in: Literatur in der Demokratie, München 1983, 323.

Johann Figl

Die „Ausbildung der Seele erkennen" Die Bedeutung der frühen Texte Nietzsches innerhalb seiner Philosophie im ganzen

1.

Bedeutung und Relativierung der Biographie in Nietzsches Philosophieverständnis

1.1. Methodische

Vorüberlegungen

Um die im Untertitel ausgesprochene These, nämlich daß die frühen Texte Nietzsches eine Bedeutung für seine Philosophie insgesamt haben, beantworten zu können, bedarf es zunächst der Klärung der Frage, was Philosophie selbst ist zumindest wie die Philosophie Nietzsches zu verstehen ist, denn es könnte ja auch eine Philosophie geben, bei der die frühen Niederschriften des Urhebers der betreffenden Philosophie relativ belanglos sind für deren Verständnis, und es kann andere Arten von Philosophie geben, für die es wichtig bzw. zumindest nützlich ist, auch Äußerungen aus relativ frühen Lebensphasen des Betreffenden miteinzubeziehen. Es hängt u. a. davon ab, was unter Philosophie verstanden wird, ob es überhaupt nötig und sinnvoll ist, biographische Kontexte mitzuberücksichtigen, oder ob diese für das Verständnis der betreffenden philosophischen Aussagen irrelevant sind. Die Grundfrage zielt darauf ab, ob angenommen werden kann, daß die Daseinserfahrungen des Philosophen mit der Methode und den Inhalten seines Denkens in einer freilich noch näher zu bestimmenden Weise in Zusammenhang stehen und somit bei der Hermeneutik der Texte auch der Bezug auf das Leben relevant ist, oder ob es solcher Art ist, daß der Bezug zur jeweiligen Biographie und Subjektivität keine oder kaum Bedeutung hat. Ich glaube, daß es tatsächlich beide angesprochenen Grundmodelle des Philosophierens gibt, wobei ich sogar der Meinung bin, daß der verbreitetere, allgemeinere Typus jener ist, in dem die Subjektivität und die individuelle Biographie keine nennenswerte Rolle spielen, zumindest nach dem Selbstverständnis des Philosophen bzw. nach dem Verständnis philosophischen Denkens innerhalb einer bestimmten Kultur. Tatsächlich sind viele philosophische Thesen und sogar ganze Systeme von Denkern überliefert, über deren Biographie wir äußerst wenig wissen, wenn wir an anonyme Autoren der Antike oder auch Philosophen aus dem indischen Raum denken, von denen wir zwar den Namen kennen, aber keine weiteren biographischen Angaben; dennoch können wir vieles von den überlieferten Texten verstehen, ohne eine nähere Kenntnis des Lebens und oft nicht einmal der damaligen geschichtlichen Gegebenheiten zu haben. Es ist somit evident, daß es nicht unbedingt notwendig ist, biographische Aufzeichnungen zu kennen, um einen philosophischen Text verstehen zu können. Ja, man könnte sogar so weit gehen und sagen, wenn Philosophie wie eine der zahlreichen De-

-

Johann Figl

434

finitionen meint sich auf das Ganze des Seins bezieht, so dürfe die subjektive Komponente überhaupt keinen maßgebenden Stellenwert für das „letzte" philosophische Verständnis gewinnen. Denn wenn es eigentlich um universale Sätze geht, was sollte dann das singuläre, individuelle Dasein für eine Bedeutung haben? Gerade hier sind aber auch Gegenfragen zu stellen: Bedeutet nicht ein auf das Sein im ganzen bezogenes Denken die Einbeziehung auch des individuellen Seins? Und ferner kann man auch die Frage stellen, ob nicht das Denken gerade dort interessant wird, wo die Logik der Zuordnungen, die Eindeutigkeit der Begriffe sowie auch ihre Allgemeinheit überschritten wird. Und das geschieht in der biographischen Reflexion, denn das Individuelle entzieht sich logischer Definition und definitiver Ein-

grenzung.

Mit diesen allgemeinen Vorbemerkungen sollte auf die mögliche Bedeutsamkeit der Biographie sowohl für die Genese wichtiger Aussagen der Philosophie als auch für deren Exegese wenigstens in Frageform hingewiesen werden. Die Ausführungen des vorliegenden Beitrages hoffen zeigen zu können, daß für Nietzsche eine zustimmende Beantwortung dieser Frage berechtigt ist. Doch wenden wir uns nach diesen generellen Überlegungen Nietzsche direkt zu, denn die hier verfolgte Fragestellung ist nicht, ob lebensgeschichtliche Notizen im allgemeinen wichtig sind für eine Philosophie im ganzen, sondern sie ist darauf eingegrenzt, ob die frühen Aufzeichnungen Nietzsches, die zweifelsohne vielfach einen biographischen Charakter haben, für sein gesamtes Denken eine erhebliche Bedeutung besitzen.

Hier kommen wir aber zu neuen Problemen: Was ist denn das Denken Nietzsches im ganzen? Sicherlich gibt es einige zentrale und grundlegende Begriffe, und es gibt auch ausreichend Versuche, diesen Philosophen von einem Leitbegriff her, wie z. B. ,Ewige Wiederkehr des Gleichen' oder ,Wille zur Macht', zu verstehen, oder ihn von bestimmten Phasen seines Denkweges her als einen Aufklärer, Religionskritiker, als einen Umwerter der Werte, als einen Lebensphilosophen, Individualisten oder wie immer zu deuten. Doch ist es möglich, innerhalb dieses umfassenden Werkes, das gewiß auch gegensätzliche und höchst unterschiedliche Tendenzen aufweist, eine Einheitlichkeit und in diesem Sinn auch eine Ganzheit seiner Philosophie zu erkennen? Zerfällt es nicht in eine Vielfalt von Fragmenten, von Aufzeichnungen experimentellen Charakters, die sich nicht ohne weiters einem einheitlichen ,Werk' einfügen lassen? Ist nicht der aphoristische Grundzug so prägend, daß es kaum möglich ist, einen durchgehenden Grundgedanken zu erkennen? War nicht gerade das Schillernde, das Unabgeschlossene, das Änigmatische und Andeutungsweise die Provokation für viele interessierte Philosophen und Nicht-Philosophen, für Psychologen und Theologen, sich Nietzsche zu nähern? Und spiegelt sich nicht in der Vielfalt der Interpretationen auch etwas von der Unterschiedlichkeit und Gegensätzlichkeit der Linien, die möglicherweise auch in seinen Schriften anzutreffen sind, wider? -

-

1.2. Die hermeneutische Perspektive als zentrales Anliegen von Nietzsches Philosophieren Ich will mich nicht in einem Gestrüpp von Fragen verlieren, sondern zurückkommen zu Anliegen, zum Ganzen der Philosophie Nietzsches. Ich meine, daß trotz aller Widersprüchlichkeit und Gegensätzlichkeit, und auch angesichts des aphoristischen und fragmentarischen Charakters der Publikationen und des Nachlasses Nietzsches der Interpret nicht unserem

Die

„Ausbildung der Seele erkennen

"

435

davon befreit ist, so etwas wie die Einheit eines Werkes zu erfassen, nicht in einer künstlichen Synthese oder in einer fiktiven bzw. projektiven Totalität, sondern in dem Versuch, gerade dieses Widersprüchliche von einem umgreifenden Verständnis her zu erfassen. Ich hatte selbst einen solchen Versuch vor nunmehr eineinhalb Jahrzehnten gemacht, der nicht isoliert dasteht, sondern, wie Arbeiten zur neueren Nietzsche-Rezeption zeigen, durchaus vernetzt war in der philosophischen Diskussion der letzten Jahrzehnte.1 Mein Konzept war es, Jnterpretation' als Grundprinzip des Philosophierens Nietzsches herauszustellen.2 Zwar beschränkte ich mich damals auf den seit Anfang der siebziger Jahre neu erschlossenen, durch die Ausgabe Montinaris in authentischer Form zugänglichen Spätnachlaß. Doch konnte ich in einer weiteren Arbeit nachweisen,3 daß die hermeneutische Dimension bis in die Jugendzeit Nietzsches zurückreicht, und auch in einem spezifischen Bereich, nämlich an religionsphilosophischen Themenkreisen, aufzeigen, daß die Kategorie der Auslegung von frühen Ansätzen an eine leitende in seinem Denken war. Wenn man nun die Antwort gibt, das hermeneutische Prinzip sei ein bzw. das zentrale Charakteristikum des philosophischen Denkens Nietzsches, so könnte es den Anschein haben, als würde man sich der Frage nach der inhaltlichen Mitte, wenn es so etwas überhaupt geben sollte, entziehen; als würde man von der inhaltsorientierten, von der materialen Frage in den Bereich des Formal-Hermeneutischen ausweichen, und dadurch sogar eine gewisse Universalität gewinnen, aber eine Universalität, die letztlich keine Verbindlichkeit habe, da sie sich nicht auf einen einheitlichen Grundgedanken bzw. ein übergeordnetes Thema festlegt, wie z. B. auf den Willen zur Macht, die Wiederkehr des Gleichen oder die Kritik, die Umwertung, usw. Gegenüber diesem möglichen Einwand meine ich, daß die hermeneutische Grundausrichtung auch eine inhaltlich relevante Konzeption impliziert: denn in den Texten Nietzsches, vor allem im späten Nachlaß, besonders auch in Titelentwürfen, ist zu erkennen, daß er den Prozeß des Seins als einen prinzipiell auslegenden versteht.4 Auf diese Weise hätte man eine ontologische Basis in einem neuen Sinn gewonnen, die keineswegs eine verkappte Rückkehr zu einer vorneuzeitlichen oder vorkritischen Metaphysik darstellen würde, da es dann ,Sein' im klassischen Sinn selbstverständlich nicht mehr gibt. Ein klar definiertes Wesen, etwas, das „unerschütterlich" und „sicher" im Sinne eines Archimedischen Punktes, wie ihn Descartes sucht,5 ist, wird weit zurückgelassen. Die dynamische Pluralität der Wirklichkeit ist vielmehr neu erschlossen. Eine nähere Definition dieses interpretatorischen Prozesses, der ontologische Relevanz in dem Sinn hat, daß er jegliches Seiende bestimmt, kann ferner aufzeigen, daß eine dynamische, eine voluntative Konzeption mit dieser leitenden Kategorie eng verknüpft ist. Vor dem skizzierten Hintergrund der Philosophie Nietzsches ist es dann gar nicht mehr möglich, die existenziellen Lebensvollzüge aus dem philosophischen Denken sozusagen herauszuhalten, also Erkenntnisprozesse in so stark isolierter Art anzunehmen, daß sie gleichsam allem einer immanenten Logiknotwendigkeit folgen würden. Konkretisiert bedeutet dies, daß es von Nietzsches eigenem Grundverständnis her gar nicht angemessen wäre, beim

1

Vgl. dazu Johann Nepumuk Hofmann, Wahrheit, Perspektive. Interpretation: Nietzsche und die philosophische

Hermeneutik, Berlin 1994. 2 3 4 5

Vgl. Johann Figl, Interpretation als philosophisches Prinzip. Friedrich Nietzsches universale Theorie der Auslegung im späten Nachlaß, Berlin/New York 1982. Johann Figl, Dialektik der Gewalt. Nietzsches hermeneutische Religionsphilosophie. Mit Berücksichtigung unveröffentlichter Manuskripte, Düsseldorf 1984. Vgl. Johann Figl, Interpretation als philosophisches Prinzip, 44 ff. Vgl. René Descartes, Meditationes de prima philosophia, neu hg. v. Lüder Gäbe, 2. Aufl., Hamburg 1977, 42 f.

Johann

436

Figl

Verständnis der Texte von der Biographie und den Lebenskontexten des betreffenden Denkers abzusehen. Vielmehr ist eine Hermeneutik erfordert, die aufzuzeigen vermag, inwiefern sich auch im Inhalt des Gedankens Elemente der Lebenserfahrung eruieren lassen. Ich glaube nicht, daß eine solche Philosophie eine biographische oder subjektive Reduzierung philosophischer Aussagen zur Folge hat. Vielmehr meine ich, daß die in ihr gemachten Sätze, und seien sie auch universaler Art, von der Gestalt sind, daß die Variabilität der Daseinsprozesse einschließlich der eigenen Biographie nicht ausgeklammert ist. So betrachtet, könnte man Nietzsches Philosophieren auch definieren als den Versuch, „universale" Sätze, d. h. das Ganze des nun neu bestimmten „Seins", unter Einschluß des Sprechenden, also in Selbstbetroffenheit, zu formulieren. Es wäre, um es mit einer buddhistischen Formulierung zu sagen, nicht bloß ein Denken ohne Denker, sondern in allem Gedachten ist auch der Denker impliziert; was freilich nicht ausschließt, daß dieses volle Bewußtmachen der Beteiligung des denkenden Individuums nicht letztlich das Ziel haben könnte, zu einem Denken ohne Den-

-

-

kenden zu gelangen.6 Zusammenfassend kann also gesagt werden, daß es von Nietzsches Philosophieverständnis her unabdingbar ist, den biographischen Kontext mitzuberücksichtigen, und d. h. implizit auch, daß Aussagen, die aus früheren Phasen seines Lebens stammen, nicht als irrelevant beiseite geschoben werden sollten. Nietzsche hat den Zusammenhang von Einsichten und Erfahrungen der Jugendzeit, und sogar der Kindheit, mit späteren Aspekten seines Philosophieverständnisses selbst herausgestellt und konkretisiert: z. B. in einer Reihe von Aphorismen und Fragmenten aus der Zeit von Menschliches, Allzumenschliches,1 sowie vielfach in Vorworten zu späteren Zweit-Ausgaben seiner Werke, und insbesondere im Ecce homo, ebenso in Also sprach Zarathustra; überall bezieht sich Nietzsche auf konkrete Erfahrungen der Kindheit und Jugend, sogar der frühen Kindheit, die z. T. verschlüsselt sind, z. T. offen angesprochen werden. Es ist für ihn unbestritten, daß auch der biographische Hintergrund für das Verständnis seiner Gedanken wichtig ist. Von diesem Argument her ist es eigentlich unumgänglich, ja, bedarf es keiner weiteren Rechtfertigung, daß die frühen Texte Nietzsches eine Bedeutung innerhalb seiner Philosophie im ganzen haben. Freilich ist noch offen, welche bzw. in welcher Weise frühe Notizen auf das Gesamtwerk zu beziehen sind. Denn Nietzsches Selbstverständnis in diesem Punkt ist nicht unreflektiert als Interpretationsmaxime zu übernehmen, sondern es ist deren sachliche Basis, soweit sie gegeben ist, aufzuweisen. Ich möchte dies nach zwei Aspekten hin versuchen: zunächst (Punkt 2) durch das Herausstellen jenes Modus der Selbstreflexion, der sich m. E. nach angefangen von den Jugendschriften bis in das Spätwerk Ecce homo durchhält. Dies soll mit einigen Interpretationshinweisen zu dem frühen autobiographischen Rückblick Nietzsches getan werden, dem der Titel meines Vortrags entnommen ist. Hernach (Punkt 3) durch das Aufzeigen eines moral- und theismuskritischen Aspektes, den Nietzsche im Ecce homo rückblickend auf Notizen aus dem 13. Lebensjahr selbst anspricht.

6 7

Vgl. Johann Figl, Interpretation als philosophisches Prinzip, 188 f., vgl. auch 159 f. Siehe ferner: Mark Epstein, Gedanken ohne den Denker. Das Wechselspiel von Buddhismus und Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1996. Vgl. z. B. KGW IV 3, 362ff: 28 [1 ff.], „Memorabilia", dazu Mazzino Montinari, Nietzsche lesen, Berlin/New York 1982, bes. das Kapitel „Nietzsches Kindheitserinnerungen aus den Jahren 1875 bis 1879".

Die

„Ausbildung der Seele erkennen

437

"

2. Art der Selbstreflexion in der „ersten

Nietzsches

2.1. Dimensionen der

Biographie"

Selbstvergewisserung

Die Intention der „ersten Biographie" wie Nietzsche sie selbst nennt ist es, „die Auserkennen". Diese Formulierung findet sich in der Schlußpassage dieses Rückblicks, und der ganze Satz lautet: „Es ist etwas gar zu Schönes sich späterhin seine ersten Lebensjahre vor die Seele zu führen und die Ausbildung der Seele daran zu erkennen." (KGW

bildung der Seele

-

-

...

1/1,311)

Begriff Seele' verwendet, so spricht er mit der Sprache einer und anthropologischen Selbstverständlichkeit; er versteht ihn allerdings gewissen religiösen neu. Das Erkenntnisinteresse wendet sich dem eigenen Werden zu, und zwar so, wie es sich aus dem in die Zukunft verlegten Rückblick ergeben würde. Es ist etwas, das als „Schönes" bezeichnet wird; dieses Tun wird sehr positiv erlebt, „mit großer Freudigkeit" (KGW 1/1, 310) habe er das erste Heft geschrieben, ohne müde zu werden. Diese Tätigkeit hat ihn fasziniert. Es geht darum, die Entwicklung der ersten Lebensphase studieren zu können, und zwar in psychologischer Hinsicht: freilich nicht fachpsychologisch, sondern in dem weiten Begriff, den ,Seele' in der christlich-umgangssprachlichen Tradition hat: ,Seele' als Inbegriff des Gemütes; das Werden psychischer Dispositionen soll festgehalten werden: er formte z. B. die Gedichte ohne Vorbilder, „wie die Seele" sie ihm „eingab" (KGW 1/1, 291); in der Einleitung' verwendet er die Formulierung, daß einiges hell und lebhaft vor seiner „Seele" steht (KGW 1/1, 282);8 ähnlich spricht er hinsichtlich der Freundschaft (mit Wilhelm Pinder und Gustav Krug): dort, „wo sich die Lebensereigniße mit denen eines andern berühren, da verbinden sich auch die Seelen [...]" (KGW 1/1, 288). Seele ist die innere Erlebnismöglichkeit des Menschen, die aber durch äußere Verhältnisse stark beeinflußt wird. Diesem innerlichen Werden gilt sein Interesse, wobei freilich der äußere Lebensverlauf nicht nur Kulisse ist, sondern beides in enger Verwobenheit miteinander besteht. Wenn wir uns dieser ,Seele' näher zuwenden, dann ist offenkundig, daß hier ein Selbstverhältnis zur Sprache kommt: es gilt die Ausbildung der Seele „vor die Seele zu führen"; also den inneren Werdegang zu reflektieren nicht nur in der Zukunft; sondern auch rückblickend auf die Kindheit steht ihm einiges deutlich „vor" der Seele: es ist Selbsterkenntnis: in dieser Redeweise ist eine Distanz zum eigenen Leben gewonnen; keine Gebrochenheit, aber ein Anund Innehalten, ein Zurückschauen. Wozu dient diese Besinnung?9 Nicht nur um sich Klarheit und einen Überblick über die bisherigen Lebenswiderfahrnisse zu verschaffen, sondern um in diesen Erfahrungen eine darüberhinausreichende Erkenntnis zu gewinnen: die eigentliche Erkenntnis, um die es dieser Wenn Nietzsche hier den

,

-

Von diesem Hintergrund her sind auch die beiden Worte „Seele stellen" nach der herausgerissenen Seite zu verstehen (282): auch hier ging es wohl darum, sich das Dargestellte vor die Seele zu stellen. 9 Vgl. zur jüngsten Diskussion: Hermann Josef Schmidt, Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche. Kindheit, Teil I/II, Berlin/Aschaffenburg 1991, 445-567; Hans Gerald Hödl, „Dichtung oder Wahrheit? Einige vorbereitende Analysen zu Nietzsches erster Autobiographie und ihrer Analyse von HJ. Schmidt", in: NietzscheStudien 23/1994, 285-306; Peter André Bloch, ,„Aus meinem Leben'. Der Selbstporträtcharakter von Nietzsches frühen Lebensbeschreibungen: Selbstdialog als Selbstbefragung", in: Nietzscheforschung 2/'1995, 61-94. 8

Johann Figl

438

Biographie geht, ist Se/¿sferkenntnis. Die Schlußverse zeigen das schön: es geht darum, im Spiegel, der das Leben ist, „sich zu erkennen" (KGW 1/1,311); dies sei es, wonach wir „streben". Das intentionale Interesse ist also, das Selbst zu verstehen; der Lebensweg dient gleichsam als Spiegel, in dem das Selbst erkannt werden kann. Es ist eine besondere Form des Erkennens, um die es geht; sie ist auf das Selbst bezogen; man könnte sie existenzielles Wissen nennen: ein Wissen, in dem die eigene Sinndimension nicht ausgeklammert ist, wie bei objektiven Wissensinhalten, sondern das sich auf die eigene Existenz bezieht. Es ist die Suche nach dem Selbst, das sich ja nicht direkt in den Lebensumständen zeigt, sondern aus ihnen nur indirekt erschlossen werden kann wie in einem Spiegel. In dieser Spiegelung dokumentiert sich erneut jene Differenz, die zwischen Seelenentwicklung und deren Selbstbetrachtang besteht: der Entwicklungsverlauf soll erkannt -

werden, um darin sich selbst zu erkennen.

Zusammenfassend können wir sagen, daß die Erschließung der äußeren Umstände der Biographie mit weiteren, darauf aufbauenden Intentionen verbunden sind: eine erste Stufe ist die Selbstbetrachtung der Seele, wobei sich das Augenmerk auf das Werden richtet; darauf, wie etwas geworden ist, wie die „Ausbildung", d. h. Prägung und Gestaltung der Psyche, vor sich gegangen ist; diesen Prozeß zu verfolgen bzw. dafür die Grundlagen durch die Nieder-

schrift zu schaffen, erscheint Nietzsche als etwas „Schönes" bzw. als „lehrreich", wie er in der Einleitung sagt es sind gleichsam fast solipsistisch zu nennende Vorgänge, wie er generell über seine literarischen Projekte der Kindheit sagt: „ein kleines Buch zu schreiben u. es dann selbst zu lesen" dies war „ueberhaupt" und „stets" sein Vorhaben (KGW 1/1, 291). Eine zweite Stufe ist die Selbsterkenntnis, der das Leben in seinem äußeren und wohl auch inneren Verlauf dient. Um dies zu erreichen, ist es nötig, möglichst wahrheitsgetreu das äußerliche Leben wiederzugeben, ansonsten wäre es ja nicht möglich, daraus Fruchtbares zu lernen. Nietzsche betont am Schluß mit einer Formel Goethes -, daß er „hier ganz der Wahrheit getreu erzählt (habe) ohne Dichtung und poetische Ausschmückung" (KGW 1/1, 311). Zu Beginn war er noch vorsichtiger, wenn er dasjenige, das hell und lebhaft vor seiner Seele steht, mit dem „Dunkel und Düster" zu einem Gemälde verbinden will (KGW 1/1, 282). Es zeigt sich der Mut, offen das eigene Leben zu schildern, es zu sehen, wie es ist darin ist sicher eine Grundintention der späteren Philosophie Nietzsches zu erblicken, die hier in Ansätzen zu erkennen ist. -

-

-

-

2.2.

Geistesgeschichtliche Einordnung: einige Bemerkungen zur religiösen Dimension der ersten Biographie

Der zuletzt genannte Aspekt verweist auf eine Selbsterkenntnis, die zuinnerst mit dem Selbstbekenntnis zusammenhängt. Beichttradition, pietistische Innerlichkeit sind gewiß zentrale Wurzeln der modernen Biographie;10 und sie sind noch zu spüren in Nietzsches Erstlingswerk

10

Vgl. generell dazu: Günter Niggl (Hg.), Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989, bes. die Beiträge von T. C. Price Zimmermann, „Bekenntnis und Autobiographie in der frühen Renaissance", 343-366; Günter Niggl, „Zur Säkularisation der pietistischen Autobiographie im 18. Jahrhundert", 367-391; und Jaques Voisine, „Vom religiösen Bekenntnis zur Autobiographie und zum intimen Tagebuch zwischen 1760 und 1820", 392-414.

Die „Ausbildung der Seele erkennen"

439

dieser Kategorie. Vor diesem Hintergrund möchte ich auf einen Aspekt hinweisen, der bisher bei der Deutung der kleinen Schrift „Aus meinem Leben" wenig beachtet wurde, obwohl er an mehreren Orten präsent ist: die religiöse Thematik." Sie kommt natürlich im Zusammenhang der Schilderung des Lebens und Sterbens des Vaters zur Sprache (vgl. KGW 1/1, 285), dann besonders bei den Überlegungen zur Bedeutung der Musik, die uns Gott gegeben hat, damit wir „durch sie nach Oben geleitet werden [...]" (KGW 1/1, 305), dann auch in den hymnisch klingenden Aussagen über den Wert der Freundschaft, für die er Gott dankt (vgl. KGW 1/1, 295), auch in Naturschilderungen (vgl. 288) und indirekt in den recht kritischen Äußerungen über den „wahrhaft erbärmliche[n]" Religionsunterricht bis zur Tertia (KGW 171, 299). Doch in extensiver Weise ist Gott im zusammenfassenden Rückblick angesprochen. Hier werden die Erfahrungen auf Gottes väterliche Leitung bezogen; in allem auch dem Schmerzlichen kann das Kind „mit Ehrfurcht seine hehre Macht, die alles herrlich hinausführt (erkennen)" (KGW 1/1,310). Und der Absatz schließt wie ein Gebet mit einem „Amen!!" (KGW 1/1, 310, mit zwei Rufzeichen!). Hier wird Gott direkt angesprochen: „Ja, lieber Herr, laß dein Antlitz über uns leuchten ewiglich! Amen!!" (KGW 1/1, 310) Ist er der Adressat? Oder auch ein Adressat? Diese Frage ist durch die Biographie nicht eindeutig -

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-

-

geklärt. Der religiöse Charakter dieser Biographie zeigt sich andeutungsweise im Einleitungsabsatz, also an einer für jede Interpretation eines geschlossenen Textes bedeutsamen Stelle: Zu des Verstandes Beginn heißt es, daß „es doch immer lehrreich (ist), die allmählige Bildung und Herzens und hiebei die allmächtige Leitung Gottes zu betrachten! -" (KGW 1/1, 282) Diese Parallelisierung in dem schönen Wortspiel der „Allmählichkeit" menschlicher Ausbildung und der „Allmächtigkeit" von Gottes Leitung zeigt, daß der Blick auf die eigene Lebensgeschichte zugleich eine Betrachtung vom göttlichen Wirken darin sein soll; dieses Motiv steht aber ansonsten stark im Hintergrund, bis es am Schluß wieder massiv hervortritt. Bevor dieser Sachverhalt gewertet wird, soll festgehalten werden, daß dieses kleine Opus des Gymnasiasten Nietzsche in die große, auf die Confessiones von Augustinus zurückreichende Tradition der Lebensbeschreibung eingefügt werden kann. Bekanntlich sind die Bekenntnisse des wirkungsgeschichtlich so bedeutsamen Theologen als ein Gebet, als eine Zwiesprache mit Gott geschrieben: die Grundüberzeugung, daß in allen, auch irritierenden Lebensereignissen, Gottes Wirken am Werk ist, und somit eine Sinngebung von allem möglich ist, prägt diese Vorsehungs- und Erwählungstheologie. Es ist auch interessant, zu sehen, wie ausführlich sich der ehemalige Rhetor und spätere Bischof der Schilderung der Kindheit widmet.12 Worauf es hier aber primär ankommt, sind nicht solche Parallelen, die sich aus der Schilderung derselben Lebensphase ergeben, sondern die Bezugnahme auf Gott: wie ist diese näherhin in Nietzsches Schrift zu verstehen? Wenn man die betreffende Textpassage durchliest, so ist sie unverkennbar eine Kompilation vertrauter religiöser Lied- und Gebetsformeln; es scheint wenig, fast gar nichts Eigenes in diesen religiösen Formulierungen anzutreffen zu sein. Es handelt sich vor allem um die

geht darauf Peter André Bloch ,„Aus meinem Leben'", bes. 67, ein, der sich vorwiegend auf die Darstellungsmethode in den Jugendbiographien Nietzsches konzentriert und von da aus auch die Formulierungen betreffend Gott (besonders am Beginn der Schrift von 1858) deutet. Vgl. Augustinus, Bekenntnisse, übers, v. Joseph Bernhart, Frankfurt a.M. und Hamburg 1961, z. B. „Freundschaft tat mir wohl", schreibt er und dankt für diese Gabe Gott, ähnlich wie es Nietzsche tut (Kap. 1,20, 25). Spiele hat er geliebt; Lernen, insbesondere Griechisch, hat er gehaßt (vgl. Kap I, 14,20).

11 Näher

12

Johann Figl

440

Übernahme traditioneller Muster:13 der fremde Einfluß wird hier deutlich, aber zugleich auch,

daß sich Nietzsche diese vorgegebenen Texte wohl zu eigen gemacht hat. Trotz ihres formelhaften Charakters haben sie deshalb existenzielle Bedeutung; doch es fehlt die Dynamik, die ansonsten bei der Schilderung des eigenen Lebens spürbar ist. Ich würde nicht sagen, daß sich hier schon eine latente, innere Verabschiedung vom Christentum zeigt, wohl aber hat man den Gesamteindruck, daß diese „Versatzstücke" christlicher Gottesdienst- und Gebetskultar schwer in der Lage sein dürften, formend in die Lebensprozesse miteinbezogen zu werden. Eine kindliche Religiosität unter Verwendung der tradierten Formeln ist gewiß gegeben doch fehlt ihr die Plastizität und Dynamik, die sie kompatibel mit den übrigen Erfahrungen im Lebensprozeß machen würde. Insofern scheinen an den frühen Texten tatsächlich Phänomene ablesbar zu sein, die die Möglichkeit einer Distanzierung, sogar Verabschiedung vom Christentum, plausibel machen; daß diese schließlich zu einem ,Fluch' auf das Christentum führt, dokumentiert aber wohl, daß Nietzsche affektiv dennoch davon nicht losgekommen ist. So betrachtet wird man manches vom ,Antichrist' besser verstehen, wenn man Nietzsches Jugendschriften kennt letztlich kann man dieses Spätwerk, wie überhaupt Nietzsches religionskritische Schriften, nicht ohne Berücksichtigung seiner Biographie und frühen Aufzeichnungen angemessen interpretieren. Dies soll abschließend an einem konkreten Beispiel, in dem Nietzsche selbst auf Kindheitsnotizen verweist, aufgezeigt werden. Doch zuvor will ich noch kurz auf weitere Aspekte eingehen, die auf Nietzsches Art der kritischen Reflexion vorausweisen. -

-

2.3. Einzelne Züge der Biographie, die auch Nietzsches späten Denkstil charakterisieren Hier ist zunächst die generelle Fähigkeit zu konstatieren: nämlich seelische Entwicklungen, auch sehr selbstkritisch, zu reflektieren, wie er es z. B. in bezug auf seine Gedichte tat (KGW 1/1, 295). Eine scharfe Beobachtungsgabe für psychische Prozesse zeigt sich an vielen Themen, z. B. hinsichtlich der Nachahmungsbereitschaft von Kindern (KGW 1/1, 292), oder in bezug auf die Freundschaft (KGW III, 288); auch die Beobachtung, daß durch das öftere Erzählen eines großen Verlustes der Mensch Trost schöpft (vgl. KGW 1/1, 300 f.), ist eine beachtliche psychoanalytische Einsicht. Beeindruckend und psychologisch bedeutsam ist ferner die Schilderung und Deutung des Traumes, in dem er den Tod des Bruders Joseph vorausgeahnt hat (KGW 1/1, 286). Die Selbstbeobachtung spiegelt sich auch in Bemerkungen, in denen er auf das Erlebnis der Einsamkeit in der Natur zu sprechen kommt (vgl. KGW 1/1, 288), oder wenn er von der lautlosen Stille im Winter spricht (vgl. KGW 1/1, 304) sowie vom „lauen Wasser des Sommers", wie er es beim Schwimmen erfährt (303); zudem in der dichterischen Gestaltung von Natarszenen (KGW 1/1, 291). Aber ebenso im Berichten über das Erleben von Kunst, v. a. der Musik, und hier namentlich des Requiems (,Dies irae, dies illa'), des Benedictas (vgl. KGW 1/1, 298 und 306) und der „einfachen Melodien Haidnes", durch die ein „stiller, klarer Friede" über den kommt, der sie hört (KGW 1/1, 306), ist eine große Fähigkeit zur psychologischen (Selbst-)Analyse zu erkennen. Überhaupt finden sich in dieser 13

Vgl. Johann Figl, „Geburtstagsfeier und Totenkult. Zur Religiosität des Kindes Nietzsche (Vortrag bei der Gedenkfeier zum 150. Geburtstag Nietzsches in Röcken am 15. Oktober 1994)", in: Nietzscheforschung 2, Berlin 1995, 28 f.; vgl. auch Peter André Bloch, „,Aus meinem Leben'", 85.

Die „Ausbildung der Seele erkennen

441

"

frühen Zeit schon musiktheoretische Überlegungen, die Nietzsche nie losgelassen haben, und die z. T. grundlegend für die Geburt der Tragödie sind, wie z. B. die Aussage, daß die Tonkunst zu uns „oft in Tönen eindringlicher [redet] als die Poesie in Worten" (KGW 1/1, 306). Solche Intentionen, wie sie sich beim Dreizehnjährigen zeigen, sind auch für sein späteres philosophisches Denken leitend. Ich glaube, daß es möglich ist, wichtige in den Jugendschriften sich andeutende Leitlinien, im besonderen auch die Biographiezentriertheit des (Nach-)Denkens, in später entstandenen Texten, angefangen von der Geburt der Tragödie bis hin zur Philosophie der Spätwerke und des späten Nachlasses, zu verfolgen. Freilich nicht im Sinn einer ungebrochenen Kontinuität, aber im Sinne eines Weges, der aus Lebenserfahrungen und neugewonnenen Kenntnissen und Erkenntnissen produktiv philosophiert; nicht so sehr die radikalen Brüche als vielmehr die je neuen Situationen der Selbstbesinnung und -vergewisserung über den Lebensweg sind für Nietzsches Denken charakteristisch. Und von daher ist eine enge Verwobenheit mit der Kindheit und Jugend gegeben, von der sich Nietzsche selbst als nicht nur glücklichen, sondern oft auch stark belastenden Lebensstadien zu distanzieren versuchte.14

3.

Zum Zusammenhang von Überlegungen der Jugendzeit mit späteren philosophischen Problemen

3.1. Ein Beispiel für Nietzsches Kindheitsnotizen

Rückbeziehung auf

Die Moral- und Gotteskritik des Spätwerkes sieht Nietzsche selbst als eine Fortführung einschlägiger Überlegungen aus seiner Jugendzeit an. Rückblickend auf diese Zeit schreibt er in einer nachgelassenen Notiz im Juni oder Juli 1885: „Der ersten Spur philosophischen Nachdenkens, der ich, bei einem Überblick meines Lebens, habhaft werden kann, begegne ich in einer kleinen Niederschrift aus meinem 13. Lebensjahre: dieselbe enthält einen Einfall über den Ursprung des Bösen." (KGW VII/3, 344: 38 [19])15 Dabei ging Nietzsche von der Voraussetzung aus, daß Gott etwas denken könne und es zugleich schaffen könne, so daß er sich selbst gedacht habe und seinen Gegensatz geschaffen habe. Sein Résumée daraus lautet: „Der Teufel hatte also in meiner Vorstellung ein ebensolches Alter wie der Sohn Gottes, sogar einen klareren Ursprung und dieselbe Herkunft."(KGW VII/3, 344: 38 [19])16 An diese Überlegung in der Kindheit erinnert er sich auch in der Vorrede Zur Genealogie der Moral: „In der That gieng mir bereits als dreizehnjährigem Knaben das Problem vom Ursprung des Bösen nach: ihm widmete ich [...] meine erste philosophische Schreibübung und was meine damalige ,Lösung' des Problems anbetrifft, nun, so gab ich, wie es billig ist, Gott die Ehre und -

-

14 Reflexionen im Umfeld

15 16

von Menschliches, Allzumenschliches zeigen diese Ernüchterung über das Pathos der Jugendlichkeit: vgl. insbesondere die Aussage, daß ihn „die Menschen in Erstaunen setzen, welche so nach ihrer Jugend zurückseufzen", und er fügt hinzu: „Ich empfinde gerade umgekehrt und kenne nichts weniger Wünschbares als Kindheit und Jugend [...]" (KGW IV/2, 398: 17 [30], vgl. 17 [24]). Siehe dazu Nachbericht VII/4,2, 479 (zur Stelle). Vgl. KGW VII/1, 156: 4 [139].

442

Johann Figl

zum ,Vater' des Bösen. [...]" (KGW VI/2, 261). Diese erwähnte kleine Schrift ist, worauf Montinari, der sich mit diesen Kindheitserinnerungen intensiv befaßt hat, hinweist, bedauerlicherweise verloren gegangen.17 Erhalten geblieben sind jedoch von dem 14jährigen Nietzsche aus seinem ersten Semester in Schulpforta (November 1858) Notizen, die in die-

machte ihn

selbe

Richtung weisen. Unter der Überschrift „De libértate"

finden wir die Aufzeichnung: nicht nicht böse / erhaben über menschliche „Gott gut Begriffe".18 Im Zusammenhang damit wird ihm auch die Freiheit Gottes, dessen unbeschränkte Macht, ein Problem: „De dei libértate", notiert er hier.19 Die ethisch pragmatische Dimension sowie die Thematik der Willensfreiheit kommt dann auch in jenen Niederschriften deutlich zum Ausdruck, die Jörgen Kjaer den „Fatum- und Geschichte-Textkomplex" nennt.20 Es handelt sich dabei vor allem um die

kleinen, aber bedeutsamen Abhandlungen „Fatum und Geschichte"21 und „Willensfreiheit und -

Fatum",22 die Nietzsche als 17jähriger verfaßte. Fragen betreffend Gut und Böse sowie die Willensfreiheit werden in der Genealogie der Moral aufgeworfen, sowie in dem im Jahr vorher veröffentlichten Werk Jenseits von Gut und Böse. Hier finden wir gewissermaßen die Quintessenz der Kritik an moralischen und religiösen Vorstellungen Nietzsches, womit sich der Kreis schließt, der in Kindheitsaufzeichnungen Nietzsches seinen Anfang genommen hat.

Analogien zwischen frühen und späteren Philosophumena (Schlußbemerkung)

3.2. Intentional-strukturelle

Überlegungen ist abschließend auf die generelle Art des Zusammenhangs von Biographie und Werk, von Jugendaufzeichnungen und späteren Schriften hinzuAn diesem Punkt der

weisen: dieser ist nämlich nicht in dem Sinn zu verstehen, daß aus früheren Notizen der Inhalt späterer abgeleitet werden könnte, sondern in der Hinsicht, daß eine analoge Problemsitaation zu eruieren versucht wird, die den Jugendlichen in ähnlicher Weise bedrängt hat wie dann den jungen Wissenschaftler bzw. Kritiker und später den vereinsamten Philosophen. Bestimmte Konstellationen des Denkens (und wohl auch des Fühlens) können als durchgehende Matrizen' angenommen werden, jedoch nicht in einer notwendigen Gleichheit, die gar identische Inhalte zur Folge haben müßte, sondern im Sinne einer Sachproblematik, die existenziell als Problem erfahren wird. Vergleichbar sind die Intentionen, das Anliegen, das sich dann im denkerischen Wollen niederschlägt, weniger aber die konkreten Inhalte, auch nicht primär die theoretischen Lösungen, zu denen Nietzsche in verschiedenen Lebensaltern gelangte; vergleichbar sind eher die „intentionalen Strukturen" denn die materialen Motive. Linearität und Diskontinuität, strukturelle Ähnlichkeit und inhaltliche Affinität beides ist zu berücksichtigen, wenn der Bezug zwischen Jugendschriften und späterem Werk Nietzsches eruiert werden soll. Daß ein solcher gegeben ist dies vermag in Nietzsches Werk an vielen Stellen aufgezeigt zu werden; diesen Bezug jedoch angemessen zu interpretieren, ist eine bislang nur in Ansätzen geleistete Arbeit. -

-

17 Vgl. Mazzino Montinari, Nietzsche lesen, 36. 18 Friedrich Nietzsche, Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Werke, Band I: hg. v. Hans Joachim Mette, München 1933, 48 (zitiert als BAW mit Angabe von Band und Seite). 19 Ebd. 20 Jörgen Kjaer, Nietzsche. Die Zerstörung der Humanität durch Mutterliebe, Opladen 1990, 107 ff. 21 BAW II, 54. 22 Ebd., 60.

Wiebrecht Ries

Das Bewußtsein des

Unglücks

Zu thematischen Parallelen in der Kindheits- und Jugendgeschichte Hölderlins, Nietzsches und Kafkas

Hölderlin, Nietzsche, Kafka die Betrachtung und Reflexion auf bestimmte Aspekte in ihren

Kindheitsgeschichten dienen einigen Überlegungen,

die im Sinne eines vorgreifenden Verstehens zu einem vertieften Verständnis dessen hinfuhren, was man die „Schicksaisfigur" ihres Lebens nennen könnte. Ein solches Verständnis wäre dann gegeben, wenn bestimmte Linien auf der Folie dieser drei Geschichten sichtbar werden, welche konstitutive Züge an dem herausstellen, was diese Schicksalsphysiognomie in ihrem geistig-seelischen Formgefuge ausmacht. Meine These ist, daß diese „Physiognomie" bereits in der Kindheit und frühen Jugend den aus ihnen sich entwickelnden biographischen Mustern eingezeichnet ist. Zwar läßt sie sich über diese „Muster" genetisch rekonstruieren, sie ist aber m. E. auf ihren lediglich sozialen, kulturellen und familialen Hintergrund nicht einseitig reduzierbar. Vielmehr wirkt hier auch jener von Novalis beschworene „Kreis geheimer Mächte" mit. In der Sprache des Mythos: In einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort ereignet sich die Epiphanie eines rätselhaften Kindes aus dem Reich der Persephone, und bereits an seiner Wiege haben die sein künftiges Leben regierenden „Moiren" sich eingefunden. Der Wiegengabe erste ist, denkt man an Hölderlin, an Nietzsche, aber auch an Kafka, die Genialität dieses Kindes, das Erbe dieser Mitgift seine einzigartige Sensibilität und musische Begabung, aber auch seine lebenslange Einsamkeit und seine überdurchschnittlich tiefe Leidensfähigkeit. Wie diese „Gabe" und ihre Mitgift vor dem Hintergrund jeweiliger Lebenswelt ihre für Hölderlin, Nietzsche und Kafka spezifische Kontur gewinnt, dies sei im folgenden mit Ausblicken auf die Werke etwas näher -

ausgeführt.

Johann Christian Friedrich Hölderlin wurde am 20. März 1770 zu Lauffen am Neckar geboren. Er ist das erste Kind von Johanna Christiana Hölderlin, geborene Heyn und Heinrich Friedrich Hölderlin, Klosterhofmeister und geistlicher Verwalter. Durch seine Mutter ist Hölderlin mit der ganzen „schwäbischen Pfarraristokratie" verwandt, u. a. mit Schelling, Mörike und Uhland. Wilhelm Dilthey ist es gewesen, der wohl als Erster in seinem 1905 erschienenen Buch Das Erlebnis und die Dichtung auf die zentrale Bedeutung des „heimatlich-stillen Zaubers der schwäbischen Landschaft" hingewiesen hat, welche für die Kindheit Hölderlins den Bezirk der Heimat als ein magisches Reich umschließt. Dieses Reich, in dem „Rosendomen und süße Linden duften", ist als Natur das tönende, das, die Seele des Kindes berührend, sie völlig durchstimmt. Das Licht, das über dem Tal, dem Fluß, den Hügeln jener Landschaft liegt, in welcher Hölderlin seine frühen Kinderjahre verbringt, eröffnet jenen mythischen Raum, aus welchem das einzigartige Naturgefühl des jungen Hölderlin erwächst. Einzigartig in dem Sinn, daß den Linien der sanft geschwungenen Hügel, dem Strömen des Flusses, dem umwaldeten Rund der Täler jeweilige Abläufe des Seelenlebens mimetisch korrespondieren. „Was immer im Erleben der Seele vor sich geht, findet sich draußen in

Wiebrecht Ries

444

objektiver Gestalt und Bewegung; was immer sich im Raum der sichtbaren Dinge erhebt und zuträgt, hat seine Entsprechung in der inneren Welt" (Romano Guardini). Das magische

Ineinander von Seelentiefe und Tiefenraum der Natur, welches nach dem schönen Wort von Ulrich Häussermann „die einwiegend-bergende Hut" der Heimat ausmacht, ist der dichterische Gegenstand der Kindheitsmythe Hölderlins. Die Innenwelt von Hölderlins Kindheit und ihr Bezug zu den werdenden Dimensionen seines Lebens ist besonders rein gestaltet in dem berühmten rückschauenden Gedicht „Da ich ein Knabe war", das ursprünglich als Lied innerhalb des Hyperion-Romans gedacht war. Es ist streng antithetisch aufgebaut, indem es die Sphären des Daseins schroff gegeneinandersetzt: „Geschrei und Ruthe der Menschen" auf der einen Seite, auf der anderen Seite das naturmagische Einssein des Knaben mit dem Numinosen der Natur im „Spiel" mit den „Blumen des Hains", dem Himmel, den Lüften; auf der einen Seite „die Stille des Aethers", auf der anderen Seite der Lärm der menschlichen Worte. Hören wir das Gedicht als Ganzes:

„Da ich ein Knabe war

...

Da ich ein Knabe war, Rettet' ein Gott mich oft Vom Geschrei und der Ruthe der Da spielt' ich sicher und gut Mit den Blumen des Hains, Und die Lüftchen des Himmels Spielten mit mir.

Menschen,

Und wie du das Herz der Pflanzen erfreust, Wenn sie entgegen dir Die zarten Arme streken, So hast du mein Herz erfreut Vater Helios! und, wie Endymion, War ich dein Liebling, Heilige Luna! O all ihr treuen Freundlichen Götter! Daß ihr wüßtet, Wie euch meine Seele

geliebt!

Zwar damals rieff ich noch nicht Euch mit Nahmen, auch ihr Nanntet mich nie, wie die Menschen sich Als kennten sie sich.

Doch kannt' ich euch besser, Als ich je die Menschen gekannt,

nennen

Das

Bewußtsein des Unglücks

445

Ich verstand die Stille des Aethers Der Menschen Worte verstand ich nie. Mich erzog der Wohllaut Des säuselnden Hains Und lieben lernt' ich Unter den Blumen. Im Arme der Götter wuchs ich

groß."1

Es würde den Rahmen des mir gesetzten Themas sprengen, würde ich das Gedicht als Ganzes interpretieren. Hingewiesen sei nur auf die in ihm enthaltenen „Spuren", denen man durch das Leben Hölderlins und seiner Dichtung immer wieder begegnet: Der durchlässige „Schlaf, in welchem für die in ihn eingehüllte Seele des Kindes die tönende Harmonie des Kosmos vernehmbar wird, die schöne Treue im Lauschen auf das Tönende, das von oben Kommende und das von unter Heraufsteigende, die bestimmte Trennschärfe im Vernehmen des Wahren und des auf dem Boden der gewöhnlichen menschlichen Verständigung Unwahren. Zuwenden möchte ich mich aber einem inwendigen Gipfel des Gedichtes, den Zeilen:

„Ich verstand die Stille des Aethers Der Menschen Worte verstand ich nie." Was

zu

Hölderlins kindlichem Bewußtsein

„spricht"

in der Weise des unmittelbaren Ver-

nehmens, das ist die vor- und außermenschliche Sphäre der Natur wie auch die übermenschliche Sphäre des Numinosen. Hingegen bleibt ihm die soziale Lebenwelt stumm, als sei die der menschlichen Sprache wesenseigentümliche Intentionalität grundlegend gestört, ihre Darstellungsfunktion gleichsam suspendiert. „Die Schicht des Verstandes, die hier angesprochen wird", schreibt Ulrich Häussermann in seiner außerordentlich verdienstvollen kleinen Hölderlin-Monographie, „ist so tief, daß die üblichen Formen des Verstehenwollens entmachtet sind: ein Finden ohne zu suchen, ein Wissen ohne zu fragen."2 Die hier angesprochene Tiefenschicht des „Verstandes" verweist auf ein visionäres Vermögen, dem sich die mythische Tiefe der Natur erschließt, die das Kind Hölderlin als berauschende Liebesharmonie erlebt. Genau darin liegt aber das Glück und die Not seiner frühen Jahre, und darum dreht sich zuerst der äußere, dann der innere Konflikt, der ihn aus der christlichen

Religion seiner Zeit hinaustreibt. „Im Arme der Götter wuchs ich groß" kein Dichter vor und nach Hölderlin auch der junge Goethe nicht hat sich mit einem solch stolzen Bekenntnis zum „Götterliebling" stilisiert. Wer aber „in den Armen der Götter" groß wird, der muß in den Wohnungen der Sterblichen ein Fremdling bleiben. Das hat bereits die Knabenseele Hölderlins in ihrer übersensiblen Feinfühligkeit „gewußt". Etwas von diesem schicksalhaften Wissen wird sichtbar an der unbeschreiblich zarten Reinheit der Züge in der leisgetönten Profilzeichnung von der Hand eines Studienfreundes, die Hölderlin mit sechzehn Jahren zeigt. Der ein wenig erstaunte Blick des Auges und der fast mädchenhaft kleine Mund vermitteln in der feinen Profillinie des Kopfes ein gleichsam abwehrendes Moment der von außen -

-

1 2

-

Friedrich Hölderlin, Säntliche Werke und Briefe Bd. I, hg. v. M. Knaupp, München/Wien 1992, 167 f. Ulrich Häussermann, Friedrich Hölderlin in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1961, 40.

Wiebrecht Ries

446

eindringenden Welt gegenüber. Die Reaktion auf dieses „Wissen" ist eine im übertragenen Sinne fast autistisch zu nennende „Selbstverschlossenheit", die in der „Ichbezogenheit des inneren Lebens" (Pierre Bertaux) nur durch die Liebe zu Susette Gontard durchbrochen wurde. Darüber dürfen auch die zuweilen eruptiven Gefühlsausbrüche bei Hölderlin nicht hinwegtäuschen. Ein Zeugnis für diese Selbstverschlossenheit ist u. a. der Brief Hölderlins an Immanuel Nast, Ende Oktober 1787, in dem Hölderlin über seine innere „Leere" klagt„Überall ists mir so leer" und den Freund fragt: „Ach Bruder, sag mir, lieber Bruder, bin dann ich nur allein so?" Und dann bittet er den Freund, daß sein Brief,glicht in fremde Hände, in menschenfeindliche Hände kommt sonst heißts der ist ein Narr!!!"3 Bereits im frühesten erhaltenen Schriftstück Hölderlins, einem Brief, den der Fünfzehnjährige wohl in der Herbstvakanz 1785 aus Denkendorf an den väterlichen Mentor, den Diakonus Nathanael Köstlin, schrieb, heißt es im Geist pietistisch geprägter Gewissensprüfung und Selbstanalyse: -

-

„[...]

ich konnte niemand

um

mich

-

leiden, wollte

nur

immer einsam seyn, und schien

gleichsam die Menschheit zu verachten; [...] Wollte ich klug seyn, so wurde mein Herz tükkisch, und die kleinste Beleidigung schien es zu überzeugen, wie die Menschen so sehr böse, so teuflisch seyen, und wie man sich vor ihnen vorsehen, wie man die geringste Vertraulichkeit mit ihnen meiden müsse."4

Das Hölderlin lebenslang begleitende Fremdheitsgefühl in der Welt, die gläserne Wand zwischen ihm und den Menschen, bleibt. Aufgehoben ist es nur in der Liebe zu Susette. Es verhindert ein Glücklichwerden „im ruhigen Ehestand auf einer friedlichen Pfarre", wie es die Mutter vergebens für ihren Sohn erhofft hatte. Gepaart ist dieses Gefühl mit einer eigentümlichen Kälte. Es ist sicher kein Zufall, daß Hölderlin im Kreis seiner Freunde den Namen „Holz" verliehen bekam. In der zweiten Hälfte des April 1792 schreibt er aus Tübingen an Neuffer:

„[...] so sitz ich zwischen meinen dunklen Wänden und berechne, wie bettelarm ich bin an Herzensfreude [...]. Ich hänge mich an alles, wovon ich glaube, daß es mir Vergessenheit geben könne, und fühle jedesmal, daß ich verstimmt und unfähig bin, mich zu freuen, wie andere Menschenkinder

[...].

Ich will Dich aber nicht weiter plagen mit meinen Grillen."5

Fremdheit, der Kälte kommt als Drittes eine grundlegend tiefe Traurigkeit, eine Schwermut, die den von ihr Geschlagenen in ein Schattenland bannt. Pierre Bertaux, der be-

Zu der

kanntlich in seinem berühmten Hölderlin-Buch bei Hölderlin Schizophrenie als Ursache seines geistigen Zusammenbruches bestreitet, spricht von „tiefer Melancholie" und „Depression". Was die Tiefe und Erlebnisgewalt dieser Traurigkeit betrifft, so ist über alles von Medizin und Psychologie über sie Gesagte hinaus zu betonen, daß in ihr das zehrende Verlangen nach der unendlichen Schönheit des Lebens verbunden ist mit dem niederdrückenden Gefühl der Vergänglichkeit, mit unstillbarer Wehmut und Trauer. Sie ist wie Romano Guardini in seinem Buch Vom Sinn der Schwermut geschrieben hat „wie eine Luft, die alles umgibt, wie -

ein Fluidum, das alles

3 4 5

durchströmt, wie eine tiefe Bitterkeit und Süße zugleich, die allem

Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. II, 408 f. Ebd., 393. Ebd., 483.

-

Das

Bewußtsein des Unglücks

447

beigemischt ist."6 Inwiefern beim jungen Hölderlin diese „Traurigkeit" mit der Beziehung zu seiner Mutter zusammenhängt, ist in der Forschung immer noch umstritten. Bertaux hat in seiner Monographie diese Beziehung als eine zutiefst gestörte bezeichnet, und man kann sich seinen Argumenten schwerlich entziehen. Nun ist die Beziehung zwischen Kind und Mutter die schicksalhafte Beziehung schlechthin. Im Blick auf Hölderlin bedeutet dies: Sein Erbteil

der Mutter ist ihre „Schwermutskraft". Ich stimme daher Häussermann zu, wenn dieser schreibt: „Die Beziehung Hölderlins zu seiner Mutter hat das Schicksalhafte, zu Zeiten auch Schwere daher, daß Hölderlin in ihr ja ständig sich selbst begegnete, in ihrem Ernst seinem Ernst, in ihrer Dunkelheit seiner Dunkelheit."7 Johanna Christiana, geborene Heyn, heiratet als Siebzehnjährige den zwölf Jahre älteren Heinrich Friedrich Hölderlin, Klosterhofmeister in Lauffen. Im fünften Ehejahr verliert sie eine Tochter, im sechsten den Mann, der sechsunddreißigjährig an einem Schlaganfall verschied. Als der Vater stirbt, ist Hölderlin zwei Jahre und drei Monate alt. Nach zwei Jahren schließt die junge schöne Witwe eine neue Ehe mit dem Bürgermeister von Nürtingen, Kammerrat Gock. In dieser Ehe sterben ihr von vier Kindern abermals drei im Säuglingsalter. Was sie dann vollends niederschlägt, ist der Tod ihres zweiten Mannes im fünften Jahr dieser Ehe. Dem erschütternden Eindruck dieses Todes auf die Seele des damals Sechzehnjährigen verleiht das Gedicht „Die Meinige" von 1786 Ausdruck: von

„Als am schröklich stillen Sterbebette Meine Mutter sinnlos in dem Staube lag Wehe! noch erblik ich sie, die Jammerstätte, Ewig schwebt vor mir der schwarze Sterbetag -

-

Ach! da warf ich mich zur Mutter nieder, Heischerschluchzend blikte ich an ihr hinaus; Plötzlich bebt' ein heiiger Schauer durch des Knaben Glieder, Kindlich sprach ich Lasten legt er auf, Aber o! er hilft ja auch, der gute Hilft ja auch der gute, liebevolle Gott Amen! amen! noch erkenn ichs! deine Ruthe Schlaget väterlich! du hilfst in aller Noth!"8 -

-



„Ewig schwebt vor mir der schwarze Sterbetag". Ist für den normalen Durchschnittsmenschen der Tod eines Angehörigen ein bald verdrängter Schmerz, so ist für die Seele des außergewöhnlichen jungen Menschen der Tod, sein ungeheures ihm nicht zu entreißendes dunkles Geheimnis, ein nie zu überwindendes Lebenstrauma. Die zeitlose Gegenwärtigkeit einer ewigen Schönheit der Welt wird vom dunklen Licht dieses Geheimnisses für immer überschattet. Den Gedanken an den Tod ist Hölderlin sein Leben lang nicht losgeworden und er ist ihm wie ein Kapitel des Hölderlin-Buches von Pierre Bertaux eindrucksvoll belegt9 ein Leben lang nachgegangen. Wie für den noch nicht fünf Jahre alten Nietzsche ist der Verlust -

6 Romano Guardini, Vom Sinn der Schwermut, Zürich 1949, 50. 7 Ebd., 20. 8 Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. I, 22. 9 Pierre Bertaux, Friedrich Hölderlin, „Sterbliche Gedanken ", Frankfurt a.M. 1987, 655 ff.

-

Wiebrecht Ries

448

des (Stiefvaters für den kleinen Hölderlin eine nie vernarbte Wunde. Jahre später schreibt in einer eindringlichen Rückschau auf seine Lebensentwicklung der Neunundzwanzigjährige am 18. Juni 1799 aus Homburg an seine Mutter:

„Sie, liebste Mutter! haben mir diesen Hang zur Trauer nicht gegeben, von dem ich mich freilich nicht ganz rein sprechen kann. Ich sehe ziemlich klar über mein ganzes Leben, fast bis in die früheste Jugend zurück, und weiß auch wohl, seit welcher Zeit mein Gemüth sich dahin neigte. Sie Werdens kaum mir glauben, aber ich erinner mich noch zu gut. Da mir mein zweiter Vater starb, dessen Liebe mir so unvergeßlich ist, da ich mich mit einem unbegreiflichen Schmerz als Waise fühlte, und Ihre tägliche Trauer und Thränen sah, da stimmte sich meine Seele zum erstenmal zu diesem Ernste, der mich nie ganz verlies, und freilich mit den Jahren nur wachsen konnte."10 In diesem denkwürdigen Brief spricht Hölderlin von seinem „Hang zur Trauer" als der Grundanlage seines Wesens. Ihren Ausbruch datiert er auf den Tod des Stiefvaters. Und er spricht von dem unauslöschlichen Eindruck, den nicht nur dieser Tod, sondern auch die „tägliche Trauer und Thränen" seiner Mutter in seiner Seele bewirkt haben. Dieser Eindruck rückt das kindliche Gemüt früh in jenen schwermütigen Ernst, der alle Freude verdüstert und aus welchem Hölderlins Mythos vom Leid erwächst. Die Parallele zu den Eindrücken, die der

kleine Nietzsche angesichts der Verzweiflung seiner Mutter über die tödliche Erkrankung seines Vaters empfing, liegt auf der Hand, ebenso der unauslöschliche, ihn traumatisierende Eindruck vom Todestag seines Vaters, dem 30. Juli 1849. Die betreffende Stelle aus dem autobiographischen Bericht des dreizehnjährigen Nietzsche „Aus meinem Leben" lautet:

„Als ich den Morgen erwachte, hörte ich rings um mich lautes Weinen und Schluchzen.

Meine liebe Mutter kam unter Thränen herein und rief wehklagend: Ach Gott! Mein guter Ludwig ist todt! Obgleich ich noch sehr jung und unerfahren war so hatte ich doch eine Idee vom Tode; der Gedanke, mich immer von dem geliebten Vater getrennt zu sehn, ergriff mich und ich weinte bitterlich. Die Tage darauf vergingen unter Thränen und Vorbereitung zum Begräbniß. Ach Gott! Ich war zum vaterlosen Waisenkind, meine liebe Mutter zur Witwe geworden! -" (KGW I 1, 285) ich noch sehr jung und unerfahren war so hatte ich doch eine Idee vom Tode." Diese „Idee" ist die frühe Ahnung seiner die Selbstverständlichkeit des Lebens in die Unheimlichkeit stellenden Fremdheit und Dämonie. Akustisch anwesend ist sie für den Dreizehnjährigen in der Rückerinnerung im „dumpfen Klang" der Totenglocke beim Begräbniß seines Vaters am 2. August 1849 zu Röcken:

„Obgleich

„Oh, nie wird sich der dumpfe Klang derselben aus meinem Ohr verliehren." (KGW I 1, 286) Ihre schreckbildhafte Kraft gewinnt sie in jenem nächtlichen Wahrtraum, der den Tod des Brüderchens Ludwig Joseph am 4. Januar 1850 vorausträumt:

10 Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Bd.

II, 775

Das

Bewußtsein des Unglücks

449

„In der damaligen Zeit träumte mir einst, ich hörte in der Kirche Orgelton wie beim Be-

gräbniß. Da ich sah, was die Ursache wäre, erhob sich plötzlich ein Grab und mein Vater im Sterbekleid entsteigt demselben, er eilt in die Kirche und kommt in kurzem mit einem kleinen Kinde im Arm wieder. Der Grabhügel öffnet sich, er steigt hinein und die Decke sinkt wieder auf die Oeffnung. Sogleich schweigt der rauschende Orgelschall und ich erwache. Den Tag nach dieser Nacht wird plötzlich Josephchen unwohl, bekommt die Krämpfe und stirbt in Wenig Stunden. Unser Schmerz war ungeheuer. Mein Traum war vollständig in Erfüllung gegangen." (KGW I 1, 286) -

Die lastende Dunkelheit des Todes liegt aber auch schattengleich über einigen naturlyrischen Gedichten des jungen Nietzsche, so über jener fast volksliedhaften Strophe aus dem Jahr 1858:

„Der Himmel ist umzogen Von schwarzer Wolken Heer Mir möchte fast es scheinen Als ob's nicht Frühling war. Die Vöglein sind verstummet S'ist still auf weiter Flur."

(KGWI 1,245) Ursachen und Bedingungen einer sich stetig vertiefenden Einsamkeit im Sinne eines maskierten Selbstrückzuges auf verschwiegenste innerste Positionen seiner Seele beim jungen Nietzsche hat Hermann Josef Schmidt in seinem Nietzsche absconditus in beeindruckender Weise belegt. Ist diese Einsamkeit die Frucht traumatischer Lebenserfahrungen, so wurzelt sie gleichwohl in einer konstitutionellen Veranlagung. Diese macht sie unaufhebbar. „Ich verstand die Stille des Aethers / Der Menschen Worte verstand ich nie", ist bei Hölderlin zu lesen. Es klingt wie ein diesen Zeilen korrespondierendes Echo, wenn Nietzsche in seinem Ecce homo schreibt:

„In einer absurd frühen Zeit, mit sieben Jahren, wusste ich menschliches Wort erreichen würde." (EH, KSA 6, 297) Ich komme noch einmal auf die Aufzeichnung des 1858 zurück. Darin schreibt er:

bereits, dass mich nie ein

Dreizehnjährigen „Aus meinem Leben"

von

„Ich hatte in meinem jungen Leben schon sehr viel Trauer und Betrübniß gesehn und war

deßhalb nicht ganz so lustig und wild wie Kinder zu seien pflegen. [...] Von Kindheit an suchte ich die Einsamkeit u. fand mich da am wohlsten, wo ich mich ungestört mir selbst überlassen konnte. Und dies war gewöhnlich im freien Tempel der Natur [...]." (KGW I 1,

288)

Zwar stiftet die Natur für den jungen Nietzsche schon weitgehend nicht mehr wie für den jungen Hölderlin aus sich heraus die Epiphanie eines unsäglich in sich ruhenden Vollkomme-

ins verdichtete Bild gesetzt in der wunderbaren Zeile Hölderlins: „Im Abendschimmer / Stand der Strom" -, dafür wird sie ihm aber weitgehend zur Resonanz eines seelischen Gestimmtseins, welches in den Gewitterstimmungen wie im Licht des Mondes, das die Bettdecke

nen

-

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450

in seiner Schlafkammer aufleuchten läßt und die „goldene Aue" des Gartens in „Silberglanz" hüllt, Reflexe seelischer Bewegtheit freisetzt. Das schmerzliche Erlebnis eines allzu frühen Abschiedes von Röcken, von der Seligkeit des Einsseins mit der es umgebenden Traulichkeit der Natur, nicht zuletzt aber des Abschiedes von dem „umschatteten Grab" des Vaters hinterläßt eine Wunde, deren bleibende Narbe die Schwermut ist. So heißt es im Gedicht Abschied des sechzehnjährigen Nietzsche aus dem Jahr 1860:

„Manches Jahr ist verflossen, die Zeit hat die brennenden Wunden Langsam geheilt und den Schmerz tief in die Seele versenkt. Aber die Wehmut ist in dem fühlenden Herzen geblieben.

Nichts auf der Welt vermag davon die Seele befrein."

(HKG 1,224) eigentümliche „Ernst" und das in der „wilden Gluthen / Uferloser See" verborgene innere Leben des jungen Nietzsche münden zuletzt in jener „Sonnenvereinsamung im Licht" Zarathustra-Nietzsches, in welcher sich der Schattenriß der biographischen Existenz auflöst. Bereits zu Zeiten seiner bewußten geistigen Existenz wirkte Nietzsche auf den Freund seiner akademischen Jugendjahre, Erwin Rohde, wie dieser nach seiner Begegnung mit Nietzsche in Leipzig 1886 an Overbeck schreibt, „als käme er aus einem Land, Die „Wehmut", der sorgsam

sonst niemand wohnt." Die von Rohde in seinem Brief an Overbeck bemerkte „unbeschreibliche Atmosphäre der Fremdheit", die um Nietzsche ist und die schon das Kind Friedrich Nietzsche umgibt, wird auch von Lou Andreas-Salomé in ihrem mit dreiunddreißig Jahren geschriebenen, noch immer lesenswerten Buch Friedrich Nietzsche in seinen Werken (1894) hervorgehoben: „Ich möchte sagen: dieses Verborgene, die Ahnung einer verschwiegenen Einsamkeit das war der erste starke Eindruck, durch den Nietzsches Erscheinung fesselte.'" ' An einer anderen Stelle ihres Buches spricht sie vom Entschwinden Nietzsches „in einer von Adlern umflogenen Dunkelheit". Auch Resa von Schirnhofer hebt in ihrer kleinen, im Jahre 1937 verfaßten Schrift Vom Menschen Nietzsche die in sich versunkene Einsamkeit Nietzsches hervor. Anläßlich der Bitte Nietzsches, ihm aus seinem ihr geschenkten Zarathustra vorzulesen, notiert sie den folgenden Eindruck: „Unbeweglich in müder Haltung saß Nietzsche da, wie in erneutem Erleben seiner Dichtung befangen, meine Gegenwart ganz vergessend, versunken in seiner ureigensten Welt, in jenem ,Unbekannten Ungestillten Unstillbaren', von dem Zarathustra [...] sagt, daß es um ihn, in ihm sei."12 „Versunken in seiner ureigensten Welt", das ist bereits das Kind Nietzsche. „Rosen und Nachtigallenschlag" werden für die fühlende Seele des Kindes zur „Mittagspforte", durch die sie eintritt in den Kreis ihrer Verwandlungen. „Die Welt ist tief, und tiefer als der Tag gedacht", wird später Nietzsche in seinem Zarathustra schreiben. Ich komme noch einmal zurück auf das Problem der Einsamkeit, Fremdheit und Melancholie in der Kindheit Hölderlins und Nietzsches. Sie erweisen sich als grundlegende Züge in der Schicksaisfigur ihrer jeweiligen Biographie. Als Reaktionsbildungen haben sie sich unter dem Erlebnisdruck der jeweiligen familialen und sozialen Lebensmuster herauskristallisiert, sind aber auf diese wo

-

-

nicht

einseitig rückführbar. „Lieblingsdichter" erkoren.

Nicht umsonst hat der junge Nietzsche Hölderlin zu seinem In dem bekannten „Brief an meinen Freund, in dem ich ihm

11 Lou Andreas Salomé, Friedrich Nietzsche in seinen Werken, Frankfurt a.M./Leipzig 1994, 37. 12 Abgedruckt in: Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 2, München/Wien 1978, 287.

Das

Bewußtsein des Unglücks

451

meinen Lieblingsdichter zum Lesen empfehle" vom 19. Oktober 1861 spricht er hellsichtig im Blick auf Hölderlins Gedicht „Abendphantasie" aus dem Jahr 1799 von „tiefster Melancholie und Sehnsucht nach Ruhe". In diesem Gedicht, das zu den schönsten Hölderlins zählt, hat der junge Nietzsche die Grundstimmung seiner eigenen Existenz exemplarisch wiedergefunden und wiedererkannt: seine Schwermut in der Zeile „dunkel wirds und einsam / Unter dem Himmel, wie immer, bin ich -", sein Leiden an dem Gegensatz zwischen dem „Geschäfft'gen Lärm" des „Markts" und den „purpurnen Wolken" des „Abendhimmels" „Am Abendhimmel blühet ein Frühling auf, heißt es in dem Gedicht -, seine von heimlichem Todeswunsch genährte Sehnsucht in dem Anruf: „Komm du nun, sanfter Schlummer! zu viel begehrt / Das Herz." Wer Hölderlins Dichtung liebt und kennt, dem wird sich die Einsicht nicht versagen, daß deren Kosmos im Sinne des Gefüges von Natur, Göttern und Helden aus „dunklem Grund" erblüht. Dieser verweist auf eine dem dichterischen Weltbild Hölderlins zu Grunde liegende Tiefenschicht, aus der sich alle ursprüngliche Symbolik nährt: Seelenkult und Totenverehrung. Aus dieser Schicht, dem „großen Sammelbecken der Seelen- und Totensubstanz" (L. v. Pigenot), treten die großen Wiedergeborenen als „Fremdlinge" in die Zeit. Als einen solchen Fremdling, fernsten Ahnen urverwandt, hat sich Hölderlin selber empfunden. Auch Diotima ist ihm „heilige Fremdlingin", und alle Diotima-Lieder sind vom Hauch des Totenkults umwoben. Es ist eine Vermutung von mir, daß die Wurzeln dieser dichterischen Weltsicht und ihrer geheimen Nähe zur Orphik in der ahnungsreichen Kindheit Hölderlins liegen, in deren innerster Beziehung zur Natur und zu der Welt der „Mütter". Es mag sein, daß in einem übertragenen Sinn bereits der Knabe in einer geheimsten Stunde vom Granatapfel, der Frucht des Totenreiches, gekostet hat, so daß schon in sehr früher Zeit ihm die Schönheit der Natur durchsichtig wurde auf das ihr innewohnende tiefere Reich, „die wilde Welt der Todten". Der Tod gehört ja zu den frühesten Erlebnissen Hölderlins. Mit zweieinhalb Jahren, „ein' schwacher, stammelnder Knabe noch" erlebt er den Tod des Vaters „ein Verlust, den er nie überwand" (Pierre Bertaux). Mit fünf Jahren erlebt er den Tod seiner vierjährigen Schwester Johanna Christiana Friederike, einen Monat später den Tod seiner erst vier Monate zuvor geborenen Stiefschwester Anastasia Carolina Dorothea. Mit sieben Jahren erlebt er zuerst den Tod der Tante Elisabeth von Lohenschild, sechs Monate später dann Geburt, Tod und Begräbnis eines Bruders aus der zweiten Ehe seiner Mutter. Als Neunjähriger erlebt er den Tod seines Stiefvaters, der ihm „ein zweiter Vater" gewesen war. Mit achtzehn Jahren erlebte er vier Wochen lang aus nächster Nähe den Todeskampf seiner Tante Volmar, die am 18. April 1788 stirbt. Seinem Freund Immanuel Nast schreibt er unmittelbar danach: -

-

„[...] als ich [...] auf Nimmersehen von ihr Abschied nahm, und sie sagte ,wann wir uns O! diese Worte vergeß' ich auf dieser Welt nimmer sehen, so finden wir uns in jener '

nie!

[...]""

-

-

Der Fünfundzwanzigjährige hat in seinem großen Beileidsbrief vom 8. Mai 1795 an den Freund Christian Neuffer, dessen Braut Rosine Steudlin der Schwindsucht erlegen war, die menschliche Ratlosigkeit vor der Unbegreiflichkeit des Todes mit den Worten eingestanden:

13 Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Bd.

II, 420.

Wiebrecht Ries

452

„0 mein Freund! Ich begreif es nicht, das Namenlose [...] ich habe keinen Gedanken für das Vergehen [...] der Gott, zu dem ich betete als Kind, mag es mir verzeihen! Ich begreife Lieber!"14

den Tod nicht in seiner Welt

-

„Sterbliche" Gedanken können den Tod nicht fassen. Die Antwort auf die Frage, wie kann man den Tod „begreifen", gibt sich Hölderlin, wird ihm gegeben im Brief Diotimas aus dem zweiten Band des Hyperion: es ist das Mysterium der Köre, des göttlichen Mädchens: „Nur Eines muß ich dir noch sagen. [...] Ich werde seyn. Wie sollt' ich mich verlieren aus der Sphäre des Lebens [...] wie sollt ich scheiden aus dem Bunde, der die Wesen alle verknüpft? [...] Wir sterben, um zu leben [...] Wir stellen im Wechsel das Vollendete dar

[...] Sieh auf in die Welt! Ist sie nicht wie ein wandelnder Triumphzug, wo die Natur den ewigen Sieg über alle Verderbniß feiert? [...] und wir, wir sind wie die Jungfrauen und die Jünglinge, die mit Tanz und Gesang, in wechselnden Gestalten und Tönen den majestätischen Zug geleiten. Nun laß mich schweigen. Mehr zu sagen, wäre zuviel. Wir werden uns wohl wieder begegnen. [...] Lebe wohl."" -

Selten hat das Dionysische, das Nietzsche in seiner Tragödienschrift von 1872 gefeiert hat, einen solchen Klang gefunden wie in dieser Briefstelle des Hyperion. Auch mag es eine Passage wie diese gewesen sein, die den siebzehnjährigen Nietzsche so tief fasziniert hat, der den Hyperion „in der wohltuenden Bewegung seiner Prosa" empfand wie den „Wellenklang des erregten Meeres". So hat schon der junge Nietzsche intuitiv erkannt, daß Hölderlins Dichtung Gesang der Natur im tönenden Element der menschlichen Sprache ist. Inwieweit die „Bewegung" dieser Prosa auf die Prosa des Zarathustra eingewirkt hat, dies müßte eine

vergleichende Stiluntersuchung ergeben.

Aus dem Zeitabstand betrachtet, rücken Hölderlin und Nietzsche für uns zusammen. Wenn auch sein mag, daß es Nietzsches Metaphysik an der Raumtiefe der Vergangenheit fehlt, da sie dem Gedanken der chtonischen Religion weniger verpflichtet zu sein scheint als die große Romantik, so ist doch seine Weltphilosophie im Zeichen des Dionysos ähnlich wie die Dichtung Hölderlins auf „dunklem Grund" gezeichnet. es

Kindheitsgeschichte Franz Kafkas scheint nur sehr Weniges mit derjenigen Hölderlins und Nietzsches zu verbinden. Zu groß sind die Unterschiede zu der Lebenssphäre, in welcher Hölderlin und Nietzsche aufgewachsen sind. In keiner dörflichen Umgebung ist Kafka groß geworden, sondern in Prag. Auch ist er nicht, wie Hölderlin und Nietzsche, „von der schwer sinkenden Hand des Christentums" ins Leben geführt worden. Kein Elternteil hat er früh verloren, vielmehr haben ihn die Eltern um viele Jahre überlebt. Die bereits die früheste Jugend Hölderlins und Nietzsches entscheidend prägende Begegnung mit der geistigen Welt der Antike, den „Göttern Griechenlands", fehlt bei ihm ebenso wie jenes die Kindheit Hölderlins und Nietzsches beseeligende „magische Einssein" mit der Natur. Was er jedoch mit Hölderlins und Nietzsches Kindheit und Jugend teilt, das ist die „äußerste Einsamkeit inmitten der Menschen", eine eigentümliche innere „Kälte" und eine abgrundtiefe Traurigkeit. Unter den aus Kafkas Vorschulzeit erhaltenen Photos zeigt das Bekannteste den Fünfjährigen Die

14 Ebd., 585. 15 Ebd., Bd. 1,749 f.

Das

Bewußtsein des Unglücks

453

mit großen, ängstlich auf ein außerhalb des Bildes befindliches Objekt gerichteten Augen und einem ein wenig weinerlichen Mund. Walter Benjamin hat über dieses Photo Folgendes

geschrieben:

„Es gibt ein Kinderbild von Kafka, selten ist die ,arme kurze Kindheit' ergreifender Bild

Da stellt sich in einem engen [...] Kinderanzug der ungefähr sechsjährige Knabe in einer Art von Winterlandschaft dar [...] Unermeßlich traurige Augen beherrschen die ihnen vorbestimmte Landschaft, in die die Muschel eines großen Ohres hineinhorcht."16

geworden. [...]

Bevor ich auf die von der Kafka-Forschung erschlossenen biographischen Elemente zu sprechen komme, möchte ich auf eine späte Tagebuchaufzeichnung Kafkas aus dem Jahr 1922 zurückgreifen, in welcher es heißt, daß dem „vor lauter Ängstlichkeit überscharf beobachtenden Kind" das „Bewußtsein des Unglücks" erst allmählich aufdämmerte:

„Das Unglück selbst war fertig, es bedurfte phetischen Blicks, um es zu sehen."17

nur

eines

durchdringenden,

keines pro-

Wie ist dieses „Das Unglück selbst war fertig" zu verstehen? Auf diese Frage bieten sich zwei mögliche Antworten an. Die eine wäre diejenige aus dem pessimistischen Geist der Schopenhauerschen Metaphysik, insofern für diese die „Schuld" des Geborenseins das „Unglück" des Lebens bedingt. Bekanntlich ist diese Überzeugung für die Selbstauslegung der Existenz in der Dichtung Kafkas wesentlich. Die andere Antwort, die für unser Thema wohl maßgebliche, ist, das „Unglück" in der „Mitgift" der Mutter sowie im Grundmuster der frühen Mutter-KindBeziehung zu sehen, zumal die traurige Kindheit Kafkas nicht (wie zumeist) einseitig auf das „Vater-Problem" zurückzuführen ist. Auch für Kafka gilt, was ich im Blick auf Hölderlin gesagt habe, daß die Beziehung des Kindes zur Mutter, dem Kreis der Ahnen, dem sie entstammt, schicksalsbildend ist. Bezüglich der Eltern Kafkas erlaube ich mir, das für unser Thema Relevante in Erinnerung zu rufen. Der Vater von Franz Kafka, Hermann Kafka, war der Sohn des jüdischen Fleischhauers Jakob Kafka aus dem tschechischen Dorf Wossek. Er wuchs in bedrückender Armut auf und hatte eine sehr harte Jugend. Die Mutter Kafkas, Julie, geborene Löwy, Tochter eines wohlhabenden Brauereibesitzers, gehörte zum vermögenden deutsch-jüdischen Bürgertum. In ihrer Ahnenreihe findet sich eine ungewöhnliche Ansammlung von Sonderlingen: Talmudisten, Wunderrabbis, Exzentriker. Kafka selbst hat nie daran gezweifelt, daß die mütterliche Linie in seiner Veranlagung dominierte. Seine Mutter Julie hatte eine schwierige und unglückliche Kindheit. Im Alter von drei Jahren verlor sie ihre Mutter, ein Jahr später die Großmutter, die Selbstmord beging. Das schwere Schicksal ihrer Kindheit führte bei ihr zu einer lebenslänglich depressiven Grundstimmung, die sie auf ihren Erstgeborenen übertrug. Im übrigen diente sie ihrem Mann in seinem Textilwarengeschäft bei seiner Arbeit mit der gleichen Hingabe, mit der sie einst ihrer Stiefmutter im Haushalt geholfen hatte. Im Abstand von zwei Jahren kamen die beiden Brüder von Franz auf die Welt. Georg wurde im September 1885 geboren, er starb im Frühjahr 1887 an Masern. Im September des gleichen Jahres gebar Julie ihren Sohn Heinrich, der im April 1888 an Mittelohrentzündung starb. Kafka war vier in dem Jahr, als

16 Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen, Frankfurt a.M. 1981, 16. 17 Franz Kafka, Tagebücher in der Fassung der Handschrift, Frankfurt a.M. 1990, 891.

Wiebrecht Ries

454

Georg starb und Heinrich geboren wurde, fast fünf Jahre alt, als Heinrich starb. Schwer vorstellbar, daß diese Familientragödie dem Fünfjährigen entgangen ist. Mit einer ungewöhnlichen Gefühlsintensität begabt, ist nicht auszuschließen, daß er seinen Geschwistern als Rivalen um die Aufmerksamkeit der Mutter insgeheim „den Tod" gewünscht hat. Als seine geheimsten Wunschphantasien wahr geworden waren, ließ ihn der Tod seiner beiden kleinen Brüder mit einem Schuldgefühl allein, das im Verbund mit der Trauer als der Grundstimmung seines Lebens bleibend war und das sein dichterisches Werk vollständig dominiert. Die Mutter, schwer depressiv, den Verlust zweier Kinder beklagend, vom Geschäft ihres Mannes aufgezehrt, vermochte ihrem sensiblen Sohn nicht zu helfen. Der junge Kafka blieb allein mit seiner Schuldangst und seiner Traurigkeit. „So habe ich sehr lange allein gelebt und mich mit Ammen, alten Kindermädchen, bissigen Köchinnen, traurigen Gouvernanten herumgeschlagen, denn meine Eltern waren doch immerfort im Geschäft", schreibt der Neunundzwanzigjährige im Dezember 1912 an seine spätere Verlobte Feiice Bauer. Am 16. September 1889 wurde Kafka in der „Deutschen Knabenschule am Fleischmarkt" eingeschult. Es oblag der Köchin der Familie, ihn am Morgen der Einschulung zu begleiten. Über diese Köchin, deren Schatten sich tief in die Dichtung Kafkas eingesenkt hat, berichtet er dreißig Jahre später, am 21. Juni 1920, an seine Geliebte Milena in der für sein Schreiben so

charakteristischen Weise:

„Unsere Köchin, eine kleine trockene magere spitznasige, wangenhohl, gelblich, aber fest,

energisch und überlegen, führte mich jeden Morgen in die Schule [...] Und nun wiederholte sich jeden Morgen das Gleiche wohl ein Jahr lang. Bei Aus-dem-Haus-Treten sagte die Köchin, sie werde dem Lehrer erzählen, wie unartig ich zuhause gewesen bin. Nun war ich ja wahrscheinlich nicht sehr unartig, aber doch trotzig, nichtsnutzig, traurig, böse [...] Ich fieng zu bitten an, sie schüttelte den Kopf [...] ich blieb stehen und bat um Verzeihung, sie zog mich fort, ich drohte mit der Vergeltung durch die Eltern, sie lachte, hier war sie allmächtig [...] ich wollte nicht weiter [...] aber sie schleppte mich weiter unter der Versicherung, auch dieses noch dem Lehrer zu erzählen [...] nun: sie sagte es nicht, niemals, aber immer hatte sie die Möglichkeit [...] und die ließ sie niemals los."18 Die drohende Macht des Schicksals in der permanenten Möglichkeit der Existenzvernichtung, sie ist bei Kafka im Unterschied zu Hölderlin und Nietzsche, die beide vom Modell der griechischen Tragödie ausgehen, den inferioren Gestaltgebungen des Lebens überantwortet. Die „Schuld" wird nicht tragisch gedacht, sondern wurzelt in einem tiefen Schuldgefühl. Kafka blieb, was er immer war, ein „kalt phantastisches" Kind. Sein widerspenstiges Schweigen und seine „hilflose Gleichgültigkeit", in welche er sich schon als Vorschüler zurückgezogen hatte, schuf eine unüberbrückbare Distanz zwischen ihm und der Erwachsenenwelt. Diese Distanz trägt fast autistische Züge, ist aber auch eine Reaktionsbildung der Angst vor

Verletzungen. Der junge Kafka, der Kleist liebte, wurde durch die Lektüre der von Ferdinand Avenarius herausgegebenen Zeitschrift Der Kunstwart auf das Werk Nietzsches hingewiesen. In der heranwachsenden Generation Kafkas war Nietzsche bereits ein viel gelesener und diskutierter Autor. Der siebzehnjährige Kafka besaß Also sprach Zarathustra, aus welchem er im Sommer 1900 der jungen Seima Kohn aus Roztok bei Prag vorlas. Der weitgehende Einfluß Nietzsches 18 Franz Kafka,

Briefe an Milena, hg. v. Jürgen Born und Michael Müller,

Frankfurt a.M.

1983, 65 f.

Das

Bewußtsein des Unglücks

455

auf das literarische Werk Kafkas ist von der Forschung herausgearbeitet worden.19 Hölderlin hingegen bleibt ihm fremd, der geheime Erfahrungsbereich des Hyperion verschlossen. In seiner Handbibliothek stand kein Werk dieses großen Dichters. Was aus dem Zeitabstand sichtbar wird, das ist, wie ich meine, die Beobachtung, daß in der Gruppe ,Hölderlin, Nietzsche, Kafka' Hölderlin und Nietzsche näher aneinandergerückt erscheinen als üblicherweise angenommen, Kafka jedoch von beiden eigentümlich getrennt ist. Dieser Eindruck wird durch die vergleichende Lektüre ihrer jeweilig erhaltenen Briefe und ersten dichterischen Zeugnisse noch bestärkt. Die Gründe für eine solche Konstellation dürften auch in den jeweiligen Kindheits- und Jugendgeschichten zu suchen sein. Hölderlins Jugend steht im Licht der Goethezeit, der junge Nietzsche empfangt die letzten Strahlen ihrer untergegangenen Sonne „Goethe", Kafkas Jugend steht ihr ganz fern. Durch ihre Schulzeit haben Hölderlin und Nietzsche entscheidende Prägungen durch antike Literatur und Mythologie erfahren. Aber schon von ihrer geistig-seelischen Anlage her waren Hölderlin und Nietzsche in einer fast ist man versucht, zu sagen rätselhaft zu nennenden Weise auf das griechische Weltdenken hin orientiert. Beide stehen noch im Horizont der Romantik im Hinblick auf ein mythisches Ahnungswissen. Christliche Erziehung hingegen hat, ungeachtet ihres bestimmenden Einflusses, bei beiden nie bis in die Tiefe des Seelischen gewirkt. Kafka jedoch war nichts als „der enterbte Sohn" seiner Zeit. Die Seligkeit der Knabenzeit Hölderlins und Nietzsches scheint wie umsponnen vom Glanz eines Naturerlebens, das für beide zur Stätte geheimster „Offenbarungen" wird. Die geistige Nähe zum antiken Mythos und eine noch ganz antikisch anmutende Naturimagination bilden den Boden, aus dem Hölderlin und Nietzsche, wohl letztmalig, hohe symbolische Bilder der Welt und des Schicksals empfingen. Ganz anders verhält es sich bei Kafka. Bei ihm schweigen die Sirenen. Der „Gesang der Welt" bricht ab. Nurmehr auf sich gestellt, verlieh er in Visionen von allerdings blendender Schönheit, die er aus seinem innersten Selbst schöpfte und in eine Sprache von makelloser Reinheit faßte, der Angst Ausdruck, in einer unheimlich gewordenen Welt verloren zu sein. Allen dreien Hölderlin, Nietzsche, Kafka ist aber gemeinsam, dem Leiden und der Einsamkeit ihrer Kindheit in der Sprache ihrer Werke ein unvergeßliches Denkmal zu setzen. -

-

19 Siehe Wiebrecht Ries,

-

-

Kafka zur Einführung, Hamburg 1993,

160 ff.

IV. Aufsätze

Wilhelm Schmid

nicht das Pferd geküßt? Nietzsche als ökologischer Philosoph Hat

er

Für vielerlei mußte Nietzsche schon herhalten, warum nicht auch für die Ökologie? Ein großes Denken zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, daß es über eine längere Zeitspanne hinweg zu immer neuen Fragen auch Antworten zu geben vermag. Sollte Nietzsche wirklich ein großer Denker gewesen sein, dann muß er auch zur Ökologie noch etwas zu sagen haben. Freilich, als Begriff war die „Oecologie", wiewohl just zu dieser Zeit, 1866, von dem Zoologen Ernst Haeckel geschaffen, kein Thema für ihn. Den Haeckel kannte er zwar und kommentierte ihn, aber nicht sonderlich euphorisch:

„Übrigens will ich mit meiner Betrachtung bei den Menschen verbleiben und mich hüten,

den Gesetzen über die menschliche Veredlung auf Grund der schwächeren, entarteten Naturen, Schlüsse über die thierische Entwicklung zu machen. Ob es gleich noch viel mehr erlaubt wäre, dies zu thun als aus der Bestialität und ihren Gesetzen nun auch den Menschen bestialisch zu systematisiren: wie dies Herr Häckel in Jena thut" (NF von 1875, KSA 8, 259; vgl. KSA 9, 556). aus

Aus der Ökologie als Begriff ist nun allerdings im Laufe des 20. Jahrhunderts durchaus mehr und anderes geworden als das, was Haeckel damit bezeichnet wissen wollte; sie ist nicht mehr nur die Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Außenwelt, als die Haeckel sie in seinem Buch über die Allgemeine Entwickelungsgeschichte der Organismen vorstellte. Sie ist die Lehre vom „Haus", unter dem sowohl das einzelne Biotop als auch der Planet als Ganzes verstanden werden kann. Sie meint vom Begriff her eine Kultur des Wohnens und ein Verstehen der Zusammenhänge dieses Wohnens. Als Wissenschaft handelt sie von den außerordentlich komplexen Wechselwirkungen der Biosphäre, Atmosphäre, Hydrosphäre, Lithosphäre, Heliosphäre sowohl in der Mikro- als auch Makroperspektive; als Ethik verstanden, lassen sich unter „Ökologie" die verschiedensten Ansätze zur Bewahrung dieser vitalen Zusammenhänge subsumieren, und die entsprechenden Überlegungen und Bewegungen hierzu wurden überhaupt erst in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entwickelt. Als deren Bestandteil will sich auch der Entwurf zu einer ökologischen Lebenskunst verstanden wissen, wie er im Rahmen des Projekts einer erneuerten Philosophie der Lebenskunst unternommen wird, dem meine Arbeit gewidmet ist.' Kann man in Nietzsche einen Verbündeten hierfür finden? Oder ist die Ökologie eine Angelegenheit, bei der wir definitiv Abschied von Nietzsche nehmen müssen? Vielleicht sollte man zunächst legitimieren, inwiefern, wenn schon nicht von der Ökologie als Begriff, vom Begriff der Lebenskunst bei Nietzsche die Rede sein kann. Daß sie sich der Sache nach bei ihm findet, dürfte kaum in Frage stehen, aber er spricht auch explizit von ihr:

1

Wilhelm

Schmid, Philosophie der Lebenskunst Eine Grundlegung, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 1999. -

Wilhelm Schmid

460

Jeder Mensch, erfahren wir von ihm, „hat seine Recepte, um das Leben zu ertragen (theils es leicht zu erhalten, theils es leicht zu machen, wenn es einmal sich schwer gezeigt hat)", und diese „überall angewandte Lebenskunst" gelte es zusammenzustellen (NF von 1876, KSA 8, 288). In Menschliches, Allzumenschliches, zweiter Band, „Vermischte Meinungen und Sprüche", Aphorismus 365, findet sich als „einer der feineren Griffe in der Lebenskunst" der Kunstgriff, das Übermaß als „Heilmittel" zu gebrauchen. Und ebendort, „Der Wanderer und sein Schatten", Aphorismus 266, ist von der geduldigen, nachhaltigen Arbeit an dem Kunstwerk die Rede, zu dem das Selbst selbst werden kann: „Ach, es ist viel Langeweile zu überwinden, viel Schweiß nöthig, bis man seine Farben, seinen Pinsel, seine Leinwand gefunden hat! Und dann ist man noch lange nicht Meister seiner Lebenskunst, aber wenigstens Herr in der eigenen Werkstatt." Zuletzt denkt Nietzsche daran, auch das Phänomen des Christentums noch unter dem Aspekt der „Lebenskunst" zu betrachten (NF von 1887, KSA 12, 508). Lebenskunst ist ihm also weder vom Begriff noch von der Sache her wesensfremd, und inwiefern sich ihm auch die Sache einer ökologischen Lebenskunst retrospektiv zuschreiben läßt, ist am besten zu erkunden, wenn deren Grundbegriffe und wichtigsten Bestandteile durchdekliniert werden, um zu sehen, ob dergleichen bereits bei Nietzsche aufzufinden ist. Als eine wesentliche Voraussetzung für das Entstehen der modernen ökologischen Problematik darf die moderne Freiheit angesehen werden, die es mit sich gebracht hat, keinerlei Gegebenheit mehr als solche anzuerkennen und eben auch Naturzusammenhänge in großem Stil nicht mehr als gegeben hinzunehmen, sondern in beliebiger Weise für menschliche Zwecke einzusetzen. Die moderne Freiheit vom Naturzwang, die mit Hilfe von Wissenschaft und Technik verwirklicht wird, beruht auf einer Auffassung von Freiheit, die nahezu ausschließlich als Befreiung verstanden wird. Nietzsche ist ein Denker der modernen Freiheit und hat zugleich, hundert Jahre nach Kant, mit diesem das eine gemeinsam, nämlich der Durchdenker der Reichweite dieser Freiheit zu sein, um Antworten auf die destruktive Dynamik absoluter Freiheit zu finden, Antworten, die nicht in einer simplen Rückkehr zu nostalgisch verklärten, glücklichen Zeiten der Geltung autoritär verfügter Bindungen und Freiheitsbegrenzungen gesucht werden. Kants Antwort auf die Gefahr der Selbstzerstörung des Lebens war der „kategorische Imperativ", ein Moralgesetz, das das autonome Subjekt sich selbst gibt. Repräsentanten der modernen Freiheit sind bei Nietzsche die „freien Geister", die uns in Menschliches, Allzumenschliches begegnen: In Abhebung gegen den „gebundenen" Geist, der noch der Überlieferung und alten Gewohnheit verhaftet bleibt, tut sich der freie Geist als derjenige hervor, der sich in einer ,grossen Loslösung" (KSA 2, 15) von den bisherigen Bindungen frei macht, aus reiner „Neugierde nach einer unentdeckten Welt". Er bricht auf in den weiten Raum, in welchem er unruhig und ziellos umherirrt wie in einer Wüste, ein Sinnbild der Moderne, des wilden, blinden Experimentierens nach dem Verschwinden aller Fixpunkte. Dann aber, nach der „Wüste solcher Versuchs-Jahre", geht es um den Aufbruch zu jener reifen Freiheit des Geistes" (KSA 2, 17), die sich durch „Selbstbeherrschung" auszeichnet; der reife freie Geist wird zur „Selbstbestimmung, Selbst-Werthsetzung" in der Lage sein und nicht mehr nur den „Willen" dazu haben; der freie Wille wendet sich in ihm auf sich selbst und gibt sich, autonom, das Gesetz, das den Selbstruin der Freiheit zu verhindern vermag. Mit dem reifen freien Geist, darf man vermuten, wird über die Moderne hinaus eine andere Moderne möglich sein. Er widmet sich nicht mehr nur der Befreiung, sondern der Praxis der Freiheit, um der Freiheit die Formen zu geben, durch die sie zu bewahren ist. Man bedarf nicht erst der überkommenen Rede vom Übermenschen, um Nietzsches Vorstellung vom souveränen Subjekt -

-

,

zu

thematisieren.

Hat er nicht das

Pferd geküßt?

461

In der Tat ist die durch die ökologische Problematik geschaffene Situation so, daß nicht zu sehen ist, wie wir aus ihr herauskommen sollten, wenn nicht mit Hilfe einer grundsätzlich zu treffenden Wahl, zu treffen im Grunde von reifen freien Geistern, autonomen Individuen, die das Nachdenken über diese Zusammenhänge, die Sorge darum und die Verantwortung dafür als eine Frage ihrer persönlichen Ethik und ökologischen Lebenskunst verstehen. Die Notwendigkeit allgemeiner Regelungen wird dadurch nicht ausgehebelt, aber auch allgemeine Regelungen fallen nicht vom Himmel, sondern sind nur von verantwortlichen Subjekten anzustoßen und ins Werk zu setzen, und selbstverantwortliche Subjekte sind es auch, die letzten Endes eine allgemeine Regelung akzeptieren und umsetzen oder eben nicht. Im Zentrum der Lebenskunst steht daher die Frage der Wahl. Die Wahl kann auf der Basis von Klugheit zustande kommen, um die der reife freie Geist sich bemüht; Klugheit verstanden als aufgeklärtes, das heißt erweitertes Eigeninteresse, das sich um ein umsichtiges, vorsichtiges und vorausschauendes Verhalten bemüht. Das Fehlen von Klugheit in der modernen Welt hat zum Zustandekommen der ökologischen Problematik beigetragen, und der Verzicht auf Klugheit bei modernen Ethikbegründungen hat sich, wie man rückblickend sagen kann, nicht bewährt. Klugheit bietet den Vorteil, nicht abstrakt anzusetzen und nicht gut gemeinte, aber wirkungslose Sollenssätze zu formulieren, sondern auf das Eigeninteresse zu bauen, das bei jedem Einzelnen zu finden ist und das ihn vor dem unbewußten Hineindriften in unkalkulierbare Gefahren bewahrt. Das ist die „Lösung der Frage, wie man ein leidliches Dasein, ohne jede Liebeskraft, rein aus der Klugheit der betheiligten Egoismen erziele" (NF von 1873, KSA 7, 441; vgl. 7,451). In der Diskussion über ökologische Ethik, so wie sie heute stattfindet, werden verschiedene Grundansätze debattiert.2 Wenig umstritten scheint dabei zu sein, daß eine neue ökologische Ethik nicht „anthropozentrisch" aufgebaut sein sollte, also nicht noch einmal den Menschen und seine eigenen Interessen in den Mittelpunkt stellen darf, denn nach herrschender Auffassung resultieren gerade aus dem Anthropozentrismus alle Übel der Welt. Zweifellos ist jedoch der auf Nietzsche zurückbezogene Ansatz, dem Eigeninteresse des Individuums, seiner Wahl und seiner Klugheit zentrale Bedeutung auch bei der Beantwortung ökologischer Fragen zuzumessen, als anthropozentrisch zu bezeichnen. Zwar kann der anthropozentrischen Orientierung vorgeworfen werden, zu sehr der Tradition abendländischer Kultur verhaftet zu bleiben, aber nicht anderen Kulturen ist die Suche nach Antworten zuzumuten, sondern der Verursacherkultur selbst. Und nur beim Menschen, wo sonst, ist der Ansatzpunkt der Sorge auch für anderes Leben und für die ökologischen Zusammenhänge, in denen er selbst lebt, zu suchen. Zweifellos handelt es sich um eine aufgeklärt anthropozentrische Haltung, die nicht mehr darin besteht, dem menschlichen Subjekt allein eigenständigen Wert zuzusprechen, wohingegen alles sonst, was kreucht und fleucht, nur abgeleiteten Wert hätte. Die Begründung hierfür liegt jedoch, dem aufgeklärten Eigeninteresse entsprechend, in dem klugen Kalkül, daß die Mißachtung und Verletzung ökologischer Zusammenhänge, unabhängig davon, ob man sie für moralisch verwerflich hält oder nicht, auf den Menschen selbst zurückschlagen könnte. Was in der Diskussion über die Begründung einer neuen ökologischen Ethik meist favorisiert wird, sind andere Ansätze als der anthropozentrische: Etwa die „pathozentrische" Sicht-

weise. Das mögliche oder tatsächliche Leid anderer Menschen und anderer Lebewesen wird dabei in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt, um unter dieser Perspektive zu einem

2

Den besten Überblick hierüber bietet: Angelika Krebs (Hg), Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion, Frankfurt a.M. 1997.

462

Wilhelm Schmid

ökologischen Verhalten zu kommen. Freilich wird zur Verwirklichung eines solchen Anspruchs erneut auf Klugheit nicht verzichtet werden können, denn bei aller Einfühlung in das Leid anderer, wie dies beispielsweise schon bei Arthur Schopenhauer zu finden ist, hängt offenkundig viel davon ab, nicht zu idealistisch von der Möglichkeit einer idealen, leidfreien Welt zu träumen. Nietzsches theoretische Reserviertheit gegenüber dem Mitleiden kommt dabei zum Tragen; seine eigene Lebenspraxis war allerdings von einem Pathozentrismus von geradezu hypochondrischer Sensibilität geprägt, wie dies in der Szene zum Vorschein kommt, die Nietzsches Ende markiert: Hat er nicht das Pferd geküßt? Auch die viel diskutierte „biozentrische" Sichtweise kann ohne Klugheit kaum sinnvoll realisiert werden. Sie läßt es sich angelegen sein, der Bedeutung des gesamten organischen Lebens Rechnung zu tragen und die Aufmerksamkeit für alles Leben, wie sie auch in Nietzsches Formel vom „Willen zur Macht", die ja die Gesamtheit des Lebens und nicht nur

menschliches Leben beschreiben will, zum Vorschein kommt. Dies erweitert den Horizont des verantwortlichen Handelns auf sämtliche Erscheinungsformen des Lebens, denen menschliches Leben sich letztlich verdankt und deren Zerstörung die Lebensgrundlagen des Menschen selbst in Frage stellt. Aufgeklärter Anthropozentrismus: Ein Wille zur Macht des Menschen, der inmitten anderer Lebewesen lebt, auf die er klugerweise Rücksicht nimmt, denn sie bilden seine Lebensgrundlage. In dichterischer Form findet dies Ausprägung in der Gestalt des Zarathustra, der in der Mitte allen Lebens lebt, und dies nicht nur aus Klugheit, denn er geht „den Weg des Liebenden". Die biozentrische Haltung ist freilich abhängig davon, daß ein kluges Maß für sie gefunden wird, denn wenn sie konsequent verfolgt würde, wäre sie mit menschlichem Leben kaum vereinbar. Ähnlich verhält es sich, wenn schließlich die sehr weit reichende „holistische" Perspektive noch mit berücksichtigt wird, die „das Ganze" (griechisch to hólorí) im Blick hat, also nicht etwa nur die belebte Natur, sondern die anorganischen Elemente in ihrer Wechselwirkung mit der organischen Welt, wie dies in der Ökologie-Diskussion insbesondere James Lovelock am Herzen liegt, dem Begründer der „Gaia"-Theorie, die den gesamten Planeten als ein Lebewesen betrachtet. Die erweiterte, holistische Sichtweise kann auch Nietzsche zugeschrieben werden, nicht jedoch, sich unter dem „Ganzen", wie dies bei Holisten häufig geschieht, eine abgeschlossene, harmonische Ganzheitlichkeit vorzustellen, von welcher Menschen als lebende „Störung" am besten gänzlich fernzuhalten wären. Das kluge Maß für die holistische Haltung wiederum ist am ehesten von einem aufgeklärten Eigeninteresse zu gewährleisten. Wesentliche Inhalte der ökologischen Ethik-Diskussion sind Nietzsche also jedenfalls nicht wesensfremd, sofern sie unter dem Aspekt der Klugheit gesehen werden. Was die Einzelaspekte der ökologischen Lebenskunst angeht, bleibt dies jedoch noch genauer zu prüfen. Zehn Aspekte, „Recepte", erscheinen für eine solche Lebenskunst als charakteristisch: 1. Grundlegend dafür ist das erweiterte Selbstverständnis des klugen Subjekts, das aus der Einsicht, daß es ein und derselbe Planet ist, der von verschiedenen Formen des Leben bewohnt wird, entscheidende Impulse bezieht. Geleitet von diesem Selbstverständnis, übt das ökologische Selbst sich darin, über die unmittelbare Umgebung seiner „Umwelt" weit hinauszublicken und die eigene Existenz in übergreifenden Zusammenhängen wahrzunehmen: Zeitlich-räumliche Erweiterung des Denkens, die sich in Nietzsches planetarischem Bewußtsein präfiguriert findet. Das Selbst rettet sich vor dem Einschluß in seine innere Welt und nimmt seine eigene Rolle mit neuen Augen wahr. Die Möglichkeit, zwischen persönlicher und globaler Perspektive hin- und herzugehen, befördert die Reflexion, begründet einen überpersönlichen Standpunkt und schlägt die Brücke auch zu räumlich weit entfernten Individuen, Lebewesen und ökologischen Strukturen sowie zu den Individuen künftiger Generationen,

Hat er nicht das

Pferd geküßt?

463

Möglichkeiten in der Gegenwart eröffnet oder verschlossen werden. Hierzu etwa der Aphorismus 337 der Fröhlichen Wissenschaft über die zukünftige „Menschlichkeit", in dem Nietzsche sich vorstellt, „mit den Augen eines fernen Zeitalters" auf das gegenwärtige zu sehen, und umgekehrt in der Gegenwart ein neues Gefühl zu gründen und „die Kette eines zukünftigen sehr mächtigen Gefühls zu bilden", des Gefühls nämlich, die gesamte Geschichte der Menschen „als eigene Geschichte zu fühlen", mit dessen Hilfe „unsere alte Erde angederen

nehmer zu bewohnen wäre, als bisher". Dieses Gefühl, als „der Mensch eines Horizontes von Jahrtausenden vor sich und hinter sich" zu leben, hieße dann „Menschlichkeit". 2. Ökologisch zu leben heißt, vor dem auf diese Weise erweiterten Horizont ein besonnenes Leben zu führen und dasjenige Maß im Umgang mit Ressourcen und Techniken ausfindig zu machen, das ökologisch verträglich ist, sowie Eingriffe in vorgefundene Zusammenhänge nur in dem Maße vorzunehmen, wie sie von diesen auch bewältigt werden können, jede irreversible Schädigung aber zu vermeiden. Die Art des Gebrauchs von Technik scheint Nietzsche freilich noch nicht fragwürdig erschienen zu sein; die aller modernen Technik zugrunde liegende Nutzung der Ressourcen fossiler Energien wird zwar schon 1885 von Rudolf Clausius, der 1865 den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik (Entropiesatz) formulierte, bei einem Festvortrag in Bonn problematisiert: Er sagt voraus, daß „die Menschen, wenn der Vorrath an Kohlen verbraucht sein wird, darauf angewiesen sein (werden), sich mit der Energie zu behelfen, welche die Sonne ihnen im Verlaufe der ferneren Zeit noch fortwährend durch ihre Strahlen liefert";3 aber Nietzsche nimmt davon nichts zur Kenntnis. Operieren läßt sich hier nur mit dem Rückgriff auf das selbstverantwortliche Subjekt, das sich um ein besonnenes Leben bemüht, den reifen freien Geist; denn in zahllosen Situationen des Umgangs mit Ressourcen und Techniken liegt die Verantwortung dafür allein beim Individuum, bei der Wahl der Art seiner Lebensführung, sowie bei seiner Beteiligung an der allgemeinen Meinungsbildung über die Bestimmung des Maßes im Rahmen der gesamten Gesellschaft. 3. Die Arbeit des Einzelnen an der Gestaltung seiner selbst ist ein Thema Nietzsches, das mit Bezug auf die ökologische Fragestellung wieder aufgegriffen werden kann, denn diese Arbeit der Selbstgestaltung ist die Grundlage dafür, Selbstmächtigkeit zu erlangen und eine eigene Macht im Umgang mit Techniken ins Spiel zu bringen, um wenigstens „Herr in der eigenen Werkstatt" zu sein. Vielleicht sollte hier verwiesen werden auf die „Moral des reifen Individuums" (Aphorismus 95 in Menschliches, Allzumenschliches I), die dazu rät, man solle aus sich „eine ganze Person machen und in Allem, was man thut, deren höchstes Wohl in's Auge fassen", denn in der möglichst persönlichen Rücksicht ist auch „der Nutzen für das Allgemeine am größten". Die Selbstmächtigkeit kann, bezogen auf die ökologische Fragestellung, auch zur Macht über jene Macht verhelfen, die zur „Herrschaft über die Natur" erstarrt ist und in unkalkulierten technischen Eingriffen in ökologische Zusammenhänge ihren Ausdruck gefunden hat; sie vermittelt Macht über die Macht der Technik, der das Subjekt ansonsten ohnmächtig unterworfen bliebe. Das ökologische Selbst ist nicht unbedingt geleitet von der Maxime, sich des Gebrauchs von Techniken gänzlich zu enthalten; mit seiner Selbstmächtigkeit behauptet es vielmehr einen eigensinnigen, reflektierten, zurückhaltenden und kalkulierten Umgang mit Technik, auch den bevorzugten Einsatz alternativer Techniken, die an der Schwelle zum 21. Jahrhundert in vielen Lebensbereichen schon zur Verfügung stehen. 4. Als sehr nützlich bei der Verwirklichung eines ökologischen Lebensstils erweist sich die Reflexion der eigenen Gewohnheiten, denn die gedankenlose Wahl und der gewohnheitsmäßi3

Zit. nach: Carl-Jochen

Winter, Die Energie der Zukunft heißt Sonnenenergie, München 1995, 262.

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ge Gebrauch und Verbrauch von Stoffen und Dingen ist in vielen Fällen ökologisch relevant. „Unendliche Wichtigkeif mißt Nietzsche „unsren Gewohnheiten, Lebensweisen für alles Kommende" zu (NF von 1881, KSA 9,494). „Kurze Gewohnheiten" empfiehlt er (Fröhliche Wissenschaft, Aphorismus 295), um die Macht der Gewohnheit zeitlich begrenzt und damit erneuerbar zu halten. Mehr noch als irgendwelche anonymen Mächte stehen in der Tat überkommene individuelle und gesellschaftliche Gewohnheiten einem ökologischen Lebensstil entgegen. Jede noch so unscheinbare Alltagshandlung gilt es daher auf ihre ökologischen Konsequenzen hin zu überdenken man rührt dabei an die Banalitäten des Lebens, die zu Unrecht als trivial abgetan werden. Da das bloße Wissen um die Notwendigkeit von Veränderungen zur Heranbildung eines ökologischen Lebensstils nicht genügt, bedarf es der regelmäßigen, nachhaltigen Einübung veränderter Gewohnheiten und Verhaltensweisen, die zur „zweiten Natur" des Selbst werden. 5. Das lebenskluge Subjekt, der reife freie Geist, der ökologische Veränderungen initiiert, ist nicht mehr nur ein ökonomisch berechnendes Subjekt, sondern ein ökologisch kalkulierendes Selbst, das den Übergang vom bloßen Konsumverhalten, von der verschwenderischen Haltung des bloß freien Geistes, für den das Übermaß noch „Heilmittel" zur Mäßigung werden muß, zum bewußt gewählten Lebensstil, vom Verbrauch zum Gebrauch vollzieht. Der Glaube, dies sei beim dionysischen Nietzsche nicht zu finden, entpuppt sich als Trugschluß; Nietzsche privilegiert „die Fähigkeit der feinsten Wahl und einen starken Hang zum Maasshalten" (Menschliches, Allzumenschliches II, 2, Aphorismus 41). Das ökologische Selbst des 21. Jahrhunderts kehrt sich von der vielsagenden Definition des modernen Subjekts als „Verbraucher" ab, um stattdessen zum „Gebraucher" von Ressourcen und Produkten, Dingen und Techniken zu werden. Der sorgsame Gebrauch ist die vorsichtige und pflegliche Art, mit Dingen und Stoffen umzugehen, während beim Verbrauch deren Verschleiß um einer momentanen Bedürfnisbefriedigung willen in Kauf genommen wird. Daß die moderne Ökonomie marktwirtschaftlich verfaßt ist, hindert niemanden an einem ökologischen Lebensstil des Gebrauchs; eine funktionierende Marktwirtschaft wird sich vielmehr darauf einzustellen wissen, daß sie mit bewußten Gebrauchern zu rechnen hat. 6. Wenn nicht der Verbrauch, sondern der Gebrauch den individuellen und gesellschaftlichen Lebensstil prägt, rücken von selbst die Zyklen wieder ins Bewußtsein, die vom konsumtiven Denken und Handeln achtlos übergangen worden sind. In verschiedener Hinsicht ist der ökologische Lebensstil durch eine Rezyklierung charakterisiert, die bei weitem nicht nur das „Recycling", die Rückführung von Dingen und Stoffen in Kreisläufe meint, um sie von neuem zu gebrauchen, sondern auch eine neue Aufmerksamkeit auf die verschiedensten Lebenszyklen umfaßt. Das Wissen von der Zyklizität der Stoffe und Elemente, das Bewußtsein, daß deren Kreisläufe mitten durch das Selbst hindurchgehen, beläßt das moderne Subjekt nicht als dasselbe, sondern macht es selbst zu einem Moment in der Kreisbewegung. Durch das erneuerte zyklische Verständnis von Zeit wird die moderne Auffassung von einer ausschließlich vergehenden Zeit modifiziert. Rezyklierung im weitesten Sinne ist jedoch der Gedanke der Ewigen Wiederkehr; geradezu wissenschaftlich wollte Nietzsche die éternelle Zyklizität der kosmischen Zusammenhänge nachweisen; interessant aber ist vor allem der ethische Aspekt des Gedankens: die mögliche oder unmögliche Bejahung des gelebten Lebens unter dem Aspekt seiner gedachten Wiederkehr; „auch der Gedanke einer Möglichkeit kann uns erschüttern und umgestalten" (NF von 1881, KSA 9, 523). Der Gedanke allein vermag Denken und Existenz bereits zu verändern und produziert eine andere Form des Subjekts. 7. Die Rezyklierung ist ein wesentlicher Beitrag zum Lebensstil der Nachhaltigkeit und Dauerhaftigkeit, die im englischen Sprachgebrauch sustainability heißt und von der in der -

Hat er nicht das

Pferd geküßt?

465

Ökologie-Diskussion so nachhaltig die Rede ist, die jedoch auch Nietzsche interessiert, der „auf Dauerhaftigkeit aller Zustände sinnt" (Menschliches, Allzumenschliches II, 2, Aphorismus 286). Dauerhafter Lebensstil meint, das individuelle Tun und Lassen in einem umfassenderen zeitlichen Horizont zu sehen und unter diesem Aspekt die Frage zu stellen, ob das Leben bejaht werden kann. Dies wirkt der Einschmelzung des Zeithorizontes auf den Punkt der Gegenwart entgegen, an den die Individuen durch das Versprechen der modernen Ökonomie gewöhnt worden sind, sämtliche Bedürfhisse schon im Augenblick ihres Auftretens zu befriedigen, so daß es sinnlos erscheint, noch einen Horizont des Künftigen aufrecht zu erhalten. Sich von diesem Vergessen des Künftigen wieder zu lösen, ist das Anliegen der Suche nach einem Lebensstil, der selbst bei kleinen und kleinsten Dingen, die gewöhnlich als vernachlässigenswert erscheinen, die dauerhafte Bewahrung ökologischer Zusammenhänge und somit der Lebensgrundlagen im Blick hat. 8. Ein aufmerksamer und pfleglicher Umgang gilt auch dem eigenen Körper und macht die Ökologie des Körpers zum Bestandteil des ökologischen Lebensstils. Der Körper, der gesamte Leib, ist selbst ein Ökosystem; das läßt sich schon von der Leibphilosophie Nietzsches lernen.

gesamten

Die Ökologie der Biosphäre im Ganzen und deren Gefährdung spielen sich zugleich innerhalb des Körpers ab, denn Menschen leben nicht als separate Wesen auf dem Planeten, sondern betreiben unentwegt Stoffwechsel mit ihm, atmen ihn, trinken ihn, essen ihn und scheiden ihn aus. Nietzsche beendet mit dem leiblichen Denken und Denken des Leibes den Mythos des „reinen Denkens", diese cartesianische Abspaltung der kognitiven von der körperlichen Welt, die so tödlich für letztere, in der Folge allerdings auch für erstere war. Bei der Ökologie des Körpers geht es nicht etwa darum, einer hypochondrischen Gesundheitslehre zu frönen, sondern darauf aufmerksam zu sein, was dem Körper schadet und was ihm guttut, welche Stoffe auf welche Weise im Körper wirken und wie sie zu dosieren sind zwischen einem Zuviel, das als Gift wirken, und einem Zuwenig, das sich als lebensbedrohlicher Mangel auswirken kann. 9. Der ökologische Lebensstil zeichnet sich nicht durch eine verhärmte Haltung des Subjekts, sondern durch den Genuß des Lebens aus, dessen Voraussetzung die volle Entfaltung der Sinne ist; „ein Genuss an Vordergründen, Oberflächen, Nahem, Nächstem, an Allem, was Farbe, Haut und Scheinbarkeit hat" (Menschliches, Allzumenschliches I, Vorrede, 1): Der Prophet dieses Genusses ist Nietzsche. Der ökologische Lebensstil, der einen Begriff vom schönen und bejahenswerten Leben zu geben vermag, mutiert seinerseits zum existentiellen Argument, das mehr Überzeugungskraft für Andere in sich birgt, das Leben zu ändern und ökologisch zu gestalten, als so manches Sachargument. Ein eigener, exorbitanter Genuß resultiert im übrigen aus der Wahrnehmung und Reflexion des enormen Reichtums und der Vielfalt ökologischer Zusammenhänge sowohl in der Makro- als auch der Mikroperspektive; dies motiviert im Gegenzug wiederum die Sorge, sich die Quelle des Genusses zu erhalten. 10. Charakteristisch für den ökologischen Lebensstil ist schließlich die Gelassenheit, die, wie das Wort schon nahelegt, zugunsten eines Lassens auf das Machen und Wollen zumindest sporadisch zu verzichten bereit ist. Gelassen verhält das Subjekt sich zur äußeren Ökologie der Welt wie auch zur inneren seiner selbst, indem es den vitalen Zusammenhängen Raum und Zeit läßt, ihr Ineinanderwirken selbst zu finden, und sich selbst in sie einfügt. Mit dem erweiterten, klugen Blick vermag es den eigenen Ort in einem umfassenderen Horizont zu sehen und sich Zeit zu lassen für das, was aus der Distanz als wesentlich erscheint: Technik, die von Nietzsche übernommen werden kann („Mit einer ungeheuren und stolzen Gelassenheit leben; immer jenseits" Aphorismus 284 in Jenseits von Gut und Böse). Gelassenheit läßt sich so auch angesichts der vielen „Krisen" bewahren, die aus guten Gründen -

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-

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466

wollen, denn sie sind konstitutiv für das Leben, dessen Beständigkeit die Veränderung ist; Gelassenheit erst recht gegenüber der ökologischen Krise, denn selbst wenn die Existenz des Menschen durch sie bedroht sein sollte, spricht nichts dafür, die ökologische Umgestaltung anders zu begründen als durch die freie Wahl der Individuen, die von nichts und niemandem zu ihrem „Glück" zu zwingen sind. Das ist die ultimative Gelassenheit: Die Existenz der Menschheit ist kein absoluter Selbstzweck, der den Einsatz beliebiger Mittel nicht enden

rechtfertigen würde. Das ist die große Differenz zu allen früheren philosophischen Entwürfen von

Lebenskunst: Niemals

zuvor

sah sich das individuelle Leben einer solchen Herausfor-

derung gegenüber, bei der es um die menschliche Existenz schlechthin geht; nun aber hat jeder Einzelne seine Wahl zu treffen. Das ist die Situation, die Nietzsche vorweggedacht hat. Auch wenn er kein ökologischer Philosoph im engeren Sinne des Wortes gewesen sein mag, so wird daran deutlich: Nietzsche hat nicht nur im 20. Jahrhundert eine außerordentlich große Rolle gespielt, er wird uns auch noch im 21. Jahrhundert begleiten. Das, wenigstens das, ist doch

beruhigend.

Reinhart Maurer

Nietzsche Der Wille

ökologisch?

zur

Macht und die Liebe

zu

den Dingen

„Kraft, der ein Auge eingesetzt ist, welches ihr unzertrennlich" (Johann Gottlieb Fichte, wie Nietzsche Schüler in Schulpforta)

I. Nietzsche als Sohn seiner Zeit Auch der Philosoph ist ein Sohn seiner Zeit. Wenn er freilich ein bedeutender Philosoph ist, erfaßt er die Probleme so radikal, das heißt an die Wurzeln gehend, daß er für viele oder gar alle Zeiten bedeutsam ist. Nietzsche scheint diese Größe zu haben, zumindest ist er zur Deutung unserer Zeit ebenso erhellend wie zum Verständnis seiner Zeit, zumal diese Epochen so verschieden nicht sind hinsichtlich der hier zur Frage stehenden ökologischen Problematik, also des Problems industrieller, gesellschaftlicher Vernutzung der Natur. Beides sind Zeiten eines ungeheuren Expansionsschubs der wissenschaftlich-technisch-industriell-ökonomischen Naturbeherrschung. Seine nannte man daher im damals nachholenden Deutschland die „Gründerzeit". Die Epoche nach dem 2. Weltkrieg mit ihrem „Wirtschaftswunder" war, besonders im zerstörten Deutschland und Europa, genauer in beider Westen, eine zweite Gründerzeit. Sie reicht mit ihren Ausläufern bis heute, soll nach der „Wende" auch den Osten Europas neu gründen, was freilich auf beträchtliche und teilweise überraschende Schwierigkeiten stößt. Diese resultieren jedoch kaum aus ökologischen Skrupeln. Denn wenigstens bei den ökologischen Sünden hatte der „real existierende Sozialismus" sein Versprechen wahr gemacht und hatte den Westen in einigen Feldern überholt. Freilich wurden durch die geringere Effizienz auch einige Gebiete stärker verschont. Die Ablösung des real existierenden Sozialismus durch den noch realeren Kapitalismus/Liberalismus ist in ökologischer Hinsicht ambivalent. Die größere Effizienz bedeutet flächendeckend sowohl eine stärkere Be- und Vernutzung der Naturressourcen als auch eine stärkere Berücksichtigung ökologischer Belange. Insgesamt dürfte die Naturvernutzung durch das effizientere westliche System langsamer, aber gründlicher fortschreiten. Der Zusammenbruch wird weiter hinausgeschoben um den Preis einer steten Vermehrung des Katastrophenpotentials. Doch wie auch die Praxis unserer Gesellschaft in ökologischer Hinsicht zu bewerten sei (längerfristige Prognosen sind bekanntlich unsicher), das ökologische Bewußtsein ist heute weitläufig entwickelt. Es erzeugt ein dauerndes Rauschen im Blätter- und überhaupt Medienwald, an das man sich so gewöhnt hat, daß man es kaum noch hört. Das war in Nietzsches Zeit, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, anders. Die ökologische Problematik im heutigen Sinne, also die Aufmerksamkeit auf solche negativen Folgen des technisch-ökonomischen Fortschritts, war wenig entwickelt. Und wo sie bewußt wurde und zur öffentlichen Darstellung kam wie in Wilhelm Raabes 1884 zuerst publiziertem Roman Pfisters Mühle, wirkte sie befremdlich. Das Buch traf, wie Raabe bemerkt, beim Eintritt in die Welt auf besonders hart-

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468

nackigen Widerstand.1 Wen interessierte schon die Ruinierung einer Wassermühle und Ausflugsgaststätte durch die Abwässer einer Zuckerfabrik? Und Raabe selbst trifft den Nagel seines Zeitgeistes auf den Kopf, wenn er in dem Roman den Rechtsanwalt zu dem Müller, der einen Prozeß gegen die Zuckerfabrik anstrengt, sagen läßt:

„Ich führe und gewinne Ihnen Ihren Prozeß [...] aber nun auch im vollsten Vertrauen -jetzt sagen Sie mir mal um Gottes Willen, weshalb haben Sie eigentlich Krickerode [dort liegt die

Zuckerfabrik] nicht mitbegründet?"2

Das wäre nämlich für den Müller viel lukrativer gewesen als ein möglicher Schadensersatz für eine Mühle, die längerfristig ohnehin nicht zu retten ist. Des Müllers Nachkommen führen das Gelände der Mühle denn auch modern-gewerblicher Nutzung zu. Der Roman erzählt mit ironisch gebrochener Nostalgie von den letzten Ferien des zum Berliner gewordenen Müllersohns auf der Mühle kurz vor deren Abriß. Darum heißt sein Untertitel „Ein Sommerferienheft", und sein Motto stammt von Seneca und lautet:

„Und im Blick auf das Ganze ist doch der ein stärkerer Geist, welcher das Lachen, als der, welcher das Weinen nicht halten kann." Erst heute wissen wir es zu schätzen, daß Raabe dieses Thema aufgegriffen hat, und wissen würdigen, wie er die Probleme ironisch in der Schwebe hält. Doch das Lachen im Blick auf das Ganze bleibt uns etwas im Hals stecken, gerade wenn wir uns mit Nietzsche wenn auch nicht um den Blick auf das Ganze so doch um die umfassendere Perspektive bemühen. Denn darum geht es im folgenden und dazu kann Nietzsche in der Tat forderlich wirken, auch wenn bei ihm ein direkt ökologisches Problembewußtsein anders als bei seinem Zeitgenossen Raabe fehlt. Wie sehr es bei ihm fehlt, zeigt eine Nachlaßnotiz vom Sommer 1880, als er in seine Art Sommerferienhefte schrieb: zu

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„Die Menschheit wird sich im neuen Jahrhundert vielleicht schon viel mehr Kraft durch Beherrschung der Natur erworben haben, als sie verbrauchen kann, und dann wird etwas Luxushaftes unter die Menschen kommen [...] Statt Kunstwerke zu schaffen, wird man die Natur in großem Maße verschönern [...], um z. B. die Alpen aus ihren Ansätzen [...] der Schönheit zur Vollkommenheit zu erheben [...] Feuer und Überschuß an Kraft Folge der gesunden Art zu leben." (KSA 9, 135) „Schönheit ist heilbar", heißt es einmal bei dem Komiker Jürgen von Manger. Wie die Alpen technisch geheilt werden könnten, kann man sich im Hinblick auf jetzige Möglichkeiten durchaus vorstellen, etwa ihren radikalen Umbau zu einem Freizeitpark à la Disneyland oder die moderate Umgestaltung zu einem Fürst Pücklerschen Park, der natürlicher aussieht als die Natur, freilich mit vielen Seilbahnen, Skiliften, Hotels, Feriendörfern dazwischen. Mit Nietzsches Fundamentalphilosophie des „Willens zur Macht" scheint ein solches Unterfangen durchaus vereinbar. Heißt es doch in Jenseits von Gut und Böse: „Vor allem will 1 2

Wilhelm Raabe, Ebd., 123.

Pfisters Mühle.

Ein Sommerferienheft,

hg.

Horst

Denkler, Stuttgart 1992, 226.

Nietzsche ökologisch?

469

Lebendigen seine Kraft auslassen Leben selbst ist Willen zur Macht" (Nr. 13), und weiter heißt es, daß ,jede Macht in jedem Augenblick ihre letzte Konsequenz zieht" (Nr. 22; KSA 13, 258) und eben dadurch beiträgt zur Wirklichkeit als einem Chaos, einem Strudel von durcheinander wirkenden Kräften. Ein früher Nachlaßtext Nietzsches lautet: etwas

-

„In dem großen Strudel von Kräften steht der Mensch und bildet sich ein, jener Strudel sei vernünftig und habe einen vernünftigen Zweck: Irrtum!" (KSA 8, 36).

Vernünftige Zwecke gibt es demnach nicht in der Natur (wie die alteuropäische, teleologische Philosophie annahm), sondern Zwecke gibt es nur nach Setzung bestimmter menschlicher

Machtwillen, umwillen ihrer „Zweckrationalität" wie Max Weber es etwas irreführend nannte, nämlich als Rationalität der Mittel, als instrumenteile Rationalität nach Maßgabe bestimmter nicht vernünftiger Machtwillen, die eine Auslassung, Betätigung im Grunde blinder Kräfte sind. Bezüglich der modernen Gesellschaft scheint es demnach bloß noch darauf anzukommen, den in ihr treibenden Machtwillen zu erfassen sowie dessen moralische Selbstrechtfertigung, die bestimmte Zwecke zumindest ideologisch vorzieht sowie die Mittel seiner Realisierung in dem Strudel von Kräften, in dem aber er wie jede seiner Ausprägungen früher oder später wieder untergehen wird. Damit scheint nach dem Grundansatz von Nietzsches Philosophie alles gesagt zu sein, und für Ökologie, die sich um eine gewisse übergreifende Vernunft und Ordnung der Dinge bemüht, auf die der Mensch nicht zuletzt zu seinem eigenen Besten Rücksicht zu nehmen hat, scheint kein Platz zu sein. Die Vernunft dieser Gesellschaft ist relativ, steckt vor allem in ihren Machtmitteln, die von moderner Wissenschaft und Technik erschlossen und ins Werk gesetzt werden. Damit richtet sich diese Gesellschaft nun erdweit und mit Ausgriffen in den sogenannten Weltraum ein und zwar vorzugsweise auf Englisch, USAnisch wie Nietzsche bereits kommen sah, damals auch noch einiges von Rußland erwartend. Und die Einrichtung ist durchaus kraftvoll zugreifend und hat ihre spezifische Art von Nonchalance und Gesundheit an sich, wie er in jenem oben zitierten Nachlaßtext sagt. Die von Nietzsche diagnostizierte Tendenz bedeutet: sich gesund und massenhaft zum Beispiel in den zum Freizeitpark verschönerten Alpen tummeln und dazu auch den weniger Fitten Rechnung tragen per Bus, Seilbahn und dergleichen. So zieht ein bestimmter Machtwillen in der liberalistisch-hedonistischen Gesellschaft seine letzte oder vorletzte Konsequenz (die allerletzte ist jeweils der Untergang), und das in ihr stattfindende „freie Spiel der Kräfte" scheint dabei durchaus im Einklang zu stehen mit dem „Strudel von Kräften", der den Grundzug der Wirklichkeit bildet. Der globale Erfolg dieser Gesellschaft, der freilich noch auf Widerstände stößt und noch nicht überall und endgültig gesichert ist, wird so erklärlich. -

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II. Zwecke und Mittel der modernen Gesellschaft der unzeitgemäße Nietzsche

-

Zur Zeit ist eine Interpretationstendenz recht weit verbreitet, die Nietzsche im angedeuteten Sinne als Philosophen eines losgelassenen Liberalismus versteht. Zumindest eine Seite seiner Philosophie sei von daher modern oder postmodern, sagt man. Und diese Seite gibt es in der

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470

Tat, jedoch als diagnostische, als subtile Erfassung eines mächtigen Trends, der im

neun-

zehnten Jahrhundert schon spürbar war und im zwanzigsten vorherrschend geworden ist. Jeder, der Nietzsche näher kennt, weiß jedoch, daß er bei dieser Diagnose nicht stehen bleibt, sondern daß er seine Philosophie wesentlich gegen solche scheinbar übermächtigen Gesellschaftstendenzen anschreibt. Die Zwecke der modernen Gesellschaft, denen ihre gewaltigen Machtmittel dienen sollen, reichen ihm ganz offensichtlich nicht. So urteilt er über die Wissenschaft, dieses primäre Medium gesellschaftlich-technischer Macht:

„Wissenschaft Umwandlung der Natur in Begriffe zum Zweck der Beherrschung der das gehört in die Rubrik ,Mittel' aber der Zweck und Wille des Menschen muß ebenso wachsen, die Absicht in Hinsicht auf das Ganze" (KSA 11, 194).

Natur

-

-

Hier begegnet wieder das altphilosophische Ganze, und wir werden zu fragen haben, was bei Nietzsche daraus wird. Wenn man zunächst einmal annimmt, es sei das Ganze der modernen Erdzivilisation und so der jetzigen und künftigen Menschheit, ist also impliziert, daß Nietzsche den gegenwärtigen Hauptzweck ihrer modernen Etablierung für mangelhaft hält. Welches ist der Zweck des großen Machtmittels Wissenschaft und Technik? Die Wissenschaftstheorie versucht heraus zu bekommen, wie es eigentlich funktioniert und entwickelt dabei eine beträchtliche Komplexität, sich in hochkomplizierte Selbstzweckhaftigkeit verlierend. Doch wenn man auf das praktische Resultat sieht, hat wohl Arnold Gehlen recht, wenn er schreibt:

„Die Naturwissenschaft ist eine komplizierte Vorform der Verwandlung aller ihrer Objekte in

Konsumdinge und Zerstörungswaffen."3

Konsumdinge und Zerstörungswaffen gehören dabei unabdingbar zusammen, denn für solche Naturbeherrschung ist völlig egal, was von beiden resultiert. Nur nachträgliches Moralisieren nach Art der heutigen „Ethik der Wissenschaft" kann hier versuchen zu trennen, wobei ein durchschlagender Erfolg nicht in Sicht ist. Schon der frühe Nietzsche hat es geahnt, als er notierte:

„Der Zweck der Wissenschaft ist Weltvernichtung. Dabei geschieht es allerdings, daß die nächste Wirkung die von kleinen Dosen Opium ist: Steigerung der Weltbejahung. So stehen wir jetzt in der Politik in diesem Stadium" (KSA 7, 62).

Und dieses Stadium hält an. Wer heute den Genuß solchen Opiums studieren will, hat an der Computerleidenschaft, die vor allem die jungen Leute ergriffen hat, ein interessantes Forschungsfeld. Oft kommt es zwar zur Ergänzung durch andere, chemisch wirkende Rauschgifte, doch gewährt das Computern immerhin einen quasi-intellektuellen Machtrausch, indem man sich tummelt in einer schier unendlichen Menge verfügbarer, manipulierbarer Daten oder aber in den gleichzeitig angebotenen Vernichtungsspielen. So kann das Individuum Weltherrschaft spielen für sich allein -

3

Arnold

Gehlen, Urmensch und Spätkultur, Frankfurt a.M. 1975,

163.

Nietzsche ökologisch?

471

und zugleich vernetzt mit Millionen ebensolcher Weltherrscher all over the world. Sicher dient es auch der Einübung in modernste Techniken der Naturbeherrschung, die nötig sind für die Erhaltung und den Wohlstand von Milliarden, doch ist es auch rauschhaftes Spiel. Brot und Spiele auf modernste Weise und die wenigstens minimale Teilhabe an der gesellschaftlichen Macht ermöglichen eine Art Gesundheit und Weltbejahung (Welt freilich primär als Datenmenge und mediale Hyperrealität), die auch in Nietzsches Sinne zu sein scheint aber näher besehen eben nur scheint. Denn die Wirklichkeit, die es nach ihm zu bejahen gilt, ist anders. In ihr fließt wirkliches Blut. Die zu ihr gehörende Seite Vernichtung ist wissenschaftlich-technisch-elektronisch nicht zu beseitigen, ja diese Art der Bewältigung, die nach dem frühen Nietzsche dem Wahn verfallt, „daß das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu korrigieren im Stande sei" (GT, Nr. 15), erzeugt eine neue, mächtigere Art von Vernich-

tungsgewalt.

Was man möchte, ist freilich, das, was wissenschaftlich-technische Naturbeherrschung an Brot und Spielen ermöglichen, ungestört genießen. Dazu Zarathustras sarkastische Rede vom Ziel der Geschichte,4 vom „letzten Menschen", wo es unter anderem heißt:

„Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar wie der Erdfloh [...] Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben [...] Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit" (ZA, Vorrede Nr. 5). Gemeint ist hier offenbar jene Art von Gesundheit, von der schon die Rede war und die darauf hinausläuft, daß sich die Menschheit erdflohhaft vermehrt, wenn auch primär nicht in den gesundesten Ländern. Nietzsche sieht die Kraft und so auch die Berechtigung dieses massenhaften Machtwillens und überlegt mehrfach (z. B. KSA 13, 365 ff; 323 f.), wieso er bis auf weiteres mit den politischen Tendenzen zu Demokratie und Sozialismus gesiegt hat, siegen mußte. Aber es ist nach ihm eine einseitige und gefahrliche Entwicklung was ihn unter Abweichung von dieser global gewordenen Generallinie nach Gegentendenzen suchen läßt. So schreibt er etwa im Blick auf das damals längst (im Anschluß vor allem an T. R. Malthus) diskutierte Problem „Übervölkerung" (KSA 9, 423): -

„Kaum klingt es jetzt glaublich, daß etwas Entgegengesetztes auch als gut gelten will und gegolten hat [...] damit der Mensch, höher mächtiger fruchtbarer kühner ungewöhnlicher und seltener werde

9,411 f.).

damit die Menschheit -

-

an

Zahl abnehme und

an

Wert wachse"

(KSA

Das sagt er nicht aus ökologischer Rücksichtnahme. Heute wissen wir oder könnten es wissen, wir es nicht wegmoralisieren oder anderweitig verdrängen, daß die ungeheure Vermehrung der Menschheit ein oder gar der Hauptbelastungfaktor für die nichtmenschliche Natur ist. Nietzsche jedoch plädiert hier nur für menschliche Qualität statt Quantität, weil nach ihm der menschliche (ach so individualistische) Typus „Herdentier" das Maß aller Dinge wenn

4

Gegen die Annahme eines Ziels der Geschichte und des Werdens überhaupt sagt Nietzsche, er wolle versuchen, das Werden zu erklären, „ohne zu solchen finalen Absichten Zuflucht zu nehmen [...] es darf absolut nicht das Gegenwärtige um eines Zukünftigen wegen oder das Vergangene um des Gegenwärtigen willen gerechtfertigt werden" (KSA 13, 34). „Der Sinn des Werdens muß in jedem Augenblick erfüllt, erreicht, vollendet sein" (KSA 13, 39).

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472

weder ist, noch sein sollte, gerade auch aus humanen Gründen nicht. Daß es ein mächtiges Maß ist, wird nicht bezweifelt aber kein allmächtiges. Und darüber hinaus bezweifelt Nietzsche, daß überhaupt der Mensch das Maß aller Dinge ist, geschweige denn ein bestimmter Typus Mensch. Und vor allem nicht der Typus moderner Massenmensch, wenn er seine Art von Humanität zum endgültigen Sinn der Geschichte machen möchte und annimmt, daß er die Macht dazu per Wissenschaft und Technik in der Hand hat. -

III. Maß und Hybris, Land und Meer In der heute weitgehend überflüssig gewordenen, aber für Problemzusammenhänge bei Nietzsche immer noch nützlichen Nachlaßkompilation Die Unschuld des Werdens5, steht in naher Nachbarschaft jenes anfangs zitierten Textes über die Verschönerung der Alpen und weitere herrliche Möglichkeiten der künftigen Menschheit ein anderer Text, der beginnt:

„Meint ihr, ein Grieche, dem man unsere Kultur schildert, werde dieselbe bewundern oder ersehnenswert finden? [...] Wonach soll der Begriff Fortschritt der Kultur' gemessen werden!" (UW, Bd. 2, 367 KSA 9, 475). =

von Anfang bis Ende seines Werkes zugleich als moderner Mensch und mit den Augen der alten Griechen auf unsere Kultur. Das heißt nicht, daß er deren Perspektive vorbehaltlos übernimmt, aber sie bildet zumindest den Basso continuo eines durchgängigen Kontrasthintergrundes. Und so ist für unsere Fragestellung das Verständnis einer Passage aus der Genealogie der Moral entscheidend wichtig (GM III, Nr. 9). Dort heißt es über „alle guten Dinge, auf die wir heute stolz sind":

Nun, der altphilologisch ausgebildete Nietzsche schaut bekanntlich

„mit dem Maße der alten Griechen gemessen, nimmt sich unser ganzes modernes Sein soweit es nicht Schwäche, sondern Macht und Machtbewußtsein ist, wie lauter Hybris und Gottlosigkeit aus [...] Hybris ist heute unsere ganze Stellung zur Natur, unsere Natur-

Vergewaltigung mit Hilfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Erfindsamkeit; Hybris ist unsere Stellung zu Gott [...] Hybris ist unsere Stellung zu uns, denn wir experimentieren mit uns [...] Alle guten Dinge waren ehemals schlimme Dinge [...]." Der „Fortschritt der Kultur" scheint das so mit sich gebracht zu haben, und Nietzsche scheint sich hier dem „Wir" zuzurechnen, das darauf stolz ist. Doch bei Nietzsche und WIR ist stets Vorsicht geboten. Die entscheidende Frage lautet: Wie ist hier der griechische Ausdruck

„Hybris" (lateinisch superbia) zu verstehen? Übernimmt Nietzsche die altgriechische und altchristliche Bedeutung, daß es sich um die Ursünde verderblicher Anmaßung, Vermessenheit, Maßlosigkeit handelt (diese deutschen Wörter für Hybris bringen ganz richtig den Gesichtspunkt Maß hinein)? Oder findet er die Hybris, die in der modernen Weltanschauung

5

Friedrich Nietzsche, Die Unschuld des

Werdens, hg.

v.

Alfred Baeumler,

Stuttgart

1978.

473

Nietzsche ökologisch?

mit wissenschaftlich-technischer Naturbeherrschung verbunden ist, so großartig wie später Ernst Bloch, der im Blick darauf von „herrlicher Hybris"6 spricht? Wie steht Nietzsche überhaupt zu der pythagoreisch-platonisch-alteuropäischen Grundkategorie des Maßes, mit der er zweifellos operiert? Haben nach Nietzsche wir Modernen statt der „Maße der alten Griechen" jetzt andere? Oder haben wir im wesentlichen keine, etwa weil wir glauben, auf Grund der wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten eine zumindest bei der Konsumexpansion maßlose Freiheit ausleben zu können? Oder ist eine einerseits maßlose Freiheit gekoppelt mit andererseits einer dogmatischen Moral, die sozialtechnisch-bürokratisch operationalisiert wird, die Gesellschaft unter dem Titel „Demokratie" als eine große Maschinerie prinzipiell gleichgeschalteter Bedürfnisnatur rechtfertigend? Alle diese Fragen sind bei Nietzsche im Spiel. Und was die moderne bürgerliche Gesellschaft, Hegels „System der Bedürfnisse" angeht, so diagnostiziert Nietzsche mit seiner Rede vom „letzten Menschen" ähnliche Tendenzen wie Alexis de Tocqueville, den er zumindest vage gekannt haben muß, denn er erwähnt ihn einmal lobend (KSA 11, 442). In Tocquevilles Buch Über die Demokratie in Amerika (zuerst 1835/40) steht die berühmte Stelle: -

-

unter welchen neuen Merkmalen der Despotismus in der Welt auftreten könnte: ich erblicke eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen, die sich rastlos im Kreise drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu verschaffen, die ihr Gemüt ausfüllen [...] Über diesen erhebt sich eine gewaltige, bevormundende Macht, die allein dafür sorgt, ihre Genüsse zu sichern und ihr Schicksal zu überwachen. Sie ist unumschränkt, ins einzelne gehend, regelmäßig, vorsorglich und mild [...] Jeder duldet, daß man ihn fessle, weil er sieht, daß weder ein Mann noch eine Klasse, sondern das Volk selbst das Ende der Kette in Händen hält."7

„Ich will mir vorstellen,

Diese Gesellschaft hat, indem sie den Menschen primär als technisch zu befriedigende Bedürfnisnatur nimmt, die Tendenz zur Universalisierung, Globalisierung. Und wenn man die Ursache für die zunehmenden ökologischen Probleme dieser technodemokratischen Menschheitsgesellschaft (um Techno-Demo-Kratie nämlich handelt es sich, nicht einfach um Demokratie als vernünftige Vereinigung frei-autonomer Individuen): Hier ist sie genannt, denn das rastlose Kreisen, technisch ermöglicht, ist natürlich ökologisch belastend bis ruinös. Ursache der nicht akuten, sondern erst heraufziehenden ökologischen Krise ist demnach die ganze moderne Lebensform, ihr spezifischer Bedürfhismaterialismus, der sich ganz unmetaphysisch gibt, während ihm eine bestimmte „moraline" (wie Nietzsche quasi chemisch sagt) Metaphysik zu Grunde liegt. Heidegger hat diese Metaphysik fundamentalphilosophisch-kritisch weiter herausgearbeitet.8 Nietzsche spricht sie eher Bedürfnis-praktisch an und relativiert den sie bestimmenden Menschentyp von älteren, aristokratischen Vorstellungen her, wenn er zum Beispiel schreibt:

6 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a.M. 1959, 784; vgl. 1055. 7 Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, aus dem Französischen, München 1976, 814 f. 8 Vgl. Reinhart Maurer, Revolution und ,Kehre'. Studien zum Problem gesellschaftlicher Naturbeherrschung, Frankfurt a.M. 1975; Reinahrt Maurer, „Thesen zu: Heidegger und die Metaphysik", in: W. Oelmüller (Hg), Metaphysik heute?, Paderborn 1987,37-52; Reinhart Maurer, „Das eigentlich Anstößige an Heideggers Technikphilosophie", in: R. Margreiter u.a. (Hg.), Heidegger. Technik Ethik Politik, Würzburg 1991,25-35. -

-

Reinhart Maurer

474

„die niedere species ,Herde' ,Masse' Gesellschaft' verlernt die Bescheidenheit und bauscht ihre Bedürfnisse zu kosmischen und metaphysischen Werten auf (KSA 12, 357) -

der Hybris-Vorwurf mit anderen Worten. Es ist also eine auf spezifische Weise anthropozentrische Kosmologie und Metaphysik, gegen die Nietzsche sein skeptisches „Gesetzt [...], daß nicht gerade der Mensch das ,Maß der Dinge' ist" (JGB, Nr. 3) setzt. Eine bestimmte Art Humanität auf der Linie einer aus dem Juden- und Christentum problematisch säkularisierten Moral soll das Maß aller Dinge sein. Aber die von Nietzsche und seinen Weiterdenkern, z. B. Gehlen, gestellte Frage ist, ob es überhaupt ein Maß und nicht vielmehr die machtvoll sich auslassende Maßlosigkeit ist. Denn ihm zugrunde liegen vage, zur steten Expansion hin offene, Massenbedürfnisse. Alles Mögliche und Unmögliche, vor allem immer mehr Waren und Mobilität (Umtrieb, action) können hier zum Bedürfnis werden, und die Gesellschaft als große Naturbeherrschungs- und Naturvernutzungs-Maschine muß die Mittel der Befriedigung zur Verfügung stellen. Das Maß scheint dabei nur das vorläufig noch nicht Machbare zu sein. So ist sehr einleuchtend, was Nietzsche über das Maß schreibt:

„Das Maß ist uns fremd, gestehn wir es uns; unser Kitzel ist gerade der Kitzel des Unendlichen, Ungemessenen: Gleich dem Reiter auf vorwärts schnaubendem Rosse lassen wir vor der Unendlichkeit die Zügel fallen, wir moderne Menschen, wir Halbbarbaren und sind erst dort in unserer Seligkeit, wo wir auch am meisten in Gefahr sind" (JGB, Nr. 224). -

-

Es ist die Gefahr der inneren Haltlosigkeit infolge der Unendlichkeit möglicher Perspektiven und der äußeren Haltlosigkeit durch den Verlust des Bodens, der Erde, der Dinge, die zum Zwecke uferloser Bedürfnisbefriedigung (einschließlich der damit verbundenen, nie endgültig zu befriedigenden Sicherheitsbedürfhisse) zu unendlichen Datenmengen virtualisiert werden. (Das Problem ist das gleiche wie schließlich beim DDR-Staatssicherheitsdienst, Stasi, wo zuletzt nicht zu wenige, sondern zu viele Informationen über zu viele Bürger vorlagen, da im Prinzip jeder verdächtig war.) Dazu auch die bekannte Nr. 124 der Fröhlichen Wissenschaft, die überschrieben ist „Im Horizont des Unendlichen". Das „Wir", von dem dort die Rede ist, versteht man wohl am besten als: wir modernen Menschen. Darüber heißt es bildlich:

„Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brücke hinter mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! sieh' dich vor! Neben dir liegt der Ozean, es ist wahr, er brüllt nicht immer, und mitunter liegt er da, wie Seide und Gold und Träumerei der Güte. Aber es kommen Stunden, wo du erkennen wirst, daß er unendlich ist und daß es nichts Furchtbareres gibt, als Unendlichkeit [...] Wehe, wenn das Land-Heimweh dich befallt, als ob dort mehr Freiheit gewesen wäre, und es gibt kein ,Land' mehr."9

uns,

-

-

9 Daß der neuzeitliche Aufbruch des Menschen zu Wasser durch die zu seiner Zeit beginnende „Luftschiffahrt" gesteigert wurde, hat Nietzsche durchaus bemerkt, vgl. KSA 8, 409; KSA 9, 135: „Allein die Luftschiffahrt wirft alle unsere Kulturbegriffe über den Haufen." Die Bindung ans Land bringt Nietzsche an einer Stelle direkt mit der Landwirtschaft zusammen, mit der alt-agrikulturellen Bindung an die Scholle. Deren Auflösung sei: „der Anfang des Nihilismus". Dieser sei: „die Ablösung, der Bruch mit der Scholle unheimisch beginnts unheimlich endets"

(KSA 13, 144).

Nietzsche ökologisch?

475

Wie läßt sich die von Nietzsche diagnostizierte Gefahr mit der ebenfalls von ihm behaupteten bequemen Saturiertheit des „letzten Menschen" vereinbaren? Nun, ganz einfach: In der modernen Gesellschaft ist der einzelne Mensch sicherer als je zuvor wie man an der steten Verlängerung des durchschnittlichen Lebensalters sieht. Wenn also die Einzelnen riskant mit sich experimentieren, so können sie doch, wenn's schiefgeht, ins soziale Netz fallen (zumindest in den europäischen Sozialstaaten). Die Gesellschaft als ganze jedoch macht mit sich und ihrer Welt ein höchst riskantes Großexperiment.10 Seine Gefährlichkeit wird sogleich deutlich, wenn ihre technischen Machtmittel nicht für die Produktion von Konsumdingen, sondern für das eng damit verbundene Andere, die Aktivierung, den Konsum sozusagen von Zerstörungswaffen eingesetzt werden. Die zweite, mehr schleichende Gefahr ist die Ruinierung der Naturbasis durch das immer potentere System der Bedürfnisse, also die heraufziehende ökologische Krise. Beides ist zusammengefaßt in dem Satz von Heidegger: „Der Krieg ist zu einer Abart der Vernutzung des Seienden geworden, die im Frieden fortgesetzt wird."" Von Nietzsches Ozean-Bild her gesehen sind jedoch beide Gefahren, die kriegerische und die „friedliche", nur die möglichen Unwetter des Meeres. Für grundlegender oder vielmehr abgrundlegender hält er die Bedrohung durch die Unendlichkeit des Ozeans, also durch die im modernen, wissenschaftlichen Weltbild enthaltene Relativierung des Menschen zu einer marginalen Teilkraft in dem Strudel unendlich vieler Kräfte, welche die Wirklichkeit ausmachen. -

IV. Mensch gegen Welt Erst das 20. Jahrhundert mit seinen beiden Weltkriegen und seiner ungeheuren Expansion technischer Naturvernutzung hat die beiden Gefahren einer Selbstvernichtung der Menschheit, die kriegerische und die friedliche, offensichtlich werden lassen. So fehlt auch, wie gesagt, bei Nietzsche als Sohn seiner Zeit die ökologische Problematik in ihrer heutigen Konkretheit. Doch in einem allgemeineren und prinzipielleren Sinn erkennt Nietzsche die Gefahr, die darin liegt, daß ein bestimmter kollektiver Wille zur Macht und zur Freiheit sich illusionär über alles andere setzt. Nietzsche und das heutige ökologische Bewußtsein, sofern es nicht an oberflächlichen Problemen hängen bleibt, konvergieren im Feld einer Kritik oder vielmehr Selbstkritik des neuzeitlichen, eurogenen Techno-Humanismus und Anthropozentrismus.12 Dieser Punkt wird bei Nietzsche mehrfach angesprochen, besonders deutlich schon in der Fröhlichen

Wissenschaft (Nr. 346):

„Die ganze Attitüde ,Mensch gegen Welt',[...] der Mensch als Wertmaß der Dinge, als

Welten-Richter [...] die ungeheuerliche Abgeschmacktheit dieser Attitüde ist uns als solche Bewußtsein gekommen und verleidet, wir lachen schon, wenn wir ,Mensch und Welt' nebeneinander gestellt finden, getrennt durch die sublime Anmaßung des Wörtchens zu

-

,und'!"

10 11 12

Vgl. Reinhart Maurer, „Nietzsche und das Experimentelle", in: M. Djuric u.a. (Hg), Zur Aktualität Nietzsches, Bd.l, Würzburg 1984, 7-28. Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, 93. Vgl. Karen Joisten, Die Überwindung der Anthropozentrik durch Friedrich Nietzsche, Würzburg 1994.

Reinhart Maurer

476

Es erscheine zum Lachen, heißt es dort auch, „wenn der Mensch in Anspruch nehmen wollte, Werte zu erfinden, welche den Wert der wirklichen Welt überragen sollten". Irritierend bei Nietzsche ist diese Rede von „Wirklichkeit", die immer wieder vorkommt und gegen menschlichen, moralischen, idealistischen oder anders wunschdenkenden Illusionismus gerichtet ist. Wird damit die Möglichkeit einer wahren oder angemessenen Erkenntnis in Anspruch genommen und die Möglichkeit einer entsprechenden Philosophie? Dagegen heißt es doch andererseits, und es gibt viele ähnliche Stellen bei Nietzsche:

„Wille zur Macht als Erkenntnis / nicht ,erkennen', sondern schematisieren, dem Chaos so

Regularität und Formen auferlegen, als es unserem praktischen Bedürfnis genug tut" (KSA 13, 333). viel

Und wie kann die Praxis der modernen Menschheitsgesellschaft Hybris, Anmaßung sein, sie eben das anstrebt? Oder hat das altgriechische Wort Hybris hier seinen negativen Sinn verloren? Zieht hier nicht bloß ein besonders starker Wille zur Macht seine letzte Konsequenz, indem er dem Chaos der Wirklichkeit „schematisierend" (eine Anspielung auf Kant) eine Form auferlegt? Und gelingt ihm damit nicht bloß besonders erfolgreich das, was jeder Wille zur Macht versucht, nämlich den Lauf der Dinge in seinem Sinn zu lenken (wenn es denn ein Sinn, ein wirklich lohnender Zweck ist)? Das sind unsere alten Fragen in verschärfter Form. Indem man sie so von Nietzsche her stellt, zeigt sich in der modernen Weltanschauung ein Widerspruch: Einerseits enthält sie den Anspruch des Darüberstehens, der wissenschaftlichen Objektivierung der ganzen Welt als Natur und einer darauf gegründeten fortschreitenden Beherrschung der Natur zum Zwecke menschlicher, und zwar universal, massenhaft menschlicher Befriedigung unendlich expandierender Bedürfhisse. Und das gilt als höchst humaner, das heißt moralisch absolut gerechtfertigter Zweck. Andererseits ist für die moderne Gesellschaft der Mensch zwar vielleicht, sofern man überhaupt werten darf, die Spitze der bisherigen Evolution des Lebendigen. Doch das heißt keineswegs, daß er damit aus der Natur heraustritt, daß er über ihren Prozessen steht, daß er im Gegensatz zu anderen Arten des Lebendigen von Natur eine absolute Bestandsgarantie hat. Er ist ein Lebewesen unter anderen, und seine Wissenschaft und überhaupt Erkenntnis ist nur ein wenn auch bisher besonders erfolgreiches Instrument im Kampf um Erhaltung und Expansion. Seine Vernunft erhebt den Menschen nicht über alles, sondern hat relativen Wert für die Durchsetzung seiner höchst relativen Interessen. Nietzsche relativiert nämlich weiter und fragt konsequent im Sinne aufklärerischer Ideologiekritik, um welche menschlichen Interessen, um die Interessen welchen Menschentyps und seiner Zukunftswünsche es sich handelt. So sagt er auch bezüglich der angeblich schlechthin gültigen Logik und deren Relativierung ist eine durchaus mögliche Konsequenz aufklärerisch-kritischen Geistes: wenn

-

-

-

aus dem die Logik herausgewachsen ist: Herden-Instinkt im die Annahme der gleichen Fälle setzt die ,gleiche Seele' voraus. Zum Zweck

„Das Begierden-Erdreich,

Hintergrunde,

der Verständigung und Herrschaft"

(KSA 12, 308).

Die Perspektive moderner Wissenschaftlichkeit und Aufklärung des Menschen über sich und seine Welt sowie über seine Möglichkeiten der Beherrschung dieser Welt führt also nicht notwendig zur Hybris. Und wenn sie ihrem eigenen Ethos nach wirklich kritisch und selbstkritisch, „wahrhaftig", „ehrlich" ist, wie Nietzsche sagt, fuhrt sie eher zum Gegenteil, nämlich

Nietzsche ökologisch?

Ml

dazu, den Menschen von dem erhöhenden Podest zu stoßen, auf das seine religiös-metaphysisch-moralische Selbstinterpretation ihn gestellt hat. Konsequent aufklärend relativiert der Mensch sich und seine Möglichkeiten der Erkenntnis bis hin zu jenem Fazit, das schon der junge Nietzsche aus der wissenschaftlichen Weltanschauung gezogen hat. Es steht am Anfang der kleinen, aber Grundprobleme der späteren Philosophie Nietzsches vorwegnehmenden Schrift „Über Wahrheit und Lüge im außermoralichen Sinne" und lautet: „In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden.

war die hochmütigste [„Hochmut", eine alte Übersetzung von Hybris, superbia] und verlogenste Minute der Weltgeschichte' [Weltgeschichte in Anführungszeichen, denn welche Anmaßung steckt gerade nach diesem Text in diesem Wort] : aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben. So könnte jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustriert haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt" (KSA 1, 875).

Es

,

-

Wenn hier auch nicht die Möglichkeit einer Selbstvernichtung des Menschen durch „erkennende" Naturbeherrschung angesprochen ist, so wird doch deutlich, zu welcher Selbstrelativierung des Menschen wissenschaftliche Weltanschauung fähig ist. Zur Hybris führt sie erst dann, wenn sie verblendet durch humanitär-moralische Wünschbarkeiten eine prinzipielle Entgegensetzung Mensch contra Welt für möglich hält, wenn sie die Mittel wissenschaftlichtechnischer Naturbeherrschung für allmächtig hält (allmächtig zumindest für den Zweck perfekter oder wenigstens (!) unendlich progressiver Bedürfnisbefriedigung), wenn sie die Utopie eines endgeschichtlich saturierten „letzten Menschen" entwickelt und praktisch zu realisieren versucht. Das jedoch ist nach Nietzsche der Fall. Und an dieser Stelle setzt sein Hybris-Vorwurf an. Er ist gerichtet gegen die moderne, universale, globale Menschheitsgesellschaft als „autonome Herde", wie er einmal sagt (JGB, Nr. 202). Diese Formel ist in doppeltem Sinne ironisch: 1. Bezüglich des Autonomieanspruchs moderner Individuen, woran man zunächst einmal denkt. Von ihm wird gesagt, er sei in Wahrheit kollektiv, Herden-Autonomie. 2. Bezüglich des Autonomieanspruchs der großen Herde moderne Gesellschaft. Dieses tendenziell gesamtmenschheitliche Kollektiv will die Gesetze seiner Existenz aus sich setzen und will sie der ganzen Welt als „Schema" per wissenschaftlich-technischer Natur-

beherrschung auferlegen, überstülpen.

Dabei scheint der Hybris-Vorwurf, der dieser ironischen Apostrophierung der „autonomen Herde zugrundeliegt, von zwei Standpunkten aus möglich zu sein: 1. Hybris im alteuropäischen Sinn als selbstzerstörerische Verletzung einer umfassenden Ordnung der Dinge. Dem liegt der ursprüngliche Kosmos-Begriff zugrunde: altgriechisch kosmos Schmuck, schöne Ordnung. 2. Hybris im modernen Sinn als Verletzung der natürlichen Unordnung (wobei freilich die Frage ist, ob Unordnung verletzt werden kann), als der „anthropozentrische" Glaube, der Mensch stehe über der Wirklichkeit als Chaos, könne es in seinem Sinne regulieren und könne so eine moralische Weltordnung herstellen. Von welchem Standpunkt aus Nietzsche von Hybris spricht, ist zu fragen. Und die weitere Frage ist, wie sich bereits gezeigt hat, ob Hybris im modernen Kontext überhaupt eine negative Wertung enthält. Denn der Ausdruck Hybris ist nur dann eindeutig ein Vorwurf, eine =

Reinhart Maurer

478

fundamentale Kritik, wenn man mit den Augen der alten Griechen auf die moderne Gesellschaft sieht. Daß Nietzsche das immer wieder tut, ist klar. Doch ob dies sein letztes Wort, seine eigentliche Perspektive in dieser Sache ist, erscheint fraglich. Er schaut zugleich als modemer Mensch, der sich von alt-europäischer Kosmos-Vernunft emanzipiert hat (vgl. KSA 13, 46 ff.) und stolz ist auf die so gewonnene Freiheit bis Maßlosigkeit und auch stolz auf das damit verbundene Risiko des Herumirrens im Unendlichen oder auch der Selbstzerstörung. Nietzsches Position ist offenbar ambivalent oder widersprüchlich oder komplex. Doch wenn man ihn einseitig als modernen Denker nimmt und mit einigen seiner Begriffe die moderne Position darstellt, dann dürfte klar sein, daß Hybris als Vorwurf und Fundamentalkritik entfällt und ebenso die Möglichkeit einer ökologischen Kritik der modernen Gesellschaft aus kosmischer Verantwortung fürs Ganze, denn dieses kosmische Ganze gibt es gar nicht. Ökologisch angeleitete Praxis ist höchstens möglich als individuelle „Lebenskunst" in einigen Nischen der Gesellschaft und in Form einiger Maßnahmen gegen offensichtlich schädliche Auswirkungen technischer Naturbeherrschung, ohne auf das ganze Ausmaß der Naturvernutzung angemessen reagieren zu können. Denn statt eines objektiv und subjektiv vernünftigen Ganzen gibt es nur den Strudel der Kräfte, das Geschiebe der Machtwillen, das liberalistisch „freie Spiel der Kräfte" wie in der Natur, so in der Gesellschaft. Alles was man dazu im modernen Blick auf die sich konstituierende Menschheitsgesellschaft sagen kann, ist: Da ist ein starker Wille zur Macht am Werke stark, aber im wesentlichen blind. Und wenn er sich einbildet, sein Nomos (Auto-Nomos) sei der Nomos der Erde oder gar der Welt, so irrt er, denn weder gibt es einen solchen Nomos, noch ist er herstellbar. Auch für einen gesamtmenschheitlichen Machtwillen und damit für die Menschheit gibt es keine Bestandsgarantie. Die Wirklichkeit als Strudel von Kräften hat in sich zwar eine Art von dynamischer Selbstorganisation, die immer wieder relativ einheitliche Gebilde von verschiedenem Umfang und verschiedener Dauer hervorbringt, auch mächtige Gebilde von langer Dauer, aber keines ist ewig oder end-gültig, end-geschichtlich. So mag es zwar immer weitere Fortschritte geben, mit welchen die moderne Gesellschaft sich durch „Umbau des Planeten Erde"13 nach ihren Bedürfhissen einrichtet, doch steckt Volksweisheit in dem anonymen Geist, der das nach wie vor zur Schau gestellte Fortschrittspathos unserer maßgebenden Politiker, Ökonomen, Techniker auf die Schippe nimmt mit dem schönen Slogan: „Heute stehen wir am Abgrund, morgen sind wir einen Schritt weiter." Die autonome Herde hat die Macht zu diesem Schritt und kann ihn jederzeit tun. Ihre eigene Wissenschaft bezweifelt, daß sie auch die umfassende Vernunft hat, die nötig wäre, um ihn zu vermeiden. Mit den Gesetzen der Evolution und ihrer Art Selbstorganisation ist er durchaus vereinbar. Jede Art von Lebewesen, die entsteht, kann auch wieder vergehen. Daß es für diese Art eine Katastrophe bedeutet, ist insgesamt nur ein Moment der Selbstorganisation, die Wiederherstellung eines gewissen, je temporären Fließgleichgewichts von Kraftquanten (oder Machtwillen, wie Nietzsche sagt). Moderne humanitäre Moral wie alteuropäische Anti-Hybris-Ethik bleiben dem äußerlich. Bezüglich des Menschen ist diese Weltanschauung nihilistisch. Nietzsche hat den modernen Nihilismus besonders scharf diagnostiziert und genealogisiert. Er durchkreuzt auch jede ökologische Ethik, etwa indem er sagt: Was bedeutet mir das Nichts von morgen? Ich will heute gut leben, und gutes Leben bedeutet nicht bloß konsumieren, sondern mehr konsumieren. Zarathustras Rede vom „letzten Menschen" wäre durch diesen Heroismus des Willens ein Wille auch zum Ende, der freilich als solcher verdrängt wird, zum Konsum zu ergänzen -

-

-

13 Eine Formel Ernst

Blochs, dazu kritisch Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt a.M. 1979.

479

Nietzsche ökologisch? weil man (nicht ganz unzutreffend) meint, seine bitteren Generationen.

V. Die umfassendere Perspektive kosmische Gerechtigkeit

Konsequenzen beträfen erst künftige

-

Wille zur Macht und

Was aber ist Nietzsches Position? Von dem zuletzt Dargestellten ist sie verschieden. Wenn dergleichen modern ist, dann scheint sie widersprüchlich zu schwanken zwischen der altgriechischen und überhaupt alteuropäischen Rede von Kosmos und Hybris und der modernen Position menschlicher „Selbstverwirklichung" als losgelassener Wille zur Macht, Auslassung von Kraft, rücksichtslos gegen die Dinge, nur innerhalb der globalen Menschenherde minimale Rücksicht übend im Rahmen einer teils durchgeführten, teils nur propagierten Gleichheit und zum Zwecke universeller Lebenserhaltung und Konsumvermehrung. Nietzsche sieht immer wieder mit altgriechischen Augen auf diese moderne Freiheit. Die Frage ist, mit welchen Augen wir auf Nietzsche blicken wollen oder können: Nur mit modernen oder postmodernen? Hierzu die These: Wenn man Nietzsches ursprüngliche Bildungsvoraussetzungen nicht auch bis zu einem gewissen Grade kennt und hat, also Antike und Christentum, dann erscheint er entweder als widersprüchlich oder man macht ihn eindeutig, indem man seine nichtmoderne Seite ignoriert. Wenn man so die Hälfte beiseite läßt, dann kann man ihn als Sprungbrett benutzen für den postmodernen Swimmingpool, in dem anything goes. Darin kann man dann herumplätschern in der Unendlichkeit der Perspektiven, Interpretationen, Meinungen, die alle irgendwie gleichberechtigt sind, da es ja keine übergeordnete Wahrheit noch Maß mehr gibt, noch Erkenntnis, Subjekt, Ding und überhaupt an sich bestehende Einheiten. Daß es nach Nietzsche kein Swimmingpool ist, sondern ein in seinen Stürmen gefährlicher und in seiner Unendlichkeit schlechthin bedrohlicher Ozean, muß man dann gleichfalls ignorieren. Desgleichen muß man davon absehen, daß Nietzsche nach Überwindung des Nihilismus sucht, es also nicht für ausgemacht hält, daß wir bildlich gesprochen dazu verdammt sind, ewig auf dem unendlichen Ozean herumzuirren wie der Fliegende Holländer. Das Schiff sucht vielmehr wie Columbus neues Land, genauer alt-neues Land, denn indem es auch Land, nicht Meer oder Luft ist, so ist es in dieser entscheidenden Hinsicht vom alten nicht verschieden. Und auch der Mensch, der das neue Land sucht, ist vom alten Adam nicht prinzipiell verschieden. Er bleibt Land-Tier, wird nicht zum modernen Fisch oder postmodernen Vogel. Was heißt das begrifflich? Nun, es bedeutet zum Beispiel, daß kosmisches Denken und Fühlen (und ein entsprechendes Handeln) nicht einfach obsolet geworden sind, daß auch das Geschiebe der Machtwillen nicht bloß chaotisch ist, sondern immer auch komplexe Einheiten und damit Ordnungsstrukturen, Gesetzmäßigkeiten (JGB, Nr. 221) erzeugt. Die kleinen oder vielmehr mittleren Einheiten der Individuen stehen so in größeren Zusammenhängen, die sie versuchen können zu interpretieren. Dazu etwa folgender Nachlaßtext: -

-

„Nicht die Natur täuscht uns, die Individuen [...]: sondern die Individuen legen sich alles Dasein nach individuellen, d. h. falschen Maßstäben zurecht [...] Ich unterscheide aber: die

eingebildeten Individuen und die wahren ,Lebenssysteme', deren jeder von uns eins ist [...] Wir sind Knospen an Einem Baume [...] Aber wir haben ein Bewußtsein, als ob wir Alles

Reinhart Maurer

480

sein wollten und sollten, eine Phantasterei vom ,Ich' und allem ,Nicht-Ich' [Anspielung auf Fichte]. Aufhören, sich als solches phantastisches ego zu fühlen! [...] Den Egoismus als Irrtum einsehen! Als Gegensatz ja nicht Altruismus verstehen! Das wäre die Liebe zu den anderen vermeintlichen Individuen! Nein! Über ,mich' und ,dich' hinaus] Kosmisch

empfinden]" (KSA 9, 442 f.)

Das klingt sehr nach Heraklit, dem wohl einzigen Philosophen, zu dem Nietzsche sich behaltlos bekennt und von dem zum Beispiel folgendes Fragment überliefert ist:

vor-

„Darum tut es not, dem Allgemeinen zu folgen. Obwohl aber der Sinn (logos) allgemein ist, leben die Vielen, als hätten sie einen Verstand für sich" (B2). Und von der Hybris, die sich über diesen allgemeinen Logos hinwegsetzen will, sagt Heraklit, sie sei zu löschen „mehr als Feuersbrunst" (B43). Zwar redet Nietzsche nicht vom Allgemeinen und von einem umgreifenden Logos, sondern vom Willen zur Macht, den jedes Individuum scheint für sich in Anspruch nehmen zu können. Doch gerade bei diesem Grundbegriff der späteren Philosophie Nietzsches, der jedes menschliche Machtstreben und das daraus entstehende unendliche Chaos zu rechtfertigen scheint, zeigt sich alt-neues Land. Denn näher besehen ist der Wille zur Macht bei Nietzsche ein nicht bloß menschliches, sondern durchgängiges (wenn auch plurales, je individuell ausgeformtes) Prinzip oder Geschehen (das Wort „Prinzip" ist hier problematisch). Und der Wille zur Macht ist gerade nicht blind, sondern er interpretiert,14 weswegen er schließlich auch als Philosophie „geistigster Wille zur Macht" sein kann (JGB, Nr. 9). „Der Wille zur Macht interpretiert", heißt es ausdrücklich in einem Nachlaßtext (KSA 12, 139). Zwar interpretiert er immer aus seiner Perspektive, doch das bedeutet nicht, daß jede Interpretation gleich viel wert oder vielmehr unwert, da gleich falsch wäre. Es gibt nach Nietzsche nicht die Möglichkeit der einen darüberstehenden Perspektive, die alles überschaut und zusammenfaßt. Dieser sozusagen Platonische Superlativ entfallt. Doch gibt es bei Nietzsche den Komparativ, nämlich den gemäßigten Piatonismus der umfassenderen Perspektiven, einen flexibilisierten, dynamisierten, temporalisierten, pluralisierten Piatonismus. Und das Streben nach der umfassenderen Perspektive benennt Nietzsche mit dem alteuropäischen Ausdruck Weisheit, nach MüllerLauter zumindest eine Komponente des „Übermenschen".15 Mit dem Konjunktiv des kaum erreichbaren, aber dennoch erstrebenswerten Ziels formuliert Nietzsche einmal:

„Der weiseste Mensch wäre der reichste an Widersprüchen, der gleichsam Tastorgane für alle Arten Mensch hat: und zwischeninnen seine sammenklangs" (KSA 11, 182, vgl. JGB, Nr. 212).

Es gibt eben bessere und schlechtere Wissen um

Wolfgang Müller-Lauter, „Nietzsches

großen Augenblicke grandiosen

Zu-

Tastorgane, und zum Tastorgan Weisheit gehört auch das

Lehre vom Willen zur Macht", in: Nietzsche-Studien 3/1974, 1-60, 38: „Kein Wille zur Macht ist ein .blinder Wille'." 15 Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/New York 1971, 135 ff. 14

Nietzsche ökologisch?

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„den notwendigen Perspektivismus, vermöge dessen jedes Kraftzentrum und nicht nur der Mensch von sich aus die ganze übrige Welt konstruiert, d. h. an seiner Kraft mißt, betastet, gestaltet" (KSA 13, 373). -

-

So hätte denn der Weise, der offenbar vom modernen Menschen verschieden ist, gleichsam Tastorgane nicht nur für den Menschen, sondern auch für Dinge Organe im Plural, nicht mudas mächtige Tastorgan (Natur)Wissenschaft, das ohnehin, wie gleich anfangs Francis Bacon feststellte, eher ein Vergewaltigungsorgan oder Folterinstrument als ein Tastorgan ist. In -

diesem Sinne ein weiterer Nachlaßtext:

„Das Erkennenwollen der Dinge wie sie sind das allein ist der gute Hang: nicht das Hin-

sehen nach Anderen und das Sehen mit anderen Augen das wäre ja nur ein Ortswechsel des egoistischen Sehens! Wir wollen uns von der großen Grundverrücktheit heilen, alles nach uns zu messen [...] mit anderen Augen sehen: Übung, ohne menschliche Beziehungen, also sachlich zu sehen! Den Menschen-Größenwahn [ein sehr starker, moderner Ausdruck für Hybris] kurieren! Die Leidenschaft für das trotz allen Personen-Rücksichten trotz allem ,Angenehmen' und Unangenehmen ,Wahre' ist das höchste darum Seltenste bisher!" (KSA 9, 443 f.) -

-

-

Es ist die Leidenschaft für eine Art von kosmischer Gerechtigkeit gegenüber allen bei Nietzsche zu der Empfehlung führt:

Dingen, die

„Liebe und Gerechtigkeit gegen die Dinge sei eure Schule" (KSA 10, 225). Für die Nietzsche-Interpretation ergibt sich aus solchen Textstellen die reizvolle Aufgabe, den „Willen zur Macht", diesen Grundbegriff der späteren Philosophie Nietzsches, so zu denken, daß er dergleichen mitenthält, also den Willen zur Macht weder im Sinne faschistischer Nietzsche-Rezeption als Aufforderung zu blinder Machtergreifung zu verstehen, noch im Sinne liberalistischer Interpretation als pauschale Lizenz zum „demokratischen" Ausleben vieler kleiner und cleverer Machtgelüste, für welche die moderne Gesellschaft als große Naturbeherrschungsmaschine die Mittel bereitzustellen hat. Die vielen kleinen Machtwillen summieren sich so zu der gewaltigen Anmaßung Mensch contra Welt, von humanitär-anthropozentrischer Moral gerechtfertigt. Gerechtigkeit ist einer der verborgeneren Grundbegriffe der Philosophie Nietzsches. Man achtet darauf wenig, weil es ein traditioneller Begriff ist, der bei Nietzsche verdeckt wird durch attraktive Neuprägungen.16 Und noch weniger achtet man darauf, daß Nietzsches Begriff der Gerechtigkeit nicht im modernen Sinn moralisch, also humanitär moralisch ist, sondern alteuropäisch, kosmisch, Platonisch. Denn nach Piatons philosophischer Explikation des altgriechischen Begriffs arete (Tugend, wörtlich: Bestheit) ist Gerechtigkeit diejenige menschliche Tugend oder vielmehr Bestheit, die an allen Dingen, nicht nur bei den Menschen, die Tendenz zur Bestheit erkennt und praktisch fördert. Indem diese universelle Tendenz beim Menschen bewußt wird, ist er etwas Besonderes und kann sich so um das allgemeine Streben nach (je perspektivisch) angepeiltem Besten bemühen, kann es per téchne fördern und zwar zu seinem Besten, das jedoch mit den Bestheiten aller anderen Dinge zusammenhängt. Wenn er 16

Vgl. Reinhart Maurer, „Der andere Nietzsche. Gerechtigkeit kontra moralische Utopie", in: Aletheia 5/1994,9-20.

Reinhart Maurer

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sich darüber durch Hybris erhebt und sich mächtig genug dünkt, bloß noch sein eigenes Wohlergehen fördern zu können, fällt er aus der Ordnung und immer auch Unordnung der Dinge (denn das Streben nach Bestem ist irrtumsfähig) hinaus ins Nichts. Er täte besser daran, sie umwillen ihrer eigenen Möglichkeiten der Bestheit zu lieben und sich um Gerechtigkeit im Sinne einer Rangordnung, also nicht abstrakten Gleichheit von Bestheiten zu bemühen. Weil „das Gute" nach Nietzsche inzwischen moralin zu sehr verzerrt worden ist, spricht er nicht von einer allgemeinen Tendenz zum Guten, sondern vom Willen zur Macht als Grundzug der Wirklichkeit. Doch indem der Wille zur Macht interpretiert und auch zu umfassenderen Interpretationen fähig ist, vor allem in Form menschlicher Philosophie, ist jeder Machtwillen nicht nur auf sich beschränkt, sondern nimmt andere Machtwillen zur Kenntnis und kann sie in ihrer relativen Berechtigung anerkennen damit zugleich sich selbst relativierend. So wird er ihnen gerecht, kann sie bejahen, lieben, bis hin zum „tiefen Wohlwollen gegen alle Dinge" (KSA 11,256), mit denen wir verflochten sind. Anthropozentrische Moral durchkreuzt diese kosmische Gerechtigkeit: -

„Beschränktheit des moralischen Gesichtspunkts jedes Individuum wirkt kosmischen Wesen mit ob wir es wissen oder nicht

-

10,493 f.).

-

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am ganzen ob wir es wollen oder nicht!" (KSA

Die Moral der „autonomen Herde" erhebt diese über alles andere, indem sie einerseits in sich, andererseits unter sich alles gleichschaltet. Dagegen erkennt kosmische Gerechtigkeit eine durchgehende Rangordnung an „unter den Dingen selbst und nicht nur den Menschen" (JGB, Nr. 219; vgl. Nr. 263). Gerechtigkeit als das positive Jenseits des moralinen Gut und Böse, als „Funktion einer weit umherschauenden Macht, welche über die kleinen Perspektiven von Gut und Böse hinaussieht, also einen weiteren Horizont des Vorteils hat die Absicht, etwas zu erhalten, das mehr ist als diese oder jene Person" (KSA 11, 188). Das ist im Prinzip alteuropäisch, kosmisch-hierarchisch gedacht im Sinne des altgriechischen, auf Menschen, Tiere, Dinge beziehbaren Begriffs der arete sowie des mittelalterlichen Begriffs einer analogia entis, einer analogisch abgestuften Gemeinsamkeit alles Seienden. Mit seiner gespannten Verbindung von Wille zur Macht und kosmischer Gerechtigkeit tastet Nietzsche in Richtung einer dynamisierten Version alteuropäischen Kosmosdenkens. Dazu gehört auch die Aktualisierung des alten Dualismus von Kosmos und Chaos. Man muß philosophisch-geschichtlich gebildet sein, um zu erkennen, was Nietzsche hier treibt. Wenn man nur mit modernen Augen auf ihn blickt, sieht man entweder nur die Hälfte oder findet ihn -

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widersprüchlich.

Was bei Nietzsche herauskommt, ist nun aber nicht Liebe zu den Dingen statt „Menschenliebe" (einer der Leitbegriffe modemer, aufklärerischer Weltanschauung).17 Nietzsches „Fernstenliebe", von der er im Zarathustra spricht, liegt im Grunde noch näher als die sogenannte Nächstenliebe, sofern diese den wirklichen Menschen verfehlt, indem sie ihn in der modernen Gesellschaft auseinandernimmt in abstrakt-autonome Rationalität einerseits und Trieb-, Bedürfnis-, Interesse-Natur andererseits. Von der Möglichkeit, beide Seiten gegeneinander auszuspielen, wird üppig Gebrauch gemacht, was gar nicht lieb ist. Der wirkliche Mensch ist

17 Liebe

zu den Dingen statt zu den Menschen: so mißversteht Emmanuel Lévinas Heideggers Rehabilitierung des „Dings", die in Nietzsches Bahnen weiterdenkt. Siehe Emmanuel Lévinas, „Heidegger, Gagarin und wir", aus dem Französischen, in: Wolfgang Schirmacher (Hg), Zeitkritik nach Heidegger, Essen 1989, 85-88.

Nietzsche

483

ökologisch?

nämlich (nach Nietzsche) nur zu lieben als leib-seelische Einheit und damit immer auch als Ding. Im Leib hat er seine dingliche Seite, aber sie ist näher besehen ein Geflecht von organischen Machtwillen und damit Leib-Seelen. „Unser Leib ist ja nur ein Gesellschaftsbau vieler Seelen" heißt es in Jenseits von Gut und Böse (Nr. 19). Einander interpretierende Machtwillen haben sich da recht stabil zusammengefunden „der organische Prozeß setzt fortwährend interpretieren voraus", sagt eine Nachlaßstelle (KSA 12, 139 f.), und sogar vor-organisch gibt es nach Nietzsche „Denken" (wenn auch in Anführungszeichen), etwa als „GestaltenDurchsetzen, wie beim Kristalle" (KSA 11, 687 f.). Alle Dinge sind mehr oder weniger stabile und dauerhafte Koalitionen interpretierender Machtwillen, und nach einem solchen Begriff von Ding ist auch der Mensch Ding was man zum Beispiel daran sehen kann, daß er wie ein Ding im gewöhnlichen Sinne kaputtgehen kann, etwa bei einem Autounfall. In Aufnahme dieses Nietzscheschen Sinnes spricht dann auch Heidegger über das Ding, kulminierend in der gegen moderne Autonomie-Anmaßungen gerichteten Feststellung: „Wir sind im strengen Sinne des Wortes die Be-Dingten".18 Aber nach Nietzsche sind wir nicht nur be-dingt, sondern auch Ding unter Dingen. Sich abstrakt rational und abstrakt moralisch über diesen Zusammenhang zu erheben und sich für „autonom" zu erklären, ist nach Nietzsche die der modernen Gesellschaft zugrundeliegende Hybris, Überheblichkeit, ihr spezifisch anthropozentrischer, genauer soziozentrischer Größenwahn. Indem er ihn kritisiert, wird Nietzsche in seiner Philosophie nicht konkret ökologisch, aber er weist so auf das tiefsitzende Hindernis, auf die kollektive Blindheit, die in der modernen Weltanschauung und individuellen wie gesellschaftlichen Praxis jeder nachhaltigen Berücksichtigung ökologischer Zusammenhänge im Weg steht. Positiv schafft er mit seiner modernen Variation alteuropäischer Hybris-Kritik die Voraussetzung für diejenigen umfassenderen Perspektiven, ohne welche die Übernahme ökologischer, kosmischer Verantwortung nicht möglich ist. Seine Entgegensetzung des „Übermenschen" oder der „neuen Aristokratie" gegen die Übergesellschaft der globalen Herde wird in seiner Spätphilosophie zu einem Plädoyer dafür, daß ein anderer Menschentyp als die gegenwärtigen Groß- und Klein-Macher, die „alle Sektoren der Sicherung der Vernutzung des Seienden übersehen" (wie Heidegger sagt19), daß also etwas anderes als der Typ Manager im weiten Sinne das Geschehen bestimme. Dessen Erhebung über die Natur als Menge der benutzbaren und vernutzbaren Dinge ist im einzelnen clever, im ganzen blind. Nun gibt es zwar nach Nietzsche keinen reinen Geist, der über dem Geschiebe der Machtwillen stünde, aber es gibt die nicht immer vergebliche Bemühung um die umfassendere Perspektive. Nietzsches Plädoyer für eine neue, leiblich-geistige Aristokratie hat die Möglichkeit der umfassenderen Perspektive zur Voraussetzung und damit die Möglichkeit eines Machtwillens, der umfassender interpretiert und damit auch in der ökologischen Hinsicht und Rücksicht auf die vernutzbaren Dinge weniger blind ist als der zweifellos mächtige Machtwillen der „autonomen Herde". Nietzsche wäre wohl einverstanden mit dem Satz eines kürzlich verstorbenen Autors verwandten Geistes, nämlich des Kolumbianers Gómez Dávila: Der Satz lautet: -

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18 Martin

Heidegger, Vorträge und Aufsätze, 179 in einem Aufsatz mit dem Titel „Das Ding"; vgl. Martin Heidegger, Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen, Tübingen 1962; vgl. (ohne Erwähnung Heideggers und Nietzsches) Michael Landmann, „Die Dinge", in: Das Ende des Individuums, Stuttgart 1971, 215-222. Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze, 94. -

19

Reinhart Maurer

484

„Der moderne Mensch behandelt das Universum wie ein Wahnsinniger einen Idioten".20 Ist so zu urteilen und sich vom modernen Menschentum abzusetzen nur wiederum diesmal einiger Philosophen?

Hybris,

ökologisch brauchbare Fundamentalphilosophie und deren gesellschaftskritische Bedeutung

VI. Nietzsches

Nietzsche ist nicht harmlos. Er ist politisch sehr inkorrekt. Er schlachtet fast alle unsere heiligen Kühe. Er ist die vielleicht radikalste In-Frage-Stellung der weltanschaulichen Generallinie der Moderne und zwar dadurch, daß er sie bis zu ihren bittersten Konsequenzen fortschreiten läßt. Er treibt den modernen Subjektivismus, die „Metaphysik der Subjektivität" (Heidegger), so auf die Spitze, daß diese abbricht. Jede an sich sein sollende Einheit, Subjekt wie Ding, wird aufgelöst, vor allem das sich über alles stellende Subjekt Mensch (als Gesellschaft) löst sich selbst objektivierend und subjektivierend auf.

„Das Bild des Freigeistes ist unvollendet im vorigen Jahrhundert geblieben: sie negierten zu

wenig und behielten sich übrig",

notiert der jüngere Nietzsche (KSA 8, 295). Doch übrig bleibt beim späteren Nietzsche nicht nichts, sondern Subjekte und Dinge als relative, komplexe, temporäre Einheiten von interpretierenden Machtwillen, denen nach Maßgabe einer aristokratischen, kosmischen Rangordnung Gerechtigkeit und Liebe gebührt. Zur totalen Auflösung jeder Einheit21 tendiert nach Nietzsche vielmehr moderne Wissenschaft als das die Welt interpretierende Machtmittel der Gesellschaft. Alles muß verflüssigt, vernutzt, vernichtet werden zum Zwecke der Befriedigung losgelassener Massenbedürfhisse, die aber selber ganz flüssig sind. Das ist die Tendenz zum Nichts, und Nietzsche schaut immer wieder in diesen Abgrund des Nihilismus, setzt sich ihm aus mit der Gefahr der Selbstvernichtung. Biographisch ist er in diesen Abgrund gestürzt, einmal abgesehen von eher zu20 Nicolás Gómez Dávila, Einsamkeiten, aus dem Spanischen, Wien 1987, 135. 21 Die interessantesten Gegenwartsdiagnosen sind auf dem derzeitigen Meinungsmarkt nicht präsent, weil die rosa Generallinie des Liberalismus neuere Abweichungen von ihr nicht zuläßt, nur- gewissermaßen zähneknirschend die älteren, schon „klassisch" gewordenen, also etwa Nietzsche. Nicht oder kaum präsent ist so neben Gómez Dávila das Buch Die Auflösung aller Dinge von Hans-Dietrich Sander (München o.J./l 988?). Darin geht es um den hinter der Nachkriegswohlstandsfassade weiterfressenden Nihilismus der modernen ubiquitären Gesellschaft. Obwohl aber Sander betont, intellektuelle Juden seien nur die Sekundär-Meister der Auflösung, nähert er sich doch der „antisemitischen" Überschätzung der Rolle der Juden in der Geschichte, zumal der neueren (der Grundfehler des Antisemitismus, siehe Hitler). Ein Primär-Meister der Auflösung aller Dinge ist dagegen Nietzsche (von Sander nur kurz gewürdigt) Nietzsche als Diagnostiker unserer Zeit. Gerade er bemüht sich aber auch um die Therapie, macht so die Überwindung des Nihilismus zu seinem zunächst nicht ausführbaren Programm. Dabei hofft er durchaus auf eine Zukunft, wo es ausführbar wird. Positive Ansätze liegen in seiner keineswegs bloß auflösenden Theorie der interpretierenden, einheitsbildenden Machtwillen. -

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Nietzsche ökologisch?

485

fälligen Umständen. Doch sein erklärtes Ziel war: Überwindung des Nihilismus. Dabei sucht offenbar in Richtung einer modifizierten Einheitshypothese: Einheit auf flexibilisierte, dynamisierte, temporalisierte, pluralisierte Art: als stabil-instabile Synthese auf Zeit, womöglich auch lange Zeit. So heißt es in Jenseits von Gut und Böse: er

,Aber der Weg zu neuen Fassungen und Verfeinerungen der Seelen-Hypothese steht offen: und Begriffe wie .sterbliche Seele' und ,Seele als Subjekt-Vielheit' und ,Seele als Gesell-

schaftsbau der Triebe und Affekte' wollen fürderhin in der Wissenschaft haben" (JGB, Nr. 12).

Bürgerrecht

Und in zwei Nachlaßtexten:

„Alle Einheit ist nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit: nicht anders als wie ein menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist: also Gegensatz der atomistischen Anarchie; somit ein Herrschafts-Gebilde, das Eins [der platonische Grundbegriff des hén, der Eins Anm.d.A.] bedeutet [per Interpretation], aber nicht ist" (KSA 12, 104). „[...] es bedarf der Gegensätze, der Widerstände, also, relativ, der übergreifenden Ein-

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heiten"

(KSA 13,260).

Das heißt: die Willen zur Macht schaffen in ihrem Gegeneinander nicht bloß Chaos, sondern immer auch Ordnung. Es gelingt ihnen immer wieder, andere Machtwillen in ihre Richtung zu bewegen. Es kommt zur „Organisation", ein Begriff, der bei Nietzsche oftmals in diesem Zusammenhang auftaucht und bei dem man weniger an den heutigen sozialtechnischen Begriff der Organisation denken muß und mehr an ein politisches oder institutionelles Gebilde sowie an Organ, organisch, an das Zusammenspiel der Organe im Leib. Darum ja Nietzsches programmatische Rede vom Leib als „Leitfaden", die mehrfach vorkommt. Mit dem organischen Leib, den die deutsche Sprache als etwas Besonderes vom allgemeinen Begriff Körper unterscheidet, haben wir das Phänomen einer komplexen, dinglichen Organisation einer Vielheit zur Einheit nicht bloß vor, sondern auch an uns. Wir sind immer auch das Ding Leib und hängen durch ihn mit allen anderen Dingen zusammen kosmisch. Um Einheit als Organisation, mit anderen Worten: als Fließgleichgewicht miteinander vernetztet Fließgleichgewichte (konkreter: von sich entwickelnden Organismen in Wechselwirkung mit ihrer Umwelt), geht es jedoch auch in der Ökologie. Nietzsches Fundamentalphilosophie der interpretierenden Machtwillen ein freilich sehr bewegtes „Fundament" kann daher durchaus als Ansatz einer ökologischen Theorie des Zusammenhangs von Mensch, Gesellschaft, Welt gelten, und zwar als eine dialektische, Entwicklung durch Gegensätze annehmende Theorie. Denn die beweglichen Einheiten, als welche die Machtwillen sich darstellen, zerfließen nicht anarchisch, chaotisch, postmodern in jede Richtung, sondern fließen in eine bestimmte, und eben darin besteht ihre Einheitlichkeit und Einseitigkeit. Dabei haben sie als komplexe Synthesen in ihrem immanenten Pluralismus Gegensätze in sich und haben in ihrer Vielheit, in ihrem externen Pluralismus, Gegensätze um sich. Diese Gegensätze werden früher oder später einheitssprengend akut so auch der Gegensatz zur technologischen Erdzivilisation in ihrer heutigen Form der „autonomen Herde". Nietzsche arbeitet an diesem Gegensatz. In seiner kritischen Philosophie zeigt sich, wo er aufbrechen könnte: Die moderne Weltanschauung ist gespalten zwischen wissenschaftlicher Relativierung des Menschen und seiner moralistischen Absolutierung. Der Mensch selber wird gespalten in Trieb- und Bedürfnis-Natur einerseits und abstrakte Rationalität und Moralität -

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Reinhart Maurer

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andererseits. Aus dieser unmenschlichen, dem wirklichen Menschen in seiner leib-seelischdinglichen Einheit nicht gerecht werdenden Aufspaltung des „Atoms" Individuum (es ist tatsächlich so wenig Atom Unteilbares wie das physikalische) gewinnt die moderne Gesellschaft ihre über-mäßige, hybride Expansionsenergie. Der Weg einer Dissoziation des relativ einheitlichen Machtwillens der modernen Erdgesellschaft ist damit vorgezeichnet. Dieser Wille zur Macht steht nicht über allen anderen, moralisch absolut gerechtfertigt, sondern ist Teil sowohl ihres chaotischen Geschiebes wie ihrer ordnenden Organisation und täte gut daran, beide Tendenzen in ihrem Gegen- und Miteinander möglichst umfassend zu inter=

mit praktischen Konsequenzen. Wenn Nietzsche in diesem Zusammenhang zu Liebe und Gerechtigkeit gegen die Dinge auffordert, so liegt dem zweierlei zugrunde: 1. Die Anerkennung der Tatsache, daß die Wirklichkeit als „Strudel von Kräften" immer auch bestimmte, organisierende, einheitsbildende Kräfte, „Willen zur Macht" enthält; 2. Das Staunen darüber, daß es in dem Chaos überhaupt Einheiten gibt, die sich mehr oder weniger lange durchhalten. Und zu solchen Einheiten gehören am sinnfälligsten relativ verläßliche, nahe Dinge, von denen der eigene Leib uns von Natur am nächsten steht (womöglich auch andere Leiber). In dieser Nähe sucht Nietzsches Philosophie nach ihrem experimentellen Aufbruch in den Ozean unendlicher Perspektivik alt-neues Land auf daß wir werden, „was wir noch nicht sind: gute Nachbarn der nächsten Dinge" (KSA 8, 588; vgl. MA II, KSA 2, 551; 702 f.). Ist das eine haltlose Utopie angesichts zunehmender Mobilität und Globalität sowie wissenschaftlicher, technischer, gesellschaftlicher Abstraktheit? Wahrscheinlich Utopie. Wahrscheinlich letzte Rettung vor der Eschatologie des „letzten Menschen".

pretieren

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SlGRIDUR THORGEIRSDOTTIR

Die Kritik essentialistischer Bilder der Frauen in Nietzsches Spätphilosophie und ihre Bedeutung fur philosophische Theorien der Geschlechterdifferenz „Nietzsche und die Frauen". Schon seit den Anfangen der Nietzsche-Rezeption ist dies ein schwieriges Feld gewesen. Über diesem Feld schwebte immer die dunkle Wolke des Vor-

wurfes des Frauenhasses. Waren doch Nietzsches Sprüche und Aphorismen zu den Frauen fast ausschließlich der Tradition der Misogynie zugeordnet. Und das mit Recht, da ein gehöriger Teil von Nietzsches Äußerungen über Frauen, wie etwa die Aphorismen 232-239 in Jenseits von Gut und Böse, sich getreu an Hauptgedanken jenes verbissensten Manifests der Frauenfeindlichkeit des 19. Jahrhunderts hielten, Schopenhauers berühmt-berüchtigtes „Über die Weiber".1 Ausnahmen von der völligen Zuordnung von Nietzsches Philosophie zur Tradition der Misogynie gab es aber bereits um die Jahrhundertwende als die Hauptlehren seiner Philosophie von deutschen Feministinnen für ihr Emanzipationsprojekt entdeckt und interpretiert wurden.2 Dieser Strang der Rezeptionsgeschichte wird aber von einer von der feministischen Kritik beeinflußten Lesart der Philosophie Nietzsches in der Gegenwart nicht weitergeführt, obwohl das emanzipatorische Anliegen sicherlich weiterhin geteilt wird. Für die heutige Diskussion innerhalb der feministischen Philosophie, die unter der Rubrik „Theorien der Geschlechterdifferenz" geführt wird, ist Nietzsches Philosophie der Frauen von eminenter Bedeutung, und zwar aus dem folgenden Grund: Nietzsches Kritik essentialistischer Begriffe der Frauen und der Geschlechterdifferenz wird als grundlegend für jegliche philosophische Kritik von Wesensbestimmungen der Geschlechter essentialistischer oder ontologischer Art angesehen. Zu diesem Ruhm hat vor allem Derridas Schrift „Sporen Die Stile Nietzsches" verholfen.3 Auf Derridas, im Rahmen der Dekonstruktion, Weiterentwicklung der Nietzscheschen Kritik essentialistischer Bestimmungen des Geschlechterunterschieds, beziehen sich Kritikerinnen traditioneller Geschlechterkonzeptionen, wie etwa Judith Butler, die mit ihrem Buch Das Unbehagen der Geschlechter die bedeutendste Theorie der letzten Jahre für die Debatte um die Geschlechterdifferenz vorgelegt hat.4 Nietzsches Kritik dualistischer und essentialistischer Begriffe der Geschlechterdifferenz ist aber nur ein Teil seiner janusköpfigen Philosophie der Frauen. Grundsätzlich gilt nämlich -

1 Arthur Schopenhauer, „Über die Weiber", in: Parerga und Paralipomena, Werke 5, Zürich 1988, 527-535. 2 Carol Dieth, „Nietzsche and the Feministis", in: Nietzsche's Women: Beyond the Whip, Berlin 1996, 137-165; Teresa Wobbe, Gleichheit und Differenz. Politische Strategien von Frauenrechtlerinnen um die Jahrhundertwende, Frankfurt a.M. 1989. 3 Jacques Derrida, „Sporen Die Stile Nietzsches", in: Werner Hamacher (Hg), Nietzsche aus Frankreich, Frankfurt a.M. 1986, 129-164 4 Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991. -

Sigridur Thorgeirsdottir

488

für seine Philosophie der Frauen, daß sie ein grundlegender Widerspruch durchzieht. Einerseits enthält seine Philosophie der Frauen Überlegungen zur Bestimmung des geschlechtlichen Wesens der Frauen, die traditionellen, essentialistischen Theorien der Gechlechterdifferenz beipflichten. Solche Theorien haben ihre grundlegende Gestalt in der Aristotelischen Theorie der biologischen Geschlechtermerkmale und der sozio-politischen, moralischen und kognitiven Unterschieds der Geschlechter, die die überlieferte geschlechtsspezifische Rollenverteilung rechtfertigen.5 Das Aristotelische Erbe hat nicht nur die Geschlechterdogmen der katholischen Philosophie des Mittelalters geprägt, sondern lebt fort in unterschiedlich modifizierten Formen in Geschlechtertheorien, die biologische und sozio-kultarelle Wesensbestimmungen der Geschlechter festschreiben, die wiederum in einer dualistischen Ontologie der Geschlechteropposition begründet sind. Diese Traditionsgebundenheit gilt für die Konzeptionen der Gechlechterdifferenz in den Theorien Rousseaus, Kants, Hegels und Schopenhauers, um nur einige zu nennen. Der Vorwurf der Misogynie, der an die Adresse Nietzsches gerichtet wird, basiert vor allem auf seiner Verbundenheit mit solchen Theorien, und er bekennt sich auch dazu, wenn er behauptet eine Psychologie des „Ewig-Weiblichen" zu

schreiben (EH, KSA 6, 305). Der Theorie des Ewig-Weiblichen steht aber, wie gesagt, eine dieser widersprechende Theorie gegenüber, die besagt, daß es keine festgelegten Wesensmerkmale des Menschen geben könne, also eine anti-essentialistische Auffassung des Menschen, die jeglichem „EwigWeiblichen" absagt. Die neueren konstruktivistischen Theorien der Geschlechterdifferenz, wie diejenigen von Derrida und Butler, haben ihre Grundlage in diesem Strang der Nietzscheschen Philosophie der Geschlechterdifferenz. Im folgenden werde ich in einem ersten Schritt Nietzsches nicht nur widersprüchliche, sondern, genauer gesprochen, mannigfaltige Theorie der Bestimmung der Frauen nachgehen. Bei diesen Erörterungen liegt der Hauptakzent auf Nietzsches Kritik metaphysischer Wahrheitsbegriffe Platonischer Prägung. Der Grund dafür ist, daß der Ausgangspunkt von Nietzsches Destruktion metaphysischer Wahrheitsbegriffe seine Kritik ontologischer Geschlechterdualismen ist. Die binäre Opposition der Geschlechterdifferenz wird in Nietzsches Spätphilosophie als Grundlage metaphysischer Dualitäten, vornehmlich von Wahrheit und Lüge, Vernunft und Leiblichkeit angesehen. In einem zweiten Schritt soll dann dargelegt werden, wie Derrida Nietzsches Kritik der Wahrheit fortführt mit seiner Theorie einer „Nicht-Wahrheit der Wahrheit".6 Dabei soll besonders untersucht werden, wie er im Zusammenhang seiner Dekonstruktion metaphysischer Wahrheitsideale Nietzsches Theorie der Geschlechterdifferenz anwendet. Sowohl Nietzches Programm einer Auflösung metaphysischer Denkschemen wie Derridas Theorie der „Nicht-Wahrheit der Wahrheit" anhand der Metaphern der Frauen gehören in das Programm einer Überwindung der Metaphysik. Der Vergleich dieser beiden Versuche der Metaphysik-Überwindung, die im Falle Derridas sich teilweise auf Heideggers Seinsphilosophie und die sich daraus ableitende sogenannte „Verwundung der Metaphysik" bezieht, soll sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede in Nietzsches und Derridas Stellung zur Metaphysik deutlich machen. Die übergreifende Frage, die sich an Nietzsches und Derridas Auseinandersetzungen mit der Tradition metaphysischer Wahrheitsbegriffe entzündet, ist, ob ihre Kritik der Wahrheit

Susan Moller Okin, „Aristotle: Woman's Place and Nature in Political Thought, Princeton 1979, 73-96. 6 Jacques Derrida, „Sporen", 135. 5

a

Functionalist World, in: Women in Western

Die Kritik essentialistischer Bilder

489

dazu führt, beide Denker dem Vorwurf des Irrationalismus mit Recht aussetzten. Exemplarisch für eine solche Kritik beider Denker gilt Habermas' Bewertung ihrer Philosophie im Rahmen der in den achtziger Jahren geführten Debatte um die sogenannte postmoderne Philosophie. Habermas hat bekanntlich Nietzsche zur maßgeblichen Instanz erhoben, von der die postmoderne Philosophie, zu der er auch Derridas Philosophie zuordnet, ausgeht.7 Damit hat allerdings Habermas Recht, insofern Nietzsches Kritik metaphysischer Wahrheitsbegriffe grundlegend für die postmoderne Kritik von Wahrheitsbegriffen, die Allgemeingültigkeit beanspruchen, ist. Es gilt nun zu sehen, wie Nietzsche mit seiner Destruktion essentialistischer Geschlechterdualitäten den Boden bereitet für diese Kritik, die Denker wie Derrida, der ungern als ein postmoderner Philosoph bezeichnet wird, aufgegriffen und weiterverarbeitet haben. Erst nach dieser Erörterung läßt sich klären, inwiefern die Nietzschesche Wahrheitskritik dem Verdacht des Irrationalismus anheimfallt. Bei der folgenden Thematisierung der Nietzscheschen Wahrheitskritik, die von Frauenmetaphern ausgeht, werde ich zu zeigen versuchen, daß Nietzsches Philosophie in einem Spannungsverhältnis zwischen der Destruktion philosophischer Wahrheitsbegriffe und einer philosophischen Aufklärung, die von der Wahrheitssuche, dem „Willen zur Wahrheit" getrieben wird, steht. Gerade dieses Spannungsverhältnis wird besonders deutlich in seiner Philosophie der Frauen.

I. Die

widersprüchlichen Frauenbilder

Ehe auf Nietzsches Verwendung von Frauen-Metaphern in seiner Wahrheitskritik und in seiner „Physiologie der Kunst", wie er seine späte Theorie des künstlerischen Ausdrucks betitelt hat, eingegangen wird, sind wenige Bemerkungen allgemeiner Art zu seinen widersprüchlichen Frauenbildern am Platz. Bei den essentialistischen Charakterisierungen der Geschlechter greift Nietzsche zurück auf überlieferte, dualistische Ideen zur Differenz der Geschlechter. Bemerkenswert an Nietzsches Verwendung traditioneller Geschlechter-Klischees ist aber, daß Männer und Frauen häufig gleich schlecht wegkommen. Die Männer erscheinen gelegentlich als Rumpfsubjekte, die den

7

Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 1986. Gegen die postmoderne Philosophie formuliert Habermas erneut den seines Erachtens prinzipiell noch unabgegoltenen, weil nur partiell bereits erfüllten Anspruch der Moderne auf die Verwirklichung menschlicher Emanzipation. Da dieser Anspruch im Rahmen einer Theorie des kommunikativen Handelns reformuliert wird und deshalb kritische Vernunft als

„reflexiv gewordenes kommunikatives Handeln" als Diskurs verstanden wird, reduziert sich der von Habermas geltend gemachte Emanzipationsanspruch nicht auf „subjektive Autonomie" wie es in der individualistischen Philosophie Nietzsches der Fall ist-, d. i. auf eine Stabilisierung und Erweiterung individueller Freiheitsspielräume. Dieser zielt vorrangig, in fundierender Weise, auf „intersubjektive Autonomie", d. i. auf die Intersubjektivität einer nicht durch Machtverhältnisse verzerrten Verständigungspraxis. Damit ist aber die Weiterftlhrung eines rationalen Diskurses impliziert, der an universellen Geltungs- und Begründungsansprüchen i. S. des traditionellen kriterialen Wahrheitsbegriffs festhält, freilich in Form einer neuen universalpragmatisch fundierten konsenstheoretischen Interpretation. Von Habermas' Standpunkt aus liegt es nahe, Nietzsches Begriff des Dionysischen als bloße Chiffre für die Entfesselung einer Subjektivität zu deuten, die nur eine vollständige Zerstörung der Vernunft zum Resultat haben könne Dieser Ansatz wird, so Habermas, in Derridas Denken fortgeführt, wobei es zu einer neuen Mischung von Mystik und Aufklärung kommt mit den Mitteln eines „negativen Fundamentalismus", der Derridas Philosophie kennzeichnet. Ebd., 218. -

Sigridur Thorgeirsdottir

490 Frauen nie das Wasser reichen können

was

Klugheit und List angeht. Die Frauen wiederum zu sein, und deren eigentliche

taugen manchmal bloß dazu, Gehilfinnen des Mannes

ist auf das Kinderkriegen reduziert. Auf der anderen Seite stehen idealisierte Bilder der Geschlechter, etwa des kriegerischen Mannes und der klugen Skeptikerin. Die idealisierten Geschlechterbilder sind zurechtgemachte, stilisierte Bilder, die Nietzsche für heuristische und polemische Zwecke verwendet. Die essentialistischen Bilder, die überlieferten Geschlechterbestimmungen beipflichten, haben über die mysogonistischen Töne hinaus auch eine stilisierte Dimension. Nietzsches Kennzeichnung seiner Philosophie des „Ewig-Weiblichen" enthält als Anspielung auf essentialistische Denkweisen eine ironische Note. Nietzsche betont ja immer wieder, daß seine Lehren seine Wahrheiten, nämlich seine Interpretationen sind (JGB, KSA 5, 37). Die Ontologisierung der Geschlechterdifferenzen wird letzten Endes von Nietzsches grundlegender These der Interpretativität untergraben, die aussagt, daß jegliche Typifizierung der Geschlechterdifferenz kein Faktum, sondern eine Interpretation darstelle. Nun heißt dies aber nicht, daß Nietzsches Frauenbildern die verbissenen, antifeministischen Züge abgesprochen werden können. Dagegen spricht u. a. Nietzsches Verurteilung der emanzipierten Frauen seiner Zeit. Er ist genauso wenig sensibilisiert für den Kampf der Frauen für gleiche Rechte wie er es für den Anspruch der Arbeiter nach mehr Rechten gewesen ist, den er als Fürsprecher hierarchischer Gesellschaftsstrukturen für eine gesellschaftsdynamische Verflachung und geschichtliche Fehlentwicklung hält. Seine Kritik der Feministinnen zielt weniger auf die politischen und gesellschaftlichen Dimensionen ihrer Befreiungsbemühungen. Nietzsches Haupteinwand gegen die Frauenrechtlerinnen des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist die Angleichung an das Männliche, die diese, seines Erachtens, bewußt oder unbewußt anstreben. So meint er, daß die Frauenrechtlerinnen Dummheiten nachahmen, an denen der Mann in Europa krankt. Eine Angleichung laufe daher zwangsweise auf eine Verleugnung wesentlicher Aspekte des Weiblichen hinaus, die er gerade als zukunftsträchtig für die Erneuerung einer steril gewordenen, männlichen Vernunft, in der weibliche Elemente unterdrückt worden sind, hält. Nietzsches späte Kritik der abendländischen Rationalität geht aus von seiner Konstruktion einer Geschlechterdichotomie, in der die Frau zum Symbol für das Leibliche und Emotive gemacht wird und der Mann zum Symbol für eine entsinnlichte Denkweise. Nietzsche reduziert aber dabei die Frau nicht auf dieses „Andere der Vernunft". Zu diesem Bild der Frau gehört etwa auch eine Unbefangenheit dem männlichen Wahrheitspathos gegenüber, und bei älteren Frauen bewundert Nietzsche eine skeptische Einstellung, die s. E. dem aufklärerischen Philosophen unentbehrlich sein sollte. Wenn nun Nietzsche in seiner Rationalitätskritik traditionellen Geschlechterbestimmungen verpflichtet ist, dann transzendiert er die überlieferte Dichotomie, indem er eine Synthese von angeblich männlichen und weiblichen Elementen als sein Ideal einer gesünderen Art der Vernunft deklariert. Die „kleine Vernunft" des Geistes soll zu einer „großen Vernunft" des Leibes werden (ZA, KSA 4, 39 f.). Der dionysische Künstler der Zukunft soll die Verkörperung der großen Vernunft sein. Als solcher soll er im Prinzip die Verkörperung des Zusammenspiels weiblicher und männlicher Eigenschaften, so wie Nietzsche diese auslegt, sein. Die Frage ist, ob dieser Widerspruch zu einem Auseinanderfallen oder Zerfall dieser Gestalt oder zu einer gelungenen Synthese einer aus dem Widerspruch entstehenden Schaffenskraft führt. Mit dieser Frage ringt Nietzsche in seinen späten Ausführungen zum Künstler-Philosophen der Zukunft.

Bestimmung

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Die Kritik essentialistischer Bilder

491

II. Die Frau als Wahrheit Es ist nun deutlich

geworden, daß das gespannte Verhältnis zwischen philosophischen Aufklärungsabsichten, auf der Grundlage rationaler und wissenschaftlich fundierter Argumente, und der Kritik des Wahrheitsanspruchs der Philosophie sich im Rahmen der Spätphilosophie als die Spannung zwischen Philosophie und Kunst darstellt. In der letzten Phase seines philosophischen Schaffens gelangt Nietzsche zu der Einsicht, daß die Kunst und nicht die Philosophie die höchste menschliche Schaffensform sei. Die Künstler der Zukunft sollen KünstlerPhilosophen sein, die künstlerische Schaffenskraft, philosophische Erkenntnissuche und Auf-

klärungswillen vereinbaren sollen. Die hegemoniale Stellung in der Reihe der Schaffens- und Erkenntnisformen, die Nietzsche der Kunst zuspricht, ist Folge seiner Auseinandersetzung mit der Triebkraft des Philosophierens, dem Willen zur Wahrheit. Nietzsche kehrt in seiner reifen Philosophie zu seiner

früheren Einsicht zurück, die Kunst sei „mehr Wert [...] als die Wahrheit" (NF, Mai-Juni 1888, 17 [13], KSA 13, 522). In seinen Überlegungen zur philosophischen und zur künstlerischen Wahrheit setzt er verschiedene Frauenbilder metaphorisch ein, um einerseits metaphysisch begründete Wahrheitsbegriffe zu kritisieren und andererseits das philosophischkünstlerische Wahrheitsgeschehen zu verdeutlichen. Bis auf Derridas Interpretation der Nietzscheschen Destruktion metaphysischer Wahrheitsbegriffe am Leitfaden der Frage nach der Frau haben sich wenige Interpreten mit den Frauenbildern Nietzsches im Zusammenhang der Wahrheitsproblematik ausführlich auseinandergesetzt. Dies gilt insbesondere für eine Figur aus der altgriechischen Mythologie namens Baubo, mit der Nietzsche sowohl die Grundzüge seines dionysischen Lebensbegriffs wie auch die Aufhebung eines dualistischen Wahrheitsmodells darzulegen versucht hat.8 In seiner Thematisieung der Frau als „Nicht-Wahrheit der Wahrheit" übersieht Derrida oder läßt zumindest unerwähnt, daß Nietzsche mit der Figur der Baubo sowohl das künstlerische Wahrheitsgeschehen als auch seinen dionysischen Lebensbegriff versinnbildlicht. Der Begriff des Lebens als Frau gibt dennoch keine metaphysische Konstruktion ab, da dieser Begriff zugleich

Unmöglichkeit der Wahrheitsbegründung, die allgemeingültige Wahrheitsansprüche begründen könnte, bezeichnen soll. Dennoch stellt die Figur der Baubo nochmals das Spannungsverhältnis zwischen Philosophie und Kunst dar, diesmal unter dem Vorzeichen einer dionysischen, d. h. philosophischen Wahrheit und zugleich die Absage an metaphysische Wahrheiten über die Grundprinzipien der Ganzheit des Lebens. Wenn der Philosoph der Zukunft dionysischer und künstlerischer werden soll, muß er sich vom philosophischen Wahrheitswillen verabschieden. Die Wahrheitssuche des Philosophen, so wie Nietzsche sie in den Werken der mittleren Phase seines philosophischen Schaffens beschrieben und selbst erlebt hat, wird von einem Pathos getrieben, das doch letztendlich von einem Willen zur Wahrheit, der seit Sokrates das Denken abendländischer Philosophen geprägt hat, getrieben wird. Wenn die Philosophen aus dem Bannkreis moralischen Denkens herauskommen möchten, um damit dem Nihilismus entgegenzuwirken, müssen sie den Wahrheitswillen durchschauen. In der Vorrede der Fröhlichen Wissenschaft beschreibt Nietzsche das Scheitern der philosophischen Wahrhaftigkeit mit den folgenden Worten: „[...] dieser Wille zur Wahrheit, zur Wahrheit um jeden Preis' [...] ist uns verleidet. [...] Wir glauben nicht die

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8

Sarah Kofman

geht kurz auf Baubo ein

in ihrem Buch Nietzsche et la scène philosophique, Paris 1986

Sigridur Thorgeirsdottir

492

mehr daran, dass Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht" (FW, KSA 3, 352). Demzufolge müssen die Philosophen der Zukunft, wie sie Nietzsche sich vorstellt, im Bewußtsein davon leben, daß angebliche „Wahrheiten" nur Illusionen sind und daß der „Wille zur Lüge", der ein „Wille zur Kunst" ist, dem Willen zur Wahrheit zugrundeliegt. Nietzsches Kritik wendet sich in der Hauptsache gegen metaphysische Begründungen der Wahrheit so wie sie in Theorien Platonischer Prägung maßgeblich sind. Auf Grund seines praktischen Bezuges zur Wahrheit, wonach sie nach Wert oder Unwert gemessen wird, wendet sich Nietzsche von der langen Geschichte der theoretischen Frage nach der Wahrheit von Aussagen ab. Seine Kritik gilt metaphysischen oder, wie er meint, dogmatischen Wahrheitsbegriffen. In Anbetracht dessen macht er sich lustig über die Philosophen, die daran glauben, allgemeinverbindliche Wahrheiten metaphysischen Zuschnitts finden zu können:

„Vorausgesetzt, dass die Wahrheit ein Weib ist wie? ist der Verdacht nicht gegründet, dass alle Philosophen, sofern sie Dogmatiker waren, sich schlecht auf Weiber verstanden? dass der schauerliche Ernst, die linkische Zudringlichkeit, mit der sie bisher auf die Wahrheit zuzugehen pflegten, ungeschickte und unschickliche Mittel waren, um gerade ein Frauenzimmer für sich einzunehmen? Gewiss ist, dass sie sich nicht hat einnehmen lassen" (JGB, KSA 5, 11). -

Obwohl Nietzsche eine metaphysische Begründbarkeit der Wahrheit ablehnt, kennzeichnet er hier nichtsdestoweniger die Wahrheit als etwas, nämlich als Frau. Die Wahrheit ist dieser Passage zufolge eine Frau, die sich nicht vereinnahmen läßt. Diese Kennzeichnung bedeutet folglich die Destruktion einer grundlegenden Gestalt der Wahrheit und die weitere Bejahung des illusorischen und interpretativen Charakters aller Festlegungen. Die Frau als Wahrheit gibt das Bild der Unmöglichkeit einer begründbaren Wahrheit metaphysischer Art. Den hypostatischen Charakter seiner Grundeinsichten betonend, schreibt Nietzsche: „Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehn zu lassen? Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden, Baubo?" (NW, KSA 6, 439) Wer ist Baubo, und wie symbolisiert sie Nietzsches Thesen zur Wahrheit? Baubo stellt eine späte Auslegung des zentralen Begriffs dieser Philosophie, nämlich des Dionysischen dar. In der Beschreibung von Baubo wiederholen sich nicht nur die Hauptzüge des Dionysischen, der ewige Kreislauf von Entstehen und Vergehen, der zugleich die Hauptlehren von dem ewigen Wiederkehr des Gleichen und des Willens zur Macht versinnbildlicht. Mit Baubo versucht Nietzsche darüber hinaus der wieder neu gewonnenen Spitzenstellung der Kunst in seiner

Philosophie Rechnung zu tragen. Mit dem Begriff der Kunst ist nicht Kunst im engeren Sinne gemeint, sondern Kunst ist in diesem Denken der Sammelbegriff für alle schöpferische Tätigkeiten des Menschen, die von der individuellen Lebensgestaltung, über das Philosophieren und bis hin zu naturwissenschaftlichen Entdeckungen reichen können. Die Kunst hat Nietzsche zufolge die hegemoniale Stellung innerhalb der Hierarchie der Erkenntaisformen, insofern durch sie sinnliche und leibliche Komponenten im kognitiven und interpretativen Verhalten zur Geltung kommen. Die Kunst wird folglich als „Ausdruck des Leibes" definiert. Als Ausdruck der „großen Vernunft" besteht die künstlerische Tätigkeit (welcher Art auch immer) darin, das Schaffen von „Wahrheiten" hervorzubringen, die dem Leben förderlich sein können. Die Absage an eine metaphysische Wahrheitsbegründung bedeutet, daß Nietzsche keine inhaltlichen Bestimmungen über die Kunst der Zukunft machen kann. Er kann lediglich Aussagen darüber

machen, auf welche Weise die Kunst dem Leben dienlich sein kann als

Die Kritik essentialistischer Bilder

493

Perspektivenumstellung, die eine veränderte Sicht auf das Leben hervorbringen kann. Dafür zieht er Baubo aus seiner Galerie antiker Gestalten hervor, die eine Weltsicht repräsentiert, die vor der Verfallsgeschichte, die s. E. mit dem Piatonismus und dem Christentum einsetzte,

existierte. Die Mythen des tragischen Zeitalters offenbaren nach Nietzsche eine Lebenseinstellung, die lebensbejahender ist als die christlich eschatologische Weltanschauung. Darüber hinaus meint Nietzsche an die antike Tradition anzuknüpfen zu müssen, um die Leibund Sinnenfeindlichkeit des abendländischen Denkens zu überwinden, die in der SokratischPlatonischen Verleumdung des Affektiven und Leiblichen begründet wird. Wie die Geschichte des Dionysos, handelt auch die Erzählung über Baubo vom Zusammenspiel von Leben und Tod. Baubo tritt auf in der Geschichte von Demeter (der Mutter Erde), als diese um ihre entführte Tochter trauert. Demeter lehnt allen Trost ab und verweigert Speise und Trank. Doch Baubo, die Dienstmagd, wußte, wie sie Demeter erheitern konnte, und bewegte sie mit spöttischen Scherzen zum Lachen und auch zum Trinken und Essen. Nachdem Baubo gesprochen hat, so wird weiter berichtet, „hob sie ihren Peplos [d. h. ihr Kleid], und zeigte, was an ihrem Körper am obszönsten war: das Kind [Dionysos], das dort war, lachte und bewegte mit der Hand [...] unter Baubos Schoß", und daraufhin „lächelte Demeter in ihrem Herzen".9 Baubo tröstet und erheitert Demeter mit dieser Geste, da sie für sie eine Anspielung auf ihre Fähigkeit zur Fortpflanzung ist. Die Gebärde enthält dadurch das Versprechen, daß Demeters verlorene Tochter, die jeden Winter im Land der Toten weilte, ihr wiedergeboren werde. Jedes Frühjahr erscheint sie wieder aus dem Schoß der Erde. In der frühen Tragödientheorie überträgt Nietzsche diese Geschichte in seine Philosophie der Kunst, und behauptet, es sei das Wesen der tragischen Kunst, die Endlichkeit des Menschen und das ewig wiederkehrende Leben zu demonstrieren. Die Kunst sei dementsprechend zu vergleichen mit dem „Hoffhungsglanz auf dem ewig trauernden Antlitz der Demeter" (NF, Ende 1870-April 1871, 7 [123], KSA 7,179). Wenn Nietzsche dann in seiner Spätphilosophie den performativen Akt Baubos heranzieht, dann will er auch, wie in seiner frühen Kunsttheorie, eine Aussage über die Funktionsweise und das Leistungspotential von Kunst machen. Baubos Auftritt kann daher als Sinnbild für den künstlerischen Akt interpretiert werden. Nach diesen Vorlagen liegt die Vermutung nahe, daß Baubo in Nietzsches Verständnis die Wahrheit der dionysischen Wiedergeburt und damit die Wahrheit der ewigen Wiederkehr des Willensgeschehens symbolisieren solle. Wenn Baubos Akt als ein künstlerisches Urphänomen aufgefaßt wird, sieht es so aus, als ob Nietzsche der Kunst vorschreibe, sie solle grundlegende dionysische Wahrheiten vom Kreislauf des entstehenden und vergehenden Lebens ausdrücken. Es würde jedoch dem Grundzug von Nietzsches Philosophieren über die Kunst widersprechen, wenn er der Kunst auf diese Weise inhaltliche Vorgaben machen würde. Selbst wenn er seine Entwürfe zu einer zukünftigen, dionysischen Kunst in dem Bild von Baubo kulminieren läßt, indem er mit ihr die besondere Leistung der Kunst, „Wahrheiten" zu schaffen, vor Augen führt, dann heißt dies nicht, daß Kunst auf dieselbe Weise die Grundzüge des dionysischen Lebensbegriffes wiederzugeben habe. Die lebensbejahende Dimension von Baubos Akt soll vor allem auf die lebenermöglichende Funktion von Kunst hinweisen, die darin besteht, dem Menschen Perspektiven anzubieten, die zur Verständigung über das Selbst- oder Weltverhältnis des Individuums führen können. Symbolhaft dafür ist die rettende Bedeutung von Baubos Akt für die notleidende Demeter. Als eine „Wahrheit", die Demeter weiter hilft, ist 9 Anton Weiher

(Hg.), Homerische Hymnen, München/Zürich 1989,

18 f.

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494

(obwohl sie in diesem Fall die dionysische Grundwahrheit darstellt), keine allgemeingültige Wahrheit, sondern eine helfende Illusion. Eben darin besteht der besondere Wahrheitsanspruch dionysischer Kunst für Nietzsche. „Wahr" ist deshalb das, was den Lebenswillen oder den „Willen zur Macht" steigert. Wenn Baubo aber mit ihrer Entblößung die Wahrheit der ewigen Wiederkehr des Lebens sie

enthüllt, scheint ihr Akt mit der Definition der Wahrheit als einer Frau, die „Gründe hat, ihre Gründe nicht sehn zu lassen", im Widerspruch zu stehen (NW, KSA 6, 439). Wie läßt sich

dieser scheinbare Widerspruch der Verhüllung und der Entblößung Baubos erklären? Wie bereits erwähnt, läßt Nietzsche Baubo zum Sinnbild für die Unmöglichkeit einer begründbaren Wahrheit werden. Mit dieser Metapher geht folglich die Absage an die Dichotomien von Sein und Schein, Oberfläche und Tiefe, Verschleierung und Entschleierung einher. Diesem Verständnis nach dürfte die Entschleierung von Baubo kein Zeigen einer Grundgestalt der Wahrheit sein. Nietzsche sagt daher, daß in der Kunst häufig ein Rätsel aufgestellt wird, „hinter dem sich die Natur versteckt" (FW, KSA 3, 352). Nun kann diese Natur (oder das Leben) aber nicht ein für allemal mit einer Formel enträtselt werden. Das Erraten ist immer ein Interpretieren. Baubo sagt Demeter nichts mit Worten, sondern zeigt etwas mit einer Gebärde und einem Lachen. Es ist eine Selbstinzenierung einer sich zur Schau stellenden Frau, die ein Symbol dionysischer Wahrheit vermittelt. Obwohl es die .letzte' Wahrheit ist, zu der Nietzsche hinunterkommt, muß und kann es dennoch nicht die letzte Wahrheit überhaupt sein. Das, was Baubo zeigt, müssen nicht ihre Gründe sein, sie hätte sich auch anders entschleiern können. Hinter dem Schleier ist eben ein anderer Schleier, der im Fall von Demeter dazu einlädt, dionysisch verstanden zu werden. Das Sich-zeigen ist daher zugleich immer ein Verhüllen, was auch der doppelten Bedeutung des Wortes „Scham" (die Baubo zeigt) entspricht. Scham bedeutet einerseits die Geschlechtsteile der Frau und andererseits weist es auf Verhüllung oder Verschleierung hin. Diese Bedeutung wird für Nietzsche zur Metapher für die helfenden Illusionen der Kunst. Die Dinge, schreibt Nietzsche in der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches aus dem Jahr 1886, werden „durch irgendeine Scham geschont" (MA, KSA 2, 17). Daher schreibt Nietzsche in Anschluß an seine Gleichsetzung der Wahrheit mit der Gestalt von Baubo: nun

„Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben: Dazu thut noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich aus Tiefe]" (NW, KSA 6, 439) -

„Wahrheit", die Baubo Demeter zeigt, wäre, wie Derrida treffend bemerkt, „also nur eine Oberfläche, sie würde erst tiefe, nackte begehrenswerte Wahrheit durch den Effekt eines Die

Schleiers: der über sie fällt".10 In der Auslegung Derridas, in der es um den Zusammenhang der Begriffe der Wahrheit, der Frau und der Kunst geht, werden, wie schon gesagt, nur einige Aspekte des vielfältigen Frauenbildes Nietzsche herangezogen. Derrida gelingt es damit, wesentliche Aspekte seiner

Interpretation der Frau als der „Nicht-Wahrheit der Wahrheit" darzulegen. Warum geht er aber in seiner Interpretation nicht auf Baubos Auftritt ein? Im Grunde paßt Baubos Akt nicht zu Derridas Interpretation der Nietzscheschen Philosophie, die zugleich Grundlage seines eigenen 10

Jacques Derrida, „Sporen", 138.

Die Kritik essentialistischer Bilder

495

Versuches der Überwindung der Metaphysik ist. Derrida läßt Baubos Akt vermutlich im Schatten stehen, weil sie eben die Hauptlehren Nietzsches, die in seinem dionysischen Lebensbegriff zusammenkommen, symbolisiert. Der Begriff des Dionysischen bleibt trotz der Zurückweisung einer metaphysischen Lebensfundierung der zentrale Begriff dieser Philosophie, in dem die beiden Hauptlehren, die Willens- und die Wiederkunftslehre, vereinigt repräsentiert werden. Derrida geht es aber mit seiner Nietzsche-Interpretation darum, zu argumentieren, daß dies ein Denken ohne Zentrum ist und daß Heterogenität und eine gewisse Kohärenzlosigkeit die Lebendigkeit einer solchen Denkweise ausmache. Wenn nun behauptet wird, daß Derrida mit seiner Auslegung des Begriffs der Frau Nietzsches Hauptlehren ausklammert, um metaphysischen Lebensmodellen auszuweichen, dann heißt dies nicht, daß die Lehre der ewigen Wiederkehr des Willensgeschehens als metaphysische Grundlehre dieser Philosophie verstanden werden sollte. Nietzsches Grundgedanken sollen keine universelle Allgemeingültigkeit beanspruchen, sondern haben in erster Linie einen strategischen Wert. Sie sind Interpretationen der Grundbestimmungen des Lebens, die vor allem als Herausforderung und als existenzielle Imperative füngieren können. Die Interpretation von Baubo soll gezeigt haben, daß diese Gestalt einerseits Grundelemente des Dionysischen darstellen und daß sie andererseits die Destruktion der Wahrheit metaphysischen Zuschnitts zeigen soll. Nietzsches Festhalten an dem Dionysischen Lebensbegriff hat nichtsdestoweniger dazu geführt, daß seine Hauptlehren als metaphysische Lehren eingestuft wurden, und das dürfte möglicherweise der Grund für Derridas Schweigen über Baubo sein. Mit seiner großangelegten Deutung der Philosophie Nietzsches hat Martin Heidegger Nietzsches Hauptlehren als das letzte Kapitel in der Geschichte der abendländischen Metaphysik ausgelegt. Die Platonische Dualität von Sein und Schein wird, Heideggers Meinung nach, in Nietzsches Philosophie vollendet. Heidegger meint, daß die ewige Wiederkehr des Willensgeschehens als Grundprinzip des Lebens als „Umkehrung des Piatonismus" zu verstehen sei: „das Sinnliche wird zur wahren, das Übersinnliche zur scheinbaren Welt".11 Mit seiner Interpretation stellt sich Derrida gegen die Heideggersche Interpretation Nietzsches als dem letzten Metaphysiker. Derrida liest die Heideggersche Interpretation geradezu als Manifestation einer systematischen, vereinheitlichenden, der Metaphysik verpflichteten Hermeneutik. Mit seiner Nietzsche-Deutung übt Derrida seine Kritik an der Metaphysik und damit eine Selbstkritik der Philosophie. Derrida geht dabei so vor, daß er erstens zeigt, daß Martin Heideggers Idee von der Wahrheit, die sich im Wechselspiel von Verborgenheit und Entbergung ereignet, bereits in Nietzsches Wahrheitsbegriff vorhanden sei. Und zweitens wendet sich Derrida auf dem Boden von Nietzsches Destruktion der Wahrheit gegen Heideggers Idee der Wahrheit des Seins. Derrida sieht richtig, daß Nietzsche sich in der Hauptsache darin von Heidegger unterscheidet, daß für diesen die Wahrheit, oder der „Sinn des Seins", wie Heidegger es nennt, nicht verborgen-entborgen wie hinter einem Schleier ist, da hinter dem Schleier nichts ist. Bei Nietzsche wird keine Wahrheit des Seins der Erscheinung der Wahrheit vorausgesetzt, wie es in der Heideggerschen Philosophie der Fall ist.12 Durch diesen Vergleich mit Heidegger wird deutlich, wie Nietzsche durch die Aufhebung des 11 Martin Heidegger, Nietzsche (2 Bde.), Pftillingen 1961, Bd. 2, 22. 12 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 216 f. Auf Grund dessen hat Habermas Heidegger eine Art Seinsmystik vorgeworfen, da die Erfahrung des Seins nichts als die Profanierung der mystischen Erfahrung darstelle. Dieser Vorwurf trifft auf die Heideggersche Spätphilosphie zu, aber es ist zweifelhaft, Heideggers Philosophie in Sein und Zeit als Seinsmystik zu kennzeichnen.

Sigridur Thorgeirsdottir

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von Sein und Schein, Wahrheit und Lüge bzw. Illusion das auf Wahrheit beDenken verläßt. Heidegger dagegen bleibt der Metaphysik mit ihren metaphysische zogene

Unterschieds

dualistischen Modellen vielmehr verhaftet, weil er die Wahrheit des Seins für entschieden hält. dagegen setzt eine „Nicht-Wahrheit der Wahrheit" der Wahrheit jeglicher Auf-

Nietzsche

stellung von Wahrheiten voraus, wie am Beispiel des Bauboschen Aktes verdeutlicht wurde. Mit der Metapher der Frau wird daher die Opposition zwischen dem Wahren und dem NichtWahren suspendiert und der Weg frei gemacht für das künstlerische Schaffen von Wahr-

heiten'. Obwohl Derrida Nietzsches Diktum des Schaffens von Wahrheiten' für sein Programm einer dekonstruierenden Analyse verwendet, nimmt er dennoch gerade Bezug auf Heideggers Idee der Wahrheit. Um aber Heideggers Idee des Seins als Sinn- und Wahrheitsreferenz zu entkommen, und damit der metaphysisch-dualistischen Denkstruktar, die s. E. der Differenz von Sein und Seienden zugrundeliegt, muß er die „ontologische Differenz" unterminieren. Er tat das u. a. indem er die traditionellen, dualistischen Bestimmungen der Geschlechterdifferenz auf die Heideggersche Idee der ontologischen Differenz anwendet. ,

III. Derrida: Von der Dualität

zur

Pluralität der

Geschlechterdifferenz Im Sinne Derridas muß Heidegger (und das gilt besonders für seine Spätphilosophie) einem dualistischen Denkschema verhaftet bleiben, solange das Sein in seiner Philosophie nicht wie die Frau als Wahrheit in der Nietzscheschen Philosophie gedacht wird. Für Heidegger liegt das Ontologische vor dem Geschlechtsspezifischen, das im Ontischen nur wirksam ist. Derrida meint dagegen, daß die Geschlechterdifferenz auf der ontologischen Ebene wirksam sein muß. Das soll nicht heißen, daß das Sein sexuell bestimmt werden soll, „weder als Mann noch als Frau".13 Es heißt, daß das Sein, so wie die Frau als Metapher der „Nicht-Wahrheit der Wahrheit" gedacht werden muß, wie Derrida in „Sporen" zu zeigen unternimmt. In die Terminologie der Heideggerschen Philosophie übersetzt, hieße das, daß das Sein sich ebensosehr hinter dem Schleier verberge wie es sich zeigt.14 Damit soll zweierlei geleistet werden: Erstens soll die Geschlechterdifferenz als binäre Opposition zugunsten einer Pluralität der Geschlechterbestimmungen dekonstruiert werden. Zweitens soll das Sein nicht im Sinne eines metaphysischen Grundes oder Ursprunges gedacht werden, von dem alles andere abgeleitet wird. Das Motiv der Absage Derridas an das Ursprungsdenken in der „Fundamentalontologie" Heideggers leitet sich aus dem ersten Motiv der Pluralisierung der Geschlechterdifferenz ab. Die Geschlechterdifferenz ist für Derrida konstitutiv für das Menschsein, wie Kimmerle in seiner Interpretation der Derridaschen Philosophie gezeigt hat.15 Im Anschluß an Nietzsches Postulat des dionysischen Künstlers, der die Verkörperung des Zusammenspiels von Eigenschaften, die in der Tradition dem Männlichen und dem Weiblichen zugesprochen worden sind, meint Derrida, daß die Geschlechter-

13 Heinz Kimmerle, Derrida zur Einführung, 14 Ebd., 26. 15 Ebd., 142.

Hamburg 1992, 26.

Die Kritik essentialistischer Bilder

497

differenz nicht als Opposition, sondern als Diversität der Kräfte wirksam ist. Der dionysische Künstler, der für Nietzsche die zukunftsträchtige Gestalt einer Wiederbelebung und Ergänzung einer einseitig (weil nur durch „männliche" Attribute) bestimmten Vernunft ist, zeichnet sich durch das Spiel der Kräfte aus, die sowohl eine geistige als auch eine sinnliche Grundlage haben. Mit der Auflösung der binären Opposition zugunsten der Pluralität der Geschlechterbestimmungen reagiert Derrida, nach Gallop, auf den Feminismus der siebziger Jahre.16 Nach Gallop kritisiert Derrida die Bemühungen der Theoretikerinnnen der Geschlechterdifferenz, die „Frauen" in den feministischen Theorien der siebziger Jahre bestimmte geschlechtsspezifische Merkmale und Eigenschaften zusprachen. Damit haben sie eine kollektive Identität der Frauen dargelegt und „Frauen" damit als singuläre Einheit festgelegt. Mit Nietzsches Bild der Frau kritisiert Derrida in „Sporen" das Bemühen um eine Konzeption der Frauen, die für alle Frauen gelten soll. In feministischen Theorien der neunziger Jahre ist die Kritik an einheitlichen Kennzeichnungen des Weiblichen aufgenommen und weitergeführt worden. Butlers Theorie der sozialen Konstruktion und diskursiven Erzeugung der Geschlechter ist eine Weiterentwicklung von Motiven der Derridaschen Dekonstruktion der Geschlechterdifferenz. Sozialkonstruktivistische Theorien der Geschlechterdifferenz haben aber eine längere Vorgeschichte, die mit Simone de Beauvoirs Werk Das andere Geschlecht ansetzt, worin die Weiblichkeit als kulturelles Konstrukt entlarvt wird.17 Indem die Geschlechterdifferenz von Derrida als Verschiedenheit in die ontologische Ebene der Heideggerschen Philosophie verlagert wird, kann das Sein nicht mehr als einfacher Ursprung gedacht werden. Damit versucht Derrida, der metaphysischen Verführung, der Heidegger mit seinem Seinsdenken erlegen ist, zu widerstehen. Er will das Sein oder die Wahrheit als ein Ursprungsgeschehen deuten, das in sich different bleibt. Damit ist die Möglichkeit eines Sinnes oder Grundes einer neuen Metaphysik untergraben. Allerdings versucht Heidegger gerade einer „Metaphysik der Präsenz" entgegenzuwirken, die das Sein im Sinne der Tradition der abendländischen Metaphysik als das Eine und Identische denkt, wie er in seiner Schrift Identität und Differenz ausführt.18 Da die Sinnfrage aber im Rahmen der Seinsphilosophie gestellt wird, kommt er nicht umhin, das Sein als Sinn- und Wahrheitsreferenzen in Anspruch zu nehmen. Derrida will daher Heideggers Kritik einer Metaphysik der Präsenz, die seit Piaton darin besteht, den Grund in dem Einen und dem Identischen zu suchen, weiterführen. Er tut das, indem er Heideggers Gedanken des Seins als Ereignis und Geschehen radikalisiert und ihn als Differenz und Vielheit denkt. Die Frau als „Nicht-Wahrheit der Wahrheit" steht daher für die Vielheit, die Differenz ohne Grund, die keinen tiefer liegenden Sinn

hat. Das Bild der Frau als Schleierspiel der Wahrheit, entbergend zu verbergen (und umgekehrt), weist ferner darauf hin, daß das Sein nie als das Eine gedacht werden kann, da es, indem es sich zeigt, zugleich verborgen bleibt. Im Sinne der psychoanalytischen Theorie Freuds deutet Derrida ferner das Verborgene als das Verdrängte. Ohne auf seine Anwendung psychoanalytischer Theoreme tiefer einzugehen, ist hier nur wichtig festzuhalten, daß für Derrida das identifizierende, philosophische Denken, indem es etwas als etwas sprachlich identifiziert, es

16 Jane Gallop, Women' in Spurs and Nineties Feminism", in: Ellen K Feder, Mary C. Rawlinson und Emily Zakin (Hg.), Derrida and Feminism, London 1997, 9. 17 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Hamburg 1968. 18 Martin Heidegger, Identität und Differenz, Pftillingen 1957. „,

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Bedeutung fixiert und dadurch bestimmte Aspekte zwangsweise ausklammert, sprich, verborgen hält und „verdrängt". In der Sprache des Differenzdenkens heißt das, daß mit dem sprachlichen Artikulieren oder Definieren der Sinn des Gesagten immer aufgeschoben wird, da er nie endgültig festgelegt werden kann.19 Das Verfahren des Ausschließens, das dem identifizierenden Denken s. E. eigen ist, gibt ihm wiederum Anlaß dazu, das Verborgene und Verdrängte aufspüren zu wollen. Das Aufspüren bedeutet zugleich das Durchbrechen der Grenzen des Diskurses, der durch die Denk- und Begriffsschemata der Metaphysik geprägt sind. Wenn wir Derrida so weit folgen, sind wir zu dem „Anderen" der Metaphysik gelangt. Wie Nietzsche, sieht Derrida ein, daß die Sprache der Metaphysik unser Denken immer stets in seiner

noch prägen wird und daß wir sie nicht transzendieren können. Wie Nietzsche setzt er seine Hoffnung auf das kreative, künstlerische Denken, das die Sprache der Metaphysik von Innen her aufbrechen soll. Und wie Nietzsche, kommt er daher zu dem Schluß, daß die philosophische Denkweise, um ihre verkrusteten metaphysischen Denkstrukturen, die unser Denken in vorherbestimmte Bahnen lenken, aufzubrechen, künstlerischer werden muß. Das heißt aber nicht nur, daß das philosophische Denken kreativer werden muß, sondern auch, im Sinne Nietzsches, daß es sich leiblichen, sinnlichen und emotiven Komponenten der menschlichen Urteilskraft eröffnen muß. Es bedeutet vor allem auch, daß philosophische Texte anders gelesen werden müssen, nämlich als Produkte der künstlerischen Schöpfüngskraft des Menschen. Derridas Lesart von Nietzsches Philosophie der Frauen in „Sporen" ist ein Paradebeispiel einer im Sinne der Dekonstruktion verfahrenden Interpretation. Derrida liest Nietzsches Text wie ein literarisches Produkt. Er weigert sich, bei philosophischen Texten ausschließlich auf die logische und formale Struktur und rationale Argumentation zu achten. Er meint, der Inhalt des Textes könne genauso gut an dem Stil und an der Wahl der Metaphern gelesen werden. Die Erweiterung des Verfahrens ermöglicht s. E. der Philosophie, die Grenzen der logozentrischen Denkweise, die diese in der abendländischen Tradition geprägt hat, zu brechen. Damit ebnet Derrida den Gattlingsunterschied zwischen Philosophie und Literatur ein oder zumindest relativiert er ihn. Obwohl Nietzsche in seiner Spätphilosophie ein komplementäres Verhältnis zwischen Philosophie und Kunst anstrebt, bringt er dennoch die philosophische Analyse und Argumentation und die künstlerische Produktivität nicht auf einen gemeinsamen Nenner des Textes wie Derrida. Das Verhältnis zwischen Philosophie und Kunst bleibt in Nietzsches Philosophie ein Spannungsverhältais, und zwar aus folgendem Grund: Das Hauptanliegen der Philosophie besteht nach wie vor in der Analyse von Begriffen, Konzepten und Ideen, wobei ihre Tragfähigkeit durch rationelle Argumentation geprüft wird. Zu diesem Zwecke bedient Nietzsche sich in seinen Überlegungen zur Physiologie der Kunst naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse und historischer Kenntnisse. Seine späte präskriptive Theorie der dionysischen Kunst ist, worauf ich hier nicht näher eingehen kann, ein Beispiel für sein Vertrauen in die Forschungen der Naturwissenschaften, die er als unentbehrlich für die philosophische Analyse ansah.20 Zwar will Nietzsche die philosophische Ausdrucksweise durch künstlerische, literarische Aspekte wie Einbildungskraft, Bildersprache und musika-

19 Hier kann nicht auf Derridas Denken der „différance" eingegangen werden. Für eine klare Besprechung von „différance" siehe Wolfgang Welsch, „Das Konzept der différance", in: Vernunft, Frankfurt a.M. 1996,260-274. 20 Zu den naturwissenschaftlichen Grundlagen der „Physiologie der Kunst" siehe Sigridur Thorgeirsdottir, Vis creativa. Kunst und Wahrheit in der Philosophie Nietzsches, Würzburg 1996, 240-253.

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lische Textualität bereichern, genauso wichtig ist es ihm aber, philosophische Aufklärungsabsichten aufrechtzuerhalten, die einzig durch rationale Argumentation überzeugen können. Die Texte der Philosophie und die Texte der Literatur bleiben daher trotz Berührungspunkten unterschiedliche Gattungen, an die unterschiedliche Anforderungen gestellt werden. Selbst wenn die Möglichkeit einer Abgrenzung der literarischen Sprache von der Sprache der Philosophie im Ansatz beibehalten wird, meint Nietzsche, daß es die Kunst sei, die die Hoffhungsträgerin für Philosophie der Zukunft sei. Gewiß trifft Habermas' Kritik zu, die besagt, daß in Nietzsches Philosophie das Leistungspotential der Kunst und der ästhetischen Erfahrung überbewertet und überfrachtet werde.21 Wenn man aber bedenkt, daß die hegemoniale Stellung der Kunst in Nietzsches Spätphilosophie in erster Linie eine Bereicherung und Erweiterung philosophischer Denkweise sein soll, und daß der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und begründete Argumentation nicht über Bord geworfen wird, kann Habermas' Kritik entkräftet werden. Nichtsdestotrotz ist Nietzsche in seiner Stellung zur Kunst und zur Philosophie nicht immer so eindeutig und klar, wie hier ausgeführt worden ist. Er schwankt und ist häufig einseitig in seiner Verherrlichung des Leistungspotentials der Kunst. Ihn aber deshalb vollends dem Vorwurf des Irrationalismus auszusetzen, wie es Habermas tut, ist genauso einseitig. Nietzsche harrt letzten Endes in dem Widerspruch zwischen Kunst und Philosophie aus. Ihm ging es vor allem darum zu zeigen, daß ästhetische, d. h. leibliche und emotive Erfahrungen einen kognitiven Gehalt haben. Mit seiner Rehabilitierung dieser Aspekte, die in der Tradition dem Weiblichen zugesprochen worden sind, wollte er nicht die Frauen rehabilitieren, sondern auch die Eigenschaften, die ihnen zugesprochen worden sind, dem Männlichen hinzufügen. Mit seiner Selbstdarstellung in Ecce homo führt er vor, wie männliche und weibliche Eigenschaften in seinem Schaffen vereint sind. Seine Selbstbeschreibung fängt er folglich damit an, daß er doppelter Herkunft, daß er nämlich sowohl sein Vater als auch seine Mutter sei (EH, KSA 6, 264). Derrida behauptet, er wolle im Gegenzug zu phallogozentrischer Schreibart „comme une femme" schreiben.22 Mit dieser Behauptung widerspricht er aber seiner Intention der Auflösung der binären Struktur der Geschlechterdifferenz zugunsten der Pluralität. Die Idee einer weiblichen Schreibart ist aus der Perspektive dionysischer Kunst eindimensional, da Nietzsche das Zusammenwirken von Elementen, die in der Tradition jeweils dem Mann und der Frau zugesprochen worden sind, als Voraussetzung dionysischer Kunst versteht. Das Zusammenspiel dieser Elemente löst sie aus der essentialistischen Opposition des Männlichen und Weiblichen heraus.

21 22

Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 108 ff, 148 ff. Jacques Derrida, Nietzsche aujourd' hui, Paris 1974, 299.

Elke Wachendorff

Friedrich Nietzsches Gedanke der

„Ästhetischen Thätigkeit"1

„Early Reception of Nietzsche's Philosophy in Japan" bemerkt Graham daß „die ethymologische Beziehung von ,ästhetisch' und den ,Sinnen' in den japaniParkes, schen Begriffen nicht funktioniert: das bi von biteki meint einfach ,schön'".2 Die hitzige Debatte um das „ästhetische Leben", die in Japan 1901 entbrannte, drehte sich entsprechend auch nur um ein in diesem Sinne „schönes Leben", ohne deshalb Forderungen nach sinnlicher Befriedigung auszuschließen, ganz im Gegenteil. Doch eröffnet sich der dem ethymologischen Zusammenhang entspringende Nietzschesche Gedanke „aesthetischer Thätigkeit" auch nur vor einem altphilologisch (alt-griechisch) geschulten Hintergrund. Im Falle japanischer wie gleichermaßen amerikanischer Leser deutscher Texte ist dieser Hintergrund jedoch als eher unwahrscheinlich anzunehmen, und dementsprechend ergeben sich auch Auswirkungen auf Textübersetzungen sowie auf deren Interpretationen. Ähnliches läßt sich über die für Nietzsche eigentlich typische, ja fast schon zu erwartende schillernde Bedeutung des Wortes Notwendigkeit sagen. Was Nietzsche vielleicht sogar zunächst als Spiel um und mit diesem Wort gereizt haben mag, muß seiner Sprachverliebtheit alsbald die tiefe Weisheit dieses Worterbes eröffnet haben. Die maßgeblichen englischsprachigen Nietzsche-Übersetzungen von Walter Kaufmann jedoch verfehlen diese Zweideutigkeit, wenn Notwendigkeit („necessity") ausschließlich zu „cessation of need", nicht jedoch zu „turning of need" wird, wie Joan Stambaugh 1991 zu recht vermerkt.3 Doch lohnt es sich, in beiden Fällen dem solcherart erweiterten Bedeutungsspektrum ernsthaft nachzugehen, lohnt es vor allem aber darüberhinaus, beide Begriffe in einem gedanklichen Zusammenhang zu sehen und zu reflektieren. Die Fruchtbarkeit dieses Unternehmens erweist sich vor allem dann, wenn man zum Vergleich eine Interpretation hinzuzieht, in welcher eines dieser Bedeutungsfelder in seiner Komplexität auf kreative Weise aufgegriffen und entwickelt wird, das zweite jedoch nicht gleichermaßen. Besonders geeignet scheint hierzu die Interpretation des japanischen Philosophen Keji Nishitani zu sein, der in seinem Buch „Nihirizumu" von 1948 als erster und einziger Interpret für lange Zeit die Denkmöglichkeit von Notwendigkeit im Sinne von „Wende der Noth" aufgreift.4 Eine Diskussion von Nishitanis Interpretation kann und soll hier In seinem Aufsatz

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1 Nach einem Vortrag vom 25.9.1998, anläßlich des „Nietzsche-Kolloquiums" 1998 in Sils-Maria im Engadin. 2 Graham Parkes, „Early Reception of Nietzsche's Philosophy in Japan", in: Graham Parkes (Hg.), Nietzsche and Asian Thought, Chicago/London 1991, 177-199, 184 3 Joan Stambaugh, „The Other Nietzsche", in: Graham Parkes (Hg), Nietzsche and Asian Thought, 20-30, 24. 4 Das Buch Nishitanis ist 1990 durch die englische Übersetzung Graham Parkes und Setzuko Aiharas auch dem des Japanischen nicht kundigen Leser zugänglich gemacht worden, Keji Nishitani, The Self-Overcoming of Nihilism [1948], übers, v. Graham Parkes u. Setzuko Aihara, New York 1990, 49 ff.

Elke

502

Wachendorff

nicht im einzelnen durchgeführt werden, vielmehr möchte ich einige aus Nishitanis Interpretation resultierende Fragen aufwerfen, welche das Interesse meiner Untersuchung verdeutlichen können. Nishitani diskutiert im neunten Kapitel seines Buches die Rolle des Nihilismus-Problems für Japan und betont eine kulturhistorisch bedingte Schwierigkeit japanischer Forscher, die tiefe Erschütterung und Schmerzhaftigkeit des Europäischen Nihilismus-Prozesses nachzuvollziehen.5 So wirft andererseits seine Interpretation ganz entsprechend einige für uns europäische Nietzsche-Leser brennende Fragen auf. Letztere scheinen nun deutlich auf eine nicht weit genug gespannte Rezeption und Integration des in diesem Sinne zu bedenkenden Bedeutungsspektrums des aisthesis-Gedankens zurückgeführt werden zu können: So z. B. wenn der „Dionysische Wille" zwar als durchgehende Thematik für das Nietzschesche Gesamtwerk erkannt wird,6 die vorgestellte Überwindung des Nihilismus und Umwertung zum „amor fati" dann aber keinerlei Momente schöpferischer Verwandlung aufzuweisen hat.7 Wenn der „Leibes"-gedanke in seinem Mitteilungswesen zu einer eben dieses ihres Mitteilungswesens vollkommen beraubten „Existenz als Leib"8 reduziert wird, welcher damit nicht nur nichts zu sagen hat, sondern damit zugleich als zuletzt bleibende einzige Unabweisbarkeit die Rolle letzter Selbstversicherung und damit die Rolle des Drehpunktes zur Umwendung auch nicht zugesprochen bekommen kann. Wenn die „Kreativität des Willens" wiederholt betont wird,9 schließlich aber doch nur eine -

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„Existenz" herauszu-„pressen"10 vermag. Wenn es im „amor fati" ein „Ego" bleibt, das sich zum „fatum" wird." Wenn die verwandelnde Wende von Not in Lust Behauptung bleibt, und man als Leser mit der alles entscheidenden, einzig und allein vielleicht wirklich wichtigen, weil brennenden Frage: wie denn solch wundersame Wandlung überhaupt gehen soll! vollkommen allein

gelassen wird.12

Wenn zwar „die Frucht der Hochzeit von Licht und Finsternis Dionysos heißt",13 und so die Frucht von Leid und Lust desgleichen, die Frage: Wie solche Frucht denn überhaupt entstehen könnte? vollkommen unaufgeklärt bleibt.14 Wenn last but not least der Nietzschesche Gedanke personaler Redlichkeit in Übersehung der famosen „Gänsefüßchen" zur existentialistisch interpretierten wissenschaftlichen Intellektualität reduziert wird,15 ganz uneingedenk der wie hinlänglich bekannt durchgehend scharfen, ja teilweise höhnischen Kritik an Letzterer im Nietzscheschen Werk. Die dionysisch überfließende Lust der „Bejahung" ist diesem Buch nicht anzumerken, bleibt nurmehr „affirmativer Nihilismus".16 Der von Nishitani schließlich behauptete „Wille zum

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5 Ebd., 174. 6 Ebd., 47. 7 Ebd., 90-99. 8 Ebd., 94 ff. 9 Ebd., 47 f., 49 f., 53. 10 Ebd., 92, 98. 11 Ebd., 49 f. 12 Ebd., 56. 13 So Nishitani in Hinblick auf JGB, „Aus hohen 14 Ebd. 90 ff. 15 Ebd., 87-93. 16 Ebd., 45.

Bergen Nachgesang", ebd. 64;

in KSA

5, 243.

Friedrich Nietzsches Gedanke der „Aesthetischen

Thätigkeit"

503

Leben"17 ist diese jedenfalls nicht, dies wären vielmehr die Worte Eugen Dührings, welche Nietzsche immer wieder bemüht war, mit aller Entschiedenheit von sich zu weisen: „Hört mich! [...] Verwechselt mich vor Allem nicht", so heißt es gleich auf der ersten Seite im Vorwort zu Ecce homo] (KSA 6, 257)18 Dies sind wahrscheinlich sehr europäische Fragestellungen und Nöte und so wird im folgenden eine wahrscheinlich ebenso europäische Gedankenentwicklung unternommen werden müssen. -

Als Friedrich Nietzsche „bereits ,an gar nichts mehr'" glaubte, „auch an Schopenhauer nicht: eben in jener Zeit entstand ein geheim gehaltenes Schriftstück ,über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne'" (KSA 2, 370). Hier führt Nietzsche den Gedanken der Vergeßlichkeit19 ein: „Nur durch Vergesslichkeit kann der Mensch je dazu kommen zu wähnen: er besitze eine Wahrheit" (KSA 1, 878). Er „kommt eben durch diese Unbewusstheit, eben durch dies Vergessen zum Gefühl der Wahrheit. An dem Gefühl verpflichtet zu sein, ein Ding als roth [...] zu bezeichnen, erwacht eine moralische auf Wahrheit sich beziehende Regung"

(KSA 1,881

u.

883).

Was aber war es genau, das da dem Vergessen anheimgefallen war, ja überhaupt anheimfallen konnte? Hätte dieses Vergessene jedoch von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung abendländischer Geistesgeschichte gewesen sein können? Worin besteht dann jener so folgenreiche „Irrthum", der durch das „Vergessen" entstehen konnte? War dieser jedoch notwendig gewesen? Ja, konnte er am Ende gar Not-wendig gewesen sein? Wie aber könnte und sollte dann ein solcher Gedanke von Not-Wendung denkbar sein, wie dann der Gedanke, daß Vorstellungen als Konstruktionen von ,Welt' gar dem Leiden schöpferisch entspringen könnten, verbinden wir mit Leiden doch zumeist eher vernichtende, lähmende Gefühle? Welche philosophischen Konsequenzen müßte ein solcher Gedanke dann neu implizieren, und: Wie sollte dieser sodann dem Nietzscheschen Umwertangs- und Überwindungsanspruch entsprechen und über eine den ,Wahrheits'verlust betrauernde Larmoyanz gekränkten Narzißmus' ganz neu hinausführen können? In „Über Wahrheit und Lüge" stellt Nietzsche den Gedanken poietischer schöpferischer Tätigkeit ins Zentrum der Betrachtung. Sie ist es so die These -, welche dem „Vergessen" anheimfiel, jenem Vergessen, welches den „sokratischen" modernen Menschen erst zur Anmaßung eigener Maßstäblichkeit in der hypertrophierten Setzung von sogenannten Welterkenntaissen und Wahrheitswerten führen konnte, zu einem Autonomieanspruch, welcher seinem schwachen Selbstsicherheits- und Selbstwertgefühl zu existentiellem Sicherheitsgewinn verhelfen sollte doch nur zum Schein verhelfen konnte. -

-

„Nur durch das Vergessen jener primitiven Metapherwelt, nur durch das Hart- und Starr-

Werden einer ursprünglich in hitziger Flüssigkeit aus dem Urvermögen menschlicher Phantasie hervorströmenden Bildermasse, nur durch den unbesiegbaren Glauben [...], [nur dadurch] dass der Mensch sich als Subjekt und zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt vergisst, lebt er mit einiger Ruhe, Sicherheit und Consequenz; wenn er einen Augenblick

17 Ebd., 98. 18 Siehe hierzu ausführlicher: Elke Wachendorff, Friedrich NietszchesStrategien der Noth-Wendigkeit ", Frankfurt a.M. 1998, 325, 87-104. 19 Siehe ausführlicher auch: Elke Wachendorff, Friedrich Nietzsches Strategien,\32 ff. „

Elke

504 den Gefangnisswänden dieses Glaubens heraus seinem ,Selbstbewusstsein' vorbei." (KSA 1, 883)

nur aus

könnte,

so

wäre

Wachendorff es

sofort mit

Ging in der Vergessenheit die Gegenwärtigkeit des Handlungsbezuges ursprünglich poietischer Welterzeugung verloren, so ereignete sich damit jedoch zugleich die Enteignung von dessen urheberschaftlicher Handlungspotentialität überhaupt.20 Nietzsche erkennt diese Enteignung zum einen in deren nur vermeintlich Sicherheit verbürgender lebensstrategischen Bedingtheit, zum anderen darüber hinaus in deren genealogischem Vollzug. So konstruiert die Vergessenheit erst jene besitzbare „Wahrheit", welche, der Glaubensmagie überantwortet, zur Gewohnheit und damit erblich wird (KSA 8, 447, 300, 307 ff). Die Erben stehen im Bann eines Systems ffühester Wertschätzungen (KSA 5, 130) von deren interpretativem Wertschätzungswesen, von deren lebensstrategischem Entscheidungswesen sie nichts mehr wissen. Aus den im Interesse einer Sicherheits-bedürftigen Lebenspraxis „Noth-wendig" erzeugten theoretischen ,Welt'-Modellen wird unausweichliches Schicksal (KSA 5, 309), wird bindender Identitätsentwurf, dessen Starre zum einen durch meditativen Welt- wie Selbstrückzug allein nicht aufzuheben ist, denn: „Wenn man einen Glauben umwirft, so wirft man nicht die Folgen um, welche aus ihm herausgewachsen sind. Diese leben vermöge des Herkommens weiter" (KSA 8, 353), leben unauflösbar weiter in jedem Gedanken, jedem Wort, jedem Laut, in jedem Blick, jeder Gebärde und jeder Bewegung, in jedem Hören, jedem Wahrnehmen, in jedem Riechen ja: korrumpieren diese unausweichlich, korrumpieren unmerkbar bereits die Sinne selbst, korrumpieren sie damit in der Abkehr, der Verweigerung, der Vermeidung gleichermaßen; dessen kulturgenealogisch individuell wie kollektiv „Historie" gewordene Folgen derart von uns zu weisen uns zum anderen auch nicht ansteht, enthebt uns die selbsterzeugte „Vergessenheit" doch nicht der Verpflichtung zu Ver-antwortung wie Ver-sorgung unserer solcherart auch gar nicht ver-abschiedbaren Vorstellungserzeugungen. Der Gedanke des tätig „künstlerisch schaffenden Subjektes" als des Autors aller Weltkonzeptionen bildet bereits den Kern des Nietzscheschen Erstlingswerkes. In der Geburt der Tragödie nennt er die solcherart schöpferische Selbstbewegung zunächst die „tragische", die „apollinisch-dionysische" Handlung. In seinem 1886 hinzugefügten zweiten Vorwort nennt er sie dann präziser: die „aesthetische Thätigkeit" (KSA 1, 17).21 In der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung weist er diese dann ausdrücklich als „bejahende [...] Thätigkeit" aus (KSA 1, 372). Im Hinblick auf den Gedanken der Vergessenheit muß hier nun „aesthetisch" als über einen engeren Kunstbegriff hinausgehende Charakterisierung begriffen werden. Nicht nur die Frage nach Schönheit oder Häßlichkeit kann hier allein intendiert sein, betont Nietzsche doch selbst bereits in seinem ersten Vorwort zur Geburt der Tragödie von 1871 die tiefe Ernsthaftigkeit des von ihm aufgeworfenen „aesthetischen Problems" als „der eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens" (KSA 1, 24).22 Der Gedanke schöpferischer Autorschaft

-

...

-

20 Auf diese bezieht sich auch die Nietzschesche Differenzierung personalen „Eigenthums" von der Vorstellung möglichen „Besitzes" von „Wahrheit", welch letztere deren Enteignung bereits voraussetzt und verfestigt. Die Konzeption einer Enteignung kreativer Tätigkeitsdimensionen entspricht dies sei ausdrücklich betont nicht dem Gedanken einer Entfremdung: So ist Erstere auch nicht emanzipatorisch einholbar vorzustellen. Siehe auch KSA 7, 721, KSA 8, 550, KSA 3, 189 f. 21 Siehe auch KSA 1, 61, 141 ff., 153, sowie KSA 7, 803. 22 Siehe auch die Verstärkung der Intention in seiner zweiten Einleitung von 1886, KSA 1, 15 ff. -

-

Friedrich Nietzsches Gedanke der „Aesthetischen

Thätigkeit"

505

im Zentrum aller Welterzeugung deutet klar auf einen grundsätzlicheren Sinn des Wortes. Die Auffindung einer solchen Interpretationsoption gestaltet sich beim Altphilologen Nietzsche zunächst auch nicht schwer: „aesthetisch" kann und soll im Sinne des griechischen Sinneswahrnehmungsbegriffs als aioTneoio ergriffen werden. Ich werde im folgenden zunächst versuchen, das sich aus dieser Interpretationsentscheidung eröffnende Bedeutungsumfeld des Nietzscheschen aisthesis-Gedankens zu entwickeln und werde dann die damit zunehmend virulent werdende Frage, was denn nun hier als „Thätigkeit" zu verstehen sei, aufgreifen. In der Entwicklung des Gedankens wird dabei versucht werden aufzuweisen, daß das Zusammenspiel der zunächst einseitig bedachten Momente jedoch als die entscheidende Einsicht für die Eröffnung des Kreativitätsgedankens vorauszusetzen wäre. um zur Überwindung der durch die Vergessenheit des stiftenden Handlungszusammenhanges erst entstandenen „Metaphysik" zu gelangen, der Erinnerung dieses Handlungsbezuges, der Vergegenwärtigung von dessen schöpferisch-interpretatorischem und das heißt: ästhetischem Empfindungs-, Wahrnehmungs-Wesen und dessen Entscheidungscharakters. Und das bedeutet genauer: „Überwindung kann es für Nietzsche nur dann geben, wenn es dem Denken gelingt, dem Zeugnis der Sinne nachzudenken".23 Dem Zeug-nis (sie!) der Sinne nach zu denken, denn

Für Nietzsche bedarf es,

-

-

vergessenen Motive und die Gewöhnung an bestimmte Bewegungen ist das Wesentliche wie ich früher annahm. Sondern die zwecklosen Triebe von Lust und Unlust" (KSA 9, 291),

„Nicht die

-

präzisiert Nietzsche seinen Ansatz in einem Nach laß fragment von 1880. So geht sein Fragen den Empfindungen und Wahrnehmungen von „Lust" und „Schmerz" als je spezifische, individuelle interpretatorische Erfahrungsqualitäten akribisch nach, um in einem Fragment aus dem Frühjahr 1888 schließlich folgende Frage aufzuwerfen: so

„Wenn das innerste Wesen des Seins Wille zur Macht ist, wenn Lust alles Wachsthum der Macht, Unlust alles Gefühl, nicht widerstehen und Herr werden zu können, ist: dürfen wir dann nicht Lust und Unlust als Cardinal-Thatsachen [!] ansetzen?" (KSA 13, 260)24 In diesem Sinne lautet Nietzsches

Forderung und Anspruch an sich selbst:

Die

persönliche

„Cuitar" ästhetischer Kapazität und Kompetenz zu maximieren, eine „vollkommen unheimliche Reizbarkeit des Reinlichkeits-Instinkts" (KSA 6, 275)25 als ,Cultivierung' zu entwickeln,

„psychologische Fühlhörner"26 im Sinne einer Schärfung und Sensibilisierung der Beobachtangs- und Wahrnehmungsfähigkeit für die „Nuancen" und Details individueller Wahrnehmungsqualitäten und -Charaktere auszubilden, die Fähigkeit, „langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken" wie eine „Goldschmiedekunst des Wortes" (KSA 3, 17) „Finger 23 Thomas Böning, Metaphysik, Kunst und Sprache beim frühen Nietzsche, Berlin/New York 1988,381 ; siehe dazu ausführlicher: Elke Wachendorff, Friedrich Nietzsches Strategien, 49, 141-164. 24 Die „Vergessenheit" gilt so der enteigneten ur-sprünglichen Lust/Schmerz-Relation als Einheitsgrund: „wir hören sie nicht mehr, wenn wir darin leben." (KSA 8, 532; siehe auch. KSA 6, 51, KSA 13, 229) 25 Versus der „Unsauberkeit" der Leibesverneinung und -Verleumdung siehe KSA 6, 371 ff. 26 „so dass ich [...] das Innerlichste, die .Eingeweide' jeder Seele physiologisch wahrnehme -rieche" (KSA 6,275, siehe auch KSA 2, 371, KSA 3, 543, KSA 6, 90, 93, 266 ff.)

Elke

506

Wachendorff

für nuances" (KSA 6, 110, 362) zu entwickeln, kulminierend schließlich in der Aussage: „ich bin eine nuance" (KSA 6, 110, 362),27 denn: ,„Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen. Gedanken, die mit Taubenfüssen kommen, lenken die Welt'": so spricht „es" zu

Zarathustra.28

Der geschärften und sensibilisierten Aufmerksamkeit eröffnet sich nun aber die Einsicht, daß Leiden nicht mehr schlechthin Leiden sein kann, „Noth" nicht mehr schlechthin „Noth", und so auch „Lust" nicht schlechthin „Lust" sein kann. Die spezifische Couleur, die Intensität, der Typus und Kontext einer Empfindung, einer Wahrnehmung selbst sind damit der Fragestellung äußerst würdig wie bedürftig geworden. Und so wird von Nietzsche die „Noth" paradigmatisch für jeglichen Empfindungs- und Wahrnehmungsprozeß als persönlich wie kollektiv bedingtes/bedingendes Phänomen erkannt, Ergebnis und Folge eines immer schon und unhintergehbar vorbewußten intentionalen Interpretationsprozesses. Schmerz wie Lust werden dabei als quantitativ differierende Momente eines kreativen Affektionskontinuums verstanden,29 deren jeweilige Qualität und Intensität in Lust resp. Schmerz sich je als (Wert)-Entscheidung aus einem vielseitigen und vielschichtigen Geflecht und Gefolge unterschiedlicher quantitativ-interpretatorischer Empfindungs- und Wahrnehmungsdifferenzen ergibt,30 und so kann der Ausruf folgen: -

-

-

-

„Ach, wie wenig wisst ihr vom Glücke des Menschen, ihr Behaglichen und Gutmüthigen!

denn das Glück und das Unglück sind zwei Geschwister und Zwillinge, die mit einander gross wachsen oder, wie bei euch, mit einander klein bleibenl" („Sanctus Januarius", 338, KSA 3, 567). -

-

Die von Nietzsche in seiner Vorrede zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft vom Herbst 1886 formulierte Kulturkritik muß damit auch als in diesem Sinne „aesthetisch" intendiert begriffen werden:

„Oft genug habe ich mich gefragt, ob nicht, im Grossen gerechnet, Philosophie bisher überhaupt nur eine Auslegung des Leibes und [vornehmlich] ein Missverständnis des Leibes gewesen ist." (KSA 3, 348) „Dem Zeugnis der Sinne nachzudenken"31 bedeutet damit genauer: Repristination ihrer Sprachlichkeit, ihres Mitteilungswesens, jenem „tiefen Auge [...] das ihn [den Leidenden] aus der Mitte seines Leides

fragend ansieht:

als ob

es

sagen wollte: ist

es

dir nicht leichter ge-

27 Gemeint ist damit die eigene Sensibilisierungskultur. Nietzsche spricht diese Fähigkeit im übrigen in beiden Fällen den Deutschen ab. Hingegen ist es ausdrücklich die Schärfe der Beobachtung ", welche er an den Griechen bewundert (KSA 8, 79); siehe auch Elke Wachendorff, Friedrich Nietzsches Strategien, 137, 326. 28 In der „stillsten Stunde", KSA 4, 189, und KSA 6,259; siehe hierzu auch Nietzsches Hölderlin-Zitat (aus einem Brief an Isaac v. Sinclair, 24.12.1798) in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, KSA 1,300, KSA 14,70. 29 KSA 8,156: .jeder Schmerz ist nur quantitativ von einer Lust verschieden und es giebt einen Grad des Übergangs von Lust in Schmerz". „Die ,gute Botschaft' ist eben, dass es keine Gegensätze mehr giebt" (KSA 6, 203, KSA 8, 447, KSA 5, 16 f., KSA 1, 878, 880), hingegen müssen allein quantitative Verhältnisse und „Grade" der Unterscheidung „und mancherlei Feinheit der Stufen" zuvor gedacht werden (KSA 5,41, KSA 8, 98, 515, KSA 1,25, siehe auch KSA 5, 160, KSA 6, 296); siehe auch Elke Wachendorff, Friedrich Nietzsches Strategien, 125, 141ff, 153 ff. 30 KSA 8, 400, siehe KSA 1, 879, KSA 8, 136, 156, KSA 2, 52. 31 Thomas Böning, Metaphysik, Kunst und Sprache, 381. „

Friedrich Nietzsches Gedanke der „Aesthetischen

Thätigkeit"

507

macht, das Dasein zu begreifen?"32 Denn das Leiden, der Schmerz, die Lust: Sie haben uns

sie entdecken sich Nietzsche als Gestalten eines Ur-Mitteilungswesens, einer Ur-Sprache von Seelenleib und Leibseele zugleich, als Selbstmitteilungsgestalten präverbaler Sprachlichkeit der Ur-,Vermittlung' von Naturmensch und Menschnatur,33 von Leiblichkeit und Geistigkeit, von unerschöpflich Vorbewußtem zu Bewußtem, von „großer Vernunft" zu „kleiner Vernunft" (KSA 4, 39 ff.) zugleich. Und so kann Nietzsche den Schmerz auch als „Sicherheitssignal" begreifen: „Ich höre im Schmerze den Commandoruf des Schiffscapitains", welcher „,zieh die Segel ein!'" (KSA 3, 550)34 wie auch entgegengesetzt lauten kann.35 Denn „im Schmerz ist soviel Weisheit wie in der Lust [...]; dass er weh thut, ist kein Argument gegen ihn, es ist sein Wesen" (KSA 3, 550, siehe auch KSA 13, 33 f.), und es gilt Nietzsche nun, für die „Intellektaalität des Schmerzes" (KSA 12, 311) die geeigneten Wahrnehmungskompetenzen zu entwickeln. Werden nun Schmerz und Lust als solcherart kontingente Ergebnisse eines interpretatorischen Selbstmitteilungs- und -wahrnehmungsprozesses begriffen, so wird die Frage nach dem Gedanken der diesen Prozeß gestaltenden Tätigkeit virulent, kann nun doch auch Wahrnehmung nicht mehr gleich Wahrnehmung bleiben, kann eine lähmende Leidenserfahrung mit einer schöpferischen -ja als solcher verwandelnden Schmerzvergegenwärtigung nicht mehr in eins gesetzt werden. Bereits in der Geburt der Tragödie entwirft Nietzsche zwei Gestalten differierender Wahrnehmungstypen und nennt diese: den „tragischen Menschen" und den „theoretischen Menschen". Der „tragische Mensch" ist insofern Zu-Hörer, als er auf das Mitteilungswesen seiner Empfindungen als Sprache der Selbstmitteilung und Selbsteröffnung als Weltmitteilung und Welteröffhung zugleich hört: ist insofern „aesthetischer Zuhörer" (KSA 1, 143 ). Und Nietzsche entwickelt die Konzeption einer außergewöhnlichen Sonderstellung und damit „Cultur"-leistang von attischer Tragödie und dramatischem Dithyrambus, welche sich gerade aus und in dieser spezifischen „Thätigkeit" bekundet, eben darauf, daß hier „auf eine aesthetische Thätigkeit der Zuhörer geschlossen werden dürfte" (KSA 1, 142 f.).36 Den modernen „theoretischen Menschen" hingegen sieht Nietzsche dieser Fähigkeit verlustig gegangen, sieht ihn darin seines Eigensten beraubt, sieht ihn so enteignet: Hier begegnet wieder der Gedanke der Vergessenheit des schöpferischen Interpretationswesens. In der Enteignung liegt sein „Misslingen" (KSA 8, 515), „Entarten" (KSA 6, 311, KSA 13, 229), Pervertieren in die „Gebundenheit des Denkens" (KSA 8, 312, 465) begründet, und so wird sein Tun auch als „unaesthetisch" (KSA 1, 50, 122) und „anaesthetisch" (KSA 9, etwas zu sagen, und

-

-

-

32 So bereits im Nachlaß aus dem ersten Halbjahr 1873, KSA 7, 799 und 822. 33 KSA 1,456. „Man wäre die Emphasis los und würde die Anstachelung des Gedankens, dass man nicht nur Natur oder mehr als Natur sei": die Spaltung des Leibseelen-Seelenleibes „nicht weiterhin] empfinden" (KSA 2, 54 f.); und so unterscheidet sich der Nietzschesche Gedanke des „Leibes" auch von einer („sokratischen") Vorstellung des „Körpers". 34 „eine imperativische Abkürzung deren Nützlichkeit [!] unverkennbar ist" (KSA 13,33); siehe auch KSA 12, 311 ; siehe auch KSA 10, 250, KSA 13, 360, sowie KSA 3, 544. 35 So z. B. : „Wer einen falschen Weg einschlägt, merkt es, w[ird] misstrauisch, die Kehle wird fast erdrosselt" (KSA

8,513).

36 Dies nicht

begriffen

zu

haben ist es,

was er

letztendlich der aristotelischen Poetik

Wachendorff, Friedrich Nietzsches Strategien, 205, 213, 230.

vorwirft; siehe auch Elke

Elke

508

653)37

benannt. In der Geburt der

Tragödie

Wachendorff

hatte Nietzsche das Charakteristikum des

„Cultuf'-verlustes in euripideischer sokratischer Zeit daher auch in der Haltung des „Zuschauers" beschrieben, welcher in der Begegnung mit dem vermeintlich anderen nurmehr das Spektakulum seiner eigenen Selbstidentifizierungen zu inszenieren vermag. Die je spezifische Weise des jeweiligen interpretativen Wahrnehmungsprozesses ist damit bestimmt in der Weise einer selbsteigenen resp. enteigneten schöpferischen Selbsttätigkeit. Die Weise „aesthetischer Thätigkeit" vergegenwärtigt so eine „poetische Noth" (KSA 8, 132). Deren enteignete Gestalt in der Weise „unaesthetischen" (KSA 1, 50, 122), „anaesthetischen" (KSA 9, 653) Handelns hingegen vergegenwärtigt eine „theoretische Noth" resp. eine „praktische Noth".38 Zum „Irrthum als Vater" des Glaubens in der „Vergessenheit" kommt so die „Noth als Mutter" (KSA 8, 132) unserer Weltinterpretationen sie haben den täuschenden Glauben erst „geschaffen" (KSA 8, 380) zum Zwecke existentiellen Sicherheitsgewinns.39 Doch der Gedanke einer selbsteigenen Tätigkeit, welche einer Enteignung preisgegeben werden könnte, wirft hier jedoch zunächst mehr Fragen auf, als daß er Klärung böte. Im folgenden soll daher versucht werden, dem Gedanken solcherart schöpferischer „Thätigkeit" -

-

-

näher auf den Grund zu kommen. In der Schopenhauer-Dekonstruktion der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung entwickelte Nietzsche das Modell dreier „Weihe[n] der Kultur" (KSA 1, 385 ff.),40 deren unverzichtbare Verflechtung zum Ganzen eines Handlungszusammenhanges er dort betont und als Momente folgendermaßen beschrieben hatte: 1. Die Bewegung des Denkens nach Innen ich nenne diese Bewegung des Denkens hier: 2. 3.

zentripetal; die Bewegung des Denkens nach Außen ihre Verwandlung in die „That".

-

ich

nenne

diese

Bewegung hier: zentrifugal;

-

Nietzsche entwickelte dort deren Gefahren und konnte das Scheitern an ihnen in der Verweigerung des Handlungszusammenhanges und jeweiligen Vereinseitigung und Verabsolutierung nur eines der Momente aufzeigen: Einmal in der einschließend ausgrenzenden, soghaften Bewegung des Denkens nach Innen (Zentripetalität), welche zum Welt- und Sprachverlust des selbstbeherrschenden „Wächters seiner Burg" (FW IV, 305, KSA 3, 543) führte: ihm gilt nur sein Ego, welches er sich allein erhalten will als letztes verbleibendes Sicherheits- und Versicherungs- Refugium des cartesischen „cogito"s -, und so baut er es zur Festung aus. Doch: „Je weniger er sich [im Anderen] wieder erkennt, um so mehr verstummt er, und im erzwungenen Verstummen wird seine Seele ärmer und kleiner" (KSA 7, 831). Der individuell' bleiben wollende „Be-

-

-

37 Siehe dazu auch KSA 5, 399 f., siehe auch Elke Wachendorff, Friedrich Nietzsches Strategien, 247, Fn. 1340 sowie 161. 38 Nietzsche trifft diese Unterscheidung in einem als Kommentar deutlich abgesetzten Abschnitt (KSA 8, 132) anläßlich seiner intensiven Auseinandersetzung mit Eugen Dühring, Der Wert des Lebens. Eine Denkerbetrachtung im Sinne einer heroischen Lebensauffassung, Breslau 1865, im Nachlaß von 1875, Folioheft U III 1, KSA 8, 131-181; siehe auch Elke Wachendorff, Friedrich Nietzsches Strategien, 101 ff. 39 Das in diesem Kontext aufgetretene Problem einer definitorischen Differenzierung von Optimismus/falschem Pessimismus/Pessimismus wird mit der Einführung des Wortes „Nihilismus" ab 1880 befriedigender gelöst. Siehe auch N V 9b, So-He 1882, KGW VII/1, 2 [4], 41f; siehe dazu auch Elke Wachendorff, Friedrich Nietzsches Strategien, 96-104, 105-125; vgl. dagegen Elisabeth Kuhn, Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus, Berlin/New York 1992. 40 Siehe auch Elke Wachendorff, Friedrich Nietzsches Strategien, 78-84 und 63-74 sowie 171-180.

Friedrich Nietzsches Gedanke der „Aesthetischen

Thätigkeit"

509

trachter" (KSA 1, 466) seiner ,Welt' (KSA 8, 37) scheitert in der (zentripetalen) Identifizierung des anderen als der Identifizierung des eigenen projektiven Vorstellungsbildes einer solcherart „kleinen Seele", welche „nicht aus sich heraustritt" (KSA 2, 53)41 und damit nicht zur (poietischen) „That" gelangen kann, scheitert damit an der Ohnmacht eigener Allmachtsphantasien. „Man möchte sagen, die Welt ist Schopenhauer im Großen. Das ist eben nicht wahr" (KSA 8,413, siehe auch KSA 8, 177), so Nietzsche im Nachlaß aus der Zeit Ende 1876 bis Sommer 1877. Ein andermal in der ausschließenden Selbst-flüchtigen Bewegung des Denkens nach Außen (Zentrifugalität), welche zu Selbst- wie Weltlosigkeit als Sprach- und Mitteilungslosigkeit zugleich führt. Auf dieser Einsicht beruht im wesentlichen Nietzsches Kritik der christlichen Altruismusvorstellung wie der vermeintlichen „Objektivität" des ewigen Beobachters und Betrachters: ein „Sich-hinein-Setzen, Sich-hinein-Stürzen in Andere und Anderes, kurz die berühmte moderne ,Objektivität'" (KSA 6, 109)42 als banalisierendes Weltvorstellungstheater (KSA 8, 103). Der „Schopenhauerische Mensch" scheitert derart an den genannten „Kulturweihen" im hybriden Geltungsanspruch metaphysizierender Selbstprojektion (qua Zentrifugalität) und der daraus folgenden Handlungsverweigerung (als der dritten der Kulturweihen). Dazu Nietzsche im Nachlaß vom März 1875: „Die Mitmachenden erscheinen weniger reizvoll als je; [...]. Nun lebt es sich bei aller dieser ,Freiheit' nur gut, wenn man eben nur begreifen, nicht mitmachen will das ist der moderne Haken" (KSA 8, 37). Sowohl Zentripetalität als auch Zentrifugalität als jeweils vereinseitigte alternative Bewegungsmodi des Denkens und Handelns verstanden (und auch in dieser uns geläufigen Trennung von ,Denken' und ,Handeln' ist ein wechselseitiges Ausschließungsverhältnis: Denken nach Innen, Handeln nach Außen schon immer mit ausgesagt) beruhen für Nietzsche jedoch auf dem „unreinen Denken" vorgestellter Gegensätzlichkeit und „Irrthum" der „Ursprungsvergessenheit" (s. o.), erweisen sich so gesehen als bloße Varianten aus derselben lebensökonomischen Vorentscheidung. Beide Varianten realisieren in der Weise der Enteignung resp. der Verweigerung denselben Grundtypus eines lebenstherapeutischen Strategiekonzeptes, gelangen damit nicht zu „Cuitar" stiftender „Thätigkeit". Denn was Nietzsche unter „Cuitar" versteht (KSA 8, 455 f., 481, siehe auch KSA 2, 52 ff), verlangt jene Art schöpferischer kommunikativer Phantasie, welche diese zwei Momente zum Ganzen eines Handlungszusammenhanges zu verflechten und „thätig" zu verwandeln vermag. Dieser Typus begegnet in der Gestalt der „Sprachbildner: das waren die fruchtbarsten Menschen aller Zeiten, und sie zeichnete aus, was jene Musiker und Künstler zu allen Zeiten auszeichnet: ihre Seele war grosser, liebevoller, gemeinsamer [...]. In ihnen sprach die allgemeine Seele mit sich." (KSA 7, 832). In der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung hatte Nietzsche mit einem Goethe-Zitat die „dramatische Dichtung" (KSA 1, 382) als den Modus teilnehmender Phantasie der großen, kontinuierlich entwerfend, wachsenden Seele43 benannt: In den ,,wahre[n] Ekstasen des Lernens" (KSA 6, 302, siehe auch KSA 8, 98) als einer Beziehungstätigkeit des „in einander lebens" (KSA 15, 65) verflechten sich die zwei Bewegungsmomente erinnernder -

-

-

=

=

-

41 Nietzsche nennt diese Setzung von „Ähnlichem" als das „Gleiche": „Magie", in: KSA 8,404. Zur Differenzierung von Identifizierung und Identifikation siehe auch KSA 8, 98. 42 Siehe auch „Selbstflucht" (KSA 3, 319), „Entselbstung" (KSA 5, 379), „Selbt-Zerstörung" (KSA 6, 374). 43 KSA 7, 832, KSA 2, 52 ff, KSA 3,515, KSA 5, 205; Nietzsche spricht ebenfalls von jenem „Entgegenkommen auf halbem Wege" und damit von Diskursivität im Hinblick auf das Naturverhältnis. Im Nachlaß vom Herbst 1887 unterscheidet Nietzsche „Epidermal-Handlungen von einer viel selteneren „Pe^ofiaZ-Handlung" (KSA 12, 491); siehe hierzu ausführlicher auch Elke Wachendorff, Friedrich Nietzsches Strategien, 171-185. -

-

"

Elke

510

Wachendorff

Vergegenwärtigung zu schöpferischer Selbstverwandlung und -expansion zeugender „Thätigkeit".44 Zum einen wird damit die entgegenkommende Erinnerung als Vergegenwärtigung des Vergangenen im Sinne lebendiger Präsenz als eine wesentlich schöpferische, da das Eigene je neu (an)verwandelnde Tätigkeit des Einzelnen (KSA 1, 383) gedacht; zum anderen wird damit die schöpferische Selbsterweiterung in der Stiftung des Nochnicht-Erlebten, Neuen gedacht als Neuentwurf möglicher Lebensoptionen der „Noth"-wendung aus der selbsttätig schöpferischen Vergegenwärtigung und Erzeugung ihrer jeweiligen „Noth" als ihrer jeweiligen Bedürfnisempfindung, und ist damit wesentlich Er-Innerung: und entwerfender

-

-

„und wenn so der Schmerz, das Bedürfhiß entstanden ist, kann auch dort etwas Neues und Edles inokulirt werden" (KSA 8, 258), um schließlich wieder zur neuerlichen Frage zu führen „Erkennst du dich wieder?" (KSA 7, 831). Und nun gelingt Nietzsche das Neue: den Schmerz als schöpferischen Impuls wahrzunehmen und zu erkennen: so wird er positiv erfahrbar als „Stimulans zum Leben, zum Mehr-leben sein" (KSA 6, 266)45 wollen und können in der Stiftung seiner schöpferischen Wendung und Verwandlung und solcherart in der Eröffnung neuer Interpretations- wie Handlungsoptionen. Und so sind „prophetische Menschen sehr leidende Menschen", „aber wir denken nicht daran, dass ihre Schmerzen für sie die Propheten sind!" (KSA 3, 549), wissen nicht, bedenken nicht, daß sie es sind, welche sie leiten und ihre „Instinkt-Sicherheit in der Praxis" (KSA 6, 273) begründen, jene „instinktive Weisheit" (KSA 1, 542, 90, KSA 8, 270 f.), welche -

Nietzsche in Ecce homo

so

vehement für sich selbst reklamiert:

„Warum ich so weise bin"

(Absatz 6).

Aus der physiopsycholgischen Perspektive seines Ansatzes (KSA 13, 228) entwickelt Nietzsche nun im Hinblick auf die Gedanken „aesthetischer" resp. „anaesthetischer"/„unaesthetischer" „Thätigkeit" Entwürfe differierender „.Möglichkeiten des Lebens'" (KSA 8, 115, 117, 101, KSA 3, 347), welche er sodann im Entwurf zweier Grundtypen lebensökonomischer Therapiestrategien subsumiert:

„Jede Kunst, jede Philosophie darf als Heil- und Hülfsmittel im Dienste des wachsenden,

kämpfenden Lebens angesehn werden: sie setzen immer Leiden und Leidende voraus. Aber es giebt zweierlei Leidende, [1.] einmal die an der Ueberfülle des Lebens Leidenden, welche eine dionysische Kunst wollen und ebenso eine tragische Ansicht und Einsicht in das Leben, und sodann die an der Verarmung des Lebens Leidenden [2.] [2.a] die Ruhe, Stille, glattes Meer, Erlösung von sich durch die Kunst und Erkenntniss suchen [als Zentrifugalität], [2. b] oder aber den Rausch, den Krampf, die Betäubung, den Wahnsinn [als zentripetale Implosion]. -

44 In ihrer Verflochtenheit realisieren und stiften sie die schöpferisch verwandelnde „That" (als dritte Forderung der „Kultur-Weihen"), wodurch sie nicht im Sinne dialektischer Gegensetzung zur Synthesis vorgestellt werden

können. 45 Siehe auch KSA 13, 38, 228, 361; „Warum will er [der grosse Mensch] so stark das Gegentheil [zum: „Leben leicht nehmen" des „kleinen Menschen"] nämlich gerade das Leben spüren, das heisst am Leben leiden?" (KSA 1, 373, letzteres noch schopenhauerisch ausgedrückt); siehe dazu auch Elke Wachendorff, Friedrich Nietzsches Strategien, 157 f.

Friedrich Nietzsches Gedanke der „Aesthetischen

Thätigkeit"

511

Dem Doppel-Bedürfnisse der Letzteren entspricht alle Romantik in Künsten und Erkenntnissen, ihnen entsprach (und entspricht) ebenso Schopenhauer als Richard Wagner" (KSA 3, 620)46 Es ist die jeweilige Empfindung des Schmerzes, welche sich solcherart ihre jeweilige „Heilkunst" gebiert, die ihr je eigene und adäquate Weise einer „Heilkunst" als Versuch, ihre je eigene „Noth" auf die ihr je adäquate Weise zu wenden, gebiert sich somit ihre jeweilige „Noth-wendigkeit" zur Heilung als Befriedigung und Befriedung.47 Und so entwickelt Nietzsche den Gedanken eines lebensökonomischen Strategietypus hoher Heilkunst, welchen er von einem zweiten Typus „niedriger Heilkunst" differenziert,48 welch Letzterer wie unschwer zu erraten die Strategievarianten nachsokratischer Moderne diagnostiziert. Dessen Verfahren der Vereinseitigung und Polarisierung als Wertsetzung wird von ihm als „unreines Denken"49 benannt, welches den grundlegenden destruktiven und enteignenden Irrtum in Gestalt der allvorgängigen Entgegensetzung von Lust und Leid, damit des grundlegenden Mißtrauens in die eigene Leibessprachlichkeit bereits im Ur-Sprung ihrer auch noch so unterschiedlich erscheinenden Konzeptionen immer schon als „Ent-Scheidung" voraussetzend selbst vollzieht.50 Eingestreut in die Niederschriften seiner Dühring-Exzerpte im Nachlaß von 1875 befinden sich einige deutlich abgesetzte Kommentare Nietzsches, u. a. eine sehr wichtige Präzisierung dieses Gedankens (KSA 8, 155 f.). Nietzsche bestimmt hier im Hinblick auf seine Konzeption einer Hohen Heilkunst Schmerz und Lust folgendermaßen:51 beide negativ: in ihrem Mangel, ihrem Bedürfnis, ihrem Verlangen nach Befriedigung52 (nach Reizung aus einem zu-wenig), beide positiv: in ihrer Befriedigung eines Bedürfnisses, Aufhebung eines Mangels (an -

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Reizung),

den Schmerz zusätzlich positiv: in der Stiftung eines neuen Bedürfnisses (nach Wendung aus einem zu-viel an Reizung). Für das solcherart gedachte Schmerz-Lust-Gefüge folgt daraus: daß dieses schöpferisch ist in Schmerz wie Lust als Impuls zur Aufhebung eines Mangels hin zu dessen Befriedigungsgestaltang: also in der Reizerzeugung, schöpferisch ist darüber hinaus im Schmerz in der verwandelnden Stiftung eines neuen Bedürfnisses (KSA 8, 156): nach Wendung aus einer Überreizung. In einem solcherart „schöpferisch und affirmativ" bestimmten Schmerz-Lust-Gefüge (KSA 1, 542, 90, KSA 8, 270 f.) kann nun der drängende, kreativ-verwandelnde Impetus der „Noth"

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FW 5, 370, „Was ist Romantik?", KSA 3, 620, Gliederung von mir. Siehe auch KSA 1, 100 f., 133, 245. KSA 7, 799, 821 f., siehe KSA 1, 57, 65, 100, 101, 132, 133, 136. Als solche bereits im Frühling/Sommer 1875 benannt, siehe KSA 8, 86,457 f., KSA 1, 134, 136. In Hinblick darauf heißt es: „Wir leiden an der ungemeinen Unreinlichkeit und Unklarheit des Menschlichen", KSA 8, 18: Nietzsches erster Hinweis auf den Gedanken des Menschlichen- Allzumenschlichen. 50 Eine nur vermeintlich ähnliche Ablehnung formuliert Eugen Dühring, Der Wert des Lebens,94. Siehe hierzu auch Elke Wachendorff, Friedrich Nietzsches Strategien, 87-104. 51 „Schmerz" und „Lust" müssen hier im fundamental-anthropologischen Sinne einer lebensstrategischen Wertentscheidung und damit einer Differenzierung von „Schmerz"/„Lust" versus „Leiden"/„Glück" zuvorgedacht verstanden werden. Siehe hierzu auch Elke Wachendorff, Friedrich Nietzsches Strategien, 18, 309 f. 52 Positivität und Negativität sind damit weder im dialektischen Sinne noch im moralisch wertenden Sinn gedacht, sondern allein in bezug aufdas Bedürfnis und auf dessen Befriedigungsgestaltung, welchen hier die Nietzschesche 46 47 48 49

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Frage gilt.

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Elke

512

Wachendorff

in seiner Dynamik als „Mutter der Sprache" gedacht werden (KSA 7, 831 f.). „Aber damit diese als das Gemeinsame empfunden werde, muss schon die Seele weiter als das Individuum ist geworden sein, sie muss auf Reisen gehen, sich wieder finden wollen, sie muss erst sprechen wollen, bevor sie spricht",53 muß solcherart zur Wendung ihrer Noth schöpferisch drängen. Im frühen Nachlaß vom Ende des Jahres 1874 befindet sich ein weiteres längeres Fragment zu Entstehen und Wesen von Sprache, welches hier nun mit Nietzsche auch im weiteren Sinne auf die Gestaltwerdung leibessprachlicher Selbstmitteilung bezogen werden kann. Hier heißt es u. a.:

„Aller Verkehr unter Menschen beruht darauf, dass der eine in der Seele des andern lesen kann; und die gemeinsame Sprache ist der tönende Ausdruck einer gemeinsamen Seele. [...] Sprechen ist im Grunde ein Fragen des Mitmenschen, ob er mit mir die gleiche Seele hat [...] Je inniger und zarter jener Verkehr wird, um so reicher die Sprache; als welche mit jener allgemeinen Seele wächst oder verkümmert" (KSA 7, 831)54 -

Sprachschöpfung kann damit im allgemeinsten Sinne als interaktiv sensibilisierende wie inten-

sivierende, expandierende und damit „aesthetische" Selbst-/Welt-Gestaltung begriffen werden. „Selbstverlust" eines vorgestellten Selbstbildes (imago) kann dann nurmehr eine „Ich"-Vorstellung des Individuums betreffen (KSA 1, 341), eine Vorstellung, welche hier jedoch durchaus hin zu opfern ist.55 Denn dies gerade bedeutet „Philosophisch gesinnt sein": „So nimmt man erkennenden Antheil am Leben und Wesen Vieler, indem man sich selber nicht als starres, beständiges, Eines Individuum behandelt." (MA II, 618, KSA 2, 349; siehe auch KSA 7, 806.) Das Nietzschesche Diktum ,„ich will mein bleiben!'" (KSA 1, 374) erhellt sich hier gerade -

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als Widerstand gegen die Enteignung jenes „Eigenthums", welches ihm lebendiges Leben und „Cultur" als Prozeß kontinuierlicher Selbst-/Welt-Überschreitung und diese erschaffende Beschreitung zugleich überhaupt erst bedeutete. Dieses „Eigenthum" welches Nietzsche sehr präzise von „Besitz"-Vorstellungen zu scheiden weiß (siehe KSA 7, 721, KSA 8, 550, KSA 3, 189 f.) kann hier nun als die dynamisch schöpferische „aesthetische" Selbsttätigkeit begriffen werden. Das so ergriffene „Leben" erweitert, exploriert, ja explodiert den geöffneten -

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„die Noth einer ganzen Heerde, eines Stammes" betont Nietzsche. Die Geburt der Sprache aus der „Noth"-Empfindung ist damit ausdrücklich nicht gedacht als reaktive individuelle Ergreifung eines Kommunikationsmittels aufgrund des Sozialisationsdruckes der Gesellschaft aufdas Individuum. Das Bedürfnis der Sprachschöpfung entspringt vielmehr der im Kollektiv erwachsenden Lust schöpferisch-diskursiver Selbsttätigkeit, der Lust gestalterischer Selbsterweiterung i. S. eines selbsttätigen Frage- und Antwortspiels, welches in der Überreiztheit lustvoller Kommunikations- und Dialogizitätsbedürfnisse als Schmerzempfindung schöpferisch wird, sich solcherart seine Sprachen gebiert, als Sprachen der Gebärden, Bewegungen, Rhythmen, der Laute und Töne, der Formen, Farben, Symbole, Metaphern, Bilder... Doch ist die Lust dialogisch verfaßter Lebendigkeit in diesem im Wendepunkt der Überreiztheit schmerzhaft werdenden Bedürfnis wie gesehen geborgen, und durch dieses Verhältnis erst entsteht das Wollen ", die Dynamis des schöpferischen Kraftpotentials der Schmerzerfahrung. Zur Notwendigkeit des Reisens ins Überindividuelle und Historische für die Indivualitätsüberschreitung siehe auch: MA II/l, 223; vgl. auch Graham Parkes, „The Orientation of the Nietzschean Text", in: Nietzsche and Asian Thought, Chicago 1991, 3-19, 7. Siehe dazu ausführlicher auch Elke Wachendorff, Friedrich Nietzsches Strategien, 174 ff. In diesem Sinne spricht Nietzsche im bereits zitierten Aphorismus 137 aus der Morgenröthe vom „,Ich"' als eines „Gesichtspunctfes]" welcher damit auch verdoppelbar ist (KSA 3, 130: das „Ich" ist von Nietzsche in Anführungszeichen gesetzt). Siehe auch KSA 1,357, sowie KSA 8, 342. Siehe auch Elke Wachendorff, Friedrich Nietzsches

53 KSA 7, 831 :

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54 55

Strategien, 180-185.

Friedrich Nietzsches Gedanke der Aesthetischen „

Thätigkeit

"

513

Seelenraum' im kontinuierlichen Schöpfüngsprozeß, in dessen Vollzug man erst „wird, was ist".56 In suchender .¿Selbstsucht1 (KSA 6, 293) und Preisgabe der Bilder, der Vorstellungen, des Aberglaubens an vermeintliche „Identitäten" eines „,Ich"', welches doch nur und „erst eine Synthese" (KSA 5, 73) ist, verwirklicht sich die „Schlangenklugheit [...], die Haut zu wechseln" (KSA 2, 372)57 und immer wieder neu sich zu gebären. Und letztere „setzt voraus, dass man nicht im Entferntesten ahnt, was man ist"! (KSA 6, 293) Und so wird verständlich, wie Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse sagen kann „Ein Deutscher, der sich erdreisten wollte, zu behaupten ,zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust' würde sich an der Wahrheit arg vergreifen, richtiger, hinter der Wahrheit um viele Seelen zurückbleiben" (KSA 5, 184).58 Er würde ,

man

Jenes

andere

geheimnisvollere Pathos" nicht ergreifen, ,jenes Verlangen nach immer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die Herausbildung immer höherer, seltenerer, fernerer, weitgespannterer, umfänglicherer Zustände, kurz eben die Erhöhung des Typus ,Mensch', die fortgesetzte ,Selbst-Überwindung des Menschen', um eine moralische Formel in einem übermoralischen Sinne zu nehmen" (JGB 257, „was ist neuer

vornehm?", KSA 5, 205).59

„aesthetischer Thätigkeit" kann damit zunächst zusammenzentripetal/zentrifugaler, kreativ identifikatorischer (nicht jedoch, da vereinseitigend: identifizierender) Handlungszusammenhang umschrieben werden. In diesem dynamischen, tanzend, pulsierend gedachten Modus60 ist Bewegung selbsttätige Spontaneität und deutlich abgehoben von deren Enteignung61 in je einseitigen, ein- und/oder ausgrenzenden Fluchtmomenten bloßer Bewegtheit aus einer/in eine Stasis.62 Der Nietzschesche neue Gedanke

fassend als

56 Der Untertitel des Ecce homo; siehe auch KSA 2,21 ; als Verwirklichung eines fundamentalen „Willens", dessen Mitteilungswesen einem ursprünglichen „Gewissen" zugesprochen wird, KSA 1, 338. Bereits in der Geburt der Tragödie wird die Differenz dieses „productiven" Gewissens gelingender Willensversprachlichung zum scheiternden, pervertierten „schlechten Gewissen" im .„Dämonion des Sokrates'" als „eine wahre Monstrosität per defectum" deutlich und unmißverständlich ausgedrückt (KSA 1, 90). 57 Siehe auch KSA 3, 330, 400, KSA 4, 109 ff, siehe auch KSA 6, 283, 293 f., 372, 166. 58 Wenn Nietzsche in späteren Jahren (in Briefen, Nachlaß, im Ecce homo) über seine dritte und vierte Unzeitgemäßen Betrachtung sowie die Geburt der Tragödie sagt, es gehe in ihnen allen eigentlich immer nur um Nietzsche selbst (so z. B. KSA 15, 195), kann diese Selbstaussage unterschiedlich gedeutet werden: im Sinne der hier entwickelten Bewegung zentripetal/zentrifugaler schöpferischer Selbsterweiterung, Selbstentgrenzung, Selbstverwandlung oder aber im Sinne projektiv selbstbestätigender Selbstbegrenzung in vorgestellter bestimmter Individualität. Auch Nietzsches eigene Denkbewegung muß sich einer diesbezüglichen kritischen Befragung dementsprechend stellen. 59 In der Vergegenwärtigung des dionysischen Leidens und dessen Rück,Vermittlung' auf seinen Urlustgrund in der „dionysisch-tragischen" Selbstentgrenzungsbewegung der „aesthetischen Thätigkeit" wird das „Pathos der Distanz" gedacht als die Leid-/Lustvolle Geburtlichkeit des ,Seelenraumes', welcher Weite und Tiefe und solcherart „Distanz" gewinnt, sich wandelt zur großen „Seele" (KSA 7,832). Der Nietzschesche Gedanke einer Neuen „Ökonomie" sucht ausdrücklich das Extreme, die Maximierung der Amplituden. In diesem Sinne ist seine Forderung zu interpretieren: ,JAauptgesichtspunkt: Distanzen aufreißen, aber keine Gegensätze schaffen" (KSA, 12, 494). Siehe dazu ausführlicher auch: Elke Wachendorff, Friedrich Nietzsches Strategien, 219 ff, 155. 60 Zur Fiktionalität von „Subjekt" und „Ich" siehe z. B. KSA 12, 32, 106, 313 f., 398 u. a. 61 Vgl. hierzu Nietzsche zu Schlegels ,Selbstvernichtung' in JGB, Aph. 229 (KSA 5, 165 ff). 62 Erst diese Weise schöpferischer Selbstbewegung kann als die gelingende Selbstverwirklichung der fundamentalanthropologischen Kategorie des „Willens zur Macht" sinnvoll begriffen werden. -

-

Elke

514

Wachendorff

Für jene Haltung, welche Nietzsche als „Cultur" begreift, gilt es also, einen „Sensualismus" entwickeln,63 und d. h. in der Schärfung der Aufmerksamkeit eine maximal gesteigerte Sensibilität für die Sprachgestalten des jeweiligen Handlungstypus' zu entwickeln: für die Sprachgestalten „aesthetischer" resp. „unaesthetischer" „Thätigkeit". Die jeweils darin sich artikulierenden (Selbst-) Mitteilungsweisen des unausweichlich interpretatorischen, vorgängigen Empfindungs- und Wahrnehmungswesens vergegenwärtigen sich für Nietzsche selbst am deutlichsten (weil unverstelltesten) in Gestalt von Musik, vornehmlich als Lied.64 Und wenn Nietzsche aus diesem Grunde dann auch fordert: „Ohren hinter den Ohren", „Ohren für Unerhörtes" (KSA 8, 335, KSA 6, 58, 167),65 ja: „Augen in den Ohren" (KSA 8, 335, KSA 6, 300, 304; siehe auch KSA 5, 380) zu entwickeln, so richtet sich diese Forderung dementsprechend auf das Hören des jeweiligen Typus', der je spezifischen Weise der selbsteigenen resp. enteigneten „aesthetischen Thätigkeit", richtet sich in erinnernd/erinnernder schöpferischer Vergegenwärtigung stets auf die Weise der jeweils geborgenen unerhörten: nicht-(mehr)/noch-nicht erhörten leiblichen Mitteilungsgestalt. Und wenn Nietzsche dann in Nietzsche contra Wagner schreibt: „Ästhetik ist ja nichts als eine angewandte Physiologie" (KSA 6, 418),66 dann wird hier nun der Zusammenhang von physiologischem Gedankenexperiment und Kunstbegriff im Sinne einer solcherart neu zu bestimmenden Ästhesio-Logie67 greifbar, und der berühmt gewordene Gedanke alleiniger „Rechtfertigung" (KSA 1, 47, 152, 17) von „Welt", von „Leben" als „aesthetisches Phänomen" (KSA 1, 61, 141 ff, 153), verliert hier jegliche Anstößigkeit. Die hiermit versuchte Entwicklung des Nietzscheschen Gedankens eröffnet nun aber weitere grundlegende Implikationen und Konsequenzen. So muß nun das Mitleid als offensichtlich nicht nur thematisch sondern auch methodisch zentrale Kategorie des Nietzscheschen Denkens erkannt werden: ,„Mitleid': wie plump fällt die Sprache mit ihrem Einen Worte über so ein polyphones Wesen her! -" (M 133, KSA 3, 126)68 Und so unterscheidet Nietzsche dementsprechend das „Mit-Leiden" identifikatorischer Schmerzvergegenwärtigung von jenem „Mitleid" identifizierender Leidensvorstellung, welches wie nunmehr begreifbar wird Zarathustra schließlich auch zur letzten und größten Gefahr geraten muß,69 wird doch die „Kluft" genau hier, zwischen schöpferischem „MitLeiden" und projektivem „Mitleid" besonders eng und tief zu begreifen sein:70 Auf der einen Seite gilt es zu

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„die Erlebnisse Anderer so ansehen und aufnehmen, wie als ob sie die unseren wären die Forderung einer Philosophie des Mitleidens -, [doch] diess würde uns zu Grunde richten, und in sehr kurzer Zeit: man mache doch nur den Versuch damit und phantasire nicht länger! [...] -

63 So Nietzsche im fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft versus „Idealismus" (KSA 3, 623). 64 Siehe bereits in GT, KSA 1, 51 f. 65 Siehe auch das berühmte „Wachs in den Ohren" KSA 3, 623; siehe KSA 3, 559: „man muss lieben lernen. [...] hören lernen". 66 In der Genealogie der Moral verspricht Nietzsche daher auch eine zukünftige „Physiologie der Ästhetik" (KSA 5, 356); siehe auch Elke Wachendorff, Friedrich Nietzsches Strategien, 241. 67 Zur Forderung mindestens „zweier Aesthetiken" siehe KSA 8, 310. 68 Siehe auch Nietzsches Betonung der „Nuance", KSA 5, 40, KSA 6, 110. 69 KSA 4, 301, 331. Hier erklärt sich Nietzsches Preisgabe des Empedokles-PIanes. 70 Siehe hierzu v. a. FW IV, 334, 338. -

Friedrich Nietzsches Gedanke der „Aesthetischen

Thätigkeit"

515

Oder:

„,leide so an dem Übel des Andern, wie er selber leidet', brächte dagegen mit sich, dass der Ich-Gesichtspunct, mit seiner Übertreibung und Ausschweifung, auch noch der Gesichtspunct des Anderen, des Mitleidenden, werden müsste: so dass wir an unserem Ich und Ich des Anderen zugleich zu leiden hätten und uns derart freiwillig mit einer Unvernunft beschwerten" (KSA 3, 130, Gliederung von mir).

am

doppelten

In beiden Fällen würden die vereinseitigten Handlungsmomente zentripetaler resp. zentrifugaler Identifizierung nur zu einer sinnlosen da unproduktiven Leidensvermehrung (KSA 3, 128) führen und letztendlich doch nur identifizierende Projektion „eignen Leids" (KSA 3, 126) und eigener Vorstellungen vollziehen. Individualität, Beobachtungs- und Betrachtungsrolle würden dabei keineswegs aufgehoben werden, vielmehr verfestigt in der bloßen Multiplikation des je individuellen Leidens an den je eigenen Vorstellungen: Eine Unerträglichkeit wider jegliche Erfahrung und Vernünftigkeit (KSA 3, 126 ff, KSA 8, 413), vollends für das hybride „Leiden am Dasein", „am Leben", „an der Welt",71 würde doch das solcherart identifizierte Leiden nicht neu eröffnetes sondern wiederholtes eigenes und eben damit von der Option schöpferischer Verwandlung ausgeschlossen bleiben, ein potentieller kreativer Impetus (als Positivitätsüberschuß) nicht verwirklicht werden können. Auf der anderen Seite stellt die erinnernd/entwerfende Selbstbewegung kreativer Identifikation als die Weise „aesthetischer Thätigkeit" die Frage nach der je eigenen „Noth" des Anderen in der Weise selbsttätiger Erzeugung. In der immer wieder gestellten Frage nach der „Person" als des jeweiligen Projektionsurhebers entwirft (KSA 8, 493). Nietzsche in sich selbst den „Schopenhauerischen Menschen" wie den „Menschen Rousseaus", den „Menschen Goethes", den Menschen Wagners u. s. f. als je differierende Möglichkeiten „Noth"-wendenden Selbstentwurfes wie Weltentwurfes zugleich. „Es sind die Personen zu schildern" (KSA 8, 106, 524, 99), um „von der Art der Befriedigung auf die Art der Noth zu schliessen" (KSA 1, 506, 149, KSA 3, 347). Die schöpferische Selbstentgrenzung, Selbstüberschreitung72 als Selbsterfahrung und Selbstgestaltung zugleich (siehe KSA 8, 329) entwirft erinnernd/er-innernd die je neue „Noth" als eigene, wird so selbst-„gemünztes Eigenthum".73 Sie stellt nicht die vorgestellten Leiden vor als ob sie die unseren wären" (KSA 3, 130), sondern eröffnet vielmehr deren je eigene selbsttätige Neuschaffung zu persönlicher Horizonterweiterung, um derart „aus vielen Augen in die Welt blicken" zu lernen (KSA 1, 466, siehe auch KSA 8, 179, KSA 2, 53). Und Nietzsche versucht in der Tat in sich selbst die Empfindung der großen „Noth" Schopenhauers, der „Noth" Wagners, der „Noth" Goethes, Rousseaus entstehen zu lassen, sie als sein eigen in sich selbst neu zu erzeugen. Aus der solcherart gestifteten Bedürfhisempfindung gebiert er sich selbst deren adäquate Befriedigungsgestaltang aus der Selbstentfaltung der jeweiligen „Noth-Wendigkeit" Schopenhauers, Wagners u. s. f. als seiner eigenen zugleich. Von dieser schöpferischen Denkbewegung legen die dritte und die vierte Unzeitgemäße Betrachtung unmiß-

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71 Der Kern der Nietzscheschen Schopenhauer-Dekonstruktion! Siehe hierzu ausführlicher Elke Wachendorff, Friedrich Nietzsches Strategien, 91 ff. 72 Als „.Selbst Überwindung' [...] in einem Ubermoralischen Sinne" benannt, KSA 5,205. 73 Da ist der „Goldmacher"! KSA 15,33, Siehe hierzu auch Elke Wachendorff, Friedrich Nietzsches Strategien, 311, Fn 1762.

Elke

516

Wachendorff

verständlich Zeugnis ab.74 Wagner selbst bestätigt diese Nietzschesche Denkhandlung in seiner begeisterten telegraphischen Reaktion auf die vierte Unzeitgemäße: „Freund! Ihr Buch ist ungeheuer! Wo haben Sie nur die Erfahrung von mir her?" (KGB 11/6, 362). Im Prozeß dieser poietischen Erkenntnistätigkeit75 vermag der Einzelne die Erweiterung seiner in diesem Sinne über die Beschränkung bloßer Individualität hinausgeratenden „Seele" -

zur zu

„Größe" eines kontinuierlich expandierenden Seelenraumes76 selbsttätig schöpferisch gestalten, und so nennt Nietzsche diesen Prozeß in der Genealogie der Moral auch -

„Einverseelung".77

Wenn Nietzsche in einem Fragment anmerkt: „Weil man an so vielen andern und größern Leiden theilnehmen lernt! der schwerere Schmerz überwältigt den geringeren!" (KSA 8, 174): dann muß dabei also bedacht werden, daß jene Überwältigung zum einen im Sinne einer durch die identifizierende Selbstbezüglichkeit entstehende und Desensibilisierung (KSA 8, 147, 443, siehe auch 431 f., 440) erfolgen Abstumpfung zur welche kann, „Enge und Verschrumpftheit" (KSA 1, 385) der „Seele" fuhrt, denn: „Die von Engigkeit Kopf und Herz macht [hier] das Dasein erträglich!",78 da hier „der intensivere Schmerz gegen den viel kleineren stumpf macht";79 -

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74 Und so formuliert das folgende Fragment aus dem Nachlaß Ende 1876 bis Sommer 1877 eine präzise Selbstaussage und -anforderung, und zwar sowohl im Hinblick auf Nietzsches eigene Person als auch im Hinblick auf die damit begründete anthropagogische Aufgabe neuerlicher „Cultur"-Stiftung: „Der welcher über die inneren Motive des Menschen schreibt, hat nicht nur kalt auf sie hinzudeuten [...]. Er muß die Erinnerung an diese und jene Leidenschaft, Stimmung erwecken können, und muß also ein Künstler der Darstellung sein. Dazu wiederum ist nöthig, daß er alle diese Affekte aus Erfahrung kennt; denn sonst wird er indigniren durch Kälte und den Anschein von Geringschätzung dessen, was die anderen Menschen so l/e/bewegt und erschüttert hat. Daher muß er die wichtigsten Stufen der Menschheit künstlerisch, wollüstig, ehrgeizig, böse und gut, patriotisch und kosmopolitisch, aristokratisch und plebejisch gewesen sein und die Kraft der Darstellung behalten haben [...]. Jedes Wort über die Motive des Menschen ist unbestimmt und andeutend, man muß aber stark anzudeuten verstehen, um ein starkes Gefühl darzustellen" (KSA 8,417 f.), und dadurch „die erfindende Fähigkeit des Lesers zu erregen, als ob er ein Räthsel rathen sollte" (KSA 8,435): die Handlung des „Dramatikers"! KSA 8,456, wiederum in bezug auf Shakespeare; siehe auch KSA 8, 187,269, 292, 327, 329, 335, 375,455, KSA 14, 584; siehe ferner auch KSA 8, 25 ff., 59, 89,269, 305, 361,435,450,463,465 (zu Erfahrung und Lernen); siehe KSA 8, 267 f. (zu Leiden und Lernen). Siehe hierzu ausführlicher Elke Wachendorff, Friedrich Nietzsches Strategien, 185. 75 In Ecce homo, „Warum ich so weise bin, 6", heißt es daher auch entsprechend unmißverständlich: „ich greife nie Personen an, ich bediene mich der Person nur wie eines starken Vergrössemngsglases, mit dem man einen allgemeinen, aberschleichenden, aber wenig greifbaren Nothstand sichtbar machen kann" (KSA 6,275) und nennt David Strauss und Richard Wagner als Beispiele. 76 Siehe KSA 7, 830 f.; „Individualität" wird damit zur Kennzeichnung einer „kleine Seele"! 77 Als der „aktiven Vergesslichkeit", KSA 5,291. Hier begegnet Nietzsches zweiter Gedanke der Vergessenheit: „ein aktives, im strengsten Sinne positives Hemmungsvermögen" (dito), welche das Erinnerte/er-Innerte in der wachsenden Verwandlung der Person zu deren Eigentum verschmilzt, jene Vergessenheit des „unhistorischen Elementes", welche Nietzsche in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung als unabdingliche Voraussetzung allen Anfangen Wollens und Könnens benannt hatte (KSA 1, 248 ff). In diesem Kontext muß natürlich auch der Nietzschesche Gedanke eines produktiveren Verhältnisses zur Historie (siehe z. B. KSA 8, 455, 532, 421) begriffen werden als „Drama" von er-Innening und „Einverseelung" in schöpferischer Vergessenheit als Kultivierungsprozeß. (KSA 5,291 ff). Siehe hierzu ausführlicher Elke Wachendorff, Friedrich Nietzsches Strategien, 98 f., 184. 78 KSA 8, 174, von Nietzsche ausdrücklich als eigener Kommentar zu Dühring ausgewiesen durch ein „Ego" zu Beginn des Gedankens, Zeile 19, und die Eingrenzung in runden Klammern, Zeile 19 und Zeile 24. 79 KSA 8, 147, von Nietzsche als eigener Kommentar zu Dühring ausgewiesen durch die Eingrenzung in runden Klammem, Zeile 7 und Zeile 13 (beides So 1875). -

Friedrich Nietzsches Gedanke der „Aesthetischen

Thätigkeit"

517

anderen aber im Sinne der durch die „aesthetische Thätigkeit" erzeugten Vertiefung und Intensivierung der eigenen sensitiven Fähigkeiten sowie der Steigerung und Bereicherung der imaginativen und kreativen Kapazität (in der Vergenwärtigung differierender Noth-Wendungs-Optionen möglichen Lebens) zur „Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst" (KSA 5, 205, 371, KSA 6, 299, 294), zum Wachstum des ,einverseelenden' Seelenraumes führen kann. Nietzsches neue Konzeption ,aesthetisch thätigen' Mit-Leidens muß damit zum einen als poietische Tätigkeit vom theoretisch-praktischen Umgang mit dem Leiden in einer Mitleidsethik deutlich abgehoben werden. Zum anderen bedeutet ihre unvergleichlich ernster und tiefer wie zugleich reicher und unabdinglicher gedachte Konzeption auch die Begrenzung ihrer Verwirklichungsmöglichkeiten durch den Einzelnen: „Du wirst auch helfen wollen: aber nur Denen, deren Noth du ganz verstehst [...] deinen Freunden" (FW IV, 338, KSA 3, 568), um nicht in der Aufdrängung eigener Hilfsvorstellungen und Vorstellungshilfen in die Wahrnehmungslosigkeit des „Mitleids" zu gleiten, welche „plump", anmaßend, ja durchaus zerstörerisch80 mit Bedürfhisartikulationen und Befriedungsverlangen Anderer umgehehen kann. Der tiefe Ernst dieses Gedankens begründet daher auch Nietzsches Forderungen nach einer zum

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Ethik der Freundschaft": „Die welche sich mit uns freuen können, stehen näher als die welche mit uns leiden. Mitfreude macht den ,Freund' (den Mitfreuenden), Mitleid den Leidensgefährten. Eine Ethik des Mitleidens braucht eine Ergänzung durch die noch höhere Ethik der Freundschaft" (KSA 8, 333).81

„noch höhere[n] höher und

uns

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Diese aber setzt eine poietische, ästhetisch tätige Lebenshaltung wechselseitig schöpferischer Befruchtung voraus: „Freunde, wir haben Freude an einander [...] weil wir durch einander uns ziehn" so Nietzsche im Nachlaß vom Sommer 1878 (KSA 8, 559). In Ecce homo schlägt Nietzsche selbst eine Brücke der Art, wie sie an der Schwelle zu einem neuen Jahrtausend zu eröffnen wäre: -

,„Nicht durch Feindschaft kommt Feindschaft zu Ende, durch Freundschaft kommt Feindschaft zu Ende': das steht am Anfang der Lehre Buddha's so redet nicht die Moral, so redet die Physiologie" (EH 6, KSA 6, 273). -

Doch ist mit Nietzsche „Vor- und Rücksicht" zu wahren: denn wie das Mit-Leiden vom Mitleid sich scheidet, wird auch für die Mit-Freude mit zwei Gesichtern zu rechnen sein müssen, entspringend aus Armut oder aus Reichtum der Seele. Denn aus der radikalen Abwehr jeglichen Gefühls „der Rache, der Abneigung, des Ressentiment" (EH 6, KSA 6, 273) entsteht noch lange nicht eo ipso jene intendierte, kreative Selbsttätigkeit verlangende Mit-Freude, zumal dann nicht, wenn „in Folge einer extremen Leid- und Reizfähigkeit" durch eine Übung absoluter Reaktivitätsvermeidung überhaupt eine allgemeine „Furcht vor Schmerz, selbst vor dem Unendlich-Kleinen im Schmerz" entsteht, eine Haltung, welche „überhaupt nicht mehr .berührt' werden will, weil sie jede Berührung zu tief empfindet" (AC 30, KSA 6,200 f.) und in dieser Vermeidungsstrategie notwendig zu seelischer Verarmung führen muß.

80 Zum Mitleid siehe KSA 3, 125 ff, 565 ff, KSA 4, 301 ff, 33 Iff, KSA 5, 154ff,v.a. 160 f., 235 f., 251 6, 269 ff, KSA 12, 215; zu Mitleid und Liebe siehe KSA 8, 117, 142, 179, KSA 3, 559. 81 Siehe auch KSA 7, 430 f., 741, KSA 8, 413, 441, KSA 3, 568, 371, KSA 6, 273, 292.

ff, KSA

Elke

518

Wachendorff

Der Nietzschesche Gedanke hoher „Mit-Freude" entwirft demgegenüber das Modell einer höheren Lebensökonomie der Selbstentgrenzung und Selbstverschenkung personalen Reichtums, einer Affektökonomie der „offnefnj Hände" (KSA 6,292), der Ueberfülle des Lebens (KSA 3, 620), ja eines „Zuviel von Leben" (KSA 6, 313; siehe KSA 4, 97 ff, „Von der schenkenden Tugend"), einer „Psychologie des Orgiasmus als eines überströmenden Lebens- und Kraftgefühls" (KSA 6, 160, siehe auch KSA 13, 38, 229), entwirft solcherart eine Affektökonomie „höherer" und „tieferer", damit ausgreifenderer „Weisheit" (KSA 8, 463). „Höher" wird diese Ethik aber nun vornehmlich auch darin sein müssen, als sie die Frage nach ,Wahrheit' und ,Objektivität' im Sinne „einer Philosophie der Gänsefüßchen'" (KSA 11, 580) wird nunmehr übernehmen müssen. In der zweiten Vorrede zur Fröhlichen Wissenschaft aus dem Jahre 1886 definiert die im Sinne des vorliegenden Versuches begriffene „aesthetische Thätigkeit" als „Transfiguration" dann auch Nietzsches neuen Begriff von Philo"



sophie:

„Ein Philosoph, der den Gang durch viele Gesundheiten gemacht hat und immer wieder macht, ist auch durch ebensoviele Philosophien hindurchgegangen: er kann eben nicht an-

ders als seinen Zustand jedes Mal in die geistigste Form und Ferne umzusetzen, diese Kunst der Transfiguration ist eben Philosophie. Es steht uns Philosophen nicht frei zwischen Seele und Leib zu trennen, wie das Volk trennt, es steht uns noch weniger frei, zwischen Seele und Geist zu trennen. Wir sind keine denkenden Frösche, keine Objektivirund Registrir-Apparate mit kalt gestellten Eingeweiden, wir müssen beständig unsere Gedanken aus unsrem Schmerz gebären" (KSA 3, 349, siehe auch KSA 2, 349). -

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Im Hinblick auf die unausweichbare Reduziertheit unserer unhintergehbaren Perspektivität wird die in der Konzeptualisierung realisierte persönliche Haltung somit zur einzigen Disponiblen, über die wir etwas aussagen können, und einzigen Variablen, die uns Spielraum läßt. Im Aphorismus 346 der Fröhlichen Wissenschaft V, „Moral als Problem", heißt es:

„die grossen Probleme verlangen alle die grosse Liebe, und dieser sind nur die starken, runden, sicheren Geister fähig, [...] es macht den erheblichsten Unterschied, ob ein Denker zu seinen Problemen persönlich steht, so dass er in ihnen sein Schicksal, seine Noth und so auch sein bestes Glück hat, oder aber unpersönlich'" (KSA 3, 577).82

,Objektivität' wird damit allein eine Frage der Größe, Weite und Tiefe jeweilig realisierter Perspektivität und damit eine Frage nach der emotionalen, intellektuellen wie imaginativen und das heißt: ästhetischen Ernsthaftigkeit, Redlichkeit und „Wahrhaftigkeit" (KSA 6, 367) der Person. Verstehen wird damit eine Frage des Modus, der Weite und Tiefe, der Intensität, Stärke und Kraft der ausgreifenden Bewegung persönlicher „aesthetischen Thätigkeit", kann dann eine Frage der „Leidenschaft" werden:

-

-

„Der Seufzer des Erkennenden. ,Oh über meine Habsucht! In dieser Seele wohnt keine Selbstloskeit, vielmehr ein Alles begehrendes Selbst, welches durch viele Individuen wie durch seine Augen sehen und wie mit seinen Händen greifen möchte, ein auch die ganze Vergangenheit noch zurückholendes Selbst, welches Nichts verlieren will, was ihm über-

-

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82 Siehe dagegen die Interpretation durch Keji Nishitani, The Self-Overcoming, 88 (im Sinne persönlicher Unberührbarkeit).

f., s. a.:

82

ff, 85; siehe auch 93

haupt gehören könnte! Oh über diese Flamme meiner Habsucht! Oh, dass ich in hundert Wesen wiedergeboren würde!' Wer diesen Seufzer nicht aus Erfahrung kennt, kennt auch die Leidenschaft der Erkennenden nicht." -

Wissenschaft III, 249 (KSA 3, 515). Bereits in seinem schließlich nicht durchgeführten Dissertationsprojekt aus dem Jahre

So Nietzsche in der Fröhlichen

1868

versucht Nietzsche einen Entwurf radikaler Teleologiekritik83 und notiert zu Kant, daß dieser „eine Nöthigung" (BAW 3, 371) zu teleologischem Urteilen den Organismen zuspreche (BAW 3, 379). Der hier zunächst noch kritisch angemerkte Gedanke führt Nietzsche schließlich in Radikalisierung seiner Erkenntniskritik zur Preisgabe und Aufhebung des Kantschen Versicherungsanspruches des „ich denke" und setzt nun den Schmerz als und gerade in seiner Unobjektivierbarkeit einerseits, in seinem unüberwindbaren Widerstand gegen jegliche Verneinungsversuche durch die Person selbst andererseits in diese Position. Die Frage nach der „Noth"-Wendigkeit des Urteilens auch des Ideologischen wird damit auf die Weise ihrer immanenten „Nöthigung" gewandt, Teleologie solcherart verwandelt in eine Patho-Logie, und so gilt auch in bezug auf Kant 1873: „Sehr wichtig! Eine Kulturnoth hat ihn getrieben" -

(KSA 7, 427, und KSA 3, 14)84

Der erste Denker des solcherart erst Zarathustra sein, denn

-

verantwortungsfähigen „reinen Denkens" aber wird

„Zarathustra schuf diesen verhängnisvollsten Irrthum, die Moral: folglich muss er auch der Erste sein, der ihn erkennt [...] Zarathustra ist wahrhaftiger als sonst ein Denker. Seine Lehre und sie allein hat die Wahrhaftigkeit als oberste Tugend" (KSA 6, 367).85 Im Aphorismus 23 von Menschliches, Allzumenschliches I (KSA 2, 44 f.) formuliert Nietzsche dann auch die neue „Aufgabe" für ein kommendes Zeitalter der Vergleichung" konsequent folgendermaßen: „Jetzt wird eine Vermehrung des ästhetischen Gefühls" gefordert und unter den vielen „verschiedenen Weltbetrachtangen" „entschieden" werden müssen, und so kann Nietzsche in Ecce homo schließlich auch für sich selbst beanspruchen „ich kann erst entscheiden. Wie als ob in mir ein zweites Bewusstsein gewachsen wäre" (KSA 6, 355, zu GD).86 83 BAW 3, 370-394; Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie [1978], München 1981, Bd. I, 239; siehe hierzu ausführlicher Elke Wachendorff, Friedrich Nietzsches Strategien, 47 f. 84 „Kant sagt: diese Sätze [...] unterschreibe ich mit voller Überzeugung „il solo principio motore dell' uomo è il dolore. Il dolore precede ogni piacere[,] il piacere non e un essere positivo." (KSA 10,314). Zarathustra aber lacht, tanzt und singt von Ewigkeit, „tiefe, tiefe Ewigkeit" wollender Lust (siehe das „Nachtwandler-Lied", KSA 4,404). Nietzsche wußte den Sätzen Kants in ihrem zweiten und dritten Teil nicht einfach nur zu widersprechen, er wußte sie vielmehr neu zu verwandeln. 85 Die Haltung der Wahrhaftigkeit ist als selbsteigen schöpferische Vergegenwärtigungstätigkeit versus enteignete Vorstellungsverhaftungen als Differenz des Tätigkeitscharakters gedacht und somit nicht als Gegendenken mißzuverstehen. Siehe auch KSA 6, 259: „Irrthum ist Feigheit. „Aus ihrer Position der „Stärke" (die in der Forderung der „Härte" sich wiederholt: KSA 3, 597, KSA 6,161) konnten die Griechen derart „das Leben wie ein Spiel nehmen" (KSA 8, 72, siehe KSA 7, 802) voller „Lust zu fabuliren", voller „Lust zur Lüge" (KSA 8, 70, siehe KSA 7, 176), denn: „Die Heiterkeit [...] ist ein Lohn: ein Lohn für einen langen, tapferen, arbeitsamen und unterirdischen Ernst" (KSA 5/255) selbsttätiger Lebensgestaltung. „Die stärksten Naturen haben den Typus fest und halten daran. Entartung [im Sinne des „unaesthetischen" Typus] ist immer Verstümmelung" (KSA 8, 258); siehe hierzu ausführlicher Elke Wachendorff, Friedrich Nietzsches Strategien, 137 f., 230. 86 Siehe auch KSA 14, 472, KSA 15, 195, KSA 6, 437, 208. "



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Birgit Recki

Über die „Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen" Friedrich Nietzsches Ästhetik und Ethik1

Kulturphilosophie zwischen „Alle Kunst ist schwer." Piaton

Von einem Denker, dem der philosophische „Wille zum System" vor allem als ein „Mangel an Redlichkeit" erscheint, darf man gerade in den Fragen, die ihn am stärksten bewegen, kein systematisches Vorgehen erwarten. Unbeeindruckt von allen Disziplingrenzen hat sich Friedrich Nietzsche in seiner „Expérimental-Philosophie" allein durch die Wahrnehmung von Problemen leiten lassen. Obwohl deshalb auch seine Kulturphilosophie nicht in irgendeiner disziplinierten Form vorliegt, haben wir allen Anlaß, ihn zu den modernen Klassikern des kulturphilosophischen Denkens zu zählen. Das Interesse an der Wirklichkeit, der Möglichkeit und der Notwendigkeit der Kultur, ihrem Ursprung, ihrer Geschichte, ihrer Funktion, ihren Problemen, prägt sich als eines der Leitmotive in seinem gesamten Denken aus. Diese Entgrenzung erscheint aber im Blick auf die Natur der Sache wie das absichtliche Stilelement einer angemessenen Darstellung. Denn Kultur ist wie das Leben, als dessen Element und Potenz Nietzsche sie begreift weder ein isolierbares Sonderproblem noch ein monolithischer Bereich. Kultur ist in allem, was Menschen hervorbringen; sie ist alles, was sie aus sich selbst machen, indem sie etwas aus den gegebenen Bedingungen machen. Auf diese Einsicht ist es zurückzuführen, daß wir Nietzsches kulturphilosophischen Gedanken überall in seinem Werk begegnen: in der Kritik am abendländischen Denken mit seinem Anspruch auf Rationalität und Wahrheit, in den ästhetischen Schriften, in der Moralkritik, in der Religionskritik und: in der Geschichtsphilosophie, wie er sie in der Kritik am Historismus entwickelt. Nietzsche reflektiert auf alle Elemente, Aspekte und Bereiche menschlicher Betätigung stets als Formen des Daseins, in denen sich ebensoviele Momente der Kultur realisieren. Durch diese Einbindung in das gesamte Werk untersteht seine Kulturphilosophie auch der sachhaltigen Polarisierung, die sich darin ausprägt. Es sind die zwei tragenden Momente des Selbstverständnisses, die beiden großen Instanzen der Bewertung, auf welche sich sein Den-

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1

Der Text gibt die überarbeitete Zusammenfassung zweier Vorträge, die ich auf Einladung von Prof. Dr. Peter André Bloch, PD Dr. Thomas Böning, Prof. Dr. Karl Pestalozzi und Prof. Dr. Annemarie Pieper beim NietzscheKolloquium in Sils-Maria vom 26. bis 29. September 1996 am 27. 9. 96 und auf Einladung von Prof. Dr. Robert Kudielka und Prof. Hermann Wiesler in der Vortragsreihe Was ist progressiv? an der HdK Berlin am 14.1.97 gehalten habe. Ich danke den Veranstaltern für die Einladungen und den Teilnehmern an der Diskussion für anregende und hilfreiche Hinweise. "



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Birgit Recki

konzentriert, um die sich folgerecht seine Bestimmungen des Begriffs der Kultur anlagern: Ästhetik und Ethik. In dieser philosophischen Polarisierung prägen sich auch die ganz individuellen Motive von Nietzsches Denken aus: Denn zum einen ist es sein tiefer, im

ken

Grunde schon erkenntnistheoretischer Ästhetizismus, der ihn auch theoretisch auf die Idee von der ontologischen und metaphysischen Funktion des ästhetischen Scheins bringt. Hierauf beruht der Leitgedanke seiner ästhetischen Metaphysik, daß die Wahrheit so, wie sie in der Tradition seit Piaton verstanden wird, eine von jenen schönen Illusionen wäre, die das Leben erträglich machen. Und zum anderen ist es bereits sein radikaler Moralismus, der ihn irre macht an den für seinen empfindlichen Sinn fadenscheinigen Rationalisierungen und Beschönigungen jedes idealistischen Wahrheitsverständnisses. Es ist seine rücksichtslose Ehrlichkeit, die ihn zu der Spekulation bringt: Die Wahrheit, insofern sie nur ganz und unverstellt zu haben wäre, wäre häßlich und würde die Stärke des Erkennenden existentiell überfordern.2 Als eines der ersten Elemente im Programm der Umwertung aller Werte geht aus dieser Ansicht auch seine richtungweisende optimistische Bewertung hervor, die „Lüge" höher als die Wahrheit, die Kunst höher als die Wissenschaft zu schätzen. In diesen Gedanken entspringt Nietzsches Begriff der Kultur. Durch die gleichermaßen ästhetische wie pragmatische Reduktion des theoretischen Elements, des Wahrheitsanspruchs, schnurrt ihm die klassische Trias des Wahren, Guten und Schönen zusammen auf den Dualismus des Ästhetischen und des Moralischen. In dieser spannungsvollen Konstellation, deren Elemente einander ebenso häufig komplementär ergänzen wie konterkarieren, entfaltet sich sein Denken. Auch das, was man diesseits aller disziplinären und methodischen Demarkationen Nietzsches Kulturphilosophie nennen kann, findet sich gleichmäßig verteilt vor allem auf die ästhetische Theorie der frühen siebziger Jahre sowie die ebenfalls aus dieser Zeit stammende, ethisch besetzte Geschichtsphilosophie3 und die Moralphilosophie4 der achtziger Jahre.

2

„Versuch einer Selbstkritik", GT, KSA 1, 12; auch: „dass sich die Stärke eines Geistes darnach beer von der „Wahrheit" gerade noch aushielte" (JGB, KSA 5, 57). Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Unzeitgemässe Betrachtungen 2 (HL). Ich wähle bewußt den Titel einer Moxüphilosophie für die genealogischen Schriften der achtziger Jahre (Jenseits von Gut und Böse, 1886, und Zur Genealogie der Moral, 1887), da sie anders als es die vorherrschende Lesart in der Nietzsche-Rezeption nahelegt, im Aspekt der radikalen Moralkritik nicht aufgehen. Nietzsches eifernder ideologiekritischer Reduktionismus läßt deutlich das ursprüngliche Motiv eines verletzten Moralisten erkennen, dem die herrschende Moral nicht moralisch genug ist; da ist es nur konsequent, daß seine Destruktion mit der Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit einer wahren Moral einhergeht, die sich ausdrücklich in der Formulierung von Tugenden artikuliert: Vgl. JGB, „Siebentes Hauptstück: unsere Tugenden", KSA 5, 151-178, siehe unten Abschnitt 2. Siehe dazu Volker Gerhardt, „Genealogische Ethik", in: Annemarie Pieper (Hg), Geschichte der neueren Ethik, Bd. 1, Tübingen/Basel 1992, 284-313; Volker Gerhardt, „Selbstbegründung. Nietzsches Moral der Individualität", in: Nietzsche-Studien 21/1992, 28-49; Volker Gerhardt, „Die Tugend des freien Geistes. Nietzsche auf dem Weg zum individuellen Gesetz der Moral", in: Simone Dietz, Heiner Hastedt, Geert Keil und Anke Thyen (Hg.), Sich im Denken orientieren. Herbert Schnädelbach zum 60. Geburtstag,

Vgl.

etwa

rnasse, wie viel

3 4

-

Frankfurt a.M. 1996, 197-212.

Über die Einheit des künstlerischen Stiles

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1. Die „Metaphysik der Kunst" als Kulturphilosophie In den ersten selbständigen philosophischen Arbeiten Anfang der siebziger Jahre entwickelt Nietzsche den Begriff der Kultur als „Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen" (HL, KSA 1, 274), ja er begreift sie ausdrücklich als die „Herrschaft der Kunst über das Leben" (WL, KSA 1, 889).5 Sieht man fürs erste davon ab, wie die von einer normativen Implikation zeugenden Ansprüche auf Einheit und auf Herrschaft zu verstehen sein sollen, so scheint die Andeutung, die mit diesen Definitionen gemacht ist, kaum mißverständlich. Seine Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Kultur wäre mithin denkbar einfach und sie kann auf den ersten Blick nur als falsch erscheinen. Denn Nietzsche sieht das bestimmende Element der Kultur in der Kunst. Dem elaborierten Kunstverständnis der Moderne muß aber jener partikulare, spezialisierte Begriff, der die Kultur mit der künstlerischen Hochkultur identifiziert, ebenso fragwürdig sein wie dem problematischen Selbstbewußtsein von der funktionalen Vielseitigkeit des animal symbolicum. Spätestens die Kulturphilosophie des zwanzigsten Jahrhunderts, die sich als transzendentale Anthropologie und dabei als prima philosophia versteht,6 vermochte die Einsicht zu schärfen, daß die Kultur nicht aufgeht in dem, was wir als ihre Spitzenprodukte erleben. Kultur erfährt zwar in den Kunstwerken ihre exemplarischen Manifestationen, doch ihr Ort ist im Ganzen der von Menschen gemachten Verhältnisse. Diese Einsicht hat freilich kaum ein anderer mit solchem Nachdruck zur Geltung gebracht wie gerade Nietzsche. Doch obwohl er etwa betont, daß die Kultur „etwas Andres sein kann als Dekoration des Lebens" (HL, KSA 1, 333), hat man seine Auffassungen von der Kultur dort aufzusuchen, wo er sich über die Kunst äußert. Nietzsche kann sich deshalb zutrauen, mit der Betonung der Kunst zugleich die gesamte Kultur in den Blick zu nehmen, weil nach seiner Vorstellung die Kunst so elementar und umfassend zu denken ist wie nur irgend möglich. Nach seinem fundamentalen Ansatz verdankt sich alle spezifisch menschliche Leistung, alle „Zuthat", mit der die Menschen etwas aus der Welt und sich selbst machen, einer ästhetischen Produktivität und damit einer im weitesten Sinne künstlerischen Kreativität. Was er „Kunst" nennt, ist diese sich in allen Hervorbringungen entäußernde Weltschöpfung.7 Nietzsche entwickelt diesen Gedanken 1873 in einer kleinen Schrift, deren Titel nicht vermuten läßt, daß hier die Grundzüge seiner Kulturphilosophie zu finden sind: üeber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne.8 Kurz zuvor hatte er in seinem philosophischen Erstling über Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) die Kunst „als die zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins" (GT, KSA 1, 36) gefeiert -

5

Weniger deutlich läßt die stärker ethisch als (onto)logisch zu verstehende Formulierung auf der letzten Seite der Historienschrift Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen" (HL, KSA 1,334; Hervh. B. R.) diesen ästhetischen Charakter der Kultureinheit erkennen; aber auch hier ist er im Begriff des Scheins angesprochen. 6 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde. (1923, 1925, 1929), Darmstadt 1953 et pass.; Ernst Cassirer, Essay on Man (1944); deutsch: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Frankfurt a.M. 1990. 7 Nur unter anderem markiert der Gedanke auch den systematischen Ansatz fllr Nietzsches eigenes Selbstverständnis als Künstler, so wie es sich in der literarischen und rhetorischen Qualität seiner Schriften artikuliert; siehe Alexander Nehamas, Nietzsche. Leben als Literatur, Göttingen 1996. 8 Der Grundgedanke findet sich in weniger entfalteter Form bereits in dem Fragment „Ueber das Pathos der Wahrheit", 1872, KSA 1, 755-760.

Birgit Recki

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und den ästhetischen Schein in dem Gedanken rehabiliert, die Welt und das Dasein seien einzig als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt.9 In dem Gedanken von der Kunst als der „eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens" (GT, KSA 1, 24)10 ist diese als das Prinzip begriffen, das die menschliche Welt im Innersten zusammenhält. Nun geht er einen Schritt weiter und verschafft diesem Gedanken sein Fundament durch eine Reflexion, die das Ästhetische für die Grundlegung aller Wirklichkeit in Anspruch nimmt." Nachdem er schon in der Geburt der Tragödie die ästhetische gegen die intellektuelle Kulturleistung aufgewertet hatte, unternimmt er hier jenen aggressiven und anspruchsvollen Angriff auf das vernünftige Selbstverständnis, der ihm bei vielen seiner Leser den Ruf des Irrationalisten eingetragen hat, indem er die Stellung und Funktion des Intellekts in der Natur als eines bloßen Instruments der Selbsterhaltung und Daseinsbewältigung relativiert. Wo andere Tiere ein Raubtiergebiß, Hörner und Krallen haben, da hat der physisch sparsamer ausgestattete Mensch seinen Intellekt, der ihm vor allem als ein Mittel der List: der Täuschung und Verstellung, dienlich ist. Man kann in solchen Hinweisen mit gleichem Recht eine dramatisierte Version von Piatons Mythos des Protagoras wie eine Pointierung von Darwins evolutionsbiologischen Untersuchungen sehen. Auf dieser Basis jedenfalls kommt Nietzsche zu einer radikalen Kritik an der rationalen Vernunftanmaßung, die er exemplarisch in der Auseinandersetzung mit dem absoluten Wahrheitsanspruch der platonischen Tradition verdeutlicht und die für seine Kritik an der neuzeitlichen Wissenschaft bestimmend sein wird. Nach seiner Auffassung gibt es die Wahrheit" nicht -jedenfalls nicht als einen absoluten Maßstab unserer Erkenntnisse. Von Natur aus sind die Menschen vielmehr „tief eingetaucht in Illusionen und Traumbilder" (WL, KSA 1, 876) und müssen es auch sein; sie sind eingeschlossen in das „Bewusstseinszimmer" von einer gnädigen Natur, die „den Schlüssel weg" (WL, KSA 1, 877) warf,12 die auf diese Weise den Menschen zu seinem eigenen Schutz seinen natürlichen animalischen und physiologischen Zusammenhang nicht erkennen läßt. Wie Nietzsche die Leistung der Sinne nämlich ausdrücklich in der von Grund auf gestaltenden Selektion sieht, so die des Intellekts in der Verstellung und in der Erzeugung von Illusionen.13 So stellt er sich in einem seiner suggestiven Bilder die Menschen vor „gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend" (WL, KSA 1, 877). In Gesellschaft zeigt sich nach Nietzsche die lebensdienliche Funktion des Intellekts nur deutlicher; hier gelten bestimmte Fiktionen und Illusionen im Dienste der gemeinsamen „

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9 Volker Gerhardt interpretiert diesen Gedanken als die Insistenz aufder völligen Immanenz des Sinnes: unabhängig von allen theologischen und moralischen Rechtfertigungsgründen seien das Dasein und die Welt- nach Analogie eines gelungenen Kunstwerks gänzlich in sich selbst gerechtfertigt; siehe: „Artisten-Metaphysik. Zu Nietzsches frühem Programm einer ästhetischen Rechtfertigung der Welt", in: Volker Gerhardt, Pathos und Distanz. Studien In welchem Kontext das Motiv einer ästhetischen zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988,46-71. Rechtfertigung steht, wird deutlich in einer Interpretation, welche die Dominanz der Sinnfrage für das gesamte Werk darstellt: Volker Gerhardt: Friedrich Nietzsche, München 1992. 10 Es ist insbesondere dieser Gedanke, der durch die positive Aufnahme bei den zeitgenössischen Künstlern zu einer frühen und nachhaltigen Nietzsche-Rezeption geführt hat; siehe Nietzsche und die deutsche Literatur. Band 1 : Texte zur Nietzsche-Rezeption 1873-1963, hg. von Bruno Hillebrand, Tübingen 1978; Theo Meyer, Nietzsche und die Kunst, Tübingen/Basel 1993. 11 Eine ausführliche Entwicklungsgeschichte und Interpretation von Nietzsches frühem Denken gibt Thomas Böning, Metaphysik, Kunst und Sprache beim frühen Nietzsche, Berlin/New York 1988. 12 „Die Natur hat den Menschen in lauter Illusionen gebettet. Das ist sein eigentliches Element. Formen sieht er, Reize empfindet er statt der Wahrheiten", heißt es in den Notizen vom Sommer 1872 Anfang 1873, KSA 7, 19 [179], 474 f. 13 Und: „Von Natur ist der Mensch nicht zum Erkennen da." (KSA 7, 19 [178], 474) -

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Über die Einheit des künstlerischen Stiles

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Daseinsbewältigung: Es geht dabei in jedem Fall ums Überleben, um Verfügung und Beherrschung der vorgefundenen Bedingungen. Was wir Wahrheit nennen, ist demnach nichts anderes als der verselbständigte Ausdruck für die Konventionen unserer Verständigung, auf die wir uns mehr oder weniger bewußt, aber auf jeden Fall aus pragmatischer Notwendigkeit geeinigt haben. Die Wahrheit wäre somit eine existentiell förderliche Illusion,14 und in polemischer Absicht gegen den hohen Anspruch der Philosophie und der modernen Wissenschaft auf ihre Reinheit und absolute Geltung hält es Nietzsche für nötig, sie provokativ als eine im allgemeinen Interesse anerkannte Lüge zu entlarven.15 In einem zweiten Schritt unterlegt Nietzsche dieses funktionalistische Argument der Konventionenbildung noch durch eine Sprachursprungstheorie man darf hier elliptisch sagen: durch eine Sprachursprungstheorie der Wirklichkeit, durch die dem Wahrheitsanspruch vollends jede ontologische Dignität genommen sein soll.16 Da es die Worte sind, mit denen wir die Dinge und Verhältnisse bezeichnen, geht er auf die neurophysiologisch und wahrnehmungspsychologisch faßbare Bildung der Worte zurück und fragt herausfordernd, um sich selbst gleich die im Hinblick auf den Objektivitätsanspruch von Wahrheit verheerende Antwort zu geben: „Was ist ein Wort? Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten" (WL, KSA 1, 878). Die Konsequenz liegt auf der Hand: Wir haben aufgrund dieses rein internen Geschehens keine Berechtigung, auf eine „Ursache ausser uns" zu schließen. Unsere Einteilungen und Festlegungen sind vielmehr „willkürliche^..] Übertragungen" (WL, KSA 1, 878), „willkürliche[...] Abgrenzungen" (WL, KSA 1, 879). -

14 Siehe zur Bekräftigung der anthropologischen Radikalität dieser Traumbefangenheit die Notiz aus dem Nachlaß: „Es ist naiv zu glauben, daß wir je aus diesem Meer der Illusionen herauskommen könnten. Die Erkenntniß ist völlig unpraktisch." (September 1870 -Januar 1871, KSA 7, 5 [35], 102; vgl. 5 [33], 101 f.) 15 Den naheliegenden Einwand gegen eine rhetorische Strategie, die am Begriff von Schein / Lüge festhalten und den Gegenbegriff der Wahrheit aufgeben will, hat Nietzsche später selbst aus der Einsicht in die unweigerliche Komplementarität von Schein und Wirklichkeit, Lüge und Wahrheit geltend gemacht: „Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht? Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!" (Wie die „wahre Welt" endlich zur Fabel wurde. Geschichte eines Irrthums, in: Götzen-Dämmerung (1888), KSA 6, 81). Der Einwand geht gegenüber der in Wahrheit und Lüge entwickelten Position jedoch ins Leere, da es hier nicht schlichtweg um die Verwerfung des Wahrheitsbegriffs, sondern nur um die Zurückweisung des absoluten Wahrheitsbegriffs geht um die pragmatische Ermäßigung des Wahrheitsanspruchs. Durch dieses Festhalten an einem ermäßigten Wahrheitsbegriff entgeht Nietzsche auch dem allfälligen Vorwurf eines performativen Selbstwiderspruchs. 16 Die extensiven sprachphilosophischen Anleihen, die Nietzsche bei Gustav Gerber, Die Sprache als Kunst ( 1871 ) macht, sind pünktlich dokumentiert von Anthonie Meijers und Martin Stingelin, „Konkordanz zu den wörtlichen Abschriften und Übernamen von Beispielen und Zitaten aus Gustav Gerber: Die Sprache als Kunst (Bromberg 1871) in Nietzsches Rhetorik-Vorlesungen und in Ueber Wahrheit und Lüge...", in: Nietzsche-Studien 17/1987, 350-368; siehe auch Anthonie Meijers, „Gustav Gerber und Friedrich Nietzsche. Zum historischen Hintergrund der sprachphilosophischen Auffassungen des frühen Nietzsche", in: Nietzsche-Studien 17/1987, 369-390. Es besteht jedoch m. E. trotzdem keine Veranlassung, den in Wahrheit und Lüge entwickelten Gedanken nicht für Nietzsches Gedanken zu halten. Zuzustimmen ist hier Thomas Böning, der „die Grenze einer Abhängigkeiten nachspürenden positivistischen Fragestellung" durch den Hinweis markiert: „Gerber konnte nur darum auf Nietzsche einen so großen Einfluß gewinnen, weil der Denker hier aufsprachphilosophischem Felde seine eigene erkenntnistheoretische Grundposition entfaltet sah." ( Metaphysik, Kunst und Sprache beim frühen Nietzsche, 102) Den Nachweis dieser These erbringt Beatrix Himmelmann, Freiheit und Selbstbestimmung. Zu Nietzsches Philosophie der Subjektivität, Freiburg/München 1996, 67-69. Es ist gerade der kulturphilosophische und metaphysische Kontext, in den er diese sprachphilosophische Anleihe stellt, der die Konsequenz nahelegt, daß man ihm hier zwar einen Mangel an souveräner Redlichkeit im Umgang mit einer Quelle, nicht aber einen Mangel an gedanklicher Originalität vorwerfen kann. ...

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Dem Begriff der Übertragung kommt in diesem Zusammenhang die zentrale Stellung zu. Nietzsche erläutert ausführlicher: „Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue." (WL, KSA 1, 879) Von da aus ist es nur noch eine weitere Übertragung vom Besonderen zum Allgemeinen, vom individuellen Ausdruck zum Begriff: Zur Begriffsbildung bedarf es nach Nietzsche nur noch einer Vernachlässigung man muß das „Individuelle[ ] und Wirklichef ]" (WL, KSA 1, 880) zugunsten abstrakter Ordnungsschemata übersehen. Der Begriff ist dann auch nicht mehr als das „Residuum einer Metapher" (WL, KSA 1, 882). Wir würden metapherntheoretisch sagen: Begriffe sind nach dieser Auffassung durchweg erkaltete Meta-

phern.

Nach dieser mit sensualistischen, konventionalistischen und rhetoriktheoretischen Eleoperierenden Variante einer pragmatischen Reduktion ist die Wahrheit nichts als ein „bewegliches Heer von Metaphern" und überhaupt Übertragungen aller Art „die Wahrheit sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind" (WL, KSA 1, 880 f.). Im Blick auf Nietzsches Kulturphilosophie ist daran vor allem das sprachphilosophische und das ästhetische Element zu beachten: Erstens ist die Sprache das Medium der Konstitution unserer Wirklichkeit und es gibt nach Nietzsche keine andere, keine höhere, keine eigentliche, keine wahre, sondern immer nur: unsere Wirklichkeit; in dieser sprachlichen Konstitution wirkt eine Produktivität, an der er zweitens den ästhetischen Charakter betont. Was auf diese Weise stattfindet, nennt er „die Metamorphose der Welt in den Menschen" (WL, KSA 1, 883). Es ist freilich mehr als nur eine „Ausweitung des Sprachgebrauches der Rhetorik",17 es ist ein geschickt eingefädelter Kategorienfehler, der es Nietzsche erlaubt, diese Metamorphose als einen umfassenden und bis in alle Details gehenden Prozeß einer im weitesten Sinne künstlerischen Gestaltung zu denken: Denn zweifellos hat er mit dem Hinweis auf den „metaphorischen" Charakter der Begriffsbildung keine differenzierte sprachphilosophische oder literaturwissenschaftliche Metapherntheorie im Sinn, aufgrund derer die Metapher als bildlich-analogische Ausdrucksweise in ihrem Spezifikum vom abstraktiven Charakter allgemeiner Ausdrücke unterschieden und damit das in Metaphern gegebene Potential der Anschaulichkeit ausgezeichnet oder die Besonderheiten poetischen gegenüber alltäglichem oder wissenschaftlichem Sprechen differenziert werden könnten. Er macht sich vielmehr den einfachen Übersetzungssinn zunutze und bezeichnet jegliche Art von Übertragung im mentalen Prozeß der sprachlichen Artikulation als Metapher.18 menten

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17 Siehe Thomas Böning, Metaphysik, Kunst und Sprache, 110. 18 Ähnlich könnte man auch den Prozeß der Verdauung als Metaphernbildung beschreiben, denn hier findet schließlich eine ganze Reihe von Übertragungen von einem in einen anderen Stoff, von einem in ein anderes Medium statt; und unter anderem dies hat Nietzsche schließlich auch in seiner späten „Physiologie der Kunst" im Sinn gehabt. Siehe dazu Volker Gerhardt, „Von der ästhetischen Metaphysik zur Physiologie der Kunst", in: Nietzsche-Studien 13/1984, 374-393; Stephan Grätzel, Physiologie der Kunst, in: Nietzsche-Studien 13/1984, 394-398; Uwe Pörksen, „Die Funktionen einer naturwissenschaftlichen Metapher in einem Satz Nietzsches", in: Nietzsche-Studien 13/1984, 443-447; Helmut Pfotenhauer, Die Kunst als Physiologie. Nietzsches ästhetische Theorie und literarische Produktion, Stuttgart 1985. Einen an Nietzsches frühen Ansatz erinnernden Fundamentalismus der Metapher entwickelt Ernst Cassirer auf der Suche nach dem Prinzip der Kultur in allen ihren symbolischen Formen in dem Aufsatz über „Sprache und Mythos" (1925), in: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1977, 71 -158, kommt aber später auf diesen Gedanken nicht mehr zurück; siehe dazu meinen Beitrag „Der praktische Sinn der Metapher. Eine systematische Überlegung mit Blick auf Ernst Cassirer", in: -

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„Für die Pflanze ist die ganze Welt Pflanze, für uns Mensch", kommentiert Nietzsche in seinen Notizen aus dieser Zeit den in der menschlichen Natur liegenden Hang zum Anthropomorphismus19 und gibt mit diesem Paradigma unwillentlich den Schlüssel zum Verständnis seiner eigenen pseudogenealogischen Methode. Ihm, der von sich sagt: „Überall erkenne ich Übertragungen"20 wird alles zur Metapher. „Metapher heißt etwas als gleich behandeln, was man in einem Punkte als ähnlich erkannt hat."21 Mit der Pointe, daß dies für Nietzsche nicht nur den spezifisch von anderen Operationen abgesetzten Analogieschluß22, sondern darin das Wesen der Erkenntnis selbst beschreibt, als „das schnelle Subsumiren des Gleichartigen", in dem ,,[d]as Ähnliche [...] an das Ähnliche"23 erinnere. Es ist im Grunde das Verfahren der Rhetorik, das auf diese Weise auf die physiologischen24 und psychologischen Prozesse des Erkennens projiziert wird: „Tropen sind's, nicht unbewußte Schlüsse, auf denen unsre Sinneswahrnehmungen beruhn. Ähnliches mit Ähnlichem identificiren irgend welche Ähnlichkeit an einem und einem andern Ding ausfindig machen ist der Urprozeß."25 Dazu paßt auch das forcierte metaphorische pars-pro-toto des Gedankens: „Alle rhetorischen Figuren (d. h. das Wesen der Sprache) sind logische Fehlschlüsse. Damit fängt die Vernunft an!"26 Das Prinzip, das Nietzsche in solcher Metaphorik hellsichtig und gewiß auch selbstam Werke sieht, ist aber letztlich ,,[d]as Streben nach einheitlichem Bereflexiv herrschen",27 das damit, bedenkt man den Status der so beschriebenen Prozesse, am Grunde aller Kultur gedacht werden muß. In dem knisternden hermeneutischen Kurzschluß dieses entgrenzten Begriffs der Metapher mit dem spezifischen Sinn, den wir mit diesem Ausdruck zwangsläufig verbinden, wird unversehens der schöpferische Charakter, das Poietische an allem Erkennen und Sprechen als den konstitutiven Leistungen behauptet. Das Künstlerische wird damit bewußt auf einer denkbar elementaren Ebene angesiedelt. In einem fundamentalen Verständnis ist jede sprachliche Erzeugung von Bedeutung eine Art künstlerischer Leistung, und da die Wirklichkeit in nichts anderem besteht als in den so erzeugten Bedeutungen, ist die Wirklichkeit selbst das Gesamtkunstwerk, das die Menschen in ihrem existentiellen Bedürfnis hervorbringen, sich das Leben durch förderliche und anregende Illusionen zurechtzumachen. Dieser Gedanke vom ästhetischen „Fundamentaltrieb [...] zur Metapherbildung" (WL, KSA 1, 887) bezeichnet die eigentliche Tiefendimension dessen, was Nietzsche in der Geburt der Tragödie seine „aesthetischef ] Metaphysik" (GT, KSA 1,43) genannt hat. Man braucht -

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Franz Josef Wetz und Hermann Timm (Hg.), Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg, Frankfurt a.M. 1999. Sommer 1872-Anfang 1873, KSA 7, 19 [158], 469. Sommer 1872 Anfang 1873, KSA 7, 19 [223], 489. Auch die anderen zunächst genannten Verfahren (Metonymie und Metempsychose) sind Weisen der Übertragung. Nietzsche konzentriert sich aber im folgenden auf die Metapher deren wörtlicher Übersetzungssinn zum Oberbegriff sämtlicher Verfahren der Übertragung wird. Sommer 1872 Anfang 1873, KSA 7, 19 [249], 498. So Sommer 1872 Anfang 1873, KSA 7, 19 [227], 490. Sommer 1872-Anfang 1873, KSA 7, 19 [179], 475. „Nur das Ähnliche percipirt das Ähnliche: ein physiologischer Prozeß." (Sommer 1872 Anfang 1873, KSA 7, 19 [179], 475. Sommer 1872 Anfang 1873, KSA 7, 19 [217], 487. Sommer 1872 Anfang 1873, KSA 7, 19 [215], 486. Sommer 1872 Anfang 1873, KSA 7, 19 [174], 473. Siehe dazu die umstandslose Subsumtion allen Interpretierens unter einen elementaren Herrschaftsanspruch im Nachlaß aus dem Herbst 1885 Herbst 1886, KSA 12, 2 [148], 139 f. -

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die naheliegende Frage zu stellen, wie die hier gepriesene Wirkung der Kunst möglich sei: Wie kann das Leben „sich" so Nietzsches Formulierung durch die Kunst den von der tragischen Einsicht angekränkelten Helden retten? Dann kommt man auf der Spur, die bereits durch dieses Reflexivwerden des Lebens bezeichnet ist, unweigerlich bei dem fundierenden Gedanken aus, den Nietzsche in Wahrheit und Lüge entwickeln wird: Das Leben selbst, in seinen elementaren Formen, die ohne physiologische und psychologische Akte der Übertragung von der ersten Wahrnehmung bis in die begriffliche Artikulation nicht zu denken wären, enthält nach seiner Konzeption jene künstlerische Potenz, die sich schließlich im schönen Schein der Kunstwerke zu einer eigenständigen Sphäre zusammenzieht.28 Von diesem Gedanken hat Nietzsche auch bei aller rückblickenden Selbstkritik niemals gelassen. Die ironische Distanzierung von seiner „Artisten-Metaphysik" („Versuch einer Selbstkritik" [1884/85], GT, KSA 1, 17) bezieht sich neben manchem Einzelnen vor allem auf die metaphysische, nicht auf die ästhetische Komponente dieses Grundgedankens von der Produktivität am Grunde aller Wirklichkeit.29 Nietzsche hat dies auch später immer wieder in zahlreichen Formulierungen bekräftigt, so etwa im zweiten Buch der Fröhlichen Wissenschaft, wo er in ausdrücklicher Adresse „An die Realisten" sagt: „Da jener Berg! Da jene Wolke! Was ist denn daran ,wirklich'? Zieht einmal das Phantasma und die ganze menschliche Zuthat davon ab, ihr Nüchternen! Ja, wenn ihr das könntet! Wenn ihr eure Herkunft, Vergangenheit, Vorschule vergessen könntet eure gesammte Menschheit und Thierheit! Es giebt für uns keine ,Wirklichkeit' ..." Wenn er dabei den selbsternannten Realisten unter die Nasen reibt, sie wären „immer noch einem verliebten Künstler allzu ähnlich" (FW, KSA 3, 421 f.), dann heißt auch dies wieder: Es gibt für uns keine Wirklichkeit außer der, die wir uns selbst erst schaffen! Und es heißt auch: Alle Wirklichkeit alle unsere Wirklichkeit ist von den elementaren, nicht jederzeit deutlich erkennbaren Akten unserer Erzeugung von Bedeutung bis in die hochentwickelten Weisen der Gestaltung bereits durch uns geformt; alle Wirklichkeit ist demnach unsere künstlerische Kulturleistung. Auch in den moralkritischen Schriften der achtziger Jahre finden sich deutliche Spuren der Artisten-Metaphysik,30 ja selbst eine unverkennbare Anknüpfung an den provozierenden Begriff der Lüge, wie er in Wahrheit und Lüge zur Bezeichnung des künstlerischen Triebes exponiert wird: So heißt es in Jenseits von Gut und Böse im Zuge der berühmten reduktiowir erdichten uns den nistischen Moralkritik mit Blick auf unsere Sinneseindrücke: grössten Theil des Erlebnisses und sind kaum dazu zu zwingen, nicht als ,Erfinder' irgend einem Vorgange zuzuschauen. Dies Alles will sagen: wir sind von Grund aus, von Alters her an 's Lügen gewöhnt. Oder, um es tugendhafter und heuchlerischer, kurz angenehmer auszudrücken: man ist viel mehr Künstler als man weiss" (JGB, KSA 5, 114).31 Und gerade das intellektuelle Geschäft der Moralkritik evoziert nach Nietzsches Intuition die Berufung auf das ästhetische Selbstgefühl, denn ausgerechnet auf die ethischen Positionen der nur

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28 So auch Brigitte Scheer, „Die Bedeutung der Sprache im Verhältnis von Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche", in: Mihailo Djuric und Josef Simon (Hg), Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche, Würzburg 1986, 101-111, hier: 105. 29 Diana Behler sieht in ihrer überzeugenden Darstellung von Nietzsches ästhetischer Theorie den Unterschied seines späteren Denkens in der sprachphilosophisch motivierten Verabschiedung jenes dem Schopenhauerschen Willen nachgebildeten Ureinen, aus dem Nietzsche in der Geburt der Tragödie die ästhetische Produktivität noch hervorgehen läßt („Nietzsches Versuch einer Artistenmetaphysik", in: Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche, 130-149; hier: 133 f., 141, 149). 30 Siehe Holger Schmid, „Über die Tragweite der Artisten-Metaphysik", in: Nietzsche-Studien 13/1984, 437-442. 31 Siehe auch die emphatische Rede von den „Artisten des Lebens" (JGB, KSA 5, 49). -

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Tradition muß nach der Einschätzung ihres übersichtigen Kritikers „Jeder, der sich gestaltender Kräfte und eines Künstler-Gewissens bewusst ist", mit Spott und Mitleid herabsehen (JGB, KSA 5, 160). An den frühen Gedanken über Wahrheit und Lüge tritt damit bereits das Motiv zutage, das sich aus Nietzsches später Philosophie als eines der Leitmotive herauskristallisieren wird: die Umwertung aller Werte. Daß die alten Gesetzestafeln zerbrochen werden und neue Werte auf neue Tafeln geschrieben werden müssen, läßt Nietzsche seinen Religionsstifter Zarathustra ausdrücklich predigen (siehe ZA III, 1884, „Von alten und neuen Tafeln", KSA 4, 246-269). Gegen die Werte der christlichen Sklavenmoral propagiert er in den achtziger Jahren den gelassenen und ausgelassenen Immoralismus des starken Menschen.32 Schon in der frühen Historienschrift wertet er im Interesse nicht nur des Glücks im Augenblick, sondern auch des Handelns das Vergessen auf und die methodische Erinnerung ab (HL, hier: 248-254). Doch in der Geburt der Tragödie und programmatisch dann in der frühen Schrift Ueber Wahrheit und Lüge werden wir bereits zu Zeugen einer Umwertung, die sich noch als viel radikaler und provozierender erweisen soll. Sie lautet: Die „Lüge" ist mehr wert als die Wahrheit. Denn die „Lüge" so wie Nietzsche sie uns hier als Inbegriff der Erzeugung von Illusion und schönem Schein vorstellt ist Ausdruck eines schöpferischen Willens und ihr Effekt dazu angetan, den Menschen im Leben zu halten. „Wir leben nur durch diese Illusionen der Kunst", heißt es eindringlich (Sommer 1872 Anfang 1873, KSA 7, 19 [51], 436).33 Was also als Polemik gegen das vernünftige Selbstverständnis begonnen hat, wird unterderhand zu einem Lob der schöpferischen Phantasie, mit der die Menschen in ihrer unveräußerlichen Eigenschaft als Illusionisten am Werk sind. Die Depotenzierung des Erkenntnisanspruchs durch die Entlarvung der Wahrheitsillusion wird zu einer Apotheose des kreativen Menschen „als ein gewaltiges Baugenie" (WL, KSA 1, 882).34 Wohl den prägnantesten Ausdruck hatte die damit beabsichtigte Aufwertung des Scheins vor dem nur vermeintlich wertvolleren und auch nur vermeintlich unterschiedenen Wesen schon in einer Notiz der frühen Jahre gefunden: „Meine Philosophie umgedrehter Piatonismus: je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel." (Ende 1870-April 1871, 7 [156]; KSA 7, 199)35 Ihr Argument findet diese offensive Umwertung im bewundernden Blick auf die im Dienste der Selbsterhaltung und Daseinsbewältigung in einer widrigen Welt wirkende Lebensdienlichkeit solcher Kreativität. Die Menschen sind schwächliche Kreaturen, die sich mit allen unlauteren Mitteln, mit List und Tücke, mit Illusion und Lüge im Dasein halten müssen, aber sie machen aus dieser Nötigung eine Tugend, sie werden darüber zu Künstlern bei der permanenten Schöpfung des größten Kunstwerks, das sich denken läßt: einer Welt, in der es sich aushalten läßt. -

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32 Siehe die spannende und lehrreiche Hintergrundgeschichte der moralkritischen Umwertung bei Beatrix Himmelmann, Freiheit und Selbstbestimmung, 330-354. 33 So auch: „Einzige Möglichkeit des Lebens: in der Kunst." (Winter 1869-70 Frühjahr 1870, KSA 7,3 [60], 76); und: „Das Leben ist möglich nur durch künstlerische Wahnbilder." (Ende 1870 April 1871, KSA 7, 7[152], 198. Und: „Die Kunst als das Jubelfest des Willens ist die stärkste Verführerin zum Leben" (Winter 1869-70 Frühjahr 1870, KSA 7, 3 [3], 59). 34 So auch noch im Nachlaß der achtziger Jahre: „man muß das künstlerische Grundphänomen verstehen, welches Leben heiüt-den bauenden Geist", Frühjahr 1884, KSA 11, 25 [438], 129 35 Aus derselben Zeit: „Ich würde aus meinem idealen Staate die sogenannten .Gebildeten' hinaustreiben, wie Plato die Dichter: dies ist mein Terrorismus." (Ende 1870 April 1871, KSA 7, 7 [ 113], 164) -

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In der Vergewisserung, wie fundamental die Vorgänge sind, die Nietzsche mit dem ästhetischen, dem künstlerischen Charakter der Erzeugung von Wirklichkeit anspricht, wird deutlich: Gemeint ist damit immer schon die Kultur, und zwar in allen ihren Manifestationen.36 Erst in der Reflexion auf den ästhetischen Fundamentalismus wird ja der Begriff von der Kultur als „Herrschaft der Kunst über das Leben" verständlich (WL, KSA 1, 889). Sie übt diese Herrschaft aus, indem sie nach Nietzsche die Belange der „Nothdurft" in einem „Spielen mit dem Ernste" (WL, KSA 1, 889) verklärt: „Jede Art von Kultur beginnt damit, daß eine Menge von Dingen verschleiert werden." (Sommer 1872 Anfang 1873, KSA 7, 19 [50], 435) Und die Leistung dieser Verschleierung ist nach Nietzsche gleichursprünglich mit jeder Aktivität überhaupt, sie zieht sich wie ein goldener Faden von den Akten der Wahrnehmung über die sprachliche Artikulation und die Produktion für das alltägliche Leben bis zur Hervorbringung von Kunstwerken vom Range der attischen Tragödie. Mit Blick auf diese elementare Kontinuität erschließt sich auch der Sinn von Nietzsches gegen die Verfallsformen des Lebens und ihr artifizielles Kulturverständnis sogleich normativ gewendete Insistenz, „dass die Cultur nur aus dem Leben hervorwachsen und herausblühen kann", und des Begriffs von der „Cultur als einer neuen und verbesserten Physis", den er in der Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie prägt (HL, KSA 1, 326, 334). In Wahrheit und Lüge heißt es zunächst in kulturphilosophisch einschlägiger Erweiterung des ästhetischen Horizontes auf die alltäglichen Dinge und Verrichtungen des Lebens: -

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„Wo einmal der intuitive Mensch, etwa wie im älteren Griechenland, seine Waffen gewaltiger und siegreicher führt, als sein Widerspiel, kann sich günstigen Falls eine Kultur

gestalten, und die Herrschaft der Kunst über das Leben sich gründen; jene Verstellung, jenes Verläugnen der Bedürftigkeit, jener Glanz der metaphorischen Anschauungen und überhaupt jene Unmittelbarkeit der Täuschung begleitet alle Aeusserungen eines solchen Lebens. Weder das Haus, noch der Schritt, noch die Kleidung, noch der thönerne Krug

verrathen, dass die Nothdurft sie erfand; es erscheint so als ob in ihnen allen ein erhabenes Glück und eine olympische Wolkenlosigkeit und gleichsam ein Spielen mit dem Ernste ausgesprochen werden sollte." (WL, KSA 1, 889)

Wir sehen: Der ästhetische Überschuß37 dieser begünstigten Naturen entlädt sich nicht allein in den erhabenen Kunstwerken, die Nietzsche den bloßen Ergötzlichkeiten seines eigenen dekadenten Zeitalters als leuchtende Beispiele vorhält er manifestiert sich auch in Haus, -

36 Besonders deutlich wird der Zusammenhang dort, wo er sich eigens mit der Geschichte als dem Medium menschlichen Handelns und Hervorbringens befaßt: Es sind ganz generell die im emphatischen Sinne lebendigen, die tätigen, kulturschaffenden Menschen, die Nietzsche in seiner Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben „die starken Kunstgeister" nennt (HL, KSA 1, 263). 37 Es ist ein Gedanke Jacob Burckhardts, in dessen Kolleg Nietzsche während der Basler Zeit die späteren Weltgeschichtlichen Betrachtungen im Entstehen verfolgt hat, daß alle Kultur in dem geistigen Überschuß entspringt, der bei allem menschlichen Tun investiert wird. „Und dieser geistige Überschuß kommt entweder der Form des Geschaffenen zugute als Schmuck, als möglichste äußere Vollendung;... oder er wird bewußter Geist, Reflexion, Vergleichung, Rede Kunstwerk; und ehe es der Mensch selber weiß, ist ein ganz anderes Bedürfnis in ihm wach als das, womit er seine Arbeit begonnen, und dieses greift und wirkt dann weiter." (Weltgeschichtliche Betrachtungen, Pfullingen 1949, 88 f.) -

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Kleidung und Krug als den Dingen des alltäglichen Gebrauchs,38 und die Erwähnung des Schrittes als eines tragenden Elementes im leibhaften Realitätsbezug läßt nicht nur erkennen, daß Nietzsche diese „intuitiven Menschen" der vorsokratischen Zeit für geborene Tänzer hält er dehnt auch den auf das Kriterium des Werkcharakters bezogenen Kulturbegriff auf den Bereich des Gestischen aus. An diesen weiten Begriff der Kultur knüpft Nietzsche nach mehr als einem Jahrzehnt wieder an, wo er gegen die Gefahr der Verwechslung seiner Argumentation mit einer anarchistischen Position in Jenseits von Gut und Böse darlegt, daß es keineswegs das Moment der Tyrannei und des Zwanges ist, das ihn gegen die Moral aufbringt: Der Denker, der in der „Herrschaft der Kunst über das Leben" die deskriptive wie normativ beschworene Bestimmung der Kultur sieht, bejaht auch im Zwang das unentbehrliche Mittel ihrer Steigerung. -

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„Der wunderliche Thatbestand ist aber, dass Alles, was es von Freiheit, Feinheit, Kühnheit, Tanz und meisterlicher Sicherheit auf Erden giebt oder gegeben hat, sei es nun in dem Denken selbst, oder im Regieren, oder im Reden und Überreden, in den Künsten ebenso wie in den Sittlichkeiten, sich erst vermöge der ,Tyrannei solcher Willkür-Gesetze' entwickelt hat." (JGB, KSA 5, 108) Unter der

Bedingung eines langen und konsequenten Zwanges

„kommt und kam auf die Dauer immer Etwas heraus, dessentwillen es sich lohnt, auf Erden zu leben, zum Beispiel Tugend, Kunst, Musik, Tanz, Vernunft, Geistigkeit, irgend etwas Verklärendes, Raffinirtes, Tolles und Göttliches." (JGB, KSA 5, 109) -

Es ist offenkundig, daß Nietzsche mit diesem denkwürdigen Argument eine kulturphilosophische Grundlegung von Zwang und Tyrannei als Elementen des schöpferischen Lebens zu geben sucht39 und auffällig, daß er dabei den Bestand seiner kleinen Phänomenologie der Kultur um die stärker vergeistigten Formen der menschlichen Hervorbringung erweitert um alles mögliche Verklärende, Raffinierte und Geistige. Die umstandslose Nachbarschaft von „Künsten" und „Sittlichkeiten", von „Tugend" und „Kunst" schärft freilich die Aufmerksamkeit für ein systematisches Problem. -

2. Das ästhetische Ethos des Schaffenden Auf den ersten Blick sieht es doch so aus, als wäre in dem ästhetischen Gedanken, von dem sich Nietzsche bei aller Differenzierung im einzelnen nie grundsätzlich lösen wird, bereits das Fundament des später forcierten Immoralismus gelegt: Der philosophische Gründungsvater des modernen Ästhetizismus verabschiedet mit der Artisten-Metaphysik nicht nur die „Voltaire. ,Le superflu, comme est nécessaire!'" Auch diese ironische Abbreviatur (Ende 1870 April 1871, KSA 7, 7 [99], 161) dürfte sich auf den Gedanken von der elementaren Notwendigkeit der Kunst im Leben beziehen. So jedenfalls: „Die Kunst ist die Form, in der die Welt unter der Wahnvorstellung ihrer Notwendigkeit erscheint" (September 1870 Januar 1871, KSA 7, 5 [25], 98). 39 Dazu paßt es, daß er in derselben Zeit die Tyrannen als „die unfreiwilligsten, unbewusstesten Künstler, die es giebt", begreifen will (GM, KSA 5, 325). 38

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theologische, sondern auch die moralische Rechtfertigung und ergreift mit der Stellungnahme für die Kunst, das heißt: für das sich frei in ungehemmter Vitalität entfaltende ästhetische Leben zugleich Partei gegen die reglementierende Moral. Nietzsche hat sich selbst gelegentlich in einer Weise geäußert, die eine solche vereinfachende Lesart nahelegt. Die ästhetischen Werte, so erklärt er noch im Rückblick seiner philosophischen Autobiographie Ecce homo, sind „die einzigen Werthe, die die ,Geburt der Tragödie' anerkennt" (EH, KSA 6, 310).40 Für moralische Werte ist demnach hier kein Platz. Nach dem freilich erst später, in den achtziger Jahren, entwickelten genealogischen Gedanken, daß sich hinter den in der überkommenen Moral artikulierten Idealen in Wahrheit die niedrigsten, schwächsten, schädlichsten Instinkte verbergen, das Menschlich-Allzumenschliche, wären sie ohnehin nicht wünschenswert. Die Moral, so weit wir sie kennen, also die Moral der vom christlichen Glauben geprägten Kultur, Sklavenmoral, Ausdruck eines geschwächten Lebens, Symptom der Dekadenz:

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Unsere moralischen Vorstellungen von Werten, Normen und Tugenden zeugten demnach davon, daß es in einem nicht wirklich historisch, sondern idealtypisch-mythologisierend gedachten grundstürzenden Akt der Umwertung der Werte, für den Nietzsche den Begriff des Ressentiments reserviert, den Schwachen gelungen wäre, aus ihrer aggressiv organisierten Schwäche eine Stärke zu machen, indem sie den Starken ein schlechtes Gewissen für ihre Stärke anzudrehen wußten. Herausgekommen wäre dabei die „armselige Chineserei" (EH, KSA 6, 369) einer „Entselbstungs-Moral" (EH, KSA 6, 332) Moral als „die Idiosynkrasie und mit Erfolg" oder: von décadents, mit der Hinterabsicht, sich am Leben zu rächen „Moral als Vampyrismus" (EH, KSA 6, 373). Die Position der radikalen Moralkritik scheint mit dem Ästhetizismus des Lebens, wie er in den frühen Jahren entwickelt wird, harmonisch übereinzustimmen, ja in diesem bereits programmatisch enthalten zu sein. Hier ist alles ästhetisch, und nichts außerdem. Ist mit anderen Worten der spätere Immoralismus die Wahrheit bereits des frühen Ästhetizismus? In Wirklichkeit droht diese Polarisierung Nietzsches Denken nicht nur auf eine systematisch falsche Alternative zu bringen, sondern auch auf eine, die er selbst nicht vertritt. Dem genaueren Blick erweist sich sein Ästhetizismus als ebenso durchlässig für ethische Bewertungen wie sein „Immoralismus". Zum einen gehört nach seinem naheliegenden Verständnis ebenso wie die Wissenschaft auch die spezifisch charakterisierte Form des Selbstverständnisses und Weltverhältnisses in der Moralität als Institutionalisierung intellektueller Einstellungen und wertender Stellungnahmen in den Horizont der Kultur. Als Versuch, das Amorphe und Widrige die Tragik des Lebens so zu beherrschen, daß eine lebenswerte Wirklichkeit daraus wird, somit als schöpferische Leistung eines Weltbildes hat auch sie ihren Ursprung in der fundamentalen poietischen Aktivität, in jenem „Fundamentaltrieb zur Metapherbildung", die den Menschen vorläufig eben nur in einem elementaren Sinne zum Künstler machen. Auch in der Moral und in der Wissenschaft, die sich im Laufe der Menschheitsgeschichte von der spezifischen Differenz zum eigendynamischen System entwickeln, macht sich zwar der Mensch seine Welt gleichsam künstlerisch zurecht.41 Der Unterschied, auf den Nietzsche wert legt, besteht aber bei den wissenschaftlichen und bei den moralischen Weltanschauungen darin, daß sie sich zu starren Systemen verselbständigen und dann die -

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40 So begreift Nietzsche auch sein ästhetisches Weltwesen in dieser Zeit als einen „gänzlich unbedenklichen und unmoralischen Künstler-Gott" (GT, „Versuch einer Selbstkritik", KSA 1, 17). 41 „Das Leben unterstützen zum Leben verführen, ist demnach die jeder Erkenntniß zu Grunde liegende Absicht", heißt es Ende 1870-April 1871, KSA 7, 7, [125], 183; siehe zu dieser Systematik auch Brigitte Scheer, Die Bedeutung der Sprache, 110 f. -

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künstlerische Kreativität nicht länger anregen und freisetzen, sondern in lebensfeindlicher Weise hemmen und schwächen. Die Kunst ist somit in der Kontinuität aller künstlerischen Funktionen darin die der Wissenschaft und der Moral überlegene Fiktion, daß sie auf lange Sicht die Funktion der lebensdienlichen Anregung besser erfüllt (siehe exemplarisch WL

KSA 1,882-886). Zum anderen aber steht Nietzsches ästhetischer Fundamentalismus als eine Konzeption der elementaren Lebenskunst deutlich unter dem Primat des Praktischen, und von daher ist es auch nur konsequent, daß es bei ihm weder eine ästhetische Einstellung noch eine Destruktion der herrschenden Moral ohne Ethik gibt. Daß sich Ästhetik und Ethik, künstlerische Lebensprogrammatik und Moral nach dieser Konzeption nicht ausschließen können, erweist sich bereits durch den einfachen systematischen Gedanken, den wir uns im Blick auf die Konsequenz von Nietzsches ästhetischem Fundamentalismus zwangsläufig zuziehen. Die Frage ist doch: Wozu eigentlich soviel Getös' um diesen Gedanken? Welchen diskursiven und rhetorischen Aufwand treibt Nietzsche nicht, um uns mit aller Schärfe ein neues Selbstverständnis nahezulegen: die desillusionierende Einsicht, daß wir ohne Illusionen nicht leben können samt der schmeichelhaften Pointe, daß wir sie uns auch immer schon machen! Darin sind wir Künstler! Aber was wissen wir, wenn wir das wissen? Wollte der Autor damit lediglich in theoretischer Absicht eine falsche Beschreibung der Wirklichkeit durch eine richtige ersetzen, müßte er fürchten, daß seine Adressaten sich mit dieser ganz gelassen auch schon zufrieden geben: Schön, wir sind Künstler. Da wir es offenbar von Grund aufsind, waren wir es auch schon, bevor wir es wußten; wir sind es immer schon. Was also soll uns das? Es ist entscheidend, daß uns dieser Gedanke nach Nietzsches Absicht in der Tat etwas soll: Wir sollen es endlich wissen, damit wir etwas aus diesem Wissen damit wir mehr aus -

machen können. Den Horizont seiner aufklärerischen Desillusionierung bildet die Absicht, durch das veränderte Selbstverständnis auch zu einem angemessenen Weltverhältnis zu gelangen, in einer besseren Praxis oder zunächst: in einer intensivierten Poiesis die verkehrte und verkommene Welt wieder zurecht zu bringen.42 Vor der Gefahr, die Kleist in der Parabel vom Marionettentheater beschwört, daß der Gewinn an Bewußtsein den Verlust der Unschuld und damit der schöpferischen Potenz mit sich brächte, macht sich Nietzsche dabei dieses eine Mal nicht bange. Nach dem Modell der Steigerung durch Bewußtwerdung stellt er sich im Gegenteil vor, daß wir durch das neugewonnene künstlerische Selbstverständnis zu besseren Künstlern werden können. Werde, was du bist. Die Formel, der Nietzsches argumentative Bemühungen, seine Werbung für die Erneuerung der Kultur aus dem Geiste der zeitgenössischen Musik, erkennbar verpflichtet ist, markiert hier den Übergang von der Ästhetik zur Ethik. Die genealogische Priorität des Ästhetischen steht im Dienst eines Geltungsprimats des Praktischen, indem seine Behauptung zur Steigerung der Schaffenskraft und damit zur lebensförderlichen -

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42 Daß nach Nietzsche die Kunst so stark wie möglich über das Leben herrschen soll, kann auch seine stets mitgegebene Bewertung von kulturellen Zuständen einsichtig machen: Eine Kultur ist in dem Maße lebendig und groß, wie die Kunst das Leben beherrscht. Volker Gerhardt macht das differenzierende Potential in Nietzsches ästhetischer Metaphysik geltend, indem er das Verhältnis des deskriptiven zum normativen Sinn dieser Problematik mit Bezug auf die Theorie des starken oder schwachen Willens zur Macht erörtert („Nietzsches ästhetische Revolution", in: Volker Gerhardt, Pathos und Distanz, 21) -

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Gestaltung der Verhältnisse anreizen soll.43 Mehr noch: Auch einen begrifflichen Primat des Praktischen setzt Nietzsche in Geltung in der Konzeption des Ästhetischen selbst, das bei ihm nicht allein den auf Lust und Genuß bezogenen Aspekt der Sinneseindrücke ausmacht, sondern das aisthetisch-poietische Syndrom einer von vornherein durch spontane Hervorbringung charakterisierten Sinnlichkeit. -

„[...] wir brauchen, um zu leben, in jedem Augenblicke die Kunst. Unser Auge hält uns an den Formen fest. Wenn wir es aber selbst sind, die allmählich haben, so sehen wir in uns selbst eine Kunstkraft walten",

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notiert Nietzsche zur Zeit von Wahrheit und Lüge (Sommer 1882 Anfang 1873, KSA 7, 19 [49], 435).44 Wo eine am Modell der Kunst gewonnene Praktizität selbst der elementaren Sinneseindrücke angenommen wird, da liegt aber nichts näher als die Vorstellung von einer durchgehenden Verantwortung des erkennenden Subjekts für die Zustände der Welt. Wenn man bedenkt, mit welch hochfahrender Verachtung Nietzsche von den großen Idealisten sich abzusetzen bemüht war, dann ist es eine wohltuende Ironie der philosophischen Rezeptionsgeschichte, daß er sich mit seinem ästhetischen Fundamentalismus den gleichen Einwand gefallen lassen muß, dem sich schon Kant und Fichte mit ihrem transzendentalen Aktivismus ausgesetzt sahen. Doch bevor der Einwand greift, ist zunächst die innere Konsequenz des Gedankens zu verfolgen, gegen den er sich richtet. Von der poietischen Konzeption des Begriffs vom Ästhetischen ist es nämlich nur noch ein Schritt zu jenem ethischen Anspruch, den Nietzsche schließlich ebenso im faszinierten Blick auf den intuitiven Menschen „im älteren Griechenland" (WL, KSA 1, 889) zu qualifizieren sucht wie den ästhetischen Gedanken. Man muß sich im Grunde nur klarmachen, welche Funktion die im Begriff der Kunst gefaßte Kultur als jene produktive Verklärung und Verfeinerung für Nietzsche hat: „Die Welt der Vorstellungen ist das Mittel, uns in der Welt der That festzuhalten und uns zu Handlungen im Dienste des Instinkts zu zwingen." (September 1870- Januar 1871, KSA 7, 5 [77], 110) Das heißt auch, die Kunst soll die Illusion spenden, die den Blick auf die Tragik des Lebens erfolgreich verstellt im Schaffen von „Etwas, dessentwillen es sich lohnt, auf Erden zu leben" (Jenseits, KSA 5, 109). In dem künstlerischen Schaffensprozeß, wie Nietzsche ihn sieht, geht es somit ernsthaft um etwas: Es geht darum, das Leben auszuhalten, indem man es sich durch das zurechtmacht, was Nietzsche in der Lügenmetapher zusammenfaßt. „Wir leben nur durch diese Illusionen der Kunst" (Sommer 1872 Anfang 1873, KSA 7, 19 [51], 436). -

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43 Dieser Primat des Praktischen erstreckt sich ebenso auf die Erkenntnis und die Wissenschaft. Ungeachtet aller Reinheitsgebote der Theorie besteht Nietzsche auf der Einsicht, daß es praktische Wahrheiten gibt in dem Sinne, daß sie eine dem unabdingbar praktischen Selbstverständnis förderliche ,Arbeitshypothese' bereitstellen Einsichten, aufgrund derer man sich selbst als Handelnder besser versteht. Vergleichbar dem Primat der praktischen Vernunft, zu dessen Begründung sich Kant in der Kritik der praktischen Vernunft nach dem Scheitern des Freiheitsbeweises genötigt, aber mit Blick auf die Unhintergehbarkeit des Willens auch berechtigt sieht, ist Nietzsche an den fruchtbaren Wahrheiten interessiert; vgl. Thomas Böning, Metaphysik, Kunst und Sprache, 130-152. Übrigens ist es dieser Gedanke, der es sofern man seine Berechtigung anerkennt auch dem Interpreten erlaubt, einem Ansatz etwas abzugewinnen, selbst wenn er auf einem Kategorienfehler beruht (s. o.). 44 In ebenso radikaler Anwendung des praktischen Grundgedankens geht Nietzsche so weit, die an alle Erkenntnis herangetragene Kategorie der Kausalität aus der Willenserfahrung ableiten zu wollen: „Einen Reiz als eine Thätigkeit zu empfinden, etwas Passives aktiv zu empfinden ist die erste Kausalitätsempfindung, d. h. die erste Empfindung bringt bereits diese Kausalitätsempfindung hervor". Dabei aber gelten ihm „Wille und That" als „einzige Kausalität, die uns bewußt ist" (Sommer 1872 Anfang 1873, KSA 7 19 [209], 483). -

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Über die Einheit des künstlerischen Stiles

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In dem Maße, in dem es darauf ankommt, hängt aber auch etwas am Gelingen, und dazu bedarf es wie für jedes Gelingen der Dispositionen, die es zu einer Haltung zu kultivieren gilt. Es ist das Ethos des Schaffenden, das auf diese Weise in den Blick rückt. Dieser ästhetische Fundamentalismus kann somit kein reiner Ästhetizismus sein, weil das

schöpferische Pathos seine Eigendynamik in Ansprüchen entwickelt, die eine normative Entsprechung in seinem Selbstverständnis haben. Der hohe ethische Anspruch, den Nietzsche mit seiner Moralkritik stellt, hat daraufhin nichts Verblüffendes mehr: Ohne jede Scheu vor kompromittierender Gesellschaft spricht Nietzsche dort die erstrebenswerten Dispositionen als „Tugenden" an. Es kann ja von Anfang an nicht verborgen bleiben, daß es sein Moralismus ist, der ihn verzweifeln läßt an der Verselbständigung moralischer Vorstellungen zu Mitteln kleinlicher und skrupelloser Machtausübung, an der Verlogenheit der Moral. Die Moral ist ihm, gemessen an ihren eigenen Maßstäben, nicht moralisch genug.45 So sieht er auch noch im Rückblick seine welthistorische Aufgabe in der ,,tiefste[n] GewissensCollision", die die Menschheit bisher erlebt hat (EH, KSA 6, 365). Von daher überrascht es auch nicht, daß der „intuitive" Typus, den uns Nietzsche bei der hervorbringenden Gestaltung der Kultur am Werke sehen läßt, im Grunde derselbe ist, den er in der Darstellung der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen als den titanischen Geistesheroen schildert, wie er sich mit seinen großen kühnen Gedanken das Schicksal des Kosmos und der Menschheit auf den Nacken lädt; und derselbe, den er in Jenseits von Gut und Böse in polemischer Abgrenzung gegen die Sklavenmoral als die Verkörperung seines ethischen Ideals, des „gentilhomme" verherrlicht: Der Vornehme, der in seiner Schaffenskraft und in seinem Verlangen nach Freiheit von sich aus Werte schafft46 und damit ursprünglich zwischen Gut und Böse unterscheidet. Als die Tugenden dieses Vornehmen „virtu im Renaissance-Stile", wie er betont, „moralinfreie Tugend" (EH, KSA 6, 279) nennt Nietzsche Gerechtigkeit (JGB, KSA 5, 154; 215), Mut, Einsicht, Mitgefühl, Einsamkeit (JGB, KSA 5, 232), Distinktion („Reinlichkeit"; JGB, KSA 5, 226, 232), Heiterkeit und, immer wieder: Redlichkeit (JGB, KSA 5, 162).47 Vor allem aber sehen wir in diesem Prospekt: So wie er den entfremdeten und erstarrten Zeitgenossen des Historismus schon zur Zeit der Artisten-Metaphysik die Imperative entgegengeschleudert hatte: „Neu-Anpflanzen, Kühn-Versuchen, Frei-Begehren" (HL, KSA 1, 304), so können wir aus seiner immer radikalen, niemals konsequenten Kritik der Moderne die Maximen extrapolieren: Werke schaffen, Verantwortung tragen, Werte setzen damit sind die Instanzen eines lustvoll produktiven Lebens beschrieben, in dem ästhetische Kreativität und ethische Disziplin eine integrale Form bilden. Es ist das Ethos des Schaffenden, das Nietzsche mit allen seinen exemplarischen Beschwörungen antiker Größe evozieren will und ohne das er sein später ausgeführtes Ideal des freien Geistes gar nicht beschreiben kann.48 -

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„Auf die reine Gier zum Dasein gründet sich die Ethik", heißt es noch im Banne von Schopenhauers Willensmetaphysik schon in der Zeit vom Winter 1869-70 Frühjahr 1870, KSA 7, 3 [81 ], 82. Siehe z. B.: „es ist das eigentliche Herrenrecht, Werthe zu schaffen" (JGB, KSA 5, 213). Vgl. auch den affirmativen Gebrauch des Moralbegriffs zur Selbstexplikation KSA 6, 293, und z. B.: Treue und Konsequenz auch im Mißerfolg, „das gehört eher schon zu meiner Moral1' (EH, KSA 6, 278; Hervh. B. R.) Von den freien Geistern, die er in der Fröhlichen Wissenschaft mehr beschwört als beschreibt, jenen „Frühgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft", jenen „Argonauten des Ideals", erfahren wir vor allem, sie seien getrieben von einem „Heisshunger in Wissen und Gewissen" (FW V, zitiert nach EH, KSA 6, 337, 338; Hervh. B. R.). Obwohl er sich wie eine Parodie auf das ausnimmt, was dem Menschen bisher wert und heilig war, verkörpern sie damit einen Geist, mit dem „vielleicht der grosse Ernst erst anhebt" (KSA 6, 339). -

46 47 48

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Birgit Recki

Am deutlichsten artikuliert Nietzsche diesen Übergang vom Ästhetischen zum Ethischen wohl im Zusammenhang der bereits zitierten kulturphilosophischen Verteidigung des

Zwanges:

„Jeder Künstler weiss, wie fern vom Gefühl des Sichgehenlassens sein .natürlichster' Zustand ist, das freie Ordnen, Setzen, Verfügen, Gestalten in den Augenblicken der ,Inspiration', und wie streng und fein er da tausendfältigen Gesetzen gehorcht' (JGB, KSA 5, 108;Hervh. B. R.). -

Ein Blick auf die dialektische Konzeption des Ästhetischen, wie sie Nietzsche in der Geburt der Tragödie vorgelegt hat, kann uns in diesem Gedanken vom Hervorgehen des Ethos aus der Dynamik der ästhetischen Gestaltung nur bestärken. Was er in der grundlegend aufs Ganze der Wirklichkeit gehenden Argumentation der Schrift Ueber Wahrheit und Lüge als einen einzigen „Fundamentaltrieb zur Metapherbildung" zusammenfaßt, hat er dort in der Form eines Dualismus ausgelegt. Demnach sind es zwei ästhetische Triebe, in denen sich genauer besehen die plastische Kraft des Menschen entfaltet zwei gleichursprüngliche, einander widerstreitende und sich wechselseitig in ihrer Produktivität herausfordernde Kräfte, denen Nietzsche die Namen zweier griechischer Götter gibt: Apollon und Dionysos. Apoll, der Gott des Lichtes und der Aufklärung, des Traumes und der visionären Entrückung, steht mit diesen Eigenschaften für das principium individuationis, nicht nur das bilderschaffende, sondern überhaupt das maß- und formgebende Prinzip: Er ist der Schutzgott der bildenden Kunst und der epischen Literatur. Dionysos, Gott des Weines, des Rausches und der rasenden Verzückung, steht für die Lust an der orgiastischen Vereinigung: Er verkörpert das Prinzip der auflösenden Entgrenzung und ist der Schutzgott der Musik und der Lyrik. Die beiden Pinzipien haben in agonalem Wechselspiel und in wechselnder Proportion an allen Gestalten der Kunst und des Lebens ihren Anteil,49 die attische Tragödie ist insofern exemplarisch, als sie die vollkommene Vereinigung des Apollinischen und des Dionysischen darstellt: Das unüberbietbare Gesamtkunstwerk, in dem der feindliche Gegensatz ausgetragen ist. Diese dualistische Konzeption, so fragwürdig sie in ihrer metaphysischen Überhöhung ist, erlaubt es Nietzsche zum einen, von den schöpferischen Griechen ein realistischeres Bild zu zeichnen, als es im Blick auf ihre edle Einfalt und stille Größe noch ein Jahrhundert zuvor die deutsche Klassik begeistert hatte. Er will uns gerade zu einem tiefen Blick in die Abgründe der vielbeschworenen „griechischen Heiterkeit" anleiten.50 In der gleichberechtigten Konstellation des Apollinischen und des Dionysischen macht er an den Griechen seiner kulturellen Idealvorstellung vor allem einen existentiellen und fruchtbaren Zwiespalt sichtbar. Zum anderen aber stattet der Dualismus Nietzsches Ästhetik mit einem Potential vor allem zur kunsttheoretischen Differenzierung aus. Während das Apollinische dem klassischen Schönheitsbegriff entspricht, erlaubt das Dionysische ähnlich dem Begriff des Erhabenen, auch die Negativität ästhetisch zu artikulieren: „Wenn das Schöne auf einem Traum des Wesens beruht, so das Erhabene auf einem Rausche des Wesens", heißt es mit einschlägiger -

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49 Siehe Bernhard Lypp, „Dionysisch apollinisch: Ein unhaltbarer Gegensatz. Nietzsches Physiologie der Kunst als Version dionysischen Philosophierens", in: Nietzsche-Studien 13/1984, 356-373. 50 „Was ist über die Griechen zu lehren, wenn man von ihrer heiteren Welt ausgeht? und sich den Ernst verhüllt?" (September 1870 Januar 1871, KSA 7, 5 [ 115], 124) Mit abfälliger Wendung gegen die Altphilologie seiner Zeit auch: „Eine Harmonie ohne eine innerste Noth, ohne einen schrecklichen Untergrund das suchen unsere .Griechen' in den Alten!" (Ende 1870-April 1871, KSA 7, 7 [90], 159) -

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Über die Einheit des künstlerischen Stiles

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Zuordnung zu den Domänen von Apoll und Dionysos (Ende 1870 April 1871, KSA 7, 7 [46], 149). Der ästhetische Dualismus macht es aber auch möglich, das Ursprüngliche und Ungebärdige, das zügellos Orgiastische und Maßlose, die entgrenzende Verzweiflung an der Tragik des Daseins ästhetisch ebenso ernstzunehmen wie die wohlgeordnete, maßvolle Form. „Man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können", läßt Nietzsche ein gutes Jahrzehnt später seine literarische Schlüsselfigur Zarathustra ausrufen, und damit ist der frühe dionysische Gedanke wiederaufgenommen, daß für die künstlerische Hervorbringung stets auch das auflösende und zerstörerische Potential nötig ist, das er in der Lebensform des dionysischen Griechen in idealer Weise aufgehoben findet.51 Im Wechselspiel von Apoll und Dionysos kann Nietzsche das Verhältnis von ursprünglichem Motiv und Gestaltung, von Impuls und Kompetenz fassen und dabei auf der impulsgebenden Seite auch den Anteil der destruktiven Energien gleichberechtigt neben den konstruktiven gewürdigt sehen. „Theologisch geredet [...] war es Gott selber, der sich als Schlange am Ende seines Tagewerks unter den Baum der Erkenntniss legte: er erholte sich so davon, Gott zu sein Er hatte Alles zu schön gemacht... Der Teufel ist bloss der Müssiggang Gottes an jedem siebenten Tage ..." (EH, KSA 6, 351). In dieser- bei einem Anti-Christen überraschenden theologischen Interpretation einer Selbstaufspaltung Gottes in das positive und das negative Prinzip der Schöpfung hat man ein Gleichnis auf den produktionsästhetischen Gedanken zu sehen, nach dem sich der ästhetische „Fundamentaltrieb zur Metapherbildung" in den apollinischen und den dionysischen Trieb auslegt. So sehr er freilich das Dionysische betont in einer Kultur, deren erstarrtem Leben es nach seiner besorgten Diagnose nahezu ausgetrieben wurde, es wirkt nach seiner Einsicht nur in der Konstellation mit seinem Gegenpart. Daß etwas überhaupt gestaltet wird, ist bereits der apollinische Anteil an der Kunst. Macht man sich aber klar, was mit dem Apollinischen als dem individuierenden Prinzip der Selbsterhaltung stets auch gemeint ist, welche Konzentration hier in der Klarheit des Blicks, in der Verdichtung und Formung der Bilder und -

...

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Gestalten

wirkt, dann nimmt man an der Form, an den von Nietzsche immer wieder hervor-

gehobenen Leistungen von Maß und Ordnung auch das Moment der Beherrschung und der Disziplin wahr. Auch mit Blick auf die dualistische Ausprägung der ästhetischen Metaphysik läßt sich also sagen: Das Ethische hat seinen Ort im Inneren des ästhetischen Prozesses. So leuchtet es ein, daß wir einen Aspekt der Dialektik von Apollinischem und Dionysischem in der Schrift über Wahrheit und Lüge in der Gegenüberstellung des vernünftigen mit dem intuitiven Menschen wiederfinden. Aber es kann auch nicht überraschen, wenn Nietzsche selbst Apollon „als ethische Gottheit" (GT, KSA 1, 40) exponiert.52 In der gelungenen ästhe-

„Und wer ein Schöpfer sein muss im Guten und Bösen: wahrlich, der muss ein Vernichter erst sein und Werthe zerbrechen. Also gehört das höchste Böse zur höchsten Güte: diese aber ist die schöpferische." (ZA II, KSA 4, 149) 52 Dieser Zuordnung entspricht auch die spätere Entgegensetzung der „dionysischen und politischen Triebe" (GT, KSA 1, 133). Vgl. im Nachlaß: „Die olympische Götterwelt [die Nietzsche in der GT dem apollinischen Trieb zuordnet, B.R.] ändert sich zur ethischen Weltordnung. Der arme Mensch wirft sich vor ihr nieder." (Winter 1869-70 Frühjahr 1870, KSA 7, 3 [33], 70. Für den grundlegenden Charakter der Opposition des Ästhetischen und des Moralischen spricht zum anderen Nietzsches Vermutung, die bisherigen Rezipienten der Tragödie „möchten überhaupt keine aesthetisch erregbaren Menschen sein und beim Anhören der Tragödie vielleicht nur als moralische Wesen in Betracht kommen" (GT, KSA 1, 142; Hervh. B. R.): Tertium non datur! Die ethische Implikation seiner eigenen ästhetischen Philosophie zeigt sich schließlich darin, daß er das agonale Wechselspiel der beiden ästhetischen Elemente nicht allein als grundlegende Dialektik begreift, sondern zuletzt „nach dem Gesetze ewiger Gerechtigkeit bewertet (GT, KSA 1, 155; Hervh. B. R.). 51

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Birgit Recki

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tischen Form, die von einem Ausgleich zwischen den widerstreitenden Kräften zeugt, wäre demnach auch das ethische Prinzip verkörpert. Im Blick auf den Anspruch gelingender Formung, deren Kriterium stets die Angemessenheit an ein Problem ist für Nietzsche in allem zuletzt das Problem der Lebensbewältigung -, wird die Implikation einer erstrebenswerten Haltung erkennbar, die zu solcher Leistung die Befähigung gewährt. Es ist diese Einsicht in den Ursprung des Ethos aus dem Anspruch der ästhetischen Gestaltung, durch die auch das für postmoderne Leser wohl befremdliche Postulat der Einheit, der Einhelligkeit und der Herrschaft in Nietzsches Kulturverständnis seinen Sinn erhält. -

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Claudia Marra

Der Einfluß von Nietzsches Zarathustra auf Karl Mays Im Reiche des silbernen Löwen1 „Es gibt nur Karl May und Hegel, alles dazwischen ist eine unreine

Mischung."2

„Und überraschend genug mag es Manchem kommen,

an solcher, bisher verachteter Stelle zu mit Friedrich Nietzsche Auseinandersetzung begegnen; unerwartet-gespenstisch, unheimlich-amüsant, wie das Ungeheuer aus dem Loch Ness, oder eine Fliegende Untertasse unter der Frühstücksserviette."3 Die unheimliche Begegnung mit Nietzsche, auf die Arno Schmidt hier anspielt, findet vor allem im dritten und vierten Band4 von Karl Mays Im Reiche des silbernen Löwen statt, und es ist in der Tat erstaunlich, wie viel „Nietzsche" sich dort findet! Arno Schmidt5 und auch Hans Wollschläger6 haben bereits gezeigt, auf welchen entstehungsgeschichtlichen Voraussetzungen die Verschlüsselung der Person Nietzsches in Gestalt der Figur des „Ahriman Mirza" beruht, und welche psychologischen Vorgänge dabei zugrundegelegen haben. Die Motive und Bilder, die May aus Nietzsches Werk geschöpft hat, sind Thema dieser Arbeit. Die historische Situation des preußisch dominierten Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts war innenpolitisch durch den sogenannten Kulturkampf, die Auseinandersetzung des (mehrheitlich protestantischen) preußischen Staates mit der katholischen Kirche geprägt. In dem Versuch, die bereits seit dem 18. Jahrhundert anhaltende Säkularisierung der Gesellschaft in Realpolitik umzusetzen, wurde mit Hilfe eines umfangreichen Gesetzgebungs-

einer

Überarbeitete Fassung eines Vortrags vom 27.4.1997 vor dem Nietzsche Forschungskreis Westjapan in Kitakyushu. Es wird nach folgenden Ausgaben zitiert: Karl May, Im Reiche des silbernen Löwen III, Freiburg 1902 (SLI II), Karl May, Im Reiche des silbernen Löwen IV, Freiburg 1903 (SLIV). 2 Ernst Bloch, zit. nach Peter Zudeick, Der Hintern des Teufels Ernst Bloch, Leben und Werk, Bühl-Moos 1987, 1

27. 3 Arno

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Schmidt, „Abu Kital. Vom neuen Großmystiker", in: Helmut Schmiedt (Hg): Karl May Frankfurt a.M. 1983, 64. 4 In der Beurteilung der beiden ersten Bände folge ich Hans Wollschläger: „Wenn hier vom Silberlöwen die Rede ist, so ist immer der Spätkomplex gemeint, also der III. und IV. Band des unter dem Sammeltitel veröffentlichten 4bändigen Werks. Die ersten beiden Bände, eine Reiseerzählungs-Kompilation, die von May mit nicht allzuviel Kritik und Geschick aus verschiedenen, kaum zusammenhängenden Stoffen gebildet wurde, waren Ende 1898, also vor der Orientreise, Mays großer Lebenszäsur [...] erschienen." Aus Hans Wollschläger, „Erste Annäherung an den .Silbernen Löwen'. Zur Symbolik und Entstehung", in: Helmut Schmiedt (Hg.), Karl May, 209. 5 Arno Schmidt, „Abu Kital". 6 Hans Wollschläger, „Erste Annäherung", 188 ff.

Claudia Marra

540

prozesses,7 und widrigenfalls

auch mit polizeilicher Gewalt, die Trennung von Staat und Kirche vollzogen. Erst zu diesem Zeitpunkt wurden sich größere Teile der Bevölkerung, und also auch der Leser (besonders auf dem Lande, aber auch das Städteproletariat), über den Wandel, den die

Aufklärung eingeleitet hatte, bewußt.8

Parallel dazu erfuhren sie, daß „die Kontingenz, die Religion als Sinngebungsmonopol ausgeschaltet hatte, nach der Depotenzierung der Religion nun massiv in alle modernen Gesellschaften"9 eintrat. Die daraus resultierende allgemeine Verunsicherung steigerte den Wunsch, die Welt, die mehr und mehr in unübersehbare Teile zu dissoziieren schien, als „heilbar" vorgeführt zu bekommen: ein Bedürfnis, das die Massenliteratur, und damit die Schriften Karl Mays, zu befriedigen suchte. Die Hochliteratur fand ihre Therapieansätze zum Beispiel im „Ästhetizismus", mit seinen „l'art pour l'art"-Konzepten künstlerisch neukomponierter Wirklichkeiten oder im „Realismus" mit seiner Thematisierung „poesiefähiger Realität"10 Karl May versuchte es mit abenteuerlichen Erzählungen gleichsam mythischer Struktur. Die Darstellung einer von Gott sinnvoll geschaffenen Welt durchzieht sein gesamtes Werk vom Opus magnum Das Waidröschen oder die Verfolgung rund um die Erde, Enthüllungen über die Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft,^ bis hin zu seinem symbolisch verschlüsselten Spätwerk als „Großmystiker".12 Immer ist es ein Anliegen des Ich-Helden, vom Glauben Abgefallenen den Weg zurück zum Christentum zu bahnen. Bei diesen Zweiflern, aber auch bei denjenigen Gestalten, die zum Glauben zurückgefunden haben, erscheinen genau diejenigen Problemstrukturen als Bedrohung, mit denen die Bevölkerung des wilhelminischen Deutschlands sich auseinanderzusetzen hatte: zunehmende soziale Mobilisierung, Verlust von Familienbanden, Verarmung durch die Folgen der Industrialisierung, Revolutionswirren sowie die verführerische Kraft des „Freidenkertums" und der Philosophie. -

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7 1871 „Kanzelparagraph", 1872 „Schulaufsichtsgesetz", 1873/74 „Maigesetze", 1874/75 „Zivilehe", „Sperrgesetze". 8 „Bei der zusammenfassenden Würdigung der kirchlichen Aufklärung beider Konfessionen darf man nicht vergessen, daß sie die breiten Massen der Bevölkerung nicht erfaßt, sondern sich auf einen mehr oder weniger breiten Ausschnitt aus Adel und Bürgertum beschränkt hat." Wilhelm Maurer, „AufklärungTheologisch-kirchlich III", Artikel in: RGG, Bd. 1, 1957, 729. 9 Siegfried J. Schmidt, Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M.

1982,218.

10 Dabei schloß natürlich die Umweltdifferenz, unter der etwa die Realisten produzierten, nicht aus, daß Themenbereiche berührt wurden, die auch in der Massenliteratur thematisiert wurden. „Das System legt selbst fest, was als seine Umwelt in Frage kommt, und in dieser Hinsicht ist es natürlich ein Unterschied, ob man die Welt christlich, wie Eichendorf, materialistisch, wie Büchner, idealistisch wie die .bürgerlichen Realisten' oder quasi-naturwissenschaftlich wie einige Naturalisten programmiert." Gerhard Plumpe, Epochen moderner Literatur, Opladen 1995, 61 30. Zur Wirklichkeitskonzeption des Realismus vgl. Ulf Eisele, „Realismus-Theorie", in: Horst Albert Glaser (Hg.), Deutsche Literatur eine Sozialgeschichte, Bd. 7, Hamburg 1982, 36-46. 11 „nicht um ein einzelnes Menschenschicksal soll es gehen, sondern rund um die ganze Erde und um die Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft überhaupt. Das ist ein Anspruch, der nicht mehr übertroffen werden kann. Der totale Roman ist programmiert, ein Bild der ganzen Welt soll entworfen werden, und eben dies, die Kolportage als Weltbild, ist die eigentliche schöpferische Idee [...]". Heinz Stolte: Waldröschen als Weltbild. Zur Ästhetik der Kolportage. http://www.theophysik.uni-kiel.de/starrost/kmg/seklit/jbKMG/1971/17.htm> (07.12.1996). 12 Arno Schmidt, „Abu Kital", 45-74. '

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Der Einfluß von Nietzsches Zarathustra

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Mays Versuch einer im christlichen Mythos wieder heilgemachten Welt erinnert an Kon-

zepte der Romantik:13 „Der Mythos

man

dachte natürlich

an

die antike

griechische, aber auch an die orien-

talische, indische Mythologie [...] wurde als Paradigma einer anschaulichen Sinntotalität verstanden, die ein Volk diskursiv und sozial integrieren könne, .Wissen', ,Kunst', ,Moral' -

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und

,Religion'

schienen in den alten Mythen noch in großer Einheit versammelt zu sein."14

Daß in einer Neuauflage des Konzepts mythischer Einheit bei Karl May noch einmal die Philosophie hätte integriert werden können, erscheint jedoch mehr als fraglich. Dazu Mays alter ego Old Shatterhand:

„Meine nachherigen Reisen brachten mich mit den Bekennern aller möglichen Anbetungsformen in Berührung. Ich besaß nicht jenes Christentum, welches sich über allen Andersdenkenden erhaben dünkt, sondern ich prüfte auch hier; ich studierte den Kuran, die Veda,

Zarathustra und Cong-fu-tse. Diese Lehren konnten mich nicht ins Wanken bringen wie früher die Werke unserer ,großen Philosophen', welche noch heute in meiner Bibliothek ,glänzen', weil ich sie so außerordentlich schone, indem ich sie fast nie in die Hand nehme. Mein Kinderglaube ist also durch zahlreiche Prüfungen gegangen; er hat sich in ihnen voll bewährt und wohnt mir darum doppelt unerschütterlich im Herzen."15 Die Philosophie wird hier also als der Hauptgegner der Religion ausgemacht. May macht keinen Hehl aus seiner Opposition gegen materialistische,16 positivistische oder marxistische Philosophie, ganz besonders stark ist jedoch die Abfuhr, die dem Nihilismus, und besonders den Positionen Nietzsches, erteilt wird. Das Diktum vom „Tod Gottes", das Nietzsche 1882 in Die fröhliche Wissenschaft verkündete, stilisierte ihn zum Glaubensfeind par excellence. Aber nicht nur die provokative Erklärung über den Tod Gottes, sondern Nietzsches philosophisches Gesamtkonzept stand, trotz einiger unfreiwilliger Parallelen,17 in totalem Kontrast zu den kleinbürgerlich-christlichen Idylleträumen Mays und seiner Leser. -

13 14 15 16 17

Mays Nähe zur Romantik ist in der Sekundärliteratur an verschiedenen Stellen erörtert worden. Vgl. z. B. Hartmut Vollmer, Karl Mays „Am Jenseits", Ubstadt 1983. Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur, 100. Karl May, OldShurehand 1, hg. v. Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger, Zürich 1989, 354. Zur Materialismuskritik bei Karl May vgl. Jochen Schulte-Sasse, „Karl Mays Amerika-Exotik und deutsche Wirklichkeit", in: Helmut Schmiedt (Hg), Karl May, 101 ff. Daß Karl Mays Sozialstrukturen trotz diametral entgegengesetzter Wertvorstellungen häufig Merkmale aufweisen, die den von Nietzsche beschriebenen gleichen (etwa die soziale Pyramide der „Dschamiki", die aus dem „Ustad" an der Spitze, dem „Pedehr" und Co. als Exekutive und der Masse der Mittelmäßigen, wie „Tifl" oder „Kerbela", aber auch die Struktur der übrigen Romane mit dem Ich-Helden an der Spitze, der mit treuen Begleitern als Exekutive das Glück der Indianer- oder Beduinenmassen sichert), hat Arno Schmidt bereits ironisch vermerkt. WieNietzsches „Mittelmäßige ihr Glück in der Mittelmäßigkeit finden", so findet auch das Maysche Personal sein Glück an dem ihm von Gott zugewiesenen Platz. Die Guten finden dorthin in der Regel nach vielen Abenteuern zurück, während die Bösen ihre Hybris mit Gottesurteil-ähnlichem Untergang bezahlen müssen. Das Böse triumphiert stets nur für kurze Zeit, sollte ihre Verfolgung auch, wie im „Waldröschen" rund um den Erdball führen und Jahrzehnte dauern

Claudia Marra

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Nietzsches

Programm stand für eine

„Subjektform, die weder die Norm begehrt noch erfüllt, noch auch nur von sich weiß und

,Inkommensurabilität' feiert. Noch weniger handelt es sich um eine ,dialektische' Aufhebung des Gegensatzes in einem imaginären individuellen Allgemeinen', in dem die Spannung von ,Norm' und ,Ich' etwa in der Weise Schillerscher Utopien versöhnt wäre. Nietzsche dachte völlig undialektisch; er dachte agonal: Sieg oder Niederlage und keine Vermittlung'. Außerdem sah er in der Gegenstellung von ,Generellem' und individuellem' gar keine echte Kontradiktion, sondern ein Komplementärphänomen: Das individuelle' ist die Norm gewordene Kompensation der ,Generalisierung', gleichsam jene schwache Re-Aktion, mit der sich die Subjekte einer durchnivellierten Gesellschaft noch selbstaffirmieren und ansonsten alles geschehen' lassen."18 ihre

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Natürlich ist „Trivialliteratur" für gewöhnlich nicht der Ort, philosophische Fragestellungen zu diskutieren, die heftig ablehnende Haltung, die explizit oder in verschlüsselter Form in Mays Werken durchscheint, wirkt jedoch als Indiz dafür, daß May, und mit ihm ein Großteil der Bevölkerung Deutschlands, auf die erfolgte Ausdifferenzierung von Philosophie und Religion noch nicht routiniert und gelassen reagieren konnte." In der Welt, die die Masse der Leser in fiktionaler Literatur dargestellt finden wollte, hatten Prinzipien göttlicher Ordnung und sinnvollen Zusammenhangs vorzuherrschen, für Nietzsches Radikalität und Modernität, seinen Ekel vor der Banalität menschlicher Existenz und der daraus resultierenden Forderung, das Leben ohne Götter zu bewältigen, fand dieses Publikum keinen Zugang. Das Ressentiment gegen antichristliche Philosophie fand daher leicht Eingang in Mays Werke, da dieser „alles für seine Werke nahm, was er fand und zu ihrer plausiblen Ausgestaltung brauchen konnte [...] [er] war wie ein Schwamm, der alles aufsog, was ihm begegnete und sogleich, unter dem enormen Schreibdruck seines Lebens, verarbeitete."20 Es kann daher auch keine akademische Auseinandersetzung mit dem Werk Nietzsches erwartet werden: „Der Typus Dichter, dem May zuzurechnen ist, ,denkt' ja im Grunde gar nicht oder kaum: er beschreibt die Gefühle, die ihn vor einem Begriff anfallen und das dann allerdings mitunter in mächtig zelebrierten Bildern [,..]".21 -

„Müdigkeit, die mit Einem Sprunge zum Letzten will, mit einem Todessprunge, eine arme unwissende Müdigkeit, die nicht einmal mehr wollen will: die schuf alle Götter und Hinterwelten." (ZA, KSA 4, 36)

18 Gerhard Plumpe, Ästhetische Kommunikation der Moderne, Bd. 2. Opladen 1993, 74. 19 Die Struktur des Mayschen Ressentiments gegen Nietzsche findet eine Parallele 100 Jahre früher, in den Publikumsreaktionen auf Goethes Werther. Dieser frühe Erfolgsroman Goethes „traf auf ein Leseverhalten, dem die Differenzierung der Kommunikationen noch längst nicht selbstverständlich geworden war. Man reagierte also nicht .modern' und las den Text nicht als entpragmatisierte Fiktion, die entweder Interesse findet oder langweilt, sondern man reagiert überwiegend moralisch, fühlte sich in seinen Überzeugungen provoziert und rief nach Zensur." Gerhard Plumpe, Epochen moderner Literatur, 66. Vgl. hierzu auch Helmut Schmiedt, „Der Klassiker, der andere Klassiker und ihre Leser", in: Jahrbuch der Karl May Gesellschaft 1991, Hamburg 1991,107-124. 20 KMG-Nachrichten Nr 114, Dezember 1997, 10. 21 Hans Wollschläger, Karl May, Zürich 1976, 140.

Der Einfluß von Nietzsches Zarathustra

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Mit einem kühnen „Sprung über die Vergangenheit" (SL III, 252) betritt auch Karl May, in Gestalt seines alter ego Kara Ben Nemsi, hoch zu Roß, die „Hinterwelt" der „Dschamikun", gleichzeitig beginnt mit diesem Sprung Mays Spätwerk,22 das sich sowohl inhaltlich als auch formal deutlich von den früheren Schriften Mays unterscheidet und dessen Strukturen in dem dem Silberlöwen vorangehenden Werk Am Jenseits aufzuscheinen beginnen.23 Zwar handelt es sich auch beim Silberlöwen vordergründig um eine der üblichen Abenteuergeschichten: Der Held, Kara Ben Nemsi, reist in Begleitung seines Gefährten Hadschi Halef Omar von den sumpfigen Niederungen der Stadt Basra hinauf in die Berge von Khusistan. Unterwegs treffen sie auf die sogenannten „Massaban", eine Gruppe von Ausgestoßenen, die die Helden aufgrund einer Täuschung zunächst für Freunde halten. Man bricht gemeinsam zu einem Feldzug gegen die „Dschamikun" auf, dabei stellt sich aber die wahre Natur der vermeintlichen Freunde heraus, zudem machen sich bei beiden Protagonisten die Symptome einer schweren Typhuserkrankung bemerkbar. Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar schaffen es mit letzter Kraft, sich zu den nun als unschuldig erkannten „Dschamikun" zu retten, wo beide nach ihrem körperlichen Zusammenbruch gesund gepflegt werden. Die anfangs verkannten „Dschamikun" erweisen sich als quasi-christlichfromme regsame und glückliche Dorfgemeinschaft, die unter der Leitung eines geistigen Führers, des „Ustad", und dessen rechter Hand, des „Pedehr", in einem idyllischen Tal leben. Nach ihrer erfolgreichen Verteidigung gegen die „Massaban" wird ihr Friede als nächstes von dem Bluträcher „Ghulam el Multasim" bedroht, der in Begleitung des Prinzen „Ahriman Mirza", des geheimnisvollen Fürsten der Geheimorganisation der „Sillan" (= Schatten) auftritt. Diese macht- und geldgierigen, gottlosen Schatten haben sich insgeheim mit den benachbarten Taki-Kurden, einer skrupellosen, heuchlerischen Gruppe religiöser Fanatiker unter der Leitung des „Sheik-ulIslam" verbündet, um die „Dschamikun" zu vernichten und um eine geheimnisvolle Ruine und die in ihr befindlichen Schätze in ihren Besitz zu bringen. Der Kampf „gut gegen böse" gelangt anläßlich eines großen Rennens in die entscheidende Phase. Unterstützt von den Truppen des „Schah in Schah" und anderen Freunden siegen Kara Ben Nemsi und die „Dschamikun". Als äußeres Zeichen ihres Sieges erscheint aus den eingestürzten Ruinen die alabasterne Figur eines betenden Menschen, das „versteinerte Gebet". Soweit zur äußeren Handlung, die sicherlich kaum aus dem Rahmen dessen fällt, was May vorher geschrieben hat. Der entscheidende Unterschied liegt im Falle des Silberlöwen jedoch darin, daß May dieses Werk vor dem Hintergrund einer persönlichen Krisensituation geschrieben hat. Mays Nachdenken über seine Lebenssituation, die Bilanzierung seiner persönlichen Grundüberzeugungen werden in dem Werk thematisiert. Über Seiten hinweg retardiert die Handlung zugunsten von Betrachtungen über Religion, Musik, Architektur, das Verhältnis von Leib und Seele, das Sterben und den Tod. So liegt der vom Typhus genesende Held seinen Gedanken überlassen totenstarr inmitten seiner Lieblingsblumen (SL III, 269) vgl. hierzu Nietzsches „Kaum aber hatte Zarathustra diese Worte gesprochen, da stürzte er nieder gleich einem Todten und blieb lange wie ein Todter [...], also dass Zarathustra endlich unter gelben und roten Beeren, Trauben, Rosenäpfeln, wohlriechendem Krautwerke und Pinien-Zapfen lag." (ZA, KSA 4, 271) Die Zeit der -

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22 Als Zäsur wird üblicherweise Mays Orientreise angesetzt, vgl. Fn. 3. 23 Vgl. dazu u. a. Hartmut Vollmer, Karl Mays „Am Jenseits", oder auch Sibylle Becker, Karl Mays Philosophie im Spätwerk, Ubstadt 1977, sowie Hans Wollschläger, „Das .eigentliche Werk'", in: JbKMG, Hamburg 1977, 58 ff.

544

Claudia Marra

Rekonvaleszenz wird mit Gedanken über Leib und Seele verbracht, Zarathustras „Seele ist nur ein Wort für ein etwas am Leibe" (ZA, KSA 4, 39) verkehrt May an einer Stelle ins Gegenteil. „Wer ist dieser ,sich'? Dieser ,Er' oder diese ,Sie'? Dieses Wesen, diese Persönlichkeit? Nach Ansicht des Pedehr ist es die Seele. Der ,Geist' ist ihm Phantom. Er kennt am Menschen nur den Körper und die Seele. Die letztere ist das eigentliche Wesen." (SL III, 229) Die gegen May gerichtete Pressekampagne, diverse anhängige Gerichtsverfahren, seine Ehescheidung, gesundheitliche Probleme, aber auch das Erlebnis seiner Orientreise, führen neben diesen grundsätzlichen Gedanken aber auch dazu, daß er im Silberlöwen damit beginnt, sich „all den Ekel und Ärger vom Hals zu schreiben",24 indem er kurzerhand Freund und Feind in seinem Werk verschlüsselt25 auftreten läßt. Das Personal, auf das er hierbei zurückgreift, besteht natürlich zunächst aus den Personen seiner nächsten Umgebung (d. i. Prozeßgegner, die Ex-Ehefrau, Verleger, Kritiker etc.).26 In einer tieferen Schicht der symbolischen Verarbeitung greift May auf, meist unbewußte, frühkindliche Erlebnisse einerseits sowie aktuelle Tagesereignisse andererseits zurück, und auf dieser Ebene fließen weitere Versatzstücke aus Mays Nietzschelektüre in das Werk ein.27 Gerade zur Zeit der Entstehung des Silberlöwen2* hat sich Karl May intensiv mit Leben und Werk Friedrich Nietzsches auseinandergesetzt, wie sowohl der Bestand der Mayschen Bibliothek29 als auch die Korrespondenz30 sowie die Notiz über den Besuch des Vortrages von Dr. Rudolf Steiner über „Nietzsches Leben und Leiden" am 18. Januar 1902 zeigen.31 Nietzsches Philosophie mit ihrer Kritik an Gesellschaft, Kultur und vor allem der christlichen Religion mußte May zu einer Reaktion provozieren, zumal May sich selber als Missionar32 verstand: „Ich reise, um allüberall, im Urwald, in der Steppe, der Wüste, im Leben der Verachteten und Bedrängten, im Herzen des sogenannten Wilden die Spuren Gottes, die Wahrzeichen und Beweise der ewigen Liebe und Gerechtigkeit zu suchen, denn meine Bücher sollen zwar Reisebeschreibungen, aber in dieser Form Predigten der Gottes- und der Nächstenliebe sein." (SL III, 32) Es verwundert kaum, daß Karl Mays missionarischer Eifer dazu führte, daß Friedrich Nietzsche, in der Gestalt des „Ahriman Mirza" zu einem (Anti-)Helden des Mayschen Werks geworden ist. Die Personenbeschreibung des diabolischen Prinzen, waffenstrotzend, mit wippender Peitsche in der Hand, gleichzeitig bedrohlich und verführerisch, seine Rede gespickt mit Kriegsmetaphorik, hohnlachend sozialer und göttlicher Ordnung, erscheint wie

24 Arno Schmidt, „Abu Kital", 59. 25 Vgl. hierzu besonders Wollschläger, „Erste Annäherung". 26 Siehe hierzu Karl May, Mein Leben und Streben. http://www.theo-physik.unikiel.de/...st/kmg/primlit/bio/leben/ kptl_7.htm Seite 210 (vom 27.3.97) und Hans Wollschläger, „Erste Annäherung", 196 flf., sowie Arno Schmidt, „Abu Kital", 59 f. 27 Hans Wollschläger, „Erste Annäherung". 28 Der Anfang des III. Bandes gehört noch zu einem früher entstandenen Manuskript, mit dem eigentlichen Silberlöwen begann May erst im Jahr 1902. Vgl auch Anm. 3. 29 Karl May Katalog der Bibliothek, hg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger, Bargfeld 1995. 30 Brief von 14. Oktober 1902, zit. nach Arno Schmidt, „Abu Kital". 31 Volker Griese, Karl May. Stationen eines Lebens. Eine Chronologie seiner Reisen, Sonderheft der Karl-May-Ge32

sellschaftNr.104/1995. Mays missionarische Intentionen waren jedoch (zu dieser Zeit) nicht konfessionsgebunden, es herrscht eine Art „theologische Relativitätstheorie" vor, wie Heinz Stolte in seinem Aufsatz „Auf den Spuren Nathans des Weisen", in: Der schwierige Karl May, Husum 1989, zeigt. Vgl dazu auch Sybille Becker, Die philosophischen und reli-

giösen Anschauungen.

Der Einfluß

von

Nietzsches Zarathustra

545

eine Karikatur Nietzsches.33 In den Reden des Ahriman, sowie in den auf ihn bezogenen Handlungsträgern und Motiven, deutet May jedoch Ideen an, die aus seiner Nietzschelektüre, besonders aber aus dem Zarathustra stammen und so in den tieferen Ebenen des Werks ihre Spuren hinterlassen haben. Ahriman Mirza, die Personifikation des Bösen, die Negation der göttlichen Ordnung, ist der Fürst der „Schatten", der Ämir-y-Sillan. Gleich die Antrittsrede offenbart seine zutiefst antichristliche Position: -

„Du sprichst so kindisch und so altersschwach, wie eure sogenannte Frömmigkeit ja stets

reden pflegt! Sie ist die alt und schwach gewordene, lächerliche Tante aller der augenverdrehenden Seelen, welche so gern die Hände auflegen, um ihre Bettlerarmut und Begehrlichkeit hinter dem nur allzu durchsichtigen Schleier des sogenannten Segens zu verbergen. Hast du schon einmal einen Menschen gesehen, der dir seinen Segen umsonst

zu

gegeben hat? Was hast du bezahlen müssen, bevor oder nachdem du ihn bekamst? Wer sind die von Himmelsgaben strotzenden Millionäre, welche zu segnen wagen? Untersuche ihre Taschen, um darin weniger als nichts zu finden." (SL III, 598) Dieser Schattenfürst, der sein Lebensziel darin sucht auch die frommen Dschamikun:

sieht, das Reich des Bösen zu errichten, ver-

„Euer Himmel gibt nur Worte und läßt sich mit dem vollen Inhalt einer ganzen Zeit und

Ewigkeit bezahlen. Die Hölle aber gibt, und gibt ohne Unterlaß. Sie teilt die ganze Fülle der Glückseligkeit an den durch euch verarmten Menschen aus und will nichts, nichts von ihm dafür, als daß er sie genieße!" (SL III, 599) Mays Helden erheben es dagegen zum Prinzip, auf materiellen Wohlstand zu verzichten und den Genuß unverdienter Gaben abzulehnen. Ihr gesamtes Streben scheint im Spätwerk auf das Jenseits und den Erhalt ihres Seelenheils gerichtet zu sein, auch wenn im Prozeß durchaus irdische Heldentaten zu verrichten sein sollten. Sich von dem, durch göttlichen Willen gebahnten Weg zu entfernen, endet, falls man sich einer solchen Hybris schuldig machen sollte, regelmäßig in der Katastrophe. Dagegen Zarthustras Credo:

„Hinweg von Gott und Göttern lockte mich dieser Wille; was wäre denn zu schaffen, wenn Götter da wären! Aber zum Menschen treibt er mich stets von Neuem, mein inbrünstiger Schaffens-Wille, so treibt's den Hammer hin zum Steine. Ach, ihr Menschen, im Steine schläft mir ein Bild, das Bild meiner Bilder! Ach, dass es im härtesten, hässlichsten Steine -

schlafen muss! Nun wüthet mein Hammer grausam gegen sein Gefängnis. Vom Steine stäuben Stücke. Was schiert mich das? Vollenden will ich's: denn ein Schatten kam zu mir aller Dinge Stillstes und Leichtestes kam einst zu mir! Des Übermenschen Schönheit kam zu mir als Schatten. Ach, meine Brüder! Was gehen mich noch die Götter an!" (ZA, KSA 4, 111),34 -

-

33 Vgl. Arno Schmidt, „Abu Kital", 62 f. 34 Stellen, die sich auf das Schattenmotiv beziehen, finden sich außerdem auf den Seiten: 11, 171, 209, 338 vgl. auch Arno Schmidt, „Abu Kital", 63.

u.

379,

546

Claudia Marra

kann daher von May nur als erster Schritt zum Untergang gedeutet werden. Im Silberlöwen wird diese Nietzsche-Stelle nicht nur im Schattenmotiv um die „Sillan", sondern auch in den beiden Sagen von „Chodeh, dem eingemauerten" (SL IV, 212 f.) und vom „versteinerten Gebet" (SL IV, 311 f.) aufgegriffen: In der Sage von Chodeh (= Gott), dem „Eingemauerten", wird davon berichtet, daß der Teufel einst Baumeister werden wollte und zu diesem Zwecke bei den Menschen in die Lehre ging. Er übt sich an verschiedenen Baustilen (May beschreibt das Resultat in seiner Darstellung der geheimnisvollen Ruine des ,hohen Hauses'), aber immer studiert er fromme

Werke,

„die nur zur Ehre dessen errichtet worden waren, für den der Teufel nichts als Haß besitzt. Zwar hatte wohl auch er die Frömmigkeit gewollt, denn fromm erscheinen fördert selbst den Teufel, doch wirklich fromm zu sein, daran geht er zugrunde. Drum war sein Haß jetzt gar zum Grimm, zur stillen Wut geworden, weil alle diese Bauten der Wahrheit dienten, aber nicht dem Schein, und er beschloß, in seinem Meisterstück ein Werk zu schaffen, bei welchem alles Schein, nichts aber Wahrheit sei." (SL1V, 213). Der Teufel nahm

zu diesem Zwecke göttliche Gestalt an, um die Menschen dazu zu verführen, den vermeintlichen Gott in ein meisterhaftes Bauwerk einzumauern, um seiner so für immer habhaft werden zu können. Dies geschah, und kurz vor der Fertigstellung verschwand dann der Teufel aus dem Bau, um den Menschen das „Nichts", den bloßen Schein zu hinterlassen. Die Sage vom „versteinerten Gebet" berichtet von einer Höhle, in der die Menschen, verhärtet und verkalkt in ihren Sünden, durch Gottes Gnade die Kraft zum Gebet erhalten und sich so vom Stein erlösen können (SL IV, 314 f.). In der langen, für Mays Stil untypischen Traumsequenz, in der diese Sage erzählt wird, gibt es beim Personal diverse Anklänge an Zarathustra, zunächst in der Gestalt des WächterGeists.35 „Aber der Teufel ist nie am Platze, wo er am Platze wäre: immer kommt er zu spät, dieser vermaledeite Zwerg und Klumpfuss!" (ZA, KSA 4, 321)36 Die Warnung der mysteriösen Gestalt ignoriert das Traum-Ich, und trotz der Todesgefahr betritt er das geheimnisvolle Gebäude, nachdem er den Ratschlag erhalten hat, sich den Weg hinaus nicht zeigen zu lassen und zu beten. Im Inneren trifft er eine unheimliche schattenhafte Gestalt:

„Er faßte meine Hand kräftiger, und darum bemerkte ich deutlicher, daß er mir die Kraft entzog, die von mir auf ihn überging Dann richtete sich die Gestalt, die sich soeben tief vor mir verneigt hatte, so hoch auf, daß sie mich weit überragte, und fuhr in höchst bestimmter,

gebieterischer Weise fort: ,Mein ist dein Geist; mein ist auch deine Seele und nur der Leib

noch bleibt einstweilen dein, bis ich bestimme, wie und wo er uns zu dienen habe. Aus meiner Hand strömt dir das höchste Glück, das es für Menschen gibt in Zeit und Ewigkeit: Du bist vollständig willenlos und folglich frei von jeder Schuld und Sühne! Tu alles, was ich sage, ob Gutes oder Böses, der Rechenschaft bist du fortan enthoben, denn ich bin es, der sie zu leisten hat. Auch ich gehorche nur, um frei zu sein. Das tut ein jeder, bis hinauf zum Höchsten!" (SL IV, 318)

Vgl: „Allem Leben hatte ich abgesagt, so träumte mir. Zum Nacht- und Grabwächter war ich worden, dort auf der einsamen Berg-Burg des Todes." (ZA, KSA 4, 173) 36 Vgl. auch den „Wahrsager" und den „Zauberer" aus Nietzsches Zarathustra (ZA, KSA 4, 77,173, 198, 313). 35

Der Einfluß

von

Nietzsches Zarathustra

547

folgt das Traum-Ich dem geheimnisvollen, unheimlichen Führer durch unterirdische Schatzgänge und Verliese, unter Mißachtung der ihm angedrohten Todesgefahr.

Daraufhin

„Mit diesem Tode konntest du nur jene schwachen Köpfe schrecken, die nicht erkannten,

daß er nur ein Hirngespinst zu ihrer Knechtung war. Indem sie ihren Leib vor dieser Vogelscheuche retten wollten, verfielen sie dem Geist- und Seelenmorde. Zeig mir doch diesen Tod, den lächerlichen Schatten, den nur das Leben der Betrogenen wirft, weil ihm das falsche Licht der Lüge leuchtet" (SL IV, 325). Die darauffolgende Auseinandersetzung führt schließlich zur Erlösung der versteinerten Seelen. Der Traum-Kara Ben Nemsi vertraut der Macht des Gebets, beharrt darauf, daß für ihn der Tod nicht existiere und folgt seinem Feind mit einem Sprung hinab in einem tiefen Abgrund, Das Motiv des Sturzes bzw. des Abgrundes taucht bei May um diesen womöglich zu retten. schon in früheren Werken auf, die Betonung des Mitleids wirkt jedoch als Verweis an Nietzsches: „Der Muth schlägt auch den Schwindel todt an Abgründen: und wo stünde der Mensch nicht an Abgründen: Ist Sehen nicht selber Abgründe sehen? Mut ist der beste Todtschläger: der Muth schlägt auch das Mitleiden todt. Mitleiden ist der tiefste Abgrund" (ZA, KSA 4, 199). Unten angekommen begegnet er den zu versteinerten Gerippen gewordenen Flüchen, die ihm ihren Auftrag offenbaren: -

-

zerstören nur, um zu erzeugen. Vernichten Wir da draußen allen Trug, so fördern wir in diesem Raum die Wahrheit. Sinkt dort der Fels zertrümmert in den Tod, so geben wir ihm hier Gestalt und Leben. Und an demselben Tag, da drüben alles stürzt, wird hier das Wunder neu geboren werden, daß Steine schreien, wenn man Gott nicht hört! [...] Es ist der Fluch, an dessen Fuß ihr hockt! Der Fluch, der Fluch, der hier so oft erklungen, daß er des Steines Seele werden mußte! Wir wuschen diesen Stein mit unsern Tränen aus. Wir meißelten mit unsern Fingernägeln. Und von dem Blut derer, die bei dem Sturz zerschmetterten, bekam der Hintergrund die dunkle Farbe. [...] bald [...] sinkt der falsche Segen in die Nacht und unser Fluch, die Wahrheit tritt zu Tage!" (SL IV, 334)

„Doch wir

darauffolgenden Dialog überzeugt Kara Ben Nemsi die Skelette von ihrem Irrtum und bringt sie dazu, statt zu fluchen zu beten, worauf er sie dann in die Freiheit (= zu Gott) zuIm

rückführt. In der Betonung des Gebets liegt hier die Gegenposition zu Nietzsches: „Es ist aber eine Schmach, zu beten! Nicht für Alle, aber für dich und mich und wer auch im Kopf sein Gewissen hat. Für dich ist es eine Schmach zu beten!" (ZA, KSA 4, 227) Dem Tod, der Asche und den Särgen aus Zarathustras Traum stellt May die christliche Glaubensvorstellung gegenüber Nietzsches: „Und wenn euch geflucht wird, so gefallt es mir nicht, dass ihr dann segnen wollt. Lieber ein Wenig mitfluchen!" (ZA, KSA 4, 87 f.) beantwortet May mit seinem Insistieren auf der Macht des Gebets und des Segens, deren eindrucksvolle Wirkung er im Eingangsdialog zwischen Ahriman Mirza und dem Ustad bereits andeutet (SL IV, 594). Beide Sagen werden am Ende des vierten Bandes zusammengeführt: „Effendi, kennst du die Sage von Chodeh, dem Eingemauerten? [...], kennst du die Sage vom versteinerten Gebet? [...] Bevor du kamst, stand ich hier und dachte darüber nach, ob diese beiden Sagen wohl ganz -

548

Claudia Marra

dasselbe meinen. Ich glaube, ja" (SL IV, 644), und in der Beschreibung des Zusammenbruchs des ,hohen Hauses' sowie der daraus resultierenden Befreiung des „Gebets" apotheotisch ins Bild gesetzt. Wo Nietzsche im Stein den von Göttern losgelösten Übermenschen sucht, setzt im Gebet zu Gott auf den Knien liegenden Menschen entgegen:

May den

„Und mitten aus diesem häßlichen, zappelnden Schreck trat in erhabener Schönheit und imponierender Ruhe die makellose, herrliche Gestalt des Gebets hervor, einer Offenbarung

gleich, einer Manifestation der frohlockenden Menschheitsseele. [...] Aufs leere Postament wird dieses Bild gehoben, und wenn dann meine Dschamikun begreifen, daß Beten eine Kunst, und zwar die allerhöchste ist auf Erden, obgleich Natur sie schon die Kinder lehrt, so

ist die Einsicht und Erkenntnis

da, selbst mit dem kleinsten Kirchlein fürliebzunehmen"

(SLIV.641) Ein weiteres, aus dem Zarathustra inspiriertes Motiv ist die „Sage vom Chodem" (SL IV, 537), die erzählt, daß es für jeden Menschen einen Chodem, einen Doppelgänger im höheren Sinne gebe, der sich „sämtliche Aggregatzustände" eines Menschen aneignen könne und so auch imstande sei, dem Menschen zu erscheinen. Geschehe dies jedoch, so sei dies ein Zeichen für den bevorstehenden Tod oder den herannahenden Wahnsinn.37 „,Halt! Zarathustra! So warte doch!! Ich bin's ja, oh Zarathustra, ich dein Schatten!' Aber Zarathustra wartete nicht, [...] Mein Schatten ruft mich? Was liegt an meinem Schatten! Mag laufe ihm davon.'" (ZA, KSA 4, 338) er mir nachlaufen! ich Bei May klingt das so: „Mein Chodem, mein Chodem mein Chodem! Was hast du mir zu bringen! Der Ustad antwortete, und seine Stimme klang genauso dumpf wie die des Mirza unter der Larve hervor: ,Keine Krone und kein Kaiserreich! Wähle: Tod oder Wahnsinn! [...]' ,Aber ich mag deinen Wahnsinn nicht! ich will ihn nicht! Behalte ihn bei dir; ich aber eile fort, fort fort!'" (SL IV, 539) May, dessen Bösewichter ja bereits seit frühesten Kolportagezeiten in der Regel einer Art „Gottesgericht" verfallen, setzt hier den Wahnsinn Nietzsches als tragisches Element ein und führt dieses Stilmittel bis zur Untergangsszene des Ahriman Mirza mit vielen Anspielungen auf Nietzsche durch. Arno Schmidt hatte ja in diesem Zusammenhang bereits auf die „Pferde-

-

-

-

szene"

verwiesen.38

Eine weitere Anregung im Hinblick auf die Ausgestaltung der Ahriman Mirza-Figur ergab sich für May aus Nietzsches Verhältnis zu den Frauen, die dieser bestenfalls als „gefährliches Spielzeug" des Mannes gelten läßt. Mays weibliche Gestalten, Hannen und besonders Schakara,39 erscheinen als Personifikationen der Seele (SL IV, 432). Sie haben die Aufgabe, den Mann, die Verkörperung des Geistes, zu ergänzen: „Du bist die Seele des weiblichen Geschlechts, die aus der Höhe nieder-

37 „Wie betroffen muß May die Erkenntnis gemacht haben, daß man seine Helden man denke an Halef, der nichts Schöneres kennt, als seine geliebte Karbatsche tüchtig sprechen' zu lassen ! ohne weiteres zum .Übermenschen' Nietzschescher Prägung stempeln könnte!" Arno Schmidt, „Abu Kital", 65. 38 „Da Friedrich Nietzsche im Wahnsinn starb, verfällt auch Ahriman Mirza am Ende in geistige Umnachtung. Und May ist gut informiert gewesen: brach Nietzsche in Turin neben einem Droschkengaul zusammen, so sinkt auch Ahriman aufsein totes Pferd nieder!" Arno Schmidt, „Abu Kital", 64. 39 Von Schakara sagt May selbst in Mein Leben und Streben, 212, daß er ihr die Gestalt seiner zweiten Frau gegeben habe. -

-

Der Einfluß von Nietzsches Zarathustra

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stieg, um Geist in Seele zu verwandeln." (SL IV, 303) Insofern interpretiert May dann auch im folgenden die Verbindung von Mann und Frau als Symbol der göttlichen Ordnung. Nietzsches Auffassung von der Ehe: „Ach diess erbärmliche Behagen zu Zweien, Ehe nennen sie diess Alles; und sie sagen, ihre Ehen seien im Himmel geschlossen" (ZA, KSA 4, 91) wird daraufhin parodiert: Ahriman Mirza, der in seiner Rede an die Dschamikun den Vorschlag macht, eine Verbindung zwischen den Sillan und der Dschamikun durch eine Eheschließung zwischen „Tifl", dem kindlich-naiven Pferdejungen, den er zum nächsten Scheik küren will, und einer kaiserlichen Prinzessin zu besiegeln (mit der Absicht, durch diese Verbindung den gesamten Stamm beherrschen zu können), bekommt daraufhin folgende Rede von Hannen zu hören:

„Das mag bei euch wohl anders sein; bei uns aber befassen sich mit dem Heiratsstiften nur alte

Weiber, denen die Zähne zum Regieren ihres Zeltes ausgefallen sind! Du hast so oft

Teufel gesprochen. Bei den Dschamikun und bei den Haddedihn nehmen Männer nicht von ihm, sondern aus Allahs Hand ihre Frauen. Führe deine Prinzessin zu den Massaban. Die glauben vielleicht an das Gnaden- und an das Ehrengeschenk, wir aber nicht!" vom

Der selbstbewußte, überstolze Mann! Sich von Frauen so etwas sagen zu lassen! (SL IV, 615) Mit Recht ist darauf hingewiesen worden,40 daß es sich bei der Darstellung der TakiKurden um Mays Abrechnung mit der katholischen Kirche handelt, mit der May, unter anderem wegen des an ihn von seiten der katholischen Presse ergangenen Vorwurfs, mit seinen Kolportageromanen jugendverderbende, ja sogar pornographische Schriften in Umlauf gebracht zu haben, in Fehde lag. Diese Interpretation ist sicher richtig, und May nutzt die Gelegenheit, seine und hier auch Nietzsches Gegenposition zur Institution Kirche in einem Dialog zwischen Ahriman Mirza und dem „Scheik ul Islam", dem (Kirchen-)Führer der Taki, der im Gefolge mit „einem Seligen, einem Heiligen, einem Hauptpriester, einem Divisionsgeneral und einem Brigadegeneral" (SL IV, 275) erscheint, in Szene zu setzen.

„,Ich halte es anders', antwortete der Scheik ul Islam ,Bei mir regiert die Liebe!' „Aber

für eine! Ich kenne sie! Wir beide wollen uns doch gegenseitig nicht etwa etwas weismachen! Meine Unerbitterlichkeit ist offen, ist ehrlich; die Scham verbietet ihr, sich zu verstellen. Eure Liebe aber ist der Eigennutz in allerhöchster Potenz. Sie vernichtet in einem einzigen Jahr mehr Existenzen, als ich in einem ganzen Jahrhundert zerstören könnte! [...] Da trat ihm der Scheik ul Islam näher, richtete sich hoch auf und sprach. ,Ja, dir gegenüber stehe ich Mann gegen Mann, Geist gegen Geist. Du bist die vernichtende Verneinung; ich bin die zerstörende Übertreibung der Bejahung. Ich bejahe nur für mich, für mich; was aus der Menschheit wird, ist mir vollständig gleich. Darum hassest du mich grimmig zum Zerreißen!' ,Hassen?' lachte der Ämir. ,Noch mehr, noch schlimmer: Ich verachte dich! Zum Haß ist nur eure leutselige Liebe fähig, weiter niemand. Ich will Edles erreichen, indem ich das Gemeine knechte. Ihr aber wollt das Niedrige erheben, indem ihr das Hohe bekämpft!'" (SL IV 483). -

was

-

40

-

Vgl. Arno Schmidt, „Abu Kital", und Hans Wollschläger, „Erste Annäherung".

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550

Im Fall der Beurteilung der Institution Kirche hier diejenige von Nietzsche: „Kirche? Was ist denn das? Kirche? antwortete ich, das ist eine Art von Staat, und zwar die verlogenste" (ZA, KSA 4, 169) scheinen die Ansichten von May und Nietzsche übereinzustimmen, wie die durchweg negativen Bemerkungen über die „Taki" deutlich zeigen. Bei aller Gegnerschaft, die zwischen dem Duo Ustad/Kara Ben Nemsi und ihrem Widersacher herrscht, gibt es in der Darstellung der Ahriman-Figur jedoch auch eine Nuance des Bedauerns und des Mitleids, die in den Märchen von 1001 Tag bzw. 1001 Qual zum Ausdruck -

-

-

kommt.41

Dieses Märchen ist die Selbstbeschreibung Ahrimans im Angesicht der „ewigen Wiederkehr": „Allzuklein der Grösste! Das war mein Überdruß am Menschen! Und ewige Wiederkunft auch des kleinsten! Das war mein Überdruß an allem Dasein! Ach Ekel! Ekel! Ekel!" -

(ZA, KSA 4, 274) Auch Mays Antiheld leidet an seiner Existenz: „Würde ich einem Menschen gebieten, ein Buch über mich, mich, mich zu schreiben, so müßte darin zu lesen sein: .Tausend Qualen sind vor dir wie ein Lächeln-wenn sie vergangen sind!' Aber diese eine, eine, letzte, die nach den tausend früheren kam, sie ist die fürchterlichste, die entsetzlichste, die unbeschreiblichste, weil sie niemals, niemals, niemals enden wird. Sie muß ewig sein, weil jener Eine ewig ist!" (SL III, 606) Indem May sein alter ego zum Glockenschlag sagen läßt: „ich habe weder Lust noch Zeit zum Ruhen. Was in mir lebt, kennt keine Mitternacht" (SL IV, 126), weist er auch Nietzsches:

„Einsl Oh Mensch! Gieb Acht! Zwei\ Was spricht die tiefe Mitternacht? Dren ,Ich schlief, ich schlief-, Vieri ,Aus tiefem Traum bin ich erwacht: Fünf. ,Die Welt ist tief, Sechsl ,Und tiefer als der Tag gedacht. Siebenl ,Tief ist ihr Weh -, Achtl ,Lust tiefer noch als Herzeleid: Neunl ,Weh spricht: Vergeh! Zehnl ,Doch alle Lust will Ewigkeit -, Elf. will tiefe, tiefe Ewigkeit! Zwölf!" (ZA, KSA 4, 285) in den Bereich des Mitleidsmotivs um -

-

-

Ahriman Mirza.

Diesem wird in dem Märchen von 1001 Tag, in dem selbst der Teufel Gnade vor Gott findet, Hoffnung auf Erlösung von seinen 1001 Qualen verheißen, die er jedoch zornig von sich weist (SL III, 596) und sich somit selbst dem Untergang weiht. „Ahriman Mirza" wird als Inbegriff des Bösen portraitiert, was sich auch an seiner äußeren Erscheinung42 zeigt. Er wird als ein diabolisch-schöner Mensch beschrieben, unangemessen prächtig, gleissnerisch, gewalttätig, unaufrichtig, doppelzüngig und natürlich gottlos. Auffällig ist hier besonders das Charakteristikum der diabolischen Schönheit, mit dem May auch an anderer Stelle43 arbeitet. May meint damit eine unausgewogene, unharmonische Kombination an sich schöner Einzelelemente, die zwar auf den ersten Blick als schön erscheinen, sich aber infolge ihrer Disproportionalität zu ihrer wahren Gestalt, der Häßlichkeit verzerren. 41 Neben der offensichtlichen Parallele zu „1001 Nacht" klingt womöglich auch die 1001 aus Zarathustras „Von tausend und Einem Ziele" an. 42 Zu den Parallelen in der äußeren Erscheinung Nietzsches und „Ahriman Mirzas" siehe auch Arno Schmidt, „Abu Kital". 43 Vgl. z. B. die Gestaltung der Figur des Schurken „Melton" in Karl May, Satan undIschariot, hg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger, Zürich 1989.

Der Einfluß von Nietzsches Zarathustra Das Böse erscheint

so

durch und durch böse und,

Vormoderne, wird hier bei Karl May die

551

folgend der literarischen Tradition der

„kommunikationsstimulierende Motivationsressource des Codewertes ,schön' in diffuser Weise gekoppelt mit Werten wie ,wahr', ,gut' und ,nützlich', [deshalb] konnten .falsche', ,böse' oder ,schädliche' Themen gar nicht literaturfähig werden; es sei denn im Modus der Abschreckung, in dem die literarische Darstellung von ,Bösem' und ,Falschem' ihre moralische

Empörung fortwährend mitartikuliert."44

Dieses auf vormodernen Strukturen basierende stilistische Konzept wird von May benutzt, um auf die Veränderungen der Lebenswirklichkeit des 19. Jahrhunderts zu reagieren. Sein Programm christlicher Heilsbringung und durch den Glauben gestifteten harmonischen Miteinanderlebens wird der Philosophie im allgemeinen und Nietzsche im besonderen entgegengehalten. Karl Mays Werk spiegelt das Unbehagen, das sein Publikum empfunden hat angesichts des im vorausgegangenen Kulturkampf verspätet publik werdenden Säkularisierungsprozesses einerseits und des abgeschlossenen Ausdifferenzierungsprozesses von Religion und Philosophie andererseits. Während diese Umweltreferenz an sich durchaus dem Prozedere der zeitgenössischen, „realistischen" Literatur entsprach, verweisen jedoch die Oppositionsstellung von gut/wahr/schön und böse/falsch/häßlich sowie die romantisch anmutende Mythosstruktur auf vormoderne Literaturkonzepte. Daß Mays Auseinandersetzung mit der Philosophie Friedrich Nietzsches literarische Folgen hatte, steht wohl außer Frage. Mays Umgang mit Nietzsches Texten besteht jedoch nicht in einer textnahen, literarischen Umschreibung mit anschließender Stellungnahme, sondern in einem beliebigen, intuitiven, gefühlsbetonten Spiel mit aus dem Zusammenhang gerissenen Versatzstücken. Trotzdem ruft diese, aus einer Art Motivcollage zusammengesetzte nebulöse Beschreibung Nietzsches und seiner Gedanken beim Leser den von May gewünschten (negativen) Eindruck hervor, und Mays Absicht, sein Publikum auf diese Weise gewissermaßen gegen die unchristliche Stoßrichtung nicht nur der Nietzscheschen Philosophie zu imprägnieren tritt deutlich hervor. Dazu Mays eigener Rezeptionseindruck:

„Ich habe viele, viele Menschen kennengelernt, so einen aber noch nicht! Es gab, während er sprach, gewisse Stellen, an denen ich mir sagte, daß ich mich hüten müsse, an mir selbst irre zu werden. Er riß mir Gedanken aus der Tiefe, von denen ich niemals eine Ahnung gehabt habe. Und er wußte sie so zu leiten und zu gestalten, daß es mir schwer wurde, sie als irrig zu erkennen. Wehe dem denkschwachen, vertrauensvollen Opfer, das er sich erwählt! Es muß ihm unbedingt verfallen sein!" (SL III, 622) May zeigt sich hier hin- und hergerissen zwischen Faszination und Ablehnung. Es wäre in diesem Zusammenhang wünschenswert zu erforschen, ob seinerzeit die Leser des Silberlöwen die Assoziation Ahriman Mirza-Nietzsche verstanden und auf Mays Warnung entsprechend reagiert haben.

44 Ganz in der Tradition der Antike, „denn im alteuropäischen, in der Antike paradigmatisch ausgebildeten System des Wissens gab es keine strikte Differenzierung zwischen den Bereichen des Guten, Wahren, Nützlichen und Schönen, bzw. ihren Gegenspielern, des Bösen, Falschen, Schädlichen und Häßlichen", Gerhard Plumpe, Epochen moderner Literatur, 66 f.

Christa Davis Acampora

Nietzsche's Problem of Homer1 „There is no greater glory for a man so long as he lives than that which he achieves

by his own hands and feet." (Homer, Odyssey 8.147-148)2

„be bravest and pre-eminent above all" (Homer, Iliad 6.208 and 11.784)3 „With a god's favoring hand, may whet another's to

one man

ambition, inspire him

prodigious feats, if glory's in his birthright." (Pindar, Olympian Xf

„Greek prudence. Since the desire for victory and eminence is an inextinguishable trait of nature, older and more primitive than any -

respect for and joy in equality, the Greek state sanctioned gymnastic and artistic contests between equals, that is to say marked off an arena where that drive could be discharged without imperiling the political order. With the eventual decline of the gymnastic and artistic contests the Greek state disintegrated into inner turmoil." (Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II)

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2

3 4 5

Portions of this paper were presented at professional conferences. I am grateful to the respondants and audience members at the meetings of the International Society for the Study of European Ideas (Haifa), the Friedrich Nietzsche Society (St. Andrews), the American Philosophical Association (Pittsburgh), and The Nietzsche Society (Georgetown University, USA) for their questions and suggestions. I am also grateful to Ralph Acampora, Daniel W. Conway, Alexander Nehamas, Uschi Nussbaumer-Benz, Nickolas Pappas, Donald Rutherford, and Steven Strange for assistance and helpful comments on earlier drafts of this work. Homer, 77ie Odyssey, translated by Arthur T. Murray, New York 1919 (Loeb Classical Library), Vol. 1, 269. This passage is cited by Zarathustra in Also sprach Zarathustra (part 1, section 15), as the Greeks' „law of their overcoming", which inspired them to greatness. The citation is from Homer, The Iliad, translated by A. T. Murray, New York 1924 (Loeb Classical Library), Vol. 1, 277, 539. Pindar's Victory Songs, translated by Frank J. Nisetich, Baltimore 1980,lines 19-21, 131. Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II, translated by Reginald John Hollingdale, Cambridge 1986, section 226. The work is hereafter cited HH. Citations ofNietzsche's texts include part and section numbers of the relevant translations. Substantial citations are accompanied by the original German text in the footnotes. For the latter, I cite Kritische Gesamtausgabe: Werke, edited by Giorgio Colli and Mazzino Montinari (Berlin and New York 1967 ff). This edition of Nietzsche's works is hereafter cited KGW. The passage cited above reads, „Klugheit der Griechen. Da das Siegen- und Hervorragenwollen ein unüberwindlicher Zug der Natur ist, älter und ursprünglicher, als alle Achtung und Freude der Gleichstellung, so hatte der griechische Staat den gymnastischen und musischen Wettkampf innerhalb der Gleichen sanctionirt, also einen Tummelplatz abgegränzt, wo jener Trieb sich entladen konnte, ohne die politische Ordnung in Gefahr zu bringen. Mit dem endlichen Verfalle des gymnastischen und musischen Wettkampfes gerieth der griechische Staat in innere Unruhe und Auflösung" -

(KGW 4/3, 294).

Christa Davis Acampora „Human nature finds it harder to endure a victory than a defeat." (Nietzsche, „David Strauss: der Bekenner und der Schriftsteller")''

In the course of his career Nietzsche examines several monumental instances of shifts in value that significantly altered Western consciousness. The first he locates in Homeric literature. Rather than viewing Homer as marking the beginning of Greek culture, Nietzsche claims that Homer stood at the end of a long history of anxiety and despair: the great personality that the name „Homer" represents signals a triumph over a sense of exhaustion with life. Homer, Nietzsche claims, gave human existence a powerful new meaning. In his early work Nietzsche approaches Homer's significance from several perspectives: 1) as cultivating a moral and political ideal that launched unparalleled cultural achievements in the classical age, 2) as a great personality that can serve to be instructive today, and 3) as providing one of the conditions that generated the art form of tragedy. Nietzsche employs the first two perspectives in „Homer's Wettkampf, and Die Geburt der Tragödie springs from his investigation of the third. Nietzsche's exploration of Homer's new values grounds much of his later work and serves as a model for the studies of valuation that mark his career. I argue here that Nietzsche strives to make Homer problematic, highlighting his significance as a creative revaluator, in order to make the Homeric valuation of life a challenging problem for us. In the first section I demonstrate the importance of Nietzsche's philological interests for his philosophical pursuits, focusing on Nietzsche's interpretation of Homer. In the history of human beings as revaluators, which one might argue is the theme that consumes the bulk of Nietzsche's writings, Homer stands at the beginning. In his reexamination of a quintessential philological problem, the „Homeric question", Nietzsche shifts the object of concern from locating the identity of Homer to determining his significance. Nietzsche argues that we would do better to abandon the question „Who was Homer?" in order to focus our attention on the question „What was the meaning of Homer?" In so doing, Nietzsche makes problematic the appearance and effects of Homeric literature and thereby prepares the ground for asking the question „What does Homer (and, by extension, the Greeks) mean for us?" This sort of problem-posing is characteristic of many of Nietzsche's philosophical investigations, which aim to make problematic values and concepts that have become hackneyed and commonplace. In the following three sections, I develop an analysis oí agon as it is discussed in „Homer's Wettkampf and other writings from the early 1870s. I identify the specific revaluation with which Nietzsche credits Homer, and describe how this is linked in Nietzsche's work with the cultural accomplishments of ancient Greece. Nietzsche cites certain social practices that indicate the degree to which agon was valued in Greek culture, and I describe how these values are related to others Nietzsche identifies with the Greeks and to those he held himself. Nietzsche distinguishes creative forms of agonistic behavior from those that are destructive, and I show how agonistic play (a form of ago«) differs from other modes of playful activity. Additionally, Nietzsche draws together several examples of what happens in the absence of agon when it atrophies from neglect or becomes exhausted through excess. Finally, in the last section, I describe how these examples serve to further our understanding of the -

6 Friedrich Nietzsche, „David Strauss: der Bekenner und der Schriftsteller", translated by Reginald John Hollingdale, Cambridge 1989, section I. Subsequent references to this essay are abbreviated DS followed by section number. KGW 3/1, 155: „Die menschliche Natur erträgt ihn schwerer als eine Niederlage".

Nietzsche 's Problem

of Homer

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possibilities and the potential problems associated with developing and embracing agonistic models of interaction and development. Nietzsche's transformation of the ancient Greek idea of contest {agon) can be charted from his early appeals for cultural rejuvenation through his later polemics on self-overcoming. Until recently, much of the secondary literature on Nietzsche ignored the prominence of agonistic imagery in his writing and, consequently, neglected to articulate its philosophical significance.7 This article strives to articulate the concept as Nietzsche initially develops it, thereby preparing the ground for further work that could be done to illustrate how Nietzsche applies and strives to enact agonistic ideas and practices in his later writings. Persistent problems for those espousing and defending agonistic theories include: 1) defining agonistic actions and practices in such a way so as to distinguish them from other manifestations of power and resistance (a problem not adequately addressed either by Foucault or the editors of Agonistics: Arenas of Creative Contesf); 2) specifying mechanisms for negotiating regulation the contest in such a way that it both protects against exploitation and oppressive domination and preserves the radical openness that facilitates the on-going circulation of provocation and empowerment (a challenge unmet by both Lyotard, Bonnie Honig, and Lawrence Hatab);9 and 3) discussing ways in which a propitious disposition regarding agonistic engagement might be cultivated and enhanced in prospective participants (a need recognized by William Connolly,10 which would benefit from further analysis). This article takes some initial steps to specify these problems and explores several ways in which Nietzsche offers conceptual resources to

address them.

I. Nietzsche fashions his own Homeric problem by weaving together and transforming a variety of concerns and approaches that stem from Neohellenist scholarship. Winkelmann's effort to elucidate the harmonic coordination of individual artistic achievements with cultural and social advancement and his literary approach to the study of art provided a fruitful framework for the study of literature, history, and philosophy. Traces of these ideas can be found in the works of Lessing, Herder, Goethe, von Humboldt, and Friedrich August Wolf. Wolfs wellknown Prolegomena adHomerum (1795) advanced the argument that the Homeric epics were not the products of a single individual but of a group of rhapsodes. Drawing on recently discovered manuscripts, Wolfs arguments served as models for the emerging formal methods

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Noteworthy exceptions include: H. Siemens, „Nietzsche's Hammer: Philosophy, Destruction, or the Art of Limited Warfare", in: Tijdschrift war Filosofe 2 (Juni) 1998, 321-347; and Benjamin C. Sax, „Cultural Agonistics: Nietzsche, the Greeks, Eternal Recurrence", in: Agonistics: Arenas ofCreative Contest, edited by Janet Lungstrum and Elizabeth Sauer, New York 1997, 46-69; and Cynthia Haynes-Burton, „The Ethico-Political Agon of Other Criticisms: Toward a Nietzschean Counter-Ethic", in: Pre/Text 11 (1990). Janet Lungstrum and Elizabeth Sauer (Hg.), Agonistics: Arenas of Creative Contest, 1997. See Bonnie Honig, Political Theory and the Displacement of Politics, Ithaca/ New York 1993; and Lawrence Hatab, A Nietzschean Defense of Democracy, La Salle/lllinois 1995. See his The Ethos ofPluralization, Minneapolis 1995, and Identity/Difference: Democratic Negotiations ofPolitical Paradox, New York 1991.

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systematic approach to classical study later named Altertumswissenschaft."11 Although many of his specific arguments were subsequently refuted or undermined,12 Wolfs work was and remains extremely influential, and it initiated a long-standing debate concerning the authorship, authenticity, and dating of the so-called Homeric corpus. The debate became oía

known as the „Homeric question", and it dominated classical philology for more than a hundred years after it was ignited. It is this question that Nietzsche approaches in his Basel Antrittsrede (May 28, 1869), „Homer und die klassische Philologie." In that lecture, Nietzsche describes a split in contemporary philology between realists, whose primary interest is in applying a strictly scientific approach to the study of antiquity, and artists, whose aim is to capture the „wonderful creative force; the real fragrance, of the atmosphere of antiquity."13 No question divided this group more than the concern about the authorial unity of the Homeric epics. Nietzsche claims those eager to laud the artistic greatness of the Homeric works have an interest in identifying stylistic similarities and the aesthetic harmony of the poems because they best support the single author thesis. Those who scientifically scrutinize the linguistic and structural elements conclude, in part on the basis of incongruities, that it is nearly impossible that a single author could have composed the entire corpus. Nietzsche redefines the „Homeric question" when he claims that the most important concern is not whether there were one or several authors but what kind of personality the epics suggest, what judgment the appearance of Homeric literature reflects. For Nietzsche, Homer represents „a productive point of view": „the wonderful capacity of the soul of a people to represent the conditions of its moral beliefs in the form of a personality."14 The study of works attributed to Homer, he claims, should focus on identifying the beliefs and perspective the poems represent. What kind of cultural, social, and material conditions could produce such works? What was the relationship between those works and the lives of those who heard them? What role did the genius we call „Homer" play in the cultural lives of the Greeks? What was the value of Homer for Greek culture, and what values can we credit the Homeric literature with creating and perpetuating? Nietzsche's answers to these questions are not fully articulated in the lecture, but he does make the following assertion: „Homer as the composer of the Iliad and Odyssey is not a

11 Rudolf Pfeiffer, History ofClassical Scholarshipfrom 1300-1850, Oxford 1976, 175. 12 Ebd. Wolfs line of argument was, however, supported and expanded in the twentieth-century by Milman Parry, The Making of Homeric Verse, edited by A. Parry, Oxford 1987. Additional studies of this controversy can be found in J. Russo, „Homer Against His Tradition", in: Arion (Summer, 1968), 275-295; Norman Austin, Archery at the Dark ofthe Moon: Poetic Problems in Homer's Odyssey, Berkeley 1975 ; Piero Pucci, Odysseus Polytropos. ¡ntertextual Readings in the Odyssey and the Iliad, Ithaca 1987; David Shive, Naming Achilles, Oxford 1987; and Richard P. Martin, The Language of Heroes: Speech and Performance in the Iliad, Ithaca 1989. Also see David R. Lachterman, „Die ewige Wiederkehr der Griechen: Nietzsche and the Homeric Question", in: International Studies in Philosophy XXIII: 2 ( 1991 ), 90-91. 13 KGW 2/1, 252: „das wunderbar Bildende, ja den eigentlichen Duft der antiken Athomosphäre [...]". Translated by J. M. Kennedy in Friedrich Nietzsche, „On the Future of Our Educational Institutions" and „Homer and Classical Philology", New York 1964, 148. Subsequent references to „Homer and Classical Philology" are cited as HCP. 14 KGW2/l,254f: „fruchtbaren Gesichtspunktes [...] die wunderbare Fähigkeit der Volksseele anerkannt, Zustände der Sitte und des Glaubens in die Form der Persönlichkeit einzugiessen." HCP, 152.

Nietzsche 's Problem

of Homer

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historical tradition, but an aesthetic judgment.,"15 Nietzsche cites the legendary story of the contest between Homer and Hesiod as evidence of a conscious, ancient distinction between two poetic tendencies: the heroic and the didactic. It was not until the Homeric works were collected and formally organized that the aesthetic differences became clear. Then „the Iliad and the Odyssey arose from the depths of the flood and have remained on the surface ever since."16 That process, Nietzsche claims, shifted the identification of Homer from the creator of heroic poetry to the forefather of poetry in general and obscured Homer's accomplishment. A pressing philological and philosophical question, for Nietzsche, is determining the significance of Homer for the subsequent Greeks. „We believe in a great poet as the author of the Iliad and the Odyssey but not that Homer was this poet."11 Nietzsche is careful to resist the interpretation that Homer, in this sense, represented the unconscious poetizing soul of the people, a mere product of the times. The poetic expressions called „Homeric" represent, according to Nietzsche, a unique and significant shift in the history of Greek judgment and are not simply a natural evolution of human consciousness. „Homer's Wertkampf and Die Geburt der Tragödie serve to articulate the significance of this change. It is necessary to consider briefly the portrait of Homer that Die Geburt der Tragödie provides, because „Homer's Wertkampf, for reasons I describe below, makes few references to the poet. In Die Geburt der Tragödie, Nietzsche contends that Homer brought about a reversal of the wisdom of Silenus. Sophocles draws attention to an ancient mythical view of life. In „Oedipus at Colonus", the story of Midas' search for wisdom is recounted. Dionysus' companion Silenus tells Midas that what is best for humankind is not to be born and secondbest is to die soon.18 Homer, Nietzsche claims, reversed that perspective, creating a new view of what is best for humankind: „,to die soon is worst of all for them, the next worst to die at all'."19 In Homeric literature, Olympian gods and the heroes who emulated and challenged them sounded „nothing but the accents of an exuberant, triumphant life in which all things, whether good or evil, are deified" (BT 3).20 They exhibited an excess of life that included finding life enjoyable. They were self-absorbed and proud. Everywhere they saw „the ideal picture of their own existence" (BT 3). Homer exhibited a supreme celebration and glorification of life, but, Nietzsche insists, Homer must be read as a revaluator, as a conqueror over the prior folk-wisdom. For Nietzsche that means that although it is appropriate to interpret the world that Homer portrayed as one infused with supreme optimism, we must not forget the -

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15 KGW 2/1, 263: „Homer als der Dichter der Ilias und Odyssee ist nicht eine historische Ueberlieferung, sondern ein aesthetisches Unheil" HCP, 163. 16 KGW 2/1,264: „Ilias und Odyssee tauchten aus der Fluth empor und blieben seitdem immer auf der Oberfläche." HCP, 163. 17 KGW 2/1, 266: „Wir glauben an den einen grossen Dichter von Ilias und Odyssee doch nicht an Homer als diesen Dichter." HCP, 167. 18 Oedipus at Colonus, lines 1224 ff. Theognis expresses a similar view in his Elegies: „For man the best thing is never to be born, / Never to look upon the hot sun's rays, / Next best, to speed at once through Hades' gates / And lie beneath a piled-up heap of earth" (lines 425-428), translated by Dorothea Wender in: Hesiod and Theognis, New York 1973, 111. 19 KGW 3/1,31: „Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich bald zu sterben." Translated by Walter Kaufmann in: Nietzsche, The Birth of Tragedy" and The Case of Wagner", New York 1967, section 3. Subsequent citations of Die Geburt der Tragödie are from the same translation and are cited in the text as BT, followed by the section number. 20 KGW 3/1,31: „nichts an Askese, Geistigkeit und Pflicht: hier redet nur ein üppiges, ja triumphirendes Dasein zu uns, in dem alles Vorhandene vergöttlicht ist, gleichviel ob es gut oder böse ist." -



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that preceded it: the unforgettable knowledge and experience of the horrific aspects of human existence.21 Homeric optimism was not a naturally occurring state. Homer's naivete was a triumphant achievement, and it is precisely the nature of this victory and the needs that generated the struggle for its accomplishment that Nietzsche hopes to understand. The world that Homer made possible is described in „Homer's Wettkampf." Homer, who turned the trials of life into a series of competitions, revalued struggle as an opportunity to win honor and distinguish oneself. Once this possibility was extended, once there was an alternative to nihilistic resignation, Greek culture began to flourish. Homer's competition held out the promise of fame and honor, an opportunity to make one's life meaningful. „Homer's Wertkampf explores the significant consequences of this judgment. terror

II. Throughout his career as a philologist, Nietzsche resisted romantic tendencies to portray the Greeks as idealized genteel noblemen, possessed of all the bourgeois values of the day. That is to say, Nietzsche consciously strove to avoid reading his contemporaries' concerns and

values into those of the Greeks. In a notebook from the 1870's,22 Nietzsche wrote: „The human element that the classics show us is not to be confused with the humane. The antithesis to be strongly emphasized; what ails philology is its effort to smuggle in the humane."23 Nietzsche took interest in what he called the „animal instincts" of the Greeks, in their struggles and political turmoil, in their sensuality, and in their decadence as well as their excellence. He wanted to explain the „miracle" of the development of classical Greek culture by examining what preceded it, and he preferred an explanation for which his colleague Jacob Burckhardt is better known. In lectures that formed the basis of his Griechische

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„In the Greeks the ,will' wished to contemplate itself in the transfiguration of genius and the world of art; in order to glorify themselves, its creatures had to feel themselves worthy of glory they had to behold themselves again in

a higher sphere, without this perfect world of contemplation acting as a command or a reproach. This is the sphere of beauty, in which they saw their mirror images, the Olympians. With this mirroring of beauty the Hellenic will combated its artistically correlative talent for suffering and for the wisdom of suffering and, as a monument of its victory, we have Homer, the naive artist" (BT 3). KGW 3/1, 34 f.: „In den Griechen wollte der,Wille' sich selbst, in der Verklärung des Genius und der Kunstwelt, anschauen; um sich zu verherrlichen, mussten seine Geschöpfe sich selbst als verherrlichenswerth empfinden, sie mussten sich in einer höheren Sphäre wiedersehn, ohne dass diese vollendete Welt der Anschauung als Imperativ oder als Vorwurf wirkte. Dies ist die Sphäre der Schönheit, in der sie ihre Spiegelbilder, die Olympischen, sahen. Mit dieser Schönheitsspiegelung kämpfte der hellenische ,Wille' gegen das dem künstlerischen correlative Talent zum Leiden und zur Weisheit des Leidens: und als Denkmal seines Sieges steht Homer vor uns, der naive Künstler." 22 March 1875, MpXIII 6b, in KGW 3/4, 90-114. 23 KGW 4/1,93 : „Das Menschliche, das uns das Alterthum zeigt, ist nicht zu verwechseln mit dem Humanen. Dieser Gegensatz ist sehr stark hervorzuheben, die Philologie krankt daran, dass sie das Humane unterschieben möchte [...]." Translated by William Arrowsmith in Unmodern Observations, edited by William Arrowsmith, New Haven 1990, „We Classicists", 3:12. The text is hereafter cited WPh, followed by the part and fragment numbers. Compare WPh 3:16: Escape from reality to the classics: hasn't the understanding of antiquity already been falsified in this manner?" (KGW 4/1, 95: „Flucht aus der Wirklichkeit zu den Alten: ob dadurch nicht die Auffassung des Alterthums gefälscht ist?") -

Nietzsche 's Problem

of Homer

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Kulturgeschichte24 Burckhardt claims that the principle around which the entire new culture

revolved was a competitive drive to excel. The agon, or contest, was the source of strength in ancient Greece, the wellspring of its enormous success, and, for Nietzsche, at the root of its ultimate decline. It is well known that Nietzsche and Burckhardt were colleagues at Basel. Lesser known are the details of their interaction. Burckhardt's lectures on Greek culture were published posthumously, but Nietzsche was at Basel during the first few years they were given. Nietzsche attended a lecture on at least one occasion, and he had two students prepare transcripts, which he studied and compared. Notes taken from the transcripts appear in Nietzsche's Nachlaß. However, I do not suggest that Nietzsche simply inherited the idea from Burckhardt. Notes and plans for Nietzsche's most extended work on the significance oí agon, „Homer's Wertkampf, date back at least as far as two years prior to his Basel appointment. Nietzsche also had occasion to think about the role of agon in Greek culture as he edited the ancient text The Contest Between Homer and Hesiod (anonymous author) and as he prepared his commentary on the same while a student in Leipzig.25 Burckhardt's lectures did not begin until 1870 (although he had been working on them since the early 1860s) and there is no evidence that Nietzsche had any knowledge of Burckhardt's thesis before he came to Basel.26 Although it is Burckhardt who is credited among classicists for having „discovered" the agonistic element of the so-called „Greek spirit",27 it is Nietzsche who recognized and explored its serious dangers. Nietzsche developed and extended this idea throughout his philosophical writings. „Homer's Wettkampf, finished by Nietzsche in 1872, is a preface to an unwritten book. Its status in the Nietzsche corpus is still not fully appreciated. It does not number among his published works, yet its use in constructing interpretations of Nietzsche's work is not subject to the same criticisms as the so-called Wille zur Macht?% Unlike many of the sketches and plans for projects that appear in Nietzsche's notebooks, „Homer's Wettkampf is a work that

24 See Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, translated by Sheila Stern and edited, with an introduction by Oswyn Murray, New York 1998, passim, especially „The Agonal Age". 25 Later published as „Der Florentinische Tractat über Homer und Hesiod, ihr Geschlecht und ihren Wettkampf' in I/II: RheinischesMuseum NF XXV (1870), 528-40, and IMV RheinischesMuseumNF XXVIII (1873), 211-249; also see Nietzsche's „Certamen quod dicitur Homeri et Hesiodi". The texts appear in KGW 2/1. 26 There is some disagreement regarding the degree to which Nietzsche influenced and was influenced by Burckhardt. For the view that contact between the two was significant and mutually influential see Edgar Salin, Jakob Burckhardt und Nietzsche, 2. Aufl., Heidelberg 1948, and James Hastings' introduction to Burckhardt's Force and Freedom: Reflections On History, New York 1943, 21-29. A different view is offered in Alfred von Martin, Nietzsche und Burckhardt: Zwei Geistige Welten im Dialog, Basel 1945. Walter Kaufmann in his Nietzsche: Philosopher, Psychologist, Antichrist, 4. Aufl., Princeton 1974, argues that the influence was one-sided (that Burckhardt influenced Nietzsche) and superficial. Also see Felix Stähelin's introduction to Burckhardt, Gesamtausgabe, Vol. 8: Griechische Kulturgeschichte, Stuttgart 1930, xxiii-xxix. 27 For a critical review of Burckhardt's thesis in light of current classical scholarship see Arnaldo Momigliano, Essays in Ancient and Modern Historiography, Middletown 1977, 295-305. Oswyn Murray also discusses the reception and evaluation of Burckhardt's thesis in his introduction to Burckhardt, The Greeks and Greek Civilization. Murray writes, „Nietzsche seems to have realized the importance of the agon or contest, even before he arrived in Basle" (xxxii), although Murray does not provide any support for that claim. In a footnote, he writes, „The exact relation between the views of Burckhardt and Nietzsche on the agon is obscure, and would repay further investigation" (note 55, 369). 28 See Bernd Magnus, „The Use and Abuse of The Will to Power", in: Reading Nietzsche, edited by Robert C. Solomon and Kathleen Marie Higgins, New York 1988,218-236; and Wayne Klein, „Nietzsche's Apocrypha: The Will to Power and Contemporary Scholarship", in: New Nietzsche Studies. 1:1/2 (Fall/Winter 1996), 102-125.

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Nietzsche considered finished. It is one of five prefaces „to books unwritten that never will be written."29 Nietzsche polished and considerably reworked the material before presenting it to Cosima Wagner as a Christmas gift in 1872. He knew well that his gift, like others the Wagners received, would be displayed and read for the enjoyment of other guests at the Wagners' Bayreuth home. For this reason, „Homer's Wettkampf must be viewed as a publicly shared writing, not on par with his published books and yet neither an excerpt from his notebooks nor a finished work he decided to keep only for himself. After 1872, Nietzsche continued to work on the ideas explored in „Homer's Wettkampf." Drafts and plans for Unzeitgemäße Betrachtungen include one to be titled „Der Wettkampf, and Nietzsche planned to include some of the work in his book on the pre-Platonic philosophers. Later, portions of the text were incorporated into other works in each of Nietzsche's periods.30 In „Homer's Wettkampf, Nietzsche describes an ethical transformation, a revaluation of values that he claims provided the conditions for the flourishing of Greek culture. He accounts for cultural institutions that made possible monumental accomplishments in art and literature. He describes the nature of education in early Greek society and how this practice yielded exemplary human beings. Finally, Nietzsche suggests that one reason why a similar cultural prosperity has not been achieved in modern society is that it has devalued the agonistic ideal and the expression of drives such as envy that support it. Although Nietzsche does not think that we should simply strive to recreate Greek culture partly because he does not think that is possible and partly because he does not believe the Greeks to be without serious faults31 he does investigate the conditions that made Greek accomplishments possible. The agonistic spirit is one condition Nietzsche sought to revive. In contrast to most nineteenth-century philological scholarship, Nietzsche highlights the brutality and harshness of life exhibited in the works of Homer and Hesiod. Hesiod's portrayal of life as a punishment that all humans must bear provides evidence for Nietzsche that early Greeks spent much of their energy on sheer survival, leaving little time for developing a life that we, or the later Greek philosophers, might call a flourishing life. Nietzsche argues that the ancient Greeks became distinctive when, „protected by the hand of Homer",32 they reinterpreted their bellicose instincts, their need to strive, as a source of strength rather than -

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29 Nietzsche gave them the collective title, „Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern." The dedication reads: ,Für Frau Cosima Wagner in herzlicher Verehrung und als Antwort auf mündliche und briefliche Fragen, vergnügten Sinnes niedergeschrieben in den Weihnachtstagen 1872." See KGW 3/2, 245-246. 30 For a few examples, see KGW 3/4, 16, 122, 134-5, 143, 187, 309, 312. Revised portions appeared later in published writings: Menschliches, Allzumenschliches 1(158, 159, 477, 503); Menschliches, Allzumenschliches II (2, 29-31, 33, 99, 170, 226). Also see Morgenröthe, 38, 69; Die fröhliche Wissenschaft, III, 168; Also sprach Zarathustra, I (5, 10, 14); Jenseits von Gut und Böse, 23; Der Antichrist, 16. 31 Nietzsche writes: „At present, all [cultural] bases, the mythical and sociopolitical, have changed; our pretended culture has no stability because it's been built on shaky, indeed already crumbling, conditions and beliefs. So, if we fully understand Greek culture, we see that it's gone for good" (WPh 3, 76). (KGW 4/4, 114: „In Betreff der Cultur heisst dies: wir kannten bisher nur eine vollkommene Form, das ist die Stadtkultur der Griechen, auf ihren mythischen und socialen Fundamenten ruhend, und eine unvollkommene, die römische, als Dekoration des Lebens, entlehnend von der griechischen. Jetzt haben sich nun alle Fundamente, die mythischen und die politischsocialen verändert; unsere angebliche Cultur hat keinen Bestand, weil sie sich auf unhaltbare, fast schon verschwundene Zustände und Meinungen aufbaut. Die griechische Cultur vollständig begreifend sehen wir also ein, dass es vorbei ist.") 32 Friedrich Nietzsche, „Homer's Wettkampf', KGW 3/2,278. All translations of „Homer's Wettkampf' (hereafter cited HC) are my own. -

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Nietzsche 's Problem as a curse.

of Homer

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Moderns, on the other hand, Nietzsche claims, see the whole world with an ethical

„coloring" different from that of the ancients.

were distinctive, in Nietzsche's view, because of their reinterpretation of and envy [Neid]. While moderns view these human tendencies as decadent and jealousy [eris] evil, the Greeks understood them quite differently, and that is reflected in their mythology. Eris, sister of the war god Ares, was associated in antiquity with discord and strife. She figured prominently in the story of the judgment of Paris and was generally considered an evil goddess by the Greeks. In Works and Days, however, Hesiod describes two Eris-goddesses: one is responsible for the drive to wage wars of annihilation and destruction, the other Erisgoddess provides gifts whose works are good. The second goddess inspires the kinds of envy and jealousy that drive individuals to better one another. According to the myth in Hesiod's Works and Days, Zeus put the good Eris on the earth to encourage labor among men. She is praised by Hesiod because she encourages activities that aid humankind.33 To be spurred on by envy is not a punishment in the sense of painful yearning for what one lacks; rather, it is a god-given gift that leads to greater human accomplishment.34 It is the good form oí eris that Nietzsche claims modern interpreters of Hesiod have ignored and are unable to understand. Like Burckhardt, Nietzsche claims the introduction of artistic and athletic contests, the Greek agon, harnessed a natural drive to rule in ways that led to unprecedented cultural achievement. It is undeniable that the Greeks celebrated and cultivated their contesting spirit. Homeric literature chronicles great struggles of men and gods. Persons from all parts of the Greek world gathered to witness and participate in the Olympic and other sacred athletic competitions. Art and sculpture exalted heroic victors. Youths in Greece were educated for participation in a culture that required them to strive for greatness in artistic ability, physical prowess, or political success. In ancient Greece, Nietzsche claims, physical, intellectual, and artistic achievement developed in unison. No figures in antiquity knew more about the agonistic way of life than Homer's struggling heroes. It was thanks to Homer that the Greeks thought they knew so much about the mythical age of the great heroes, the race of people who allegedly lived in the age before his own. For the heroes „everything pivoted on a single element of honour and virtue: strength, bravery, physical courage, prowess. Conversely, there was no weakness, no unheroic trait, but one, and that was cowardice and the consequent failure to pursue heroic goals."35 One's reputation was of paramount concern. Achieving that kind of recognition was a public affair. James Redfield goes so far as to claim that we can see Homeric literature as reflecting the view that it was only through public competition that individuals could fully realize the height of human existence.36 In this sense, the agon serves as a site where human being gathers its meaning, its value as worthwhile, respectable, desi- ble. To be a hero one had to be willing to stake

The Greeks

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'orothea Wender, 1973, 59, lines 1-26. Hesiod, Works and Days, in Hesiod and Theognis, hV a significant role in Greek mythology, two Although there is no evidence that the second Eris-goda«. recent studies have explored distinctions between tfc> words ,¿elos", commonly translated Jealousy", and ,phthonos", commonly translated „envy." „Zelos" was generally a positive word, indicating a desire to imitate or emulate. „Phthonos" was used to indicate an unwarranted, hostile antagonism ofthe sort that might arise in sibling rivalry or sexual jealousy. See Peter Walcot, Envy and the Greeks (Warminster, England 1978), and Patricia Bulman, „Phthonos" in Pindar, Classical Studies, vol. 35, Berkeley 1995. M. I. Finley, The World ofOdysseus, New York 1991 [reprint of the second revised edition (1978)]), 28. James Redfield, „Homo Domesticus", in: The Greeks, edited by Jean-Pierre Vernant, translated by Charles Lambert and Teresa Lavender Fagan, Chicago 1995, 164-165.

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everything including one's life in a struggle to acquire greater prestige. Consequently the immortal gods could not be heroes. The hero's life was exclusively the domain of human beings, more precisely, of human men. The life of the hero as portrayed in Greek literature resembles the life Nietzsche describes in On The Genealogy of Morals as the aristocratic or noble. Nietzsche is often read as praising that form of life, and he is frequently accused of advocating a return to heroic morality, of praising the institution of slavery, and of being a champion of cruelty and sadism.37 Although these claims are not wholly unfounded, a careful reading of Nietzsche can place them in a broader context. The second part oí Zur Genealogie der Moral, especially sections 6 and 7, is often cited as evidence that Nietzsche advocates cruelty. The most famous section of those passages is the following: „To see others suffer does one good, to make others suffer even more: this is a hard saying but an ancient, mighty, human, all-too-human principle to which even the apes might subscribe; for it has been said that in devising bizarre cruelties they anticipate man and are, as it were, his ,prelude'. Without cruelty there is no festival: thus the longest and most ancient part of human history teaches and in punishment there is so much that is festive! ~".38 The passage should be compared with Jenseits von Gut und Böse 229, where Nietzsche writes: „We should reconsider cruelty and open our eyes. [...] Almost everything we call ,higher culture' is based on the spiritualization of cruelty, on its becoming more profound: this is my proposition. That,savage animal' has not really been ,mortifled'; -

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it lives and flourishes, it has merely become divine."39 Zarathustra's and Nietzsche's own declarations of war are also cited as evidence of his admiration for unbridled expressions of brute force and strength. It is clear, however, from what follows the cited passage from the Genealogie that Nietzsche believes cruelty is an inescapable part of human life an element that can be channeled, redirected, and refined but one that is inevitable. Nietzsche attributes the cultural successes of the agon to a particular mode of productive action. In „Homer's Wertkampf he writes that in the agon the good Eris „as jealousy, resentment, and envy, provokes human beings to action not to the action of fights of annihilation, but rather to the -

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37 On cruelty and slavery see Peter Berkowitz, Nietzsche: The Ethics ofan Immoralist, Cambridge 1995, especially 164 and 166; and Philippa Foot, „Nietzsche's Immoralism", in: Nietzsche, Genealogy, Morality: Essays on Nietzsche's Genealogy ofMorals ", edited by Richard Schacht, Berkeley 1994, 3-14. On Nietzsche and sadism, see notes in Mario Praz, The Romantic Agony, translated from the Italian by Angus Davidson, 2. Aufl., New York 1970. Nicholas Martin, in his Nietzsche and Schiller: Untimely Aesthetics, accuses Nietzsche of „yearning for barbaric simplicity and raw power", and exhibiting a „strong masochistic streak in his character" (Oxford 1996, 199 and 200). 38 KGW 6/2, 318: „Leiden-sehn thut wohl, Leiden-machen noch wohler das ist ein harter Satz, aber ein alter mächtiger menschlich-allzumenschlicher Hauptsatz, den übrigens vielleicht auch schon die Affen unterschreiben würden: denn man erzählt, dass sie im Ausdenken von bizarren Grausamkeiten den Menschen bereits reichlich ankündigen und gleichsam .vorspielen'. Ohne Grausamkeit kein Fest: so lehrt es die älteste, längste Geschichte des Menschen und auch an der Strafe ist so viel Festliches! -". Translated by Walter Kaufmann and R. J. Hollingdale Nietzsche in: On the Genealogy ofMorals and Ecce Homo (hereafter cited GM and EH respectively), New York 1968, II, 6. An otherwise careful reader of Nietzsche, Robert Solomon, calls attention to these passages but does not put them in context in his recent essay „Nietzsche ad hominem: Perspectivism, personality, and ressentiment revisited", in: The Cambridge Companion to Nietzsche, edited by Bernd Magnus and Kathleen M. Higgins, Cambridge 1996, 180-222. 39 KGW 6/2, 172: „Fast Alles, was wir „höhere Cultur" nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit dies ist mein Satz; jenes „wilde Thier" ist gar nicht abgetödtet worden, es lebt, es blüht, es hat sich nur-vergöttlicht." Translated by Walter Kaufmann in Nietzsche, Beyond Good and Evil,"New York 1966, 158. „

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action of contests."40 Eris, in the form of envy, employed what Nietzsche believed to be unavoidable urges in a struggle for preeminence; those urges to strive found their expression in perpetual competition. Striving then came to be understood as a way of living the best possible life. In his discussion of the two Eris-goddesses in „Homer's Wettkampf, Nietzsche distinguishes two types of activities they incite. One goddess drives human beings to Vernichtungslust, a desire to bring about the complete destruction of what opposes. The other Eris incites people to better their opposition in fights of contest, Wettkämpfe. Nietzsche characterizes the latter as an activity among similarly skilled opponents, e. g., a struggle between rivals worthy of each other. In Menschliches, Allzumenschliches, Nietzsche further distinguishes those two actions when he writes, „The envious man is conscious of every respect in which the man he envies exceeds the common measure and desires to push him down to it or to raise himself up to the height of the other: out of which there arise two different modes of action, which Hesiod designated as the evil and the good Eris."41 These modes of action pushing down and rising above distinguish not only individuals, but also varieties of culture. Nietzsche argues that the achievements of Greek culture were made possible by the proliferation of outlets organized on the agonistic model. Contests, through which the striving impulse could express itself, allowed and encouraged competitors to rise above one another. Creative action, Nietzsche claims, thrived in competitive institutions. Of course, every reader of Homer knows that competition in Homeric writings is not always a gentleman's duel. The battles are fierce, and the stakes are high. Loss of honor might also bring with it loss of life, yet competitors willingly take those risks. The spirited athletic contests held in the courts of kings and in honor of the dead are no more frequent than the bloody scenes of war and personal fights to the death. Competition in Homeric literature is supreme, and it is not always what the modern age has deemed „civil". Inseparable from the image of the victorious hero in the foot-race is the hero in the grips of deadly struggle on the battlefield. Nietzsche is not unaware of the destructive possibilities competition can generate. Nietzsche views the agon as a tactic for moderating, without eliminating, a natural and undeniable human desire to strive against others. Regarding the Greeks, he writes: „The wisdom of their institutions lies in there being no gulf between good and evil, black and white. Nature, as she appears, isn't denied but merely ordered, restricted to specific days and religious cults. This is the root of all spiritual freedom in the ancient world; they sought to release natural forces moderately, not to destroy or suppress them" (WPh 4, 146).42 When envy and resentment were given outlets in competition, they could be used for creative ends. Positive valuation of envy, Nietzsche claims, led to a significant shift in the ethic of the Greeks: contest became valued as a means to life and health, as a means of affirming the value -

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40 Friedrich Nietzsche, „Homer's Wertkampf, in: KGW 3/2,281 : „und dann wieder eine andre Eris als gute preist, die als Eifersucht Groll Neid die Menschen zur That reizt, aber nicht zur That des Vernichtungskampfes, sondern zur That des Wettkampfes." 41 KGW 4/3, 200: „Der Neidische fühlt jedes Hervorragen des Anderen über das gemeinsame Maass und will ihn bis dahin herabdrücken oder sich bis dorthin erheben: woraus sich zwei verschiedene Handlungsweisen ergeben, welche Hesiod als die böse und die gute Eris bezeichnet hat." HH, II/2, 29. 42 KGW 4/1, 155: „Die Weisheit ihrer Institutionen liegt in dem Mangel einer Scheidung zwischen gut und böse, schwarz und weiss Die Natur, wie sie sich zeigt, wird nicht weggeleugnet, sondern nur eingeordnet, auf bestimmte Culte und Tage beschränkt. Dies ist die Wurzel aller Freisinnigkeit des Alterthums; man suchte für die Naturkräfte eine massige Entladung, nicht eine Vernichtung und Verneinung." -

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of human existence, and it supported the judgment that life in spite of its hardships was worth living.43 Nietzsche believes his contemporaries have failed to recognize the good form of eris and, as a consequence, they do not understand the need for its expression. The degree to which productive eris was valued in Greek culture was so great that, „Every great Hellene passes on the torch of the contest; every great virtue sets afire new greatness [among them]."44 Festivals, physical contests, art forms, even the means of determining what was just, were all fueled by this ambitious drive. Nietzsche's view provides a wholly different framework for understanding the accomplishments of the ancient Greeks. By highlighting the degree to which struggle was valued in Greek life, Nietzsche is able to provide a new explanation for the Greeks' uncanny propensity for competition. Because eris was a value tied to the meaning of human life, Nietzsche argues, the Greeks developed innumerable means of generating competitive environments. In this way the Greeks not only overcame their own despair; they were exemplary shapers of values that reflect a celebration of human existence, for the revaluation of eris spurred individuals to strive for ever greater accomplishments in every facet of life. -

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Ill What is particularly interesting in Nietzsche's account of the utility of eris in the agon is the way in which the Greeks moderated their contests. No single force was permitted total domination. Nietzsche cites the original practice of ostracism as an example. The Greek agon could not withstand, and consequently would not tolerate, a lone „genius" (KGW 3/2, 283).45 Were someone to be the unbeatable best the contest would end. A victory was temporary because a challenge to the victor's title was always anticipated. In his account of the evolution of the practice of ostracism, which he attributes to Heraclitus,46 Nietzsche explains why it is that a „best" man could not be tolerated in ancient Greek society. Were someone to win, to establish himself as an ultimate victor, Nietzsche claims, the action of the contest would cease and with that „the perpetual source of life of the Hellenic state would be endangered" (KGW 3/2, 282). The greatness of the Greeks was not accidental; the „miracle" of Greek culture that yielded unsurpassed achievements in art, archi-

43 Nietzsche recalls that interpretation in his genealogy of the word „good" when he links the Latin word bonus (good) with „the warrior" via its connection with the word duellum. He writes, „Therefore bonus as the man of strife, of dissention (duo), as the man of war: one sees what constituted the .goodness' of aman in ancient Rome" (GM I, 5). KGW 4/2,278: „Bonus somit als Mann des Zwistes, der Entzweiung (duo), als Kriegsmann: man sieht, was im alten Rom an einem Manne seine ,Güte' ausmachte." 44 KGW 3/2,282: „Jeder große Hellene giebt die Fackel des Wettkampfes weiter; an jeder großen Tugend entzündet sich eine neue Größe." 45 Nietzsche often refers to geniuses as great men who are catalysts for higher culture. Near the end of his career Nietzsche describes that type in greater detail in his Götzen-Dämmerung, translated by Walter Kaufmann in: The Portable Nietzsche, reprint, New York 1982, „Skirmishes of an Untimely Man", 44. The text is hereafter cited TI. Carl Pletsche usefully discusses the development of Nietzsche's ideal of genius in his Young Nietzsche: Becoming a Genius, New York 1991 ). Pletsche provides helpful background details ofthe use ofthe term ,genius' in eighteenth- and nineteenth-century philosophy and educational theory. In „Homer's Wertkampf, Nietzsche is critical of the nineteenth-century concept of genius, although Pletsche does not make use ofthat text. 46 Nietzsche's source is likely Diogenes Laertius IX.2.

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tecture, and drama required stimulation, which could be realized only in contest. Nietzsche claims agon kept alive the spirit of cheerfulness,47 the belief that life was worth living, that the ancients displayed. In „Homer's Wettkampf Nietzsche claims the agonistic contest demands that „in a natural order of things, there are always several geniuses, who incite each other to reciprocal action as they keep each other within the limits of measure."48 The model of competition that Nietzsche has in mind is a genuine contest in which the opposition is fierce and the necessary resistance is considerable. Agonistic combatants, if they are truly engaged in the contest, hold each other to the limits of the contest: in their struggle they strive to maintain the integrity of the battle and avoid excess. The contest creates a battleground for the development of talents and unleashes the ambition that enables competitors to fully realize their capacities. When competitions between great individuals are arranged such that each demands to be surpassed before relinquishing his place of honor, the agon cultivates a dynamic in which

multiple persons incite and inspire others to action. The relationship between contestants in this model is critical: with them the spirit of competition burns so strongly that they desire to hold each other within the boundaries of contest so that the competition remains alive. The community enforces the preservation of the contest, of the productive outlet for the ambitious drive, and declares that its perpetuation supersedes any individual's desire to be the definitive best: „the crux of the Hellenic idea of contest [is that] it detests autocracy and fears its dangers, it craves as protection against the genius a second genius."49 We might build upon Nietzsche's interpretation to hypothesize that perpetual striving of the sort cultivated in agonistic activities keeps the political, civic, and intellectual arenas always open to new and previously thwarted contestants; it extends the promise of engaged participation, at least ideally, in the creation of new political arrangements, new forms of artistic expression, and new visions of social order.50 Although, in ancient Greece, specific -

victories would be memorialized in poetry or in the statuary that marked an individual victor's achievement, victory itself was temporary and a challenge to a victor's title was always anticipated. Victors achieved success against specific opponents at specific times and places.51 Nietzsche cautions his readers against interpreting banishment of the „best" as a „safety valve" that served to protect the status quo. Originally, Nietzsche claims, ostracism served as a stimulus, not as a prophylactic. Ostracism was meant to preserve the contest, not to insure the pride of the mediocre. Nietzsche writes: „one removes individuals who tower over the others only to reawaken the play of powers a thought that is hostile to the ,exclusivity' of genius in the modern sense."52 Modern genius, Nietzsche claims, is immeasurable. The very -

47 Nietzsche discusses different kinds of cheerfulness throughout his writings. See Die Geburt der Tragödie, passim; Schopenhauer als Erzieher, section II; and Die fröhliche Wissenschaft, sections 4 and 343 for some examples. 48 KGW 3/2,283 : „in einer natürlichen Ordnung der Dinge, es immer mehrere Genies giebt, die sich gegenseitig zur That reizen, wie sie sich auch gegenseitig in der Grenze des Maaßes halten." 49 KGW 3/2, 283: „Das ist der Kern der hellenischen Wettkampf-Vorstellung: sie verabscheut die Alleinherrschaft und fürchtet ihre Gefahren, sie begehrt, als Schutzmittel gegen das Genie ein zweites Genie." 50 It is that consequence that seems to follow from Nietzsche's praise ofthe Greek agon that serves as a starting point for Lawrence Hatab's A Nietzschean Defense of Democracy. 51 Accordingly, the Greeks did not maintain the practice, common in modern sport, of racing against the clock or establishing records against which future competitors might strive. Competition was limited to the very tangible challenges of those met in specific contests. 52 KGW 3/2, 283: „man beseitigt den überragenden Einzelnen, damit nun wieder das Wettspiel der Kräfte erwache: ein Gedanke, der der „Exclusivität" des Genius im modernen Sinne feindlich ist...". -

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fact that one cannot be measured is a mark of his exceptional talent, and as such, he is unable to be challenged. Achievements ofthat kind of genius, of what is presumably most valuable, are not made through competitive striving and success. Because they cannot be measured, modern geniuses are poor models of greatness against which others can test and appraise themselves. The consequence, according to Nietzsche, is that the modern genius is incomprehensible and his achievements are meaningless. That kind of individual cannot serve the same cultural function as Nietzsche claims the Greek heroes performed: the modern genius lacks the definition required to spark the eristic flames of envy and spite that can provoke further creative accomplishment. Nietzsche believes the fear of ambition is most crippling (and most evident) in the educational system. Moderns, he claims, denounce the unleashing of ambition as „evil in itself [das Böse an sich], whereas to the ancients „the goal of agonistic education was the welfare of the whole, of civic society. Every Athenian, for example, was supposed to develop himself in contests in order to be of the highest service to Athens and to bring it the least harm."53 Consequently, Nietzsche thinks, modern educators fail to test their students, to stimulate and heighten their powers of resistance. The view that envy is destructive has led modern educators to eliminate the situations in which ambitious striving might actually serve to enhance education. The Greek model of education fostered the development of productive eris and endowed the younger generation with a sense of its value. An agonistic education, Nietzsche argues, equipped Athenian youths to be good citizens, soldiers, and educators, and it prevented the direction of their energies toward destructive projects of violence and murder. How is an agonistic education accomplished? By example. Nietzsche claims the agonistic ordering of education reveals the predominant belief that, „Every talent must express itself in fighting."54 Constant challenge encouraged youths to overcome the provocations of teachers and other students alike. The greatest musicians, orators, sophists, and poets all engaged in constant struggle against those who would challenge their superiority. Nietzsche claims that virtually every kind of education was achieved in this manner: „even the most general art of instruction, through drama, was given to the people only in the form of a marvelous wrestling of great musical and dramatic artists."55 Musician against musician, poet against poet, artist against artist the Greeks desired to witness struggle throughout the arts. Every great work of their art, Nietzsche claims, reflected a personal struggle, one that modern tastes disdain. The good of Greek society depended upon the emergence and development of great contestants. The Greeks had what Nietzsche calls a Kampfregung an agonistic impulse.56 That is precisely what moderns lack; they are and will remain degenerate until they are fit enough for that impulse to manifest itself. Our understanding of agon will be enhanced if we distinguish it from other forms of struggle and play. I have argued above for a distinction between creative and destructive modes of contest, emphasizing the distinction Nietzsche draws between rising above and -

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53 KGW 3/2,283 : „Für die Alten aber war das Ziel der agonalen Erziehung die Wohlfahrt des Ganzen, der staatlichen Gesellschaft. Jeder Athener z. B. sollte sein Selbst im Wettkampfe soweit entwickeln, als es Athen vom höchsten Nutzen sei und am wenigsten Schaden bringe." 54 KGW 3/2, 283: „Jede Begabung muß sich kämpfend entfalten [...]". 55 KGW 3/2,284: „selbst die allgemeinste Art der Belehrung, durch das Drama, wurde dem Volke nur ertheilt unter der Form eines ungeheuren Ringens der großen musikalischen und dramatischen Künstler." 56 Note, too, that „Regung" can also be translated as „stirring" or „movement", which is congruent with the notion that the function of the contest is to preserve and ensure the continued activity of humanity.

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pushing down one's competitors. However, in order to link agon with superior accomplishment, and to recognize institutionalized agon as culturally productive, we need to recognize agonistic play as different from other potentially non-destructive contests. Contests of chance, games of mimicry, and self-induced vertigo are modes of playful activity that do not typically involve competition in which opponents face-off and try to beat each other.57 Consider the kind of play associated with the lottery. Although lotteries have enormous appeal and the rewards are great, success in the lottery indicates little about the or value of the person who, by chance, happens to win. A lottery winner may be wealthier, but there is little reason to believe that kind of success will make the person better;

character

at least there would not seem to be any intrinsic connection between being a productive contributor to the cultural development of a

winning the lottery and

society.58 Furthermore, it is not clear that there is any way in which playing the lottery makes one a better person or contributes to the development of productive skills. While the winner of a lottery might think that her new wealth makes life worth living, that disposition would seem to be significantly different from the positive valuation of life that Nietzsche identifies with the Greeks. The agonistic game is organized around the test of a specific quality the persons involved possess. When two runners compete, the quality tested is typically speed or endurance; when artists compete, it is creativity; craftsmen test their skills, etc. The contest has a specific set of rules and criteria for determining (i. e., measuring) which person has excelled above the others in the relevant way. What is tested is a quality the individual competitors themselves possess; and external assistance is not permitted. (This is not to say that agonistic games occur only between individuals and that there can be no cooperative aspects of agonistic engagement. Clearly individuals can assert themselves and strive against other individuals within the context of a team competition, but groups can also work collectively to engage other groups agonistically. In those cases what is tested is the collective might, creativity, or organizational ability of the participating groups.) As I mentioned above, it is crucial to agonistic competition that opponents are similarly skilled so that the distinction of the victor is adequately manifest. The agonistic player asserts his „will against external obstacles", which requires a creative and active „development of superiority."59 Ideally, agonistic endeavors draw out of the competitors the best performance of which they are capable. Although agonistic competition is sometimes viewed as a „zerosum game", in which the winner takes all, in the cases that Nietzsche highlights as productive agonistic institutions, all who participate are enhanced by their competition. Winning must be a significant goal of participation in agonistic contests, but it would seem that winning might be only one, and not necessarily the most important one, among many reasons to participate in such a competition. Suppose two runners, who are similarly skilled, choose to engage in a running contest. The two are friends and they have been running together for many years. However, the two runners have reached a plateau, and they decide they want to increase the level of their training and test the limits of their abilities. To do so, they devise a series of running contests to measure and improve their physical strength and endurance as well as their mental stamina. Each 57 A French sociologist, Roger Caillois, provides an analysis of these games in Man, Play, and Games, translated from the French by Meyer Barash, New York 1961. 58 The fact that some lottery winners later engage in philanthropic activities does not undermine my claim. 59 Roger Caillois, Man, Play, and Games, 11.

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wishes the other well. In fact, it is because they share the corporate goal of developing themselves in this way that they engage in the contest in the first place. The contests take place over a period of several months. Sometimes one wins; other times the other runner takes the race. At the end of the period, one runner emerges as the clear winner within the specified number of races, she won more times than did her friend. Both developed stronger muscles, the ability to run greater distances, and confidence in their ability to improve their skills. Neither need leave the competition feeling a loser. Yet the desire to win is what distinguishes those activities from mere exercise. The runners chose to harness a desire to emerge as the best in order to test and improve themselves. The runner example draws out some consequences that Nietzsche does not explicitly state in „Homer's Wertkampf. Nietzsche has in mind a very similar idea when he describes agonistic modes of interaction in education, in which the goal of pitting students against each other or challenging them from the position of a teacher is not to humiliate the losers but to enhance the development of all who are participants in the class. The role of agon in Greek culture, as Nietzsche portrays it, has a similar effect: the phenomenon of individual victories simultaneously elevates the entire group of people dedicated to supporting the institutions that make those victories possible. Agon can be a difficult condition to create and a fragile one to maintain. It requires the availability and willingness of similarly skilled opponents. It needs a clearly defined goal that is appropriately demanding of the competitors. It requires that the goal and the acceptable means of achieving it are clearly articulated, and yet it must allow for creativity within those rules. It demands systematic support to cultivate future participants. And it must have some kind of mechanism for keeping the competition open so that future play can be anticipated. When any one of the required elements is disrupted, the competition can deteriorate into alternative and non-productive modes of competition, or as described below, into destructive forms of striving. But when agon is realized, it creates enormous opportunities for creative self-expression, for the assertion of what distinguishes oneself from others, for developing one's own character, and for achieving individual as well as corporate goals. -

IV. Competition, Nietzsche claims, must be moderated to protect against an invincible victor, which is what ostracism is meant to do, not only so that others might have the opportunity to compete but also so that victors are not driven to hybris, a dangerous form of excessive pride that manifests itself in assaults on the carefully guarded pride of others and often arouses great anger and leads to acts of revenge.60 Too much or too little competition leads to destruction. In his notes Nietzsche writes, „the agonistic element is also the danger in every development; it overstimulates the creative drive. The luckiest thing in development; when several men -

60 N. R. E. Fisher has recently identified a central meaning for the word hybris and traces the similarities of its use from Homer to New Comedy in Hybris: A Study in the Values of Honour and Shame in Ancient Greece, Warminster 1992.

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mutually impose limits on each other" (WPh 4, 146).61 Excessive striving, then, according Nietzsche's interpretation, is the source of destruction passivity and destruction lie at opposite ends of the same spectrum. One way we can better understand agon, and thereby be in a better position to maintain or generate it, is by examining the institutions and historical periods in which the mechanisms for moderating, channeling, and checking that drive are absent or work to annihilate active striving. That is precisely what Nietzsche does. His early reflections on Greek and German culture, his thoughts on morality (and later on Christianity), and his continued reflections on the philosophy of Socrates bear witness to those of genius

to

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instances of agon gone awry. I focus on the first of those instances in this section, the remaining cases must be left for a subsequent treatment. Near the end of „Homer's Wertkampf, Nietzsche claims that the failure of institutions to offer viable outlets for the desire to struggle results in destructive expressions of the same, what he calls Vernichtungslust. Nietzsche provides two examples of this phenomenon: the hybris and lust for victory of the Persian War hero Miltiades and the decline of Greek culture following the Persian War. The victory of Greece over the Persians was largely attributed to Miltiades' accomplishments during the decisive battle at Marathon. He earned the favor of persons throughout the Greek world for his exceptional military skills. But his honor was short-lived. He formed a clandestine relationship with the priestess of Demeter, Timo. One night as he brazenly attempted to enter the sacred temple, which was strictly forbidden to all men, Miltiades was suddenly struck by terror and was mortally wounded as he tried to leap back over the temple wall. In „Homer's Wettkampf Nietzsche recalls the story of Miltiades as evidence that the Greek spirit of competition was in a state of decline following the war. By achieving such an enormous success, Miltiades effectively propelled himself to an

insurmountable status no one could challenge him. Finding no other outlet for his aggression, Miltiades challenged the gods, a competition about which Greeks were warned against in countless myths. Through his audacious actions, Miltiades aroused the dreaded envy of the gods, a kind of envy believed to crush humankind. Nietzsche describes it thus: „godly envy is inflamed when it spots a human being without a rival, unopposed, on a solitary peak of fame."62 Miltiades succumbed to hybris, and he was crushed by its weight. That the Greeks failed, in the sense that they lacked the cultural resources to support the agonistic needs of a person such as Miltiades, is symptomatic, according to Nietzsche, of the weakening of the agonistic element in Greek culture. Elsewhere in his writings, Nietzsche characterizes the decline of Greek culture in terms similar to his diagnosis of the condition of Miltiades. Greece's victory over the Persians left the Greek city-states as a whole in a precarious position of superiority that Nietzsche links to their downfall. Reflecting on the golden age of Greece, Nietzsche writes, „How did this age perish? Unnaturally. Where then are the seeds of corruption? [...] In the case of Athens [...] they were destroyed by the Persian wars. The danger was too great, and the victory was too -

61 KGW 4/1, 154: „Das Agonale ist auch die Gefahr bei aller Entwicklung; es überreizt den Trieb zum Schaffen. Der glücklichste Fall in der Entwicklung, wenn sich mehrere Genie's gegenseitig in Schranken halten." 62 KGW 3/2, 286: „göttliche Neid entzündet sich, wenn er den Menschen ohne jeden Wettkämpfer gegnerlos auf einsamer Ruhmeschöhe erblickt." -

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extraordinary."63 That extraordinary victory, according to Nietzsche, led Athens and other

Greek states to commit acts oihybris similar to those of Miltiades. At the end of „Homer's Wettkampf in a densely-packed paragraph beginning with the claim, ,just as Miltiades perishes, so the noblest city-states perish, when, through merit and fortune, they arrive at the temple of Nike from the race track."64 Nietzsche alludes to several specific examples of what we might call the „Miltiades complex": Athens' actions at the end of the war, the subjugation of the Greek city-states by Athens in the Delian League, and Sparta's actions against Athens in a subsequent battle. Near the Persian War's end, once victory was assured, the Athenians and Spartans went to take the victory prize: the bridge at the Hellespont. When they arrived, they found the bridge already destroyed. The Spartans left for home, but Xanthippos, the Athenian leader insisted on staying to annihilate the Persians still occupying the Thracian Chersonese. According to Herodotus, Xanthippos's soldiers brutally killed the regional governor, Artauktes, after forcing him to watch as they stoned his son to death. Following the Persian War the Greeks formed an alliance known as the Delian League. The league shared a treasury and council, both of which were controlled by the Athenians. States that attempted to withdraw from the league were punished and subdued by Athens, and the treasury was used to tax other states for the benefit of rebuilding Athens. Finally, Sparta proved itself ruthless when the commander Lysander slaughtered the Athenian fleet in the battle of Aegospotamoi near the end of the Peloponnesian war. Nietzsche recalls these stories from ancient Greece to highlight the destructive craving we risk when the contesting spirit slips into excess. Sheer exploitation, brutal violence, and murder are not examples of the agonistic spirit Hesiod and Nietzsche praised. The cruelty Athens displayed in its conduct during the war was a crucial indicator to Nietzsche that the fruitful, healthy, and non-destructive agonistic spirit was fading amongst the Hellenes. Athens and the other Greek city-states became so powerful that they were unable to find worthy opponents and were overcome by their lust for victory. As a result, the Greeks were weakened by internal struggles in the Peloponnesian wars, and the Delian League was ultimately unable to resist the Macedonian conquest and, eventually, Roman rule; the greatness that was ancient Greece was lost. While the Greek states were able to compete with each other they experienced comparable peace and unsurpassed cultural achievement. When one of those states seized an abundance of power, it effectively brought that competition to a close. The result was an overall decline in political power even though they continued to achieve cultural successes in the years following. Nietzsche interprets those events as examples of Athens' resignation of a genuine contesting spirit and found in them an explanation of Athens' ultimate cultural decline. Nietzsche recognizes a different but related example of cultural decline in nineteenthcentury Germany. In the first of his Unzeitgemäße Betrachtungen, Nietzsche offers a diagnosis of contemporary German culture: German victory in the Franco-Prussian War has led to complacency, self-satisfaction and destructive self-deception. For Nietzsche, the German has become a cultural philistine, who „perceives around him nothing but needs identical with 63 KGW 4/1, 178: „Wie stirbt diese Zeit ab? Unnatürlich. Wo stecken denn nur die Keime des Verderbens? [...] Die Pest kam hinzu, für Athen. Dann ging man an den Perserkriegen zu Grunde. Die Gefahr war zu groß und der Sieg zu außerordentlich." Translated by Daniel Breazeale in Philosophy and Truth: Selections from Nietzsche's Notebooks of the Early 1870's, Atlantic Highlands 1991 (reprint), 132, section 192; also see page 140, section 199. 64 KGW 3/2, 286: „so wie Miltiades untergeht, auch die edelsten griechischen Staaten untergehen, als sie, durch Verdienst und Glück, aus der Rennbahn zum Tempel der Nike gelangt waren."

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and views similar to his own; wherever he goes he is at once embraced by a bond of tacit conventions in regard to many things especially in the realms of religion and art [...]" (DS II).65 The philistine not only lacks creative energy, he acts as a cultural impediment: „a swamp to the feet of the weary, a fetter to all who would pursue lofty goals" (DS II).66 The philistine celebrates the common as the height of accomplishment. Whence this self-satisfaction, this narrow-minded self-contentment? How was it that „happiness" and „coziness" replaced more ambitious goals? Nietzsche's answer is that Germany was unable to endure its victory. „Human nature", he claims, „finds it harder to endure a victory than a defeat" (DS I).67 The Germans erroneously convinced themselves that the victory over France was not simply a military success, but was also proof of cultural superiority. This deception was harmful not simply because it was deceptive, but because this particular deception was also destructive. German success led to stupefaction and stagnation: „everyone is convinced that struggle and bravery are no longer required, but that, on the contrary, most things are regulated in the finest possible way and that in any case everything that needed doing has long since been done -"68 (DS I). With victory, German culture „feels itself not merely confirmed and sanctioned, but almost sacrosanct"69 (DS I). The Germans were no longer able to question and challenge themselves, Nietzsche argues, and the courage required to overcome any opposing threat was deemed unnecessary.70 Germany suffers, according to Nietzsche, because it fails to recognize the value of struggle in cultural life, and, moreover, it believes that all forms of struggle are needless. Struggle and striving, Nietzsche claims, are inevitable constituents of human life. He begins „Homer's Wettkampf with the claim, „When one speaks of humanity, underlying this idea is the belief that it is humanity that separates and distinguishes human beings from nature. But, there is, in reality, no such distinction: the ,natural' qualities and those properly called ,human' grow inseparably."71 Nietzsche's approach to the Greeks is aimed at showing how they, considered by many to be exemplars of the humane, possessed and displayed characteristics that, for a variety of reasons he explores elsewhere, modern culture despises as crude, inhumane, and uncivilized. Nietzsche makes what many would consider to be an outrageous claim: Eris, envy, and lust were not only operative in Greek culture, those passions were what made them „Greeks" and made possible their unsurpassed accomplishments. There

65 KGW 3/1,162: „Er nimmt um sich herum lauter gleiche Bedürfnisse und ähnliche Ansichten wahr; wohin er tritt, umfängt ihn auch sofort das Band einer stillschweigenden Convention über viele Dinge, besonders in Betreff der Religions- und der Kunstangelegenheiten". 66 KGW 3/1, 163: „der Morast aller Ermatteten, die Fussfessel aller nach hohen Zielen Laufenden". 67 KGW 3/1, 155: „Die menschliche Natur erträgt ihn schwerer als eine Niederlage". 68 KGW 3/1,157: „denn ich sehe, wie jedermann überzeugt ist, dass es eines Kampfes und einer solchen Tapferkeit gar nicht mehr bedürfe, dass vielmehr das Meiste so schön wie möglich geordnet und jedenfalls alles, was Noth thut, längst gefunden und gethan sei, kurz dass die beste Saat der Kultur überall theils ausgesäet sei, theils in frischem Grüne und hier und da sogar in üppiger Blüthe stehe." 69 KGW 3/1, 157: „sie fühlt sich, nach solchen .Erfolgen der deutschen Kultur', nicht nur bestätigt und sanctionirt, sondern beinahe sakrosankt". 70 Nietzsche offers a similar analysis in TI in the sections entitled, „What the Germans Lack", and in EH in „The Untimely Ones". 71 KGW 3/2, 277: „Wenn man von Humanität redet, so liegt die Vorstellung zu Grunde, es möge das sein, was den Menschen von der Natur abscheidet und auzeichnet. Aber eine solche Abscheidung giebt es in Wirklichkeit nicht: die .natürlichen' Eigenschaften und die eigentlich .menschlich' genannten sind untrennbar verwachsen."

Christa Davis Acampora

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be little doubt why the community of classical scholars did not embrace Nietzsche's work or encourage its development. Nietzsche claims that modern culture has lost sight of the value of competition and has sought to eliminate it from most forms of human interaction. The Christian ethic of faith, hope, and charity, he claims, encourages the elimination of all forms of envy and jealousy; envy, after all, is a sin. Nietzsche views the competitive drive as one that has become tamed, whipped into submission by the desire to be „good" according to a new ethic. What he portrays as the new ethic stands in stark contrast to the heroic conception of virtue. Even after the time of Socrates, competition and struggle played a significant role in the way many Greeks thought of themselves and their world, but we can notice a shift that immediately follows the time of Socrates: a spiritualization of competition, an emphasis on surmounting spiritual rather than physical struggles becomes foremost. Agon in the Cynic and Stoic diatribes characterizes the heart of the ethical projects of Hellenistic philosophy, and Hellenistic philosophers claim for themselves the distinction of being the „true athletes in their struggle for virtue."72 For both the Cynics and the Stoics, the philosopher himself is a battleground for struggles of passions and desires. They take Herakles as their patron,73 claiming that he wrestled not with flesh and blood beasts but with the beasts of pleasures and pains. Herakles is portrayed as a moral athlete who won the prize of virtue. He serves as the ethical model for the „contest into which man enters, if he wishes to follow the Stoic way of life" in the struggle against all that threatens his peace of mind. That was the essence of the activity of living „the Olympic contest of life itself."74 Hellenistic philosophers often drew analogies to boxers, wrestlers, and pancratiasts as they described the „persistent and unflinching struggle in the face of opposition. The business of life is like wrestling for it requires of man to stand ready and unshakable against every assault however unforeseen."75 Furthermore, the true sage was to embrace the challenges of struggle as a boxer eagerly engages his sparring partners, in order to build his strength so that he will be able to withstand even greater challenge.76 Agon imagery is also found in Hellenistic Judaic writings, including Philo and IV Maccabees. Early Christian writers use athletic images in their descriptions of the ethical ideal. Paul describes the task of the Christian thus:

can

-

„Do you not know that in a race all the runners compete, but only one receives the prize? So

run

that you may obtain it.

Every athlete exercises self control

in all

things. They do it

to receive a perishable wreath, but we an imperishable. Well, I do not run aimlessly, I do not box as one beating the air; but I pommel my body and subdue it, lest after preaching to others I myself should be disqualified." (I Corinthians 10: 24-27)

72 Victor Pfitzner, Paul and the Agon Motif: Traditional Athletic Imagery in the Pauline Literature, Leiden 1967, 28. 73 Dio. Chrys. VIII27 and 30. 74 Victor Pfitzner, Paul and the Agon Motif, 29. See Epictetus III 22, 51 ; III 25, and Encheiridion 51 ; Pfitzner provides many more examples of this imagery in Hellenistic philosophy. 75 Victor Pfitzner, Paul and the Agon Motif, 31, citing Marcus Aurelius 7, 61. 76 Victor Pfitzner, Paul and the Agon Motif 31. See Epictetus I 24 1 f. ; IV 9, 15 f. ; Encheiridion 29; Seneca De Provid. 2, 2 ff.

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Nietzsche 's Problem of Homer

we reach the age of Christianity, the agon motif is incompatible with the traGreek ditional ideal, as Victor Pfitzner recognizes, since the agon „typifies the Greek spirit of self-assertion, of human achievement" whereas Christian doctrine places „emphasis on human impotence and divine grace."77 In the course of his study, Pfitzner describes how

By the time

Paul's use of agonistic imagery differs from that in the Cynic and Stoic diatribes and earlier uses. He describes a redefinition of agon in the ideology of Paul that sheds an interesting light on Nietzsche's critique of Christianity in Zur Genealogie der Moral, and the ethical shift that Paul's redefinition of struggle represents in Der Antichrist. „Homer's Wettkampf is an important example of Nietzsche's effort to characterize the human drives and cultural institutions that contribute to and support vigorous value creation. There he concludes, „without envy, jealousy, and contesting ambition, the Hellenic state, like the Hellenic human being, degenerates. It becomes evil and cruel; it becomes revengeful and godless; in short, it becomes ,pre-Homeric' -".78Nietzsche refers to Neid (and words derived from it) more than 170 times in his published works and notebooks, but nowhere does he focus his attention on the topic more explicitly than in this early preface. It is one thing to claim that cruelty is an acceptable or desirable mode of action and quite another to claim that it is an inescapable condition of life. We fail to understand Nietzsche when we do not recognize the distinctions he draws between actions motivated by envy, jealousy, and contesting ambition and those that are evil, cruel, and motivated by revenge.79 Even if we are careful to note these distinctions in Nietzsche's work, we are still left with determining the consequences of this view of human life for social and political arrangements, determining what we may learn and apply from Nietzsche's analyses and what we must reject. The distinctions Nietzsche makes between creative and destructive expressions of power do not themselves constitute a moral theory, and I do not mean to suggest that my elaboration of the role of strife in Nietzsche's works permits us to construct such a theory from the rest of the work. I do not, however, think that Nietzsche aims at such a construction. His selfproclaimed effort is to revalue values, to provide an account of values that helps those who read him to recognize the motivations that precede our valuations and to promote the claim that human beings can actively participate in the creation of values that are expressions of a positive interpretation of human life. Nietzsche claims agonistic institutions contribute to the health of individuals and the culture in which these institutions are organized because agon provides the means for attaining personal distinction, for defining oneself creatively through resistance to what one is not. That activity, Nietzsche claims, is meaningful freedom. Late in his career, Nietzsche writes, „How is freedom measured in individuals and peoples? According to the resistance which must be overcome, according to the exertion required, to remain to top. The highest type of free men should be sought where the highest resistance is constantly overcome: five steps from tyranny,

77 Victor Pfitzner, Paul and the Agon Motif, 1. 78 KGW 3/2, 286: „ohne Neid Eifersucht und wettkämpfenden Ehrgeiz der hellenische Staat wie der hellenische Mensch entartet. Er wird böse und grausam, er wird rachsüchtig und gottlos, kurz, er wird ,vorhomerisch' -". 79 Noteworthy recent discussions of Nietzsche and cruelty are: Ivan Soil's „Nietzsche on Cruelty, Asceticism, and the Failure of Hedonism" and Martha Nussbaum's „Pity and Mercy: Nietzsche's Stoicism", both in: Nietzsche, Genealogy, Morality: Essays on Nietzsche's Genealogy ofMorals ", edited by Richard Schacht, Berkeley 1994. Neither seeks to excuse Nietzsche's remarks on war and cruelty as unfortunate slips ofNietzsche's pen, rather both strive to reconcile these passages with Nietzsche's other interests and ideas. „

Christa Davis Acampora

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close to the threshold of the danger of servitude" (TI, „Skirmishes", 38).80 Nietzsche believes that it is only when our strength is tested that it will develop. Later in the passage just cited, Nietzsche continues, „Danger alone acquaints us with our own resources, our virtues, our armour and weapons, our spirit, and forces us to be strong. First principle: one needs to be strong otherwise one will never become strong" (TI „Skirmishes" 38).81 Nietzsche takes upon himself, in his own writing, the task of making these kinds of challenges for his readers: „To make the individual uncomfortable: my mission! Appeal of liberating the individual by struggling!" (WPh 5, 178)82 Nietzsche's critiques of Christian morality, liberal institutions, democracy, and Platonism should be read in the context of this conception of human freedom and the goal Nietzsche takes for himself as a kind of educator who is also a liberator. The Nietzsche literature has identified many ,Nietzsches', but two types emerge as prominent: Nietzsche the philosopher, whose work is systematic and organized around one or several general principles, and „the new Nietzsche", whose writings are primarily deconstructive, asystematic, ambiguous, and playful. Further exploration of Nietzsche's agonism will reveal that his notion of the agon is central to his thought and unifies the variety of themes explored in his works. Moreover reflection on the agonistic form of Nietzsche's thought demonstrates that his writing is essentially playful, necessarily ambiguous, ironic, and poetic. Nietzsche's „Problem of Homer", which I suggest elsewhere is similar to his „Problem of Socrates",83 indicates that Nietzsche's conception of power includes criteria for distinguishing between creative and destructive forms of struggle, conflict, and contest. Like many of his other efforts scrutinize past and prevailing values (social, artistic, scientific, moral, and religious), the „Problem of Homer" enables a comparison and contrast of exemplary forms of valuation that arise from agonistic (as opposed to antagonistic) interactions. Finally, investigation of Nietzsche's „Problem of Homer" reveals an important aspect of Nietzsche's philosophical practice, illustrating how Nietzsche himself strove, sometimes unsuccessfully, to enact agonistic intellectual practices in his writings. Nietzsche vacillates between goading his readers and illustrating his own contests in which the reader is invited to join. Reading him in this way illuminates the legacy of Nietzsche's philosophical practice by encouraging us contest him by building upon and using his own critical tools against him and providing useful conceptual resources for amplifying and clarifying agonistic theories that are pervasive in numerous other fields, including political science, moral psychology, and literary criticism. -

80 KGW 6/3, 134: „Wonach misst sich die Freiheit, bei Einzelnen, wie bei Völkern? Nach dem Widerstand, der überwunden werden muss, nach der Mühe, die es kostet, oben zu bleiben. Den höchsten Typus freier Menschen hätte man dort zu suchen, wo beständig der höchste Widerstand überwunden wird: fünf Schritt weit von der Tyrannei, dicht an der Schwelle der Gefahr der Knechtschaft." 81 KGW 6/3, 134: „Erster Grundsatz: man muss es nöthig haben, stark zu sein: sonst wird man's nie. -" 82 KGW 4/1, 167: „Das Individuum unbehaglich zu machen: meine Aufgabe! Reiz der Befreiung des Einzelnen im

Kampfe!"

83 Christa Davis Acampora, „Re/Introducing ,Homer's Contest': A in: Nietzscheana, Fall 1996

new

translation with notes and

commentary",

Hans-Martin Gerlach

Nietzsches Denken zwischen „aristokratischem Radikalismus" und

„Psychopathia spiritualis"? Zur Nietzsche-Rezeption der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts und der Haltung der deutschen Linken

„Der Ausdruck ,aristokratischer Radikalismus', dessen Sie sich bedienen, ist sehr gut. Das ist, mit Verlaub gesagt, das gescheuteste Wort, das ich bisher über mich gelesen habe".1 Diese Lobpreisung schrieb Friedrich Nietzsche in seinem Brief vom 2. Dezember 1887 an den Mann, der es als einer der ersten wagte, über die Philosophie Friedrich Nietzsches in öffentlichen Vorlesungen an der Universität zu Kopenhagen sich positiv und mit Bewunderung über diesen deutschen Denker auszulassen. Neben Leo Bergs Studie über Nietzsche aus dem Jahre 1889, die besonders die „Schönheit" der „Diktion" der Geburt der Tragödie lobte und sie mit der philosophischen Sprache Piatons vergleicht („eine so bildreiche und anschauliche und zugleich so abgerundete und klare Sprache findet man nicht bald wieder in irgendeinem deutschen Buch"2), dürfte dies am Beginn einer unendlich vielfältigen Nietzsche-Rezeption bis in unsere Tage hinein einer der wenigen Punkte einer positiven Positionsbestimmung gewesen sein, die zudem Nietzsche kurz vor seinem physischen und psychischen Zusammenbruch auch noch selbst mit großer Freude aufgenommen hatte. Forthin hat sich Nietzsche mit großer Anhänglichkeit im Briefwechsel zu Brandes bekannt, der den oben erwähnten Ausdruck „aristokratischer Radikalismus" prägte. Und bekanntlich galt eine der letzten brieflichen Äußerungen Nietzsches auf der Schwelle zur tiefen geistigen Umnachtung dem „Freund Brandes".3 Diese Positionen aber wirken verhältnismäßig bescheiden im Umfeld einer damals bestehenden breiten Ablehnungsfront gegen Friedrich Nietzsche, die von der Gilde der Philologen unter Führung des ehemaligen akademischen Lehrers Nietzsches in Leipzig, Ritschi, die den jungen Willamowitz-Moellendorf mit seiner „Zukunftsphilologie" vorgeschickt hatte, um sich nicht selbst offen in der Ablehnungsfront zeigen zu müssen, über den Dichter Gottfried Keller, der in Nietzsche „einen Erz- und Kardinalphilister"4 sah, bis zum „Philosophen des Unbewußten" Eduard von Hartmann reichte, für den Friedrich Nietzsche in der „Geschichte der Philosophie im Allgemeinen"5 in seiner „wahnsinnigen Selbstver-

1 Zit. n.: Georg Brandes, Menschen und Werke: Essays, Frankfurt a.M. 1894, 137. 2 Leo Berg, „Friedrich Nietzsche: Studie", in: Deutschland, Nr. 9, Berlin 1889, 148. 3 Vgl. Friedrich Nietzsches Brief vom 4.1.1889 an Georg Brandes. (KSB 8, 573). 4 Gottfried Keller, Gesammelte Briefe, Bd. 3, 1. Hälfte, Bern 1952, 170 f. 5 Eduard v. Hartmann, „Nietzsches ,neue Moral'", in: Preußische Jahrbücher 67, Bd., 5.

Heft, Berlin 1891,

508.

Hans-Martin Gerlach

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götterung" bedeutungslos geworden sei. Allerdings

so fügt von Hartmann interessanterweise hinzu träfe dies für die Geschichte der Ethik doch wohl nicht ganz zu. Weitere Belegstücke für diese Ablehnungsfront findet man beim alten David Friedrich Strauß, dem an diesem „Patron" Nietzsche nur das „psychologische Problem" merkwürdig sei mit Blick auf die Erste Unzeitgemäße: „Wie man zu einer solchen Wut kommen kann gegen einen Menschen, der einem nie ins Gehege gekommen" sei, eben kurz gesagt: „das eigentliche Motiv seines leidenschaftlichen Hasses" begreife er wirklich nicht.6 Oder aber Heinrich v. Treitschke, der sich fassungslos und wütend über Nietzsches Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben seinem Freund Overbeck gegenüber äußerte.7 Ablehnung natürlich auch in aller Breite bei der deutschen Philosophenzunft. Außer dem schon genannten Eduard v. Hartmann ist es insbesondere Wilhelm Dilthey, der uns Nietzsche als ein „schreckendes Beispiel" dafür benennt, „wohin das Brüten des Einzelgeistes über sich selbst führt, welcher das Wesenhafte in sich selbst erfassen möchte", nämlich eben zu jenem „gefährlich leben", welches „die rücksichtslose Entfaltung der eigenen Kraft propagiert, und dabei doch nur das darstellt" wie Dilthey hier bemerkt -, „was den heutigen historischen Stand unseres Wirtschaftslebens, unserer Gesellschaft charakterisiert". Aus dem auf diese Art entstandenen Nietzscheschen „Übermenschen", der ihm auch noch durch „die Historie von Euripides bis zur Renaissance in die Seele gegraben" worden sei, sprachen für Dilthey „die großen Züge seiner Zeit" und „aus ihm machte er [Nietzsche H.-M.G.] sein abstraktes Schema des Menschen, sein leeres Ideal",8 der aber als skrupelloser Egoist erschien und rücksichtslos die eigene tyrannische Kraft entfaltete. Und auch Wilhelm Windelband sieht in Nietzsches „dichterischem Denken" nur eine Verherrlichung eines sich machtvoll und mitleidlos auslebenden brutalen Individuums. „Alle Brutalität des Niedertretens, alle Entfesselung der elementaren ,Bestie' erscheint hier als Recht und Pflicht des Starken", meint Wilhelm Windelband, und er setzt hinzu: „Er entfaltet, er verteidigt die Energie des Lebens gegen die Kümmerlichkeit der Entsagung und Demut".9 Für Nietzsches Individuum, eben jene „elementare Bestie", sei alles erlaubt, ja es habe nicht nur das Recht, sondern sogar die absolute Pflicht, alles brutal seiner Gewalt zu unterwerfen. Rückschlüsse von diesem Werk auf die Person ziehend, malt uns Windelband dann jene kleine, aber sehr bezeichnende „Vignette" vom „nervösen Professor, der gern ein wüster Tyrann sein möchte".10 Es ist dies jenes Bild übrigens, welches in der Nietzsche-Rezeption sowohl auf der Seite der Nietzsche-Gegner als auch teilweise auf der seiner halbherzigen und unentschlossenen Freunde gelegentlich immer wieder einmal aufgetaucht ist. Der so möchte damals „blutrünstigste" Gegner Nietzsches aber war wohl Hermann Türck, man fast sagen der in seiner 1891 in Dresden erschienenen und weiland viel gelesenen und verbreiteten Arbeit Nietzsches philosophische Irrwege ein wahres Feuerwerk einer vernichtenden Kritik abbrennt. Für Türck ist Nietzsches „Willen zur Macht" jener „bestialische Urgrund", aus dem die Bestie im Menschen erwächst, die Sitte und Moral verwirft und nur noch Haß gegen alles Menschliche zu produzieren in der Lage ist. Für Türck ist Nietzsches Amoral, die sich aber gerade als „neue Morallehre" tarnt (Umwertung aller Werte), eine einzige Rechtfertigung des -

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6 Zit. n.: Gisela Deesz, Die Entwicklung des Nietzsche-Bildes in Deutschland, Würzburg 1933, 8. 7 Ebd. 8 Wilhelm Dilthey, „Die 3 Grundformen der Systeme in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts", in: Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. IV, Stuttgart/Göttingen 1963, 528 f. 9 Wilhelm Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Tübingen 1921 (9. u. 10. Auflage), 566. 10 Ebd., 566.

Nietzsches Denken

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Raubens und Mordens. Nietzsches Menschenideal ist das des Verbrechers und philosophisch habe er das Bestialische in ein geistiges System gebracht." Was sind aber nun die allgemeinen Leitlinien, die durch diese „Ablehnungsfront" (die doch dabei recht heterogen ist) verbindend hindurch gehen? Ich denke, daß dies vor allem der von Nietzsche offen zur Schau gestellte und dabei wohl als überhoben wirkende Individualismus ist, den man im „Radikalaristokratismus" ausgedrückt fand, hinter dem man nur einen puren radikalen Egoismus verborgen glaubte, der alle Gottesnähe und Menschenliebe rücksichtslos zertrümmert und damit den Weg zu einer „neuen Moral" bahnt (wie es Eduard v. Hartmann ausdrückt), die in Wirklichkeit jedoch eine tiefe „Unmoral" ist, denn: „die höchste Moral entpuppt sich als höchste Immoralität" und das „nicht bloß im Sinne der alten Moralen, sondern m jedem möglichen Sinne des Wortes Moral".12 Die „lästigen" Fesseln jeglicher Moral werden also dem Individuum ad hoc genommen und fortan ist alles erlaubt, was zur Machtsteigerung beiträgt: von List, Haß, Neid über Habsucht bis zu Mord und Totschlag. Es sei dies ein moderner Machiavellismus mit allen barbarischen Tendenzen. Aber es gab zugegebenermaßen auch damals schon recht nachdenkliche Stimmen, die zwar auch Gefahren aus Nietzsches Denken erwachsen sahen, die aber zugleich begriffen, daß Nietzsche nicht als „nervöser Professor" einer blind mordenden Bestie ein Loblied sang, sondern die meinten, daß er „gefährliche" Bücher schreibt, nicht um ihrer selbst willen, sondern weil er auf Gefahren aufmerksam machen wollte, die allerdings alles andere als „niedlich" sind. Und so bemerkt denn schon im Jahre 1886 der Schweizer Literat Josef Victor Widmann in seinem im Bund am 16. und 17. September abgedruckten Artikel: „Nietzsches gefährliches Buch", daß dieses (gemeint ist Jenseits von Gut und Böse) jenen „Dynamitvorräthen, die beim Bau der Gotthardbahn verwendet wurden" gleiche, die „die schwarze, auf Todesgefahr deutende Warnungsflagge" führten, um damit ein großes Warnzeichen für alle Menschen zu geben. „Ganz nur in diesem Sinne" so Widmann „sprechen wir von dem neuen Buche des Philosophen Nietzsche als von einem gefährlichen Buche. Wir legen in diese Beziehung keine Spur von Tadel gegen den Autor und sein Werk, so wenig als jene schwarze Flagge jenen Sprengstoff tadeln sollte".13 Vor allem aber dürfe man diesen Autor nicht „den Kanzelraben" und „Altarkrähen" ausliefern, denn „geistiger und materieller Sprengstoff könne gelegentlich eben auch ein „nützliches Werk" vollbringen. Nietzsche sei vielmehr der Erste, der uns einen neuen Ausweg bei der Überwindung des klaffenden Abgrunds weist, der die naive Welt der Geschöpfe (die Natur) von einer mit den Begriffen Gut und Böse arbeitenden reflektierenden Menschenwelt trennt. Aber dieser Ausweg sei so furchtbar, „daß man ordentlich erschrickt, wenn man ihn den einsamen, bisher unbetretenen Pfad wandeln sieht",14 und nun höre man immer und immer wieder die gleichen Stereotype wie „Machtmensch", „kein Mitleid", „keine Scham", „keine Gerechtigkeit" etc. Das aber sei ja wohl eine äußerst schreckliche Philosophie, die Professor Nietzsche den Menschen da verkünde. Gewiß sei das so meint Widmann in diesem Zusammenhang -, aber damit gäbe man sich wenigstens keiner Illusion über die Menschenart mehr hin, wenn diese philosophische Theorie dann in die Praxis übergehen würde. Nebenbei sei hier bemerkt: aus Josef Victor Widmanns Feder -

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11 Vgl. Hermann Türck, Nietzsches philosophische Irrwege, Dresden 1891. 12 Eduard v. Hartmann, „Nietzsches ,neue Moral'", 517. 13 Josef Victor Widmann: „Nietzsches gefahrliches Buch", in: Der Bund, Bern, 14 Ebd.

vom

16.9.1886.

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floß 1893 ein Drama mit dem Nietzsche-Titel: Jenseits von Gut und Böse. In der offiziellen akademischen Philosophie findet man in damaliger Zeit aber wenigstens eine, und zwar eine sehr nachdenklich stimmende prinzipielle und recht ernstzunehmende Stimme zu Friedrich Nietzsches Denken. Und diese gehört dem jungen Georg Simmel, der in seinem in der Zeitschriftfür Philosophie und philosophische Kritik 1895 erschienenen Aufsatz: „Friedrich Nietzsche: Eine moralphilosophische Silhouette" nicht nur Kerngedanken des Nietzscheschen Denkens recht präzise und objektiv in einer geistigen Welt, die zwischen blinder Begeisterung und dumpfer Ablehnung subjektiv schwebte, darlegt, sondern der auch auf Gefahren und Chancen aufmerksam macht, die in Nietzsches Moralphilosophie natürlich ruhen. Und nur als „Moralphilosoph" ist Friedrich Nietzsche für Simmel bedeutungsvoll. Wie Eduard v. Hartmann so sieht auch Georg Simmel in Nietzsche eben nur einen Moralphilosophen, allerdings unternimmt er mehr als nur eine äußere Beschreibung der mit mehr oder weniger großer Entrüstung festgehaltenen Phänomene seiner „neuen Moral", der man am Ende dann doch immer wieder nur bestätigen will, daß sie eben das Gegenteil jeglicher wirklichen Moral sei. Simmel versucht in knappen Worten darzustellen, daß von Nietzsche eigentlich in seiner Morallehre eine „kopernikanische Wende" vorgenommen worden sei, um in jedem Fall aus den immer nur äußerlich bleibenden Beschreibungen der moralischen Phänomene herauszukommen. Auf Nietzsches Position bezugnehmend, daß alles, was tief ist, immer die Maske liebt, hält Simmel fest, daß ihm Nietzsche letztlich eben auch diese „Maske zum Verhängnis geworden" sei.15 Der wahre Sinn liege tief unter dem Maskenhaften verborgen, „zu tief offenbar, um an das Ohr der deutschen Philosophen zu dringen".16 Aber das mußte wohl auch so sein, denn Nietzsche konnte mehr als nur eine „Berufsaufgabe" erfüllen. „Nietzsche ist von den Berufsdenkern nicht ernst genommen worden, weil er mehr konnte, als ernst zu sein".17 Wie den Nietzsche-Gegnern so tritt der junge Simmel aber auch seinen kritiklosen Anhängern damals entschieden entgegen, die kritiklos waren und auch sein mußten, weil sie ihren „Meister" „von der Kontinuität des menschlichen Geisteslebens" abgetrennt und aus ihm eine „intellektuelle causa sui" gemacht hatten.18 Beiden „Parteien" wirft Simmel dann vor, daß sie Nietzsche „einen Platz jenseits der historischen Entwicklung der Philosophie" anweisen wollen, „während er erst in der Einordnung in diese den Platz findet, den er behalten wird, wenn er überhaupt einen behält",19 setzt Simmel mit nachdenklichem Unterton hinzu. Jedoch findet er sogleich auch glaubhafte Gründe, die ihn letztendlich doch annehmen lassen, daß dem so sein wird, denn in Nietzsches moralischem Menschenbild wird jene schon erwähnte „kopernikanische Tat" vollzogen, die den ethischen Beurteilungen möglicherweise ein neues Fundament legen. Diese „kopernikanische Tat" Nietzsches sieht für Simmel so aus, daß er und dies bezeichnet Simmel nun als „eine Merkwürdigkeit Nietzsches" zum einen eine rein objektive Wertung, eine Schätzung aller sozialen Existenz nicht nach dem Allgemeinen des Durchschnitts vornimmt, sondern nach dem höchsten „Teilstück", daß er Nietzsche andererseits aber diese Werte bindet an die Persönlichkeit, und daß sie nur als Eigenschaft dieser „die Qualität des Wertes' überhaupt besitzen". Simmel betont aber sogleich: „Dieser -

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,

15

Georg Simmel, „Friedrich Nietzsche: Eine moralphilosophische Silhouette", in: Zeitschriftfür Philosophie und philosophische Kritik, 107. Bd., 1. Heft, Leipzig 1895, 202.

16 Ebd. 17 Ebd., 203. 18 Ebd. 19 Ebd.

Nietzsches Denken

579

ethische Personalismus ist absolut kein Egoismus oder Eudämonismus".20 Denn höher als die Liebe zu sich selbst oder zum Nächsten steht für Nietzsche die Liebe zum Fernsten, Künftigen, zum Ideal, nicht aber zum eigenen Menschsein und zum Mitmenschen. Nietzsche lasse sich so nicht in eine „anarchistische" Ecke schieben, denn es gäbe „keinen strengeren Richter gegenüber allem Anarchistischen, Zuchtlosen, Weichlichen, als Nietzsche". Und dessen Dekadenzkritik ist für Simmel ein Beleg dafür, daß in der Gegenwart die großen Ideale „vor dem unvornehmen, unidealen Streben nach Glück Aller verschwunden"21 seien. Selbstsucht ist also nicht egoistisches Streben zum Glücksanteil im Durchschnittsniveau einer größtmöglichsten Zahl, sondern ist Sicherung eines oder besser des personalen Wertes angesichts eines dekadenten und totalen Werteverfalls in der gegenwärtigen Gesellschaft. Wenn denn nichts mehr gilt, wenn alle äußeren Werte nur noch im Verfall ihrer selbst zeigen, daß sie einmal solche waren, so kann man eben echte Werte nur noch im Bereich des Personalen, und zwar in seinen höchsten Formen retten. Abzüglich der Konsequenzen des letzteren, finden wir diese Haltung in variierter Form dann nach der ersten weltweiten Katastrophe und Krise der bürgerlichen Gesellschaft, dem Ersten Weltkrieg und seinen Folgen, theoretisch im Denken der Existenzphilosophen wieder. „Hier wird zum erstenmale in der modernen Ethik das Kriterium selbst ein anderes", meint Simmel, und er leitet eben jene von ihm akzentuierte „kopernikanische Tat" Nietzsches davon ab, daß „Zentrum und Peripherie [...] die Stellen"22 zu wechseln beginnen. Die moralische Qualität des einzelnen Individuums, welches bislang seine Würde über den „Umweg" des Allgemeinen erhielt, besitzt es nunmehr allein durch sich selbst und das Allgemeine bedarf nun des personalen „Umwegs". Man mag dies alles empörend, gefährlich und unsittlich finden, was es zweifelsohne angesichts bisher absolut gültiger, im christlich-platonischen Sinne ewiger, aber nunmehr relativierter und unter die Mühle der Dekadenz des Durchschnittlichen geratener Werte oder Wertsysteme auch ist, aber diese neue „Fundamentierung" ethischer Beurteilung läßt so Simmel ob ihrer Grundsätzlichkeit „eine eigentliche Widerlegung desselben vom entgegengesetzten Standpunkte"23 einfach nicht zu. Was es einzig noch geben kann, ist entweder eine willensmäßige Verwerfung oder aber eine bedingungslose Annahme, eine bloße verstandesmäßige Diskussion sei aber nicht mehr möglich. Und auch jeglicher Rückgriff auf Nietzsches persönliches Schicksal als demonstrado ad hominem ist nicht mehr opportun, genauso wie es unmöglich sei, dasselbe aus seiner Theorie herleiten zu wollen. Nur und das ist Simmeis kritisierende Position Nietzsche schafft „die neuen Werte doch nicht mit der That, sondern nur in Gedanken, nicht als Übermensch, sondern eben als Philosoph, der erst den Übermenschen ,lehrt'!"24 Und damit bleibe Nietzsche letztlich ob er es wolle oder nicht auch außerhalb des akademischen Raumes zumindest ein „personaler akademischer Raum" und trotz allem Aufstands wider die offizielle Theorie letztlich eben auch nur ein „inoffizieller" Theoretiker. Um mit einem anderen, älteren Zeitgenossen Nietzsches diesbezüglich zu sprechen: es ist erneut „nur der kritische Kampf der Philosophie mit der deutschen Welt", die nicht bedachte, „daß die seitherige Philosophie selbst zu dieser Welt gehört und ihre, wenn auch ideelle, Ergänzung ist".25 -

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20 Ebd., 208. 21 Ebd., 209. 22 Ebd., 211. 23 Ebd., 212. 24 Ebd., 215. 25 Karl Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie:

Einleitung, MEW I, Berlin 1988, 384.

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Das aber sehen nun die geistigen und politischen Führer und Repräsentanten der proletarischen Massenbewegung in Deutschland, die in ihrer politischen Partei, der deutschen Sozialdemokratie, die in den hier in Betracht stehenden achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts wohl noch auf die Fahnen des eben zitierten Marx und seines Gefährten Engels eingeschworen war, doch sehr differenter. In einem Nekrolog auf den „armen, wahnsinnigen Philosophen", dem in Weimar am 25. August nun mit dem Tode seinem unsäglichen Jammer ein Ende bereitet worden sei, schreibt am 27. August 1900 der damalige Chefredakteur einer der bedeutendsten und einflußreichsten Tageszeitungen der deutschen Sozialdemokratie, der Leipziger Volkszeitung, Dr. Bruno Schoenlank übrigens in diesem Amte Nachfolger von Franz Mehring in nämlicher sozialdemokratischer Tageszeitung: „Wer war Nietzsche? ,Ein Verkünder ewig unzerstörbarer Wahrheiten', so sagen die einen. ,Der Klassenphilosoph des Großbürgertums' sagen die anderen, ,der Verkünder der kapitalistischen Herrenmoral. Eine Wahrheit bleibt nur so lange wahr, als die Macht der Volksbedrücker mächtig bleibt!' Wer hat recht?", so fragt Bruno Schoenlank und antwortet: „Beide sagen ein Stück Wahrheit!"26 Und mit diesen Eckpunkten: „Verkünder unzerstörbarer Wahrheiten" und „Klassenphilosoph des Großbürgertums" hatte Schoenlank die Bandbreite einer allgemeinen Nietzsche-Rezeption der „wilden" neunziger Jahre aufgezeigt. Sie umfaßte zunächst nur eine kleine Schar philosophischer Anhänger, der eine starke Macht vehementer Nietzsche-Gegner im Lager der Schulphilosophie gegenüberstand. Es gab zugleich eine begeisterte Anhängerschaft unter den jungen deutschen Literaten, die sich teilweise im „naturalistischen" Umfeld eines Arno Holz, Johannes Schlaf, Richard Dehmel und Heinrich Hart bewegten, die aber auch andere literarische Richtungen repräsentierten, wie etwa Hermann Conrad, Detlev von Liliencron, Hugo von Hofmannsthal, Christian Morgenstern und Stefan George, deren Nietzsche-Begeisterung vornehmlich an der großen Sprachgewalt des Meisters und seiner glänzenden Stilistik orientiert war, die aber auch an seinem alles verachtenden Individualismus, seinem Wettern gegen die „Vielzuvielen" und gegen die „graue Elendsliteratur" sowie an seinem Predigen eines gewaltsamen Auslebens einer von allen pressierenden Sklavenmoralen befreiten Herrscher-Persönlichkeit, die im Künstler-Genie ihre höchste Ausformung erlebt, großes Gefallen fanden. Und diese Bandbreite reichte bis zu den eingeschworenen politisch-ideologischen Gegnern in den sozialdemokratischen Reihen, wie etwa Franz Mehring und am Anfang der neunziger Jahre auch Paul Ernst. Schoenlank hat indirekt auch mit diesem Antagonismus jene Gegner Nietzsches in der damaligen Zeit angesprochen, die diesem nicht seine „Klassenphilosophie" als Ideologie des Großbürgertums vorwarfen, sondern die ihn aus einer merkwürdigen „hypergermanischen" und nationalistischen, dem „nordischen Ariertum" sich verpflichtet fühlenden Haltung heraus bösartig attackierten. Der mit seinem Bruder Heinrich und anderen Literaten den „Genie-Klub" repräsentierende Julius Hart ist dafür eines der signifikantesten „Belegstücke". In seinem Werk Der neue Gott: Ein Ausblick auf das kommende Jahrhundert (im Jahre 1899 in Florenz und Leipzig erschienen) wettert Julius Hart kurz vor der Jahrhundertwende gegen die „Nietzschesche Welt" des Geisteslebens des 19. Jahrhunderts, weil sie „den Mann, den Künstler, die schöpferische Kraft" dahinschwinden macht. Diese „Nietzsche-Welt" Harts ist charakterisiert nun gerade nicht durch die bislang immer beschriebene und von Nietzsche verbal selbst direkt beschworene „Härte und Strenge" des „Übermenschen" der „Zarathustra-Welt" -, sondern sie wird vielmehr gerade umgekehrt -

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26 Bruno

Schoenlank, „Friedrich Nietzsche", in: Leipziger Volkszeitung, 1. Jg., Nr. 197, Leipzig, 27. Aug. 1900, 1.

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von „romantisch-dilettantisch-weibischen Empfindungen" bestimmt.27 Für Julius Hart ist der Nietzschesche Individualismus, den die „deutschen Schwachköpfe" so hofieren, „ein durch und durch ausländisches Gewächs", welches „verwälscht" wurde und sich von hier aus leider „ein romanischer Geist" unter den Deutschen bereitzumachen begann. „Blickt hinein in die Ruhmeshalle Nietzsches und Ihr werdet dort kaum einen Germanen erblicken aber viele,

viele Kulturträger des Romanismus".28 Und zu allem „Romanischen", welches Julius Hart bei Nietzsche als Negativum zu finden meint, setzt er als genauso verwerflich dessen Liebe zum „Slavischen" hinzu, denn „wir dürfen das polnische Blut Nietzsches in Anschlag bringen", aus welchem dann „die eunuchische Romantik des Übermenschen" erwuchs, die „Ausdruck des unfruchtbaren polnischen Geistes" sei. Aber von dem echten „Arier des Nordens" solle man wahrlich nicht harmlos denken; eine „neue Kultur germanischen Geistes" wird er bringen, die sich losreißt von „der alten Welt der Romanen" und aller Fremdständigkeit. Das alles wird allerdings nicht kommen „ohne große Revolutionen, gewaltige Erschütterungen, furchtbare Umwälzungen".29 Nur eben gerade mit den „großen Eitelkeiten" und „süßen Schmeicheleien", die der Nietzschesche „Übermensch" uns Deutschen vor die Füße streut, wird das nicht zu machen sein. Welche Verkehrung im Ansatz, denn was später im NSRezeptionsmechanismus (zumindest in dem, der sich wesentlich durchsetzte, denn einheitlich war dieser ja nicht, wie Giorgio Penzo in seiner Studie zum Mythos vom Übermenschen aufgezeigt hat30) als antislavische und antiromanische (und antisemitischen) Stoßrichtung von ihrer NS-Zarathustrainterpretation ausging, war bei Julius Hart gerade das Ergebnis eines „verweichlichten" und „verweichlichenden" romanisch-slavischen, in jedem Falle aber nicht eines nordisch-arisch-germanischen Denkens. -

Doch kommen wir zu der großen Breite von strikter Ablehnung und euphorischer Begeisterung gegen und für Nietzsche im gesamten deutschen Geistesleben zurück, von der Bruno Schoenlank meinte, daß in ihren Eckpositionen in jeder Hinsicht etwas Wahres sei und übertragen diese Bandbreite auf die Auseinandersetzung der deutschen Linken in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, so müssen wir feststellen, daß diese Werte-Skala (wenn auch nicht in jedem Detail, so doch vom Grundsätzlichen her) auch dort prinzipiell vorhanden ist. Ich möchte allerdings bemerken, daß ich hier nicht nur die in der deutschen Sozialdemokratie fest verankerten Linken sehe, sondern auch solche, die weiland nur mit ihr kokettierten bzw. in diese Partei eingetreten und sogar in ihr politisch-ideologisch tätig waren, aber die in diesem Jahrzehnt als Revisionisten ausgeschlossen wurden oder die die Partei verließen bzw. die auf anderen (z. B. anarchistischen) linken Positionen standen. Ich glaube hier zumindest 3 Gruppierungen feststellen zu können. Wir haben zunächst die ziemlich strikte und prinzipielle „Zurückweisungspartei", in derem Zentrum der vom historisch-materialistischen philosophischen Standpunkt aus seine Ideologieanalyse und Ideologiekritik betreibende Franz Mehring steht, der auch zeitweise (zumindest am Beginn seiner sozialdemokratischen Agitationszeit) der junge Paul Ernst zugehörte, ehe er sich vom Sozialismus ab- und einem monumentalen Klassizismus zuwandte. Ihr Grunddiktum ist sowohl der Hart, „Der neue Gott" (zit. n.: Nietzsche und die deutsche Literatur I. Texte zur Nietzsche-Rezeption 1873-1963, hg. v. Bruno Hillebrand, Tübingen 1978, 119. 28 Ebd., 120. 29 Ebd., 121. 30 Vgl. Giorgio Penzo, Der Mythos vom Übermenschen: Nietzsche und der Nationalsozialismus, Frankfurt 27 Julius

a.M./Berlin/Wien 1992.

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Versuch des Nachweises, daß Nietzsche der Klassenideologe des Großbürgertums bzw. der „Modephilosoph" des dekadenten Bourgeois, insbesondere in seiner literarischen BohèmeForm, sei. Diese Linie „siegte" übrigens dann in einer späteren offiziellen marxistisch-leninistischen Nietzsche-Rezeption, deren Ideenspender unter veränderten Bedingungen im 20. Jahrhundert vor allem Georg Lukács wurde, wenngleich wie wir schon in einem anderen Zusammenhang auf der Mehring-Konferenz in Hamburg 1989 festhalten konnten31 doch auch spürbare Unterschiede in den Argumentationslinien der beiden genannten marxistischen Nietzsche-Kritiker vorhanden sind. Die zweite „Parteiung" oder „Gruppierung" (ohne dies auch nur im geringsten Sinne einer organisatorischen Struktur verstehen zu wollen) ist diejenige, die auf Positionen einer mehr oder weniger begeisterten Zustimmung zu Nietzsches Denken und Dichten steht. Ihr Platz in der deutschen Linken befindet sich damals vor allem im Umfeld der sogenannten Gruppierung der „Jungen" in der SPD, die sich auch als „Friedrichshagener" bezeichneten, nach jenem Berliner Vorort benannt, in welchem sie lebten und sich auch zu theoretischen Diskussionen trafen. Ihr theoretischer Kopf war Bruno Wille. Sie wurden jedoch auf dem Erfurter Parteitag 1891 aus der SPD ausgeschlossen und gründeten Ende 1891 in Berlin den „Verein Unabhängiger Sozialisten", der zwischen 1891 und 1899 ein eigenes politisch-theoretisches Organ herausgab, den Sozialisten. Dieser „Gruppierung" neigte nun theoretisch auch der Berliner Kunsthistoriker und Universitätsprofessor Franz Servaes zu, der in der 1890 gegründeten und von Otto Brahm herausgegebenen Freien Bühne für modernes Leben ", die ihrerseits ein Sammelbecken der naturalistischen Literaten werden sollte, im Jahre 1893 eine Artikel-Serie über Nietzsche und der Sozialismus veröffentlichte. Im geistigen Zentrum dieser Gruppierung steht das strikte Bekenntnis zum revolutionären Individualismus und die unbedingte Ablehnung all jener staatlichen oder sonstigen politischen Einrichtungen, „die die Selbständigkeit des Geistes ertöten"; dies sei auch eine „Reaktion des Individualismus wider schabionisierenden Demokratismus".32 Die 3. Gruppierung schließlich, die aber und das ist -

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ob ihrer vermittelnden Zwischenstellung auch nicht verwunderlich gelegentlich zur ersten oder dritten neigte, ist diejenige, welche in Nietzsches Denken zweifelsohne ein Produkt einer ganz bestimmten sozialökonomischen und gesellschaftlichen wie geistesgeschichtlichideologischen aktuellen Gegenwartssituation und ihrer historischen Herkunft erkannte, die diese aber nicht von einem a priori allein richtigen und hinlänglich ausreichenden „proletarischen Klassenstandpunkt" verurteilte, sondern die sich die Frage vorlegte, ob denn nicht in den scheinbar soweit auseinanderliegenden gegensätzlichen Positionen eines sozialen Demokratismus und eines radikalen Aristokratismus eventuell doch Berührungspunkte vorhanden sind, die Nietzsche nun zwar nicht gerade zu einem festen „Bundesgenossen" des Proletariats machen würden, was wohl jedem klar sei, der Nietzsches Schaffen auch nur flüchtig kenne, die aber in beiden Denkhaltungen doch zumindest die Gemeinsamkeit einer Kampfansage an den bornierten Durchschnittsgeist der herrschenden aristokratisch-bürgerlichen Kreise, ihre „Hornviehmentalität", ihre egoistische Geldgier, ihren engstirnigen Nationalismus und ihre kulturell-moralische Dekadenz zu erkennen glaubt. Dieser Gruppierung gehört zweifelsfrei Kurt Eisner an mit seinem aus sozialistischem Denken geflossenen und einzigem, umfang-

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31

Vgl. Hans-Martin Gerlach und Ralf Eichberg, „,1hm graute vor der entsetzlichen Öde ...': Franz Mehrings Auseinandersetzung mit Nietzsche", in: Franz Mehring Historiker der Philosophie, der Arbeiterbewegung und der Literatur, Jahrbuch für Sozialökonomie und Gesellschaftstheorie, Hamburg 1989. Franz Servaes, „Nietzsche und der Sozialismus", in: Freie Bühne, III. Jg., Berlin 1892, 85. -

32

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reicheren linken Werk Psychopathia spiritualis: Friedrich Nietzsche und die Apostel der Zukunft, welches Eisner schon am Beginn dieses Jahrzehntes ausformuliert hatte. Teilweise gehört wohl auch Paul Ernst mit seinen Nietzsche-Aufsätzen in der ersten Hälfte der neunziger Jahre in der Freien Bühne in diesen Umkreis. Einen gewissen „Schlußspruch" findet diese Linie in jenem schon erwähnten sozialdemokratischen Nachruf auf Friedrich Nietzsche in der

Leipziger Volkszeitung aus der Feder Bruno Schoenlanks, der an so zentraler publizistischer Stelle m. E. nicht nur die Privatmeinung eines Parteiintellektuellen und Chefredakteurs war, sondern der auch eine gewisse allgemeine ideologische und weltanschauliche Haltung in der Partei zum Ausdruck brachte, zumindest unter deren Intellektuellen. Worin bestehen nun Gemeinsamkeiten und Differenzen in den theoretischen und ideologischen Positionen zwischen diesen drei Gruppierungen einer linken Nietzsche-Rezeption in dieser Zeit?

Vergleicht man die Arbeiten dieser linken deutschen Intelligenzia, so stellt man fest, daß sie doch durchweg den Zusammenhang zwischen den dekadenten deutschen Zeitverhältnissen und dem Nietzscheschen Denken sehen. Für Mehrings ideologiekritische Herangehensweise in der sogenannten „Anti-Lindau-Schrift" Kapital und Presse ist Nietzsches Philosophie der Versuch, die „Klassenmoral des Kapitalismus auf der heutigen Stufe seiner Entwicklung zu

entdecken und die Bande zu sprengen, welche die Klassenmoralen seiner früheren Entwicklungsstufen, die kleinbürgerliche Ehrbarkeit und die großbürgerliche Respektabilität ihm noch anlegen".33 Wie für Ferdinand Tönnies, ehemaliger Nietzscheaner, der er in seiner Jugend war, der sich jedoch offiziell in seiner Schrift Nietzsche-Cultus von dessen Philosophie in späteren Jahren verabschiedete, so sieht auch der junge Paul Ernst hier noch mit Franz Mehring einig in Nietzsche einen Philosophen der Dekadenz. „Sein Publikum ist das Bürgerthum der Decadence, das einem strengen philosophischen Geist wenig geneigt ist".34 Aber Paul Ernst hat dabei den „Begriff der Decadence anders gefaßt, als er [Nietzsche H.-M.G.] ihn selbst hat".35 „Er gehört zu jener Klasse der bürgerlichen Decadents, welche in Opposition zu dem erreichten Ziel des bürgerlichen Denkens steht".36 In ihm kulminiere die „nachklassische" bürgerliche Philosophie d. h. die nach Hegel kommende -, die in Deutschland mit Schopenhauer beginne, über Vogt, Lange und Laas eben bis Nietzsche reiche und die eine „Philosophie der Feigheit, die aufgewärmte Philosophie unserer Großväter und die Philosophie der Brutalität"37 miteinander verbinde. In der Ökonomie sieht Ernst übrigens Ähnlichkeiten, denn dort folgt auch auf die ökonomische Theorie eines Ricardo die „Ökonomie des schlechten Gewissens", von Rodbertus bis Dühring reichend. Das Selbstwertgefühl des Bürgertums ist vorbei, zerbrochen an der deutschen Wirklichkeit. Neue Moralbegriffe werden geschaffen, man greife alles auf, was einem politisch und theoretisch entgegentritt, und verarbeitet es: die Aversionen der herrschenden Klassen und Schichten in Deutschland gegen die Demokratie, die nunmehr als „die neueste Form der Sklavenmoral"38 erscheint, wie auch „den Vererbungsaberglaube", den man einführt, um die „höhere Rasse" zu züchten und um „die Causalität in -

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33 Franz Mehring, Gesammelte Schriften, Bd. 13, Berlin 1983, 163. 34 Paul Ernst, „Friedrich Nietzsche: Seine Philosophie", in: Freie Bühne für modernes

1. Jg., Berlin 1890, 516. 35 Paul Ernst, „Friedrich Nietzsche: Seine historische 36 Ebd., 491. 37 38

Ebd., 490. Ebd., 517.

Stellung", in: Ebd, 490.

Leben, hg.

v.

Otto

Brahm,

Hans-Martin Gerlach

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der Geschichte aufzuheben".39 Aber, so Paul Ernst: „Die Gedanken sind schief, von welcher Seite man sie auch betrachten mag".40 Und er fügt hinzu, daß man Nietzsches Ideengut, welches das eines „Weltverbesserers von der Sorte" sei, „wie wir sie jetzt auf allen Straßen finden",41 sehen müssen als eine neue Moral, die den veränderten sozialen Verhältnissen entspringt. Das aber ist ein Prozeß, „der sich nach den immanenten Gesetzen der Produktion abspielt; hier kann man nichts machen, als diesen Prozeß erkennen".42 Zu dieser festen Überzeugung kommen aber nur die, die die Sachlage „logisch" verfolgen, also vor allem die deutsche Sozialdemokratie und ihre Theoretiker. Die „Weltverbesserer" hingegen, zu denen bekanntlich auch Nietzsche zählt, sehen zwar gleichfalls die Häßlichkeit der neuen Sklavenmoral, sie verzichten aber aufs Erkennen und setzen dagegen „Werthurteile" im Bunde mit „Modetheorien" (wie die der „Vererbung"), um „neue Menschen", die eine neue „Herrenmoral" haben, zu modeln. Deshalb muß man sich mit dieser „Herrenmoral" gegen die machtvoll andrängende „Sklavenmoral" wehren und darf nicht einem Schopenhauerschen Pessimismus nachhängen, der daraus ein „bequemes Ruhekissen für den Spießbürger"43 macht. Nietzsches energische Natur komme im bewußten Gegenzug gegen den Misanthropen Schopenhauer zu einer ganz anderen Sicht: „Unsere Gesellschaft ist bedroht [...] nun wohl stemmen wir uns dagegen".44 Und so entspricht Nietzsches Philosophie „wohl eher den thatsächlichen Verhältnissen" des 19. Jahrhunderts, welche in Bismarcks Gewaltpolitik kulminieren, als die Philosophie der aufsteigenden Linie des Bürgertums mit ihrem humanistischem Gehalt. Mit Nietzsches Denken werde „der Philosophie der Humanität die Philosophie der Brutalität gegenüber" gestellt.45 Nietzsche und die Seinen sind also auf jeden Fall ehrlicher, realistischer und dabei leichter zu verstehen als all die anderen, bei welchen man erst alle Phrasen beiseite tun muß, um zum Kern der Sache zu kommen. In Auseinandersetzung mit Kurt Eisners Psychopathia spiritualis, in welchem der anarchistische Autor behauptet hatte, daß „erdenfreie Träume, wie sie Nietzsche träumte [...] nicht den Zeitmaterien" entströmen könnten, hob dann auch Franz Mehring gleich dem eben behandelten Paul Ernst kritisch hervor, daß Nietzsches Philosophie sehr wohl den sozialökonomischen Verhältnissen entspringe und daß der sich daraus entwickelnde „Nietzscheanismus" „rein vom ideologischen Standpunkt [...] eine brutale und geistlose Rohheit"46 sei. Wenngleich man in diesem Zusammenhang auch die Kritik Friedrich Engels an Franz Mehrings methodischem Vorgehen erwähnen muß, nämlich zu oft und zu unmittelbar den Schluß von den sozialökonomischen Verhältnissen auf ideologische Vorstellungen zu ziehen, so kann man doch zugleich festhalten, daß dies nicht nur eine Mehringsche „Sünde" war, sondern quer durch die dem historischen Materialismus verpflichteten Theoretiker der II. Internationale hindurchging. Auch für Grigorij Plechanow feiert „das heutige bourgeoise Deutschland [...] einen Nietzsche, in dem es mit richtigem Klasseninstinkt sofort den Dichter und Ideologen der Klassenherrschaft spürte",47 wie er in -

39 40 41 42 43

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Ebd., 518. Ebd. Ebd. Ebd.

Ebd., 510.

44 Ebd.

45 Ebd. 46 Franz Mehring, „Buchbesprechung zu Kurt Eisner: Psychopathia spiritualis", in: Die Neue Zeit, 10. Jg. 1891/92, Bd. 2, 667. 47 Grigorij W. Plechanow, „Henrik Ibsen", in: Grigorij W. Plechanow: Kunst und Literatur, Berlin 1955, 923.

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seinem großen Aufsatz über Henrik Ibsen bemerkte. Und nicht zuletzt sogar der von Mehring so scharf kritisierte Kurt Eisner meint auch, daß „Nietzsches Geist [...] kleidsame Gewandung für viele Ungeister" abgibt und dem „großen Nietzsche [...] die Gefahr" drohe, „zum kleinen Heros des ,Fin de siècle' ausgefaselt zu werden",48 zum „Nietzsche-Affentum". Freilich ist er für ihn deshalb noch lange nicht in einem verkürzten „Geschichtsmaterialismus" à la Mehring ein „Philosoph des Kapitalismus", gegen den man auf diese ideologische Art zu Felde ziehen müsse. „Wie alle Geistesaristokraten würde Nietzsche tausendmal lieber für den Feudalismus des Stammbaums als für den Feudalismus des Geldschranks eintreten",49 da jener für Nietzsche noch edel sein konnte, dieser aber unedel von Natur aus ist. „Nietzsche als Türhüter von Bleichröder oder Rothschild wäre ein grauenhaftes Bild". „Dennoch" so fügt Kurt Eisner ahnungsvoll hinzu „würde er auf diesen Posten recht verwendbar sein".50 Das hinderte aber die deutsche Linke fast durchgängig nicht (bis hin zu den konsequentesten und „linientreuesten" Vertretern einer historisch-materialistischen Ideologieanalyse und Ideologiekritik), der Person Friedrich Nietzsches und ihren intellektuellen Potenzen zu bescheinigen, daß darin „ein fein angelegter und in seiner Weise reich begabter Geist" kulminiert, der „die grauenvollen Zustände, die der Kapitalismus schafft", sieht und der „mit aufrichtigem Ekel von ihnen erfüllt"51 wird, wie Franz Mehring sehr klar und deutlich hervorhob. Aber Nietzsche läßt sich von „diesem Elend" total übermannen und will es in rasender Manier zermalmen, zerstören „darum der Fluch der Religion, die mit ihrer Armenpflege das Elend immer wieder verewigt, darum der Fluch den ,Schnapsbrüdern' von Sozialdemokraten, die in dem Elend von heute die Hoffnung von morgen erblicken [...]"- und darum auch „heil den ,Übermenschen', den freien, sehr freien Geistern, die hart und mitleidlos ihre Peitsche über das Herdenvieh der Menschheit knallen lassen".52 Darin in der Akzeptanz Nietzsches als den „feinsinnigen Seismographen" auf die gewaltigen gesellschaftlichen Eruptionen, die schon vonstatten gegangen sind (z. B. Pariser Commune) bzw. sich noch ereignen werden, und der Betonung seiner Rolle als Kritiker einer alten verlogenen altruistischen Moral sowie der Herausstellung seiner Funktion als „Apostel" einer neuen, bisher unbekannten individualistischen umgewerteten Moral bestehen gleichfalls wesentliche Übereinstimmung in den „linken" deutschen Auseinandersetzungen mit Nietzsches Philosophie. Freilich treten gerade hier dann auch zugleich die grundlegenden Differenzen in der „linken" Nietzsche-Rezeption auf. Denn während die einen ihr Kristallisationskern liegt bei Mehring und einigen anderen theoretischen Repräsentanten der II. Internationale doch letztlich eine recht prinzipielle Ablehnungsfront auf Grund der schon erwähnten historisch-materialistisch fundierten Ideologiekritik aufbauen (Nietzsche als geistiger Repräsentant einer neuen Entwicklungsqualität des Kapitalismus nach der Reichseinigung in Deutschland in seiner Machtgier einerseits und seiner Dekadenz andererseits), sind die anderen gerade darüber eher betrübt, daß Nietzsches radikaler Geist sich eben nicht mit dem starken und revolutionären Arm des Proletariats verbunden habe. Nietzsche verkannte den Sozialismus, wie es Kurt Eisner sieht, und vielleicht sei dies die Nemesis, daß er nun „als Philosoph des Kapitalismus" gelte.53 Für Eisner (wie übrigens auch für die „Jungen" in der SPD) gilt der Sozialismus aber als „fruchtbare, gesunde -

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48 49 50 51 52 53

Eisner, Psychopathia spiritualis: Friedrich Nietzsche und die Apostel der Zukunft, Leipzig 1892, 16. Ebd., 93. Ebd., 99. Franz Mehring, „Buchbesprechung zu Kurt Eisner", 667. Kurt

Ebd. Kurt Eisner,

Psychopathia spiritualis, 88.

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und liebehelle Paarung von Individualismus und Altruismus".54 Der Sozialismus in der Sicht Eisners schließt also den Individualismus (wie ihn auch Nietzsche repräsentiert) nicht aus, sondern prinzipiell ein. Aber welch ein Abgrund klafft in der politisch-ideologischen Wirklichkeit zwischen diesen Lagern und verurteilt zur Quarantäne, was letztlich dann direkt zur „Lager-Mentalität" führt. Dieser „Abgrund" verdecke aber die Tatsache, daß „Zweiheiten" in Wirklichkeit „Einheiten" sind, meint Eisner. Das starre „Entweder-Oder" müsse zugunsten eines „Sowohl-Als auch" aufgehoben werden. Und in einer gewissen Nähe zu Georg Simmel nimmt auch Kurt Eisner gleichsam seine „kopernikanische Wende" vor. Will man raus aus der „Schnapsbrüdermentalität", für die man als soziale Bewegung gilt, wie andererseits das Christentum als Armuts- und Elendsreligion stigmatisiert ist, so muß man Nietzsches Denken eben im Sinne eines radikalen individualistischen Aristokratismus lesen, der aber weit entfernt ist von allem Egoismus einer dekadenten „Artistenmoral", von einem falsch verstandenen Revoluzzertum und einer Profitgiermoral à la Bleichröder und Rothschild. Und man muß andererseits aus einem „Menschenhaß" heraus, denn für Eisner gilt: „Nietzsche ist aus Menschenhaß Antisozialist".55 Aber man bedenke auch: „Nietzsche kannte die Ideale des Sozialismus gar nicht",56 wie andererseits eine bestimmte Führungsriege der Sozialdemokratie in ihrer bornierten Ablehnung des Nietzscheschen Denkens (besonders aber seiner „neuen Moral") überhaupt nicht erkennen wollte, daß dieses Denken mit dem kühnen und gefährlichen Geist des kämpfenden Proletariats unbedingt übereinstimmt. „Wie Nietzsche" so stellt Paul Ernst in seiner Artikelserie in der Freien Bühne fest leugnen auch die Sozialdemokraten jede absolute Moral", und „wir bezweifeln genau wie Nietzsche den Werth der gegenwärtigen Moral [...]"." Für Eisner und Genossen bedeutet dies auch eine Wende derart, daß man sich in der proletarisch-sozialistischen Bewegung nicht mit einem moralischen Durchschnittsniveau einer nivellierenden „Masse" zufrieden geben darf, sondern daß man gerade „die Masse" „aristokratisieren" muß, denn wahrer Aristokratismus oder auch echter Individualismus verschmelzen hier nicht mit einem borniertem Egoismus, sondern mit einem Altruismus. „Wahrhafter Aristokratismus ist erst möglich bei wahrhaftem Altruismus [...] Die Demokratie muß zur Panaristokratie werden".58 Und das bedeutet letztendlich, daß es nicht mehr um Herren- oder Sklavenmoral geht. Die Sozialisten aber „sollen beide Gesellschaftsformen überwinden", die aristokratische mit ihrem Haß und ihrer Ich-Gier, die demokratische mit ihrer Feigheit und ihrem Neid. Daraus erwächst philosophisch-metaphysisch ein Streben zu einer „Spendermoral", praktisch-politisch eine Ausrottung jeglicher „Besitzwut". Was Eisner, Ernst u. a. auch immer unter solchen Konstellationen verstanden haben mögen und wie sie Nietzsche aus ihrer Sicht auch kritisierten (so z. B. bei Eisner die Gegenüberstellung von Bebeis Buch Die Frau und der Sozialismus und Nietzsches „Weibereinstellung", bei der Eisner dem alten Bebel ein aristokratisches, weit über die Nietzscheschen „Witzeleien", die nach „Kneipe und Pferdestall" riechen, reichendes nobles Verständnis der Rolle der Frau in der Geschichte attestiert), sie machen zugleich im Kranz der linken Intelligenzia auf etwas aufmerksam, was nachdenkenswert war und worüber uns auch die Geschichte belehrte, daß man darüber nachzudenken habe: „Im Sozialismus sehe ich ein klares, erreichbares Ziel", so meint Eisner: „im Nietzscheanismus nachtwandle ich einer blauen Blume nach, die -

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,

54 Ebd., 77. 55 Ebd., 83. 56 Ebd., 82. 57 Paul Ernst, „Friedrich Nietzsche: Seine Philosophie", 519. 58 Kurt Eisner, „Psychopathia spiritualis", 79.

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mir ein Traum in die Seele geweht hat".59 Und es waren hauptsächlich radikale Naturen auf den äußersten Flügeln, die von der „blauen Blume" angetan sind. Man mag freilich darüber sinnieren und streiten, ob nun gerade die anarchischen „Jungen" der SPD des ausgehenden 19. Jahrhunderts von diesem großen Zuschnitt sind. Eines ist für Kurt Eisner aber schon vor der Jahrhundertwende eine immer bedrückender werdende Vision: „Auch Nietzsches Genius wird einsam am Wege sterben, und der ,geistlose' Sozialismus wird auf dem Wege vorwärts schreiten".60 Und wie Mehring in seiner Nietzsche-Kritik davon ausgeht, daß es dem ehrlichaufrechten Nietzsche vor der Welt des Kapitalismus grauste, so graust es dem Sozialisten Eisner, dem späteren Opfer deutscher Reaktion in der Münchner Räterepublik, vor einem „geistlos" gewordenen Sozialismus, der in dem „echten Reactionär" Nietzsche („weil sein Vorwärts ein Rückwärts ist"61) eine Mahnung und ein Korrektiv sieht, eine Mahnung gegen die falschen „Nietzsche-Apostel" jeglicher Couleur und ein Korrektiv zugleich auch bezüglich einer selbstüberzogenen und geistlos werdenden sozialistischen Bewegung und deren Apparat. Für beide lieferte die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert leider eine Fülle hinreichender Beweise. Für einen nicht zu unterschätzenden Teil der deutschen intellektuellen Linken galt bei aller Kritik an Nietzsche gerade in den neunziger Jahren dennoch die Überlegung, die Franz Servaes in seiner Artikelserie „Nietzsche und der Sozialismus" in der Berliner Freien Bühne entwickelte: „Nietzsche und der Sozialismus? Sind das nicht zwei Todfeinde, die sich in alle Ewigkeit heftig befehden müssen? Oder ist doch ein Gemeinsames zu finden?" Und er glaubt diese schließlich doch noch gefunden zu haben, wenn er feststellt, daß beide eben revolutionär und zukunftsträchtig sind. „Weil sie aber von entgegengesetzten Weltgegenden kommen, so wird Nietzsche zu einer Kritik des Sozialismus und der Sozialismus zu einer Kritik Nietzsches".62 Gerade in dieser ewigen Verkennung wirklicher Nähe bestehe das Dilemma, welches unendliche Ferne suggeriere. -

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59 60 61 62

Ebd., 86. Ebd., 12. Ebd., 16. Franz Servaes, „Nietzsche und der Sozialismus", in: Freie Bühne, 3. Jg., Berlin 1892,

V. Rezensionen

Rezensionen

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Reinhard Gasser, Nietzsche und Freud (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 38), Berlin/New York: Walter de Gruyter 1997, XXI, 746 S., 410.- DM. Der Wiener Philosoph und Sozialtherapeut Reinhard Gasser hat in einer glänzenden, im Grunde überfälligen Studie das Denken Friedrich Nietzsches und Sigmund Freuds einem Vergleich unterzogen und kam dabei zu erstaunlichen Einsichten. Zwar ist Nietzsches Rolle zwei schulenbildende als Wegbereiter psychoanalytischen Denkens längst anerkannt Vertreter des Fachs, Alfred Adler und Carl Gustav Jung, haben sich explizit auf ihn berufen und sich intensiv mit seinem Denken auseinandergesetzt dennoch hat Freud, der Nietzsche zwar gelegentlich zitiert, stets eindringlich betont, mit seiner Philosophie nicht näher vertraut zu sein. Damit hat er unfreiwillig selber am meisten zu dem immer wieder gegen ihn geäußerten Plagiatsverdacht beigetragen. Es gehört mit zu den großen Verdiensten von Gassers Studie, daß sie die oft erregt geführte Debatte um Freuds absichtlich verheimlichte Anleihen bei Nietzsche mit der größtmöglichen Sachlichkeit ihrer Gegenstandslosigkeit überführt. Es gebe keinen Grund, stellt Gasser fest, Freuds diesbezügliche Aussagen zu bezweifeln, wenngleich es „schlechterdings denkunmöglich" sei, daß er von der Nietzsche-Euphorie seiner Zeit nichts mitbekommen habe. Nietzsches Gedanken waren im damaligen Wien ubiquitär und die Berührungspunkte, gerade im Umfeld Freuds, zahlreich. In einem akribisch gearbeiteten historischen Teil geht Gasser zunächst den konkreten Berührungspunkten nach, angefangen beim studentischen Leseverein, dem Freud angehörte und in dem schon früh Nietzsche gelesen und diskutiert worden ist, über Joseph Paneth, einen Freund Sigmund Freuds, der ihm ausführlich über seine persönlichen Begegnungen und Gespräche mit Nietzsche im Winter 1883/84 in Nizza berichtete, hin zu Lou AndreasSalomé, die 30 Jahre nach ihrer kurzen, aber intensiven Freundschaft mit Nietzsche zu Freud in die Schule ging. Als Nietzsches Werk 1908 in der Wiener psychoanalytischen Vereinigung gleich zweimal diskutiert worden ist, hat Freud sich kompetent und kenntnisreich ins Gespräch eingemischt: Nietzsche habe „mit großem Scharfsinn, gleichsam in endopsychischer Wahrnehmung, die Schichten seines Selbst" abgetragen, eine „solche Introspektion wie bei Nietzsche wurde bei keinem Menschen vorher erreicht und dürfte wahrscheinlich auch nicht mehr erreicht werden", urteilte er. Zahlreiche glühende Nietzsche-Verehrer wie Siegfrid Lipiner, Carl Gustav Jung, Alfred Adler, Otto Gross und Otto Rank gehörten zu Freuds engstem Kreis und machten ihn immer wieder auf seinen Vorgänger aufmerksam, ebenso Freuds erster Biograph Fritz Witteis (1924) und natürlich Arnold Zweig, der noch zu Lebzeiten Freuds eine vergleichende Studie über ,Nietzsche und Freud' schreiben wollte. Noch in den beiden großen Reden zu seinem achtzigsten Geburtstag wurde er von Thomas Mann und Ludwig Binswanger auf seinen „Vorläufer" hingewiesen. Während Nietzsche in der heutigen intellektuellen Diskussion zunehmend an Bedeutung gewinnt, stellt Gasser in der Freud-Rezeption eine eher umgekehrte Tendenz fest. Das -

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geistige Klima der Gegenwart stehe „Theoretikern der ,Meta-Erzählung' und ihrem Rückgriff auf eine große, einheitsstiftende Leitidee" immer reservierter gegenüber (IX). Einen

weiteren Grund sieht er in der unterschiedlichen Editionssituation. Während die historischkritische Nietzsche-Edition von Colli und Montinari sicher wesentlich zur NietzscheRenaissance der letzten zwanzig Jahre beigetragen hat, ist bei Freud „nicht einmal der Beginn einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke, Briefe und nachgelassenen Dokumente absehbar" (X). Dabei erinnern die „editorischen Grabenkämpfe zwischen Hütern und Renegaten der Freud-Lehre" durchaus an die „unseligen Zeiten des Weimarer NietzscheArchivs"

(X).

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Rezensionen

Den zweiten und wichtigsten Teil der Arbeit bildet ein systematischer Vergleich der beiden Theoriekomplexe, den Gasser in drei großen Durchläufen unternimmt: 1. Die Kultivierung des Menschen (177-404), 2. Die Krankheit des Menschen: Neurose und Nihilismus (405-501), 3. Die Therapie des Menschen (503-606). Ein abschließender vierter Teil ist dem Vergleich der theoretischen Grundkonzepte Nietzsches und Freuds gewidmet (607-702). In diesem theoretischen Teil kommt Gasser zu dem Ergebnis, daß trotz zahlreicher Gemeinsamkeiten die Divergenzen überwiegen. Die „Ähnlichkeit der Gedanken" sei seit Freuds Zeiten „erheblich überschätzt" worden, behauptet er und spricht von einem „kontinuierlich genährten Mythos". Die grundlegendste Divergenz betrifft die erkenntaistheoretischen Voraussetzungen Nietzsches und Freuds und ihren jeweils zugrunde gelegten Wahrheitsbegriff. Eine jede Philosophie, so

Nietzsche, „schafft immer die Welt nach ihrem Bilde, sie kann nicht anders". „Der ganze Erkenntaiß-Apparat" sei ein „Abstraktions- und Simplifikations-Apparat, nicht auf Erkenntniß

gerichtet, sondern auf Bemächtigung." Selbst die physikalischen „Gesetzmäßigkeiten der Natur" sind für Nietzsche „kein Tatbestand", sondern immer schon „Interpretation," d. h. er faßt das Problem des Anthropomorphismus sehr viel weiter als Freud, der nicht daran zweifelt, daß die Wissenschaft als erstes nichtanthropomorphes Gegenparadigma zu Animismus und Religion imstande ist, die „Gesetze der Wirklichkeit" tatsächlich zu ergründen. Weitgehende Übereinstimmung herrscht in Nietzsches und Freuds Positionen bezüglich der Entstehung der Moral und der Beurteilung der Religion. „Fast Alles, was wir ,höhere Cultur' nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit", so Nietzsche, und

Freud: „Unsere besten Tugenden sind als Reaktionsbildungen und Sublimierungen auf dem Boden der bösesten Anlagen erwachsen." Den Höhepunkt des Schuldgefühls sieht Freud im monotheistischen Glauben erreicht, weil mit der symbolischen Inthronisation des ehemaligen Urvaters zugleich die Aggressionswünsche wiederbelebt worden seien. In Analogie dazu behauptet Nietzsche: „Die Heraufkunft des christlichen Gottes, als des bisherigen MaximaiGottes", habe „deshalb auch das Maximum des Schuldgefühls auf Erden zur Erscheinung gebracht." Freuds „ketzerischer Gedanke", die Erklärung des schlechten Gewissens aus einer „Wendung der Aggression nach innen", findet sich ganz explizit bereits bei Nietzsche, der ausdrücklich von seiner „eignen Hypothese über den Ursprung des schlechten Gewissens'" spricht. Gänzlich inkompatibel hingegen ist Freuds und Nietzsches Interpretation vom Tod Gottes. Während für Nietzsche das Wort „Gott ist tot" das Ende der abendländischen Moral durch Selbstaufhebung bezeichnet, bedeutet für Freud die „Tötung Gottes" gerade erst den Beginn der Moral. Gasser sieht eine interessante Parallele zwischen Nihilismus und Melancholie und behauptet, Nietzsche habe bei der Analyse des Nihilismus gerade das Symptombild der Melancholie, wie es später von Freud beschrieben wurde, vor Augen gehabt. Der Melancholiker, so Freud (Trauer und Melancholie), unterscheide sich vom Trauernden dadurch, daß er nicht in der Lage ist, nach getaner Trauerarbeit seine Libido vom verlorenen Objekt abzuziehen und neuen Objekten zuzuwenden. Insofern ist die von Nietzsche prognostizierte melancholische Reaktion auf den Tod Gottes und die idealistischen Werte der bisherigen Menschheit ein Indiz dafür, daß die Ablösung vom moralischen Idealismus der Vergangenheit nicht wirklich vollzogen worden ist. Dies wiederum hat Konsequenzen für die Freisetzung destruktiver Energien, was Gasser zu weiteren Analogien mit der von Mitscherlich und Marcuse beschriebenen vaterlosen Gesellschaft anregt. Auch der Sublimierungsbegriff findet sich bereits bei Nietzsche, wo er jedoch anders akzentuiert und weiter gefaßt ist als bei Freud. Nietzsche grenzt die Sublimierung nicht auf den Bereich der Sexualtriebe ein. „Der Richter ist ein sublimirter Henker" lesen wir im Nachlaß, oder: „manche Formen der Askese" gehören zu den „sublimirtesten Äußerungen" des Selbst-

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hasses, und: Mitleid erregen ist eine „Sublimirung der Grausamkeit". Ein wesentlicher Unterschied zu Freud besteht darin, daß Nietzsche „gewillt ist, die Sublimirung als Oberbegriff aller

Triebverwandlungen einzuführen" und damit den Schwierigkeiten Freuds entgeht, die aus der Doktrin zweier gegensätzlicher Grundtriebe resultieren. In einem späten Brief an Marie Bonaparte hat allerdings auch Freud die „Wißbegirde, den Forschungstrieb" als eine „vollwichtige Sublimierung des Aggressions- und Destruktionstriebes" anerkannt (331). Gassers genaue Lektüre fördert bei Nietzsche Spuren einer Theorie des Gedächtnisses zutage, welche die beiden wichtigen Momente der Freudschen Gedächtnistheorie, den Reizschutz und die Fähigkeit zur dauerhaften Erinnerung, „in einem psychologischen wie historischen Konnex als Doppelvermögen von .Vergeßlichkeit' und ,Gedächtnis"' enthält (374). Vergeßlichkeit, so Nietzsche, sei keine bloße „vis inertiae, wie die Oberflächlichen glauben, sie ist vielmehr ein aktives, im strengsten Sinne positives Hemmungsvermögen". Die aktive Vergeßlichkeit sei gleichsam die Türwärterin „einer Aufrechterhaltung der seelischen Ordnung". Gleichzeitig fragt er, ob das, was einmal die Tür passiert hat, nicht für immer gespeichert ist. „Dass es ein Vergessen giebt, ist noch nicht bewiesen, was wir wissen, ist allein, dass die Wiedererinnerung nicht in unserer Macht steht." Und schließlich heißt es im Nachlaß von 1885: „Es giebt im organischen Reiche kein Vergessen; wohl aber eine Art Ver-

dauen des Erlebten." Um den Einfluß affektiver Faktoren auf das Gedächtais geht es in dem berühmten Aphorismus 68 aus Jenseits von Gut und Böse, den Freud gleich zweimal, unter jeweils falscher Stellenangabe, zitiert hat: „,Das habe ich gethan' sagt mein Gedächtniss. Das kann ich nicht gethan haben sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich giebt das Gedächtniss nach." Naturgemäß mißt Nietzsche der „göttlichen Kunst des Vergessens" eine weitaus positivere, lebenssteigernde Funktion bei als die Psychoanalyse, für die das Vergessen immer schon mit den negativen Aspekten Verdrängung und Widerstand assoziiert ist. Und er hegt grundlegende Zweifel, am Wert des Erinnerten und der Erinnerungsarbeit überhaupt. Für Nietzsche handelt es sich immer schon um ein interpretierendes „aktives Zurechtmachen" und nicht um die Faktizität des Materials. Damit berührt er ein bis heute heikles Problem psychoanalytischer Arbeit. Schließlich stellt er nicht nur den Wert, sondern die Möglichkeit der Selbsterkenntnis überhaupt in Frage und sieht die eigentliche Aufgabe des Menschen vielmehr in dessen Selbstgestaltung: „Es ist Mythologie zu glauben, daß wir unser eigentliches Selbst finden werden, nachdem wir dies und jenes gelassen oder vergessen haben. So dröseln wir uns auf bis ins Unendliche zurück: sondern uns selber machen, aus allen Elementen eine Form gestalten ist die Aufgabe! Immer die eines Bildhauers! Eines produktiven Menschen!" Hier erweist sich die Unversöhnlichkeit psychoanalytischen Denkens mit Nietzsches Menschheitsentwurf besonders deutlich. Während Freud bei Nietzsche gerade das Sollen und Wollen kritisiert, diagnostiziert Nietzsche umgekehrt in eben diesem prinzipiellen Nicht-Wollen und Nicht-Sollen einen zutiefst nihilistischen Zug. Ausgehend von Nietzsches Analyse des abendländischen Nihilismus stellt dann auch Gasser die Frage, inwieweit nicht die Psychoanalyse selbst von nihilistischen, d. h. lebensverneinenden Grundannahmen geleitet werde. Freud sei, so Gasser, von seiner ideologiekritischen Unternehmung, die Religion bedingungslos aus den irdischen Quellen eines bereits archaisch fundierten Unbewußten herzuleiten, derart fasziniert gewesen, „daß schlußendlich die Erbsünde der Theologie unversehens durch die säkulare Erbschuld der Psychoanalyse substituiert worden war." (589) In Nietzsches Augen wäre es wohl in erster Linie die von Freud betonte Abkunft der Analytiker „von der exakten Wissenschaftlichkeit" gewesen und die damit verbundene Bereitschaft, „alles zu opfern, um zu einem Stückchen -

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objektiver Sicherheit zu gelangen", die ihn dem Nihilismusverdacht ausgeliefert hätte (595). Nietzsches Kritik am nihilistischen Neutralitätsanspruch der modernen Wissenschaft klingt wie eine vorweggenommene Kritik der Psychoanalyse selbst. Im Gegensatz zur Individualpsychologie Freuds richtet sich Nietzsches primäres Interesse auf die Pathologie der abendländischen Gesellschaft. Er diagnostiziert einen radikalen Nihilismus, den er in einer Art therapeutischem Großprojekt zu überwinden sucht. Amor fati, ewige Wiederkehr und der Übermensch sind dabei die therapeutischen Grundsäulen. Nietzsches Übermensch ist vor allem gekennzeichnet durch eine übermenschliche Synthese

Gegensätzen: „Der Weise und das Thier werden sich nähern und einen neuen Typus ergeben!" (510) Gerade dies ist aber für Freud undenkbar, der den Antagonismus zwischen Natur und Kultur für unüberbrückbar hielt. Für den praktizierenden Therapeuten und von

Desillusionisten Freud ist der Mensch im Grunde nichts anderes als ein sublimiertes Tier. Das ist er für Nietzsche zwar entschieden auch, aber zugleich wird er von ihm als Wesen gedacht, das über sich hinauszuwachsen sucht. Hier sieht Gasser die tiefste Kluft zwischen den beiden Theorien. Anders als Nietzsche, für den das eigentliche Problem gerade erst mit dem Tod Gottes und dem daraus resultierenden Nihilismus beginnt, vertraut Freud auf die moderne Wissenschaft als Ersatz für den verlorenen göttlichen Allmachtsglauben: „Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt [...]. Ferne Zeiten werden neue, wahrscheinlich unvorstellbar große Fortschritte auf diesem Gebiete der Kultur mit sich bringen, die Gottähnlichkeit noch weiter steigern" (486). Nietzsche faßte das Problem viel radikaler: Erst wenn die Wissenschaft sich selbst einmal zum Problem werde, wenn sie erkenne, daß ihr rigider Wille zur Wahrheit selbst noch einer „Rechtfertigung" bedürfe, werde sich die Moral ihrem Ende zuneigen und eine vollkommene Entwertung der Werte nach sich ziehen (489). Aus dieser Gegenläufigkeit der Ideen kann indes nicht geschlossen werden, Nietzsches und Freuds Denken berührten sich nur am Rande. Im Gegenteil, gerade aus der Gegenüberstellung ergeben sich die fruchtbarsten Denkanstöße sowohl für die Nietzsche-Forschung, die in den letzten Jahren den Psychologen Nietzsche allzusehr aus dem Blickfeld verloren hat, als auch für die Psychoanalyse, der vielleicht tatsächlich ein wenig zu sehr eine nihilistische Grundtendenz eignet. Wie sagte Nietzsche? „Diese Toleranz und largeur des Herzens, die Alles ,verzeiht', weil sie alles ,begreift' ist Scirocco für uns" (Antichrist). Gassers fundamentale Studie sollte zu einem Standardwerk für beide Disziplinen werden, deshalb ist zu wünschen, daß dieses kluge und wichtige Buch möglichst bald als erschwingliche, für viele Leser zugängliche Studienausgabe erscheint. Renate Müller-Buck

Nietzsche und der Weltgang der Hybris. Anmerkungen zur Historisch-kritischen Ausgabe von Friedrich Nietzsches Werken auf CD-ROM (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2000,- DM) Jeder kennt das Motiv aus seiner Kindheit, Bücher und Filme zum Thema gibt es in reicher Auswahl: Der Mensch erschafft ein neues Wesen, aber nicht auf dem sinnenfreudigen Wege der Zeugung, sondern als Forscher im Nachvollzug der Schöpfung, schwer und mühsam arbeitend, mit dem unaufhebbaren Mißtrauen seiner Nachbarn im Nacken. Warum macht man sich

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diese Mühen? Geht es darum, den Unsterblichen das letzte Privileg zu nehmen? Nur weiß man heute zuverlässig um deren Unwirklichkeit, so daß dieses Motiv als obsolet gelten muß. Dennoch läßt die Flut der Science-Fiction-Produktionen nicht nach, wobei durchaus nicht nur triviale Unterhaltungsansprüche befriedigt werden. Das Nichttriviale dieser Geschichten zeigt eine Gemeinsamkeit der fremden Wesen in der breiten Spanne zwischen menschlichem Aussehen und monsterhaften Schreckbild: sie emanzipieren sich irgendwann von ihren Schöpfern. Während die Zeugung der Kontrolle der Gene unterliegt, werden umgekehrt in der vernunftbetriebenen Schöpfung die Gene zu bloßem Material, Bausteinen, die der Forscher nach seinen Intentionen kombiniert. So kann der Mensch auch eine subjektive Idealvorstellung in sein künstliches Gegenüber implementieren und ein Wesen formen, welches zwar über einen wahrnehmbaren Intellekt verfügt, jedoch nicht die übrigen kulturellen Spezifika des Menschen aufweist. Aber eben darin ist bereits das prinzipielle Unvermögen impliziert, dieses Wesen in irgend eine soziale Ordnung zu integrieren. Und so geben die Geschichten dem Kunstwesen fast immer eine Schicksalsperspektive vor: endet es nicht noch in seiner Geburtsstätte, der Retorte, so bricht es aus der vorgesehenen Rolle aus und richtet sich letztlich tötend und zerstörend gegen das Geschlecht seiner Schöpfer. Die Hybris entäußert sich als Frevel an der

eigenen Spezies.

Was in der Literatur noch dem ethischen Zweifel der Autoren unterlag, hat nun erstmals, in freilich völlig anderer Gestalt, das Reich des Imaginären verlassen, seine Metamorphose von der lärmenden und saalfüllenden bloßen Rechenmaschine zum die Welt unsichtbar, aber um so präsenter umschließenden elektronischen Gespinst vollzogen und schickt sich an, jene an Stelle der offenbar aus der Gegenwartsgeschichte ausgetretenen sozialen Bewegungen zu verändern. Das ehemals technische Medium Computer, gerade in seiner unheimlich-ungreifbaren Gestalt Internet, ist eine Schöpfung des Menschen, und es ist die erste, die seinen regulativen Institutionen in zunehmender Eigenständigkeit gegenübertritt. Der Beispiele sind viele. So hängen an der Börse im Krisenfall Entscheidungen, bei denen es innerhalb von Stunden um Wohl oder Wehe der Weltwirtschaft geht, von in der verfügbaren Zeit nicht mehr überprüfbaren Computeranalysen ab, damit auch von der Fehlerfreiheit der eingesetzten Programme. Wie jeder Fachmann gerne bestätigt, gibt es kein fehlerfreies Programm. Die Vernetzung der Weltwirtschaft, insbesondere des Finanzkapitals, hat einen Umfang und eine Verklammerung erreicht, welche nur um den Preis des wirtschaftlichen Kollapses zurückzunehmen wären. Niemand weiß, was passiert, wenn die Zahlen überraschend zu tanzen anfangen. Andererseits bietet das Gespinst ungeahnte Möglichkeiten humaner Emanzipation, wie die Aufhebung der Zensur in einer Konsequenz, von der vor wenigen Jahren nicht zu träumen war. Etwa ein Verbot der Publikation von Nietzsches Schriften, in der DDR anscheinend unvermeidlich, geriete heute zur Absurdität. Mit der Zensur aber verliert sich die Möglichkeit institutioneller Kontrolle, und hier ist der Punkt erreicht, an dem sich das Internet mit den Phantasien der utopischen Literatur trifft. Das ungreifbare Netz hebt das eigentlich Humane, die Vernunft, aus den von der Menschheit geschaffenen, aber allzu oft ihre geistige Freiheit behindernden politischen Strukturen heraus und tritt den Behörden als unkalkulierbares Phänomen, staatlichem Zugriff entzogen, gegenüber. Die aktuelle Verschlüsselungsdebatte zeigt, daß bei den Beamten der Macht, gleich welcher politischer Gesinnung, sehr wohl ein Bewußtsein für diese Zusammenhänge vorhanden ist, auch wenn die Prügelknaben Pornographie und Kriminalität heißen. Sie sind nicht gemeint. Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, daß mit dem sich explosionsartig verdichtenden Medium Internet ein Phänomen entstanden ist, auf welches die Menschheit einerseits um den Preis ihres Wohlergehens nicht mehr verzichten kann, das aber andererseits nur sehr bedingt einer gezielten Beeinflussung unter-

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liegt. Insofern das feststeht, ist es an der Zeit, zu überlegen, ob oder wie die neuen technischen Medien für die eigene Arbeit nutzbar zu machen sind. Zuerst können wir konstatieren, daß durch das Internet die Zugangsschwelle zu geistigen Gütern sowohl technisch und zeitlich als auch, wie oben ausgeführt, politisch nivelliert wird. Wenn schon nicht gleiche Chancen oder gar Wohlstand für alle, so ermöglicht die Computertechnologie wenigstens die bescheidenere Online-Variante des Marxschen Traumes: Gleiches Wissen für alle. Die drei Ws überwinden im scheinbar irrsinnigen Puls der Datennetze respektlos politische, ethnische und geographische Schranken und schaffen in der Anonymität der Monitore das weltgroße offene Forum, in dem jeder allein nach dem zählt, was er zu sagen hat. Wissen und Meinung werden Gemeingut, und damit ist ein Schritt vollzogen, der in seiner Bedeutung durchaus mit Gutenbergs Erfindung verglichen werden darf, vielleicht sogar als ihre zeitgemäße Konsequenz betrachtet werden kann. Die heute ermöglichte Omnipräsenz der Gedanken wird neue Arbeits- und Diskussionsweisen fordern und fördern. So sind Spezialseminare vorstellbar, bei denen sich Teilnehmer auf verschiedenen Kontinenten befinden. Auch die Bedingung des kontinuierlichen unmittelbaren Gedankenaustauschs, welche die philosophiehistorisch wohl einmalige Jenaer Konstellation ermöglichte, ist mit dem neuen Informationsmedium jederzeit verfügbar. Nur scheinbar nebenher bietet sich ein Ansatzpunkt, mittels des Internet philosophisches Gedankengut an fachfremde Kreise heranzutragen, in ein gegenwärtig nichtexistentes, freilich längst überfälliges Gespräch mit nachwachsenden Generationen einzutreten. Dem steht eine noch vorwiegende Reserviertheit der traditionellen geisteswissenschaftlichen Fächer gegenüber. Hier wird oft unter dem plastikhäßlichen grauen Kasten, der die alteingesessenen Bücherwände unbeholfen kontrastiert, nur eine umständlicher zu bedienende Schreibmaschine verstanden. Man findet sich notgedrungen damit ab, weil der Verleger auf Disketten besteht. Insgeheim jedoch steht man treu zum Überkommenen. Denn das immer sorgsam ausgesperrte Populäre versucht als technischer Fortschritt getarnt den Dunst des Modernen in die Studierzimmer zu tragen. Hier gilt es, sich durch Verweigerung rein zu halten. Was vielhundert Jahre allein gut war, darf nicht plötzlich durch irgendwelche Moden angepöbelt werden. Vor diesem Hintergrund stellt die vorliegende CD-ROM-Edition eines Großteils der Historisch-kritischen Ausgabe von Nietzsches Werken durch den Verlag Walter de Gruyter & Co. gerade für die akademische Philosophie eine Zäsur dar, deren Möglichkeiten und insbesondere Perspektiven in ihrem Gesamt als neue Qualität verstanden werden können. Es handelt sich das soll deutlich herausgestellt werden bei der Pressung von zwanzig Bänden Nietzsche auf eine kaum handflächengroße Plastikscheibe keinesfalls um das bestimmende Motiv, Papier oder etwa Platz zu sparen. Wer sich auf eine solche Wertung einlassen mag, läuft schon bald Gefahr, in degoutierende Situationen zu geraten. So ist es durchaus vorstellbar, daß ein Proseminar mit einem Dutzend themenrelevanter Verweise aufwartet, von denen der Seminarleiter nur die Hälfte kennt, weil er nie die Zeit hatte, sich durch den gesamten Nachlaß eines Autors zu arbeiten. Und was den Studenten sagen, wenn sie wahrheitsgemäß behaupten, keine halbe Stunde zur Vorbereitung benötigt zu haben? In der Sprache der Zahlen gehen die -

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gewohnten Maßstäbe vollends verloren, so beansprucht der auf der CD vorhandene Textbestand, welcher gedruckt ein Regalbrett füllt, keine vier Prozent der Kapazität dieses Speichermediums. Umgekehrt ermöglichte dies, die vollständigen Werke von zwei Dutzend Philosophen auf einer einzigen, nur grammschweren Plastikscheibe unterzubringen, bei Verfügbarkeit der gerade in der Entwicklung befindlichen nächsten Lasergeneration nochmals ein Mehrfaches. Bei konsequenter Weiterführung derartiger Editionsprojekte und deren wünschens-

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Einbindung ins Internet ist der Zeitpunkt absehbar, zu dem beliebige philosophische jedem Punkt der Welt innerhalb von Sekunden erreichbar sind. Dazu käme der sofortige Zugriff auf die thematisch relevante Diskussion. Die technischen Voraussetzungen sind bereits heute gegeben. Freilich hat dies alles noch kaum Kontur, und die klassische Form des Bücherlesens wird es nicht ersetzen, wie jeder weiß, der jemals versucht hat, eine Monographie am Bildschirm zu lesen. Wohl aber werden die elektronischen Medien qualitativ neue Möglichkeiten bringen. Und die Nietzsche-Edition setzt dafür ein deutliches, insofern bestechendes Zeichen, als gerade Nietzsche wie kein Anderer das philosophische Denken der Moderne erneuert und von begrifflichen Käfigen befreit hat. So liegt es nahe, sich mit der

werter

Texte

von

Edition genauer zu befassen. Diese besteht aus einer CD und einem erfreulich schmalen Handbuch. Unter den Massen an Software, die käuflich zu haben sind, hebt sich die Edition schon durch den Preis heraus. Klarerweise ist diese Tatsache in der immensen editorischen Arbeit begründet, was aber um so mehr Grund gibt, dieselben Maßstäbe auch an die Bedienbarkeit bzw. das dieser zugrundeliegende Programm zu stellen, so daß die folgenden Anmerkungen nicht als bloße Krittelei gemeint sind. Installation und Bedienung des Programms sind für einen durchschnittlich PC-erfahrenen Anwender ohne Mühe zu bewerkstelligen. Nach Übertragung der Daten auf ein Festplattenlaufwerk wird bereits auf einem mittelschnellen System eine enorme Arbeitsgeschwindigkeit erreicht, fast alle Programmbefehle kommen in unüblichen Sekundenbruchteilen zur Ausführung. Von Warten wie in vielen anderen Programmen kann keine Rede sein. Vor allem die Suchfunktion, die quasi instantan mit der Eingabe des letzten Buchstabens mitteilt, das z. B. das Wort „sein" 4093 mal im gesamten Text vorkommt, wirkt ob ihrer unglaublichen Geschwindigkeit faszinierend. Gleich zu Beginn fällt aber auch die Merkwürdigkeit auf, daß sich das Programm zweisprachig auf dem Bildschirm präsentiert. Während der Textbestand glücklicherweise im Original belassen wurde, muß sich der Benutzer oder sollte ich schreiben: „User" bei der Bedienung auf ein technisches Englisch einlassen, welches nur versteht, wer sich hinreichend mit Software auskennt. Hingegen für einen Großteil der in Frage kommenden Kundschaft dürfte dieser Umstand eine Zumutung bedeuten und unnötige Zugangsschwellen aufbauen. So wird die oben formulierte Perspektive dahingehend relativiert, daß für viele Nutzer die gegenüber der gedruckten Ausgabe neuen Möglichkeiten gar nicht einsehbar sind, das Neue im Unzugänglichen verharrt. Davon abgesehen halte ich es für selbstverständlich, daß ein derartig ambitioniertes Produkt in der Sprache des jeweiligen Kunden zu bedienen ist, eine Auffassung, die sich selbst in der eitlen und anglozentrierten Softwarebranche schon vor Jahren durchgesetzt hat. Das Titelbild, wie auch das gesamte Programm, verzichtet weitgehend auf eine softwaretypische Farbigkeit und wirkt, verglichen mit anderen Softwareprodukten, bieder. Es entsteht der Eindruck, daß die Herausgeber die Ernsthaftigkeit des Vorhabens durch optisches Understatement unterstreichen wollten. Allerdings wird hier im Verwechseln von Zurückhaltung und Verzicht verschenkt. Optisch hätte sich der technische Umbruch in Gestalt eines Startfensters mit ansprechender graphischer Gestaltung und Schaltflächen für die jeweiligen Abteilungen bzw. Bände ohne Einbuße an Seriosität vollziehen lassen. Buch und Computer sind hinsichtlich Handhabung und Form gänzlich unterschiedliche Medien, die aus diesem Grund nicht aus demselben ästhetischen Blickwinkel betrachtet werden dürfen. Zum Vergleich mit einer zeit- und nutzergerechten Gestaltung kann ich die gerade in der Präsentation exzellente Microsoft-Enzyklopädie empfehlen. Dort spürt man die Hand des Gestalters, nicht anders als bei einer gelungenen Edition in Buchform. Auch sonst wird bei der NietzscheEdition mit computertypischen Gestaltungsmitteln sehr sparsam umgegangen. Zwar scheinen -

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einige Graphiken vorhanden, das Programm teilt aber beim Versuch, diese anzuschauen, nur lapidar mit, daß dies nicht möglich ist. Ihr sollt euch kein Bild machen! Andererseits wirkt die farbliche Hervorhebung bestimmter Textstellen (z. B. editorischer Anmerkungen) so auffällig, daß das Erscheinungsbild des Textes unangemessen verändert wird. Der Bildschirm sieht stellenweise aus, als ob jemand mit einem Markierer gekennzeichnet hätte. Hier fehlt die nötige Dezenz. Störender noch wirkt freilich der Entschluß, die bei Nietzsche häufigen gesperrten Begriffe unterstrichen darzustellen. Das dem Nietzsche-Leser gewohnte typische Schriftbild nimmt dadurch Schaden. Obendrein gehen die Unterstreichungen beim Übertragen in andere Programme verloren. Das Programm bietet bedauerlicherweise keine Möglichkeit, hier zu korrigieren, wie überhaupt jegliche Formatierungsfunktionen fehlen. Dazu gehörte wenigstens die Möglichkeit, andere Schriften, Schriftgrade und Zeilenabstände einzustellen, so daß der Nutzer in der Lage ist, das Erscheinungsbild des Textes seinen Präferenzen anzupassen. Ein Test im Schreibprogramm zeigt, daß dadurch die Lesbarkeit spürbar verbessert werden könnte. Vor allem die schnelle Ermüdung infolge der enormen Augenanstrengung, ein bei der Arbeit am Computer geläufiges Problem, könnte aufgehalten -

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werden. Standards wie eine Zoom-Funktion, insbesondere sehschwachen Nutzern hilfreich, sind ebenfalls nicht verfügbar. Hinzu kommt, daß die verwendete Schrift auf jüngere Leser den Eindruck eines Heimatromans vermittelt. Auch die jeweils drei leeren Zeilen, welche Seitenwechsel der gedruckten Ausgabe anzeigen, tragen nicht zur Förderung des Leseflusses bei. Hervorragend ist die Funktionalität der in beliebige Ebenen bis hin zum einzelnen Aphorismus reichenden Gliederung, die nicht nur einen raschen Vergleich verschiedener in Verbindung mit der komfortablen Nietzsche-Editionen ermöglicht, sondern auch Suchfunktion erlaubt, beliebige Textstellen sofort zu lokalisieren und auf den Bildschirm zu bringen. Hier liegt die eigentliche Stärke dieser Editionsform. Ein Index wird nicht mehr gebraucht, die softwaretechnische Suchfunktion leistet seine Arbeit unvergleichlich schneller und vollständiger. Sie ermöglicht es außerdem, Begriffe mittels einer booleschen Logik zu Komplexen zu kombinieren, so daß bei sachkundiger Handhabungjegliche Bezüge praktisch sofort und vollständig im gesamten Text oder beliebig großen Teilen aufgefunden werden können. Sogar die Uneinheitlichkeit von Nietzsches Orthographie ist ohne Schwierigkeiten zu umgehen. Ein letzter Grad an Perfektion wäre durch eine am Explorer-Programm des Windows 95 orientierte Umstellung der Tastaturbedienung zu erreichen, welche in Hinsicht auf Bewegungen in Baumstrukturen an Funktionalität nicht zu übertreffen ist. Softwaretechnische Fehler treten vergleichsweise wenige auf, mit Ausnahme der fehlschlagenden Graphikwiedergabe ist mir nur eine nicht immer präzise arbeitende Seitennumerierung aufgefallen, die manchmal mehrere Seiten überspringt, so daß der wissenschaftlich Arbeitende beim Zitieren nachprüfen sollte. Sieht man von der hinter den Möglichkeiten des Mediums zurückbleibenden Gestaltung ab, so läßt sich resümierend sagen, daß der Entschluß, Nietzsches Werke in Form einer elektronischen Ausgabe zugänglich zu machen, einen gelungenen Anfang bildet, dem in seiner Unzeitgemäßheit modernsten Denker des Abendlandes ein Medium zu erschließen, dessen Wirkungsmöglichkeiten seinem freigeistigen Impetus als Europäer und Weltbürger überhaupt erst gerecht zu werden vermögen: Grenz-überschreitend. -

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Axel Stoller

Personenverzeichnis

Abendroth 53 Abel, Günther 101, 145 Acampora, Christa Davis 574 Acampora, Ralph 553 Adler, Alfred 591 Adorno, Gretel 306 Adorno, Theodor W. 196 f., 201-203, 209-211, 214-220, 223-225, 227, 261-276, 279, 287 f., 293 f., 296 f., 300-317 Agamemnon 407 Aiharas, Setzuko 501

Aischylos 407,409 Alberto, Carlo 68 Albrechtsberger, Johann Georg

26

Alexander 342,348

Althaus, Horst 21 Anaximander 119,138 Anaximenes 138

Anders, Günther 295 Andreas-Salomé, Lou 30, 81, 96, 450, 591 Andromache 406

Angenvoort, Era 50 Angerer, Marie-Luise 120 Antigona 406,408-410 Antonelli, Franco 68 Antonius, Marcus 410 Apel, Karl-Otto 48 Arendt, Hannah 280,291 Aristipp 356,359 Aristoteles 271,275 Arminius 411 f., 425 Arrowsmith, William 558 Artaud, Antonin 108 f., 111 f., 114 Aschaffenburg, G. 74 Astyanax 406 Augustinus 393, 439

Augustus 406, 410 f., 415 f. Aurelius, Marcus 572 Austin, Norman 556 Avenarius, Ferdinand 454 Bach, Johann Sebastian 25 f., 28 Bacon, Francis 481 Balk, Friedrich 117 Barash, Meyer 567 Bataille, Georges 163 f., 166-175 Baudelaire, Charles 384 Bauemer, Max L. 50 Bauemler, Alfred 472 Beauvoirs, Simone de 497 Bebel, August 586 Beck, Ulrich 190 Beethoven, Ludwig van 26, 28 f., 419, 429 Becker, Sibylle 543, 544 Behler, Ernst 50, 108 Bekker, Paul 308,312 Benedetti, Gaetano 390 Benedictus 440

Bengtson, Hermann 413 Benjamin, Walter 166, 268, 384, 453 Benn, Gottfried 350

Berg, Leo 575 Berger, Klaus 238 Berkowitz, Peter 562 Berlinger, Rudolph 296 Berlioz, Hector 28

Bernhart, Joseph v. 439 Bertaux, Pierre 446 f., 451 Beyer, Uwe 294 Biedermann, Flodoard Frhr v.

Binswanger, Otto 66, 591 Bismarck, Otto v. 79, 584

417

Personenverzeichnis

600 Blanchot, Maurice 173 Bleichröder, Gerson 585 B leuler, Eugen 74 Bloch, Peter André 437, 439 f., 521 Bloch, Ernst 45, 182, 473, 478, 539 Blumenberg, Hans 355, 357, 360, 527 Blunck, Richard 19 Boccachio, Giacomo 423 Boehm, Rudolf 144 Bohley, Reiner 326,431 Böhme, Gernot 283 Bohrer, Karl Heinz 384 Bolte, Gerhard 263 Boor, Helmut de 346 Boorse, C. 84, 87 Bonaparte, Marie 593 Böning, Thomas 505 f., 524-526, 534 Borchmeyer, Dieter 238, 255 Borgia, Cesare 289 Born, Jürgen 454 Boss, Medard 144 Boundas, Constantin V. 118 Bourdeau, Jean 80 Bracken, Helmut 294 Brahm, Otto 582 f. Brahms, Johannes 308 Brandes, Georg 575 Breazeale, Daniel 570 Brecht, Bertolt 223 Bremer, Dieter 369 Brentano, Clemens 333, 361 f. Bronte, Charlotte 346, 362, 364 f. Brontê, Patrick 360

Brusq, Paul-Francois-Jean 67 Buchheim, Anna 383 Buddha 517 Buddensieg, Robert 329 f. Buhr, Gerhard 50 Bulman, Patricia 561 Bülow, Hansv. 27, 29 f. Burckhardt, Jacob 15, 72 f., 80, 558 f., 561 Burrow 54 Butler, Judith 216,487,488 Butzer, Ralph J. 389 Byron 420, 422 f., 431

Cacciari, Massimo 119 Cadello, J. 97

96, 231, 530,

Caesar 79,289,410,414 Caillois, Roger 567 Caligula, Claudius 406, 414-416

Callahan, D. 101 Cancik, H. 30 Canguilhem, Georges 90 Carl August 425 Cassandra 406-408,416 Cassirer, Ernst 523, 526 Cavell, Stanley 213 Caysa, Volker 44,310 Chambige 68 Châtelet, François 105, 120

Choisy

54

Civilis, Claudius 406,411 f. Clastres, Pierre 105 Clausius, Rudolf 463 Colli, Giorgio 9, 62, 64, 83, 108, 553, 591 Columbus, Christopher 479 Comte, Auguste 183

Connolly, William

555

Conrad, Hans 24 Conrad, Hermann 580 Conway, Daniel W. 213,553 Cornelia 406,416 Cuvier, George 110 Dächsei, August 67 Dächsei, Friederike 67 Dadoun, Roger 105 Darwin, Charles 188 f., 299 Dávila, Nicolás Gómez 484 Decher, Friedhelm 50 Dehmel, Richard 580 Deesz, Gisela 576 Defoe, Daniel 360 Delacroix, Eugene 357 Deleuze, Gilles 105, 108, 111-120, 171, 244, 359, 364 f. Demokrit 137-139, 180 Denkler, Horst 468

Derrida, Jacques 165, 167, 487-489, 491, 494-499 Descartes, René 173, 197, 435 Détienne, Marcel 50 Dettelbach, v. 54 Deussen, Paul 340 Dewey, John 252 Dieth, Carol 487 Dietsch, Peter 74

Personenverzeichnis

601

Dietz, Simone 522 Dilthey, Wilhelm 443,576 Diogenes Laertius 356, 369, 564

Förster-Nietzsche, Elisabeth 15, 71, 74, 114, 321, 326, 330 f., 335 f., 378, 395, 397, 402 Foucault, Michel 55, 110 f., 115, 117, 170, 172 f.,

Djuric, A. 145 Djuric, Mihailo 200, 476, 528 Dreßler, Roland 325

Frege, Gottlieb

Drusilla, Livia 414 f. Dubiel, Helmut 279 Duhamel, Roland 371 Dühring, Eugen 233, 503, 508, 583 Düttmann, Alexander G 223 Düver, Lothar 271

Eichberg, Ralf 582 Eichendorff, Joseph v.

383

Eisele, Ulf 540 Eiser, Otto 75, 186 Eisner, Kurt 582,584-587 Emerson, Ralph Waldo 225 Empedokles 138, 514 Emrich, Hinderck M. 237

175, 213, 282 f., 291 206

Freier, Hans 294 Freud, Anna 113 Freud, Sigmund 65, 67, 73, 80, 99, 111, 113, 294 f., 298 f., 302 f., 362, 365, 385-387, 397, 497, 591-594 Friedrich II. 425

Friedrich, Caspar David 357 Fritzsch, E. W. 31 Früchtl, Josef 293 Frühwald, Wolfgang 361 Fuchs, Carl 23 Fuchs, Gotthard 370 Fuchs, J. 61 Gäbe, Lüder 435 Gadamer, Hans-Georg 95, 138, 300

Engelhardt, H. Tristan 84 Engels, Friedrich 580, 584 Epiktet 213,572 Epikur 286 Epstein, Mark 436

Gagarin, Juri 482 Gajek, Bernard 361 Gallop, Jane 497 Gasser, Reinhard 295, 591-594 Gast, Peter 17,114,311,390

Ermanarich 27 Ernst, Paul 580 f., 583 f., 586 Euripides 409 Eysenck, Hans Jürgen 66

Gatens, Moira 121 Gehlen, Arnold 123, 133, 470, 474

Fagan, Teresa Lavander 561 Feder, Ellen K. 497 Féré, Charles 158 Fett, Ofhmar F. 266 Fichte, Johann Gottlieb 467, 534 Fieschi, Joseph 421 f., 427

Figal, Günter 129 f. Figl, Johann 240, 322, 327, 331, 333, 375, 435 f., 440

Fink-Eitel, Hinrich 213 Finley, Moses I. 561 Fischer, Karsten 294 Fisher, N. R. E. 568 Fleck, Ludwik 109 f. Fleischer, Margot 50 Fontane, Theodor 357, 358 Foot, Philippa 562 Forster, M. 178

Geiger, Ludwig 423 Gekle, Hanna 50 George, Stefan 580 Gerber, Gustav 525 Gerhardt, Volker 108, 130 f., 135, 181, 182, 256, 307, 322 f., 522, 524, 526, 533 Géricault, Théodore 357 Gerlach, Hans-Martin 582 Germanicus 411 Gerratana, Frederico 231 Gersdorff, Carl v. 63,231 Girard, René 294 Glaser, Horst Albert 540 Goch, Klaus 66,389 Gock, Anastasia Carolina Dorothea 451 Gock, Johann Christoph 447 Goethe, Johann Wolfgang v. 45 f., 67, 333, 343,

384, 417-420, 422, 425, 430, 438, 455, 515, 542, 555

Gontard, Susette 446 Gorz, André 287

602 Grabbe, Christian Dietrich 423, 429 Granier, Rainer 340, 373 Grätzel, Stephan 92, 96 f., 100, 102 f., 124, 135 f., 140 f., 143 f., 149, 154, 158 Griese, Volker 544

Grillparzer 29 Grivois, Henri 79 Gross, Otto 591 Gründer, Karlfried 50 Guardini, Romano 444, 446 f. Guattari, Félix 105, 110-113, 118-120 Günther, K. 216 Günzel, Stephan 128, 244 Habermas, Jürgen 135 f., 142, 201, 209 f., 245-251, 257-259, 263, 279, 280, 293, 304, 489, 495, 499 Haeckel, Ernst 459 Hamacher, Werner 165,212,487 Händel, Georg Friedrich 25 Hansis, Helmut G. 276 Hanslick, Eduard 28-30 Hardt, Michael 115 Hart, Heinrich 580 Hart, Julius 581 Hartmann, Eduard v. 231, 575-578 Härtung, Günter 430 Hastedt, Heiner 522

Hastings, James

Personenverzeichnis

Herzog, Roman 190 Hesiod 557, 559-561, 563, 570 Higgins, Kathleen Marie 97, 559, 562 Hildebarandt, Kurt 54, 75 Hillebrandt, Bruno 524, 581 Himmelmann, Beatrix 525, 529 Hitler, Adolf 313,484 Hocke, Gustav R. 53 Hödl, Hans Gerald 333 f., 342, 395, 437 Hoffmann, E. T. A. 418,427 Hoffmeister, Johannes 22 Hofmann, Johann Nepumuk 435 Hofmannsthal, Hugo v. 580 Holbach, Paul Thiry Baron d' 180 Hölderlin, Heinrich Friedrich 443, 447 Hölderlin, Johann Christian Friedrich 333, 339, 343, 443-452, 454 f., 506 Hölderlin, Johanna Christina 443, 447, 451 Hollingdale, Reginald John 553 f., 562 Hölthy, Ludwig Christoph Heinrich 333 Holz, Arno 580 Homer 137, 186, 333, 336, 412, 553 f., 556-565, 568-571, 573 f.

Honig, Bonnie

555

Honneth, Axel 215,259,279 Horaz 410 f., 415 Horkheimer, Max 196 f., 201-203, 209, 220, 224, 227, 261-276, 279, 290, 293 f., 296 f., 300-304, 307

559 Lawrence 555, 565 Hauer, Joseph Matthias 28 Häussermann, Ulrich 444 f.

Hübner, Kurt 255 Hübscher, Arthur 54

Haydn, Joseph 23,26,440 Haynes-Burton, Cynthia 555 Henrich, Eckhard 108 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 22, 115 f., 141 f., 163 f., 166, 169, 175, 200- 202, 204-206, 215, 227-237, 240-246, 251, 256, 270, 293, 296, 473, 488, 539, 579, 583 Heidegger, Martin 37 f., 78, 108, 118 f., 139, 144, 150, 165, 199, 204, 206, 213, 271, 369,473,

Ibsen, Henrik 584 f.

Hatab,

475, 482 f., 488, 495-497 Heine, Heinrich 333, 361, 383,418, 429 Hektor 406 Helmholtz, Hermann 385 Heraklit 138,405,480,564 Herder, Johann Gottfried 218, 360, 555 Herloßsohn, Carl 421 Herodot 333, 336, 412 f., 570

Hucbald 24 Humboldt, Wilhelm v. 205, 555 Hume, David 236 Husserl, Edmund 140-142, 144, 206 f.

Ihmig, Karl-Norbert 228 Ilges, F. Walther 421, 428 f. Irion, Ulrich 299 Iwanow 54

Jacobi, Jolande 73

Jaeger, Petra

118

Jahn, Friedrich Ludwig 111 Janz, Curt Paul 15-22, 25, 67, 334, 369, 450, 519 Jarrett, James L. 63 Jaspers, Karl 9, 70, 73, 135 f. Jauslin, Kurt 423

Personenverzeichnis

603

Jay, Martin 290 Jesenká, Milena 454 Jesus 78 f., 108, 337, 354, 358, 375, 394, 427, 430 Joas, Hans 223 Johann

(Erzherzog)

426

Joisten, Karen 475 Jonas, Hans 177, 182, 189-191, 478 Jung, Carl Gustav 54, 63, 65, 68, 73, 75 f., 79, 81, 591

Jung-Stilling, Heinrich

333

Kafka, Franz 120, 443, 452-455

Kafka, Georg 453 f. Kafka, Heinrich 453 f. Kafka, Hermann 453 Kafkajulie 453 Kamper, Dietmar 294 Kant, Immanuel 28, 63, 68 f., 114, 117 f., 195-199, 202 f., 210, 216, 220, 293, 298, 301-303, 460, 488,519,534 Kaufmann, Walter 293, 501, 557, 559, 562, 564 Kaulbach, Friedrich 299 Keil, Geert 522 Keil, Karl 431 Kein, Otto 49 Keller, Gottfried 575 Kemp, Friedhelm 361

Kennedy, J. M. 556 Kerner, Justinius 333 Khushf,G. 84 Kierkegaard, Sören 15 Kimmerle, Heinz 496 Kittler, Friedrich A. 50 Kittsteiner, Heinz Dieter

237 f.

Kiwitz, Peter 286 Kjaer, Jörgen 322 f., 331, 345, 349, 354, 375, 389, 442 Klein, Melanie 391 Klein, Wayne 559 Kleist, Heinrich v. 351, 353, 454, 533 Kleopatra 410 Kluge, A. 157 Knaupp, Michael 445 Knieling, Elisabeth 66 Koberstein, Karl August 330 Kofier, Leo 50 Kofman, Sarah 377,491 Köhler, Gert-Klaus 75 Köhler, Joachim 61,384,399,403

Kohlmann, Ulrich 293 Kohn, Selma 454 Kohut, Heinz 389 Kojève, Alexandre 116,169 Korff 53 Körner, Christian Gottfried 333 Köselitz, Heinrich 17, 23, 79, 84, 286 Köstlin, Nathanael 446 Klossowski, Pierre 170 Krämer (Famulus) 329

Krebs, Angelika 251,461 Kremer-Marietti, Angele 65 Kreon 408 Kroisos 412 Krug, Gustav 26, 328, 335 Kudielka, Robert 521 Kuhn, Thomas S. 109 Kurz, Heinrich 421 Kynast 54

f., 340, 372 f., 410, 437

Laas, E. 583 Lacan, Jaques 111, 163 f. Lachtermann, David R. 556 Lamarck, Jean-Baptiste 67,188 Lambert, Charles 561 Lamettrie, Julien de 180 Lampl, Hans-Erich 103,158 Landmann, Michael 483 Lange, Friedrich Albert 180, 188, 583 Laube, Heinrich 421

Leclire, Serge 105 Leibniz, Gottfried Wilhelm 117 Lemke, Harald 280, 282, 287, 291 Lenau, Nikolaus 333, 422 Lennox, J. G 84

Leopardi, Giacomo 238 f. Lepidus 410 Leriche, R. 90 Lesseps, Ferdinand 68 Lessing, Gotthold Ephraim

555

Leukipp

180 Levi, Hermann 31 Levi, Oskar 73

Lévinas,

Emmanuel 482

Lichtenberg, Georg Christoph 351, 364 Liliencron, Detlev v. 580 Link, Thomas 271 Linné, Carl v. 110

Lipiner, Siegfrid

591

Personenverzeichnis

604

Mette, Hans Joachim 54, 240, 442 Metternich, Klemens v. 423

Lippe, Rudolf zur 302 Lissmann, Christina M. 385 Liszt, Franz 27 f. Livia 406,416

Meyer, Guido 340 Meyer, Theo 524 Meysenburg, Malwyda v. 18, 381 Michel, Karl Markus 228 Mikulic, Borislav 126 f.

Livius 339

Lohenschild, Elisabeth v. 451 Lorenz, Alfred 316 Lorrain, Claude 377 Losch, Ursula 335,389 Löwith, Karl 71 Luhmann, Niklas 210 Lukács, Georg 293 f., 582

Lungstrum, Janet 555 Luther, Martin 428 Lyotard, Jean-Frncois 374, Lypp, Bernhard 50, 536

555

Maccabeus 572 Macherey, Pierre 117 Madonna 41 Maecanas 411 Maffesoli, Michel 50 Magnus, Bernd 559, 562 Mahler, Gustav 316 Malebranche, Nikolaus 178 Maletzke, Elsemarie 346 Malthus, Thomas Robert 471

Manger, Jürgen v. 468 Mann, Thomas 152 Marcuse, Herbert 282, 286 f., 592 Margreiter, Reinhard 473 Martin, Alfred v. 559 Martin, Nicholas 562 Martin, Richard P. 556 Marx, Karl 116, 279 f., 285, 579 f. Mattick, Paul 276 Maupassant, Guy de 66 Maurer, Reinhart 178, 182, 293, 307, 473, 475, 481

Maurer, Wilhelm 540

Maus, Heinz 266

May, Karl

539-551

Mayr, Ernst 188 f. McCarthy, Thomas 279 Mehring, Franz 580-585, 587 Meijers, Anthonie 525 Mendel, Gregor 188 Merleau-Ponty, Maurice 141, Métraux, Alexandre 145

144 f.

Miltiades 569 f. Mitscherlich, Alexander 592 Möbius, Paul J. 70,81 Moldenhauer, Eva 228 Momigliano, Amoldo 559 Montaigne, Michel de 212 Montinari, Mazzino 9, 19 f., 108, 442, 553, 591 Mordacci, R. 84 Morgenstern, Christian 580 Mörike, Eduard 443 Moritz, Daniel Gottlieb 111 Mottl, Felix 31 Mozart, Wolgang Amadeus 25 Mühl, Martin 251,259 Müller, M. 141 Müller, Michael 454 Müller, Renate G. 339 Müller, Rudolf Wolfgang 275 Müller, Wilhelm 404,422

181, 370, 436,

Müller-Lauter, Wolfgang 9, 92, 108, 179, 199, 480 Müller-Warden, Joachim 266, 275 Murat, Joachim 421 f. Murray, Arthur T. 553 Murray, Oswyn 559 Muschg, Adolf 123, 134

Nadeau, Maurice 105 Nancy, Jean-Luc 212 Napoleon 46,289,421 Nast, Immanuel 451 Negt, Oskar 287 Nehamas, Alexander 553 Nero 411,415 Neuffer, Christian 451 Newton, Isaac 228 Nietzsche, Auguste 328 Nietzsche, Erdmuthe 321, 326, 328, 331 Nietzsche, Franziska 15, 61, 80, 326-329, 353, 389, 390, 397, 400 Nietzsche, Joseph 67, 327, 395, 397, 448 Nietzsche, Ludwig 67, 321, 327, 397

Personenverzeichnis Nietzsche, Rosalie 327 f., 330, 340, 377

Niggl, Günther

438 Nisetich, Frank J. 553 Nishitani, Keji 501 f., 518 Noll 54 Novalis 418,443 Nussbaum, Martha 573 Nussbaumer-Benz, Uschi 553

Oehler, Adalbert 66 Oehler, David Ernst 329 f., 400 Oehler, Edmund 66 Oehler, Oskar 28,329 Oehler, Theobald 66 Oelmüller, Willi 473

Oger, Erik

371

Ohler, Eduard 340 Okin, Susan Moller 488 Olkowski, Dorothea 118

Onfray, Michel 286 Ortlepp, Ernst 329, 340, 417-431 Ottmann, Henning 183, 261, 293, 299 Overbeck, Franz 15, 61, 72, 75, 80 f., 90, 140, 450, 576 Ovid 333, 335

Paglia, Camille

50

Palestrina, Giovanni Pierluigi da 26 Paneth, Joseph 591 Pappas, Nickolas 553 Parkes, Graham 501,512 Parmenides 138

Parry, A. 556 Parry, Milman

556

Pascal, Blaise 67, 178

Patzig, Günter 206 Paul, Jean 425,427 Paulus 108, 178, 572 f. Penzo, Giorgio 581 Perikles 120 Pernet, Martin 380 Perseus 123 Pestalozzi, Karl 521

Peter, Karl Ludwig 330 Peters, Uwe Henrik 75 Petzold, Hilarión 48

Pfabigan, Alfred

353

Pfeiffer, Rudolf 556 Pfersmann, Otto 374

605

Pfitzner, Victor 572 f. Pfotenhauer, Helmut 127, 131, 153, 526 Philon 572

Pieper, Annemarie 521, 522 Pigenot, L. v. 451 Pindar 369, 553 Pinder, Caroline 335 Pinder, Wilhelm 328, 335, 336, 340, 372 f., 377, 379,402,410,437 Pividal, Raphael 105 Platen 333 Platon 67, 124,

137-140, 178, 181, 185, 190, 271, 273, 275, 330, 364, 413, 415, 481, 488, 492, 521, 524, 529, 575 Plechanow, Grigorij 584 Pletsche, Carl 564 Plotin 330 Plügge, Herbert 145 Plumpe, Gerhard 540-542, 551 Plutarch 213 Podach, Erich F. 61,80 Pöltner, Günther 372, 375 Pörksen, Uwe 526 Prado 68 Praz, Mario 562 Prinzhorn 53 Promies, Wolfgang 351 Proust, Marcel 120 Pucci, Piero 556 Pückler-Muskau 420 Pütz, Peter 271 f., 293 Pythagoras 25

Raabe, Wilhelm 467 f. Rabener, Gottlieb Wilhelm 423, 425 Rank, Otto 591

Rappe, Guido 138 Rath, Norbert 272, 274, 293 Rawlinson, Mary C. 497 Redfield, James 561 Reijen, Willem van 272, 293 Rembrandt 156 Ricardo, David 583

Richtsteig, Eberhard

412

Riedel, Manfred 293 Ries, Wiebrecht 322,455 Rimbaud, Arthur 348, 354, 364 Rist, Johann 430 Ritschi, Friedrich 72, 78, 369, 575

Personenverzeichnis

606

Rittig, Roland

419 Robilant 68 Rodbertus 583 Rohde, Erwin 15, 29, 96, 369, 450 Rose, Gillian 293 Rose, Pierre 105

Rosengarth

54

Ross, Werner 21, 61, 78, 143, 148 f. Rothschild 585 f. Röttges, Heinz 293

Rousseau, Jean-Jacques 38, 95, 123, 488, 515 Roux, Wilhelm 92, 178 Rückert, Friedrich 333

Rühmkorff, Peter 347 Russo, J. 556 Rutherford, Donald 553 Sade, RM. 84 Saint-Simon, Louis de 426 Salaquarda, Jörg 9, 10, 108, 129, 180, 188, 233 f., 239, 370, 376 Salin, Edgar 559 Sander, Hans-Dietrich 484 Sartre, Jean-Paul 78 Sauer, Elizabeth 555 Sax, Benjamin C. 555 Schaarschmidt, Carl 240 Schacht, Richard 562, 573 Schäfke, Rudolf 24,30 Scheer, Brigitte 528, 532 Schefïler 53

Scheler, Max 223

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 49, 443 Schenk, Emma 328 Schiller, Friedrich 53, 210, 282, 333,419, 425, 427, 562 Schipperges, Heinrich 97, 135, 136, 143, 147, 286 Schirmacher, Wolfgang 482 Schirnhofer, Resa v. 77, 450 Schlaf, Johannes 580 Schlechta, Karl 19,338 Schlegel, August Wilhelm 50 Schlegel, Friedrich 50 Schleiermacher, Friedrich 415 Schmeitzer, Ernst 20 Schmid, Holger 528 Schmid, Wilhelm 40,459 Schmid Noerr, Gunzelin 265-267, 270-272, 275,

293, 296

Schmidt, Alfred 296 Schmidt, Arno 353, 539 f., 544 f., 548-550 Schmidt, Hermann Josef 21, 322, 325, 327, 331, 335, 337, 343, 345, 353 f., 361, 370, 372, 377, 379 f., 383, 385 f., 388 f., 392 f., 395, 397, 399-403, 423, 428 f., 437, 449 Schmidt, Jochen 299 Schmidt, Rüdiger 50 Schmidt, Siegfried J. 540 Schmiedt, Helmut 539, 541 Schmitt, Richard 141 Schmitz, Hermann 145, 148 Schnabel, Johann Gottfried 360 Schnädelbach, Herbert 175, 256, 304-307, 522 Schoenlank, Bruno 580,583

Schönberg, Arnold 28 Schopenhauer, Arthur 9, 24, 50, 78,

105 f., 180, 310, 453, 462, 487 f., 509, 511, 515, 528, 535, 565, 583 f. Schrader, Mathis 322 Schrader, Wiebke 296 Schreber, Daniel Paul 111 Schröder 53 Schröder, Thomas 293 Schubert, Franz 404 Schulte, Günter 61, 148 f. Schulte-Sasse, Jochen 541 Schwab, Gustav 333,406 Schwabe 54 Schweppenhäuser, Gerhard 217, 293 Schweppenhäuser, Hermann 271 Seiner, Walter 115 Sembdner, Helmut 351 Seneca 213,468,572 Senger, Hugo v. 28 f. Servaes, Franz 582, 587 Shakespeare, William 423 Shive, David 556 Shusterman, Richard 115 Sieber 54 Siemens, H. 555 Simmel, Georg 24, 54, 156, 578 f., 586 Simon, Josef 108, 200, 205, 207, 296, 299 f., 528 Sinclair, Isaac v. 506 Smart, Barry 110 Smith, Gary 237 Sohn-Rethel, Alfred 275 f. Sokrates 107, 184, 283, 322, 341, 371, 491, 513,

569, 572

Personenverzeichnis

607

Soll, Ivan 573 Söllner, Alfons 263 Solomon, Robert C. 97, 559, 562 Solon 336,406,412-414,416 Sontheimer, W. 415 Sophokles 408 f.

Türcke, Christoph 263 Turk, Horst 50

Speck, Josef 341 Spencer, Herbert 183,188 Spengler, Oswald 54 Spinoza, Baruch de 45, 67, 108, 117 f., 222 Spitzer, Gerd 54 Stambaugh, Joan 501 Stegmaier, Werner 50, 370

Verdi, Guiseppe 120 Vernant, Jean-Pierre 50,561 Vetter, Helmuth 372,375 Villa, Dana R. 291 Vogel, Martin 49, 52 Vogl, Joseph 117

Steinhardt 330 Stekel, Wilhelm 397 Stender, Wolfram 263,264,271 Stendhal 213 Stern, Sheila 559 Sterne, Laurence 363 Steudlin, Rosine 451 Stierlin, Helm 65 Stingelin, Martin 525 Stolte, Heinz 540,544 Strange, Steven 553 Strauss, David Friedrich 15, 108, 373, 516, 554, 576 Strich 53 Sueton 410 Sünner, Rüdiger 293

Voisine, Jaques 438 Volk, Walter 74 Vollmer, Hartmut 541,543

Tacitus 339,411 f., 416 Taureck, Bernhard 167, 170 Taylor, Charles 144 f., 218

Theognis 339,341 Thorgeirsdottir, Sirgridur 498 Thumelicus 411 Thusnelda 411 Thyen, Anke 522 Tiberius 415 Tieck, Ludwig 360 Tiedemann, Rolf 294,306 Timm, Hermann 527 Tocqueville, Alexis de 473 Tongeren, Paul van 371 Tönnies, Ferdinand 583 Torrubia, Henri 105 Treiber, Hubert 385 Tugendhat, Ernst 177, 189 Türck, Hermann 576 f.

Uhland, Ludwig 443 Ulrich, F. 87,98

Vogt, C.

583

Voltaire 531

Volz, Pia Daniela 61, 63, 66 f., 72,

Vorberg, Gaston

74

f., 77,

80

66

Wachendorff, Elke 503, 505-516, 519 Wagner, Cosima 16,370,560 Wagner, Rainer 325 Wagner, Richard 15-17, 23, 26-30, 69, 72, 75, 78 f., 105, 120,305-317,370,421,511,514-516, 557

Walcot, Peter 561 Waldenfels, Bernhardt 141,144 Walther von der Vogelweide 345-347, 351, 404 Weber, Max 276,294,469

Wefelmeyer, Fritz 294 Wegerich, Ulrich 262, 264 f. Weiher, Anton 493 Weitzier, G Chr. 30 Weizäcker, Victor v. 92 Wellershoff, Dieter 350 Wellmer, Albrecht 279 Welsch, Wolfgang 498 Welzer, Harald 266 Wender, Dorothea 557, 561 Werner, Hans-Georg 421,423 Wetz, Franz Josef 527 White, Hayden 21 Widmann, Josef Victor 577 Wiedenroth, Hermann 541, 544, 550 Wiesler, Hermann 521 Wiggershaus, Rolf 263 f. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich v. 29 f., 330, Wilhelm

v.

Preußen 424

575

Personenverzeichnis

608 Wille, Bruno 582 Willers, Ulrich 370 Williams, Bernhard 212

Worringer, Wilhelm 54 Wulf, Christoph 294 Wurmser, Leon 400

Willige, Wilhelm

408 Windelband, Wilhelm 576 Winckelmann, Johann Joachim 555 Winter, Carl-Jochen 463 Wischke, Mirko 293 Witteis, Fritz 591 Wittgenstein, Ludwig 207, 257, 259 Wobbe, Teresa 487 Wolf, Friedrich August 555 Wolf, U. 44 Wölfflin, Heinrich 53 Wollschläger, Hans 539, 541-544, 549 f.

Xanthippos

570

Yovel, Yirmiyahu

222

Zakin, Emily 497 Ziemann, Rüdiger 322, 329, 361 Zimmermann, T. C. Price 438 Zitko, Hans 293 Zudeick, Peter 539 Zweig, Arnold 591 Zwick, Joachim 94

Autorenverzeichnis

Christa Davis Acampora University of Maine Department of Philosophy 5776 The Maples Orono, ME 04469-5776, USA

Hans Gerald Hödl Hoffeldstr. 1 A 2640 Gloggnitz

Martin Mühl Gundelhardstr. 8 65719 Hofheima.T. 7

-

Curt Paul Janz Brühlweg 42 CH-4132Muttenz

Renate G. Müller Postfach 102731

Kurt Jauslin

90518 Altdorf

Renate Müller-Buck Rappenbergheide 74 72070 Tübingen

Bernd Kulawik Einbecker-Str. 43 10315 Berlin

Cathrin Nielsen Hufelandstr. 11 10407 Berlin

Harald Lemke Markstr. 119 20357 Hamburg

Guido

Claudia Marra Nagasaki Junior

College of Foreign Languages

Birgit Recki Universität Hamburg Philosophisches Seminar

College Hill, Togitsu-cho Nagasaki-Ken, 851-21 Japan

Von-Melle-Park 6 20146 Hamburg

Erlenstr. 2a 04104 Leipzig

Reinhart Maurer Kapellenweg 5 38667 Bad Harzburg

Renate Reschke Schmollerstr. 9 12435 Berlin

Stephan Günzel

Christoph Menke

Schröderstr. 1 10115 Berlin

Universität Potsdam Institut für Philosophie Postfach 60 15 53 14415 Potsdam

Wiebrecht Ries Innstr. 14 30519 Hannover

Volker Caysa Heinrich-von-Kleist-Str. 50 48161 Münster-Nienberge

Ziegelweg 3b Wolf Dietrich Breite Str. 55 38640 Goslar Knut Markus

Ebeling Greifenhagener Str. 53 10437 Berlin

Figl Myrbachgasse

Johann

44027 Dortmund

Rappe Bettina-von-Arnim-Weg 5 76135 Karlsruhe

1

A- 1140 Wien

Karsten Fischer Lindenallee 35 14050 Berlin

Hans-Martin Gerlach

Stefan

Ebernburgweg9-ll

Schlagowski Moltkeplatz 5

50739 Köln

30163 Hannover

Christian Hick

A utorenverze ichn is

610 Wilhelm Schmid Mindener Str. 6 10589 Berlin

Axel Stoller Wolfstr. 18 06110 Halle

Wolf G. Zachriat Lützowstr. 514 10785 Berlin

Hermann Josef Schmidt Schöpplenberg 1

Sigridur Thorgeirsdottir University of Iceland Institute of Philosophy 101 Reykjavik, Iceland

Rüdiger Ziemann

58339 Breckerfeld Josef Simon Universität Bonn Philosophisches Seminar Am Hof 1 53113 Bonn Dirk Solies Carl Orff Sir. 47 55127 Mainz

Pia Daniela Volz

Fünf-Bäume-Weg 89081 Ulm Elke Wachendorff Am Zehentstadel 1 82205 Gilching

142/"

Dorfstr. 67 06571 Langenroda

Abbildungsverzeichnis

Titelbild: Friedrich Nietzsche, 1874; Standort: Goethe- und Schiller-Archiv; Foto: S. Geske Abb. 1: GSA 71/218; MP V 1, S. 15 Abb. 2: GSA 71/218; MP V 3, S. 4 Abb. 3: GSA 71/218; MP V 5, S. 10 Sämtliche Fotos:

Stiftung Weimarer Klassik