Nietzscheforschung: BAND 15 Friedrich Nietzsche - Geschichte, Affekte, Medien 9783050047119

Von der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung:"Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben" gehen noch imm

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Nietzscheforschung: BAND 15 Friedrich Nietzsche - Geschichte, Affekte, Medien
 9783050047119

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Friedrich Nietzsche – Geschichte, Affekte, Medien

Nietzscheforschung Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft

Herausgegeben von Volker Gerhardt und Renate Reschke in Zusammenarbeit mit Jørgen Kjaer Jacques Le Rider Annemarie Pieper Robert B. Pippin und Vivetta Vivarelli

Band 15

Friedrich Nietzsche – Geschichte, Affekte, Medien

Herausgegeben von Volker Gerhardt und Renate Reschke

Akademie Verlag

Die Drucklegung erfolgte mit Unterstützung der Landesregierung Sachsen-Anhalt (Regierungspräsidium Halle) Einbandgestaltung unter Verwendung eines Ausschnitts aus einem Exlibris für Torsten Unger von Olaf Gropp (Magdeburg). Mit Genehmigung des Künstlers.

Redaktion: Katja Deuretzbacher, Sebastian Döring und Veit Friemert

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-05-004440-8

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2008 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Veit Friemert, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer“, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

inhaltsverzeichnis

siglenverzeichnis .

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vorwort .

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leila kais zum tod von maud levy-rosenthal .

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renate reschke „[…] dass die weisen aller zeiten unhistorisch gedacht haben“ friedrich nietzsche über weisheit, historie und medien . . .

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marco brusotti „vergangenes und fremdes“ zum umgang mit fremdkulturellem in nietzsches zweiter Unzeitgemäßen Betrachtung . . . . .

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Dezső Csejtei, Anikó Juhász nietzsches geschichtsphilosophische perspektive nach dem ‚ende der geschichte‘ . . . . . .

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hans gerald hödl vom zweck der geschichtsschreibung: religionsgeschichte als kritische historie bei nietzsche eine skizze . . . . . . . . . . . . . .

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Christian Schärf das gesetz der philosophie nietzsches ‚geschichte‘ und wir .

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i. in memoriam

ii. friedrich nietzsche – geschichte und medien

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 Andreas Greiert interpretation, macht, geschichte Nietzsche für Historiker . . .

Inhaltsverzeichnis

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miriam ommeln erkenntnistheorie im virtuellen navigation am widerspruch nach dem gedanken von Nietzsches ‚Gegensatz-Charakter des Daseins‘

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Wolfgang Ernst Medienarchäologie nach Nietzsche .

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Annette Bitsch physiologische ästhetik nietzsches konzeption des körpers als medium .

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Volker Caysa Ein Versuch, Nietzsches Affektenlehre systematisch zu verstehen .

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udo tietz Die Grammatik der Gefühle Ein Versuch über Nietzsches Affektenlehre .

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stephan braun Nietzsches ‚Wende zur Schrift‘ Selbstbezüglichkeit, Performanz, Remediation holger brohm ‚Die verklärte Welt des Auges‘ der traum als medium des selbst

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III. Friedrich Nietzsches Affektenlehre

15. Nietzsche-Werkstatt, Schulpforta (.–. september 00)

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lars k. bruun Vergessen als der größte Affekt? Affekt, Vergessen und Gerechtigkeit in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben .

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Josef Ehrenmüller nietzsches psychologie bzw. physiologie der philosophie

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manos perrakis Nietzsches Musikästhetik der Affekte

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konstanze schwarzwald nietzsche und die große sehnsucht Ein Versuch, Nietzsches Affektenlehre und Anthropologie weiterzudenken

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Inhaltsverzeichnis paolo stellino Affekte, Gerechtigkeit und Rache in Nietzsches Zur Genealogie der Moral

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Niklas Corall heilige wesen – lebewesen formen des aktiven fatalismus bei kant und nietzsche .

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IV. Aufsätze volker gerhardt philosophieren im widerspruch zur philosophie

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Remedios Ávila Crespo nietzsche und das problem des nichts .

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tom stern Nietzsche on Context and the Individual

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Ralf Eichberg der zauberer bettelt um geld Ein Brief Thomas Manns an das Preußische Kultusministerium von 1931 und sein historisches Umfeld . . . . . . . .

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v. rezensionen Elke Angelika Wachendorff, Friedrich Nietzsche. Denker der Interkulturalität (Heinz Kimmerle) . .

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Beatrix Himmelmann, Nietzsche (Richard Schacht) .

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Christof Windgätter, Medienwechsel. Vom Nutzen und Nachteil der Sprache für die Schrift (Stephan Günzel)

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michael hertl, der mythos friedrich nietzsche und seine totenmasken. Optische Manifeste seines Kults und Bildzitate in der Kunst (Ralf Eichberg) .

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Heinz Schlaffer, Das entfesselte Wort. nietzsches stil und seine folgen (Nikolas Zok)

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nietzsche nach dem ersten weltkrieg, hg. von sandro barbera und renate müller-buck (Paolo Panizzo) . . . . . . .

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personenverzeichnis

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Autorenverzeichnis

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i

Gesamtregister der Bände 1–15 .

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siglenverzeichnis

Werkausgaben werkausgaben nach den kritischen werk-/briefausgaben von giorgio colli und mazzino montinari, berlin, new york ff. und 0. kgw kgb ksa ksb

kritische gesamtausgabe, werke kritische gesamtausgabe, briefe kritische studienausgabe, werke kritische studienausgabe, briefe

sowie nach der historisch-kritischen gesamtausgabe werke bzw. briefe, münchen ff. hkgw hkgb

historisch-kritische gesamtausgabe, werke historisch-kritische gesamtausgabe, briefe

Siglen einzelner Werke ac ba cv dd ds dw eh fw gd gg gm gmd

der antichrist über die zukunft unserer bildungsanstalten fünf vorreden zu fünf ungeschriebenen büchern dionysos-dithyramben david strauss, der bekenner und der schriftsteller (unzeitgemäße betrachtungen ) die dionysische weltanschauung ecce homo die fröhliche wissenschaft götzen-dämmerung die geburt des tragischen gedankens zur genealogie der moral das griechische musikdrama

Siglenverzeichnis

0 gt hl im Jgb m ma md nf nh nw phg se sgt st vm wa wb wl ws wzm za

die geburt der tragödie vom nutzen und nachteil der historie für das leben (unzeitgemäße betrachtungen ) idyllen aus messina Jenseits von gut und böse morgenröthe menschliches, allzumenschliches (i und ii) mahnruf an die deutschen nachgelassene fragmente ein neujahrswort an den herausgeber der wochenschrift Im neuen Reiche nietzsche contra wagner die philosophie im tragischen zeitalter der griechen schopenhauer als erzieher (unzeitgemäße betrachtungen ) sokrates und die griechische tragödie sokrates und die tragödie vermischte meinungen und sprüche der fall wagner richard wagner in bayreuth (unzeitgemäße betrachtungen ) über wahrheit und lüge im aussermoralischen sinne der wanderer und sein schatten wille zur macht also sprach zarathustra

Abkürzungen für Nietzsche­Periodika Nietzsche­Studien – Nietzsche­Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzscheforschung, begründet von mazzino montinari, wolfgang müller-lauter, heinz wenzel, hg. von günter abel, Josef simon, werner stegmaier, berlin, new york: walter de gruyter verlag Nietzscheforschung – Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche­Gesellschaft, hg. von volker gerhardt und renate reschke, berlin: akademie verlag

vorwort

der band  der Nietzscheforschung gibt anlass, dass sich die herausgeber kurz zu wort melden. zunächst ist es die tatsache, dass seit fünfzehn Jahren das Jahrbuch der Nietzsche­Gesellschaft erscheint. ein grund, so glauben wir, allen bisherigen autoren und allen an friedrich nietzsche interessierten lesern zu danken: den autoren für ihre beiträge, mit denen sie ein stück rezeptionsgeschichte der letzten zwei Jahrzehnte geschrieben und zugleich mit blick auf den weiterhin unbequemen, die geister scheidenden und sie profilierenden, Philosophen, auf sein Leben und sein Werk Perspektiven in das dritte Jahrtausend und bescheidener: in das zweite Jahrhundert seiner wirkungsgeschichte eröffnet haben; den lesern, dass sie diese denkwege kritisch begleitend angenommen haben und sie mitgegangen sind. zu danken ist darüber hinaus aber auch all jenen, die die entstehung der bände redaktionell unterstützt haben und der landesregierung sachsen-Anhalt, ohne deren großzügige finanzielle Unterstützung das Jahrbuch-Projekt nicht denk- und realisierbar wäre. seit dem band 0 erscheint das Jahrbuch mit einer jeweils schwerpunktorientierenden titelgebung: sichtbarer ausdruck dafür, dass es der Nietzsche­Gesellschaft und den Herausgebern mit dem veränderten Design des Covers nicht nur um eine größere ‚Vermarktungsstrategie‘ geht, sondern vor allem darum, optisch augenfällig zu machen, dass das Jahrbuch mit den thematischen Schwerpunktsetzungen sich als aktiver Posten in den unterschiedlichen Wissenschaftsdiskursen, die an Nietzsche partizipieren, versteht und für diese Diskussionen ein Podium sein will. In diesem Kontext freuen wir uns, dass mit dem Themenschwerpunkt von Band 15 nicht nur Wissenschaftler zu Wort kommen, deren Forschungsfelder im Raum von Geschichte, Medien und Affekten angesiedelt sind, sondern vor allem, weil die Idee zu dieser Schwerpunktsetzung vom 1. Internationalen Mainzer Nietzsche-Kolloquium (Leitung: hans-martin gerlach und karen Joisten), das am ./ 0. april 00 zum thema Von der Herkunft zur Zukunft. Mit Nietzsches ‚Geschichte‘ ins 21. Jahrhundert stattgefunden hat, ausgegangen ist. Die Beiträge von Marco Brusotti, Deszö Csejtei, Hans Gerald Hödl, Renate Reschke und Christian Schärf sind überarbeitete Fassungen der Vorträge, die in mainz gehalten worden sind. dazu konnte eine reihe weiterer prominenter autoren gewonnen werden. die neue kolloquiums-reihe sieht sich in der weiterführung einer Tradition, die von Hermann Josef Schmidt mit den Dortmunder-Nietzsche-Kolloquien



Vorwort

begründet worden war und die an der dortigen Universität durchgeführt worden sind. Das letzte kolloquium hat im sommer 00 zum thema „[…] gegen die Verlogenheit von Jahrtausenden“? Friedrich Nietzsche und seine Interpreten stattgefunden. diesem band ist ein gesamtregister beigefügt, mit allen beiträgen aus den bänden 1–15, sowie aus den ersten drei Bänden (außerhalb der Jahrbuch-reihe im akademieverlag), die noch als Jahresschrift der Förder­ und Forschungsgemeinschaft Friedrich Nietzsche e. V. erschienen sind. wir freuen uns, den lesern diese arbeits-, erinnerungsund übersichtshilfe zur verfügung stellen zu können. Renate Reschke

Volker Gerhardt

i. in memoriam

leila kais

zum tod von maud levy-rosenthal

in ihren fast einhundert lebensjahren war sie zeugin europäischer umbrüche und des schicksals deutscher schriftsteller im französischen und britischen exil geworden und hatte an der verbreitung der philosophie nietzsches in england mitgewirkt. mit dem namen von maud levy-rosenthal, geboren am . Juli 0 im londoner stadtteil bloomsbury, verbinden sich insbesondere diejenigen zweier männer, denen sie zu großer kultureller wirkung verholfen hat: oscar levy und albi rosenthal. ihr vater, oscar levy (–), war gewissermaßen der editorische und interpretatorische Impresario friedrich nietzsches in england. er kam im pommerschen stargard als erstes von fünf kindern eines vermögenden versicherungskaufmanns zur welt, promovierte in freiburg  zum doktor der medizin und emigrierte  nach england. dort versammelte er bald einen kreis junger literaten um sich, mit denen er auf eigene kosten die erste autorisierte englische gesamtausgabe der werke friedrich nietzsches vorbereitete und zwischen 0 und  in  bänden herausgab. zwischen den beiden weltkriegen wirkte levy im dienste der ‚europäischen botschaft‘ nietzsches, das heißt gegen den geistigen ruin, den die totalitären und dogmatischen ideologien – nationalismus, bolschewismus, rassismus und sozialdarwinismus – über europa zu verhängen drohten. Mit diesem Ziel vor Augen blieb Levy in vielfältigem brieflichen Kontakt oder persönlichen gespräch mit maßgeblichen intellektuellen seiner zeit, wie heinrich und thomas mann, annette kolb, walter rathenau, rené schickele, george bernard shaw, paul nicolas, norman douglas, lily braun, rudolf kommer, bruno frank, ferdinand hardekopf, hermann kesten, lion feuchtwanger, henry l. mencken oder hans herzl, dem sohn theodor herzls. maud levy-rosenthal legte aus heutiger sicht den ariadnefaden zu den damit verbundenen entwicklungen, denn sie war die einzige, die ‚pasha‘, wie sie ihren vater nannte, nicht nur bedingungslos unterstützte, sondern mit der er auch seine gedanken, hoffnungen, Sorgen und Sarkasmen mündlich wie brieflich zeitlebens offen teilte und die er in seinen kreis einführte. ihr abitur hatte maud an der lycée français de mayence (im damals französisch besetzten mainz) im Jahre  mit ausgezeichneten noten bestanden und anschließend an den universitäten von freiburg, florenz und heidelberg literatur studiert, aber sie war ihrem vater nicht nur eine fachkundige, sondern auch eine furchtlose und gewitzte bun-



Leila Kais

desgenossin. Beim ersten Aufflammen des Nationalsozialismus in Deutschland machte sie ihren bekannten mut: „unsere freunde, die nazis, scheinen fast ausgenaziet zu haben. mein vater denkt, die Junkers werden siegen. er sieht ja in all diesen bewegungen nur das ungeheure religiöse dieses landes, das ethische, moralische, welches immer wieder an ein anderes neues reich glaubt. doch sind alle parteien ja gleich religiös, das zentrum selbstverständlich, und die communisten glauben ja an den heiligen marx. und die Juden müssen dran glauben. all dieses plappere ich ja nur nach, eben diesem vater der, wenn ich nachdenke, als ursprung für all mein geplapper auf jedem gebiet zu nehmen ist!“ als die hoffnungen auf ein frühes ende des nationalsozialismus sich nicht erfüllten, leistete die ‚faithful daughter-secretary‘ (oscar levy) ihrem vater in seinem kampf um ein geistesaristokratisches europa wertvolle dienste. ganz aus seinem holz geschnitzt, schmuggelte sie nach  beiträge verschiedener schriftsteller für die exilzeitschrift Das Neue Tage­Buch in die druckerei nach amsterdam. wie ihr vater, ließ auch sie sich von den Repressalien des Totalitarismus nicht durch Verzweiflung, geschweige denn fügsamkeit kontaminieren, sondern begegnete ihnen mit einem unberührten lachen: „i am amused because h. mann and feuchtwanger have been deprived of their nationality“, schrieb sie einem freund, „pasha thinks it is the greatest honour.“ dieser mut war es wohl auch, der den mitbegründer der kommunistischen Jugendinternationale, willi münzenberg, dazu veranlasste, mit ihr kontakt aufzunehmen: „ich sprach gestern mit herrn ernst toller, dem ich ihre adresse verdanke, über verschiedene arbeiten an der kulturfront“, schrieb er ihr am . april  aus paris. mit diesem brief versuchte er, sie für seine sache zu rekrutieren: „ernst toller hatte die meinung, dass sie bei der verwirklichung verschiedener geplanter arbeiten mithelfen koennten, und ich haette sie gern deswegen gesprochen.“ mit dem dichter und revolutionär toller war levy-rosenthal persönlich gut bekannt. zu dem von münzenberg vorgeschlagenen treffen kam es allerdings nicht. zu sehr war sie am unabhängigen denken nietzsches geschult, als dass sie sich einer bestimmten politischen richtung hätte verschreiben können. der erfrischende charme, den diese haltung der schönen jungen frau verlieh und den sie bis an ihr lebensende bewahrte, betörte die literarische männerwelt. in einem brief an oscar levy schwärmte der jüdische Journalist rudolf kommer: „schon längst wollte ich ihnen schreiben, was sie wahrscheinlich besser wissen, daß, unbeschadet ihrer dichterischen und philosophischen schriften, maud zweifellos ihr meisterwerk darstellt. diese meine, vielleicht unmaßgebliche meinung, wird von allen meinen freunden geteilt, die sie kennenlernen. der amerikanische disraeli, oder, wenn sie wollen, der amerikanische lord reading, mr. hesnard, mr. baruch, für den sie im letzten sommer einige arbeiten machte, ist von ihr jugendlich begeistert. dieser ältere herr, ein altersgenosse    

maud levy (wiesbaden) an mme. brie (freiburg). unveröff. brief vom . .  im privatbesitz von Julia rosenthal, oxford. dies. an dr. nagendra n. gangulee. undat., unveröff. brief aus dem Jahr  im privatbesitz von Julia rosenthal, oxford. willi münzenberg an maud rosenthal. unveröff. brief vom . .  im privatbesitz von Julia rosenthal, oxford. ebd.

Zum Tod von Maud Levy­Rosenthal



von ihnen, lieber doctor, hat die schönsten und interessantesten frauen des letzten Jahrhunderts gekannt – auch er war von maud entzückt. ihr takt, ihre grazie, ihr lächelnder verstand, ihre fraulichkeit im edelsten sinne des wortes, sind unnachahmlich. im letzten september versuchte ich, maud zu überreden, nach amerika überzusiedeln. die neue welt scheint aber nicht so stark attractiv zu wirken, wie der alte papa. der haupteinwand gegen die von mir vorgeschlagene auswanderung war die dadurch bedingte trennung von ihnen. ich beglückwünsche sie aufrichtig zu der zuneigung ihrer tochter. ich kenne keinen zweiten vater, der von seiner tochter eine ähnliche haltung erwarten dürfte.“ dass ihre verehrer jener zeit ‚allesamt sozialistisch‘ waren, hielt maud, wie sie einmal sagte, davon ab, ihren aufwartungen nachzugeben. im dezember  lernte sie jedoch albi (albrecht gabriel) rosenthal kennen, der seinerzeit am warburg institut, das sich gerade aus hamburg nach london gerettet hatte, kunstgeschichte studierte. es beeindruckte sie, dass er sich allein der kultur verschrieb. geboren am . oktober , war er der älteste sohn des kunsthistorikers erwin rosenthal, der das seit  bestehende antiquariatsgeschäft in der münchner brienner straße  (heute ) als Juniorchef geleitet hatte. durch seine heirat mit der florentinerin margherita olschki, der tochter leo olschkis, verband albis vater zwei der angesehensten europäischen antiquariatsadressen. Über drei Generationen hinweg hatten die Rosenthals als Kaufleute und Gelehrte eine wichtige mittlerrolle im kunst- und wissenschaftsbetrieb münchens inne. nach seinem studium bei fritz saxl und rudolf wittkower erlangte albi bald internationales ansehen als kenner in fragen der authentizität von autographen. als er  den auftrag erhielt, die sammlung des französischen pianisten alfred cortot in lausanne zu schätzen, machte er die bekanntschaft von otto haas, der ebenfalls als Jude deutschland hatte verlassen müssen und dessen bedeutendes londoner musikantiquariat, welches seinerseits aus dem ehemals berliner antiquariat leo liepmannssohn hervorging, er kurz vor dessen tod im Jahr  übernahm. damit begründete albi rosenthal ein bald europaweit bedeutendes geschäft für musikautographen und stellte sich in die tradition seines münchner großvaters Jacques rosenthal, dessen erster selbstständiger antiquariatskatalog ebenfalls der musikliteratur gewidmet war. albi und maud heirateten erst  – all die Jahre vorher hätte eine heirat mit einem ‚deutschstämmigen‘ emigranten den staatsbürgerlichen status von maud betroffen. sie hatten vier kinder, von denen eines starb. angeregt durch maud, sammelte albi schon früh seltenste nietzsche-autographen, von denen er einen großteil dem nietzsche-haus in sils-maria großzügig zur verfügung stellte, etwa nietzsches so genanntes ‚testament‘ vom mai . dort wurde am . Juli 00, wenige wochen vor albis tod, auch das oscar-Levy-Archiv gegründet, in dem zahlreiche Briefe, Fotografien und die private Bibliothek des nietzsche-herausgebers archiviert sind. maud levy-rosenthal starb am . dezember in ihrem haus in boars hill, oxford. bis zuletzt hatte sie durch ihre klaren erinnerungen und erzählungen an einer neuauf-

 

rudolf kommer (new york) an oscar levy (london). unveröff. brief vom . .  im privatbesitz von Julia rosenthal, oxford. vgl. claudia herstatt, Feines für Liebhaber. Nach 25­jähriger Pause erstmals wieder ein Katalog des Musikantiquariats Otto Haas, in: die zeit (hamburg) vom . . 00.



Leila Kais

lage der schriften und briefe ihres vaters mitgewirkt. sie wurde im laufe ihres langen lebens für viele zum inbegriff einer verlorenen, bewegten zeit, in der europa in den geburtswehen lag. der euphorie und dem scheitern hatte sie dieselben sophismen entgegengesetzt, mit denen sie auch dem tod begegnete, jener, wie sie schrieb, „letzten endgültigen taktlosigkeit des lebens“.

 

steffen dietzsch, leila kais (hg.), Oscar Levy. Nietzsche verstehen. Essays aus dem Exil 1913– 1937, berlin 00; oscar levy, Der Idealismus – ein Wahn, hg. von leila kais, berlin 00. maud levy an gerd [n. n.] unveröff. brief vom . .  im privatbesitz von Julia rosenthal, oxford.

ii. friedrich nietzsche – geschichte und medien

renate reschke

„[…] dass die weisen aller zeiten unhistorisch gedacht haben“ friedrich nietzsche über weisheit, historie und medien

wir brauchen historie, aber wir brauchen sie anders, als sie der verwöhnte müßiggänger im garten des wissens braucht. friedrich nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben ich versuche auf meine weise eine rechtfertigung der geschichte. friedrich nietzsche, Nachgelassene Fragmente, 

das zitat des titels stammt aus friedrich nietzsches aufzeichnungen im umfeld der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung aus dem Jahre . die passage ist nicht in den text von Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben aufgenommen. aber sie verdient beachtung aus dreierlei hinsicht: zum einen, weil sie als eine sich annähernde formulierung an den abschnitt 0 zu lesen ist, in dem nietzsche seine alternative zur „historischen Krankheit“ (KSA, HL, 1, 329) begrifflich einzukreisen sucht und mit dem Ergänzungspaar ‚unhistorisch‘ und ‚überhistorisch‘ operiert und keinen Zweifel daran lässt, wie es sehr ihm daran gelegen ist, nicht nur die diagnose einer wesentlichen Kulturkrankheit der Moderne zu stellen, sondern ihr auch, wenigstens intellektuell und als kern einer „gesundheitslehre“ (ebd., ), ein gegenmittel anzuzeigen und dessen potenzielle Wirkungskraft; zum anderen, weil er auf eine überraschende Weise dieses ‚Gegengift‘ bereits in den großen Weisheitslehren der alten Völker findet und in den „Weisen aller Zeiten“ (KSA, NF, 7, 670) diejenigen erkennt, die exemplarisch ‚unhistorisch‘ gedacht, gelehrt haben, ihr wissen quasi in aeternum wussten und es in diesem bewusstsein erzählten, aufzeichneten und weitergaben. sie haben eine kontinuität des wissens begründet, die erst die moderne imstande war, auszuhöhlen, zu unterbrechen und als anachronistisch zu den geschichtlichen Akten zu legen im Begriff war; drittens schließlich, weil nietzsche genau dagegen interveniert mit einer aufsplittung des unhistorischen in seine sinnvolle und in seine „schlecht-historische“ (ebd.) version. mit der 

„So bedarf die Wissenschaft einer höheren Aufsicht und Ueberwachung; eine Gesundheitslehre des Lebens stellt sich dicht neben die Wissenschaft; und ein Satz dieser Gesundheitslehre würde eben lauten: das unhistorische und das ueberhistorische sind die natürlichen gegenmittel gegen die Ueberwucherung des Lebens durch das Historische, gegen die historische Krankheit“ (KSA, HL, 1, ).



Renate Reschke

bloßstellung der letzteren, die er im zeitgenössischen bildungssystem mit seiner für ihn unerträglichen Mediokrität entdeckt und für die er neben der allgemeinen Tendenz zur „Maschinen-Cultur“ (KSA, WS, Aph. 220, 2, 653) vor allem die kulturelle Beschleunigung des gesamten gesellschaftlichen lebens, den veränderten materialen und geistigen Rhythmus der Kultur, ihre Amerikanisierung, verantwortlich macht. in ihrem gefolge haben die massenmedien, das heißt für die zeit um 0: die massenpresse und ihre menschliche spezies: die Journalisten, die herrschaft übernommen, und nietzsche sieht sie als die neuen herren über die historie. ihr zugriff auf sie und die praxis wie die inhalte ihrer vermittlung sind auf eine folgenreiche weise ‚unhistorisch‘, wobei das attribut jetzt radikal negativ konnotiert ist, weil Nietzsche mit ihm ihren Anspruch, das ‚richtige‘ Bild von Geschichte in Wort- und Bild-Szene zu präsentieren, nicht nur attackieren, sondern vernichtend demaskieren will. Diese doppelte konnotative Besetzung nimmt der vorliegende beitrag auf, um transparent zu machen, wie sehr das mehrdeutige verständnis des ‚Unhistorischen‘ es Nietzsche ermöglicht, seine Kulturkritik zu positionieren, die mehr sein will als bloße deskriptive Abwehr. Dabei wird auf die implizite Dialektik zum ‚Überhistorischen‘ nicht ausdrücklich verwiesen, sie gilt vorausgesetzt und ist vielfach gewürdigt worden. vielmehr wird der bogen geschlagen von seinem plädoyer für eine weisheit, die ihrer ‚unhistorischen‘ verfahrensweise wegen als sichere statthalterin von historie zu verstehen ist, über die bestimmung des ‚unhistorischen‘ selbst als einer gewollten opposition und alternative gegen die gebrechen eines historistischen geschichtsverständnisses bis zur Hochrüstung des ‚Unhistorischen‘ zum Instrument einer Kulturkritik der Moderne und, durch die in sich gekippten Konnotationen in pejorative Deutungsakzente, als Angriff auf die sich etablierende medienwelt mit der ihr eigenen bedingungslosen, aber kalkulierten Blindheit gegen die Bedeutung der geschichtlichen Dimension aller Kultur. Nicht zufällig verstehen moderne Medienkritiker und Medienästhetiker ihre Vorbehalte als Radikalisierung der Nietzscheschen Position. Weil: Was sie beobachten, ist die eskalierende Potenz dessen, worauf der Philosoph bereits am Beginn der neuen, schönen Medienwelt aufmerksam und seine Bedenken zu Protokoll gegeben und zum Programm seiner Kritik gemacht hat. vom kohelet (Das Buch Prediger) der Heiligen Schrift des alten Bundes und seinen selbstzweiflerischen Gewissheiten über die Einzigartigkeit unhistorischer Weisheit über Nietzsches groß gedachte Historien- und Medienkritik und Walter Benjamins genialen Gedanken über die Geschichte in ihrer Unverzichtbarkeit für die Kultur bis zu Jean Baudrillards genauer Kritik der „Semiokratie“ als dem neuen wertgesetz der gesellschaft und 





‚Abgeirrt‘ steht für die Tendenz der Kultur in ihre Überhastung, in einen Geschwindigkeitsrausch (Dazu: Renate Reschke, Einspruch gegen „abgeirrte Cultur“. Zu einigen Kontexten Nietzschescher Kulturkritik, in: dies., Denkumbrüche mit Nietzsche. Zur anspornenden Verachtung der Zeit, berlin 000. „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“. Nietzsche und die Erinnerung in der Moderne, hg. von Dieter Borchmeyer, Frankfurt am Main 1996; Katrin Meyer, Ästhetik der Historie. Friedrich Nietzsches „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“, Würzburg 1998; Christian Lipperheide, Nietzsches Geschichtsstrategien. Die rhetorische Neuorganisation der Geschichte, würzburg . Jean baudrillard, Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen, berlin , .

„[…] dass die Weisen aller Zeiten unhistorisch gedacht haben“



an der Simulakren-Verkommenheit des Mediums Film, zeigt der Bogen die Spannung in eine fragwürdige Auflösung: Im Retro-Scenario cineastischer Medienkultur verschwindet geschichte in den opulenten bildern der historie, die nur noch leere repräsentation sind. Oder wie im Falle der amerikanischen Science-fiction-serie Andromeda, in der ‚Nietzscheans‘ den Bildschirm bevölkern und, einem Nietzsche ohnehin nicht kennenden Massenpublikum, eine neue Spezies Mensch vorgeführt wird: aus dem geschichtlichen Nichts gekommen, aber durch den Namen mit der Gloriole einer großen Geistesherkunft und (schein-)historischer Legitimation versehen, die weder Nachfrage noch Kritik erlauben. moderne massenmedien als die falschen, demagogischen weisen, die mit ‚unhistorischer‘ Begehrlichkeit sich an einer Geschichte schadlos halten: Geschichte, an der auch die Kultur insgesamt Schaden nimmt. Ihnen kommt das Attribut des ‚Unhistorischen‘ in seiner negativsten konnotation zu.

i die worte der weisen sind wie stacheln und eingeschlagene Pflöcke […]. (das buch Kohelet, . )

„gewiss ist wenigstens, dass die weisen aller zeiten so unhistorisch gedacht haben und dass durch Jahrtausende von historischen Erlebnissen auch keinen Schritt breit mehr weisheit zu erlangen ist“ (ksa, nf, , 0). so lautet der vollständige satz des titelZitats. Nietzsches gedankliche Hinführung zu ihm erfolgt über die Feststellung, dass in unhistorischen kulturen sich „jener allen geschichten im grossen und kleinen zu grunde liegende ursinn von innen heraus hellseherisch erleuchtet, so dass die mannichfachen Hieroglyphen ihn nichts mehr kümmern“ (ebd.). Ihr Wissen über das Dasein entstammt grundlegenden Lebenserfahrungen, nicht logischer Erkenntnis oder wissenschaftlicher Analyse. Es erhebt keinen Anspruch auf irgendeine Prägnanz seiner Aussagekraft; es bedarf keiner historischen Rückversicherung und Rechtfertigung. Die Weisen können für ihr Wissen von seiner zeitlosen Gültigkeit ausgehen, weil es, ohne auf Abhängigkeiten von historischen Voraussetzungen hinweisen zu müssen, unhistorisch wie es ist, „in jedem Zeitmoment, jedem Erlebnis, unter jedem Himmel und jedem Volke, den Sinn des Menschenlebens überhaupt“ (ebd.) erblicken kann. Und dies nur kraft der intensiven Beispielhaftigkeit der wahrgenommenen und erzählten Geschichte(n). im gegensatz dazu benötigt der moderne mensch geschichtliche begründungen für alles, was geschieht: „wir fordern Historie“ (ebd.); diese Forderung entlarvt Nietzsche als Ausdruck einer kranken Kultur, schwacher Persönlichkeiten, für die alles Geschichtliche die Krücken sind, sich im Gegenwärtigen aufrecht zu halten. Mit „dieser Manier“ ist der moderne mensch „so weit als möglich von jenem unhistorischen betrachten und weisewerden entfernt“ (ebd.). er ist ein mensch der historie, bestenfalls der klugheit. die Differenz zwischen Weisheit und Historie, Weisheit und Klugheit ist unüberbrückbar. Sie aufheben zu wollen, gehört unter die Kategorie radikaler Bildungsumkehr. Alle Überlegungen dazu sind kulturkritische Unternehmungen, mit dem Ziel der Desavouierung der 

ders., Geschichte: Ein Retro­Scenario, in: ebd., .



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gegenwärtigen, in die Zukunft perennierenden Misere und zugleich die Formulierung von vorstellungen, der modernen kultur ihren ‚historischen sinn‘ zu nehmen in einer art katharsis, indem ihr dieser sinn als kultur zerstörend, mittelmäßig und lebensbedrohend vor Augen geführt wird: Daraus könnte der innovative Schub eines neuen historischen sinnes erwachsen. der bleibt für nietzsche aber redlicherweise im schatten der geschichte. historischer sinn versus unhistorische weisheit: warum faszinieren die großen weisheitslehren? Des alttestamentlichen Kohelets Wissen war praktische Lebenslehre; er hat es in bildhafter gestalt formuliert, als anweisungen zum gottgefälligen leben. unmittelbarer erfahrung entstammend, werden sie als lehrsprüche literalisiert und zu sentenzen eines Welt- und Menschenwissens, das sich ebenso aus genauer Menschenkenntnis speist, wie aus der Kenntnis der sozialen, kulturellen, religiösen Umstände, für die die Verhaltensweisen der Menschen Ausdruck ihrer Fähigkeit sind, mit ihnen umzugehen. der kontext der zeitbezogenheit macht den anspruch transparent, weisheit zu sein, die keiner geschichtlichen Begrenztheit unterliegt, sondern allgemeingültige Aussagekraft besitzt. Alttestamentliche Weisheitslehren sind in der Allgültigkeit ihres Wissens nicht auf der zeitachse anzusiedeln, sondern auf der der erfahrung, die sich aus dem gegenwärtigen speist und doch schon immer gewesen ist und immer die gleiche sein wird. nietzsche sieht als praxis des weisen dessen willen, erleben zu wollen: „Aus der Praxis des Weisen: um weise zu werden, muss man gewisse erlebnisse erleben wollen, also ihnen in den rachen laufen“ (ksa, ws, aph. , , ). des kohelets grundlegendste Einsicht im Prolog: „Ein Geschlecht kommt, und ein anderes kommt: doch die Erde bleibt ewig bestehen […] was gewesen, dasselbe wird (wieder) sein, und was geschehen, wird (wieder) geschehen: nichts neues gibt es unter der sonne. sagt man von etwas: ‚sieh, das ist neu!‘, so war es schon längst zu den Zeiten, die vor uns gewesen. Kein Gedenken bleibt den Früheren; aber auch den Späteren, die kommen, wird kein Gedenken bleiben bei denen, die noch später sind“, widersteht jedem Anflug von historischem Verständnis und kulminiert in der Erkenntnis der Begrenztheit von Weisheit selbst: „Ich richtete mein sinnen darauf, mit hilfe der weisheit alles zu untersuchen und zu erforschen, was unter dem Himmel geschieht […] Ich sah alle Werke an, die unter der Sonne geschehen; da zeigte sich: Alles ist Nichtigkeit und Haschen nach Wind […] Ja, ich habe ein Höchstmaß an Weisheit erworben […] Mein Sinn lernte Wissen und Weisheit in Menge kennen. dann richtet sich mein sinnen darauf, weisheit und wissen, torheit und unverstand zu durchschauen. Da erkannte ich, daß auch dies (nur) Haschen nach Wind ist.“ kommentatoren haben mit Recht darin „eine bis heute zeitlos wirkende Lebenserfahrung“ gesehen und deren ungebrochene Wirkmächtigkeit auf eine auffällige „Geschichtslosigkeit [des] welt- und menschenbildes“ zurückgeführt. Die sich paradox auch in dem berühmtesten  

 

Der Prediger (hebräisch/deutsch), hg. von rudi kroeber, berlin , ff. Das Buch Prediger (Kohelet oder Ecclesiastes) (i. –), zit. nach: Die Bibel. Die heilige Schrift des alten und neuen Bundes (Jerusalemer bibel), hg. von diego arenhoevel, alfons deissler, anton vögtle, leipzig o. J., 0. ebd., 0f. Der Prediger, (Einleitung), 18. Die Geschichtslosigkeit ist in der hebräischen Literatur solitär, weil diese „sonst ganz vom historischen werden erfüllt und getragen ist“ (ebd.). außerdem fehle, wie in

„[…] dass die Weisen aller Zeiten unhistorisch gedacht haben“



Abschnitt bestätigt findet: Dass alles („jedes Vorhaben unter dem Himmel“0) seine stunde und seine zeit hat, dass es eine zeit gibt für gegensätzliches handeln im nacheinander, dem aber keine wirkliche historische Komponente zukommt: Geburt und Tod, aufbau und zerstörung, liebe und hass, krieg und frieden, freude und leid, heilung und Schmerz, Gespräch und Schweigen; in der Palette menschlichen Seins sind sie als archetypische konstanten aufeinander bezogen und unterliegen als existenzielle grundmomente dem Prinzip der erkannten Nichtigkeit. Sie konfigurieren ein Panorama von Weltbezogenheit, das keinen Chronisten braucht, wohl aber denjenigen, der es immer wieder vor Augen zu stellen weiß. Um auf diese Weise „den Menschen für alle Schicksalsschläge gleich fest hinzustellen, für alle Zeiten zu wappnen“, so definiert Nietzsche im winter / ‚weisheit‘ (ksa, nf, , ). Unter dieser Optik favorisiert er die Weisheit des Unhistorischen. Also sprach Za­ rathustra ist in diesem sinne der versuch der wiederholung und wiederbelebung solcher weisheitslehrer und weisheitslehren. wobei die kontraposition zum christlichen weisheitslehrer, den es vom see genezareth nach Jerusalem gezogen hat, demonstriert werden soll. mehr allerdings bedeuten nietzsche die wilde weisheit des dionysos, die fröhliche, übermütige der Satyrn, die des tiefblickenden Silen. In ihnen offenbart sich, was jedem historischen Blick zwangsläufig entgehen muss: das, was an der Existenz des menschen wesentlich ist, dass es das beste wäre, nicht geboren zu sein und dass, wonach menschliche existenz leidend strebt: „lust will aller Dinge Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!“ (ksa, za, , 0). ‚Ewigkeit‘ ist die größstmögliche Entfernung von jeder Historie, der am weitesten reichende Ein- und Widerspruch zum historischen Weltblick. Nur wer unter dem Horizont des Unhistorischen denkt, dem kann ‚Ewigkeit‘ ein Thema sein. Und der kann, wie der attische tragödienchor, mitleidend und daher weise, „aus dem herzen der welt die wahrheit“ (KSA, GT, 1, 63) verkünden. Es gehört zum Unhistorischen der Weisheit, nicht beständig nach gründen und nach wahrheit suchen zu müssen, weil man, so nietzsche in einer notiz von , zugrunde geht, wenn man stets zu den gründen gehe (ksa, nf, 13, 562) oder der Wahrheit ausgesetzt ist. Weisheit schützt vor zu großer Erkenntnis; sie ist ein schutz, der alles lebensunerträgliche auffängt. wie die kunst bewahrt auch die Weisheit vor dem Grauen und dem Ekel am Dasein. Kathartisch existenziell und ohne Reflexion auf Gründe noch auf ihr Gewordenensein oder ihre temporäre Gültigkeit. Es ist eine Illusion, zu glauben, mit der geschichtlichen Perspektive in die Nähe der Weisheit zu

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der altorientalischen weisheitsliteratur insgesamt, jeder hang zu systematischer darstellung: „die Lehrer altorientalischer Weisheit sind keine Systematiker“ (ebd., 56). Das Buch Prediger (Kohelet oder Ecclesiastes) (iii. ). „eine zeit fürs geborenwerden und eine zeit fürs sterben […] eine zeit zu töten, und eine, zu heilen; eine Zeit, einzureißen, und eine Zeit, aufzubauen. Eine Zeit, zu weinen, und eine Zeit, zu lachen; eine Zeit, zu klagen, und eine Zeit, zu tanzen […] Eine Zeit, zu umarmen, und eine Zeit, der Umarmung sich zu enthalten. Eine Zeit, zu suchen, und eine Zeit, zu verlieren; eine Zeit, aufzubewahren, und eine Zeit, wegzuwerfen. Eine Zeit, zu zerreißen, und eine Zeit, zu nähen; eine Zeit, zu schweigen, und eine Zeit, zu reden. Eine Zeit, zu lieben, und eine Zeit, zu hassen; eine Zeit für den krieg, und eine zeit für den frieden“ (iii. –), ebd., 0. im kontext der gaya scienza taucht die „fröhliche weisheit“ (ksa, fw, aph. , , ) auf als Einspruch gegen die bloße Vernünftigkeit und Fürsprache für das Dasein.



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gelangen: „und glaubt ihr im ernste, dass Jemand durch ein Jahrtausend geschichtlicher Dinge um einen tüchtigen Schritt der Göttin Weisheit näher kommen müsse, als ein anderer, der von allen diesen dingen nichts erfahren hat?“ (ksa, gt, , ). fortschrittsdenken bleibt hier noch ohne Notwendigkeit. Mit Sokrates beginnt die Ambivalenz der Weisheit. Der Sokratismus ist nur noch eine „eingebildete weisheit“, ein per se reflektierendes Nachdenken über die eigene Herkunft und Zukunft (KSA, NF, 7, 99). der mann aus athen zeichnet mit seinem namen auch für den aufkommenden ‚historischen Sinn‘. Im Zusammenspiel mit Euripides wird eine neue welt- und kunstsicht, eine neue weisheit, aus der taufe gehoben, die nicht mehr ohne Reflexion und diese nicht ohne ihre historische Dimension zu denken ist. Die allerdings noch keine „Froschnasen-Weisheit“ (KSA, NF, 9, 556) ist oder Katheder-Weisheit des modernen wissenschaftlichen spezialistentums, sondern eine, an der die bewusstheit ihrer selbst zum Ausdruck kommt. Wesentlich an ihr ist, dass sie die Begrenztheit überwindet, in die sie eingeschlossen war als moment ihrer fehlenden historizität. damit werden entscheidende sicherheiten aufgehoben, gemäß der nietzscheschen vorstellung, nur ein begrenzter und von Mythen, als den unbemerkten allgegenwärtigen Wächtern, umstellter horizont garantiere „den strom des zeitlosen“ (ksa, gt, , ) und schließe eine ganze Kultur zur Einheit ab. Gerät der Mythos ins Wanken, so bricht das Fundament der unhistorischen Perspektive. Den Sokratismus sieht er daher als Vernichter des Mythos, der den nun mythenlosen menschen auf die fährte seiner vergangenheit setzt: „ewig hungernd, unter allen vergangenheiten“ suchend, gräbt er nach den wurzeln, „sei es auch in den entlegensten alterthümern“ (ebd., ). damit sei, so der philosoph, ein ungeheures bedürfnis nach historie geboren, das es den menschen nicht mehr erlaube, allen erlebnissen „den Stempel des Ewigen“ (ebd., 148) aufzudrücken. Weisheit buchstabiert sich fortan anders; den Weisen obliegt es seit Sokrates, sich Rechenschaft zu geben über den Modus ihres Denkens und seiner Vergänglichkeit. Getrieben vom unersättlichen, optimistischen Drang nach immer mehr Erkenntnis, höhlt sich das alte Weisheitsverständnis aus und wird zu einer „überreiche[n] Wissenslust“, zu einem „ungesättigte[n] Finderglück“ (ebd.), an dem die historische Gier geistigen Fortstürmens zum wesentlichen Merkmal gehört. in schillers terminologie heißt es: „das sentimentalische ist oft das resultat der gewußten Weisheit“ (KSA, NF, 7, 150). Man muss über das Erlebte und Erkannte hinaussehen können; um ihm zu entwachsen, muss immer schon etwas überwunden sein. Erst wenn diese phase des historischen sinns durchlaufen ist, wird es wieder möglich sein, den „alten, starken Wein der Weisheit“ (KSA, NF, 10, 637) zu trinken. Dass wenigstens die moderne philosophie auf dem wege dahin sei, glaubt nietzsche an immanuel kant und Arthur Schopenhauer zu beobachten. Dass sie dem unbedenklichen Wissens(chafts-)trieb Schranken auferlegen, seine Grenzen zu erkennen geben, stimmt ihn trügerisch zuversichtlich und gibt anlass, zeitweilig von der vorbereitung einer ‚bewussten weisheit‘ zu sprechen, die Resultat der Geschichte selbst sein könnte und von einer ‚höheren weisheit‘ der feineren menschen als resultat ihrer höheren bildung und einsicht (ksa, nf,  

Nur wenn Sokrates seinen daimon sprechen lässt, drücke sich unbewusste Weisheit aus (KSA, GT, 1, 544f). Hinzu kommt die Auffassung, aller Weisheit hafte Altersschwäche an (KSA, NF, 8, 19). „Was erreicht worden ist in der Erkenntniß, ist Sache des Philosophen, festzustellen; und nicht nur darin, sondern überhaupt. die geschichte als die große versuchs-anstalt: die bewußte weisheit vorzubereiten […]“ (ksa, nf, , ).

„[…] dass die Weisen aller Zeiten unhistorisch gedacht haben“



, ). sich selbst rechnet er dazu. seine Dionysos­Dithyramben als neue, durch die stufen des historischen hindurch gegangene und sie überwunden habende weisheit. als ihre poetische apotheose (mit und als dionysos redend): „von grossen dingen – ich sehe Grosses! – / soll man schweigen/ oder gross reden:/ rede gross, meine entzückte Weisheit!“ (Ruhm und Ewigkeit, ksa, dd, , 0). weisheit und wahrheit verschwistern sich am Ende und geben den Schein von Ewigkeitssentenzen, die kaum mehr als Utopie sind und als solche das ironische moment entbergen, das nach nietzsche unabdingbar zur modernen Weisheit gehört: Der Weise muss immer auch Narr und Maskenträger sein können und wollen. Der Philosoph weiß es für sich nur zu gut: Nietzsche in der Maske des Possenreißers der nächsten Ewigkeiten.

ii […] ein moment, ein monument, ein kongreß, eine figur – der zusatz „historisch“ lässt fossilien aus ihnen werden. (Jean baudrillard, Geschichte: Ein Retro­Scenario)

Der Satz Baudrillards könnte von Nietzsche stammen. Die „Jedermanns-Weisheit“ (ksa, hl, , ) und historistische banalität der gesinnungen, nach nietzsche hauptkennzeichen der Moderne, scheuen sich nicht (sie leben davon), die Weisheit der Alten mit ‚schmutziger Begehrlichkeit‘ für sich zu reklamieren, um der Gegenwart „einen täuschenden ruf der weisheit zu verschaffen“ (ksa, wb, , f). es gehört zu den besonderheiten des historischen sinnes, dass er als ‚sechster sinn‘ im . Jahrhundert die möglichkeit einer anderen Kultur- und Zeitsicht eröffnet, dank der die „Vergangenheit von jeder form und lebensweise, von culturen, die früher hart neben einander, über einander lagen […] in uns ‚moderne seelen‘ [strömt]“ und in uns eine art chaos erzeugt (ksa, Jgb, aph. , , ) als spiegel der ungeheuren wirrnis, in die die allgemeine verfügbarkeit alles Vergangenen stürzt. Insofern das moderne Zeitalter eines der Vergleichung (ksa, ma-, aph. , , ) ist, gerät es in den taumel einer maß- und maßstablosen Aneignungs- und Imitationslust, begibt sich der Notwendigkeit selektiver Kriterien und verwechselt die draperie und das kostüm mit originalität und geschichtlicher größe. in archivalischem oder monumentalem geschichtsverständnis wird alles unterschiedslos bedeutungsvoll und macht alles gleich bedeutungslos. weil dem historischen sinn das bewusstsein der Gegenwartswertigkeit fehlt, umgibt er sie mit dem Mantel des Gewesenen, in der trügerischen annahme, dadurch ihre größe zu potenzieren. nietzsches forderung und warnung: „Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangene deu­ ten: nur in der stärksten Anspannung eurer edelsten Eigenschaften werdet ihr errathen, was in dem vergangenen wissens- und bewahrungswürdig und gross ist. gleiches durch gleiches. sonst zieht ihr das vergangene zu euch nieder“ (ksa, hl, , f.), umgreift das problem des historischen sinnes. der im appellativ formulierte anspruch gleicher Augenhöhe von Gegenwart und Vergangenheit aus der Selbstsicherheit der ersteren fin 

„milchwarme weisheit, süssen thau der liebe/ ströme ich über das land“ (ksa, dd, , 0). Renate Reschke, Possenreißer der nächsten Ewigkeiten? Friedrich Nietzsche und das postmoderne Denken, in: dies., Denkumbrüche mit Nietzsche, ff.



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det in der erfahrbaren Realität der kulturellen Moderne des 19. Jahrhunderts keine Entsprechung. eher trifft sie die feststellung, sie mache das vergangene zuschanden, indem sie es ihrer eigenen Borniertheit opfere. Mit Blick auf Delphi gibt Nietzsche zu bedenken, dass nur der das Vergangene deuten könne, der nicht in einer Sammelleidenschaft gegenüber den Fakten gefangen sei, sondern der, durch Erfahrung überlegen, sich ihrer wertend zu bemächtigen weiß und in seinem Wollen von Zukunft den Maßstab findet, auswählend in besitz zu nehmen. Das ist der Ansatzpunkt für Nietzsches Kritik moderner Kultur und Mentalität, die sich einem ungezügelten historischen sinn ergibt: „der historische sinn, wenn er unge­ bändigt waltet und alle seine Consequenzen zieht, entwurzelt die Zukunft, weil er die illusionen zerstört und den bestehenden dingen ihre atmosphäre nimmt, in der sie allein leben können […] Wenn hinter dem historischen Triebe kein Bautrieb wirkt, wenn nicht zerstört und aufgeräumt wird, damit eine bereits in der Hoffnung lebendige Zukunft auf dem befreiten boden ihr haus baue“ (ebd., f.), dann überwältigt der hang nach historie die Gegenwart und zerstört jede eigene Substantialität. Man kann sich zwar eine zeit lang „mit der historie völlig harmlos und unbedachtsam beschäftigen“ (ebd., ), ohne die Gefährlichkeit der Infektion zu bemerken, am Ende der Inkubation zeigt sich die Krankheit aber in folgenreicher Deutlichkeit. ‚Historische Krankheit‘ meint nicht nur die lähmende Unproduktivität des historischen Sinnes, ein „Wiederkäuen“ (ebd., 0) zu sein, sondern auch die gefahr einer kultur unterwandernden, sie aushöhlenden und aufblasenden Geschichtsverfallenheit, die kaum anders zu verstehen ist, denn als Überlast, überfall des vergangenen auf die gegenwart, der diese sich alternativlos ergibt. damit ist durch den historischen sinn eine beispiellose enthistorisierungsgefahr gegeben: durch die entgrenzung geschichtlicher horizonte ins universell-beliebige entsteht ein modus des Zugriffes auf Historie, der sie der gleichen Geschäftigkeit und Agonie zutreibt, die den zustand der gesellschaft und ihrer kultur fest im griff hat. nach nietzsche bedarf es nicht nur memorialer Erinnerungskraft, sondern der Kraft zu vergessen, um sich dem Gegenwärtigen stellen zu können. Eigene Bedürfnisse versus geschichte, die präferenz für die ersteren soll für die lebensbedrohliche Krankheit eine wirksame Arznei sein, dem intellektuell-kulturellen Exitus mit einer Letaldosis Historie entgegenzuwirken. Der moderne mensch schleppt, wie der wolf im grimmschen märchen, „eine ungeheure menge von unverdaulichen wissenssteinen […] mit sich herum, die […] bei gelegenheit auch ordentlich im leibe rumpeln“ (ksa, hl, , ), die beim wissenschaftler bestenfalls als kleine oder mittlere Gedanken-Eier das Licht der Welt überflüssigerweise erblicken. 



klaus berger hat den gegensatz als „unheilige alternative“ bezeichnet (klaus berger, Wahrheit und Geschichte, in: „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“. Nietzsche und die Erinnerung in der Moderne, hg. von Dieter Borchmeyer, 94. Es ist auch eine andere Perspektive zu beachten, auf die Hans-Georg Gadamer aufmerksam gemacht hat: es sei Nietzsche „auf exemplarische Weise“ gelungen, „die Bedeutung der Erinnerung für die Moderne […] ins Blickfeld gerückt“ zu haben (Hansgeorg gadamer, Präludium: Erinnerung und Geschichte, in: ebd., ). lipperheide zeigt nietzsches Denken als „eminent geschichtliches“ (Christian Lipperheide, Nietzsches Geschichtsstrategien. Die rhetorische Neuorganisation der Geschichte, ). Die Karikatur des modernen Wissenschaftlers, den Historiker eingeschlossen, ist verheerend bloßstellend: „seht euch nun auch die Gelehrten, die erschöpften Hennen an […] nur gackern können sie mehr als je, weil sie öfter Eier legen: freilich sind auch die Eier immer kleiner (obzwar die Bücher immer dicker) geworden“ (KSA, HL, 1, 301). Dass der Kritik am ‚historischen Sinn‘ eine gute Por-

„[…] dass die Weisen aller Zeiten unhistorisch gedacht haben“



nietzsche dagegen geht es, wenn er unhistorisches bewusstsein einfordert, um den verzicht auf jede Teleologie, Logik oder metaphysischen Grund der Geschichte: vielmehr sieht er sie als Kontinuum von Geisteshorizonten, in das sich derjenige stellen kann, der willens ist, das vergangene der erinnerung zu überlassen und es sich so in erinnernder Narrativität und narrativer Erinnerung immer wieder vergegenwärtigen kann, ohne von ihm überwältigt zu werden. mehr noch: nietzsche will das aus seiner sicht gewaltsam unter- und aufgebrochene kontinuum wieder herstellen. die trauer über das verlorene ist in diesem prozess „der modus seiner veränderung.“ nietzsches hoffnung, ex ne­ gativo gespeist aus der zeitgenössischen Geisteskultur und ihr aus elitärer Überzeugung entgegengehalten, dass sich die großen geister aller zeiten über die epochen, über hades- und Höllengrenzen hinweg in einer Art ‚Gelehrten-Republik‘ verständigen und in einer geistigen Welt eine kulturelle Kontinuität der Gedanken leben, ist als Quintessenz des unhistorischen zu verstehen, als idealbild eines umganges mit historie, in dem auch der moderne Mensch davor gefeit wäre, an Historie zu erkranken oder, dass er, wenn er von ihr betroffen ist, in der lage wäre, wieder zu genesen.0 dieses refugium eines „hohen geistergespräch[es]“: „ein riese ruft dem anderen durch die öden zwischenräume der zeiten zu und ungestört durch muthwilliges lärmendes gezwerge, welches unter ihnen wegkriecht, setzt sich das hohe Geistergespräch fort“ (KSA, PHG, 1, 808) ist der merkwürdig-bemerkenswerte Anschluss an eine uralte Alternative gegen die „morsche, selbstzweiflerische Gegenwart“ (KSA, GM, 5, 336). Merkwürdig, weil darin ein unerwartet romantisches Potential an Historienverständnis liegt; bemerkenswert, weil die Gegenwart nicht mehr in der Lage ist, als eines ihrer Krankheitssymptome, die Zeichen der geschichte zu verstehen und ihre deutungshoheit an eine philosophische elite überantwortet. Der Gedanke, Epigone zu sein, erhält in diesem Umkreis den Klang eigener größe. was nietzsche in Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen auf antike Philosophen-Eliten, einschließlich Sokrates bezieht, sie seien eine „wunderbar idealisirte Philosophengesellschaft“ (KSA, PHG, 1, 807), ist ihm kein abgeschlossenes kapitel der geistesgeschichte, sondern die aufforderung, im unmittelbaren anschluss an sie, die Kraft unhistorischen Denkens zu erneuern und eine ‚Gegen-Historie‘ zu praktizieren („das tiefe leben schöpft man aus dem brunnen der vergangenheit, und lebendiger ist, was weiter in der Zeit zurückliegt“): eine intellektuelle Allianz zu bilden, um

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tion an Hegel-Kritik innewohnt, versteht sich von selbst. Die wegwerfende Geste gegen Eduard von hartmann ist nur noch die belustigung über eine farce. christian lipperheide, Nietzsches Geschichtsstrategien. Die rhetorische Neuorganisation der Ge­ schichte, . in der vorrede zum zweiten teil von menschliches, allzumenschliches resümiert nietzsche über die zweite Unzeitgemäße Betrachtung: „was ich gegen die ‚historische Krankheit‘ gesagt habe, das sagte ich als einer, der von ihr langsam, mühsam genesen lernte und ganz und gar nicht willens war, fürderhin auf ‚historie‘ zu verzichten“ (ksa, ma-, vorrede , , 0). „damit soll dies und nichts als dies gesagt sein, dass selbst der oftmals peinlich anmuthende gedanke, Epigonen zu sein, gross gedacht, grosse Wirkungen und ein hoffnungsreiches Begehren der Zukunft, sowohl dem Einzelnen als einem Volke verbürgen kann: insofern wir uns nämlich als Erben und Nachkommen klassischer und erstaunlicher Mächte begreifen und darin unsere Ehre, unseren Sporn sehen. Nicht also wie verblasste und verkümmerte Spätlinge kräftigerer Geschlechter, die als antiquare und todtengräber jener geschlechter ein fröstelndes leben fristen“ (ksa, hl, , 0). giorgio colli, Nach Nietzsche, Frankfurt am Main 1980, 68.

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geschichte durch geschichte vor ihrer instrumentalisierung in einem bildungs- und wissenschaftssystem zu bewahren, das sie auf dem altar der allgemeinen popularisierung und der modernen massenmedien zugleich opfert und zum gegenstand der anbetung macht.

iii dem wahrsagenden apollon würde man in der gegenwart „wie dem ochsen, der da drischet, das Maul verbinden“, weil der moderne Mensch nicht wirklich Wissen, sondern nur kenntnis von den dingen haben will und diese durch ein zeugnis bestätigt: „man bemüht sich der Entstehung der räthselhaftesten Dinge nahe zu kommen – und jetzt verlangt der geehrte leser, dass das ganze problem durch ein zeugniß abgethan werde“ (brief an Erwin Rohde vom 4. 8. 1871, KSB, 3, 215f.), mokiert sich Nietzsche. Als Leumund könne athenaeus seine Dienste leisten, der schon der Antike als unzuverlässiger Geselle gegolten habe. er entspräche dem mittelmäßigen der modernen zeit und ihren medialen vermittlungen. was sich der moderne mensch unter wissen und weisheit vorstellt, das ist von wirklicher Weisheit und wirklichem Wissen unendlich entfernt, dafür aber „zeitungsgemäss“. Erstere halten davon ab, „vom Augenblick beherrscht zu werden“, letztere verdanken sich dem Siegeszug der Printmedien, dem Journalismus: ihm sich zu verweigern, sieht Nietzsche als Merkmal von Philosophie: „Die Tyrannei der Presse wird sich kein Philosoph gefallen lassen“ (KSA, NF, 7, 741). längst aber sprechen realität und philosophen eine sprache. die gehört zur ‚schlechten‘ form des unhistorischen, die zusammenfällt mit dem ‚historischen sinn‘. man müsse sich einer „besonders schlimme[n] wahrnehmung“ stellen: „dass man die Ausschweifungen des historischen Sinnes, an wel­ chen die Gegenwart leidet, absichtlich fördert, ermuthigt und – benutzt“ (ksa, hl, , ). wissenschaften und Journalismus haben sich verschwörerisch zusammengeschlossen, um in wechselseitiger komplizenschaft wissen und historie der öffentlichen meinung durch eine hemmungslose popularisierung in den rachen zu werfen. unter dem Mantel der ‚Objektivität‘ gegenüber der Geschichte mache man alles zur nachricht, zur Sensation, nährt die Illusion der Erlebnishaftigkeit und Augenzeugenschaft einer identitätsstiftenden vergangenheit und einer gegenwart, die durch die interpretation des alten ins Aktuelle hinein, ein ungebrochenes Kontinuum suggeriert, das nichts als eine additive Geschichtssicht ist ohne notwendige Differenz der Perspektiven. So gerät die Geschichte in eine Vergessenheit, die größer nicht sein könnte. Ihre scheinbare Präsenz in immer 





Athenaios (um 200 n. Chr.), aus Naukratis (Ägypten), hat ein voluminöses Gelehrtengastmahl nach dem vorbild des platonschen Symposions verfasst, „ein kapitales Unding“, „wahres Sammelsurium“, „antiquarische kenntnisse abstrusester art“ (bernhard kitzler, Reclams Lexikon der griechi­ schen und römischen Autoren, stuttgart , 0f). schon hölderlin hat apollon im zusammenhang mit dem neuen schreibstil, der nivellierung der inhalte, als korrumpierbar gesehen: „Die beschreibende Poesie: Wißt! Apoll ist der Gott der Zeitungsschreiber geworden/ Und sein Mann ist, wer ihm treulich das Faktum erzählt“ (Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. von günter mieth, berlin, weimar 0, bd., ). „alles ‚objectiv‘ nehmen, über nichts zürnen, nichts lieben, alles ‚begreifen‘ – das heisst jetzt ‚historischer sinn‘“ (ksa, nf, , ).

„[…] dass die Weisen aller Zeiten unhistorisch gedacht haben“



mehr sie kleinschreibenden Großdarstellungen der Historiker, in den Schlagzeilen und feuilletons der zeitungen, wo sie der unterhaltung oder befriedigung einer, so nietzsche, unanständig aufdringlichen neugier dient und zum erfahrungs- und bildungsersatz wird, wobei der leser den ersatz mit dem original verwechselt oder gleichsetzt. in der kulturellen Orientierungslosigkeit des historistischen Umganges mit der Vergangenheit verschieben sich fortwährend die historischen horizonte, weil die gegenwart in permanenter Bewegung ist. Das wertende Attribut ‚historisch‘ wird zur Krücke und die Belanglosigkeit der eigenen Existenz und des eigenen Handelns mit dem Glorienschein der bedeutung versehen. alles was geschieht und getan wird, wird zugleich, vor allem von den Journalisten, aber auch von den Politikern mit dem Gütesiegel des Historischen versehen. kaum hat ein ereignis stattgefunden, schon ist es historisch, schon geht es in die geschichte ein: ‚ein historisches ereignis‘! man braucht die beispiele nicht auf das . Jahrhundert zu beschränken. In der Bewertung liegt immer schon per definitionem etwas superlativisches, das seinen höchsten und sich selbst ad absurdum führenden missgriff darin findet, Ereignisse, die noch gar nicht stattgefunden haben, bereits im Vorfeld als ‚historisch‘ zu qualifizieren. Die moderne Politik sieht sich gern als ‚historisch‘. Nach nietzsche, und in seiner spur nach baudrillard, ist es der sicherste weg, der historischen Krankheit erlegen zu sein und sich im ‚schlechten‘ Unhistorischen‘ zu verfangen. Denn: ‚Unhistorisch‘ als kritisch-produktive Geschichtssicht, meint für Nietzsche (dies noch einmal) die Kraft zum selektiven Umgang mit der Geschichte und die Fähigkeit, „sich in einen begrenzten Horizont einzuschliessen“ (ebd., 0), um von ihm aus die kriterien zu gewinnen, mit denen Geschichte als lebensnotwendig bestimmt werden kann. Was dagegen in der Beliebigkeit des Urteils ‚historisch‘ arretiert ist, ist genau das Gegenteil. Der kultur umschließende horizont ist aufgerissen, aufgeweitet in eine unendliche aufnahme- und Wertungsskala ohne innere und zwingende Glaubwürdigkeit und widerspiegelt den Zustand der Kultur, den Nietzsche kritisiert: dass er einer der Aufspaltung in innen und außen, der bloßen Konvention ist und keinen einheitlichen Stil erkennen lasse. Den Grund für den Mangel an einem wirklich unhistorischen Bewusstsein in der Moderne sieht der philosoph in der tendenz der kultur, alle prozesse ihrer existenz in einer bis dato unbekannten Potenz zu beschleunigen. Das Ergebnis ist, dass sich die Techniken der Wissensspeicherung, die Inhalte des Wissens und die Techniken der Wissensaneignung dramatisch dem tempomaß der beschleunigung anpassen. für den umgang mit Geschichte hat dies zur Folge, dass weder ein bedenkendes Verweilen in ihr als Aneignungsmodus noch das auszubildende Bewusstsein produktiver Annäherung an den Kern von vergangenheit möglich ist oder gebraucht wird. der moderne mensch ist bestenfalls „wie ein flüchtiger Spaziergänger in der Historie“ (ebd., 327), und Nietzsche fragt mit hohn, ob man glaube, so „den vergangenheiten ihre griffe und künste, ihren eigenen lebensertrag absehen“ (ebd.) zu können. Nietzsche skandalisiert die Situation: „So aber wie der junge mensch durch die geschichte läuft, so laufen wir modernen durch die 

Hinter solchen Fragen Nietzsches steht Kritik am zeitgenössischen Bildungssystem, die er aus einer elitären position formuliert (christian niemeyer, Nietzsches andere Vernunft. Psychologische As­ pekte in Biographie und Werk, Darmstadt 1998; Renate Reschke, Versuchendes Denken. Friedrich Nietzsche im universitären Bildungsprogramm einer modernen Kulturwissenschaft, in: Attualità e Inattualità del pensiero di Friedrich Nietzsche, hg. von federica fanizza, giorgio penzo, graziano riccadonna, rapallo 00.



Renate Reschke

Kunstkammern, so hören wir Conzerte. Man fühlt wohl, das klingt anders als jenes, das wirkt anders als jenes: dies Gefühl der Befremdung immer mehr zu verlieren, über nichts mehr übermässig zu erstaunen, endlich alles sich gefallen zu lassen – das nennt man dann wohl den historischen sinn, die historische bildung“ (ebd., ). abstumpfung, passivität, die gier nach immer neuem, das ‚interesse‘ an der vergangenheit gehen eine Symbiose ein, die zum Charakteristikum des modernen Kulturverhaltens wird. ‚Interesse‘: ein in diesem zusammenhang für nietzsche fatales wort. man ‚interessiert sich für geschichte‘. nietzsche sieht darin eine gefährliche verachtung der historie, den weg, der „wachsende[n] Aufdringlichkeit der Vergangenheit in der modernen Kultur“ tür und Tor zu öffnen und sich ihr zu ergeben. Geschichte wird konsumierbare Ware, ihre Artefakte und Zeichen den wechselnden Anbietungs- und Verbrauchsstrategien angepasst und dem Diktat der Moden, der Meinungen und des Moments, der berüchtigten drei M, zu dessen Sklaven der moderne Mensch geworden ist, unterworfen. Mit dieser sklavischen Haltung hat Nietzsche zunächst das „verruchte Wesen des Journalisten“ (KSA, NF, 7, 817) gemeint, ehe sie ihm zum kongenialen Merkmal modernen kulturverhaltens insgesamt wird. So wie man tätig ist: hastig, fieberhaft beschäftigt, wie man sich vernutzen lässt im Getriebe der Maschinenkultur, so eignet man sich auch alle Geschichte an. Man huldigt dem Augenblick und ist immer schon auf dem Sprung ins nächste ereignis, in die nächste aufgabe, in die nächste ‚erholung‘: „raubthierhaft im streben“, „unersättlich im sammeln“, „eigensüchtig und schamlos im geniessen“ und „je mehr begierde und wildheit, desto mehr verstellung und politur“ (ebd., ), als „ob ein Trank in ihnen wirkte, der sie nicht mehr ruhig athmen liesse, stürmen sie fort in unanständiger Sorglosigkeit“ (KSA, SE, 1, 392). Nietzsche, der hier sicher nicht der große „erforscher“, sondern der große „erschliesser“ und genaue kulturkritische und psychologische Beobachter ist, entdeckt die Verbindung von Kulturverhalten, Geschichtsverständnis und der Bedeutung der neuen, auf Massenwirksamkeit ausgerichteten medialen Vermittlungen. Die neuen Kommunikationsmedien potenzieren, was er als Tendenz der Moderne sieht: die durch die allgemeine Verfügbarkeit der Historie zum kulinarischen und vampiristischen utilitaristisch werdende gesamthaltung ihr gegenüber. Das ist fast die Definition des Journalismus: „je mehr einer mit jener Cultur verwandt ist, umso ähnlicher wird er dem Journalisten sehen“ (ksa, nf, , ), der einzig darauf bedacht ist, alles, Aktuelles wie Vergangenes, unter dem Gesichtspunkt ihrer medialen Vermarktung möglichst wirksam in eine verständliche Sprache und in eindrucksvolle bilder umzusetzen. so sehr, dass das medium presse bereits das bildungsmonopol über





hermann lübbe, Geschichtsinteresse. Über die wachsende Aufdringlichkeit der Vergangenheit in der modernen Kultur, in: „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“. Nietzsche und die Erinnerung in der Moderne, hg. von dieter borchmeyer, . Renate Reschke, Die Sklaven der drei M (Momente, Meinungen, Moden). Nietzsches Kritik des Kul­ turverhaltens in der Moderne, in: Die Auflösung des abendländischen Subjekts und das Schicksal Europas. Symposion 2000 des Nietzsche­Forums München. Vorträge aus den Jahren2000–2002 (Mit Nietzsche denken. Publikationen des Nietzsche­Forums München, bd. ), hg. von beatrix vogel, harald seubert, münchen 00. Zwei Termini, die Joachim Latacz gebraucht hat, um Nietzsches Zugang zur Antike zu bestimmen. Sie gelten allgemeiner, um seine ‚Methodik‘ zu bestimmen (Joachim Latacz, Fruchtbares Ärgernis: Nietzsches „Geburt der Tragödie“ und die gräzistische Tragödienforschung, basel .

„[…] dass die Weisen aller Zeiten unhistorisch gedacht haben“



nommen habe und damit auch die deutungshoheit über die geschichte. moderne kultur ist ihrem grund nach eine journalistische, eine grundlegend medial gesteuerte und von ihren inhalten her bestimmte. sie hat den Journalismus hervorgebracht und sich in ihm ihr herausragendes Merkmal und Medium geschaffen. Zu den wesentlichen Kennzeichen des Journalismus wiederum gehört eine gänzlich neue art der verzeitlichung allen geschehens durch den absoluten bezug auf die gegenwart. es entsteht das, was der historiker unter ‚Zeitgeschichte‘ versteht.0 ihr werden alle anderen epochen und ereignisse der vergangenheit anverwandelt. für nietzsche ein symptom, das nicht anders zu sehen ist, denn als aufweis einer rabiaten besetzung der geschichte mit den interessen der gegenwart, aber nicht aus der Perspektive ihrer kulturellen Verlebendigung, sondern ihrer überformung mit historie: eine überwältigung, der sich der interessierte konsument widerstandslos ergibt. unter der federführung der modernen Journalisten, die vorgeben, ihren lesern alles das zu präsentieren, was sie für ihre bildung und informiertheit brauchen, schrumpfen sowohl die gegenwart als auch die vergangenheit. letztere, weil sie am verkümmernden Maß aktueller Verwertbarkeit gemessen wird, erstere, weil sie nur im Hinblick auf ihren Ausgangswert für das Morgen gesehen wird. Hermann Lübbes wort von der „gegenwartsschrumpfung“ trifft es ziemlich genau. so wird eigenes vergessen vorbereitet: „wer heute bereits von morgen sein will, ist übermorgen selber von gestern. Man kann diesen Effekt auch folgendermaßen ausdrücken: Die avantgardistische Erhöhung der Innovationsrate verkürzt die temporale Extension aktueller Geltung des neuen.“ Oder noch anders: Vom Ereignis direkt in die Abstellkammer des Vergessens. Es ist aber nicht das für Nietzsche so wichtige Vergessen, um leben zu können, sondern das, welches zur Identitätslosigkeit führt. Auf eine andere, fatale Weise wird realisiert, was am positiv besetzten unhistorischen wesentlich ist: dass es eine begrenztheit schafft, innerhalb derer identität möglich ist. moderner Journalismus dagegen gibt allein durch sein wesen, sich alles grenzen- und unterschiedslos zum gegenstand zu machen und es durch den beschleunigten Alterungsprozess der sich schnell verlebenden Aktualität preiszugeben, keine Chance zur wirklichen Aneignung: „Noch ist der Krieg nicht beendet, und schon ist er in bedrucktes Papier hunderttausendfach umgesetzt, schon wird er als neuestes reizmittel dem ermüdeten gaumen der nach Historie [hervorhebung – r. r.] Gierigen vorgesetzt. Es scheint fast unmöglich, dass ein starker und voller Ton durch das mächtigste hineingreifen in die saiten erzeugt werde: sofort verhallt er wieder, im nächsten Augenblicke bereits klingt er historisch zart verflüchtigt und kraftlos ab […] Vollbringt das Grösste und Wunderbarste: es muss trotzdem sang- und klanglos zum Orkus ziehn. Denn die Kunst flieht, wenn ihr eure Thaten sofort mit dem historischen Zeltdach überspannt“ (KSA, HL, 1, 279f.). Das aktuelle Ereignis überlebt sich und erlischt in seiner Präsentation; die Vergangenheit erliegt dem gleichen Schicksal, weil beide immer schon ‚historisch‘ sind. Journalisten als herren über die information, über die historie. 0

 

„die tagesgeschichtsschreibung […] glitt ab in eine niedere gattung, die von Journalisten weiter betreut wurde“ (Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1989, 335. Der Journalismus bemächtige sich aller Epochen der Weltgeschichte. hermann lübbe, Geschichtsinteresse. Über die wachsende Aufdringlichkeit der Vergangenheit in der modernen Kultur, . ders., ebd.



Renate Reschke

Dabei kommt es nicht mehr darauf an, ob den Informationen Tatsachen oder verifizierbare Fakten zugrunde liegen. Zwischen Erfindung und Bericht verwischen die Grenzen, zwischen realität, geschichte und inszenierung geht die differenz verloren. geschichte ist nur noch massenmedial inszeniert zu haben und real. Und die Historiker bedienen sich der Sprache der Journalisten. Zeitung und Augenblick fressen auf, was sie hervorbringen und tilgen den Hunger nicht (KSA, NF, 12, 468). Nietzsches Metaphorik von Nahrungsaufnahme, Verdauung und Übersättigung ist drastisch, bringt die kulturelle Mentalität auf ihren kranken Punkt. Die Verarbeitung (Verdauung) der Informationen wird gar nicht erst angestrebt, sie erledigt sich im Durchlauf. Der Leser wird erschöpft, ohne sich wirklich angestrengt zu haben oder angeregt worden zu sein. das szenario ist dem des ‚großen Fressens‘ vergleichbar; dem folgt allerdings nicht das ‚große Kotzen‘, sondern nur seine sich permanent steigernde wiederholung. Journalisten erzählen mit suggestiver sprache, machen den leser weitgehend wehrlos. Es geht ihnen nicht darum, ihn in die Lage kritischer Reflexion resp. reflektierender Kritik zu versetzen. sie ziehen in den bann einer trügerischen authentizität und ihre informationen über die Geschichte versinken im Vakuum einer historiengenerierenden Bildung. Jeder infragestellung der darstellung wird der boden entzogen. der Journalist entpuppt sich als der moderne ‚weise‘, der seine erlebnisse und erfahrungen als allgemein-gültigsein-sollende vorstellt: Aber sie sind aus zweiter Hand, und ihr Gültigkeitsdatum ist im moment ihrer wort- und bildwerdung abgelaufen. der wegwerf-modus moderner kultur bestätigt sich an ihren medialen vermittlern. die Journalisten sind die negativ unhistorischen par excellence. Der dazu spiegelverkehrte Kult des Augenblickes kommt als „iterative darstellung indifferenter zeiterscheinungen mit dem ergebnis stagnativer redundanz und restloser Aktualitätshörigkeit zur Geltung.“ Dem iterativen Moment kommt dabei die Qualität einer präfigurierenden Konstitution von Geschichte durch die verbale Struktur ihres Mediums zugute. Sie geben scheinbar narrative Modellierungen; der Aspekt des Historischen hat immer eine sprachlich-ästhetische Dimension. In Wirklichkeit jedoch zwingen sie der Geschichte eine Ordnung auf, die ohne jede erfindende intellektuelle Innovation bleibt. Das beschworene fiktiv-kreative Element der Narration, das die Arbeit des Historikers auszeichnet, ist nicht die Sache des Journalismus. In den modernen medien wird nicht mehr, auch wenn es anders scheint, erfunden. ihre sprachlichen implikationen tangieren sehr viel mehr das Problem bloßer Simulation von Geschichte in immer verführerischeren, raffinierteren Simulakren. Das geht in den Bereich postmoderner Kritik. Nietzsche hat es in der Sprache des 19. Jahrhunderts ausgedrückt: Geschichte könne nur der erfahrene und überlegene schreiben: „wer nicht einiges grösser und höher erlebt hat als alle, wird auch nichts grosses und hohes aus der vergangenheit zu deuten wissen“ und: Der „ächte Historiker muss die Kraft haben, das Allbekannte zum Niegehörten umzuprägen und das Allgemeine so einfach und tief zu verkünden, dass man die Einfachheit 



christian lipperheide, Nietzsches Geschichtsstrategien. Die rhetorische Neuorganisation von Ge­ schichte, 64. Weiter heißt es: „Hinter der modernen Strategie des Verschluckens und Vermittelns der kaum emergierten Gegenwart zeigt sich die Angst und die Unfähigkeit zur Erlebbarkeit einer vollen Präsenz, die die konditionierte Kontinuität sprengte und über das Sekuritätsbedürfnis hinaus das Handeln als Möglichkeit einsetzt“ (ebd., 65). hayden white, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt am main , 0ff.

„[…] dass die Weisen aller Zeiten unhistorisch gedacht haben“



über der tiefe und die tiefe über der einfachheit übersieht“ (ksa, hl, , ). vor allem aber könne man nicht „zugleich ein großer Historiker, ein künstlerischer Mensch und ein Flachkopf“ (ebd.) sein. Letztere Bestimmung geht auf den Journalisten. Differenz und Distanz bleiben ihm fremd, seine bedingungslose Identifikation mit der Geschichte ist nur eine des zitats und damit eine gleichgültige. er verhält sich zu seinem historischen material so, wie es hegel einmal am modernen künstler festgestellt hat: gleichsam als gleichgültiger dramaturg seiner handelnden figuren, dem alles und alle gleich gültig sind und damit gleich bedeutungslos und bloß äußerlich, denen er aber eine bedeutung verleiht, in dem er sie mit dem schein der größe umgibt.

iv dass vergangenheit „in jedem ihrer momente zitierbar“ sei, darin hat benjamin den Vorzug zukünftiger, vom Banne der Geschichte erlösten Menschheit gesehen. Nicht ohne implizite Referenz an Nietzsche formuliert er, aus der Sicht eines kritisch-historischen materialismus, seine vorbehalte gegen den historismus, nicht nur den des . Jahrhunderts, bei dem man, gleichsam in einem bordell, „der hure ‚es war einmal‘“ sein entgelt zu entrichten habe und nicht in der lage sei, zu tun, was nötig tut: „das kontinuum der geschichte aufzusprengen.“  mit dem bild des aufsprengens fängt benjamin den prozess einer vergegenwärtigung von geschichte ein, die sich daran misst, inwieweit es ihr gelingt, Dialektik herzustellen zwischen Vergangenheit und Gegenwart und durch den Schock, der daraus erwächst, das historische Bewusstsein zu schärfen für die Unverzichtbarkeit von Geschichte. Was nichts anderes meint, als Vergangenheit aufzuladen mit gegenwärtigem, um sich für die vorwärtsstrebenden aufgaben das nötige rüstzeug zu verschaffen. Das kommt aus anderer Perspektive nahe an Nietzschesche Position. Was benjamin, in geistiger verabredung mit gershom scholem, als ‚messianische‘ kraft versteht, an der alle Vergangenheit Anspruch hat, kraft derer eine „geheime Verabredung zwischen den gewesenen geschlechtern und unserem“ besteht und die sich im von zeit zu zeit aufgebrochenem kontinuum vergrößert: in ihr manifestiert sich jenes unhistorische, das nietzsche vorgeschwebt hat, wenn es ihm um die verlebendigung von gegenwart und die wiederverlebendigung von vergangenheit ging. die option auf die geschichte ist bei beiden eine option auf die hoffnung, die mit historie verbunden ist. nietzsche würde sich von benjamin verstanden wissen, läse er dies: „vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen, ‚wie es eigentlich gewesen ist‘. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.“ so war auch das metier der unhistorischen weisen von nietzsche beschrieben worden, die in 

   

georg wilhelm friedrich hegel, Ästhetik (nach der zweiten ausgabe heinrich gustav hothos (), redigiert und mit einem ausführlichen register von friedrich bassenge), bd. , berlin, weimar , . walter benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Allegorien kultureller Erfahrung. Ausgewählte Schriften 1920–1940, leipzig , . ders., ebd., . ders., ebd., . ders., ebd., .



Renate Reschke

Augenblicken der Gefahr, Erinnerungen erzählen, um sie zu bannen. Erinnerungen, die in sich das die konkrete Zeitsituation Übersteigende als Mut zu machendes Identifikationsangebot besaßen und das die weisen zu handhaben wussten. zur rechten zeit sich erinnern zu können und die Vergangenheit erzählend für die Zukunft bereitzustellen, darin hat nietzsche die kraft des unhistorischen gesehen und benjamin die unruhe stiftende kraft des aufgesprengten kontinuums. als mann des 0. Jahrhunderts sieht benjamin, wie das neue massenmedium film die geschichtsvermittlung zu erobern beginnt. und er sieht die folgen. nicht nur der berühmte und umstrittene verlust der ‚aura‘ durch die technische Reproduzierbarkeit von Kunstwerken als die größte Erschütterung der Tradition gehört hierher, sondern ebenso das Faktum eines sich von Grund aus wandelnden Verhältnisses sowohl des produzenten zu seinem thema als auch des rezipienten der medialen vermittlungen von geschichte durch den film. seine haltung wird die des interessierten Gutachters. Nietzsche würde einwenden, wie kann er begutachten, wovon er kein Wissen hat. Benjamin meint die Technik selbst. Das Eindringen technischer Aufnahmegeräte in die darzustellende, vor und mit dem Kamera-Auge inszenierte Geschichte, rückt die Wahrnehmungsstrategien in eine Schieflage gegenüber den präsentierten Inhalten. Auf Seiten des Produzenten dergestalt, dass sich sein Blick auf das Thema Geschichte nach dem der technisch praktikabelsten Kameraführung zu richten hat; aus der Perspektive des zuschauers, dass er neben der lust am visuellen immer auch die haltung des fachmännischen beurteilers0 einnehmen wird, wenn er nicht selbst sich mit dem auge der Kamera trügerisch zu identifizieren sucht. Die Unbestechlichkeit des Kamera-Auges ist eine scheinbare. Indem es fixiert, was es aufnimmt, hat es dieses schon verändert. Die Entwicklung der Medienkultur hat diesen Prozess hochgerüstet und dramatisiert. die generelle medialisierung der modernen gesellschaft, das aufgestoßene tor in die virtuellen Wirklichkeiten der Medienwelt, die Multiplikatorenfunktion hoch effizienter Technologien für die Cyber-Realitäten, die inzwischen als klassisch geltende Erkenntnis, dass das Medium selbst die Botschaft sei, die Wirkung des kommunikativen Faktors der medien: dies alles lässt den umgang mit geschichte nicht unberührt. ihre codierung in speziellen Zeichensystemen ist längst Gegenstand kulturkritischer Beobachtung. Es verwundert nicht, dass ihre Vertreter eine selbstgewisse Affinität zu Nietzsche und seiner Kritik der seinerzeit zeitgenössischen ‚historischen Krankheit‘ haben. Baudrillards Thesen von der ‚Agonie des Realen‘ und vom terroristischen Charakter der Medien, die pausenlos produzieren, um zugleich zu zerstören, was sie produziert haben, „indem sie überall skrupellose Faszination erzeugen, Lähmung des Sinns […], denn allein das szenario zählt“, in dem die ereignisse verschwinden wie in einem schwarzen loch, radikalisieren Nietzsche in einer Dimension, die der Hypertrophie der Kommunikationssysteme entspricht und parallel geht. der hauptvorwurf in den thesen, der baudrillards Kritik konstituiert, ist der einer weitgehenden Neutralisierung von Geschichte: „Durch informationen neutralisiert und immun geworden, neutralisieren die massen ihrerseits nun die Geschichte und fungieren als Absorbationsschirm. Sie haben keine Geschich0 

ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders., Lesezeichen. Schriften zur deutschsprachigen Literatur, leipzig 0, . Jean baudrillard, zit. nach: cord riechelmann, Das Ende der Produktion. Zum Tod des französi­ schen Soziologen und Philosophen Jean Baudrillard, in: Berliner Zeitung vom . . 00.

„[…] dass die Weisen aller Zeiten unhistorisch gedacht haben“



te, keinen Sinn, kein Bewußtsein und kein Begehren.“ Die Perspektive der Kritik ist zweifach: Aus dem Blickwinkel kommunikativer Informationen, die die Aktivität der rezipienten neutralisiert und aus der sicht der rezipienten, die, durch art und inhalt der Informationen vorgeprägt, alles Geschichtliche neutralisieren. Dies meint eine kommunikative Form der Vernichtung von Geschichtsbewusstsein, den Sturz in eine, durch die massenmedialen informationssysteme hervorgerufene „abtragung aller sozialität“, die keiner Historizität mehr bedarf. Rudimentäre Elemente von Geschichte verlieren ihre Bedeutung, wirken wie fossile Fremdkörper im nach Nietzsche „aufgeregten Ephemeren-Dasein“ (KSA, MA-1, Aph. 22, 2, 43) einer auf den Augenblick ausgerichteten modernen Kultur. Baudrillard bindet diesen Prozess an die technisch-kommunikative und mediale Beschleunigung aller Ereignisse: Für sie ist Geschichte keine Sphäre der selbstvergewisserung mehr. die übersättigung mit informationen in immer größeren Geschwindigkeiten macht Geschichte obsolet, weil ihr Einsaugen in die Aktualität jeden Sinn nimmt und in der dromokratischen Verfasstheit der Moderne keinen Ort mehr findet und braucht: Sie driftet in die Welt der Simulakren, wird selbst zu einem monströsen Simulakrum und bricht als solches auf vielfältige, vor allem ästhetisch vermittelte Weise, als ‚Untote‘ in die Welt des Augenblicks, wo ihre leeren resp. ausgehöhlten Signifikate sich vom Blut der lebendigen Ereignisse nähren und diese ihrerseits sich als Signifikanten einer scheinbaren geschichte verfügbar machen und andienen. der film ist für baudrillard in dieser hinsicht symptomatisch. hatte nietzsche von der verdrängung des mythischen durch die überlast der historie gesprochen und daran das negative Moment des Unhistorischen festgemacht, so konstatiert der Franzose, nietzsches beobachtung auf das neue medium hochrechnend: durch die gewalt der geschichte aus der Realität gedrängt, habe der Mythos zunächst eine Zuflucht im Kino gefunden. seine rettung aber in dieses refugium sei nur eine auf zeit gewesen: inzwischen sei zu beobachten, dass die geschichte, jetzt ihrerseits aus der realität und dem alltag der kultur vertrieben, „eine gewaltige wiederauferstehung“ im kino feiere, sie sei nun selbst „als unser verlorener bezug“  zum mythos geworden. es sei aber ein Missverständnis, sich darüber zu freuen. Nach kurzer Zeit sei Geschichte im Film vom Mythos zum Simulakrum mutiert: „Während so viele Generationen […] im Laufschritt der Geschichte gelebt haben, […] hat man heute den Eindruck, daß die Geschichte sich zurückgezogen hat, ein Nebel der Indifferenz hinter sich zurücklassend, […] aber all ihrer Bezüge entleert. In dieser Leere fließen die Phantasmen einer versunkenen Geschichte zusammen, in ihr sammelt sich das arsenal der ereignisse, ideologien und retro-moden – nicht so sehr, weil die leute daran glauben oder darauf irgendeine hoffnung gründen, sondern einfach, um die Zeit wiederaufleben zu lassen, in der es wenigstens Geschichte   



ders., Das Jahr 2000 wird nicht stattfinden, in: Spuren, berlin , . ders., Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen, . Lipperheide konstatiert in diesem Zusammenhang: „Als Entgrenzung jeder Art von geschichtlicher und gesellschaftlicher Synthese rührt die attestierte Geschichtslosigkeit aus der Interferenzlosigkeit von Fakten und Ereignissen mit ihren Wirkungen und Folgen im totalen Kommunikations- und simulationszwang“ (christian lipperheide, Nietzsches Geschichtsstrategien. Die rhetorische Neu­ organisation von Geschichte, ). Jean baudrillard, Geschichte: Ein Retro­Scenario, in: ders., Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen, .



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gab.“ Das Ergebnis, so Baudrillards Fazit, ist die Entdeckung eines allgemeinen RetroVerhaltens und einer „Retro-Faszination“: Um der Leere zu entgehen, werden „kunterbunt […] nach maßgabe dieser bedrängnis sämtliche inhalte wachgerufen […], wird alle frühere Geschichte in wildem Durcheinander wieder lebendig – keine zwingende Idee mehr, die auswählen würde, bloß Nostalgie akkumuliert endlos.“ gerade darin zeigt sich die Beziehungslosigkeit der modernen Zeit zur Geschichte. da alles nur ein ‚retro-Scenario‘ ist, ist alles historisch gleich gegenstands- und bedeutungslos. Es gibt keine Geschichte mehr, in der Realität nicht und nicht im Kino. Hyperähnlichkeiten entstehen durch eine Welt der Simulakren, an denen nicht mehr zu entscheiden ist, woher ihre Originale stammen, ob es sie überhaupt gibt oder je gegeben hat. sie repräsentieren nur sich selbst, weil hinter ihn nichts ist oder war. Wie die moderne neo-figurative Malerei, deren Bilder „so exakt, so minutiös, geronnen in einem Zustand, in dem ein totaler Verlust des realen sie erfaßt zu haben scheint“, so sind moderne filme, die sich historisch geben: Remakes mit unübertroffener Perfektion. Sie lassen und machen gleichgültig, füllen das modewort ‚cool‘, das der philosoph als symptomatisch für ein quasi-ästhetisches rezeptionsverhalten in sein kulturkritisches Vokabular aufnimmt. Das Aufgreifen historischer Themen geriert zur bloßen Simulation, nicht zu ihrer „Wiedererweckung“. Perfekt inszeniert, medientechnisch präzis: „alle ingredenzien sind da, strengstens dosiert, nicht ein einziger fehler.“ Aber es sind Phantome; darin verlieren sich Film und Geschichte gleichermaßen im „nirgendwo der medientechnologien“.0 Da öffnen sich keine Horizonte mehr. der in flussers terminologie ‚telematischen gesellschaft‘ steht es nicht mehr frei, sich für oder gegen medial vermittelte geschichtsbilder zu entscheiden noch deren authentizität anzuzweifeln. sie werden als gegeben suggeriert, bei gleichzeitiger mitlieferung ihrer generellen infragestellung. ein prozess, der nach baudrillard irreversibel ist. Die Stichworte der Kritik figurieren eine aggressive und Nietzsche radikalisierende Besichtigung moderner Medienkultur und ihrer Folgen für den Umgang mit der geschichte. die diagnose beider ist ähnlich: die dominanz der historie führt bei nietzsche in den Zustand einer kulturellen Krankheit, Historisches verschlingt Geschichte in sich, das Unhistorische als ‚Gegenmittel‘ wird von ihm infiziert und macht sich zum methodischen und mentalen Komplizen für die Austreibung der Geschichte; Baudrillard sieht als Haupttendenz postmoderner Medienkultur deren beliebigen Zugriff auf alles, was medial-performatives Thema werden kann und darin das geschichtsschluckende Moment als voraussetzung der ex negativo als Retro-Scenario definierten Erinnerungskultur. Seine Kritik erfährt inzwischen Bestätigung in den TV-Serien, die mit desinteressierender technischer Perfektion den Themen eine Stilisierung ins Magische und Scheinhistorische resp. Zukünftige geben, denen aber alles Historische und Zukünftige abgeht. Gegenwär 

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ders., ebd., 0. geschichtliche ereignisse, die möglichst nicht weit von der eigenen zeit sich abgespielt haben, erwecken das größte Interesse. So ist es nach Baudrillard zu erklären, warum zum Beispiel Themen aus der faschistischen vergangenheit so oft aufgegriffen werden (ebd., ). ders., ebd., . ders., ebd., . angela spahr, Der Sturz des Ikarus. Im Nirgendwo der Medientechnologien, in: Gegenworte, heft 0, 00, 0f.

„[…] dass die Weisen aller Zeiten unhistorisch gedacht haben“



tig sind sie auch nicht. Nicht einmal dies wird als Defizit wahrgenommen oder reflektiert. dem entspricht ihre ebenso leichtfertige wie belanglose in-szene-setzung.

v So ist die Welt der amerikanischen Science-Fiction-Serie Andromeda aus den Jahren 000/ 00, ausgestrahlt von RTL 2. nietzsches problematische hoffnung in der Genea­ logie der Moral, der Mensch der Stärke und Zukunft, der alle Schwächen und jeden Nihilismus hinter sich gelassen habe, müsse kommen, jener Mensch, der „durch Kriege und Siege gekräftigt“, dem „die Eroberung, das Abenteuer, die Gefahr, der Schmerz sogar zum bedürfnis geworden ist“, der gewöhnt ist „an scharfe hohe luft“, dem eine „art sublimer Bosheit“ (KSA, GM, 5, 336) zum Wesen gehört. In der hypergalaktischen Welt der Andromeda ist er in einem Teil der extraterristischen Weltbevölkerung, in den ‚Nietzscheans‘, Wirklichkeit geworden: „Die Nietzscheaner (homo sapiens invictus) [die Unbesiegbaren – r. r.] entstanden durch gentechnische veränderung menschlicher dna, die größere, stärkere, schnellere und intelligentere Menschen hervorbrachte, welche gegen die meisten Krankheiten und Gifte immun sind und unter extremen Bedingungen überleben können. Sie sollten lebende Götter sein […] Der Schöpfer dieser Rasse ist der menschliche Genetiker Paul Museveni, der auf der von ihm gegründeten Ayn Rand Station den ersten nietzscheaner, drago museveni, erschuf. die nietzscheaner hängen den lehren des deutschen philosophen friedrich nietzsche an.“ Ihr Anteil an der Weltbevölkerung liege zwischen 8% und 10%; sie wählen ihre Partner nach genetischen Gesichtspunkten und tragen als Zeichen ihrer Partnerschaft am Oberarm eine Schmuckspange, die man zunächst ikonographisch als germanischen Fibelschmuck ansehen könnte, der sich aber als ausschnitt aus der doppelhelix der eigenen dna entschlüsselt. am unterarm besitzen sie als Identifikationszeichen der Stammes- und Rassezugehörigkeit und als Waffe zugleich drei ausklappbare Knochenklingen. Ihre Sozialstruktur ist in Alpha-, Beta- und Omega-Nietzscheaner gegliedert, die wiederum nach einer strikten Clan-Hierarchie leben. mit anderen weltbewohnern, perseiden, pyrianern vedranern, kalderanern stehen sie in kriegerischen Auseinandersetzungen; auch intern leben sie in steten Machtkämpfen um die herrschaft unter den clangruppen. zu ihren lebensmaximen gehören weisheiten wie: „und die stämme sollen wie einer sein, mächtig im licht und allen wesen überlegen“, „Es spielt keine Rolle wie wir sterben. Hauptsache ist, wir waren bessere menschen, als wir gedacht hatten. und nicht schlechtere als wir befürchtet hatten“, „für die seele des nietzscheaners gilt folgendes: wir sind arrogant. wir sind eitel. wir manipulieren. wir sind egoistisch. und wir lieben unsere kinder“ – leitsätze aus den folgen mit titeln wie Göttlicher Herzschlag, Der Messias und Der Unbezwingbare. die übersetzung des Nietzscheschen Zukunftsmenschen in den Nietzscheaner ist wenig originell, hat vielfältige literarische vorläufer im trivialen bereich seit der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert. Seine Steigerung ist indes nicht nur eine weiterentwickelter technischer    

http://de.wikipedia.org/wiki/Andromeda_%28Fernsehserie%29, 5 (Zugriff am 20. 3. 2007). http://andromeda_logs.tripod.com/nietzschean/forarm.htm (Zugriff am 20. 3. 2007), 2. http://de.androwiki.st-city.net/index.php/Nietzscheaner (Zugriff am 20. 3. 2007), 2. http://de.androwiki.st-city.net/index.php/Drago_Museveni (Zugriff am 20. 3. 2007), 1.

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Renate Reschke

hochrüstung und trivialisierender inanspruchnahme moderner naturwissenschaftlicher Erkenntnisse: Gene Roddenberrys und Robert Hewett Wolfes Figuren fügen sich vielmehr in ein geschichtsverständnis, das sich der historie bedient, um sie im immer gleichen ereigniswirbel der baudrillardschen neutralisierung verschwinden zu lassen, sie in historistischer Beliebigkeitspluralität unkenntlich zu machen. Sie geben ein Gleichnis dafür, wie sehr jegliche Historizität zerstört ist in einer Authentizität und Objektivität vorgebenden Darstellungsstrategie und Perspektive, die ohne existenzielle Sinnentfaltung und kulturellen Sinnbezug sind. Sie geben ideologiekritischer Analyse Stoff zur Reflexion ihrer Gründe und Kalküle. Hier soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass sie als Simulakren selbst eine Scheinhaftigkeit zweiter Potenz repräsentieren, da sie nur noch Simulakren von Simulakren sind. Nietzsche selbst hätte sie unter die Optik eines schranken- und geschichtslosen Nihilismus gestellt und als das negativ ‚Unhistorische‘ schlechthin, das, sich selbstaufwertend, als historie verstanden werden will, gesehen.

marco brusotti

„vergangenes und fremdes“ zum umgang mit fremdkulturellem in nietzsches zweiter Unzeitgemässer Betrachtung

nietzsches zweite Unzeitgemässe Betrachtung nennt „vergangenes und fremdes“ (ksa, hl, , ) oder „das fremde und vergangne“ (ebd., ) in allen denkbaren variationen zusammen. die angeprangerte historische krankheit soll nämlich auch darin bestehen, dass die moderne geschichtsforschung die vergangenheit aller kulturen, „alles vergangene, eigenes und fremdestes“ (ebd., ), wahllos aufnimmt. es geht also primär um fremde Vergangenheit, aber darüber hinaus hat nietzsche den umgang mit fremdkulturellem überhaupt im blick. die fähigkeit der griechen, aus fremden elementen eine neue kultur zu schaffen, hat für ihn vorbildcharakter. er bewundert ihr vermögen, „das Chaos zu organisiren“ (ebd., ), aber nachahmenswert scheint ihm weit mehr die art, wie sie eine „ueberschwemmung durch das fremde“ abgewehrt haben (ebd.), als ihre bereitschaft, dieses an sich heranzulassen. die würdigung des griechischen synkretismus ist also anders gemeint als beim späten nietzsche: sie ist noch kein lob des übernationalen, übereuropäischen. an der schilderung des griechischen umgangs mit fremdkulturellem lässt sich daher verfolgen, wie der philosoph sich von seiner frühen befangenheit in einer durch schopenhauer und wagner geprägten gedankenwelt allmählich freimacht. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben traf den nerv der zeit, der autor konnte sich darin jedoch sehr bald nicht mehr wiedererkennen. es besteht ein bemerkenswerter kontrast zwischen der großen popularität, die nietzsches „betrachtung über den werth und den unwerth der historie“ (ebd., ) noch heute genießt, und der spürbaren zurückhaltung, die der autor selbst in hinsicht auf sie immer wieder zeigt. seine verlegenheit geht weit über die allgemeinen vorbehalte hinaus, die er sonst gegen den „Jesuitismus“ (ksa, nf, 0, 0) seiner ersten periode äußert. dem freigeist, der eine historische philosophie vertritt, erscheint die zweite Unzeitgemässe rückblickend als „Versuch die Augen zu schliessen gegen die erkenntniss der historie“ (ksa, nf, , ).  sieht er sie offenbar in einem etwas günstigeren licht; denn die vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches II wehrt gerade diesen vorwurf ab. auch richtigstellung und selbstverteidigung hier klingen freilich kühl genug: „[…] und was ich gegen die ‚historische krankheit‘ gesagt habe, das sagte ich als einer, der von ihr langsam, mühsam 

Jörg salaquarda hat auf diesen kontrast aufmerksam gemacht (ders., Studien zur „Zweiten Unzeit­ gemäßen Betrachtung“, in: Nietzsche­Studien  (), ff.).



Marco Brusotti

genesen lernte und ganz und gar nicht willens war, fürderhin auf ‚historie‘ zu verzichten, weil er einstmals an ihr gelitten hatte“ (ksa, ma-, 0). wie die textgenese zeigt, lag die ursprüngliche absicht der gedankenwelt des späten nietzsche noch ferner als das veröffentlichte endergebnis. zuerst hatte er einfach alexandrinische und tragische kultur, die antiquarische tendenz der ersteren und die monumentale tendenz der letzteren, die historie als wissenschaft und das überhistorische einander schroff entgegengesetzt: der epigonalen, antiquarischen, wissenschaftlichen tendenz der alexandriner (und der modernen) stand die monumentale, un- und überhistorische, genial-schöpferische tendenz der tragiker gegenüber. den ausgangspunkt bildeten also die an schopenhauer und wagner angelehnten begriffspaare der Geburt der Tragödie. im laufe der arbeit ging der autor jedoch über diese gegensätze hinaus und gelangte zu einer differenzierteren position: das binäre schema wich allmählich einem komplexeren, jene schlichten dichotomien den bekannten ternären unterscheidungen. in der Unzeitgemässen wird damit ein labiles gleichgewicht erreicht, ein nur prekäres eben, denn die entsprechenden lösungen konnten nietzsche bald nicht mehr genügen. auch das bekannteste unter den ternären schemata, die drei arten der historie, gehört nicht zum urkern der Betrachtung. zuerst wurden antiquarische und monumentale historie gegenübergestellt; die erstere fiel dabei mit der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung und mit der ‚historischen krankheit‘ auch noch zusammen, was in der endfassung von keiner der drei arten gilt. die kritische historie kam als dritte art, die vergangenheit zu betrachten, erst spät hinzu. (kritisch gegenüber der gegenwart sollte zuerst vor allem die monumentale historie wirken, indem sie ein unzeitgemäßes ideal aufstellte.) die kritische historie wird gleichsam als eine rückkehr des verdrängten aufgefasst, als „die zeitweilige vernichtung dieser vergessenheit“ (ksa, hl, , ), eine vernichtung, die, wenn auch zum leben immer wieder nötig, besonders riskant scheint. ihr möglicher nutzen wird erst in der endphase der abfassung eingestanden, gleichsam im letzten augenblick, und dieser gefährlichsten funktion der geschichtsschreibung wird im buch am wenigsten platz eingeräumt. das zugeständnis wird nietzsche aber bald nicht mehr reichen. nicht lange nach erscheinen der Unzeitgemässen wird die erst durch eine differenzierung der argumentation hinzugekommene kritische betrachtung der vergangenheit zu seinem zentralen anliegen. in Menschliches, Allzumenschliches vollzieht er eine wendung zum historischen philosophieren; von diesem neuen standpunkt aus blickt er nur mit befremden auf seine zweite Unzeitgemässe zurück. auch geschichte und kritik nehmen nun eine neue gestalt an, mit deren radikalität die kritische historie noch wenig zu tun hat. das Incipit, in dem das vergessen als positive kraft – und als fundamentale funktion des ‚lebens‘ – gewürdigt wird, fügt die kulturkritische analyse, den angriff auf die wissenschaftliche geschichtsschreibung, in eine grundsätzlichere anthropologische betrachtung ein, die bis in die weit allgemeinere dimension des „lebens“ hineinreicht. der  

zur textgenese: ders., ebd., ff. zum ersten kapitel: marco brusotti, Figure della caducità. Nietzsche e Leopardi, in: sebastian neumeister, raffaele sirri (hg.): Leopardi poeta e pensatore /Dichter und Denker, neapel ; ders., Heidegger su storia monumentale e ripetizione. La seconda Considerazione inattuale di Nietzsche in Essere e tempo, in: carlo gentili, werner stegmaier, aldo venturelli (hg.), Metafisica e nichili­ smo: Löwith e Heidegger interpreti di Nietzsche, bologna 00.

„Vergangenes und Fremdes“



würdigung des vergessens, dessen positiver charakter herausgestrichen wird, entspricht eine konträre lesart des erinnerns: nicht das vergessen erscheint als unfähigkeit, sich zu erinnern, sondern das erinnern als unfähigkeit zu vergessen (und diese als krankheit, als leiden an dem ‚es war‘). die wissenschaftliche geschichtsschreibung wird dementsprechend nicht nur, wie naheliegend, als eine form (historischer) erinnerung gekennzeichnet, sondern weniger selbstverständlich als unfähigkeit zu vergessen und damit als historische krankheit, als „ueberwucherung des lebens durch das historische“ (ebd., ). die analogie zwischen mangel an historischem wissen und vergessen – oder zwischen verzicht auf historie (und wissenschaft überhaupt) und notwendigkeit zu vergessen – wird bildreich vorgetragen, und diese bilder ziehen weitere nach sich. nietzsche vergleicht eine durch historisches Wissen überflutete Kultur mit einem einzelnen, der seine persönliche vergangenheit nicht bewältigen kann, der mit ihr nicht fertig wird. woran es in beiden fällen mangelt, ist, so nietzsche, die ‚plastische kraft‘, die er nicht einfach als künstlerisches gestaltungsvermögen versteht, sondern grundsätzlicher als assimilations- und regenerationskraft des organismus. von dieser kraft hängen nutzen und nachteil der historie für das lebendige ab; diese „innewohnende plastische kraft“ muss die „beziehung einer zeit, einer cultur, eines volkes zur historie“ „in schranken“ (ebd., ) halten; wenn dies nicht gelingt, wird wiederum „die plastische kraft des lebens angegriffen, es versteht nicht mehr, sich der vergangenheit wie einer kräftigen nahrung zu bedienen“ (ebd., ). alles hängt also davon ab, „wie gross die plastische Kraft eines menschen, eines volkes, einer cultur ist, […] jene kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen, vergangenes und fremdes umzubilden und einzuverleiben, wunden auszuheilen, verlorenes zu ersetzen, zerbrochene formen aus sich nachzuformen“ (ebd., ). in einer Variante dieser Stelle identifiziert Zur Genealogie der Moral, anders als die Jugendschrift, vergessen und ‚plastische kraft‘: demnach wirkt „ein überschuss plastischer, […] auch vergessen machender kraft“ – oder genauer, mit weiteren an die zweite Unzeit­ gemässe anklingende epitheta, „ein überschuss plastischer, nachbildender, ausheilender, auch vergessen machender kraft“ (ksa, gm, , ) – dem ressentiment bzw. dessen ‚vergiften‘ entgegen, dient also der vergangenheitsbewältigung. 



eine knappe notiz zu dem begriff nennt Jacob burckhardt: „Jacob burkh. verruchte menschen plastische kraft“ (kgw, iii, , .) auf die plastische kraft in burckhardts Kultur der Renaissance in Italien weist heinz d. kittsteiner hin: Erinnern – Vergessen – Orientieren. Nietzsches Begriff des „umhüllenden Wahns“ als geschichtsphilosophische Kategorie, in dieter borchmeyer (hg.), „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“. Nietzsche und die Erinnerung in der Moderne, frankfurt am main ,  (anm. 0). in der rhetorik-vorlesung wird die „freie […] plastische […] kraft“ des redners erwähnt (kgw, ii, , ; dazu franz-hubert robling, Plastische Kraft. Versuch über rhetorische Subjektivität bei Nietzsche, in: Nietzsche­Studien  (), 0f.). ingo christians macht auf begriffsgeschichtliche vorgänger in der biologie (die vis plastica) aufmerksam (Reiz und Sporn des Gegensatzes. Zu Nietzsches Konzeption der Kraft, würzburg 00, zur plastischen kraft 0–0, zu den begriffsgeschichtlichen zusammenhängen ff.). die vorrede von  zu Menschliches, Allzumenschliches I stellt ebenfalls die ‚plastischen kräfte‘, diesmal im plural, nur in ihrer regenerativen wirkung dar (also mehr als wiederherstellungs- denn als assimilationsvermögen): der „ueberschuss an plastischen, ausheilenden, nachbildenden und wiederherstellenden kräften“ sei „das zeichen der grossen gesundheit“, das merkmal „jener reifen freiheit des geistes“, von der der mittlere nietzsche noch weit entfernt gewesen sei (ksa, ma-,



Marco Brusotti

für das vergessen und seine wirkung wählt die zweite Unzeitgemässe eine räumliche analogie: den geschlossenen, eingeengten horizont. es geht um „die kunst und kraft vergessen zu können und sich in einen begrenzten Horizont einzuschliessen“ (ksa, hl, , ), um die fähigkeit, „einen horizont um sich zu ziehen“ (ebd., ); denn „jedes lebendige kann nur innerhalb eines horizontes gesund, stark und fruchtbar werden“. der horizont kann „geschlossen und ganz“ oder sogar „eingeengt wie der eines alpenthalbewohners sein“ (ebd., ); gefährlich wird es nur, wenn die „horizont-perspektiven“, „die linien seines horizontes immer von neuem unruhig sich verschieben“ (ebd.). die räumliche metaphorik hängt auch damit zusammen, dass das vergessen nicht nur zeitlich gemeint ist. es geht nicht lediglich um vergangenes, selbst wenn dieses, wie in einer betrachtung über geschichte zu erwarten, im vordergrund steht. das vergessen steht für „alle horizont-umschränkungen“ (ebd., ). es ist, wie dann auch in der Genealogie der Moral, die Kraft, die jede denkbare Reizüberflutung abwehrt (Nietzsches Bilder – das ‚einströmen‘, die ‚ueberschwemmung‘ – sind dem heutigen ausdruck verwandt). bei der ‚historischen krankheit‘ geht es dementsprechend nicht nur um die überforderung durch vergangenes. (und nietzsche befürchtet nicht nur eine quantitative überbeanspruchung durch belangloses.) die historie ist hier vielmehr das medium, durch das in eine kulturelle formation (auch) fremdes eindringt. das maß einer möglichen horizont-erweiterung sieht nietzsche in der plastischen kraft „eines menschen, eines volkes, einer cultur“ (ebd., ), und diese kann durch fremdkulturelles leicht überfordert werden. an der deutschen kultur vermisst er das vermögen, „das fremde und zusammenhangslose“ (ebd., ) zu organisieren; sie bleibe „ein in sich kämpfendes chaos des gesammten auslandes, der gesammten vorzeit“ (ebd., ). die ausländische vorzeit gehört also zu dem, was die deutsche kultur überfordert, aber es geht nicht nur um (fremde oder eigene) vergangenheit. bereits die Geburt der Tragödie hatte die wesentliche kulturleistung der griechen darin erblickt, daß sie einen fremden rohen „naturkult“, „den aus asien heranstürmenden dionysos“ (ksa; dw, , ), bändigten, sublimierten, idealisierten und mit dem hellenischen kunstgott apollo einen „bruderbund“ (ksa, gt, , 0) eingehen liessen. als volk, das „in der periode seiner grössten kraft“ sich „einen unhistorischen sinn zäh bewahrt“ (ksa, hl, , ) hatte, sind die griechen auch in der zweiten Unzeitgemässen ein ideal. nietzsche würdigt ihre fähigkeit, „das Chaos zu organisiren“ (ebd., ); als vorbildlich betrachtet er dabei jedoch, wie eingangs vorweggenommen, weit mehr die art und weise, wie sie die gefahr einer „ueberschwemmung durch das fremde“ abgewehrt haben (ebd.), als ihre bereitschaft, sich diesem auszusetzen. zwar wird der griechische synkretismus bereits hier gepriesen, aber das lob hat noch nicht die spätere valenz; denn die zweite Unzeitgemässe sieht in jener kulturellen synthese ein vorbild für die künftige herausbildung einer nationalen kultur, noch nicht einer übernationalen, europäischen. das pamphlet gegen die ‚historische krankheit‘ speist sich bewusst aus dem umgang des gelehrten mit der griechischen vergangenheit. nur als „zögling älterer zeiten, zumal der griechischen“, also nur „als classischer philologe“, sei der autor „zu so unzeitgemässen erfahrungen“ gekommen; „denn ich wüsste nicht, was die classische philologie in , ); zum „überschuß an plastischen nachbildenden wiederherstellenden kräften“ vgl. die frühere fassung (ksa, nf, , ; ksa, , 00).

„Vergangenes und Fremdes“



unserer zeit für einen sinn hätte, wenn nicht den, in ihr unzeitgemäss – das heisst gegen die zeit und dadurch auf die zeit und hoffentlich zu gunsten einer kommenden zeit – zu wirken“ (ksa, hl, , ). der gegensatz zwischen modernem alexandrinismus und tragischem zeitalter bildete den ersten keim, aus dem die Betrachtung hervorging. die ‚historische krankheit‘, der die Jetztzeit verfallen sei, ist in den augen des autors eine typisch moderne erscheinung, aber nicht ohne antike analogien. nicht erst die alexandriner bilden eine; die zweite Unzeitgemässe zieht vielmehr explizite vergleiche sowohl zum vortragischen griechenland wie auch zum kaiserlichen rom. im stil der monumentalen geschichtsschreibung stellt der schluss die kulturleistung der griechen als wegweiser für künftige entwicklungen hin. auch sie, führt nietzsche aus, liefen wie die modernen gefahr, an der „ueberschwemmung durch das fremde und vergangne, an der ‚historie‘“ zugrunde zu gehen; „ihre ‚bildung‘ war […] lange zeit ein chaos von ausländischen, semitischen, babylonischen, lydischen aegyptischen formen und begriffen und ihre religion ein wahrer götterkampf des ganzen orients: ähnlich etwa wie jetzt die ‚deutsche bildung‘ und religion ein in sich kämpfendes chaos des gesammten auslandes, der gesammten vorzeit ist“ (ebd., ). „[d]er römer der kaiserzeit“ war einer ähnlichen gefahr ausgesetzt und erlag ihr; er wurde „im hinblick auf den ihm zu diensten stehenden erdkreis“ „unrömisch“, und die zweite Unzeitgemässe schildert, „wie er sich selbst unter dem einströmenden fremden verlor und bei dem kosmopolitischen götter-, sitten- und künste-carnevale entartete“ (ebd., ). die drohende „ueberschwemmung durch das fremde“ (ebd., ) in griechenland und der selbstverlust „unter dem einströmenden fremden“ (ebd., ) in rom bilden hier also antike analogien zur historischen krankheit der modernen. griechenland und rom standen vor ähnlichen herausforderungen, aber der ausgang war jeweils ein entgegengesetzter, denn sie gingen nicht auf dieselbe weise mit fremdkulturellem um. den „römer der kaiserzeit“, der „unter dem einströmenden fremden“ sich selbst „verlor“ und „unrömisch“ wurde, stellt nietzsche als mahnung hin. der moderne mensch droht auf ähnliche weise zu „entarte[n]“: da die „historischen künstler“ ihm „fortwährend das fest einer weltausstellung“ bereiten, wird er gleichsam „zum geniessenden und herumwandelnden zuschauer“ (ebd.). ganz anders „die hellenische cultur“: sie wurde bei allem synkretismus „kein aggregat“ (ebd., ). dass die griechische welt ein organisches ganzes blieb, hatte sie, so nietzsche, dem delphischen spruch zu verdanken: dem apollinischen ‚erkenne dich selbst‘: „die griechen lernten allmählich das Chaos zu organisiren“, und zwar dadurch, dass sie sich selbst und die eigenen „ächten bedürfnisse“ erkannten und so aus dem „chaos des gesammten auslandes“ (ebd., ) einfach das aussiebten, was dem eigenen naturell nicht entsprach. das vermögen, einen horizont um sich zu ziehen, ist die fähigkeit, eigenes und fremdes zu trennen, eine trennung, auf die der junge autor ebenso beharrlich pocht wie auf den topos ‚aggregat contra organismus‘. dieses lob des griechischen synkretismus fügt sich gut in nietzsches frühes, von wagner geprägtes weltbild ein. die zweite Unzeitgemässe stellt einen ‚griechischen‘ und einen ‚romanischen‘ kulturbegriff gegenüber: der romanische ist der begriff einer „dekorativen cultur“, der kultur „als Dekoration des Lebens“, d. h. als „verstellung und verhüllung“ (ebd.). der griechische ist dagegen „der begriff der cultur als einer neuen und verbesserten physis, ohne innen und aussen, ohne verstellung und convention, der cul-



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tur als einer einhelligkeit zwischen leben, denken, scheinen und wollen“ (ebd., ). im konstruierten gegensatz eines ‚romanischen‘ und eines ‚griechischen‘ kulturbegriffs stehen sich nicht nur rom und griechenland gegenüber, sondern vor allem die aktuelle französische zivilisation, die selbst nach der militärischen niederlage deutschland weiterhin beherrscht, und eine erhoffte, mögliche, künftige deutsche kultur, die an die griechen wieder anknüpfen soll. für den romanischen kulturbegriff steht also nicht nur das kaiserliche rom, sondern vor allem das aktuelle frankreich, dem nietzsche mit wagner eine rein äußerliche kultur bescheinigt, in der dem äußeren kein inneres, der form kein inhalt entspricht. während frankreich eine dekorative kultur hat, die das innere eher kaschiert als ausdrückt, besitzt deutschland in nietzsches augen noch überhaupt keine kultur, es hat gleichsam einen inhalt ohne form, einen inhalt, der sich allerdings leicht verflüchtigen kann. Beide Länder kennzeichnet insofern „die eigenste Eigenschaft“ des modernen menschen: „der merkwürdige gegensatz eines inneren, dem kein aeusseres, eines aeusseren, dem kein inneres entspricht, ein gegensatz, den die alten völker nicht kennen“ (ebd., ). der griechische kulturbegriff ist hier verbunden mit der „hoffnung auf eine jetzt noch kommende nationale cultur“ (ebd., ), auf „die deutsche Einheit in jenem höchsten sinne […], die wir erstreben und heisser erstreben als die politische wiedervereinigung, die Einheit des deutschen Geistes und Lebens nach der Vernichtung des Gegensatzes von Form und Inhalt, von Innerlichkeit und Convention“ (ebd., ). die zweite Unzeitgemässe ist, nietzsche selbst wird es später einräumen, nur bedingt unzeitgemäß, selbst wenn der autor die machtpolitischen ansprüche des neuen reichs und seine eigenen kulturpolitischen gegenüberstellt. das lob des synkretismus weist an und für sich noch nicht auf eine antinationalistische einstellung hin. so steht der griechische kulturbegriff im gegensatz zum „kosmopolitischen götter-, sitten- und künste-carnevale“ (ebd., ) der römischen kaiserzeit und zum aktuellen „zustand eines volkes in der nähe“, dem französischen nämlich, „das die treue gegen seine vorzeit verloren hat und einem rastlosen kosmopolitischen wählen und suchen nach neuem und immer neuem preisgegeben ist“ (ebd., ). auch in dem, was „sich jetzt mit besonderem dünkel ‚deutsche kultur‘ nennt“, sieht nietzsche, nicht ohne antisemitische spitze, „ein kosmopolitisches aggregat, das sich zum deutschen geiste verhält, […] wie meyerbeer zu beethoven“; er führt diesen kosmopolitismus auf den „stärksten Einfluß“ zurück, der selbst nach der politischen Niederlage „die im tiefsten fundamente ungermanische civilisation der franzosen“ auf deutschland ausübt (ksa, ba, , 0). 



berührungspunkte zwischen dem jungen nietzsche und wagner wie die gegenüberstellung zwischen ‚romanischem‘ und ‚griechischem‘ bzw. ‚germanischem‘ oder gemeinsame zivilisations- und modernitätskritische argumente können hier nur erwähnt werden. marco brusotti, Politik, in: stefan lorenz Sorgner, H. James Birx, Nikolaus Knoepffler (Hg.): Wagner und Nietzsche. Kultur – Werk – Wirkung. Ein Handbuch, reinbek bei hamburg 00. in zukunft soll „das volk […] wirklich etwas lebendig-eines sein und nicht so elend auseinanderfallen. diese einheit ist das höhere ideal: das, was wir deutsch nennen, ist noch gar nicht völlig da, sondern nur erst zu erhoffen: seine gesundheit muss durch ausscheiden verdauen endlich hergestellt werden“ (kgw, iii, , ). der volksbegriff wie auch das konzept eines deutschtums der zukunft ist hier offensichtlich an wagner angelehnt.

„Vergangenes und Fremdes“



Im allgemeinen findet sich in der zweiten Unzeitgemässen vieles, was für nietzsche auch später von bedeutung ist, aber im zusammenhang eines weltbildes, von dem er sich dann freimachen wird. dies gilt auch für die betrachtungen über den griechischen synkretismus. dieser wird kurz darauf zum gegenstand der vorlesung über den Gottesdienst der Griechen. das manuskript beginnt im sinn der monumentalen geschichtsschreibung, indem der autor das griechische festwesen als ein unerreichtes vorbild hinstellt: „es hat nie einen solchen gottesdienst gegeben wie den griechischen“ (kgw, gdg, ii , ). anschließend aber unterzieht nietzsche diesen synkretismus einer gründlichen historischen und ethnologischen analyse und gewinnt so einen deutlichen abstand zur griechischen welt: gerade die von der zweiten Unzeitgemässen verspottete wissenschaftliche erforschung marginaler völker und primitiver stämme soll nun den altgriechischen kult verständlich machen. damit wird die griechische kultur anders gedeutet. in der zweiten Unzeitgemässen erkannte das griechische volk sich selbst und seine innere natur, bevor es zu jener synkretistischen synthese kam, es gliederte fremdkulturelles in diese bereits erkannte eigene natur ein und schied fremdartiges aus. bereits im darauffolgenden Jahr wird dagegen betont, dass es am anfang überhaupt keine griechen mit einer eigenen natur und eigenen bedürfnissen gab. die volksgenese fand erst in jener synthese statt. In Nietzsches Reflexionen zum Synkretismus lassen sich ein relativ konstantes Grundthema, das nachdrückliche insistieren auf plastische kraft und gestaltungsmacht, und ein flüssigerer Aspekt unterscheiden: die variable kulturpolitische Kontextualisierung dieses anliegens. er preist bis zuletzt die fähigkeit, das chaos zu organisieren, aus disparatem ein organisches ganzes zu formen, zieht daraus jedoch zu verschiedenen zeiten verschiedene kulturpolitische schlüsse, und in hinsicht auf den nationalen oder übernationalen charakter der erhofften neuen kultur vollzieht er eine regelrechte kehrtwende. man darf also weder die würdigung des synkretismus als schon an sich antinationalistisch verstehen (sie ist es in der zweiten Unzeitgemässen nicht) noch den späteren äußerungen weiterhin die frühen kulturpolitischen ansichten unterstellen. der synkretismus der griechen, der in der betrachtung über die geschichte noch den weg zu einer neuen nationalen kultur zeigen sollte, wird am ende zum vorbild einer künftigen übernationalen, europäischen. Der heutige Leser darf die entsprechenden Reflexionen freilich nicht unüberlegt aktualisieren; bedenkliche seiten weisen sie nach wie vor auf, und humanitäre, liberale oder gar demokratische anliegen bleiben dem philosophen fremd. wie die griechen mit Fremden umgingen, behandelt er eher beiläufig und beschränkt sich im wesentlichen auf die art, wie sie sich fremdkulturelle formen und inhalte aneigneten. trotz alledem aber



marco brusotti, „Der Cultus wird wie ein fester Wort­Text immer neu ausgedeutet“. Nietzsches Betrachtungen über den Synkretismus im Gottesdienst der Griechen und die Genealogie der Moral, in: Nietzscheforschung, bd.  (00). im selben wintersemester (–) zeigt nietzsche im dritten teil seiner vorlesung über geschichte der griechischen literatur, dass die „entstehung der griech.‹ischen› Poesie […] nicht autochthon [geschah], sondern auf fremden Einfluß hin“ (GGL, 0). wie in der anderen vorlesung in hinsicht auf den kultus wird hier in hinsicht auf die poesie gezeigt, dass „die genesis durch auswärtige antriebe bedingt“ ist: „keine autochthone genesis[,] vielmehr asiat. u. thrakische Einflüsse“ (GGL, 309, 312).



Marco Brusotti

bricht er allmählich aus seinem frühen national eingeengten horizont aus. gewisse uneinigkeiten in der sekundärliteratur erklären sich aus diesem standpunktwechsel. die Gottesdienst-vorlesung macht einen entscheidenden schritt in die neue richtung, aber noch nicht den ganzen weg. es geht noch nicht um eine neue europäische kultur, sondern, mit einer dem akademischen anlass entsprechenden zurückhaltung, um die unzulänglichkeiten nationaler kultur. in der linie der ersten Unzeitgemässen wird eine kritik deutscher zustände nach der reichsgründung geäußert: deutschland sei anders als die vorbildlichen griechen nur auf politische macht aus und nicht auf eine kultur der feste. der akzent hat sich aber verschoben und damit allmählich auch die nutzanwendung auf die gegenwart. der philosoph, der sich „mit dem schnellsten schiffe“ „nach cosmopolis“ (ksa, nf, , 0) begeben hat, blickt dann auf den griechischen synkretismus mit anderen augen als der autor der zweiten Unzeitgemässen. gute europäer wie er selbst müssen fähig sein, wenigstens „zeitweilig“ „auch ‚übereuropäisch‘ [zu] denken“ (ebd., 0 ) , und er macht sich einen ‚übereuropäischen‘ blick auf europa zur aufgabe. er und seinesgleichen müssen, heißt es , „schritt vor schritt umfänglicher werden, übernationaler, europäischer, übereuropäischer, morgenländischer, endlich griechischer – denn das griechische war die erste große bindung und synthesis alles morgenländischen und eben damit der Anfang der europäischen seele, die entdeckung unserer ‚neuen Welt‘“ (ksa, nf, , ).



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hubert cancik, hildegard cancik-lindemaier, „Mongolen, Semiten, Rassegriechen“. Nietzsches Umgang mit den Rasselehren seiner Zeit, in: dies.: Philolog und Kultfigur. Friedrich Nietzsche und seine Antike in Deutschland, stuttgart, weimar , andrea orsucci, Orient – Okzident. Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischen Weltbild, berlin, new york , insbes. teil i: Nietz­ sches philologische Lektüren und ethnologische Studien in der Entstehungszeit von ‚Menschliches, Allzumenschliches‘. die zwei arbeiten vermitteln jeweils ein anderes gesamtbild vom Gottesdienst der Griechen: die erste passt eigentlich eher zum frühen nietzsche, die zweite, die das antinationalistische anliegen akzentuiert, zum nietzsche der vorlesung. marco brusotti, „Europäisch­Übereuropäisch“. Zarathustra, der gute Europäer und der Blick aus der Ferne, in Also wie sprach Zarathustra? West­östliche Spiegelungen im kulturgeschichtlichen Vergleich, hg. von mathias mayer, würzburg 00 (eine frühere fassung des beitrags: „Europäisch und über­europäisch“. Nietzsches Blick aus der Ferne, in: Tijdschrift voor Filosofie , 00).

Dezső Csejtei, Anikó juhász

nietzsches geschichtsphilosophische perspektive nach dem ‚ende der geschichte‘

wenn wir zu beginn des . Jahrhunderts einen überblick geben, welche geschichtsphilosophischen publikationen um die Jahrtausendwende erschienen sind, können wir feststellen, dass eine epidemie des so genannten ‚endismus‘ in den genannten Jahren die westliche welt und ihre buchmärkte beherrschte. auffallend zahlreiche abhandlungen und monographien beschäftigten sich in irgendeiner form mit der frage nach dem ende der geschichte. es wäre aber ein großer irrtum, dieses wachsende interesse ausschließlich mit der Jahrtausendwende und den politischen wandlungen, die seit dem anfang der 0er Jahre stattgefunden haben, in zusammenhang zu bringen. die erwähnten faktoren spielten zwar eine rolle in dem untersuchten phänomen, sie waren aber nur äußere anregungen zu jenem tieferen prozess, dessen anfang man schon zu beginn der 0er Jahre beobachten konnte. es handelt sich um nichts geringeres als um eine infragestellung der und abrechnung mit der geschichte. es muss also die frage gestellt werden, was mit der geschichte geschieht, worin ihr gegenwärtiges und zukünftiges schicksal eigentlich besteht. diese abrechnung mit der geschichte war aber schon in den früheren Jahrzehnten mehrmals zu beobachten. der berühmteste fall dafür war die bewertung, genauer gesagt, die ‚umwertung‘, die friedrich nietzsche in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung vollzogen hatte. sie gilt als ein wichtiges vorspiel zu den heutigen diskussionen um das ende der geschichte. so liegt es auf der hand, diese beiden analysenmethoden miteinander zu vergleichen. es muss aber darauf hingewiesen werden, dass in diesem beitrag nur einige aspekte miteinander verglichen werden können. es geht darum, die folgenden fragen zu beantworten: inwiefern gilt nietzsche als ein vorläufer des heutigen posthistoire-diskursus? in welchem umfang sind seine gedanken im umfeld und kontext von posthistoire aktuell? was für ähnlichkeiten und unterschiede zwischen den zwei analyse-arten und betrachtungen können festgestellt werden? diese verkoppelung der verschiedenen analysen ist bei weitem nicht willkürlich. manchmal weisen auch jene, die an den diskussionen über das ende der geschichte unmittelbar teilgenommen haben, darauf hin. norbert bolz, ein hervorragender kenner der posthistoire, bemerkt an einer stelle: „der posthistorische typus betritt die philosophische szene erstmals in ‚zarathustras vorrede‘.“ 

norbert bolz, Der ewige Friede als Farce. Zum Horizont der „Posthistoire“, in: Parabel. Ende der Geschichte. Abschied von der Geschichtskonzeption der Moderne?, münster , .

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Dezső Csejtei, Anikó Juhász

die erste frage besteht darin, wie man das phänomen des ‚historischen‘ bestimmen kann. denn es geht darum, dass wir uns von einem ‚außen‘-standort, einer ‚außen‘-situation von der ‚geschichte‘ und zugleich von dem ‚wissen der geschichte‘ einen überblick verschaffen wollen. im weiteren verwenden wir die genannten begriffe konsequent in dem sinne von res gestae einerseits und von historia rerum gestarorum andererseits. im falle der posthistoire ist es ziemlich schwierig, diesen standort zu bestimmen. auf den ersten blick, scheint es so, als ob man nichts mehr als eine verhaltens- und eine relationsbestimmung vor augen haben würde, in jenem sinne, dass wir uns von dem jetzigen zeitpunkt an zur geschichte anders verhalten müssten als vorher, als in den früheren Jahrhunderten. peter sloterdijk stellt diesen gedanken folgendermaßen dar: „in jüngster zeit hat die vorsilbe ‚nach‘ eine denkwürdige karriere gemacht […] als lateinisches ‚post‘ sprenkelt sie die neuere kulturkritik, sie verbreitet ein flair von eleganter flexibilität, sie suggeriert, dass etwas im gang ist, weil etwas anderes vorüber ist, zu ihr gehört ein bewusstsein, das viele welten hinter sich hat – auch jene, die eine schöne neue werden wollte […] ein kleines nach – und epochen versinken ins überholte.“ lutz niethammer misst dem ‚nach‘ der geschichte eine tiefere bedeutung bei. er schreibt: „‚posthistoire‘ ist der weitestgehende dieser begriffe des danach, denn in ihr wird nicht nur einem charakterisierenden element einer historischen phase (wie moderne, revolution, industrie etc.), sondern der vorstellung von geschichte selbst die zukunft abgesprochen.“ In der Kantischen Sprache könnte man dies alles folgendermaβen formulieren: das ‚nach‘ von posthistoire setzt sozusagen eine transzendentale bedingung der möglichkeit für jedes mögliche ‚nach‘ voraus. dadurch ist aber der ontologische status von ‚nach‘ noch gar nicht klargemacht, es ist also nicht erläutert, worin dieser ‚außenstandpunkt‘ besteht. diese frage wird erst später eingehend dargestellt werden. was können wir bezüglich dieser frage im falle von nietzsche behaupten? es lohnt sich, davon auszugehen, was die zweite Unzeitgemäße Betrachtung direkt suggeriert: vom Leben. Demgemäβ ist der Außenstandort, von dem aus wir über die Geschichte als solche urteilen können und dürfen, das leben selbst. das ist bekannt für viele. die frage aber besteht darin, in welchem sinne der begriff des lebens hier eigentlich vorkommt. in diesem zusammenhang sind wir mit martin heideggers vorstellung, die er im wintersemester / in seinem nietzsche-seminar vertreten hat, nicht einverstanden. „die wichtigste frage in nietzsches zweiter Unzeitgemäßer Betrachtung ist nicht die nach nachteil oder nutzen der historie, sondern nach dem recht der ansetzung ‚des lebens‘ als der grundwirklichkeit im sinne einer kulturbiologie.“ das leben ist in diesem sinne in erster linie nicht eine biologische bestimmtheit, sondern ein leben zum ‚schaffen‘ hin, zum ‚zustandebringen‘, also das, was in jeder zeit noch dem menschen bevorsteht. anders ausgedrückt, ist es ein ‚nach‘ nach dem bisher erreichten. es ist also jene virtuelle stelle, von der aus zurückblickend das phänomen des historischen als ein ganzes betrachtet werden kann. also ist man auch in diesem fall schon ‚nach‘ dem historischen als schon geschehenem wie im falle der posthisto  

peter sloterdijk, Nach der Geschichte, in: Wege aus der Moderne, hg. von wolfgang welsch, weinheim , . lutz niethammer, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende?, hamburg , . martin heidegger, Zur Auslegung von Nietzsches II. Unzeitgemäßer Betrachtung. Freiburger Semi­ nar. Wintersemester 193/39, in: ders., Gesamtausgabe, bd. , frankfurt am main 00, .

Nach dem ‚Ende der Geschichte‘



ire, aber dessen gehalt weist hier auf etwas ganz anderes hin. im falle der posthistoire bedeutet das ‚nach‘ tatsächlich einen ‚abschied‘, eine entfernung vom betätigungsfeld der geschichte. im falle nietzsches kommt dieses ‚nach‘ im gegensatz dazu als das wahre beherrschen, als die wahre ‚bemächtigung‘ der geschichte vor. dieser gedanke erscheint sehr plastisch schon in der einleitung von Vom Nutzen und Nachtheil der Hi­ storie für das Leben: „gewiss, wir brauchen die historie, aber wir brauchen sie anders, als sie der verwöhnte müssiggänger braucht […] das heisst, wir brauchen sie zum leben und zur that“ (kgw, hl, iii, , ). aber warum ist es nötig, im zusammenhang mit der historie einen außenstandort voraussetzen? nach der auffassung der vertreter der posthistoire darum, weil die historie ihre grundeigenschaft, die sie zum letzten mal in der spätphase der moderne besessen hat, und die darin besteht, dass die historie ein solcher integrativer faktor ist, der für die universelle menschliche praxis einen angemessenen rahmen bildet, verloren hat. bei sloterdijk kommt dieser gedanke besonders zum ausdruck, wenn er behauptet: „die karriere der vorsilbe ‚nach‘ deutet an, dass uns, obwohl haarsträubendes geschieht, kein geschichtsbild mehr zur verfügung steht.“ nietzsche, etwa ein Jahrhundert vorher, kämpfte auch schon mit dieser erfahrung. er bemerkt mit scharfen Augen, dass das begriffliche System, das der Historismus nach der christlichen geschichtsauffassung und der spekulativen deutschen geistesmetaphysik für sich aufgebaut hat, unverwendbar ist, weil es für die direkte und qualitative lebensrealität das gegenteil dessen erreicht, was es verspricht. es verkündet die bereicherung des menschlichen lebens im qualitativen sinne des wortes, den aufbau der menschlichen Welt, und realisiert im Gegenteil dazu den Abbau und die Verflachung dieser Welt. Daraus ist zu entnehmen, dass es sich in beiden fällen darum handelt, dass über die ganze frühere struktur der historie radikal nachgedacht werden muss, und dies betrifft sowohl den ‚sinn‘ als auch den ‚prozess‘, den gehalt und die ‚zeit‘ der geschichte. geben wir einen kurzen überblick über diese momente! obwohl charles maurice herzog von talleyrand ironisch die folgende bemerkung machte: die ganze historie sei eine unfallschronik der menschheit und alexander demandt den gleichen gedanken formulierte: „das buch der geschichte ist die stilübung eines dämons mit vielen roten korrekturen“, war die vorstellung, dass die geschichte ein ausgezeichnetes gebiet der ‚sinnbildung‘ ist, in der ganzen zeit der moderne lebendig. in dieser perspektive kam es so vor, dass auch ehemals noch sinnlose katastrophen und ereignisse durch nachträgliche sinngebung, also in einer späteren zeitphase einen sinn erhalten können. es war der posthistoire-diskurs, der diese nachherige und letztendliche sinngebung fragwürdig gemacht hat. das heißt, dass das ende der geschichte nicht das tatsächliche ende als solches thematisiert, sondern dass ein ihr zugeschriebener endsinn bezweifelt wird: „die problemstellung der posthistoire-diagnose ist nicht das ende von welt, sondern das ende von sinn.“ worin besteht die problematik dieses ‚endes von sinn‘ konkret? zuerst im aufheben jenes spekulativen modells, das, wie allgemein bekannt ist, zu beginn des christentums   

peter sloterdijk, Nach der Geschichte, . alexander demandt, Endzeit? Die Zukunft der Geschichte, berlin , . lutz niethammer, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende?, .



Dezső Csejtei, Anikó Juhász

die zirkulare antike vorstellung ablöste. von diesem zeitpunkt an „gehört diese vision nun einmal zum repertoire der okzidentalen geschichtsphilosophie: als bedürfnis, den ‚sinn‘ hinter allen widersinnigkeiten historischer kontingenzen und katastrophen zu behaupten“, wie es martin meyer in seinem buch Ende der Geschichte? schreibt. wenn wir auf grund dessen die geschichte des abendlandes überblicken, können wir grundsätzlich zwei sinnkonstituierende prinzipien feststellen: die ‚glückseligkeit‘ und die ‚produktion‘. die glückseligkeit hörte zum beginn der moderne auf, ein weltgeschichtliches konstituierendes prinzip zu sein. die desintegration der letzteren kann man heutzutage beobachten, wenn das schema von produktion durch die ‚simulation‘ der produktion abgewechselt wird. dies geschieht dadurch, dass der symbolische tauschwert maßlos vergröβert worden ist. also alle historischen außen-zwecke und sinne sind durch das verschwinden der referenzialität und die verwandlung der produktion in eine reproduktion vernichtet.0 in diesem fall könnte man nicht einfach über eine historische ‚Sinnfinsternis‘ oder deren manifestierte ‚Verneinung‘ sprechen, sondern über das aufhören der bedingung der möglichkeit von allem möglichen sinn. man kann über das verschwinden des ‚sinnes vom sinn‘ selbst sprechen, wenn man unter dem sinn das Vorhandensein einer Perspektive, eines finalen Horizontes versteht. Vom geschichtsphilosophischen standpunkt aus verfügt der sinn nämlich über bestimmte topologische merkmale. er lässt immer eine solche virtuelle und zukünftige stelle offen, was später gestaltet und zum gegenstand einer möglichen menschlichen praxis gemacht oder, mindestens im akt der sinngebung, hermeneutisiert werden kann. der heutige weltzustand lässt, von seinem vorhandensein her, eben dieses ‚versprechen‘, diese virtuelle stelle verschwinden. darum ist es möglich, über das ‚verschwinden des sinnes vom sinn‘ selbst zu sprechen. dadurch wird jener metaphysische rahmen zum zusammenbrechen gebracht, innerhalb dessen die vorherigen geschichtsphilosophien sich selbst bestimmt haben. nach der auffassung der posthistoire ist man in ermangelung dieses rahmens nicht mehr fähig, solche globalen behauptungen zu machen, die sich auf die ‚ganzheit‘ eines sinne von geschichte beziehen. die posthistoire ist von diesem standpunkt aus ein untergang von meganarrativen. dadurch gerieten seine vertreter per se mit sich selbst in einen gegensatz, weil jeder satz über das ‚ende‘ und das ‚nach‘ der geschichte selbst ein globaler, meganarrativer satz ist. also der akt der verneinung, was jedenfalls seine Begrifflichkeit betrifft, bleibt gefangen in dem, was er eigentlich verneinen möchte. was für ein bild zeigt nietzsches geschichtsauffassung von diesem standpunkt aus? es gibt vorstellungen, die eine direkte verwandtschaft zwischen beiden betrachtungssystemen feststellen. niethammer behauptet, dass nietzsche der erste war, der das sinnvollziehende projekt der westlichen geschichte „zerbrochen hatte, ihr damit ihren vereinnahmenden sinn zu nehmen und an seine stelle den führungsanspruch oder die dissozialisierte Ästhetik der groβen Persönlichkeit zu setzen.“ es lohnt sich, dieses problem auch in einem weiteren zusammenhang zu untersuchen. man sollte davon ausge  0 

martin meyer, Ende der Geschichte?, münchen, wien , . Jean baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, münchen . thomas Jung, Vom Ende der Geschichte. Rekonstruktionen zum Posthistoire in kritischer Absicht, münster, new york , . lutz niethammer, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende?, .

Nach dem ‚Ende der Geschichte‘



hen, dass die zweite Unzeitgemäße Betrachtung eine konstruktion ist, die aus drei stufen besteht. Der oberflächliche Leser bemerkt oft ausschließlich die erste Stufe, die ganz und gar ‚pragmatisch‘ ist, weil es sich auf dieser stufe um nutzen und nachteil der historie handelt. Dahinter befindet sich aber die zweite Stufe. Es kann nicht vorkommen, dass man diese nicht bemerkt, zumal nietzsche selbst in der einleitung darauf hinweist: „dies sind worte goethes, mit denen, als mit einem herzhaft ausgedrückten ceterum censeo, unsere betrachtung über den werth und den unwerth der historie beginnen mag“ (ebd., ). auf dieser pragmatischen grundstufe wird eine ‚axiologische‘ stufe aufgebaut. darüber hinaus gibt es eine dritte stufe, die ‚hermeneutische‘, deren entscheidungsrelevanz und bereich sich auf den sinn oder unsinn der geschichte beziehen. diese dritte stufe bestimmt radikal auch die vorherigen beiden. man ist fähig, über nutzen und nachteil, wert oder wertlosigkeit nur in dem fall zu entscheiden, wenn man sich vorher über den ‚sinn‘ oder den ‚unsinn‘ der geschichte entschieden hat. dieser letztere bezug mündet unvermeidlich in die problematik des ganzen. für die problemsensibilität des jungen nietzsche ist es durchaus charakteristisch, dass er die frage der historischen sinnganzheit als ein ausgezeichnetes thema betrachtet. als junger denker bemerkt er, dass die ganzheit nicht mehr auf die art und weise, wie es georg wilhelm friedrich hegel getan hat, konstituiert werden kann. in dieser erkenntnis kam ihm Jakob burckhardt zu hilfe. im weiteren wurde ihm offenbar, dass der gedanke von der historischen sinnesganzheit letzten endes auf die christliche geschichtsmetaphysik, auf die lehre von der heilsgeschichte zurückgeführt werden kann. wenn nietzsche auf diesem gebiet eine radikale umwertung durchführen will, dann ist es nötig, vor allem diese lehre zu zerbrechen. dies kommt an einer stelle seines werkes zum ausdruck, die viele für den schlüsselsatz der ganzen schrift halten: „nein, das ziel der menschheit kann nicht am ende liegen, sondern nur in ihren höchsten exemplaren“ (ebd., ). dieser satz beinhaltet zugleich einen nach- und vorweisenden sinn. im nachweisenden sinne diskreditiert er zum einen die christliche und hegelsche geschichtsmetaphysik und deren säkularisierte untertypen, die modernen entwicklungstheorien. im vorweisenden sinne bewegt er sich in die richtung der späteren auffassung der posthistoire. demnach wird der sinn nicht vom ende aus konstituiert. das geheimnis der historischen hermeneutik ist nicht in dem ende verborgen. nietzsches grundgedanke darf nur teilweise mit der Auffassung von der Posthistoire identifiziert werden. Bei Nietzsche handelt es sich im gegensatz dazu um die ‚transposition‘ des historischen sinnes und nicht um das verzichten auf die bedingung der möglichkeit des sinnes, also um das aufgeben des ‚sinnes vom sinne‘, wie es bei der posthistoire der fall ist. nietzsche bleibt in diesem bezug ein gefangener der moderne. er gehört, mit heideggerschem ausdruck, noch zur geschichte der westlichen metaphysik. aus der umordnung der sinnesganzheit folgt selbstverständlich auch die umwertung des historischen prozesses. den grundton gibt diesbezüglich sloterdijk. er behauptet: „prozess und progress bilden aufeinander nur einen trügerischen reim.“ hier handelt es 



Jakob burckhardt: „wir verzichten ferner auf alles systematische; wir machen keinen anspruch auf ‚weltgeschichtliche ideen‘, sondern begnügen uns mit wahrnehmungen und geben Querdurchschnitte durch die geschichte, und zwar in möglichst vielen richtungen; wir geben vor allem keine geschichtsphilosophie“ (ders., Weltgeschichtliche Betrachtungen, stuttgart , ). peter sloterdijk, Nach der Geschichte, .



Dezső Csejtei, Anikó Juhász

sich darum, dass sich der europäische mensch in den Jahrhunderten der moderne daran gewöhnt hat, dass das ‚weiter‘ automatisch auch eine ‚entwicklung‘ und ‚erhöhung‘ beinhaltet. die posthistoire trachtet aber danach, mit dieser trügerischen verschmelzung aufzuhören, dadurch, dass sie progress von prozess unterscheidet. anders ausgedrückt könnte man sagen, dass man in der geschichte den punkt erreicht, wo der prozess nicht mehr zur verwirklichung eines später zu realisierenden zieles dient, sondern das ziel des prozesses in dem prozess selber besteht, der prozess richtet sich auf sich selbst. die ‚evolution‘ wandelt sich in eine ‚involution‘, wie es thomas Jung beschreibt: „die völlige und systematische resistenz des systems […] gegen einsätze, die […] geschichte wieder eröffnen würden.“ die trennung von prozess und progress bedeutet aber keine Unbeweglichkeit, sondern eher das, dass der Reichtum der oberflächlichen Beweglichkeit die unbeweglichkeit und statik im hindergrund verdeckt. diese erkenntnis heißt für arnold gehlen: „beweglichkeit – auf stationärer basis.“ wie verhält sich nietzsche zur problematik des historischen prozesses? es ist bekannt, dass auch er ein gegner der prozessualität ist, weil das hinauszögern eine günstige möglichkeit zur aufschiebung und hinhaltung beinhaltet. so wird der historische prozess zum platz der trügerischen versprechung, der unbeschränkten ‚lizitation‘ durch die behauptung: ‚wenn es uns bis jetzt nicht gelungen ist, etwas zu verwirklichen, dann werden wir es bestimmt in der späteren zukunft vollziehen.‘ nietzsche schreibt: „diese historischen menschen glauben, dass der sinn des daseins im verlaufe eines Prozesses immer mehr ans licht kommen werde, sie schauen nur deshalb rückwärts, um an der betrachtung des bisherigen prozesses die gegenwart zu verstehen und die zukunft heftiger begehren zu lernen“ (ebd., ). es gibt aber auch eine andere richtung dieses prozesses, die sich gegen die weltprozess-auffassung von eduard von hartmann wendet, in dem nietzsche den standpunkt des verfeinerten ‚zynismus‘ entdeckt. nach hartmanns auffassung musste sich der weltprozess auf diese weise entwickeln, wie er sich tatsächlich entwickelt hat. und darin liegt der grund dafür, dass auch das individuum diesen prozess verfolgen soll. der zynismus dieser auffassung besteht darin, dass sie das, was ‚so und so‘ geschehen ist, zum eigentlichen authentischen ‚ziel‘ erhebt. das ist aber noch nicht alles. nietzsches hartmann-kritik richtet sich auch gegen die folgen dieses zieles. wenn das ziel des weltprozesses aus dem besteht, was geschehen ist, dann folgt daraus die herrschaft der ‚mittelmäßigkeit‘. nietzsche schreibt, dass „‚die genies kein bedürfnis der zeit mehr sind, weil es hiesse, die perlen vor die säue werfen oder auch weil die zeit über das studium, welchem genies gebührten, zu einem wichtigeren fortgeschritten ist‘, zu jenem stadium der socialen entwickelung nämlich, in welchem jeder arbeiter‚ bei einer arbeitszeit, die ihm für seine intellectuelle ausbildung genügende musse lässt, ein comfortables dasein führe“ (ebd., ). hartmanns auffassung bringt die vorstellung zum ausdruck, dass das hervorbringen des genius unnötig ist, und das steht zu nietzsches geschichtskonzeption in einem krassen gegensatz, die das aufhören mit der prozess-auffassung mit dem bedürfnis des ‚überhistorischen‘ menschen verbindet. „mit dem nein des überhistorischen menschen, der nicht im prozess  

thomas Jung, Vom Ende der Geschichte, . arnold gehlen, Ende der Geschichte? Zur Lage des Menschen im Posthistoire, in: oskar schatz (hg.), Was wird aus dem Menschen?, graz, wien, köln , .

Nach dem ‚Ende der Geschichte‘



das heil sieht, für den vielmehr die welt in jedem einzelnen augenblicke fertig ist und ihr ende erreicht“ (ebd., ). nietzsches prozesskritik verwandelt sich an diesem punkt in eine sinn- und zielkritik. der prozess als solcher darf nur in dem falle abgewiesen werden, wenn an seine stelle ein neues zielsystem gestellt wird. darin besteht nietzsches auffassung zum überhistorischen. und hier kann man den grenzpunkt entdecken, wo sich die prozesskritiken von nietzsche und der posthistoire voneinander entfernen und unterscheiden. die posthistoire differenziert den progress vom prozess und entfernt sie einander. dies betrachtet sie als ergebnis. wie stellt gehlen diese tatsache dar?: „keine verrückte, herrliche gläubigkeit mehr, keine offenen horizonte, keine fata morgana, keine atemeinschnürenden utopien, sondern die abwicklung, das pensum.“ dieser standpunkt ermöglicht die durchführung eines interessanten versuchs. auf dessen grundlage kann man vielleicht die frage beantworten, wie nietzsche die geschichtsauffassung der posthistoire gesehen und beurteilt hätte. nietzsches hartmannkritik gründet sich nämlich auf solchen elementen, die auch bei den vertretern der posthistoire vorhanden sind. eines dieser momente ist der ‚ekel‘. für nietzsche ist es klar und eindeutig, dass die apotheose des prozesses bei hartmann zur dominanz des Mittelmäβigen, und letzten Endes zu einem universellen Ekel führt. Er schreibt: „Schalk aller schalke, du sprichst das sehnen der jetzigen menschheit aus: du weißt aber gleichfalls, was für ein gespenst am ende dieses mannesalters der menschheit, als resultat jener intellectuellen ausbildung zur gediegenen mittelmäßigkeit, stehen wird – der ekel“ (ebd., 311). Nietzsche wollte und konnte sich damit nicht identifizieren. Bei den Vertretern der posthistoire sowie bei hartmann fehlt die abweisung dieser letzten folgerung. demzufolge ist es festzuhalten, dass nietzsche diese bezüge der geschichtsauffassung der posthistoire eindeutig abgewiesen hätte. – ein anderes moment, das der ‚unfähigkeit zur veränderung‘, steht mit dem vorher erwähnten im engen zusammenhang. der weltprozess besteht nach hartmann darin, dass die möglichkeit des anders-daseins ausgeschlossen ist: „er hat nichts zu thun als fortzuleben, wie er gelebt hat, fortzulieben, was er geliebt hat, fortzuhassen, was er gehasst hat und die zeitungen fortzulesen, die er gelesen hat, für ihn gibt es nur eine sünde – anders zu leben als er gelebt hat“ (ebd., f.). Die Prozessualität identifiziert sich also mit der Unveränderlichkeit. Und Nietzsche weist diese unveränderlichkeit leidenschaftlich ab. andererseits kommt aber sloterdijk zur gleichen schlussfolgerung wie früher hartmann. die modernität „kann sich somit weder überschreiten noch wirklich eine zukunft für sich vorstellen. macht sie weiter wie bisher, so produziert sie das schlimmste; hört sie auf, das schlimmste zu produzieren, so wäre sie nicht mehr sie selbst, sondern etwas epochal Anderes. Da sie aber nach sich selbst buchstäblich ‚nichts‘ mehr sieht auβer der Sintflut, bleibt die Moderne zu sich verurteilt.“ es ist offenbar, dass nietzsche auch ein solches weiterdenken des hartmannschen weltprozesses abgewiesen hätte. aufgrund dessen kann man feststellen, dass die desartikulation, die verwirrung des prozesses, obwohl man bestimmte ähnlichkeiten entdecken kann, bei nietzsche anders waren und sich different von dem ausdrückten, als es in der philosophie der posthistoire der fall ist. das nachdenken über das traditionelle historische system und die daraus resultierenden ver 

arnold gehlen, Ende der Geschichte?, . peter sloterdijk, Nach der Geschichte, .



Dezső Csejtei, Anikó Juhász

änderungen führen auch in der auffassung über die ‚geschichtszeit‘ zu grundlegenden wandlungen sowohl bei nietzsche als auch bei den vertretern der posthistoire. betrachten wir zuerst die letzteren. wie allgemein bekannt, hat auch die posthistoire einen frontalen angriff gegen die lineare, chronologische zeit eröffnet und geführt, weil darin ein aggressives, expansives potential ursprünglich vorhanden ist und die möglichkeit des ausbaus der totalen macht über die natur und den menschen in sich birgt, weil sie kalkulierend und berechenbar ist. eine klassische bezeichnung für die zeitauffassung der posthistoire ist die metapher ‚zeitwüste‘, die zum ersten mal sloterdijk thematisiert hat. es lohnt sich, die bedeutung dieser metapher zu erläutern. dieses bild stellt einerseits die erfahrung einer klaren dimensionalität dar. die wüste evoziert die physische zeit, die beinahe geometrisiert werden kann, andererseits veranschaulicht sie das erlebnis der leere, der man in der ära der posthistoire begegnet. die zeitwüste ist unmessbar ‚weit‘, man kann sie mit der schrankenlosen Zukunft identifizieren. Sie ist aber zum anderen zugleich ‚gleichgültig‘, sie verfügt über kein hierarchisches wertsystem. die schrankenlose zukunft ist in diesem bezug auf homologe weise ‚leer‘ und ‚wertlos‘. in der zeit der moderne besitzt die physische zeit eine ausgezeichnete dimension: die der zukunft, die weitgehend saturiert ist. sie lockt mit der zauberei vom novum. die zeitwüste ist aber, wenn sie auch ätherisch rein und übersehbar ist, ‚aussichtslos‘. im zeitprojekt der aufklärung verfügt die zwischenzeit, die sich zwischen der gegenwart und der sich vollziehenden Zukunft befindet, über eine sonderbare Bedeutung. darin verbirgt sich der ‚erwartungshorizont‘, den schon reinhard koselleck in den vordergrund gestellt hat. durch diesen erwartungshorizont erwirbt die zwischenzeit ihre spannweite und elastizität, ihre vibrierende unruhe. die zeitwüste kann aber nicht mehr als zwischenzeit betrachtet werden, weil der pfeil des projekts, der sich in die richtung der zukunft bewegt, schon abgeschnitten ist. die zeitwüste ist daher verödet und fahl. Sie ist auβerdem durch ihre Richtungslosigkeit gekennzeichnet. Schon ihre Metaphorik beinhaltet, dass solche kennzeichen der dimensionalen zeit wie ‚voraus‘ und ‚nachher‘ beinahe ganz fehlen. zum abschluss lohnt es sich, darauf hinzuweisen, dass das wichtigste inhaltliche kennzeichen der zeitwüste darin besteht, was sloterdijk als ‚frist‘ bezeichnet. dessen analyse kann aber im rahmen dieser abhandlung nicht durchgeführt werden. wie verhält sich nietzsche in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung zur zeit? das ist in sich selbst eine sehr komplizierte frage. das letzte mal widmete rainer thurnher diesem thema eine tiefgehende analyse. was diesen themenkreis betrifft, werden nur zwei momente an dieser stelle hervorgehoben. zum einem wird das element betont, dass auch nietzsche, ähnlich der auffassung der posthistoire, ein anhänger der verneinung und der zerstörung der linearen zeit ist. das andere moment unterscheidet sich und ihn aber davon, was die posthistoire vertritt. nietzsche betrachtet die zeit nicht als zeitwüste, sondern als zeit ‚für‘ etwas, als zeit für das schaffen und hervorbringen. das ist nicht mit der projektiven, weiten zukunft identisch, sondern es führt von der physischen zeit aus und bewegt sich in die richtung des ‚überhistorischen‘. dieses ‚überhistorische‘ ist 

rhainer thurnher, Bemerkungen zu Nietzsches II. Unzeitgemässer Betrachtung, in: Gedankensplit­ ter zu Nietzsche, hg. von dezsö csejtei, szeged 00.

Nach dem ‚Ende der Geschichte‘



vom gesichtspunkt der zeitlichkeit betrachtet ein aufhören der linearen zeit. das chronologische ‚Jetzt‘ verwandelt sich in den kairologischen ‚augenblick‘ und wird auf diese weise zum ausdruck des unzeitlich-ewigen. die ‚überhistorischen‘ individuen „setzen nicht etwa einen prozess fort, sondern leben zeitlos-gleichzeitig, dank der geschichte, die ein solches zusammenwirken zulässt, sie leben als die genialen-republik, von der einmal schopenhauer erzählt“ (ebd., ). also vom gesichtspunkt der ‚zeitlichkeit‘ erreichen wir jetzt den hermeneutischen sinn und zweck. und dieser hermeneutische sinn und zweck bestimmt den axiologischen wert und den pragmatischen nutzen der geschichte. diesen vergleich zwischen nietzsches geschichtsphilosophie und dem diskurs der posthistoire könnte man fortsetzen. so könnten z. b. die parallele zwischen dem begriff ‚verknöcherung‘ bei nietzsche und der theorie der ‚kristallisation‘ bei gehlen berührt werden. oder man könnte den begriff ‚epigonismus‘ bei nietzsche und den ausdruck ‚epilogismus‘ bei sloterdijk miteinander vergleichen. stattdessen wird hier versucht, kurz zusammenzufassen, wie man die bilanz der geschichtsauffassung der zweiten Un­ zeitgemäßen Betrachtung vom gesichtspunkt der posthistoire aus ziehen könnte. diese frage kann man nicht einfach und eindeutig beantworten. einerseits ist es unleugbar, dass die posthistoire tatsächlich die kritisch-umwertenden ansätze, die zum ersten mal in nietzsches geschichtsphilosophie formuliert worden sind, fortsetzt. man muss aber darauf hinweisen, dass diese art der fortsetzung auch eine wenig kongeniale weiterführung von nietzsches philosophie ist und manchmal ihren gegensatz beinhaltet. dies alles könnte man durch folgende sätze darstellen: ) der schlüsselsatz von nietzsches betrachtung lautet: „nein, das ziel der menschheit kann nicht am ende liegen, sondern nur in ihren höchsten exemplaren“ (ebd., ). ) das wesen der posthistoire wird durch meyers formulierung klargestellt: „das ende ist endlosigkeit. genau dies meint der begriff der posthistoire.“ die zwei sätze stehen auf den ersten blick nicht weit voneinander, weil alle beide das ‚ende‘ dekonstruieren. die distanz zwischen den beiden könnte aber in der tat nicht größer sein. nietzsche stellt diesem ziel, das heißt dem end-ziel, wie wir es gesehen haben, ein anderes ziel gegenüber, er verzichtet nicht auf die Zweckmäβigkeit. Unzeitgemäß zu sein bedeutet für ihn so viel, dass man die Zweck- und Sinnmäβigkeit anders artikuliert. Im Meyers Satz bedeutet aber die ‚end‘losigkeit nicht nur ziel-, sondern auch ‚zweck‘losigkeit und damit auch ‚sinn‘losigkeit. in diesem wortgebrauch ist es bemerkenswert, dass er den terminus technicus ‚ende‘ nicht mit der unendlichkeit, sondern mit dem begriff der ‚endlosigkeit‘ in verbindung und verwandtschaft bringt. der grund dafür besteht aller wahrscheinlichkeit nach darin, dass die semantik von ‚unendlichkeit‘ durch metaphysische gehalte schon besetzt ist. der terminus der ‚endlosigkeit‘ entbehrt diesen ballast. ‚endlosigkeit‘ schließt einerseits die Homogenität der definitiven, qualitativen Unendlichkeit aus, andererseits stellt er doch, wenn auch in winzigen stücken, etwas davon dar, weil er das ende in einem fort zerstückelt. die endlosigkeit ist demnach eine art von ende, das man ununterbrochen negiert. zum anderen ist das ‚ende‘ im sinne der ‚endlosigkeit‘ nicht nur eine postmetaphysische kategorie, sondern zugleich ein deskatologisierter begriff und steht in diesem bezug nicht nur der traditionellen horizontalen auffassung des eskatolo

martin meyer, Ende der Geschichte?, .



Dezső Csejtei, Anikó Juhász

gischen gegenüber, sondern auch der umgewerteten, vertikalen endvision bei nietzsche. in diesem sinne sind die positionen von nietzsche und der posthistoire grundverschieden. zum abschluss wird noch die frage aufgeworfen: warum hat nietzsche unserer meinung nach doch recht gegenüber der auffassung der posthistoire? die antwort könnte durch eine andere frage präzisiert werden: wie bezieht sich heutzutage die geschichte auf das leben? hier ist eine bemerkung heideggers in den nietzsche-seminaren zu zitieren: „der äußerste gegenfall. Imperfektum heißt: ‚Unvollendet‘ in welchem sinne? auf das ‚war‘ bezogen als unvollkommen? bezug auf das ‚war‘ überdies – imperfectibile. dagegen das tier: praesens semper perfectum.“0 – es handelt sich genau darum. das verhältnis zwischen der geschichte und dem menschlichen leben ist dadurch gekennzeichnet, dass macht und politik dieses wesentliche ‚imperfektum‘ immer mehr in ein ‚präsens perfektum‘ verwandeln wollen. das ergebnis wäre ein wesen, das sowohl vergangenheitslos als auch zukunftslos ist. wenn wir zurückblicken, können wir konstatieren, dass geschichte ihren ursprungscharakter stufenweise verliert. für die heutige, hoch entwickelte, rationalisierte, technisierte zivilisation ist das ganze der vergangenheit ein wildes, blutiges, sinnloses Vorspiel, das mit dem heutigen ‚zeitgemäβen‘ Leben nichts gemeinsames hat. die vergangenheit kommt nur noch als ein ‚relikt‘ zu wort. die schwäche der erinnerung stellt die verwandlung gut dar, dass sie heutzutage nichts mehr hervorruft oder bloße vergegenwärtigung ist. wenn wir vorausblicken, dann können wir feststellen, dass die globalisierte menschheit, wenn sie auch im technischen sinne des wortes hoch entwickelt ist, ohne end-sinn lebt, sich zwecklos verläuft und im hin und her einer schafherde ähnlich ist. die bedeutung der posthistoire liegt darin, dass sie damit rechnet. das woraufhin ist schon vorbei. wenn aber sowohl die authentische vergangenheit als auch die authentische zukunft fehlen, dann beschränkt sich das menschen-dasein auf die ‚gegen-wart‘ im weiteren sinne des wortes. sie ist aber mit dem tierischen dasein identisch, was nietzsche auch in der einleitung der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung als negative vision und realität zugleich beschrieben hat. es ist nämlich unmöglich nicht zu bemerken, dass die glückselige herde, von der nietzsches spricht, in erster linie nicht eine tierische, sondern eine menschliche herde ist; denken wir zugleich an die beschreibung des ‚letzten‘ menschen in Also sprach Zarathustra: „kein hirt und eine heerde! […] wir haben das glück erfunden“ (kgw, vi, ). aus dem imperfectum wird oder kann werden: ein bloßes präsens perfektum. die frage besteht darin, ob man diesen zustand dauernd ertragen und ausstehen kann. wenn wir wiederum kein zugeständnis dem zynismus machen wollen, dann sollen wir auf diese frage ‚nein‘ sagen. und hierbei kann nietzsche hilfe leisten. dieser große nihilist der geschichte hat versucht, trotz seines nihilismus, geschichte zu reartikulieren. wenn wir auch heute das schaffenspathos, wie es nietzsche dargestellt hat, nicht akzeptieren können, lässt er in uns die gewissheit, dass wir unvermeidlich zur geschichte verurteilt sind, verstärken. und warum? der grund dafür besteht darin, dass das leben selbst, das im hintergrund der geschichte vorhanden ist, uns dazu zwingt. dieses leben ist nämlich ein ‚nach‘, auch nach der ‚nachgeschichte‘. 0

martin heidegger, Zur Auslegung von Nietzsche, .

hans gerald hödl

vom zweck der geschichtsschreibung: religionsgeschichte als kritische historie bei nietzsche eine skizze

. ein historisches ereignis „es gab nie eine grössere that, – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser that willen in eine höhere geschichte, als alle geschichte bisher war!“ (ksa, fw, aph , , ). das lässt friedrich nietzsche den ‚tollen menschen‘ sagen, der den tod gottes verkündet. darin drückt sich das bewusstsein aus, an einem scheidepunkt in der geschichte der menschheit zu stehen. an dieser stelle legt er diese überzeugung noch einer literarischen figur in den mund, mit der er in der letzten redaktion der parabel jenen nach einem religionsstifter benannten protagonisten seines buches für allen und keinen ersetzt, mit dessen Untergang die erste Auflage der Fröhlichen Wissenschaft geschlossen hatte. später, in einem nach einer szene aus dem Johannes­Evangelium benannten werk, in dem er sich sein leben erzählt, wird er sich selbst die stelle dessen zuschreiben, der, als „eine force majeure, ein schicksal […] die geschichte der menschheit in zwei stücke“ bricht (ksa, eh, , ). es handelt sich um ein historisches ereignis im strengen und eminenten sinn, denn: „man lebt vor ihm, man lebt nach ihm“ (ebd.). wiederum ein bezug auf zwei religionsstifter: der sogenannte westen teilt die geschichte in die zeit vor der geburt des stifters des christentums und in die danach, die muslimische zeitrechnung orientiert sich in ähnlicher weise an der hedjra. für beide zeitrechnungen ist der gedanke eines schluss- resp. wendepunktes in der geschichte, der etwas endgültiges markiert, gedacht, die letztgültige offenbarung der wahren religion (im falle des islam deren wiederherstellung). doch mit dem schlusssatz von Ecce homo gibt nietzsche der einteilung der geschichte in ein ‚davor‘ und ‚danach‘ einen sinn, der die, den abrahamitischen traditionen inhärente, zeitstruktur zurücknimmt. Jene gehen von einem voraussetzungslosen, im strengen sinn ersten anfang aus, und in der konsequenz eines absoluten nullpunktes der geschichte liegt auch die idee eines endpunktes, mitsamt einem gericht über alles, was in der zeit geschehen ist. das symbol für dieses moralisch geprägte zeitverständnis ist für nietzsche der gekreuzigte, der die schuld der welt getragen hat und in der folge zu ihrem richter wird (ebd., ). das Johannes­Evangelium stellt den prozess Jesu so dar, dass der gerichtete zum richter wird, etwa im gespräch mit pilatus, wenn jener

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Hans Gerald Hödl

diesem auf dessen frage hin, ob er nicht wisse, dass er die macht hätte, ihn freizulassen, antwortet: „du hättest keine macht, wenn sie dir nicht gegeben worden wäre. deshalb trifft diejenigen, die mich dir ausgeliefert haben, größere schuld“ (Joh. , ). gegen diese lineare zeit und ihren bezug auf den komplex von schuld, strafe und gericht setzt nietzsche das zeichen des dionysos. wie aus den schlusspassagen der Götzendämme­ rung deutlich wird, interpretiert er den dionysoskult als das große Ja zum leben, das Ja zur wiederkehr, über tod und wandel hinaus (ksa, gd, , ff.). damit ist ein zyklisches weltbild angesprochen, von untergang und neubeginn, eine zeit, in der auch die götter sterben. es ist ein anderes davor und danach, als dasjenige vor der erscheinung des erlösers oder des exils des propheten und der periode danach, die auf das ende der zeiten zusteuert. zarathustra spricht von einer langen gasse zurück und einer langen gasse hinaus, die an einem torweg zusammen kommen, auf dem „augenblick“ geschrieben steht (ksa, za, , ). mit dieser konzeption setzt nietzsche nicht bloß einen neuen angelpunkt, nach dem die geschichte eingeteilt werden soll, er bringt einen alternativen zeitbegriff ins spiel. damit entfallen, wie mir scheint, einige der konnotationen der absolut gesetzten historie, die er in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung angreift. dieser zeitbegriff erlaubt auch entscheidende korrekturen an manchen konzepten aus dieser frühschrift. darüber hinaus ist nietzsche zu diesem ergebnis gekommen, indem er kritische historie betrieben hat, genau so, wie er sie in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben beschrieben hat: als einen akt der befreiung vom althergebrachten, bei dem der historiker einer geschichtlichen erscheinung „mit dem messer an die wurzeln“ greift, „grausam über alle pietäten hinweg“ schreitend (ksa, hl, , 0). darin zeigt sich, dass es nie im plan nietzsches gelegen war, den historischen sinn an sich abzuschaffen oder auch nur einer fundamentalkritik zu unterziehen. seine kritik richtet sich ausschließlich gegen die hypertrophie des historischen sinnes. die angesprochenen themen will ich im folgenden skizzieren. dabei wird deutlich werden, wie sich nietzsche im bezug auf religionen der ‚kritischen historie‘ bedient hat.

. geschichtsschreibung in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung im ihrem zweiten und dritten kapitel würdigt nietzsche jeweils die funktion der drei grundtypen von geschichtsschreibung und ordnet sie bestimmten menschentypen zu. dabei zeigt er, wie diese arten der historie dem leben dienen, das heißt, eine funktion für die jeweiligen lebensvollzüge der genannten menschentypen ausüben und versucht den punkt anzugeben, wo sie diese funktion verlieren. die grundidee dieser einteilung liegt wohl weniger darin, fein säuberlich zu trennende methoden der erfassung geschichtlicher daten vorzuführen, als auf die unterschiedlichen erkenntnisinteressen hinzuweisen, die hinter der beschäftigung mit geschichte stehen. es geht im strengen sinne um die frage, warum und wozu wir geschichte betreiben. im vierten kapitel macht er sodann das wissenschaftliche objektivitätsideal für die bedenkliche hypertrophie des historischen sinnes in seiner zeit verantwortlich. gemeint ist hier m. e. aber nicht, gegen die strenge methode in der geschichtsschreibung einwände zu erheben, sondern deren herauslösung aus dem gesamtzusammenhang des lebens

Religionsgeschichte als kritische Historie bei Nietzsche



und seiner interessen zu kritisieren, die dazu führt, die „objektivität“ der geschichte zum zweck an sich zu machen. deshalb gelten seine invektiven ja auch immer der idee des „weltprozesses“, in dem das wirkliche als das vernünftige dargestellt wird (ebd., 0ff.). hier muss aber genau darauf geachtet werden, welcher begriff der vernunft zu grunde gelegt wird. der von nietzsche angegriffenen idee liegt ein lineares zeitverständnis zugrunde, das dem von nietzsche abgelehnten damit verbundenen „götzendienst des Thatsächlichen“ (ebd., 309) seine spezifische Ausprägung verleiht. Nietzsche selbst wird später ein anderes zeitverständnis vorschlagen, in zusammenhang mit einer interpretation der welt als einem relationalen gefüge von machtquanten. sein vorschlag läuft, auf den ersten blick gesehen, auf eine art kult des tatsächlichen hinaus, wenn er sich gegen den geist der rache wendet, „des willens widerwille gegen die zeit und ihr ‚es war‘“ (ksa, za, , 0). nietzsches lehre des ‚amor fati‘ aber bedeutet bejahung als aneignung und darin schöpferische, plastische kraft. etwas, was er gerade dem menschen, der an einer hypertrophie des historischen sinnes leidet, abspricht. weiters gibt es, mit dem blick auf „die lange gasse hinaus“, das lähmende gefühl nicht mehr, ein „spätling der Zeiten“ zu sein, der sich im letzten Akt befindet, knapp bevor der Vorhang fällt (KSA, HL, 1, 279; 308). Vielmehr befindet man sich im einzigen Akt. Dieser Gedanke ist auch als gegenkonzeption zur verbindung der idee eines ‚gerichteten‘ zeitverlaufes und der scheidung von in ihm sich vollendendem und dem verfall preiszugebendem in einem letzten gericht gedacht, weshalb interpretationen des gedankens der wiederkehr, die ihn mit einem selektiven prozess verbinden, die tragweite von nietzsches entwurf wohl unterschätzen, der im strengen sinne ‚überhistorisch‘ ist.

. das überhistorische das ‚überhistorische‘ hingegen, wie es nietzsche in der zweiten Unzeitgemäßen Betrach­ tung konzipiert, scheint mir ein problematischer begriff zu sein. er dient zunächst dazu, eine weitere alternative zum historischen sinn zur verfügung zu haben, der die ausdifferenzierung des unhistorischen in das ‚vergessen‘ des im augenblick lebenden tieres und in die haltung, die von den „weisen aller zeiten“ gegenüber der geschichte eingenommen wird, die nichts neues lehre, ermöglicht. diese werden aber in der darstellung offensichtlich als idealisten gezeichnet, am idealtypischen orientierte denker, nicht an den konkreten vorfällen interessiert, sondern an den in ihnen sich manifestierenden typen (ebd., ; 0). hier klingt arthur schopenhauers geringschätzung der geschichte an, der die menschliche existenz einmal mit einem schauspieler vergleicht, der eine rolle spielt, wobei das bedeutsame nicht nur nicht in der jeweiligen ausformung der rolle gesehen wird, sondern auch nicht in dem jeweiligen stück. wie in den stücken von carlo conte di gozzi, sagt er, treten immer die gleichen charaktere auf, wenn die handlung auch unterschiedlich ist; an einigen stellen macht er deutlich, dass es keinen unterschied mache, ob sich ein handlungskomplex zwischen bauern oder zwischen königen, um „nüsse oder um kronen“ begebe, das allein bedeutsame daran sei das idealtypische. 

arthur schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, in: ders., werke in zehn bänden, zürich , §  (, f.), §  (, f.), §  (, f.), § (, f.). , kapitel  (, ).



Hans Gerald Hödl

es scheint mir nicht einfach, diese, auf schopenhauers interpretation der platonischen ideenlehre beruhenden überlegungen im hintergrund des konzeptes des überhistorischen in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung mit nietzsches anti-sokratismus, der eine abkehr von der platonischen ideenwelt impliziert, zu vereinen. nietzsche hat darum auch bei seiner Einführung der überhistorisch empfindenden Weisen zunächst offen gelassen, ob deren haltung dem leben förderlich sei oder ob sie eine abkehr vom leben impliziere, wie es von schopenhauers entwurf selbst gesagt werden muss. die überhistorischen menschen seien sich nicht einig, was aus einer solchen blickweise zu lernen sei. er tendiert dann doch dazu, dass eine solche haltung schließlich zum ekel, zum lebensüberdruss führen werde. diese konsequenz hat nietzsche bereits in der Tragödien-schrift abgewiesen, und sie liegt auch nicht in der tendenz der zweiten Unzeitgemäßen Betrach­ tung, die sich die förderung des lebens aufs banner geschrieben hat. wenn nietzsche nun als förderer des überhistorischen „kunst und religion“ nennt (ebd., 0), so hält er sich noch im rahmen des wagnerschen projektes einer erneuerung der deutschen kultur und in dem programm einer ästhetischen rechtfertigung des daseins auf, die den metaphysisch aufgeladenen begriff des in sich gespaltenen „ur-einen“ (ksa, gt, , ) zum weltengrund erklärt. mit anderen worten: das dionysische wird noch als hinterwelt gedacht. davon wird nietzsche sich bald abwenden. die ‚neue‘ konzeption der zyklischen zeit, zu der er im laufe dieser bewegung vordringen wird, erlaubt ihm auch eine neue Definition des Augenblicks, in dem sich das überhistorische Empfinden manifestiert. Über dem Torweg, von dem aus die beiden langen wege nach vorn und zurück führen, steht das wort „augenblick“, als ein symbol für die erfüllte zeit. natürlich klingt hier, wie auch im anderen tanzlied im Zarathustra (ksa, za, , ff.), der begriff der ewigkeit an, von boethius als „interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio“ definiert. nur ist dieses verfügen über die fülle der zeit nicht, wie in der christlichen tradition, als ein absolutum jenseits der zeit gedacht, noch als dialektische vermittlung aller augenblicke, sondern als der moment der einsicht in die ewige wiederkehr aller dinge und deren annahme.

. die kritische historie als mittel der religionskritik doch auch mehr in den niederungen der konkreten abfolge dieser dinge liegende konzeptionen wird nietzsche entscheidend ändern. so etwa einige frühe eigenheiten des elitären konzeptes einer kulturerneuerung, wie wir es in der zitation der schopenhauerschen Republik der großen Geister finden, die sich über die Zeiten hinweg miteinander unterhalten (ksa, phg, , 0). in der historienschrift übt nietzsche kritik an der deutschen kultur seiner zeit und drängt auf eine erneuerung derselben. seine invektiven gegen ein übermaß an historischer bildung bringt er mit der begründung vor, diese würde die innerlichkeit des deutschen zerstören, ohne die eine kommende nationale kultur nicht möglich wäre (ksa, hl, , f). nietzsche hat sich bald von dieser idee einer nationalen kultur abgewandt und ist zu einem fürsprecher dessen geworden, was er einmal die europäische mischrasse nennt 

boethius, De consolatione philosophiae, v,  (Patrologia latina, bd. , ).

Religionsgeschichte als kritische Historie bei Nietzsche



(ksa, ma-, , 0ff.), später dann im begriff des guten europäers fasst. paradigmatisch dafür sind die überlegungen im fünften buch der Fröhlichen Wissenschaft, wo er den deutschen einiges zu gute hält (ksa, fw, , ff.), nämlich gottfried wilhelm leibnizens einschränkung des bewusstseins auf ein accidens der vorstellung, immanuel kants einschränkung der gültigkeit der kausalität und georg wilhelm friedrich hegels vorarbeit für den entwicklungsbegriff, der nietzsche zu dem satz verleitet: „ohne hegel kein darwin“ (ebd. ). aber er kritisiert hegel als einen verzögerer, der mit seiner interpretation des entwicklungsprozesses die abkehr vom gottesbegriff aufgehalten habe, eine philosophische errungenschaft, die, in indien etwa schon in der zeit des asketischen reformismus durch den buddha popularisiert worden sei (ksa, gm, , 0). diese einschätzung prägt dann auch seine spätere typologie der religionen, die den buddhismus als eine milde form der hygiene dem christentum vorzieht, wiewohl nietzsche die grundlehre beider in einer abkehr vom leben sieht. doch zurück zu den deutschen und gott. noch in Ecce Homo wird nietzsche gegen die deutschen vorbringen, dass sie den abschied vom gottesbegriffes verzögert hätten (ksa, eh, , f.). diesen abschied sieht er als eine tat der ‚guten europäern‘ an. was er an den deutschen schätzt, schätzt er wiederum, weil es ein beitrag zur kultur dieser ‚guten europäer‘ gewesen sei. nietzsche hat sich sehr bald und sehr deutlich von der, seine basler frühschriften prägenden, verengung des programms der kulturerneuerung im geiste des vorsokratischen griechentums auf die deutsche kultur abgewandt. im telegrammstil hat er diese absetzbewegung in Der Fall Wagner zusammengefasst: „bayreuth: bereits bereut“ (ksa, wa, , ). man weiß, einer der hauptvorwürfe nietzsches an richard wagner ist es, dass er zum christlichen gott „condescendirt“ sei (ksa, nw, , f.). darin liegt wiederum der Vorwurf, die Auflösung des Gottesbegriffes verzögert zu haben. Dass das Christentum überlebt sei, vor dem ende stehe, geht schon deutlich aus der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung hervor, wenngleich nietzsche das nur paradigmatisch ausführt. im kapitel  führt er das christentum als ein beispiel dafür an, wie eine einrichtung unter dem Einfluss ihrer Historisierung zu Grunde geht. Es löst sich in Wissen um das Christentum auf und verliert seine glaubwürdigkeit. nietzsche wird am anfang des fünften buches der Fröhlichen Wissenschaft das ereignis vom tode gottes mit der beschreibung übersetzen: „dass der glaube an den christlichen gott unglaubwürdig geworden ist“, er wird es „das größte neuere ereignis nennen“ (ksa, fw, , ) und er wird auch feststellen, dass das christentum sich selbst aufgehoben habe, indem es schließlich den willen zur wahrheit auf sich selbst angewandt habe (ebd., 00), eine stelle die er in der dritten abhandllung der Genealogie der Moral zitiert (ksa, gm, , 0f.). diese selbstaufhebung geht aber insofern zögerlich vor sich, als die dinge ihre beharrungskraft haben. das hat er bereits in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben als eine gefahr der ‚antiquarischen historie‘ bezeichnet. dies ‚bewahrend und verehrend‘ ist eigentlich die art geschichtsschreibung, die einen festen horizont gibt, die die nächsten dinge, die eine lebenswelt charakterisieren, mit tradition und bedeutung versieht, deshalb aber 

hans gerald hödl, Die Träume der Leidenden. Ein Zugang zu den Kriterien der Bewertung von Religionen beim späten Nietzsche, in: renate reschke (hg.), Zeitenwende – Wertewende. Interna­ tionaler Kongreß der Nietzsche­Gesellschaft zum 100. Todestag Friedrich Nietzsches vom 24.–27. August 2000 in Naumburg, berlin 00.



Hans Gerald Hödl

auch dazu tendiert, am althergebrachten festzuhalten, einfach weil es althergebracht ist. und hier wird nietzsche zufolge die notwendigeit der kritischen historie einsichtig. Die beiden Gedankengänge, der von der historischen Selbstauflösung des Christentums und der durch kritische historie herbeizuführenden ablöse bereits überholter, aber noch beharrender lebensorientierungen, fasst nietzsche sodann zu einem wichtigen thema seines denkens zusammen. bereits in der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung, wendet er diesen in der zweiten nur in seinen grundelementen angedeuteten gedankengang in richtung einer aktiven kritik am christentum. in seinen ausführungen zum allgemeinen zustand der kultur führt er dann die überall vorherrschende „mattherzigkeit“ und den „niedrige[n] fluthstand […] aller sittlichen kräfte“ (ksa, se, , ) auf die geschichtliche situation der vom christentum geprägten kultur zurück, in der sich das „immer wahrscheinlichere loos“ des christentums bereits abzeichnet, nämlich seine niederlage (ebd.), woraus sich eine unentschiedenheit zwischen den christlichen und den antiken idealen und eine abspannung des triebes nach höherem ergebe. die unrettbare situation des christentums hat er schon in notizen des Jahres  geschildert, in einer aufzeichnung mit dem titel Zur Religion (ksa, nf, , ), die mit dem programmatischen satz endet: „das christenthum ist ganz der kritischen historie preiszugeben.“ nietzsche entwickelt also hier bereits die auffassung, dass das unglaubwürdig gewordene und für eine künftige kultur nicht mehr tragfähige christentum durch die historische kritik noch weiter in seiner ungegründetheit bloßgestellt werden soll, er sieht die historische kritik quasi als waffe gegen die restbestände der überlebten wertungen an und entwickelt auch, wie eine weitere aufzeichnung in diesem kontext beweist, den gedanken von der beharrungskraft einer alt und schwach gewordenen weltanschauung, wie es das christentum ist: „manche dinge werden erst dauerhaft, wenn sie schwach geworden sind: bis dahin bedroht sie die gefahr eines plötzlichen unterganges: das christenthum wird jetzt so fleissig vertheidigt, weil es die bequemste Religion geworden ist; jetzt hat es Aussicht auf unsterblichkeit, nachdem es die langwierigste sache der welt, die menschliche trägheit und bequemlichkeit auf seine seite gezogen hat“ (ksa, nf, , ; f.). in Menschliches, Allzumenschliches wird nietzsche das programm einer ‚historischen philosophie‘ entwickeln, das an die stelle metaphysischer begründungen anthropologische erwägungen setzt, ein vorgehen, das man als psychologische und auch soziologische erweiterung der vorgehensweise der kritischen historie in richtung auf funktionalistische betrachtungsweisen hin auffassen könnte, und in diesem sinne betrachtet er dann auch religion(en) im dritten abschnitt des buches. es zeigt sich, dass nietzsche in seiner beschäftigung mit religionsgeschichte bereits in den frühen schriften durch die blickweise des kritischen historikers geleitet gewesen ist. später, zeigt sich dies auch dort, wo er eine strenge philologie einfordert. so bringt er in der Morgenröthe (ksa, m, , f.) als gewichtigen einwand gegen das christentum „jenes unerhörte philologische possenspiel“ vor, in dem versucht worden sei, „das alte testament den Juden unter dem leibe wegzuziehen, mit der behauptung, es enthalte nichts als christliche lehren und  

Das Bild der „abfluthenden Gewässer“ hat er in Aufzeichnungen aus 1873 entworfen (KSA, NF, 7, ). hans gerald hödl, Zur Funktion der Religion. Anmerkungen zu Nietzsches Einfluss auf Max We­ ber und zur Antizipation von religionssoziologischen Fragestellungen in „Menschliches – Allzu­ menschliches“, in: Nietzscheforschung, bd.  (00).

Religionsgeschichte als kritische Historie bei Nietzsche



gehöre den christen als dem wahren volke israel: während die Juden es sich nur angemaasst hätten“ (ebd.). er spricht von „einer wuth der ausdeutung und unterschiebung, welche unmöglich mit dem guten gewissen verbunden gewesen sein kann“ (ebd., 0) und häuft beispiele für die umdeutung alttestamentarischer symbole als vorzeichen des kreuzes in der interpretatio christiana, um schließlich die redlichkeit dieser art von philologie in frage zu stellen: „hat diess jemals Jemand geglaubt, der es behauptete?“ (ebd.). hier wird ein mustergültiges beispiel für die kritische methode in ihrer anwendung auf die religionsgeschichte gegeben. darin zeigt sich auch, dass nietzsche nie daran gedacht hat, dem historischen sinn abzusagen. seine einwände richten sich gegen eine absolutsetzung desselben, wie es im übrigen schon im vorwort zur Historien-schrift heißt, wenn nietzsche ausführt, dass: „wie Jedermann weiss, eine hypertrophische tugend – wie sie mir der historische sinn unserer zeit zu sein scheint – so gut zum verderben eines volkes werden kann wie ein hypertrophisches laster“ (ksa, hl, , ). dies setzt voraus, dass es sich beim historischen sinn prinzipiell um eine tugend handelt. Wenn Nietzsche später auf den historischen Sinn zu sprechen kommt, so findet er manch gutes daran und manches tadelt er. das hat aber nichts damit zu tun, dass er etwa widersprüchlich dächte, sondern folgt konsequent aus seinem perspektivismus. in einer welt relationaler machtverhältnisse gibt es keine guten und bösen eigenschaften oder dinge, sondern nur solche, die in gewissen konstellationen für gewisse organisationsformen der machtquanten förderlich oder hinderlich sind. und letztlich hat nietzsche im spätwerk, mit seiner, physiologische überlegungen mit den religionsgeschichtlichen erkenntnissen seiner zeit verbindenden, typologisierung von religionen und religiösen haltungen genau diesen blickwinkel auf religionen eingenommen.

christian schärf

das gesetz der philosophie nietzsches ‚geschichte‘ und wir

i im vorwort zu seiner zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung mit dem titel Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben konstatiert friedrich nietzsche, „dass wir alle an einem verzehrenden historischen fieber leiden und mindestens erkennen sollten, dass wir daran leiden“ (ksa, hl, , ). dieses fieber, so der zeitdiagnostiker, habe dazu geführt, dass „das dasein nur ein ununterbrochenes gewesensein ist, ein ding, das davon lebt, sich selbst zu verneinen und zu verzehren, sich selbst zu widersprechen“ (ebd., ). diesem vitalitätsverlust, „bei dem das lebendige zu schaden kommt, und zuletzt zu grunde geht, sei es nun ein mensch, ein volk oder eine cultur“ (ebd., 0), will der verfasser der Unzeitgemäßen Betrachtungen entgegentreten, und zwar mit der spezifischen energie des unzeitgemäßen, der aus der reihe der kraftlosen historiker heraustritt und der kultur neue impulse zuführen soll. von anfang an gibt sich nietzsche als arzt und therapeut seiner zeit, indem er sie an ihrer historistischen wurzel packt: „denn ich wüsste nicht, was die klassische philologie in unserer zeit für einen sinn hätte, wenn nicht den, in ihr unzeitgemäss – das heisst gegen die zeit und dadurch auf die zeit und hoffentlich zu gunsten einer kommenden zeit – zu wirken“ (ebd., ). wer so auftritt, hat sich einiges vorgenommen. bei nietzsche geht es schon in dieser frühen phase ums ganze. dennoch ist es nicht bloß ein individueller impuls oder eine besondere hypertrophie seines denkerischen genies, die ihm die geste des totalerneuerers der Epoche, der Kultur, des Abendlands soufflieren. In der Konsequenz seiner selbstexposition ist er ein (wenn auch hoch differenziert agierender) repräsentant jenes geschichtsglaubens, gegen den er mit aller entschlossenheit vorgehen möchte. man könnte so weit gehen, zu schließen, dass es überhaupt erst nietzsche gewesen ist, der den historismus als mentalität des gelehrten und denkers ins ziel geführt habe. dieses ziel ist ein bestimmtes bild der geschichte als einheit und ganzheit. während die philologen in ihren archiven und hinter ihren folianten im staub ihrer Quellen vertrocknen und damit die internalisierung von geschichte als körpergift leisten, bringt nietzsche, der sich direkt von ihrer zunft herschrieb, es fertig, die generation, die auf ihn folgte und ihn las, in den bann eines geschichtsbildes zu stellen, das dieses gift in alle winde aussähen würde.



Christian Schärf

wie ihm das gelingen konnte, darüber möchte dieser beitrag eine these entfalten. sie wird sich darauf stützen, dass die selbstisolierung des denkers aus den systemzwängen des geisteswissenschaftlichen historismus und damit die restituierung der philosophie als authentische handlung vitalen denkens eines ‚großen einzelnen‘ einem ‚gesetz‘ gehorcht, das von anfang an für nietzsche das ‚gesetz der philosophie‘ gewesen ist. die vorsokratiker hätten es gleichsam urwüchsig entwickelt und gelebt; danach sei es nicht mehr praktizierbar gewesen, ohne dass der denker, der es auf sich anwenden wollte, von der alles homogenisierenden zivilisation vereinnahmt oder vernichtet worden wäre. aus dem gesetz der philosophie, meint nietzsche, erwachse der impuls einer grundstürzenden neuerung der kultur. nietzsche glaubt, er trete nach den vorsokratikern als erster wieder unter diesem gesetz an und er könne so die kultur aus sich selbst heraus erneuern. die musik ist ihm darin die leitende erfahrung. die überformung des geschichtsdenkens durch das ästhetische erlebnis, dessen ausstrahlungen das denken nachhaltig durcheinanderwirbeln, gründet in nietzsches begegnung mit der musik richard wagners. damit aber bringt er allererst das bild von geschichte zu einem abschluss, dessen rahmen sich von der vorsokratik bis zu ihm hin aufspannt. die struktur dieses auf der grundlage eines geschlossenen geschichtsverlaufs sich ereignenden durchbrechens von kontinuität steht als kennzeichnender widerspruch über nietzsches denken als ganzem. auf seiner basis konnte sich nach nietzsche ein typus des intellektuellen herausbilden, der diese ambige struktur auf sich und auf die europäische kultur insgesamt anzuwenden bereit war. die vorstellung, ein einzelner könne aus der geschichte heraustreten und diesem ablauf durch einen bruch eine andere richtung geben, gründet in nietzsches historismuskritik. die damit angesprochenen folgen dieses konzepts können hier nicht erörtert werden. hier geht es allein um seine struktur und seine ausgangsthese, die unter die lupe genommen werden sollen. zugleich wäre zu fragen, wie wir heute dem geschichtsphilosophischen horizont gegenüberstehen, den nietzsche unter dem ‚gesetz der philosophie‘ öffnet. unbestritten dürfte sein, dass wir es heute weder mit einer ‚monumentalischen‘, ‚antiquarischen‘ und auch nicht mit einer ‚kritischen‘ Form von geschichte zu tun haben, wie sie nietzsche in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben vorstellt. unser zugang zur geschichte ist allenfalls virtuell und simulatorisch. Geschichte ist nicht zuletzt unter dem Einfluss der digitalen Medien zu einer in jeder hinsicht medial aufbereiteten materie geworden. dieses material verlangt nach unterschiedlichen formen der erzählung, setzt also unentwegt auf den vermittlungswert von Mimesis, Fiktion oder doch wenigstens Semifiktionalität und auf jede Art der Bilderzeugung. ein historiker, der nur Quellen studiert und sammelt, erhält noch kein bild von der epoche, der er sich zuwendet. ihr bild muss er erst herstellen. auf diese erkenntnis stützt schon nietzsche seine argumentation; er weitet sie in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung bereits ins ästhetische hinein aus: „nur wenn die historie es erträgt, zum kunstwerk umgebildet, also reines kunstgebilde zu werden, kann sie vielleicht instincte erhalten oder sogar wecken“ (ebd., ). wir wissen heute aus dem kollektivbewusstsein einer mediengesellschaft, dass die linearität, aber auch jede vorstellung von diskontinuität wie überhaupt die idee des verlaufs von geschichte etwas in erster linie ästhetisch inszeniertes ist. nietzsche sah das auch, aber er sah es anders. für ihn steckte hinter der produktion von geschichte keine

Das Gesetz der Philosophie



kulturindustrie und keine für die allgemeinheit anonym arbeitende geschichtswissenschaft. für ihn waren es möglichkeiten und fähigkeiten des großen einzelnen, erzählungen zu entwerfen, aus denen geschichte werden sollte und konnte. diese fähigkeiten waren letztlich immer dem ursprungsimpuls sprachlicher setzung, dem benennenden akt des philosophen als künstler, unterworfen.

ii an den anfang seines  verfassten, aus dem nachlass erst publizierten aufsatzes Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen stellt nietzsche eine grundsätzliche erörterung des nutzens der philosophie für die kultur. die frage, die er aufwirft, lautet, welche völker haben überhaupt philosophie nötig und was bringt sie ihnen?: „die ärzte des volkes verwerfen die philosophie; wer diese also rechtfertigen will, mag zeigen, wozu die gesunden völker die philosophie brauchen und gebraucht haben“ (ksa, i, phg, 0). er weist darauf hin, dass keine philosophie einem volk seine ‚verlorene gesundheit‘ je wiedergegeben habe: „wenn sie je helfend, rettend, vorschützend sich äußerte, dann war es bei gesunden, die kranken machte sie stets noch kränker. war je ein volk zerfasert und in schlaffer spannung mit seinen einzelnen verbunden, nie hat die philosophie diese einzelnen enger an das gesetz zurückgeknüpft […] sie ist gefährlich, wo sie nicht in ihrem vollen rechte ist: und nur die gesundheit eines volkes, aber auch nicht jedes volkes, giebt ihr dieses recht“ (ebd., 0f). vielleicht haben wir uns heute an die vorstellung gewöhnt, die äußerungsformen der kultur und mit ihnen die philosophie hätten einen fundamental kompensatorischen charakter und seien allein durch die daraus abzuleitende funktion einer abmilderung der zivilisationserzeugten defekte zu rechtfertigen. wer immer danach fragt, wozu man noch geisteswissenschaften und die in ihrem rahmen auftretende philosophie brauche, erhält zunächst, gleichsam zur beruhigung, diese antwort. – der philosoph als zivilisationstherapeut der spätmoderne ist in nietzsches augen eine gestalt des Jammers. allenfalls kann er das gute gewissen der utilitaristen sein, für die es fakt ist, dass, wo gehobelt wird, auch späne fallen. das kapitalistisch geprägte selbstverständnis des westens stellt sich unmittelbar über alles, was von der philosophie als impuls ausgehen könnte, indem es sie in die demütige Rechtfertigung vor dem einen und einzigen Gedanken profitorientierter Effizienz zwingt. Heute mehr denn je scheint diese Haltung auf breiter Front konsensfähig zu sein. dass die philosophie das hinnimmt, ist nicht nur auf die ruhigstellung vieler ihrer vertreter durch die zuweisung von professuren, sondern mehr noch auf eine zentrale schwäche ihrer inneren disposition als text zurückzuführen. wer philosophie in dem radikalen sinne auf sich anwenden wollte, wie es nietzsche bei den vorsokratikern umgesetzt glaubt, müsste wohl tatsächlich untergehen. nietzsche bezieht in seinem Griechen-aufsatz die diametrale gegenposition zum philosophierenden remedium. er argumentiert, dass die griechen gerade dadurch, dass sie in einem frühen stadium ihres kulturellen selbstgefühls philosophiert haben, den ‚gesundheitsstatus‘ ihrer kultur manifestieren konnten: „die griechen als die wahrhaft gesunden, haben ein- für -allemal die philosophie selbst gerechtfertigt, dadurch, daß sie philosophirt haben […] daß in dieser zeit die griechen philosophirt haben, belehrt uns

0

Christian Schärf

ebenso über das, was die philosophie ist und was sie soll, als über die griechen selbst“ (ebd., 0). nach nietzsches ansicht erfanden die vorsokratischen griechen die „typischen philosophenköpfe, und die ganze nachwelt hat nichts wesentliches mehr hinzuerfunden“: thales, anaximander, heraklit, parmenides, anaxagoras, empedokles, demokrit und sokrates: „alle jene männer sind ganz aus einem stein gehauen. zwischen ihrem denken und ihrem charakter herrscht strenge nothwendigkeit. es fehlt für sie jede konvention, weil es damals keinen philosophen- und gelehrtenstand gab“ (ebd., 0). nietzsche spricht von einer „genialen-republik“: „ein riese ruft dem anderen durch die öden zwischenräume der zeiten zu und ungestört durch muthwilliges lärmendes gezwerge, welches unter ihnen wegkriecht, setzt sich das hohe geistergespräch fort“ (ebd., 0). in dieser merkwürdigen formulierung scheint nietzsches persönliche bildungsphantasie auf, die die bildungsphantasie seiner zeit und seiner generation spiegelt. die wenigen großen persönlichkeiten stehen in unermesslicher höhe über den anderen, dem gezwerge, und bilden zusammen eine genialen-republik. nietzsche sollte dieser idee zeitlebens anhängen, so eng schließlich, dass er am ende selbst allein ‚auf hohen bergen‘ stand und das exklusive gespräch mit den kongenialen suchte. was er später als vollendung seiner einsamkeit erleben sollte, sah er bei den griechen in die abläufe der kultur eingebettet und als ausweis ihrer gesundheit. was ihnen fehlte, wodurch sie über alle nachfolgenden generationen von philosophierenden erhoben gewesen seien, sei der fundamentale zweifel am wert des daseins gewesen, der die nachsokratischen denker beschlichen und sie mit ihrer kultur zerrüttet habe. ‚kultur‘ ist in diesem sinne für nietzsche das synonym für die lebensfördernde, lebenssteigernde aktivität des geistes, die in die gesamte Gemeinschaft überfließt und nicht für die Tendenzen, die seit Platon den europäischen Geist infiltriert und infiziert haben: die Entgegensetzung von Geist und Natur, die schwächung des naturgegebenen kampfes ums dasein durch die behauptung einer spirituellen sphäre, die im christentum ihren höhepunkt fand und in einem zentraleuropäischen maße mentalitätsprägend wurde. nietzsche schreibt, das einleitungskapitel abschließend: „es giebt eine stählerne nothwendigkeit, die den philosophen an eine wahre kultur fesselt: aber wie, wenn diese kultur nicht vorhanden ist? dann ist der philosoph ein unberechenbarer und daher schrecken einflößender Komet, während er im guten Falle als ein Hauptgestirn im Sonnensysteme der kultur leuchtet. deshalb rechtfertigen die griechen den philosophen, weil er allein bei ihnen kein komet ist “ (ebd., 0). – es existiert wohl kaum ein text in der geschichte der modernen philosophie, der so zielgerichtet auf die positionierung des philosophen in einem lebenszusammenhang, der hier als kultur bezeichnet wird, zusteuert wie nietzsches frühe schrift über die vorsokratiker. der bruch zwischen einem ersten, ursprünglichen, ‚gesunden‘ philosophieren und einem späteren, mit sich und der kultur zerfallenen, wird darin überdeutlich herausgearbeitet. im grunde, meint nietzsche, sei in der moderne philosophie unmöglich, weil es eine zeit sei, „die an der sogenannten allgemeinen bildung leidet, aber keine kultur und in ihrem leben keine einheit des stils hat“ (ebd., ). philosophie bleibe in einer solchen zeit „gelehrter monolog des einsamen spaziergängers, zufälliger raub des einzelnen, verborgenes stubengeheimnis oder ungefährliches geschwätz zwischen akademischen greisen und kindern. niemand darf es wagen, das gesetz der philosophie an sich zu erfüllen“ (ebd., ).

Das Gesetz der Philosophie



damit ist das entscheidende wort gefallen, auf das nietzsches essay zuläuft: das ‚gesetz der philosophie‘. niemand dürfe es an sich erfüllen, bedeutet, in der modernen welt gibt es den autarken raum für ein urwüchsiges philosophisches verhalten nicht: „alles moderne philosophieren ist politisch und polizeilich, durch regierungen kirchen akademien sitten moden feigheit der menschen auf den gelehrten anschein beschränkt […] die philosophie ist ohne recht, deshalb müßte sie der moderne mensch, wenn er überhaupt nur muthig und gewissenhaft wäre, verwerfen und sie etwa mit ähnlichen worten verbannen, mit denen platon die tragödiendichter aus seinem staat verwies“ (ebd., ). nietzsche konstatiert einen bruch innerhalb der geschichte der philosophie, den vorher (und nachher) niemand so deutlich ausgesprochen hat. er tut dies zu einem zeitpunkt, da philosophie vollständig von der modernen wissenschaft institutionalisiert worden ist und als philosophiegeschichte zumeist retrospektiv historisierend und akademisch selbstgenügsam auf sich zurückblickt. in diesem kontext stellt er früh die frage nach ‚nutzen und nachteil der historie für das leben‘, die er wenige Jahre später im gleichnamigen aufsatz ausführen sollte. die universitätsphilosophie bringe nicht nur keine philosophen hervor. nach nietzsches überzeugung verhindere sie ihr entstehen systematisch, und zwar indem sie instanz und institution sei und damit ihr gesetz des historisierenden verwaltens des bestehenden dem potentiellen philosophen wie aller entstehenden philosophie aufzwinge. Der Philosoph, der von diesem System geformt werde, sei zwangsläufig ein Erfüllungsgehilfe der institution, die gegen die philosophie als unabhängige weisheitslehre auftrete und diese in die schranken des positiven wissens weise. der philosoph der moderne ist demnach ein anti-philosoph, der sich meist im ornat des universitätsprofessors die neue priesterrobe des philosophen institutionell übergeworfen hat. der philosoph, den die kultur hervorbringt und den sie braucht ist ein doppelagent, der meistens gar nicht weiß, dass er zwei herren dient. diese selbsttäuschung diskreditiert in nietzsches sicht den philosophen endgültig. das ‚gesetz der philosophie‘ als moderne historische wissenschaft lautet dahingehend, dass es einen wahrhaft, im ursprünglichen sinn des wortes philosophierenden geist weder geben könne noch dürfe. er stünde durch seine von grund auf inkommensurable erscheinung den verhältnissen der aufgeklärten kultur der moderne diametral entgegen. wer dennoch das gesetz der philosophie an sich zu verwirklichen suchte, müsste notwendig an der modernen zivilisation zugrunde gehen. fast könnte man darin eine selbstprophetie des ausgebildeten philologen und angehenden philosophischen schriftstellers nietzsche auf seine eigene person hin erkennen. denn er ist derjenige, der mit dem gesetzen des wissenschaftsbetriebs bricht, um mit der unbestechlichen haltung der ‚großen persönlichkeit‘ ins denken aufzubrechen. sollte man also nicht gerade in nietzsche den prototyp des unmöglichen denkers erkennen können, der den versuch unternommen hat, als moderner ‚komet‘ der philosophie deren gesetz an sich zu erfüllen? im dritten abschnitt seines aufsatzes macht der damalige basler altphilologe klar, was philosophie von anfang an von den gegenständen und fragestellungen der wissenschaft unterscheidet: „durch dieses auswählen und ausscheiden des ungewöhlichen erstaunlichen schwierigen göttlichen grenzt sich die philosophie gegen die wissenschaft ebenso ab, wie sie durch das hervorheben des unnützen sich gegen die klugheit abgrenzt. die wissenschaft stürzt sich, ohne solches auswählen, ohne solchen feingeschmack, auf



Christian Schärf

alles wißbare, in der blinden begierde, alles um jeden preis erkennen zu wollen; das philosophische denken dagegen ist immer auf der fährte der wissenswürdigsten dinge, der großen und wichtigen erkenntnisse“ (ebd., ). philosophie ist für nietzsche keine wissenschaft, und zwar aus zwei wesentlichen gründen: ihr gebiet ist das ungewöhnliche und ungeheure und ihr modus ist der des unnützen, über allen einzelnen interessen stehenden. was aber das wahrhaft ungewöhnliche und große sei, das wird von der philosophie allererst bestimmt: „so beginnt die philosophie mit einer gesetzgebung der größe, ein namengeben ist mit ihr verbunden“ (ebd., ). das gesetz der philosophie besteht im ursprung in einem namengeben, einer ‚gesetzgebung‘. die exekutorische ebene des denkens ist gleichbedeutend mit der legislatorischen der gesetzgebung durch bezeichnung. anders ausgedrückt: das gesetz der philosophie besteht ursächlich in einem gesetzgebungsakt des philosophen, einer tat in der sprache, die, indem sie erfolgt, einen bestimmten diskurstyp hervorbringt. wohl kein anderer denker hat so klar wie nietzsche diesen poietischen ursprungsakt punkt im textfeld der geistesgeschichte herausgearbeitet. deren gesetz besteht in einer archaischen genese: dem benennen des Ungeheuren und damit der kosmischen Profilierung dessen, der diese Tat durchführt und der im idealfall wie im sogenannten tragischen zeitalter der griechen damit ins heiße zentrum einer mit ihren existentiellen ursprüngen verbundenen kultur trifft, wenn er nicht selbst dieses zentrum bildet. nietzsche selbst folgt diesem prinzip, das ungeheure erblickt er in der musik, zuerst und vor allem in der musik wagners. er beginnt mit einem benennungsakt, der sich auf das zunächst unbenennbare bezieht, auf das ästhetische erlebnis der musik, das mehr ist als nur erlebnis und mehr als nur ästhetisch. nietzsche spürt in der musik wagners archaische Kräfte an die Oberfläche kommen, Energien, die als Musik in einem vorsprachlichen stadium erscheinen und ihre versprachlichung geradezu fordern. er steht nicht, wie die vorsokratiker einer mythisch ‚verzauberten‘ welt gegenüber, die es jenseits mythischer deutungsmuster als faktizität zu bezeichnen und zu deuten gälte. nietzsche stellt sich vielmehr der musik als dem unausweichlichen ästhetischen medium der wiederverzauberung gegenüber und versucht, denkend, benennend und deutend in dieser tätigkeit vorzudringen. aus der musik tönt dem philosophen „die kunstgewalt der ganzen natur, zur höchsten wonnebefriedigung des ur-einen“ (ksa, gt, , 0), wie es in der Geburt der Tragödie heißt. dieser mythische grund fordert seine erhebung in die sprache, verlangt nach benennung, die jedoch keineswegs in eine theoretische metaebene führen darf. vielmehr soll der akt der gesetzgebung durch den philosophen selbst ein künstlerischer akt sein: „nur soweit der genius im actus der künstlerischen zeugung mit jenem urkünstler der welt verschmilzt, weiss er etwas über das ewige wesen der kunst“ (ebd., ). durch seine radikal ästhetische bezugnahme auf die musik bringt nietzsche das philosophieren an einen, wie er glaubt, historischen einsatzpunkt zurück. es geht ihm um eine sprache für das erlebnis des ungeheuren, das als das ur-eine vorsprachlich in Erscheinung tritt. Sprachfindung ist die eigentlich philosophische Tat, die alles Denken dominierende ‚metaphysische tätigkeit‘, von der nietzsche in der Geburt der Tragödie spricht. sie ist gleichbedeutend mit dem gesetz der philosophie, von dem er sagt, niemand von den neueren dürfe es wagen, es an sich zu erfüllen. An dem spezifischen Punkt, den Nietzsche ins Visier nimmt, verschmelzen Gesetz und text. das gesetz und der text der philosophie sind im schöpferischen ursprung

Das Gesetz der Philosophie



eines ästhetischen akts, dem sie entstammen, identisch. an diesen anfang zurückzukehren, ist deshalb gefährlich, weil es eine rückkehr in die ‚poietische‘ ausgangslage des denkens darstellt, gerade auch der mythischen vorläuferschaften. der ausdruck ‚poietisch‘ meint hierbei keineswegs in einem modernen subjektiven sinne ‚schöpferisch‘. eher bezeichnet er den beitrag bestimmter produktiver dispositive zur evolution der kultur. nietzsche platziert das poietische in der kultur über den ideen, also über den spirituellen und transzendenten entitäten metaphysischer wahrheit. platons ideen selbst sind das ergebnis dieser poiesis, ebenso wie der mythos, den sie zu verdrängen suchten. das gesetz der philosophie müsste in nietzsches vorstellung schließlich eine neue mythologie repräsentieren. das wäre die gegenposition zu dem, was die philosophen seit platon und eigentlich schon seit den vorsokratikern verfolgt haben. das projekt der rationalisierung der welt durch die strukturalität und die logozentrik der schrift würde an der stelle in ihr gegenteil kippen, an der die ingeniöse poiesis des textes selbst für das gesetz gehalten würde. es käme zu einer apotheose des ästhetischen und damit zu einer remythisierung des denkens, sein verfallen ans rhapsodische und tragische, wie dies vor sokrates der fall gewesen war. nichts anderes zeigt sich in nietzsches philosophischer biographie. er dreht den zeiger des denkens so weit hinter den platonischen gründungsakt der metaphysik zurück, dass man sich fragen kann, ob bei den griechen denken jemals in dem ausmaß dem rhapsodischen gestus unterworfen war, wie es beim nietzsche seit der phase des Zarathustra zu beobachten ist. die begegnung mit dem von ihm tief verehrten komponisten wagner wird für nietzsche zur alles entscheidenden erfahrung seiner jungen Jahre. sein gesamtes philosophieren kann als eine unaufhörliche auseinandersetzung mit wagner und der musik verstanden werden, auch in der späteren abwendung, ja feindschaft gegenüber dem bewunderten Künstler. Kein anderer Philosoph in der Geschichte unterstand dem Einfluss eines ihm zeitgenössischen künstlers so, wie nietzsche sich an wagner gekettet fühlte. dessen musik ist für den jungen altphilologen das urerlebnis eines noch unbenannten, das ihn mit unausweichlicher vehemenz in die philosophie als instanz der benennung treibt. diese musik löst bei dem sohn eines protestantischen pfarrers den impuls zur sprachlichen vergegenwärtigung und fixierung ihrer zunächst unaussprechbaren wirkungen aus. was sich bei wagner auf letzter stufe zum bühnenweihspiel ausweitet, will bei nietzsche schrift und sprachlicher ausdruck werden, predigt an die kultur, an ihre vergangenheit und ihre zukunft, vor allem aber an ihre daniederliegende gegenwart. nietzsche ist der vermittler des wortes, dem sich wagner entzieht, indem er die musik und das theater den gesamten zeremoniösen raum einnehmen lässt. es ist, als breche der streit zwischen dem katholizismus und dem protestantismus auf der ebene der kultur noch einmal voller stärke aus. und es scheint, als trage die katholische romantik, wie sie sich in wagners Parsifal darstellt, einen gloriosen sieg davon. aber das scheint nur so. nietzsche ist zwar in seinem schreiben untergegangen, einem textbegehren, das von der faszinationskraft wagnerscher musik bis in die gedankenstriche hinein aufgeladen ist. doch er ist als vordenker der moderne wieder auferstanden und hat den ästhetisch-metaphysischen impuls tief ins 0. Jahrhundert hineingetragen, während wagner im pompösen, völkischen und katholisch-zeremoniösen seine ersten und nachhaltigen rezeptionsmuster fand. nietzsche demonstriert durch seine nach seinem tod einsetzende wirkung, wie das wort des philosophen über die musik hinaustreibt, wie diese im wort aufgehoben sein kann und



Christian Schärf

als metaphysischer magnet neue bedeutungsfelder an sich heranzieht, um sie neu zu kodieren. unter dem bann des ästhetischen erlebnisses der musik erfüllt nietzsche das ursprüngliche gesetz der philosophie von neuem und geht in der folge an der modernen zivilisation zugrunde, ganz so, wie er es vorausgesagt hat. diese zivilisation lässt eine umkehrung der verhältnisse in der kulturation eines individuums, wie sie nietzsche betreibt, nicht zu. das ästhetische soll eine welt verklären, in der der einzelne im instrumentellen horizont der ratio arbeitet und in der die musik eine besänftigende und tröstende, niemals aber eine rauschhafte und die philosophie eine historische, niemals aber eine theatralische aufgabe erfüllen mag. wer jedoch das ästhetische unter dem leitstern von theatralität und musik selbst zum ziel des denkens erklärt und alles dafür tut, dieses ziel sprachlich und denkerisch zu erreichen, der gräbt an den fundamenten der zivilisatorischen logik, der sieht sich und seine zeit in eine neue mythologie abdriften, der glaubt an die unabdingbare notwendigkeit dieser neuen mythologie. schließlich wird er sich als zeitgenosse dieser drift hingeben und aus dem koordinatensystem der leitenden diskurse herausfallen. angesichts des ästhetischen faszinosums der musik bedeutet philosophieren, eine Sprache zu finden, die ihrem Erlebnis adäquat wäre. Entsprechend ist das Ziel des Denkens nicht aufklärung von gegebenem und ursprünglich falsch bezeichnetem, sondern verklärung des noch unbezeichneten und seine steigerung durch das wort, das damit selbst wieder einen ästhetischen mehrwert gewinnen soll. das ist der weg, über den nietzsche die rauschzustände des musikhörens in die sprache und in die schrift transportiert. die arbitrarität des sprachlichen zeichens ermöglicht diesen sprung und birgt zugleich die gewissheit, das bezeichnete immer auch zu verfehlen. was die steigerung des metaphorischen gehalts in die ästhetische erfahrung ermöglicht, ist zugleich die bedingung für die unmöglichkeit, wahres zu sagen. sprechen hieße demnach steigerung durch verfehlung, aktivierung des metaphorischen potentials zur aufhebung des mimetischen horizonts in die performanz des philosophischen sprechens. nietzsche geht es dabei ähnlich wie dem ersten so genannten philosophen überhaupt, wie thales von milet: „wenn thales sagt ‚alles ist wasser‘, so zuckt der mensch empor aus dem wurmartigen betasten und herumkriechen der einzelnen wissenschaften, er ahnt die letzte lösung der dinge und überwindet, durch diese ahnung, die gemeine befangenheit der niederen erkenntnisgrade. der philosoph versucht den gesammtklang der welt in sich nachtönen zu lassen und ihn aus sich herauszustellen in begriffen“ (ksa, phg, , ). der philosoph behält bei seiner kreativen tat des benennens „die besonnenheit, sich, als den widerschein der welt, kalt zu betrachten […] was hier der vers für den dichter ist, ist für den philosophen das dialektische denken: nach ihm greift er, um sich seine Verzauberung festzuhalten, um sie zu petrificieren“ (ebd., 817). Der Unterschied zwischen vers und begriff ist in nietzsche augen gering, aber doch typologisch prägend. im endeffekt kommt beides auf dasselbe heraus, auf die kreation einer buchstäblichen fremdsprachlichkeit gegenüber den dingen, die jedoch als inbegriff der sprachlichkeit des menschen überhaupt anzusehen wäre: „und wie für den dramatiker wort und vers nur das stammeln in einer fremden sprache sind, um in ihr zu sagen, was er lebte und schaute, so ist der ausdruck jeder tiefen philosophischen intuition durch dialektik und wissenschaftliches Reflektieren zwar einerseits das einzige Mittel, ja im Grund eine metaphorische, ganz und gar ungetreue übertragung in eine verschiedene sphäre und

Das Gesetz der Philosophie



sprache. so schaute thales die einheit des seienden: und wie er sich mitteilen wollte, redete er vom wasser!“ (ebd., ). hierin kommen das gesetz der philosophie und ihr text nochmals als ineinander gewobene teile eines gesamtphänomens in den blick. die schau der einheit des seienden, theoria, wird in eine sprache übersetzt, die in einem metaphorischen sinne nur fremdsprache sein kann. das unaussprechliche, der gesamtklang der welt, das ur-eine, hier wird es ausgesprochen und gleichzeitig verfehlt. darin ist die rede des denkers dem dichterischen sprechen nicht nur nahe, sondern ursprungsund impulshaft verwandt. der unterschied zwischen beiden sprechweisen besteht in der haltung ihres subjekts. während dem künstler das heiße medium, die begeisterung in der sprache und die raserei im vortrag zugehört, sieht sich der philosoph, bei aller erregung im poietischen Erlebnis, auf die Kälte des Materials verpflichtet, auf Begriffe und ihre dialektische bewegung. angesichts dessen, was sich abspielt, sind sowohl dichtung als auch philosophie fremdsprachen. doch nur der dichter ist sich dessen bewusst. die fremdheit in jedem benennen wird in seinen versen noch erfahrbar. beim philosophen jedoch ist sie getilgt, dem begriff unterworfen, hinausgetrieben aus der sprache, die jetzt den anschein hat, als sei sie klar und distinkt, als sei ihre einzige funktion die mitteilung und ihre einzige aufgabe vermittlung. nietzsche rekonstruiert mit hinweis auf den satz des thales, der ursprung von allem liege im wasser, ein szenario, das die für das selbstverständnis des europäischen geistes so maßgebliche spaltung zwischen poetischem bild und philosophischem begriff konsequent tilgt. Zugleich hebt er die ebenso konstitutive Spaltung zwischen einer mündlichen sphäre des poetisch-rhapsodischen und einer schriftsphäre des philosophischen auf. diese kluft ist in nietzsches augen rein formaler natur. tatsächlich aber ist das geschehen, das sich in der übersetzung der schau der seinseinheit in sprache vollzieht, eine einzige bewegung in zwei unterschiedlichen sphären; der text, den sie erzeugt ist das resultat einer fremdsprachlichkeit, die zur mythisch-ästhetischen verklärung des daseins führen soll. dies ist nietzsches tendenz als philosoph, der aus dem sprechgesang des dichters geboren wird, welcher wiederum unter dem narkotikum der musik steht. Nur Narr, nur Dichter, so wird der philosoph, der ‚wahrheit freier‘ in den Dionysos­Dithyramben verspottet (ksa, dd, , ). über den spott hinaus ist dies aber ein hinweis auf die lagerung des philosophen im poetisch-metaphorischen material und in der fremdheit des benennens. das ungeheure und zunächst unaussprechliche hat die struktur eines tabus, das literarisch zum totem der produktion erwächst. nur weil man dieses ungesagte und vorab unsagbare als solches erkennt, sieht man sich dazu aufgefordert, eine fremd-sprache als Sprache für dieses Fremde zu finden. Moderne Dichtung war solange für die Zivilisation des westens relevant, als man ihr das privileg zusprechen konnte, dieses tabu zu wahren und das daraus entstehende totem zu verkörpern. erst das aufgehen fast aller bereiche der ausdruckssphäre in eine industrie der reproduktiven bewusstseinsformen vermochte dem glauben an ein unaussprechliches soweit zu schwächen, dass man ihn gegenwärtig für verschwunden oder zerfallen halten könnte. das von nietzsche in bezug auf thales hervorgehobene ungeheure, dem er selbst in wagners musik wieder begegnet, hebt die spaltung zwischen poesie und philosophie letztlich auf. nietzsche begreift es als das eigentlich schaffende und treibende moment im



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poietischen prozess der sprache. ohne das ungeheure kein denken und keine dichtung. das ist nietzsches wichtigstes geschütz im kampf gegen den hegelianischen glauben an die selbsterfüllung des sich wissenden wissens im begriff. zugleich ist es sein anker im unzeitgemäßen, mit dem er dem wissenschaftsbesessenen . Jahrhundert zu leibe rücken will. von nun an tendiert philosophische theorie als sprache dazu, ästhetisch, im äußersten falle, musik zu werden. wo sie das nicht anstrebt, bleibt sie blutleere explikation von äußerlichkeiten. musik zu werden aber bedeutet, die struktur des tabus in die theorie hineinzutragen und dort kognitiv und emotiv wuchern zu lassen.

iii die selbstsetzung des unzeitgemäßen als eines neuen philosophen, der es mit den vorsokratischen gründungsakten sollte aufnehmen können, beinhaltet ein geschichtsmodell, das in geradezu vorbildlicher art und weise die romantische triade dreier aufeinander folgender geschichtsstufen in sich abbildet. was einst die gesetzgeber der philosophie in unteritalien und ionien vermochten, womit sie dem abendland den impuls nachmythischen denkens eingehaucht haben, sollte unter den voraussetzungen ästhetischer rechtfertigung des daseins wieder möglich sein. der zwischen beiden höhepunkten liegende niedergang betrifft die zivilisation, die den ursprünglichen philosophischen Impuls in ihre Systeme zu integrieren versucht. – Dieses dreistufige romantische Geschichtsmodell, dessen kristallisation im . Jahrhundert wohl bis zu giambattista vicos ricorso zurückzuführen ist, erlangt bei nietzsche den status eines basisideologems im kulturkampf. die erneuerung der kultur vom schöpferischen impuls her sollte sich auf die inspiration der künste im 0. Jahrhundert auf unvergleichbare art und weise auswirken. zugleich macht nietzsche deutlich, dass dieses geschichtsmodell ein ästhetisch begründetes ist. er trennt nicht mehr, wie es die romantiker getan haben, die welt des ästhetischen scheins von der realen geschichte ab. während friedrich schlegel und novalis von einer unendlichen annäherung beider linien ausgegangen sind, ist für nietzsche klar, dass es sich immer nur um eine einzige linie gehandelt habe. mit dieser annahme zwingt er vor allem zwei dinge zusammen: seine von einer erfüllung des daseins in der geschichte überzeugte epochenstimmung und seinen eigenen, von klassischer bildung angefüllten bewusstseinshorizont. es scheint zentral, sich die in dieses bewusstsein eingeschrieben widersprüche vor augen zu halten. heinz schlaffer hat kürzlich darauf hingewiesen, dass nietzsches drang, sich als philosoph die position des unzeitgemäßen zuzuweisen, aus der disposition der bildungsideen seiner epoche entspringen musste: „nietzsche deckte einen widerspruch auf, den die idee der humanistischen bildung zu beschönigen suchte, den widerspruch zwischen der verehrung der antiken welt und der lebensform der modernen welt, in der diese Verehrung stattfindet. Man bewunderte Statuen von Göttern, an die niemand glaubte; man rühmte epen, deren helden vor dem gericht der christlichen moral sünder und verbrecher wären; […] man pries gymnastik und wettkämpfe nackter Jünglinge, während man selbst vom hut bis zu den stiefeln bedeckt ging; man wußte, daß die gefeierte griechische kultur ihr emotionales fundament in der homoerotik hatte, die in der gegenwart unter strafe stand; liberale und fortschrittlich gesonnene bürger träumten von

Das Gesetz der Philosophie



einem land, in dem die wenigen ‚freien‘ eine vielzahl von sklaven für sich arbeiten ließen. […] nietzsche kündigte den kompromiß auf, den schule, universität, festansprachen und das allgemeine bildungsbewußtsein bei der beschäftigung mit der antike eingegangen waren.“ nietzsche kündigte diesen kompromiss auf, doch zugleich trieb er die in ihm ausgelebten widersprüche auf die spitze. die geschichtsversessenheit des wilhelminischen bürgertums schoss gerade in der gestalt des die geschichte als ganze umformenden einzelnen über jedes ziel hinaus. indem er an die stelle der bildung das ästhetische setzte und die ketten der zivilisation durch die schöpferische gestaltungskraft des unzeitgemäßen denkers durchbrechen wollte, stellte er einen geschichtsentwurf in den fokus, der im kern züge totalitärer strukturen offenbart. der ursächliche zusammenhang zwischen ästhetischem faszinosum, dem aus seiner gestaltungsenergie geformten geschichtsbild und der herrschaft des großen einzelnen aus dem bewusstsein seiner unzeitgemäßheit sticht dabei ins auge. es dürfte kein zweifel darüber bestehen, dass dieser zusammenhang und der daraus erwachsende anspruch für die Jetztzeit jede gültigkeit verloren hat. unmöglich scheint es, nietzsche ohne seinen zug ins totalitäre lesen zu können. gerade darin ist er als vollkommen historischer Typus zu identifizieren. Die andere Seite der Medaille aber liegt in seiner vorwegnahme der ästhetischen gestaltung von geschichtsphantasmen, wie sie uns heute in anderer form, als nietzsche sie sich vorstellen konnte, aber deshalb um so vehementer in multimedialer dimension entgegen strömen. auch sind es nicht mehr herausragende einzelne, die dieses fraktale geschichtsbild prägen. vielmehr arbeitet daran eine medienindustrie, die sich über den ganzen planeten ausgebreitet hat und die, indem sie (fiktiv oder dokumentarisch) ununterbrochen Bilder von der Geschichte produziert, ein bewusstsein für geschichte kollabieren lässt. führte einst nietzsches ästhetische rechtfertigung des daseins in ein totalitäres geschichtsbild, das für einen gott, einen übermenschen oder einen führer gemacht war, so hat die ästhetisierung von geschichte durch technische und digitale medien jegliches geschichtsbewusstsein von grund auf dekonstruiert. das bedeutet, geschichte ist zur verfügungsmasse bilderzeugender und bildgebender medien geworden, ohne dass der einzelne sich noch in einer genuinen kontinuität begreifen könnte, durch die geschichte zu ihm hin sich erstreckte, bei ihm als reale entwicklung anlangte. walter benjamins in seinen thesen Über den Begriff der Geschichte festgehaltene bemerkung: „freilich fällt erst der erlösten menschheit ihre vergangenheit vollauf zu. das will sagen: erst der erlösten menschheit ist ihre vergangenheit in jedem ihrer momente zitierbar geworden“, erscheint unter diesem voraussetzungen in einem geradezu zynischen licht. das liegt vor allem daran, dass die theologische substanz, die benjamin bewusst als eine ‚philosophie des Jüngsten tages‘ in seinen geschichtsphilosophischen thesen ausführt, zerfallen ist. geschichte als raum säkularisierter heilserwartung gehört der geschichte an. es fragt sich nur, welcher geschichte und wie wir sie (re)konstruieren.  

heinz schlaffer, Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen, münchen, wien 00, f. walter benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften, frankfurt am main , .

andreas greiert

interpretation, macht, geschichte nietzsche für historiker

die menschen hören erst auf, toren zu sein, wenn sie aufhören zu leben; solange sie sich den bart raufen können, spielen sie den schurken und narren. robert burton, Anatomie der Melancholie. Über die Allgegenwart der Schwermut, ihre Ursachen und Symptome sowie die Kunst, es mit ihr auszuhalten ()

geschichtsentwürfe, deren verfasser keinen anspruch auf wissenschaftlichkeit erhoben haben oder erheben, geraten leicht ins terminologische abseits oder werden, durch die linse der wissenschaftlichkeit mit ihren charakteristischen brechungen betrachtet, nur mehr punktuell wahrnehmbar. eine solche verzerrende und ausblendende wirkung der wissenschaftsüberzeugung auf die wahrnehmung erklärtermaßen unwissenschaftlichen historischen denkens ist bis in die gegenwart beim etablierten umgang deutscher historiker mit dem geschichtsdenken friedrich nietzsches auszumachen, der sich üblicherweise auf eine Wiedergabe der ‚spezifisch geschichtstheoretischen‘ Passagen aus Nietzsches  unter dem titel Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben publizierten Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung beschränkt. genannt werden die drei zentralen krisensymptome der historie als wissenschaft (stoffhuberei, objektivitäts-glaube, wertrelativismus) und nietzsches doppelter lösungsansatz, der neben einer prinzipiellen begrenzung des Historischen durch Un- und Überhistorisches auf drei ‚lebensdienliche‘ Arten der geschichtsbetrachtung verweist: die antiquarische, die monumentalische, die kritische. die vorliegene darstellung präsentiert den versuch, dieser selbstbeschränkung kritisch auf den Grund zu gehen. Bei einer Abschaltung des Filters der ‚Wissenschaftlichkeit‘ werden zwei ursachen für eine scheu vor nietzsche erkennbar: () nietzsches systematische erledigung des historischen subjekts; () in der tat fragwürdige instrumentalisierungen von nietzsches, auf eine ästhetisierung des mythos gestützter geschichts- und wissenschaftskritik in politisch reaktionären, gar der nationalsozialistischen ‚weltan

etwa: otto gerhard oexle, Von Nietzsche zu Max Weber: Wertproblem und Objektivitätsforderung der Wissenschaft im Zeichen des Historismus, in: ders., Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, Studien zu Problemgeschichten der Moderne, göttingen , ff.

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Andreas Greiert

schauung‘ kompatiblen Zusammenhängen. Um dieser Problematik zu begegnen, wird () ein zentrales moment von nietzsches geschichtsverständnis wieder hervorgehoben, das in der epigonalen rezeption untergegangen ist: die epistemologische und nicht ontologische Struktur der ‚Lehre von der ewigen Wiederkunft‘. Nietzsche kann, so die These vorliegender darstellung, durchaus historikern einen ansatzpunkt bieten. er bürdet jedoch jedem, der sich ernsthaft mit ihm beschäftigen will, zugleich die Verpflichtung zur ständigen kritischen geschichtsphilosophischen Reflexion auf.

. nietzsches erledigung des historischen subjekts Nietzsches Geschichtsverständnis geht über die methodischen Reflexionen in der Zwei­ ten Unzeitgemäßen Betrachtung weit hinaus. entscheidend ist bei nietzsche nicht die historische methodik, sondern die historische systematik. anstatt eine behutsame reform der geschichtswissenschaft anzustreben, etwa über den ausgleich der übermachtstellung eines der drei aufgewiesenen Prinzipien der Betrachtung, zielt sein Ansatz auf eine so radikale wie restlose destruktion der zeitgenössisch historistischen wissenschaftlichen auffassung der geschichte. der gegenüberstellung von (einzel-)mensch und von diesem gestalteter historischer Welt, die als Zeitgenosse Nietzsches wohl am eindrucksvollsten Johann gustav droysen in seiner Historik als transzendentale voraussetzung der geschichtsbetrachtung überhaupt bestimmt hat: „nur was menschengeist und menschenhand gestaltet, geprägt, berührt hat, nur die menschenspur leuchtet uns wieder auf“, entzieht nietzsche jede grundlage, indem er diese situation nicht bloß anzweifelt oder bestreitet, sondern mit einem energischen schwung der schreibfeder das subjekt gleich ganz durchstreicht. Auf der Grundlage eines ‚geschickt eingefädelten Kategorienfehlers‘ hat Nietzsche schon in der , ein Jahr vor der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung entstandenen abhandlung Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne den schein als das lebensmedium des menschen bestimmt. wenn alle wirklichkeit als resultat von akten der erzeugung von bedeutungen, als immer schon durch den menschen geformt zu begreifen ist, erscheint die möglichkeit eines „adäquaten ausdrucks eines objekts im subjekt“ von vornherein als ein „widerspruchsvolles unding“ (ksa, wl, , ). der erkenntnistheoretischen aporie, dass universaler schein vorhanden ist, den bewusstsein nicht transzendieren kann, da dieser vom bewusstsein produziert wird, entzieht sich Nietzsche durch Preisgabe der modern-rationalen Subjekt-Konzeption. 

 

Johann gustav droysen, Historik, Historisch-kritische Ausgabe von Peter Leyh, Band 1: Rekon­ struktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (), Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (/) und in der letzten gedruckten Fassung (), stuttgart, bad cannstadt , , ,  und passim. birgit recki, Das ästhetische Ethos des Schaffenden. Friedrich Nietzsche über Kunst als Lebens­ kunst, in: Jahrbuch des Künstlerhauses Schloß Balmoral, mainz , f. von „Menschliches, Allzumenschliches“ () bis „Also sprach Zarathustra“ (1883/85) findet sich eine entsprechende Erkenntnissituation skizziert, die nach Perspektivenwechseln und Neubestimmungen der eigenen identität und nach skepsis und ironie als löschenden und kühlenden mitteln

Interpretation, Macht, Geschichte



diese kritik an der modernen subjekt-vorstellung hat nietzsche noch einmal radikalisiert, indem er seine sprachkritik ausbaut. Da jedes Prädikat immer auf ein Subjekt verweist, impliziert nach der logik der sprache handeln notwendig einen handelnden. Dieser Zusammenhang ist für Nietzsche nur Produkt bloßer sprachlicher Konventionen, welche die binnenlogik der sprache auf den bereich der referenten ausdehnt. in Jenseits von Gut und Böse widerspricht er dieser hypostasierung ganz entschieden und schreibt sie einem „aberglauben der logiker“ zu (ksa, Jgb, , 0). für ihn ist hingegen nur die Tätigkeit selbst anzusehen und die Hinzufügung des Täters zur Tat, des Subjekts ‚Ich‘ zum Prädikat ‚denke‘, eine unbegründete Auslegung des Vorgangs nach grammatischer gewohnheit. Es erscheint zunächst paradox, dass ein Mensch die Forderung erhebt, die Perspektive des menschen auf die menschenwelt aufzugeben. indem nietzsches betrachtung aber hinter den dualismus von mensch und welt zurückgeht, der im verstandesdenken erscheinen muss, entsteht ihm die möglichkeit, naturphilosophischen dimensionen des lebens gegenüber einer logozentrischen auffassung raum zu geben, ohne naturalistischen Reduktionen verfallen zu müssen. Er wendet ‚Leben‘ als Kampfbegriff gegen den modernen menschen. die einsicht, dass es „[…] selbst zur grundbeschaffenheit des daseins gehören könnte, dass man an seiner völligen erkenntniss zu grunde gienge“ (ebd., f.), verlangt nach einer Preisgabe der Idee der Menschheit: „Wir sind des Menschen müde“ (ksa, gm, , ). Nietzsches genealogische Perspektive durchdringt die Zeit: Als ein unerträglich aufgeblähter anthropomorphismus betreibt die moderne wissenschaft ihr ordnen, grenzensetzen und Systematisieren um ihrer selbst willen als eine Verselbständigung des Prinzips des ‚Sokratischen‘, dessen Einfluss Nietzsche bis in seine unmittelbare Gegenwart reichen sieht als die „tiefsinnige Wahnvorstellung, welche zuerst in der Person des Sokrates zur welt kam, jener unerschütterliche glaube, dass das denken, an dem leitfaden der causalität, bis in die tiefsten abgründe des seins reiche, und dass das denken das sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigieren im stande sei“ (ksa, gt, , 99). Ausgehend von einer grundsätzlichen Identifizierung von Tugend und Wissen (ebd., ), rechtfertigt der moderne mensch sein dasein, indem er seine erfolgsaussichten berechnet. Diesem ‚Optimismus‘ sokratischer Wissenschaft widerspricht Nietzsche in





 

gegen ein „Zeitalter, das immer mehr in Brand geräth“ wie als Waffen für einen täglich zu führenden „feldzug gegen dich selber“ verlangt (ksa, ma-, , , ; ksa, m, , ). heinz dieter kittsteiner, Geschichtsschreibung im Dienst des Lebens. Nietzsches „souveränes Indi­ viduum“ in seiner „plastischen Kraft“, in: ders., Listen der Vernunft, Motive geschichtsphilosophi­ schen Denkens, frankfurt am main , . nietzsche vergleicht dies mit dem unbeirrbaren festhalten der „älteren atomistik“ an der suche nach einer materie als „erdenrest“, aus dem die zu beobachtende wirkende kraft hervorgehen müsse (ksa, Jgb, , ). günter abel, Nietzsche – Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, berlin, new york , v. Zu Nietzsches Zurückweisung der ontologischen Aufwertung des Wissens zur Rechtfertigungsinstanz des daseins durch die moderne wissenschaft: andrea germer, Wissenschaft und Leben. Max Webers Antwort auf eine Frage Friedrich Nietzsches, göttingen , .



Andreas Greiert

aller entschiedenheit. die mechanizistische weltauffassung der naturwissenschaften, die Verfügbarmachung der Natur für menschliche Macht-Zwecke, ist nur eine mögliche Perspektive und im Verhältnis zu der anderen Art der Interpretation der Welt durch die kunst auch als „eine der dümmsten“ anzusehen (ksa, fw, , ). wissenschaft wird von nietzsche höhnisch mit dem vorwurf der dummheit überzogen, weil ihr sokratischer optimismus die einzige wahrheit verschleiert, die dem leben angemessen ist, werden doch diejenigen „instincte und kräftige[n] wahnbilder“ nicht mehr ausgebildet, die allein dem „geheimnisvollen dunstkreis“ des lebendigen gerecht zu werden vermögen: die mythen (ksa, hl, , f.). nicht wissen und analytische vernunft, sondern allein die reproduktion von mythen durch die „plastische kraft“, aus unmittelbar-lebendiger erfahrung heraus, erlaubt eine einheitsherstellung, die der des lebendigen entsprechen kann (ebd., ). so erscheint die moderne geschichtsauffassung, die zeitgenössisch höchste ausprägung des sokratischen (wissenschafts-)optimismus, als Zeichen eines Mangels: „Worauf weist das ungeheure historische Bedürfnis der unbefriedigten modernen cultur, das umsichsammeln zahlloser anderer culturen, das verzehrende erkennenwollen, wenn nicht auf den verlust des mythus, auf den verlust der mythischen heimat, des mythischen mutterschoosses?“ (ksa, gt, , ). in nietzsches radikal ästhetisierter fassung stellt der mythos keinen schrecklichen bann über dem subjekt dar, wird nicht als bedrohung von bewahrenswerten errungenschaften des modernen rationalisierten bewusstseins wahrgenommen.0 der mythos steht nietzsche im gegenteil dafür ein, dass den menschen wahrheit als adäquate erfassung der wirklichkeit im begriff nicht möglich ist; dass vielmehr eine das begreifen übersteigende vieldeutigkeit der welt um die menschen herum anzunehmen ist. nietzsche treibt, so hat manfred frank es gesehen, dasselbe motiv wie entsprechende ansätze zu einer ‚Neuen Mythologie‘ in der Romantik: Leiden an der sozialen Entfremdung. seit der Romantik ist ein Zusammenhang wahrgenommen worden zwischen dem Verlust intersubjektiver verbindlichkeit und dem fehlen von mythen. die hoffnung auf den mythos zielt auf dessen ‚kommunikative Funktion‘, denn er vermag eine Rechtfertigung als ‚Beglaubigung‘ für das Bestehen von gesellschaftlichen Strukturen und für Handeln in sozialen Zusammenhängen zu liefern, indem er übersubjektive Bezüge auf eine symbolische  0

 

manfred frank, Dionysos und die Renaissance des kultischen Dramas (Nietzsche, Wagner, Johst), in: der., Gott im Exil, Vorlesungen über die neue Mythologie II. Teil, frankfurt am main , f. Jörg salaquarda, Mythos bei Nietzsche, in: Philosophie und Mythos, Ein Kolloquium, hg. von hans Poser, Berlin, New York 1979, 174–198, 178ff. Nietzsche hat den Mythos im ganzen Umfang als Kunst interpretiert und die okzidentale Philosophie als Verneinung der Kunst bzw. des Scheins gedeutet (walter kuhmann, Die Rückkehr des täuschenden Scheins der Dinge. Anmerkungen zum Verhältnis von Mythos und Philosophie bei Friedrich Nietzsche, köln , ff.). entgegen der rationalistischen sichtweise steht der mythos nietzsche nicht für einen gegensatz zum denken ein, sondern ist selbst ein verändertes, anderes denken, das nicht dem irrationalismus verfallen, sondern einer neuen Aufklärung verpflichtet ist (Christoph Jamme, „Gott an hat ein Gewand“. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos­Theorien der Gegenwart, frankfurt am main , ff.). manfred frank, Dionysos und die Renaissance des kultischen Dramas, 65; Zu strukturellen Übereinstimmungen zwischen nietzsche und der (früh-)romantik: Nietzscheforschung, bd. . manfred frank, Der kommende Gott. Vorlesungen über die neue Mythologie, I. Teil, frankfurt am main , 0f.

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ordnung herzustellen erlaubt: „ohne mythus aber geht jede cultur ihrer gesunden schöpferischen naturkraft verlustig: erst ein mit mythen umstellter horizont schliesst eine ganze culturbewegung zur einheit ab“ (ksa, gt, , ). Dem von Nietzsche mit höchster Emphase vertretenen Kampfbegriff des ‚Lebens‘ liegt die überzeugung zugrunde, nur die rückhaltlose bejahung des mythos könne den menschen in ein harmonisches verhältnis zur wirklichkeit setzen. seine wissenschaftsund geschichtskritik besitzt somit einen doppelten boden: unterhalb der philosophiehistorisch-wissenschaftstheoretisch zu erfassenden Oberfläche, die in nicht geringem maße vom „wilhelminischen schmock“ regiert wird, lauert immer schon das wilde leben. nietzsche betreibt selbst keine wissenschaft; er schreibt um sein leben. sein ansatz ist insofern beispiellos neuartig, als er alles auf das handeln setzt, dem die anderen entwürfe allesamt misstrauen. in aufklärung und historismus hatte sich das chaos der wirklichkeit letztlich selbst bändigen sollen durch eine implizite teleologie oder eine hintergründige sinn-kontinuität, so dass der rationalität der vernunft oder dem ‚Geist‘ der Endsieg über die Irrationalität des Handelns zugesprochen werden konnte. nietzsche bricht aus dieser tradition aus und verwirft mit seinem aufruf zum handeln ausdrücklich jede geschichtsphilosophie. sein umgang mit geschichte füllt freilich diejenige Leerstelle aus, die nach einer Zerstörung des geschichtsphilosophischen Kontinuums übrigbleibt. die in der moderne tendenziell angestrebte beherrschung der welt durch die technische vernunft kann dann in ihrer zunehmenden umsetzung für nietzsche nur als historischer verfall des menschlich-vitalen instinktes, des lebens, angesehen werden. der moderne Mensch verleumdet das Leben, wenn er es unter einen Primat der Vernunft und der moral stellt. in ausdrücklicher gegentendenz zu diesem als bedenklich eingeschätzten Zustand hat Nietzsche sein eigenes Projekt einer „Umwerthung der Werthe“ betrieben (ksa, eh, , ). moral deutet er als „einen Willen zum Nichts, einen widerwillen gegen das leben“, der allerdings auch in seiner gefesselten gestalt wille ist 

    

indem real seiendes mittelbar auf dieses bezogen wird, leistet der mythos zugleich eine distanzierung der Parusie des Heiligen (Manfred Frank, Dionysos und die Renaissance des kultischen Dramas, 18). Nietzsches Gemeinschaftsvorstellung, für deren Möglichkeit der ‚nicht-religiöse Gott‘ dionysos einsteht, orientiert sich am ideal von rausch- und wahnzuständen des dionysischen chors in der tragödie (ebd., ). eine tradition utopischer bezugnahme auf dionysos reicht von friedrich hölderlin und friedrich wilhelm Joseph schelling bis zu Jacob burckhardt und rainer maria rilke (ebd., 13f.): Dionysos gilt als der ‚kommende Gott“‘, der die Substanz des Heiligen unter den Bedingungen der aufklärung zu retten geschickt ist. birgit recki, Das ästhetische Ethos des Schaffenden, . heinz dieter kittsteiner, Geschichtsschreibung im Dienst des Lebens, . heinz dieter kittsteiner, Geschichtsschreibung im Dienst des Lebens, ff. manfred frank, Dionysos und die Renaissance des kultischen Dramas, . des hohen anspruchs ist nietzsches sich bewusst: „ich bin der erste immoralist“ (ksa, eh, , ). Nur ‚immoralisch‘, jenseits traditioneller Moralvorstellungen, ist es möglich, moralisch, das heißt dem menschen angemessen zu leben. abendländisch-christliche moral denunziert nietzsche polemisch als „klugheit, klugheit, klugheit, gemischt mit dummheit, dummheit, dummheit“ (ksa, JGB, 5, 118). Zur ‚großen‘ Moralkritik, die von einem reduktionistischen Verständnis ausgehend eine bloße ‚Zeichensprache der Affekte‘ mit der Frage nach einer dem Menschen angemessenen lebensweise konfrontiert: ksa, Jgb, , 0).



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und bleibt (ksa, gm, , ). indem in der gesellschaftlichen etablierung der moral ein bloß zeitgenössischer kodex zu einem vermeintlich apriorischen kanon von werten verabsolutiert wurde, hat die moral die entfaltung einer an sich möglichen „höchste[n] Mächtigkeit und Pracht des typus mensch“ verhindert (ebd., , ). wenn, wie in nietzsches historisch und philologisch geschulter erkenntnisweise, alles bestehende nur als gewordenes angesehen wird, löst sich auch ein vermeintlicher apriorismus von werten historisch auf: mit den letzten werten als begründungsinstanz für die bis dahin als möglich erachtete objektive auffassung der wirklichkeit ist ein sinn des daseins selbst fraglich geworden. da den wahrheiten der vernunfterkenntnis nichts objektives entspricht, dieses nichts aber objektiviert und den wahrheiten ein wirklichkeitscharakter unterstellt wird, betreibt der wissenschaftliche ‚Wille zur Wahrheit‘ schon von jeher eine verhinderung des lebens im namen des nihilismus. die erkenntnis vom ‚Tod Gottes‘ resultiert dann nur daraus, dass sich der nihilistische Wille zur Wahrheit in letzter redlicher konsequenz gegen sich selbst richtet und sich schließlich „die Lüge im Glauben an Gott verbietet“ (ksa, gm, , 0). nietzsche begreift demgemäß die krise der moderne als epistemologische chance. in diesem spezifischen Zusammenhang spricht er größte Bedeutung der Wiederbesinnung auf den mythos zu, auf dessen vernichtung der „sokratismus“ gerichtet war (ksa, gt, , 146). Der Optimismus des sokratischen Prinzips trägt für Nietzsche „neurotische Züge“: „ auch an den wurzeln der wissenschaftlichen welthaltung […] gibt es zuerst und zunächst ein wollen, das sich systematisch missversteht, wenn es sich für ein herr-geworden-sein über das wollen missversteht. anders gesagt: die wissenschaft und ihr weltverhältnis artikulieren selbst einen instinkt, der, für sich betrachtet, keineswegs rational ist.“ das wirkliche Ziel der Wissenschaft ist nicht Wahrheit, sondern Bemächtigung: Erhaltung und steigerung von macht.

. macht und bemächtigung: nietzsche und die nietzsche-rezeption aus dieser diagnose lässt sich aber keineswegs automatisch die general-apologie eines ‚Willens zur Macht‘ durch Nietzsche herleiten, nach deren Muster der von ihm verwendete Terminus der ‚blonden Bestie‘ zur Legitimierung der realen Gräueltaten selbsternannter ‚blonder Bestien‘ zwischen 1933 und 1945 einzustehen hätte.0 auf eine umfangreiche herleitung des in höchstem grad zu missverständnissen einladenden Prinzips des ‚Willens zur Macht‘ muss hier verzichtet werden. Die spezifische Problematik, die eine Differenzierung zwischen dem Schlagwort ‚Wille zur Macht‘ und Nietzsches eigenem Rekurs auf die Phänomene ‚Wille‘ und ‚Macht‘ erschwert, hat indes schon Walter Benjamin als besondere Problemlage jeder Beschäftigung mit Nietzsche  0



manfred frank, Dionysos und die Renaissance des kultischen Dramas, . (KSA, GM, 5, 274ff.). Zu der dem Terminus zugrundeliegenden, problematischen politischen Verwendung des Begriffs ‚Rasse‘ bei Nietzsche: Bernhard H. F. Taureck, Nietzsche und der Faschis­ mus. Ein Politikum, leipzig 000, 0ff., f. Eine anthropologische Herleitung der Phänomene ‚Wille‘ und ‚Macht‘, die von einer Physiologie der Affekte auf eine Phänomenologie des Willens führt, bieten Nietzsches Ausführungen zum „Affekt des commando’s“ (ksa, Jgb, , ff.).

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herausgestellt. in einem beitrag, der  unter dem programmatischen titel Nietzsche und das Archiv seiner Schwester in der Literarischen Welt erschienen ist, treibt er die notwendigkeit zu einer unterscheidung zwischen nietzsches denken und der ‚weltanschauung‘ des Weimarer Archivs mit dem bonmot von der „stadtbekannte[n] schwester des weltberühmten bruders“ ironisch auf die spitze. von nietzsche selbst ist keine autorisierte fassung des Willen zur Macht im Zusammenhang überliefert; schon gar nicht existiert ein ‚Hauptwerk‘ Nietzsches gleichen Titels. steven e. aschheim und manfred riedel haben bereits dargelegt, dass die unbedingt notwendige Differenzierung zwischen Nietzsche und der Philosophie des Nietzsche­Ar­ chivs jede Beschäftigung mit Nietzsche in einem Ausmaß vor Probleme stellt, die über allgemeine schwierigkeiten einer jeden rezeptionsgeschichte weit hinausgehen. vor diesem hintergrund ist ein ausdrücklich historischer umgang mit nietzsche gefordert, so dass historiker für eine beschäftigung mit ihm prädestiniert scheinen. ausgerechnet historiker aber schrecken auffällig vor nietzsche zurück. Zu vermuten ist, dass immer noch eine vage Angst vor ‚Bertrams Nietzsche‘ regiert. In Hinsicht auf die für historiker besonders relevanten geschichtstheoretischen und geschichtsphilosophischen gehalte bei nietzsche hat nämlich schon vor der inanspruchnahme nietzsches für die nationalsozialistische ‚Weltanschauung‘ die Nietzsche-Rezeption Ernst Bertrams entscheidende weichenstellungen vorgenommen. dessen  erstmals erschienene nietzsche-biographie bedient sich auf eine unheimlich wirkungsvolle weise der doppelstrategie einer verweigerung gegenüber den epistemologisch herausfordernden anteilen in nietzsches Denken bei seiner gleichzeitigen Instrumentalisierung für eigene aktuelle Zwecke. seine erklärte absicht, durch seine darstellung die „dichteste gestaltwerdung der seele einmal ohne erdenrest“ zu erzeugen, verfolgt bertram, von dem nicht umsonst die berühmteste darstellung der beiden gegenmittel zum historischen bei nietzsche stammt, indem er alles auf die Kraft des ‚Un-‘ und ‚Überhistorischen‘ setzt: „Wir vergegenwärtigen uns ein 

 







walter benjamin, Nietzsche und das Archiv seiner Schwester, in: Die Literarische Welt, Jg. , nr.  [..], f, in: ders., Gesammelte Schriften, unter mitwirkung von theodor w. adorno und gershom scholem hg. von rolf tiedemann, hermann schweppenhäuser, frankfurt am main ff., band iii, . mazzino montinari, Nietzsches Nachlaß von 15 bis 1 oder Textkritik und Wille zur Macht, in: ders., Nietzsche lesen, berlin, new york , ff. steven e. aschheim, Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults. stuttgart, weimar , ; manfred riedel, Nietzsche in Weimar. Ein deutsches Drama, leipzig 000, ff.; riedel verweist besonders auf die rolle alfred baeumlers bei der umdeutung nietzsches für nationalsozialistische Zwecke (ebd., 90ff.). so wird eine verständliche scheu vor nietzsche zur idiosynkrasie übersteigert, wenn schon eine offene bezugnahme auf nietzsche zum anlass dient, einen geschichtstheoretischen ansatz insgesamt als anstößig zu verwerfen, etwa die ‚moralische‘ Argumentation gegen Michel Foucaults Bezugnahme auf nietzsche bei hans-ulrich wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, münchen , . ernst bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 1918. Zur Wirkung von Bertrams Nietzsche-buch auf die antihistoristische neuausrichtung des populären geschichtsdenkens der zwanziger Jahre: otto gerhard oexle, Das Mittelalter als Waffe. Ernst H. Kantorowicz’ „Kaiser Friedrich der Zweite“ in den politischen Kontroversen der Weimarer Republik, in: ders., Geschichtswissen­ schaft im Zeichen des Historismus, ff. ernst bertram, Nietzsche, .



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vergangenes leben nicht, wir entgegenwärtigen es, indem wir es geschichtlich betrachten. Wir retten es nicht in unsre Zeit hinüber, wir machen es zeitlos.“ mit seiner un- bzw. überhistorischen stilisierung von nietzsches leben zu einer helden-vita oder heiligenlegende intendiert bertram nichts weniger als die überbietung der gesamten bisherigen forschungsergebnisse durch ein eigenes neues gesamtbild ohne jede mikrologischen rücksichten. Als einziges Mittel der Zusammenhangsstiftung dient ihm die ‚Legende‘; wie bei einem Schmuckstück, erlaubt sie die ‚Fassung‘ des überhistorisch schöpferischen Potentials eines Genie-Übermenschen in einer diesem zukommenden darstellungsstrategie. dass diese notwendig eine überwindung der wirklichkeit erfordert, stellt dabei keinen mangel, sondern einen vorzug dar, wendet sich bertrams ‚Nietzsche‘ doch ausdrücklich gegen den Historismus und dessen Primat quellengestützter erkenntnis vergangener realität.0 Nicht ‚wie es eigentlich gewesen ist‘ stellt das erkenntnisziel dar; geschichte ist „seelenwissenschaft“: „sie ist vielmehr gerade die entwirklichung dieser ehemaligen wirklichkeit, ihre überführung in eine ganz andere art des seins; ist eine wertsetzung, nicht eine wirklichkeitsherstellung.“ auf dieser ‚methodischen‘ Grundlage ließ sich Nietzsche problemlos in eine bereits feststehende ‚Weltanschauung‘ einfügen, indem ihm eine Vorbildfunktion für ein ‚geheimes Deutschland‘ im Gegensatz zu dessen angeblicher Verfälschung im beginnenden zwanzigsten Jahrhundert zugeschrieben wurde. bei nietzsche scheinen zunächst durchausanknüpfungspunkte für bertrams ‚deutschdeutung‘ gegeben zu sein, besitzt doch Nietzsches Verwendung des Mythos-Begriffs unüberhörbar deutschtümelnde obertöne. die konzeption des mythos bei ihm ist nicht ohne Substanzverlust vom ‚Deutschtum‘ zu trennen; einem ‚Deutschtum‘ freilich, das in einer krassen distanz zu zeitgenössisch etablierten auffassungen steht. diese distanz wird sichtbar an Nietzsches Beurteilung eines Phänomens, das sich spätestens seit 1871 in Engführung mit dem offiziellen Deutschtum befunden hat: dem Antisemitismus. Während dieser im institutionalisierten Wissenschaftsbetrieb geradezu florierte, etwa in dem kleindeutschen historiker heinrich von treitschke einen glühenden fürsprecher besaß,  

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ders., ebd., . rainer kolk, Nietzsche, George, Deutschland. Dokumente zu Ernst Bertrams frühen Publikationen, in: Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ‚Siebenten Ring‘, hg. von wolfgang braungart, ute oelmann, bernhard böschenstein, tübingen 00, . rainer kolk, Nietzsche, George, Deutschland, . ernst bertram, Nietzsche, . Obwohl er zum ‚George-Kreis‘ lediglich in einer über seinen Lebenspartner Ernst Glöckner vermittelten beziehung stand, präsentiert bertram in seiner studie „bis in die details hinein ein georgesches nietzsche-bild“ (heinz raschel, Das Nietzsche­Bild im George­Kreis. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Mythologeme, berlin , ; zur distanzierung bertrams von stefan George in den zwanziger Jahren: ebd., 166); zum Verhältnis Bertrams zu George: Gerhard Zöfel, Die Wirkung des Dichters. Mythologie und Hermeneutik in der Literaturwissenschaft um Stefan George, frankfurt am main , ff. Manfred Frank diagnostiziert einen Zwiespalt von universalistischer und partikular-nationalistischer option, an dem das ineinander von utopie und gegenaufklärung bei nietzsche „grell faßbar“ wird (manfred frank, dionysos und die renaissance des kultischen dramas, 0). treitschke, dessen antisemitismus im unrühmlichen satz „die Juden sind unser unglück“ eindrucksvolle ausprägung gefunden hat, kommt das zweifelhafte verdienst zu, antisemitismus ‚sa-

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ist nietzsche dem antisemitismus nie anders als mit scharfer ablehnung, ja verachtung begegnet. Seiner Zurückweisung des Antisemitismus steht indes sein eigener Anti-Judaismus entgegen, der sich vor dem hintergrund seiner moralkritik freilich allein an der erfolgreichen durchsetzung des universalisierungsanspruchs der moral im medium der jüdischen religion entzündet. die ablehnung gilt ausschließlich dem religiös begründeten moralverständnis, dessen entwicklung im historischen Judentum seinen ausgangspunkt genommen habe, und das im gegenwärtigen christentum fortlebt (ksa, ac, , 193ff.). Zugleich findet sich bei ihm immer wieder der Ausdruck offener Bewunderung für das Judentum, das unter widrigsten Umständen ‚zäh‘ die Jahrtausende überdauert hat. nietzsche steht damit auf einer genauen gegenposition zu der im letzten drittel des neunzehnten Jahrhunderts verbreiteten Tendenz einer ‚rassisch‘ fundierten Ablehnung ‚der Juden‘ und der politischen Instrumentalisierung dumpfer Ängste vor einer ‚Überfremdung‘. Diese zeitgenössisch präsente Gestalt von Antisemitismus hat er als bloßes Ressentiment verachtet und als Zeichen von Schwäche begriffen. angesichts der beobachtung eines Zusammenhangs zwischen dem Überhandnehmen der „litterarische[n] Unart“ des Antisemitismus und einer Zunahme an nationaler Gebärde wirkt Nietzsches eigenes Beharren auf einer positiven Besetzung der Termini ‚deutsch‘ und ‚deutscher werden‘ irritierend (KSA, MA-1, 2, 310). Ein Erklärungsansatz hat weniger inhaltlich, als auf einer strukturellen ebene anzusetzen, so dass nicht dem, sowieso erklärungsresistenten, Inhalt selbst, sondern der Definitionsgewalt über den Inhalt des Terminus ‚deutsch‘ entscheidende bedeutung zuzusprechen ist. seit der gründung des deutschen reiches liegt jene in den händen der machthaber und der verbeamteten intellektuellen eliten und dient



 

lon-‘ bzw. ‚kathederfähig‘ gemacht zu haben (Massimo Ferrari Zumbini, Die Wurzeln des Bösen. Gründerjahre des Antisemitismus: Von der Bismarckzeit zu Hitler, frankfurt am main 00, ff.). nietzsche zeigt bissigen spott über „diese armen historiker, diese sybel und treitzschke [sic]“, die „bald die antifranzösische dummheit, bald die antijüdische, bald die antipolnische, […] bald die preussische“ heimsucht (ksa, Jgb, , ). Zu den verschlungenen Linien der Gedankenführung bei Nietzsche: Bernhard H. F. Taureck, Nietz­ sche und der Faschismus, 35ff. Zum zentralen Gedanken von Nietzsches Anti-Judaismus KSA, Jgb, , f: ausgehend von dessen religion, wird dem „priesterlichen jüdischen volk“ die bedeutung zugesprochen, dass mit ihm der „sklavenaufstand in der moral“ seinen anfang genommen hat. die eingeleitete umkehrung der „aristokratischen werthgleichung“ von gut = vornehm = mächtig in gut = elend = ohnmächtig habe eine „vergiftung“ der menschheit in gang gesetzt: „alles verjüdelt oder verchristlicht oder verpöbelt sich zusehends (was liegt an worten!)“ (ksa, gm, , 0; ksa, gm, , , 0). wie der keinesfalls ironische aphorismus  Was Europa den Juden verdankt? (ksa, Jgb, , ; ksa, m, , 0ff.; ksa, ma-, , 0ff.). belege aus briefen und nachlassfragmenten bei bernhard h. f. taureck, Nietzsche und der Faschis­ mus, . im aphorismus  in Jenseits von Gut und Böse wird nicht nur der antisemitismus als „dummheit“ gekennzeichnet und anti-französischen und anti-polnischen stimmungen gleichgestellt sowie die Überzeugung wiederholt, die Juden seien „ohne jeden Zweifel die stärkste, zäheste und reinste rasse, die jetzt in europa lebt“ (ksa, Jgb, , ff.); nietzsche stellt auch den zeitgenössischen antisemitischen Tendenzen, die in der Antisemiten-Petition seines Schwagers Bernhard Förster mit der Forderung nach Zuzugsbeschränkungen und Ausweisungen von Juden aus Deutschland zum ausdruck kommen, mit höhnischer ironie die frage entgegen, ob es nicht viel angemessener wäre, die „antisemitischen schreihälse“ des landes zu verweisen ( ebd., ).



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als legitimations-beschaffungsmittel für die herrschenden. den zu einem instrument der wissenschaft, und damit, lebensfeindlich, zu einer beförderung von erstarrung und Nihilismus verformten Terminus ‚deutsch‘ bemüht sich Nietzsche durch seine Fassung als mythos aus den händen der wissenschaft zu entringen und wieder für das leben zu aktualisieren. Die Heftigkeit von Nietzsches deutschtümelnder Polemik gegen den Historismus ist erst in ihrer konkreten historischen entstehungssituation insoweit verständlich, als sie nicht bloß wissenschaft oder weltanschauung betrifft, sondern sich gegen den verlauf der geschichte selbst richtet: der geschichtswissenschaft wird die schuld an einer verhinderung der Entfaltung des ‚deutschen Wesens‘ zum Mythos zugesprochen, denn eine mit der ‚deutschen‘ Reformation eingeleitete „Wiedergeburt des deutschen Mythus“ wurde durch die etablierung des auf die vernichtung des mythos sich gründenden wissenschaftlich-historischen denkens der „Jetztzeit“ abgebrochen (ksa, gt, , ff.). Nietzsches ‚Deutschtümelei‘ funktioniert in ihrem konstitutiven Zusammenhang zum Mythos als Wissenschaftskritik und entfaltet ihre Wirksamkeit erst im Zusammenhang mit seiner ablehnung der sinngestützten historischen objektivitäts-vorstellung. wenn nietzsche etwa georg wilhelm friedrich hegel für dessen bändigung und streckung der Historie ironisch den Titel des „deutsche[n] ‚Genius der Historie‘“ verleiht oder Leopold von Ranke allein für seine Anerkennung des Prinzips der „causa fortior“ ironischüberschwänglich lob zollt, weist er auf die tatsächliche bemächtigung der geschichte durch die institutionalisierte geschichtswissenschaft hin, die er zugleich entschieden zurückweist, weil sie den Machtanwendungsvorgang mit einer zähen Sinn-Oberfläche zukleistert. Die deutsche Geschichtswissenschaft benennt schließlich mit der ‚Sinn-‘ oder ‚Geisthaftigkeit‘ der Geschichte einen reinen Anthropomorphismus als Objektivität und kann diese Vorstellung erfolgreich behaupten. Zur Frage der logischen Qualität einer wahrheit tritt die soziologische frage der verfügung über ein gesellschaftliches machtpotential zu ihrer durchsetzung hinzu; die macht des redners erst macht das gesagte zur wahrheit. auch bertrams deutungsansatz ist nur eine rezeption von vielen, aber die, die sich zeitgenössisch durchgesetzt hat. seine sichtweise spricht nicht gegen nietzsche: sie zeugt vielmehr vom historischen Zustand, in dem Gesellschaft und Wissenschaft sich in der umbruchszeit seit  befunden haben. entgegen benjamins appell für differenzierungen ist in den zwanziger Jahren die instrumentalisierende rezeption bertrams und die des Nietzsche­Archivs an die stelle der gedanken nietzsches getreten, die mit ihren programmatischen Uneindeutigkeiten Verunsicherung bewirken. Im Zuge einer proklamierten neuen Eindeutigkeit musste Nietzsche als Kronzeuge herhalten für eine ‚andere‘ wahrheit anstatt als kritiker des abendländischen wahrheitsbegriffs gelesen zu werden.



Zu Hegel: KSA, NF, 7, 647, zu Ranke: KSA, GM, 5, 387.

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3. Epistemologie, nicht Ontologie: Zur ‚Lehre von der ewigen Wiederkunft‘ der besetzung der geschichte durch die gesellschaftliche deutungsmacht institutionalisierter geschichtswissenschaft tritt nietzsche mit dem ansatz zu einem geschichtsverständnis entgegen, das die grenzen der methodischen bemerkungen in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung ebenso übersteigt, wie es sich in keiner weise auf die vermeintliche Apologie eines rücksichtslosen ‚Willens zur Macht‘ blonder Bestien reduzieren lässt. nietzsche hat nicht nur die zeitgenössische geschichtswissenschaft einer immanenten kritik unterzogen, sondern in scharfer abgrenzung gegen diese einem eigenen geschichtsverständnis ausdruck verliehen, das die grundlagen der wissenschaftlichen geschichtsauffassung rigoros zurückweist und mit dem identischen subjekt ihr fundament auflöst. Dem modernen vernunftgeleiteten und triebkontrollierten Ideal der bürgerlichen Persönlichkeit kommt in Nietzsches genealogischer Perspektive eine Modellfunktion für die Betrachtung der Geschichte nach Maßgabe des Sinns zu; die Sinn-Oberfläche stellt aber nichts als eine dünne kruste dar, unter der bodenlose abgründe lauern. das Muster ‚historischer‘ Verdrängung des gewalttätigen Machtstrebens aus der Gegenwart durch seine Einfügung in entfernte Punkte eines Sinn-Kontinuums funktioniert lediglich nach dem Muster einer ‚epistemologischen‘ Verdrängung, der Verbannung unliebsamer momente aus dem bewusstsein, die ihnen zugleich ein exil im unterbewusstsein anweist. ausdrücklich entgegen seiner wissenschaftlichkeit, muss das historische denken erst ‚werden, was es ist‘, indem es die Erkenntnis umsetzt, dass in der geschichtlichen Welt nichts anderes geschieht als ‚Überwältigen‘ und ‚Herrwerden‘, das aber zugleich, durch die ihm gegebene Definitionsgewalt über die Kriterien für Sinn- und Zweckwahrnehmungen, selbst den epistemologischen rahmen seiner interpretation als wahrheit festlegt (ksa, gm, , ff.). das ist der gehalt dessen, was nietzsche als ‚rückwirkende Kraft‘ bezeichnet, die das geheimnisvolle Dunkel der Vergangenheit grell wie eine sonne zu erhellen vermag und alle geschichte erneuter beurteilung aussetzt: „es ist gar nicht abzusehen, was alles einmal noch geschichte sein wird. die vergangenheit ist vielleicht immer noch wesentlich unentdeckt! es bedarf noch so vieler rückwirkender kräfte!“ (ksa, fw, , 0). nietzsches umwertung der historischen erkenntnis von der wissenschaft zur ‚rückwirkenden Kraft‘ stellt Wahrheit selbst als Funktion bloß. Eine Wahrheit ist an sich historisch so bedeutungsvoll oder bedeutungslos wie jede andere, denn ‚Wahrheit‘ ist ein bloßes ‚Nichts‘ im Dienste des gleichsam trans- beziehungsweise subhistorischen ‚Willens zur Macht‘, den die Fiktion eines zweckhaften und sinnvollen Prozesses der Geschichte als eine nihilistische Illusion verdeckt: „[A]lle Zwecke, alle Nützlichkeiten sind nur anzeichen davon, dass ein wille zur macht über etwas weniger mächtiges herr geworden ist und ihm von sich aus den sinn einer funktion aufgeprägt hat“ (ksa, gm, 

nietzsche lässt in der Fröhlichen Wissenschaft keinen Zweifel, dass für ihn nichts unmoralischer ist als moral und wissenschaft, ist doch der mensch jetzt „böser“, weil er wissenschaft nötig hat (ksa, fw, , 0).

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, ). die historische methode muss dementsprechend zur „theorie eines in allem geschehn sich abspielenden macht-willens“ werden (ebd., ). gerade der vom historischen sinn offengelegte wert-relativismus wird so von nietzsche begrüßt, eröffnet er doch die chance, dem nihilismus und der dekadenz der zeitgenössischen ‚Philister-Kultur‘ zu entkommen in der Einsicht, dass, als gewaltsame Überwindung einer bestehenden kultur, noch am anfang jeder neuen kultur barbarentum gestanden hat (ksa, Jgb, , 0f.; ksa, nf, , ). die vordringlichste aufgabe im dienste eines solchen neuanfangs aber liegt darin, „jener schauerlichen herrschaft des Unsinns und Zufalls, die bisher ‚Geschichte‘ hiess, ein Ende zu machen“ (ebd., 126). die moderne prinzipielle vielsinnigkeit der geschichte muss mit nietzsche als beleg für ihren an sich unsinnigen charakter gelesen werden, angesichts dessen nicht nur jede einzelne Sinnstiftung eine parteiische Zuweisung ex post darstellt, sondern die konstruktion ‚der‘ Geschichte selbst als sprachliche „Leimrute“ für das menschliche Sinnimplikations-bedürfnis überhaupt anzusehen ist.0 wenn reinhart koselleck, von dem das treffende Bild der ‚Leimrute‘ stammt, allerdings feststellt, die von Nietzsche mittels einer austreibung von sinn-implikationen aus dem doppeldeutigen geschichtsbegriff entfernte Paradoxie sei ihm in den Lebensbegriff gewandert, schließlich müsse auch dieser sich Sinn- und Zweckfragen stellen (lassen), hat er selbst die Sinnstiftungsebene nicht verlassen und gerade die Pointe Nietzsches nicht nachvollzogen: Leben soll gar keinen Sinn machen (müssen). Der Primat des Lebens impliziert vielmehr eine Befreiung von menschlichem bewusstsein und sinn-kategorien und führt in ein Jenseits der hermeneutik. die moderne, auf sinnkontinuität und teleologie gestützte geschichtskonzeption muss durch ein anderes modell ersetzt werden, dass den epistemologischen bedingungen des mythos gerecht wird. nietzsche verkündet ein solches alternativkonzept in der ‚lehre von der ewigen Wiederkunft‘, die er in Also sprach Zarathustra entwickelt hat: erst im ‚amor fati‘ des Menschen, der seine Werte aus sich selbst heraus zu schaffen vermag, was keinesfalls zu Beliebigkeit und Willkür führt, sondern zur einsamen Verpflichtung, dem ‚Wozu‘ der Freiheit ein eigenes Gesetz geben zu müssen (KSA, Za, 4, 80ff.), ist die überwindung des nihilismus gelungen, sind doch mensch und leben an die stelle von Gott und Moral getreten und ‚wahre‘ Welt und Seiendes aufgegangen im Werden als ewig wiederkehrendem ausdruck desselben willens zur macht. 0



reinhart koselleck, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, in: Historische Sinnbildung, Problemstel­ lungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, hg. von klaus e. müller, Jörn rüsen, reinbek bei hamburg , f. karl löwith hat die volte, die das in seiner abendländisch-modernen gestalt an die vorstellung seiner eigenen unendlichen Progressivität verwiesene Denken zur ‚Lehre von der ewigen Wiederkunft‘ führt, in Nietzsches Schriften nachgezeichnet (Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, hamburg ): von kanonisierten moralwerten überhaupt frei zu werden, ist allein noch nicht ausreichend für die überwindung des nihilismus, sondern beschreibt nur einen ersten Schritt, in Nietzsches Bildersprache aus Zarathustras Rede Von den drei Verwandlungen den vom ‚Du sollst‘ des Kamels zum ‚Ich will‘ des Löwen, der zum Herrn in einer eigenen Wüste geworden ist, außerhalb derer aber noch alle ‚alten‘ Werte bestehen (KSA, Za, 4, 29ff.). Zwar kann er nun frei unter ihnen wählen; seine freiheit ist indes nur die zum nichts des nihilismus. radikaler nihilismus verlangt noch einen zweiten Schritt: den zum ‚Ich bin‘ des Kindes, das die Unschuld des Werdens vollkommen bejaht.

Interpretation, Macht, Geschichte



Schon die Charakterisierung als eine ‚Lehre‘ bringt zum Ausdruck, dass es sich bei der ‚ewigen Wiederkunft‘ um eine Denkweise handelt, eine Anweisung zur Erfassung von Wirklichkeitsphänomenen und nicht selbst um ein Phänomen der Wirklichkeit. ‚Ewige Wiederkunft‘ heißt nicht, dass immer wieder dasselbe stattfindet, sondern dass immer wieder dieselbe weise der kognitiven verarbeitung von geschehen zur anwendung kommt. Der Gedanke der ‚ewigen Wiederkunft‘ setzt ein kritisches Geschichtsverständnis voraus, das erfassbares und wiedergebbares geschehen von der erlebnis-ebene schon auf die ebene historischer erfahrung transportiert hat, so dass nicht tatsachen betroffen werden, sondern ‚historische Tatsachen‘. in bezug auf die möglichkeiten der kombinatorik des denkens, das geschichte erfasst, ist aufgrund der notwendigen endlichkeit des denkens gegenüber der unendlichkeit der wirklichkeit von wiederkehr und Wiederholung auszugehen. So muss die Zyklizität der Interpretation keinen Widerspruch zu einer Linearität der Zeit selbst bilden. für nietzsche präsentiert sich geschichte, so sie durch den filter der ‚lehre von der ewigen Wiederkunft‘ gesehen wird, als „fortgesetzte Zeichenkette von immer neuen Interpretationen und Zurechtmachungen“ (KSA, GM, 5, 314). Statt einer Entwicklung als sinnvoll zu identifizierender objektiver Zusammenhänge, ist die Umgangsweise mit Objekten als ‚Überwältigen‘ die einzige Zusammenhang stiftende Voraussetzung in der geschichte. nietzsche bleibt allerdings nicht beim subjekt als akteur stehen: die bedeutungszuweisungen werden den Dingen von einer ‚Macht‘ überwältigend angetan. So schiebt sich durch die Subjekte hindurch der ‚Wille zur Macht‘ als epistemologische Gewalttat zurechtmachend und gestaltend in den Zusammenhang des Geschehens ein. In der so effizienten wie rücksichtslosen Verwertung der Subjekte durch die Macht bzw. den Macht-Willen zum Zwecke der eigenen Steigerung ist der einzige Gradmesser für historischen fortschritt zu sehen: das ist der „haupt-gesichtspunkt der historischen methodik“ nietzsches, den er ausdrücklich gegen die zeitgeistig herrschenden ansichten von der historischen methode herausstellt (ebd., ). geschichte ist dann bei nietzsche kein Prozess, sondern eine Serie von diachronen Augenblicken, die durch synchrone, vom immergleichen ‚Willen zur Macht‘ initiierte Handlungs-Intentionen verbunden sind, so dass teleologie und kausalität entkräftet werden und geschichte in diskontinuierliche bilder zerfallen ist. So findet keine Entwicklung im Sinne eines teleologischen oder kausalen „progressus“ statt, sondern zahlreiche voneinander unabhängige überwältigungsprozesse (ebd., f.). es gibt für nietzsche kein menschheits-kontinuum einer geschichte, das der „verwöhnte müßiggänger im garten des wissens“ lustwandelnd be

 



Zur Auffassung der ‚Lehre von der ewigen Wiederkunft‘ als Interpretationsweise, als Aussage über die epistemologische struktur des bewusstseins, nicht als aussage über die ontologische struktur historischer wirklichkeit: günter dux, Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwicklungslogik vom My­ thos zur Weltzeit, frankfurt am main , f. günter abel, Die Dynamik der Willen zur Macht, f. Der ‚Zeitgeschmack‘ würde sich eher mit absoluter Zufälligkeit und mechanistischer Unsinnigkeit des geschehens vertragen als mit der theorie eines macht-willens in allem geschehen (ksa, gm, , ). hayden white, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, frankfurt am main , .



Andreas Greiert

trachten könnte (ksa, hl, , ). geschichte stellt keinen universalen geschehenszusammenhang dar, der sowohl vor dem bewusstsein wie auch als ordnungsfaktor im bewusstsein selbst wirksam ist, so dass alles geschehen als unterschiedslos schon an sich sinnvolles hermeneutisch erschlossen werden könnte. Die ‚zentrale Botschaft‘ der ‚Lehre von der ewigen Wiederkunft‘, die Einsicht, dass die Aneignung der Welt nicht das Produkt eines vermeintlich autonomen Subjektes ist, sondern mit diesem und durch es hindurch stattfindet, entspricht der Weltinterpretation des Mythos, nach der Mensch und götter als ursache von geschehen anzusehen sind und nicht der mensch allein. mit der Überzeugung von einer tatsächlichen Einflussnahme der Götter ist die schicksalhafte Verstrickung der menschen in ihre welt, die den modernen widerspruch zwischen absolutem anspruch (wahres, gutes, schönes) und nur relativer erkenntnis und erfahrung außer kraft setzt, in der antiken tragödie zum ausdruck gebracht worden, die das scheitern des menschen beschreibt, das unausweichlich notwendig wird, wofern der mensch sich anmaßt, mit seinen bewussten und vernünftigen absichten den verlauf des weltgeschehens angemessen beurteilen oder lenken zu können. die bedeutung der tragödie liegt aber nicht darin, ein idealbild für eine regression zu den mythischen ursprüngen bereitzustellen, sondern der gegenwart durch vergegenwärtigung der mythischen Vergangenheit einen neuen Horizont für eine Perspektive auf die Zukunft zu gewinnen, in der der Vergangenheit die Qualität eines Orakels zukommt (ebd., f.). ausgehend vom verlust des antiken mythos als in der moderne gegenwärtiger Tatsache (KSA, GT, 1, 146f.), bietet die ‚Lehre von der ewigen Wiederkunft‘ die möglichkeit zur uminterpretation der geschichte, in der die mythologische weltdeutung der tragödie, die menschliche schicksalsverstrickung, wieder aufgegriffen wird als unendliche folge von bemächtigungen, die mit dem subjekt geschehen. Das paradoxe Projekt einer Befreiung des menschlichen Blicks auf Leben und geschichtliche welt vom menschen hat im 0. Jahrhundert fortsetzung in der weitreichenden nietzsche-adaption michel foucaults gefunden. auch er erkennt zwischen dem menschen und seiner geschichte eine keineswegs an sich überhistorische objektive beziehung, sondern bloße anthropomorphismen, die in ihrer geschichtlichen gestalt als bloßer Ausdruck einer spezifisch historischen Konstellation epistemologischer Bedingungen geschichtlich wieder aufzulösen sind. seine deutung von nietzsches genealogischer historie ist mehr als eine interpretation. eigene überzeugungen von geschichte werden an jene angeknüpft. Statt ‚nach‘ etwas ‚Höherem‘, nach Wahrheit und Ursprung zu suchen, gräbt für Foucault die genealogische Historie Nietzsches ‚im‘ ‚Niederen‘ von Herkunft und Entstehung. für sie ist geschichte „ortloses theater“, auf dem endlos dasselbe stück von den 

michel foucault, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: der., Von der Subversion des Wissens, frankfurt am main ; heinz dieter kittsteiner, Die Krisis der Historiker­Zunft, in: Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit, Zum Grundlagenstreit in der Geschichtswissenschaft, hg. von reiner maria kiesow, dieter simon, frankfurt am main 000, ff. kittsteiners kritischem hinweis auf unterschiedliche gehalte des macht-begriffs bei nietzsche und bei foucault ist der hinweis auf eine je spezifische Historizität des Inhalts des Macht-Begriffs gegenüberzustellen, nach der aufgrund der abhängigkeit vom historisch gegebenen epistemologischen bedingungsensemble von kultur, gesellschaft und lebenszusammenhang des betrachtenden nietzsches und foucaults machtbegriff nicht deckungsgleich sein können.

Interpretation, Macht, Geschichte



beherrschenden und den beherrschten wiederholt wird. damit betreibt sie erst ‚wirkliche Historie‘: „Der historische Sinn […] führt alles wieder dem Werden zu, was man am menschlichen für unsterblich gehalten hatte.“ Gefühle, Instinkte, Körper – Historie ist, als „Wissenschaft der Arzneien“, eher der Medizin als der Philosophie nahe. grundbedingung, nicht aber Behinderung ihres Erkenntnisgewinns, ist ein entschiedener Perspektivismus, schließlich ist ein genealogisches suchen nur unter dem jeweils eigenen boden möglich. foucault setzt diese deutung fort, indem er zur bemächtigung der historie des . Jahrhunderts aufruft.0 Es gelte, nicht zum ‚Platon‘ für diesen ‚Sokrates‘ zu werden, sondern die Historie durch ihre Zerlegung in Bestandteile gegen sie selbst zu wenden, anstatt sie als geschichtsphilosophisch geschlossenes Ganzes zu fundieren. Ziel der Operation ist die befreiung der historie vom modell des individuellen gedächtnisses, das ein identisches erkenntnis-subjekt immer schon voraussetzt, so dass die möglichkeit zur Etablierung eines Gegen-Gedächtnisses eröffnet wird, das eine ‚ganz andere‘ Form der Zeit zu entfalten vermag. Drei Mittel sind dafür gegeben: Parodie statt Erinnerung zersetzt Wirklichkeit, Auflösung statt Kontinuität zersetzt Identität, Opfer statt Erkenntnis zersetzt wahrheit. resultat ist ein verschwinden des erkenntnissubjekts, der modernen Episteme ‚Selbst‘: Indes ist erst jetzt jede Schranke vor dem Erkennen gefallen.

fazit: nietzsche für historiker? Eine Problematik bei Foucaults Ansatz lässt sich am besten in einer abgegriffenen klischeehaften Formulierung wiedergeben: Er schießt über das Ziel hinaus. Gleich- und ausgeschaltet durch die diskurskräfte, verharren erkennender und erkannter wie leerstellen in absoluter homogenität. seine gleichermaßen entschiedene ablehnung des reformismus wie des Humanismus führt Foucault zu einem existenzialistischen Positivismus; als treibende kräfte bleiben einzig die triebe übrig: lust, schmerz, macht und ohnmacht, und das ist für ihn (auch gut) so. Warum aber dann noch Geschichte, wenn die Position eines möglichen und gelingenden übergangs von nietzsches diagnose zur kritik schon überschritten wird mit der restlosen Preisgabe des Rezipienten? stattdessen gilt es, einen schritt zurückzutreten; auf den standpunkt, von dem aus die Inszenierung der Geschichte als so statisches wie ‚ortloses‘ Theater mit dem immergleichen Stück ‚Herrschaft‘ ihren Skandalgehalt entfaltet. In der kritischen Hinsicht auf historisch-spezifische Verhältnisse und Bedingungen, unter und in denen Menschen auch nach Preisgabe der Episteme ‚Subjekt‘ fortzuexistieren gezwungen sind, spricht gerade ‚Bertrams Nietzsche‘, der deutsche Historiker nachvollziehbar verschreckt, als historisch-spezifische Form von Wahrnehmung und von Ideologie, von politischer und sozialer bemächtigung, für nietzsche. mit nietzsche ist entgegen einer verabschiedung    0 

michel foucault, Nietzsche, . ders., ebd., . ders., ebd., . ders., ebd., ff. Gespräch zwischen Michel Foucault und Studenten. Jenseits von Gut und Böse, in: ders., Von der Subversion des Wissens, 00.



Andreas Greiert

von Historizität, wie sie Foucaults existenzialistischer Positivismus impliziert, gerade auf einem radikal historischen Zugang zur Welt der Geschichte als bedingter Notwendigkeit zu beharren: „Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen; manche sogar nehmen unversehens die allerjüngste gestaltung des menschen, wie eine solche unter dem eindruck bestimmter religionen, ja bestimmter politischer ereignisse entstanden ist, als die feste form, von der man ausgehen müsse. sie wollen nicht lernen, dass der mensch geworden ist; während einige von ihnen sogar die ganze welt aus diesem erkenntnisvermögen sich herausspinnen lassen“ (ksa, ma-, , ). wenn diese einsicht nietzsches und mit ihr geschichte ernst genommen werden, dann ist dem ‚ortlosen Theater‘ der Geschichte mit dem einzigen immergleichen Stück ‚Herrschaft von Menschen über Menschen‘ wohl nur mit einer Einsicht angemessen gegenüberzutreten, die walter benjamin in der achten seiner thesen Über den Begriff der Geschichte 0 so charakterisiert hat: „das staunen darüber, dass die dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert ‚noch‘ möglich sind, ist kein philosophisches. es steht nicht am anfang einer erkenntnis, es sei denn der, dass die vorstellung von geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist.“ ist aber das staunen, wie benjamins einschätzung festhält, nicht philosophisches, sondern historisches, dann ist in ihm zugleich anweisung auf die möglichkeit von veränderung enthalten und zur notwendigkeit des anderswerdens gegeben. die herrschaft von menschen über menschen ist dann nicht wie bei Foucault als Tatsache positivistisch hinzunehmen: ‚Ach, so ist der Mensch!‘. Sie wird vielmehr als gegenstand von kritik fassbar: ‚so gehen bisher noch stets die menschen miteinander um? Geschichte muss anders werden!‘.



walter benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Gesammelte Schriften, band i/, .

miriam ommeln

erkenntnistheorie im virtuellen navigation am widerspruch nach dem gedanken von nietzsches ‚gegensatz-charakter des daseins‘

i. kritische vorbemerkungen Die Erfindung und Realisierung der Virtuellen Realität bringt eine erstaunliche Erkenntnistheorie mit sich, mit der sich die naturwissenschaften neuerdings konfrontiert sehen. An Friedrich Nietzsches Gedanken lässt sich diese komplizierte Theorie, die sich noch im Anfangsstadium befindet, begreiflich darlegen, zumal Nietzsche sie beinahe vorweg gedacht zu haben scheint. Die Virtuelle Realität ist unbestreitbar ein Medium; dennoch ist es angebracht den Begriff des Mediums einleitend zu hinterfragen. Die Untersuchung über eine erkenntnistheorie im virtuellen zu führen, mutet wahrscheinlich paradox an und scheint als eine immaterielle, irreale, ‚doxale‘ verdoppelung der bekannten erkenntnistheorien des realen Seins überflüssig zu sein, und bedarf ebenso zuvor klärender Worte.

ii. einleitung a.) Das Medium und die Maschinen-Kunst Betrachtet von meiner Provenienz der Physik ist nachstehender Mediengebrauch schlechthin unverständlich: „ein Stuhl, ein Spiegel (McLuhan), eine Schulklasse, ein Fußball, ein Wartezimmer (Flusser), das Wahlsystem, der Generalstreik, die Straße (Baudrillard), ein Pferd, das Dromedar, der Elefant (Virilio), Grammophon, Film, Typewriter (Kittler), Geld, Macht und Einfluss (Parsons), Kunst, Glaube und Liebe(Luhmann).“ dieses sammelsurium vermittelt den Eindruck, niemand wisse so recht, was ein Medium sei. Selbst eine feingliedrige und disziplinäre Unterscheidung der schwierigen Begrifflichkeit ‚Medium‘ zwischen handlungs-, wahrnehmungs- und darstellungsmedien in differierenden Kontexten kultureller, technischer und natürlicher Medien führt nicht wirklich zu einem 

Alexander Roesler, Medienphilosophie und Zeichentheorie, in: Stefan Münkler, Alexander Roesler, Mike Sandbothe (Hg.), Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt am Main 00, .



Miriam Ommeln

erhellenden Verständnis, sondern eher zu einem Universalbegriff, ähnlich dem umgangsprachlichen begriff ‚ding‘, unter dem alles und nichts subsumiert werden kann. Die junge Verbindung der traditionellen Medien zur Kommunikationstechnik entlehnt dieser den modernen begriff der ‚information‘, so dass überdies geisteswissenschaftliche Versuche einer definitorischen Verknüpfung und Verklammerung des Medienbegriffs mit dem naturwissenschaftlichen Informationsbegriff existieren und das Verständnis verkomplizieren. Dabei ist zu beachten, dass in der Informatik keine allgemeingültige Definition des Begriffs ‚Information‘ existiert. Man kann mit einem Computer rechnen ohne den Begriff der information zu benötigen. er stellt keine elementare notwendigkeit in der informatik dar, wie beispielsweise die Elementarteilchen in der Physik. Das heißt, dass der Begriff ‚Information‘ ebenso schwammig ist wie der des modernen Medienbegriffs. Die Klärung einer möglichen oder (un-)nötigen Umwandlung dieser reinen Arbeitsdefinitionen in eine vereinheitlichte Theorie der Information und/ oder der Medien bleibt als Aufgabe der Zukunft bestehen. Der Computer selbst hat den Status einer Maschine inter pares inne. Er ist eine Maschine wie jede andere auch, nicht mehr und nicht weniger. Selbst Multimedia-Systeme, die manchmal leichfertig in die Nähe der Technologie der Virtuellen Realität gerückt werden und sich ebenfalls lediglich aus Maschinen zusammensetzen, entbehren gleichfalls einer eindeutigen definitorischen Bestimmung. Die Beschäftigung mit ‚Maschinen an sich‘, mit dem Maschinenbau als einem selbstständigen Forschungs- und Reflexionsgegenstand setzte historisch relativ spät ein, obwohl Maschinen bereits in der Antike die Menschheit kulturell begleiteten. Erst zu Nietzsches Lebenszeit war die Zeit für solche Reflexionen und Dringlichkeiten reif. Der Ingenieur Franz Reuleaux (1829–1905), verheiratet mit Wilhelmine Friedericke charlotte overbeck, unternahm in seinem standardwerk Der Construktuer erfolgreich die fundierung des Maschinebaus auf mathematischen und naturwissenschaftlichen Grundsätzen, die die bisherigen empirischen Laborbedingungen ablösen halfen. Er zählt zu den Mitbegründern heutiger Technikphilosophie und ihren Problem- und Themenkreisen, die im Informations- und kommunikationszeitalter, bzw. im systemtechnologischen zeitalter immer drängender werden und ihre Wurzeln u. a. im ‚Maschinenbau-Zeitalter‘ Nietzsches haben. Aufgrund der Analyse von einzelnen kinematischen Elementen der Maschinen wie Ketten, Getriebe usw. entsteht eine Grundlehre der Bewegungsabläufe und ihrer Bedingungen. Eine wegweisende erste und bemerkenswerte Definition von dem, was eine Maschine ist, resultiert hieraus. der wichtige aspekt der ‚dynamik‘ einer Maschine, den es ebenso innerhalb der Medientheorie, und vor allem bei Nietzsches Philosophie, zu beachten gilt, wird hier  

Wilhelmine Overbeck (28. 10. 1829–26. 7. 1908) ist laut Overbeck­Archiv mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mit franz overbeck, dem freund nietzsches, verwandt. Philosophen haben sich seit der Antike mit Technik, Naturphilosophie und Naturwissenschaften beschäftigt; der heute geläufige Begriff ‚Technikphilosophie‘ taucht erstmals 1877 bei Ernst Kapp auf. Zuvor gab es ähnliche Begriffe in Buchtiteln, wie 1822 bei August Koelles. Nietzsches Zeit war geprägt von Maschinen, sie atmete in einer intellektuellen Aura, die die schönen Künste mit der Mechanik verbandelte, ganz in der Tradition der sogenannten ‚Kunstgeschichten‘, für die Johann Beckmann 1777 den Begriff ‚Technologie‘ einführte.

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angesprochen, als auch auf den von Reuleaux und seinen Zeitgenossen reflektierten Themenkreis einer wechselwirkenden Verbindung von ‚Technik und Kunst‘ verwiesen. Wie würden sich beispielsweise Regulierhandräder im Stil von etruskischen Vasen, Maschinenfundamente auf griechischen Säulen oder Maschinenhäuser als romanische Kirchen ornamentiert in Nietzsches ästhetische Philosophie einfügen, die fordert „die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn“ (KSA, GT, 1, 14)?4 die damalige Vorliebe, Maschinen in Kunststilen zu konstruieren, galt bald als überholt. Dennoch gilt: Medien sind generell nicht vom Aspekt der Ästhetik frei zu sprechen! Dieser Satz gilt für die unmittelbare direkte zwischenmenschliche kommunikation ebenso wie für die medial veränderte interpersonale Kommunikation. Besonders deutlich wird das in der Technologie der Virtuellen Realität, in simulierten Welten wie Second Life, pc-spielen oder in den Bild- und Tonmedien. Der heute gängige Topos, der ebenfalls zur Zeit Nietzsches in der Nachfolge von Ernst Kapp (1808–1896) entstand, der Technik als unbewusste Organprojektion versteht, der medientheoretische Ausgangspunkt von Marshall McLuhan, und weitergehend als Organisationsmittel für die Arbeit- und Leistungssteigerung als reines Instrument und Werkzeug deklariert, unterschätzt, mit Nietzsche gedacht, die ästhetischen Charakteristika von Technik. Nietzsches Denkansätze entspinnen sich von folgender Grundfrage aus: „Wie weit reicht die Kunst ins Innere der Welt? Und giebt es abseits vom ‚Künstler‘ noch künstlerische Gewalten? Dies Frage war, wie man weiß, mein Ausgangspunkt: Und ich sagte Ja zu der zweiten Frage“ (KSA, NF, 12, 121). Nietzsche wird fündig und erkennt ein künstlerisches Walten in den ‚Wissenschaften‘. Als Beispiel sei, um beim Thema Computer bzw. der Medien-Technologie der Virtuellen Realität zu bleiben, speziell die Logik angeführt. Nietzsche spricht von einem „Mißbrauch der Logik als einem Realitäts- Kriterium“ (KSA, NF, 13, 532) und davon, dass „Logik – ihr Wesen nicht entdeckt“ sei (KSA, NF, 12, 307). Der Anschein der Diskreditierung von Naturwissenschaften und Technik durch Nietzsche, bedeutet nicht, dass er sie missachtet, sondern dass er äußerst subtil beobachtet und differenziert. Er fordert auch auf diesem kulturellen Gebiet eine notwendige ‚Umwertung der Werte‘ und beklagt eine historisch bisher grundlegende und generelle „Fälschung der Erkenntnißtheorie“ (ebd., 12, 293).

b) Souveräne Unwissenheit Die Entwicklung von Technik und Wissenschaften bezieht ihren Impuls und stetige Weiter- und Neubegründung stets aus der Kunst: „Das Widernatürliche des unbedingten Willen zum Wissen, zur Wahr- und Weisheit offenbart sich in ihrer Kunstfeindlichkeit“ (ebd., 4 

friedrich dessauer, Philosophie der Technik, Bonn 1928, 177; Conrad Matschoss, Die Entwicklung der Dampfmaschine, Bd. II, Berlin 1908, 676ff. Oder die Mathematik als Paradebeispiel, der von Nietzsche scheinbar verpönten abstrakten Wissenschaften: „Mathematik. – Wir wollen die Feinheit und Strenge der Mathematik in alle Wissenschaften hineintreiben, so weit diess nur irgend möglich ist, nicht im glauben, dass wir auf diesem Wege die Dinge erkennen werden, sondern um damit unsere menschliche Relation zu den Dingen festzustellen. Die Mathematik ist nur ein Mittel der allgemeinen und letzten Menschenkenntniss.“ (KSA, FW, 3, 514).

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121). Der defizitäre Zustand von Technik ist die Kunst und der Verfall von Kunst äußert sich ebenso partiell in der Wissenschaftsfeindlichkeit. Technik und Wissenschaft werden damit eine eigengesetzliche, geschichtsmächtige Wesenheit zugesprochen wie es José Ortega y Gasset mit direktem Bezug auf Nietzsche oder Friedrich Dessauer (1881–1963) beschreibt: „Im Wesen des technischen Objekts liegt die Begründung der selbstständigen Wertordnung.“ Das wechselseitige Rückbegründen des Gegensatz-Paares ‚Kunst – Wissenschaft‘, ähnlich dem zu Apollon und Dionysos, ist für Nietzsche eine absolute Notwendigkeit, da sie in seinem allgemein verstandenen Werkzeugcharakter begründet liegt: „Ein Werkzeug kann nicht seine eigene Tauglichkeit kritisiren: der Intellekt kann nicht selber seine Grenze, auch nicht sein Wohlgerathensein oder sein Mißrathensein bestimmen“ (ebd., 133). Eindrucksvoll anschaulich bedeutet dies richtigerweise: „Dies ist schlimmer noch als ein streichholz prüfen wollen, bevor man es brauchen will. es ist das streichholz, das sich selber prüfen will, ob es brennen wird“ (ebd., 37). Für Nietzsche ist partielle Erkenntnis, deren wissen gern für ein gleichmachendes ganzes ausgegeben wird, gleichbedeutend mit einem scheinwissen, der doxa. – Wenn die Technik als auch die Kunst als dienende und sich gegenseitig in ihrer ‚Totalität ausschließende‘ Werkzeuge der Erkenntnis verstanden werden, was können sie dann jeweils bewirken, was bedeutet erkenntnis in diesen beiden Fällen? Nietzsche meint: „‚Erkennen‘ ist ein Zurückbeziehn: seinem Wesen nach ein regressus in infinitum. Was Halt macht […] ist die Faulheit, die Ermüdung“ (ebd., 133). Der allgemeine Erkenntnismodus führt früher oder später unweigerlich zu einer kollision verschiedenartiger erkenntnisbereiche und erkenntnisse, beziehungsweise zu einer ständigen Verschiebung der Wissensgrenzen. Mögliche Ergänzungen werden an den spezifischen ‚Erkenntnisgrenzen‘ nivelliert, da die jeweiligen Werkzeuge sich dort nicht selbst im jeweilig anderen erkennen können, sie verschwimmen und entziehen sich der letzten erkenntnismöglichkeit. Das, was Nietzsche den gewöhnlichen Wissenschaften im folgenden vorwirft, enthält eine wichtige Wahrheit: „Die Entwicklung der Wissenschaft löst das ‚Bekannte‘ immer mehr in ein Unbekanntes auf: sie will aber gerade das Umgekehrte und geht von dem Instinkt aus, das Unbekannte auf das Bekannte zurückzuführen. In summa bereitet die wissenschaft eine souveräne Unwissenheit vor“ (ebd., 189). Die von Nietzsche konsternierte entstehende Unwissenheit spielt eine entscheidende Rolle und führt auf die Spur der dahinterstehende Fragestellung dieser erteilten Antwort, die in der Virtuellen Realität, bei der Kunst und Technik quasi Hand in Hand gehen, ebenfalls eine wissenschaftliche Herausforderung darstellt, der jetzt schon eine zukünftig immer größer werdende Bedeutung zugemessen wird. Die Aufrollung von Problemen an ihrem Lösungsende, den Antworten und nicht an ihrem ausgangspunkt, den fragestellungen, bzw. dem ‚problem an sich‘, verkennt die Tatsache, dass im Menschen-Dasein selbst Probleme gründen, und es etwas gibt, was sich nicht ausgrenzen lässt: Alle Einzelwissenschaften fangen damit an, ein Stück aus dem 

friedrich dessauer, Philosophie der Technik, 134. Dessauer wird hier stellvertretend für andere, ähnlich denkende Naturwissenschaftler angeführt, da er als erster Biophysiker den Weg für die biologische kybernetik und somit für die künstliche, neuronale intelligenz der modernen computerwissenschaft bereitete. Außerdem erkennt er klar die Verknüpfung von ‚Kultur: Kunst und Technik‘, die er eindrucksvoll in Streit um die Technik beschreibt.

Erkenntnistheorie im Virtuellen



weltganzen herauszulösen, um ihr problem einzugrenzen, das eben durch seine einengung teilweise aufhört, ein problem zu sein. sie beginnen also damit, ihr problem auszusondern und einzukreisen, und zu diesem zweck steht für sie am anfang das wissen oder das vermeintliche wissen davon, worauf es am meisten ankommt. ein philosoph nimmt zu seinem gegenstand eine stellung ein, die von der jedes anderen erkennenden unterschieden ist. Der Philosoph weiß nicht, welches sein Gegenstand ist. Man könnte ihn mit ‚Alles, was es gibt‘ bezeichnen, von dem er nie weiß, ob er ein Ganzes und wo seine grenze ist. so wird ihm selbst das sein, zu einem fragwürdigen sein, einem nichtsein. Der Philosoph stellt von Anfang an mit in Rechnung, dass sein Problem unlösbar sein kann. Zum Beispiel, weil entweder das menschliche Erkenntnisvermögen beschränkt sei oder aber, dass das dasein aus irgendwelchen gründen unerkennbar sei. als akademisch ausgebildete philosophin möchte ich an dieser stelle auf die exzellente abhandlung von ortega y gasset Was ist Philosophie? verweisen. Dem gesamten Umfang an solchen Themenkomplexen, pragmatischer und theoretischer Natur, begegnet man verstärkt in der Virtuellen Realität, und das, paradoxerweise, obwohl oder gerade weil, es sich bei ihr um eine Technologie handelt. Nietzsches obige kritik an den einzelwissenschaften ist zwar berechtigt, sie geht jedoch teils und in gewisser weise fehl, weil er selbst ungerechtfertigt ein philosophisches frage- und Problembewusstsein hineinsteckt. Die Virtuelle Realität, eine Technologie, die die Sinnesorgane bewusst und absichtlich von anfang an medial mit einbeziehen, bringt ein philosophisches, bzw. zutiefst menschliches Problem aufs Trapez: „Warum schmerzt den Menschen sein Nichtwissen so wie ein Glied, das er nie besessen hat?“7 Nietzsche stellt fest: „Wenn wir nicht in irgendeinem Maasse unwissenschaftliche Menschen geblieben wären, was könnte uns auch nur an der Wissenschaft liegen! Alles in Allem genommen und rund, glatt und voll ausgesprochen: für ein rein erkennendes Wesen wäre die Erkenntniss gleichgültig“ (KSA, MA-2, 2, 418). Der Mensch ist nach nietzsche vom tiefsten wesen her wissenschaftler und damit auch naturwissenschaftler. So wie Technik immer mehr ist als reine Technikerfindungen im Sinne eines überlebensnotwenigen instruments, geht für das wesen des wissenschaftlers bzw. allgemein gesprochen, des Menschen hervor, dass selbst „das objektiv Notwendige für den Menschen nur im Hinblick auf das Überflüssige notwendig ist“.8 Von daher erklärt sich seine entscheidungsfreiheit zur verweigerungshaltung und mögliche verfallsgeneigtheit, die décadence, ebenso wie seine Anspruchshaltung, sein Wille, ein Mittel zu sein, sein ‚Wille zur Macht‘, der sich „nur an Widerständen äußern kann“ (KSA, NF, 12, 424), sein Heroismus, seine Dramatik, sein Dasein als Lebensentwurf. Der Mensch ist etwas Ruheloses, etwas, was er noch nicht ist; etwas, was er sein möchte. Ein ständiger Aus- und Entwurf seiner Phantasie. Er hängt beständig am ausgeworfenen, suchenden Angelhaken seiner phantasie. deshalb wird wahrheit und erkenntnis von nietzsche mit diesen eigenschaften verwoben: „‚Versuchen wir’s!‘ Aber ich mag von allen Dingen und allen fragen, welche das experiment nicht zulassen, nicht mehr hören. dies ist die grenze meines ‚Wahrheitssinnes‘: denn dort hat die Tapferkeit ihr Recht verloren“ (KSA, FW, 3, 416f.). 7 8

José Ortega y Gasset Was ist Philosophie?, Stuttgart 1962, 72. ders., Betrachtung über die Technik, Stuttgart 1949, 31.

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c) abschaffung des seinsbegriffs damit wollen wir in media res gehen und nach nietzsche ein medientheoretisches experiment verfolgen. In der Debatte um den Medienbegriff spielt es in diesem Zusammenhang für die Virtuelle Realität keine allzu große Rolle, wie der Begriff ‚Medium‘ definiert wird, ob die Medienphilosophie an sich negiert wird0 oder ob und in welchen anteilen er sich als instrumentaler oder mediale Aspekt der Technik manifestiert. die naturwissenschaften definieren übrigens, soweit ich es überblicke, den Begriff Medium nicht, er dient lediglich als Arbeitsdefinition. Im Kontext mit Nietzsche bevorzuge ich ein intuitives Verständnis des Medienbegriffs, das ausreichend für die Technologie der Virtuellen Realität ist. Ursprüngliche interpersonale Kommunikation wird durch ein dazwischengeschaltetes Medium verändert und kanalisiert, was mit einer Änderung der Reflexivität und des zu handhabenden Perspektivenwechsel einhergeht. Erklärtes Entwicklungsziel der Technologie der Virtuellen Realität ist die Umgehung des Mediencharakters, um dadurch eine ‚unmittelbare‘ und unverfälschte Kommunikation der Menschen wieder zu ermöglichen. Es ist also sozusagen eine ‚mediale Kehrtwende‘ zur Herstellung des Urzustandes von Kommunikation. Das zukunftsverändernde Potenzial der Virtuellen Realität liegt nicht nur in ihrer globalen vernetzung, die in der sogenannten ‚echtzeit‘ kommunikation ermöglichen kann, sondern in erster Linie in der erstmaligen unbegrenzten Ausschöpfung aller Phantasiemöglichkeiten des Menschen sowie neuartiger Wahrnehmungserfahrungen und Bewusstseinsperspektiven in der ‚immersion‘, d. h. in einem völligen eingetauchtsein in die virtuelle Realität, entsprechend ihrer Namensgebung. Nietzsche unterstützt diese Intention, solch ein Gedankengang kommt ihm entgegen: „Und was für feine Werkzeuge der Beobachtung haben wir an unsren Sinnen! Die Nase zum Beispiel, von der noch kein Philosoph mit Verehrung und Dankbarkeit gesprochen hat, […]. Wir besitzen heute genau so weit wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das zeugnis der sinne anzunehmen – als wir sie noch schärfen, bewaffnen, zu Ende denken lernten. Der Rest ist Missgeburt und Noch-nicht-Wissenschaft“ (KSA, GD, 6, 75f.). Nietzsche bezeichnet interessanterweise den Interpreten, den ‚Erkennenden‘ sowohl als ein ‚Mittel‘ für das ‚Dasein‘ (KSA, FW, 3, 417) wie auch als ‚Medium‘: „Die Succession von Erscheinungen, noch so genau be

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Betrachtet man den Aspekt der Widerständigkeit, dann könnte über das reine Sprachmedium hinaus verallgemeinernd gelten: „Medium kann folglich heißen, was diese Differenz ist. Oder Diskurse ereignen sich als der Raum und die Zeit eines Vergessens; sie übertragen nicht sondern unterbrechen; sie versammeln nicht, sondern versagen. […] Die Störung gehört schon immer zur ‚Sprache‘; mehr noch: Sie ist die Sprache.“ Christof Windgätter, Inszenierung eines Mediums – Zarathustras „Vor­ rede“ und die Frage nach der „Sprache“, in: Renate Reschke, (Hg.), Zeitenwende – Wertewende, Nietzscheforschung, sonderband , berlin 00, 0. Windgätter veranschaulicht diese Erkenntnis mit ihren ‚technischen‘ Schwierigkeiten an Nietzsches eigenem Umgang mit seiner halbkugelförmigen Reiseschreibmaschine. Sein mediales Experiment erinnert unwillkürlich an moderne Tücken im Umgang mit dem Computer. elena esposito, Blindheit der Medien und Blindheit der Philosophie, in: Stefan Münker (Hg.), Me­ dienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt am Main 2003. Sybille Krämer, Das Medium als Spur und als Apparat, in: Dies. (Hg.), Medien. Computer. Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt am Main 1998.

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schrieben, kann nicht das Wesen des Vorgangs geben – aber die Constanz des fälschenden Mediums (unser ‚ich‘ –) ist mindestens da“ (KSA, NF, 12, 189). Die Virtuelle Realität wiederum ist eine Technologie, das heißt ein ‚Mittel‘, und sie stellt ‚zugleich‘ den ‚kontext‘ dar. Dieses Instrument, Mittel oder Medium, wie immer man es bezeichnen möchte, stellt die Besonderheit dar, dass es in exponiert auffälliger weise und unverkennbar als kontext fungiert. wenn etwas derart mulifunktional, verbunden mit einer ungeahnten Komplexität, bis zur Komplexitätsgrenze, funktioniert, kann es vom Mittel zum Kontext mutieren, gleich dem Menschenbild bei Nietzsche. Welche Wissenschaft ist für Nietzsche keine Noch-nicht-Wissesnschaft? Welche Erkenntnistheorie schwebt ihm vor? Eine weitere Antwort und Spur erhält man in seiner Feststellung: „Die Entstehung der ‚Dinge‘ ist ganz und gar das Werk der Vorstellenden, Denkenden, Wollenden, Erfindenden. Der Begriff ‚Ding‘ selbst ebenso als alle seine Eigenschaften. – Selbst das ‚Subjekt‘ ist ein solch Geschaffenes, ein ‚Ding‘, wie alle Anderen“ (ebd., 141). wenn dinge und subjekte nach nietzsche nur ein vorgestelltes, ein scheinbild darstellen, bildet die Virtuelle Realität den idealen Nährboden, um diese ‚Virtualität‘ aller ‚Dinge‘ zu studieren. die entstehenden avatare und virtuellen welten zeigen zudem überdeutlich ihre Verbindung zur Kunst: wohlgemerkt einer Kunst, so wie wir sie nach Nietzsche nötig haben und lernen müssen, sie zu entwickeln und zu erfahren. Second Life von dem Physiker Philip Rosedale entwickelt oder der wissenschaftliche gebrauch bzw. die produktentwicklungen in den sogenannten caves der industrieabteilungen, nicht zuletzt die virtuellen Vorführungen des Erfinders und Pioniers der Virtuellen Realität Jaron Lanier zeugen von dieser überraschenden Vielfalt. Peter Weibel spricht gar davon, dass dies das sei, „was Medien, gerade auch die Medienkünstler, schon immer wollten, aber nie ganz erreicht haben“. – Die Subtraktion der Materialität und traditioneller seinsvorstellung von den dingen, ausgerechnet durch die naturwissenschaftler eingeleitet, ist bemerkenswert. Nietzsche fordert in seinen Schriften die Abschaffung des Seins: „Strenger: man darf nichts Seiendes überhaupt zulassen“ (KSA, NF, 13, 35) oder „die Materie ist ein ebensolcher Irrtum “ (KSA, FW, 3, 468). Dies korrespondiert mit der allseits bekannten Vorstellung vom Informationsbegriff, wie er vom Kybernetiker Norbert Wiener formuliert wird: Information sei Information, weder Materie noch Energie. Die traditionelle Erkenntnistheorie wird zum einen oft als Ontologie, als Lehre vom Sein, ausgewiesen und auf der anderen Seite als Lehre vom Denken verstanden. Vergleichungen zwischen beiden Lehren konnten sich gegenseitig stützen helfen. Diese Denkrichtungen sind mit Nietzsche passé. ‚Was‘ und ‚wie‘ kann man in der Virtuellen Realität und nach Nietzsche erkennen und wissen? In einem Internet der Dinge ohne realem Sein? 



„Wissenschaft grenzt lediglich den Menschen möglichst scharf und exakt gegen die ‚Dinge‘ ab; der Mensch stellt strenggenommen nicht ‚Natur‘, sondern sich ‚selbst‘ fest. – Wissenschaft erfaßt niemals die ‚objektive Realität‘ der Natur“ (Jochen Kirchhoff, Zum Problem der Erkenntnis bei Nietzsche, in: Nietzsche­Studien, Bd. 6, 1977, 25). peter weibel, Interview, in: Der Spiegel, Nr. 8, 2007, 156: „Baudrillard bezog seine Simulationsphantasien immer auf Bilder und Gegenstände, nun sind wir aber bei den Handlungen angelangt.“ Dadurch wird generell die virtuelle, reale Miteinbeziehung der gesellschaftlichen und politischen handlungsebenen ermöglicht.

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d) Ein virtueller Ansatz für die Realität nietzsche assoziiert den begriff ‚erkenntnis‘ mit dem der ‚wahrscheinlichkeit‘, den des ‚Lebens‘ hingegen mit dem der ‚Wahrheit‘ (KSA, MA-2, 2, 540). Zwar hat von allen erkenntnismöglichkeiten die philosophische fragestellung aller wahrscheinlichkeit nach die geringste Chance auf einen Lösungserfolg, doch die vermeintlich exakten Wissenschaften nähern sich immer mehr den Bereichen der ‚Wahrscheinlichkeiten‘ in ihren Theorien und Praxen. Beispielsweise wird im Zuge der Entwicklung von ‚Quantencomputern‘ die Frage nach der quantentheoretischen Wahrscheinlichkeit im Kontext der alten ungelösten Diskurse mit Albert Einsteins Position erneut aufgegriffen und als drängendes Problem klassifiziert. Evolutionsbiologen lassen sich mittlerweile eher von der ‚spieltheorie‘ als von der selektionstheorie inspirieren, wie wolfgang wieser oder brian Goodwin erklären, wobei letzter die Evolution mit der ‚Tanz‘-Metapher erklärt, um die existierenden beziehungen zwischen den naturwissenschaften und den künsten, bzw. der Kultur erklären zu können. Der Computerkünstler und Physiker Herbert W. Franke lässt dem ‚Zufall‘ eine tragende Rolle in seinen Gedanken und Werken zukommen.14 der computerwissenschaftler Jaron Lanier favorisiert ‚statistische Techniken‘ in seinem Konzept der Phenotropics und zwar nicht nur in Bezug auf die Roboternavigation, sondern darüber hinaus für die computerarchitektur und die programmierung. zumal die hoffnung, dass computerprogramme wie die sprache funktionieren, gestorben ist. für den kognitionspsychologen Roger Schank ist der Informationsbegriff gleichbedeutend mit ‚Überraschung‘. Der Physiker Lee Smolin entwirft ein kosmisches Bild, dass sich ganz mit ‚Relationsbegriffen‘ ausdrücken lässt und ein ‚Geflecht von verwobenen Knoten und schleifen‘ darstellt. Wobei auch hier jedes Mal der interessante Umstand zu beobachten ist, dass der Wahrscheinlichkeitsbegriff keine Definition hat. Keiner weiß, was Wahrscheinlichkeit wirklich ist oder bedeutet, außer einer intuitiven Ahnung infolge des praktischen Umgangs mit ihr. Man kann diese vielfältigen, neuartigen Charakterisierungen fachübregreifend mit dem noch näher zu bestimmenden Begriff der Aletheia bezeichnen und zusammenfassen. nietzsche lokalisiert den wahrscheinlichkeitsbegriff im erkenntnistheoretischen zusammenhang „im Grunde das Thun in Hinsicht auf alles noch zu erwartende Thun (Thun und die Wahrscheinlichkeit ähnlichen Thuns) zusammengefaßt“ (KSA, NF, 12, 141). Was kann bei Vorherrschen von Unbestimmtheit erkannt werden? Nietzsches Antwort lautet: „Was kann Erkenntniß sein? – ‚Auslegung‘, nicht ‚Erklärung‘“ (ebd., 104).

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Zu Herbert W. Franke in: Das Universum – ein Automat? Der Weg zur Weltformel, in: Telepolis, unter: www.heise.de/tp/r4/artikel/24/24658/1.html vom 14.5.2007. Zu Brian Goodwin, Roger Schank und Lee Smolin in: John Brockmann (Hg.), Die dritte Kultur. Das Weltbild der modernen Naturwissenschaft, München 1996.

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iii. erkenntnisgewinn mit einem modernen Aletheia-begriff Die ‚Unbestimmtheit‘ wird bei Nietzsche zu einem dominierenden Faktor, der uns jetzt im fortgang bei der frage nach dem ‚wie‘ des Erkenntnisvorgangs beschäftigen wird. william gibson, der namensgeber des Cyberspace charakterisiert das ‚wie‘ folgendermaßen: „Er hörte, wie er ihn […] bedrängt hatte, sich nicht zu konzentrieren. Was Sie tun, es ist entgegengesetzt zu der Konzentration, aber wir werden lernen es zu lenken.“ Jaron Lanier, der Pionier der ‚Virtuellen Realität‘, der selbigen Ausdruck prägte, charakterisiert das ‚Wie‘ so: „it’s like going on a hike and being the sculptor of the mountain at the same time.“17 Und Nietzsche beschreibt das ‚Wie‘ des idealen Wissensakts: „jetzt ist er zugleich Subject und Object, zugleich […] Schauspieler und Zuschauer“ (KSA, GT, 1, 48). Alle diese unterschiedlichen Beispiele vereint ihre merkwürdig ‚gegensätzliche‘, sich scheinbar widersprechende Aussage, ähnlich dem Oxymoron ‚künstliche Realität‘ selbst. Medienkulturhistorisch betrachtet erinnert es an altägyptische Bilddarstellungen, in denen die Motive durch ihren typischen Aspekt der Gleichzeitigkeit (Gesicht im Profil bei frontal verkehrter Körperstellung) eine räumliche und kultursymbolische Rundumsicht gewähren sollen. Die vielschichtig-verdrehte, unrealistische Perspektivenzusammensetzung beleuchtet einen wichtigen Punkt, dass nämlich ein umfassendes Wissensverständnis über Paradoxa und Gegensätze hinweg möglich ist. In einem Pendant der plastischen 3-Dimensionalität, dem ‚virtuellen Environment‘, bemerkt Lanier experimentell, dass der User Ungereimtheiten der technischen Surround-Performance bereinigt, weil eine stark ausgeprägte humane Tendenz hierfür existiert, ähnlich wie sie, in der 1890 von Christian von Ehrenfels begründeten Gestaltpsychologie vorgestellt wird: „it works better than it should because your brain wants your reality to look good. It’s a really high priority for your brain to believe in your reality.“18 es handelt sich hierbei keineswegs um neuronale willkürakte der imagination, sondern wie man mit nietzsche erkennt, um ein legitimes Ausloten von Erkenntnisgrenzen: „Schein wie ich es verstehe, ist die wirkliche und einzige Realität der Dinge, – das, dem alle vorhandenen Dinge erst zukommen […], also auch mit den entgegengesetzten Prädikaten zu bezeichnen ist. Mit dem Worte ist aber nichts weiter ausgedrückt als seine Unzulänglichkeit für die logischen prozeduren und Distinktionen: also ‚Schein‘ im Verhältniß zur ‚logischen Wahrheit‘ – welche aber selber nur an einer imaginären Welt möglich ist. Ich setzte also ‚Schein‘ nicht in Gegensatz zur ‚Realität‘ sondern nehme umgekehrt Schein als die Realität, welche sich der Verwandlung in eine imaginative ‚wahrheits-welt‘ widersetzt. ein bestimmter name für diese Realität wäre ‚der Wille zur Macht‘, nämlich von Innen her bezeichnet und nicht von seiner unfaßbaren flüssigen Proteus-Natur aus“ (KSA, NF, 11, 654). Nietzsche verweist auf ein gebiet, indem eine wissenslücke klafft, weil man es nicht genügend beachtet hat.  17 18

william gibson, Idoru, München 1999, 264. Jaron Lanier, The Virtual Visionary, in: The Guardian Saturday Review, . dec. 00. ders., Virtual Environments and Interactivity: Windows to the Future, in: SIGGRAPH Panel Pro­ ceedings, Boston 1989. An dieser Stelle, wie in der Gestaltpsychologie, fließt die Erkenntnis ein, dass das Ganze mehr und etwas anderes ist als die Summe seiner Teile. Dieser Gemeinplatz wird in den naturwissenschaften, vor allem in der künstlichen intelligenz gern angeführt, allerdings ungenügend reflektiert.

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Es befindet sich an der Grenze zwischen der gängigen Logik- und Wissenschaftsauffassung und einem bereich, der an die grenze der menschlichen erfahrung und erkenntnis heranreicht. diesen neuen, unerforschten bereich fasst er unter dem namen ‚willen zur Macht‘ zusammen. Er stellt die Gesamt-Realität dar. Der neue Erkenntnisumfang absorbiert dabei den alten, gängigen und subsumiert deshalb erweiternd entgegengesetzte Begrifflichkeiten zu einer neuen Erkenntnis, die sich erst daran stößt, wenn sie imaginativ wird, d. h. eine Einzeldisziplin, z. B. die Logik, außen vor gelassen und der ‚Einheitsgedanke‘ verletzt wird, indem man den möglichen erkenntnisumfang verringert. Interessant ist, wie im 21. Jahrhundert herausragende Naturwissenschaftler, wie William Bricken, ein VR-Forscher der ersten Stunde, ihr eigenes Werk der Medientechnologie etikettieren: „VR is illogical positivsm: if you can specify it, it is meaningful. All empirical hypotheses are true.“ ohne weiter auf die verwendung des philosophischen begriffs Positivismus einzugehen, sei hier der bemerkenswerte Umstand hervorgehoben, dass er die virtuelle Realität als ‚unlogisch‘ charakterisiert. Nur die Verknüpfung streng logischmathematischer Methodik mit einer unorthodoxen, unlogischen wissenschaftlichen Herangehensweise, verstanden als eine eigenständige Wissenschaftsdisziplin, kann wissenschaftlichen fortschritt und erkenntnisgewinn erzielen. sie deckt sich mit nietzsches geforderter Denkweise und Methodik für seine sogenannte ‚noch-nicht-wissenschaft‘. Im speziellen Fall der Medien- und Computerwissenschaft könnte man sie in ersten Versuchen mit bricken als ‚experiential computing‘ bezeichnen oder allgemeiner als ‚experiential epistemology‘, da sie dynamisch sowie multisensorisch und kin- oder synästhetisch ist. Durch die Hinwendung zu einer ‚Leibphilosophie‘, im Sinne Nietzsches, bei der der körper zur schnittstelle wird, die in der information an sich versinkt, sprich unsichtbar gemacht werden soll, quasi mit der Maschine und dem Medium verschmilzt, erhält man nach Bricken eine ‚experiential semantics‘, während die „syntacs, the symbols that guide computational activity, is hidden in the background, out of sight.“0 daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die ‚Theorie‘ bezüglich des ‚Kontexts‘ zu überdenken. Klärungsversuche durch den üblichen Miteinbezug der Neuro- und Kognitionswissenschaften werden allein nicht ausreichen, um die verdunkelten und unlogischen Strukturen beim Verständnis der virtuellen semantik und beim design virtueller welten zu erfassen. bricken sprach auf einer der bedeutendsten SIGGRAPH-Konferenzen einen bezeichnenden Satz aus, der zu einem Credo der Virtuellen Realität wurde: „Die Psychologie ist die Physik der virtuellen Realität.“ Denn: „Wir reden über vielmehr als über Realität. VR ist keine physikalische simulation. wenn sie systeme konstruieren, um eine physikalische simulation durchzuführen, dann nehmen Sie im Grunde Ihre VR und setzen ihr Grenzen. Lassen Sie die Grenzen fallen, und Sie sind in etwas drin, das ein größerer Raum als der physikalische ist. Wir haben neue Freiheiten, wir müssen Neues lernen.“ im grunde genommen reicht dieses Verständnis von Psychologie als erkenntnistheoretisches Konzept nicht, um die obigen Beispielaussagen von Gibson, Lanier und Nietzsche zu verstehen und zur kon 0  

william bricken, Virtual Reality: Directions of Growth, in: SIGGRAPH Panel Proceedings, dallas 0. ebd. ebd. benjamin woolley, Die Wirklichkeit der virtuellen Realität, Basel, Boston, Berlin 1994, 29.

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kreten Anwendung bei der Konstruktion und Realisierung von Medien, Technologien und naturwissenschaften bringen zu können. nietzsche erkennt diesen sachverhalt, indem er zwar auf die psychologie zurückgreift, sie aber zugleich verwirft und umbenennend erweitert: „Psychologischer Ausgangspunkt […] Reduktion aller organischen Grundfunktionen auf den Willen zur Macht […] ‚Naturgesetz‘: als Formel für die unbedingte Herstellung der Macht-Relationen und -Grade“ (KSA, NF, 12, 17). Nietzsche hält neben den Kennzeichnungen ‚Wille zur Macht‘, und ‚Naturgesetz‘ eine Reihe unterschiedlichster Begrifflichkeiten für ein und denselben sachverhalt zu zwecken der veranschaulichung parat. sie reichen von wissenschaftlichklingenden Namen bis hin zu mythischen, wie: „Psychologische Grunderfahrungen […] mit dem Namen ‚apollinisch‘ wird bezeichnet […] auf den Namen des Dionysos ist getauft“ (KSA, NF, 12, 115). nietzsches schwierigkeiten mit den namensgebungen zeugen von der schwierigen aufgabe, vor der er sich gestellt sah, die neuheit und fremdheit seines eigenen philosophie-Konzepts auf den so unterschiedlichen und mannigfaltigen Verständnisebenen ‚umfassend‘ und ‚einheitlich‘ verständlich und begreiflich zu machen. So verwundert es nicht, dass Nietzsche sich scheinbar selbst widersprechen kann und meint: „es giebt keinen Willen: es giebt Willens-Punktationen, die beständig ihre Macht mehren oder verlieren“ (KSA, NF, 13, 36f.). Sein Slogan von der ‚Umwertung der Werte‘ fällt ebenso in dieses Konzept: „‚Werth‘ ist wesentlich der Gesichtspunkt für das Zunehmen und Abnehmen dieser herrschaftlichen Centren“ (ebd.). Nietzsche verwendet den Begriff ‚Wille zur Macht‘ nur als Ariadnefaden, an dem er seinen gedanklichen faden spinnen kann, als anfangspunkt einer erkenntnistheoretischen Evolution: „Ich brauche den Ausgangspunkt ‚Wille zur Macht‘ als Ursprung der Bewegung. […] nicht von außen her bedingt“ (ebd., 13, 274). Da ihm, wie er deutlich und eindeutig formuliert, der „Wille zur Macht als Erkenntniss“ (ebd., 13, 270) gilt, wird ersichtlich, dass der Erkenntniserwerb weder von außen, wie die Naturwissenschaften es propagieren, noch von innen, wie die gängige Psychologie oder auch die Neurowissenschaften es propagieren, herrühren kann. Vielmehr: „In summa: ein Geschehen ist weder bewirkt, noch bewirkend“ (ebd., 274, 14). Was bedeutet diese Aussage in erkenntnistheoretischem Kontext? Zuerst soll nochmals vorangestellt werden, worum es Nietzsche geht: um eine neue Gesamttheorie der Dynamik, bzw. der Erkenntnismöglichkeiten: „Unter dem nicht ungefährlichen Titel ‚der Wille zur Macht‘ soll hiermit eine neue Philosophie, oder deutlicher geredet, der Versuch einer neuen Auslegung alles Geschehens zur Wort kommen“ (KSA, NF, 11, 653). Die merkwürdige Doppelstruktur des ‚Geschehens an sich‘ korrespondiert mit seinen beständigen Spezifizierungen und Appellen von der ‚Negierung‘ der Vereinzelung und Trennung von Ursache und Wirkung, Täter und Tun, Subjekt und Objekt, Theorie und Praxis, aktiv und passiv, hart und weich, selbst die von dionysus und apollo oder von sein und werden24 (KSA, NF, 13, 274f., 286).  24 

„Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schliesslich die Sprache des Dionysus: womit das höchste Ziel […] erreicht ist“ (KSA, GT, 1, 140). „Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen […] – Gipfel der Betrachtung“ (KSA, NF, 12, ). Es gilt generell: „Es giebt keine Gegensätze: nur von denen der Logik her haben wir den Begriff des Gegensatzes – und von denen aus fälschlich in die Dinge übertragen“ (KSA, NF, 12, 384).

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Die geschilderte Grundstruktur des Geschehens entspricht der Machart und den zukunftsrelevanten Fragestellungen und Erfordernissen in der medialen und virtuellen Realität. Ein Geschehen, dass vielerlei Gegensätze in sich ‚gleichzeitig‘ vereinigen können muss, bedarf zur orientierung des erkenntnissuchenden einer gewissen distanzierten drauf- und übersicht, einer art vogelperspektive, die nietzsche in form des ‚pathos‘ erbringt: „Der Wille zur Macht nicht ein Sein, nicht ein Werden, sondern ein Pathos – ist die elementarste Thatsache, aus der sich erst ein Werden, ein Wirken ergibt“ (ebd., 259f.). das pathos, als wesentlicher kernpunkt dieser philosophischen überlegungen Nietzsches, stellt die Perspektivität allen Geschehens sicher, und bestimmt seine neuartige Lehre von der Dynamik, von der er sagt: „Die Lehre vom Sein, vom ding, von lauter festen einheiten ist hundert Mal leichter als die Lehre vom Werden, von der entwicklung“ (ebd., 535). Sie unterscheidet sich von den konventionellen Wissenschaften und deren Begriff der Dynamik der Gegenstände dadurch, dass diese gedanklich und messend auf ein festes Sein rekurrieren, während Nietzsche gerade dieses negiert und allen Begrifflichkeiten etwas Unbestimmtes, Flüssiges, etwas Dynamisches beilegt: „Ist Wille möglich ohne diese beiden Oscillationen des Ja und des Nein? […]: es bedarf der Gegensätze, der Widerstände, also, relativ, der übergreifenden Einheit … Lokalisirt“ (ebd., 0). Bevor näher auf die Theorie eingegangen wird, soll dargestellt werden, wie man sich das Funktionieren dieser übergreifenden Einheiten am Beispiel des Medialen anschaulich vorzustellen hat. Lanier belegt es mit dem Namen der ‚postsymbolische Kommunikation‘. Zum besseren Verständnis und um ein Gefühl dafür zu bekommen, werden mehrere längere Zitate angeführt. Lanier schreibt: „a new kind of communication. It’s really putting people inside your dreams, and something that’s very hard to describe, because it’s a mode of communication; I think that’s really different than description“ und: „You’d be using gestures instead of building something stone by stone. When you can improvise while inside it, making it up as fast as you think and feel, you can reach other people […] In the future I see virtual reality as a medium of communications where people improvise worlds instead of words, making up dreams to share. An ideal VR conversation would have the continuity, spontaneity, expressiveness of a jazz jam but the literal content that‘s missing from music […] It would be a reality conversation, an objective form of the Jungian dream, the collective unconscious. You might call it the collective conscious“27 und: „ohne Symbole zu kommunizieren. Das hat einen anderen Rhythmus […] und deshalb hat man statt dessen Knoten relativer Statik gegenüber Perioden großer Dynamik […] Die Idee könnte sich als falsch erweisen: […] Es ist also ein großartiges Experiment, […] Natürlich laufen Kommunikationen ohne Symbole immerzu ab. Das deutlichste Beispiel […], ist das Erleben in der Natur. Die direkte Wahrnehmung, die man hat, wenn man einen waldspaziergang macht und von der natur angesprochen wird, geht den symbolen voraus und übertrifft sie. das braucht man nicht zu beweisen. ein Beispiel für eine nach außen gehende Kommunikation ohne Symbole ist die Bewegung des eigenen Körpers. […]: man teilt seinem Körper vorsymbolisch mit. […]. Freilich,  27

Jaron Lanier, Virtual Environments and Interactivity: Windows to the Future. ders., Interview with Jaron Lanier (mit Doug Stewart), in: OMNI, Online­Magazine, Januar 1991 (http://www.protovision.textfiles.com/computers/CYBERSPACE/lanier.txt).

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das sind gereinigte beispiele, gereinigte beispiele für nichtsymbolische kommunikation, die es schon gibt. Aber natürlich ist das ganze Leben tief von nichtsymbolischer Kommunikation durchdrungen. Ein Buch hat nichtsymbolische Aspekte, das heißt […]. Alles und jedes hat symbolische und nichtsymbolische aspekte. ein ding ist kein symbol, man kann bloß alles als Symbol gebrauchen. Ein Symbol bedeutet einen bestimmten Gebrauch eines Dinges, aber alles ist auch ein Ding an und für sich; alles hat eine ursprüngliche Dinghaftigkeit (vertrackte Sätze wie dieser haben mich auf die Suche nach postsymbolischen Kommunikationsformen gebracht!).“28 Nietzsche meint in Bezug auf das Pathos oder die Realität bzw. den Schein und seine ‚Bedeutung‘ für die Erkenntnis und die Kommunikation: „Schein ist für mich das Wirkende und Lebende selber, das soweit in seiner Selbstverspottung geht, mich fühlen zu lassen, dass hier Schein und Irrlicht und Geistertanz und nichts mehr ist, – dass unter allen Träumenden auch ich, der ‚Erkennende‘, meinen Tanz tanze, dass der Erkennende eine Mittel ist, den irdischern Tanz in die Länge zu ziehen und insofern zu den Festordnern des Daseins gehört, und dass die erhabende Consequenz und Verbundenheit aller Erkenntnisse vielleicht das höchste Mittel ist und sein wird, die Allgemeinheit der Träumerei und die Allverständlichkeit aller dieser Träumenden unter einander und eben damit die Dauer des Traumes aufrecht zu erhalten“ (KSA, FW, 3, 417). die aussagen beider denker klingen nicht völlig neu und sind tief in unserer kultur verwurzelt, auf einem kulturellen Nährboden, der eine Hochkultur gedeihen ließ, der wir unsere rational-technologische kulturentwicklung zu verdanken haben. wolfgang schadewalt beschreibt einen altgriechischen, in der heutigen Zeit voranschreitender Technisierung fast vergessen philosophischen, jedoch äußerst wichtigen Begriff wie folgt: „Ich würde also sagen, daß in diesem Begriff der Aletheia ein menschliches Urerlebnis gefaßt ist, das man ebenso im sinnlichen Bereich antreffen kann wie auch im seelischen und geistigen. es braucht durchaus nicht immer in höchsten höhen vor sich zu gehen, ist aber außerordentlich bedeutungsvoll, fast etwas Erschütterndes liegt darin. Ich selbst habe es einmal bei einer gebirgswanderung erlebt, wo man sich im nebel völlig verloren fühlt, jeder Schritt kann den Absturz bringen – und dann das Gefühl des Beglückenden, wenn der nebel weicht und alles wieder klar und deutlich sichtbar ist, da ist. was man in solchen Situationen naturhaft empfindet, gibt es auch im Akt des Erkennens, etwa der Situation des Forschers. Er hat Material gesammelt, die Dinge liegen vor ihm, aber sie sind gleichsam in Nebel gehüllt, er findet nicht den eigentlichen Zusammenhang. Da kann es passieren – meist in einem Augenblick – , daß sich zwar gar nichts ändert, das Material bleibt das gleiche, aber irgendwie ist es, als ob sich ein Nebel von ihm hebt und der gesuchte zusammenhang unvermittelt so hell und deutlich vor ihm steht wie bei jener Wanderung die Bergkuppe.“ Die Ähnlichkeit der Charakterisierung, der aus unterschiedlichsten Fachgebieten stammenden Denker, ist frappierend. Jeder betont die Allgemeinverständlichkeit der Kommunikation und des Wissens, die prozessuale Spontaneität der Erkenntniserfahrung, die verifizierbare Objektivität des Wissens. Besonders 28



ders., Kommunikation ohne Symbole, in: Manfred Waffender, Ludwig Moos (Hg.), Cyberspace, Ausflüge in virtuelle Wirklichkeiten, 88f. und Ders, A Vintage Virtual Reality Interview, in: Whole Earth Review, 1988 (auch unter: http://people.advanced.org/~jaron/vrint.html). wolfgang schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, Frankfurt am Main 1995, f.

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bemerkenswert ist, wie der Naturwissenschaftler Lanier auf die inhärierte Dynamik verweist, also auf einen neuartigen Rhythmus, der Relationen und Gegensätze verbindet. Das Begriffverständnis der Aletheia kann als modifizierteres und modernes Konzept, mit Worten Nietzsches veranschaulicht, Fragestellungen der virtuellen Realität, bzw. der informations- und kommunikationstechnologie bis hin zur künstlichen intelligenz zu klären helfen.0 Die Aletheia ist eine Unentzogenheit, eine „übergreifende funktionale Zuständlichkeit, innerhalb derer es dann auch ‚wahrhaftig‘ bezeichnet werden kann, aber nicht primär. Es geht nicht um die Wahrheit einer Aussage.“ die aletheia entbehrt, wie von nietzsche gefordert, des seins, der traditionellen seinsstruktur eines naturwissenschaftlers, ohne jedoch die Logik verloren zu haben. Dies resultiert daher, weil der „Sinn des Werdens muß in jedem Augenblick erfüllt, erreicht, vollendet sein“ (KSA, NF, 13, ). Die Gesetzlichkeiten der allgemeinen Mathematik und der Naturwissenschaften äußern sich in einer gewissen, noch zu bestimmenden Regelmäßigkeit, dergestalt: „Es giebt kein Gesetz: jede Macht zieht in jedem Augenblick ihre letzte Consequenz. Gerade, daß es kein mezzo termine giebt, darauf beruht die Berechenbarkeit“ (ebd., 258f.) oder: „Die Berechenbarkeit eines Geschehens liegt nicht darin, daß eine Regel befolgt wurde […] sie liegt in der Wiederkehr identischer Fälle“ (ebd., 276). Bei dieser Aufweichung des traditionellen, strengen Kausalitätsverständnisses hin zum Schlagwort der ‚ewigen Wiederkehr des Gleichen‘, wie man es an der Oberfläche betrachtet, ebenso im phantasievollen spiel der avatare in künstlichen welten beobachten kann, sind scheinbar die physikalischen Gesetze auf den Kopf gestellt und folgen ihren eigen, nutzerbestimmten Regeln; da mag der naturwissenschaftler noch mitgehen, zumal naturwissenschaftler den begriff der Kausalität selber ‚nicht‘ definieren können. Nietzsche zieht zudem ein physikalisch oder kybernetisch klingendes Vokabular heran: „sie ist essentiell Relations-Welt“ (ebd., 271) und „in einem Spannungsverhältniß zu allen anderen dynamischen Quanten“ (ebd., 258f.). problematisch wird es an dem punkt von nietzsches interpretations- und prozessphilosophie, wie Hans Lenk sie nennt, wenn ein ‚notwendiges‘ subjektives Moment hinein spielt: „Der interpretative Charakter alles Geschehens. Es giebt kein Ereigniß an sich. was geschieht, ist eine gruppe von erscheinungen ausgelesen und zusammengefaßt von einem interpretirenden Wesen“ (KSA, NF, 12, 38). Die scheinbare Willkür des Erkennenden, die weit über die Möglichkeit der Berechenbarkeit des quantenmechanischen Beobachter- und Messproblems hinaus zu gehen scheint, kann sich allerdings, konsequent weitergedacht, als der richtige erkenntnistheoretische Ansatz erweisen: „Der Mensch ist ein Formen- und Rhythmen-bildendes Geschöpf; er ist in nichts besser geübt und es scheint daß er an nichts mehr Lust hat als am Erfinden von Gestalten. Man beobachte nur, womit sich sein Auge sofort beschäftigt sobald es nichts mehr zu sehen bekommt: es schafft sich Etwas zu sehen […] Ohne die Verwandlung der Welt in Gestalten und Rhythmen gäbe es für uns nichts ‚Gleiches‘, also nichts Wiederkehrendes, […] strenger noch: 0



Miriam Ommeln, Die Technologie der Virtuellen Realität. Technikphilosophisch nachgedacht, Frankfurt am Main 2005; Hans Lenk, Humanitätsforschung als interdisziplinäre Anthropologie, Frankfurt am Main 2008 (Kapitel V); Miriam Ommeln, Nietzsche, der Cyberphilosoph, in: Beatrix vogel (Hg.), Der Mensch sein eigenes Experiment?, München 2008. wolfgang schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, .

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ein Formen-Aufzwingen: – von ‚Eindrücken‘ reden nur die Oberflächlichen […] Dieser Aktivität ist es zu eigen, […] abzuschätzen […] und ‚Erkenntniß‘ erweist sich, dergestalt betrachtet, nur als ein Mittel der Ernährung“ (KSA, NF, 11, 608). die geschilderte höchst wichtige anthropologische komponente in jedwedem erkenntnisprozess und wissensstatus, d. h. in jedem vor- und nachtheoretischem wissen, wird unmittelbar im technischen Medium der cyberspacialen Virtualität vor Augen geführt, wo alles als ‚Rollenspiel‘ begann, das als fremd- und eigenartig zu lösendes, technisches und psychologisches Phänomen sowohl Wissenschaftlern als auch der Wirtschaft Rätsel aufgibt. Avatare, MUDs, Spiele, selbst die Blogosphäre, kurz, die Navigation durch das interaktive netz spiegelt durch ihre verbale und nonverbale kommunikation, in ihrer Verwendung von Masken usw., deutlich wider, dass die Ausbildung einer Medienkompetenz allein nicht ausreicht, um das Verhalten und den Umgang der User im und mit dem neuen Medium zu verstehen. Die Erklärung schneidet tiefer in das dynamische mediale Geschehen: Nach Nietzsche sind „Metamorphosen des Einen Willens, der alles Geschehen inhäriert, der Wille zur Macht“ (KSA, NF, 13, 44) ein humanes und wissenschaftliches faktum. dies bedeutet auf personaler ebene, dass das individuum sich zu recht in seinem ureigensten Rhythmus wandeln, maskieren und schützen ‚muss‘. Er muss „in jede Rolle eintreten […] Er geht in jede Haut, in jeden Affekt ein: es verwandelt sich beständig“ (KSA, GD, 6, 117f.). Dieses Handeln kann man leichthin als Täuschung und Lüge begreifen und verurteilen; es kann auch tatsächlich mangelnde soziale Kompetenz ausdrücken, aber im grunde genommen, ist es ein aspekt der ‚kommunikation an sich‘, da im Idealfall diese geradezu selbst begünstigt wird und „das ganze Affekt-System gesteigert: so dass es alle Mittel des Ausdrucks mit einem Male entladet und die Kraft des Darstellens, Nachbildens, Tranfigurirens, Verwandelns, alle Art Mimik und Schauspielerei zugleich heraustreibt. Das Wesentliche bleibt die Leichtigkeit der Metamorphose, […], er hat den höchsten Grad des verstehenden und errathenden Instinkts, wie er den höchsten Grad von Mittheilungs-Kunst besitzt“ (ebd.). Nicht nur die Kommunikationsfähigkeit wird gefördert und weiter entwickelt, sondern die ‚Erkenntnis an sich‘, denn hier gilt: „die Raum- und Zeit-Empfindungen sind verändert: ungeheure Fernen werden überschaut und gleichsam erst wahrnehmbar […] ‚intelligente‘ Sinnlichkeit“ (KSA, NF, 13, 294). Solcherart wird das Funktionieren und die Rolle der Aletheia wiederum anschaulicher, da sie quasi in plötzlichen „spontanen Bewegungen, Werthe umwerthet“ (KSA, NF, 12, 370). Ihre übergreifende funktionale Zuständlichkeit impliziert einen weiteren Horizont als den der reinen Logik. Sie umkreist und umfasst die erkenntnistheoretischen Aspekte der Kreativität, der Phantasie, der Intuition, der nonverbalen Kommunikation und zugleich den der Logik, hier stellvertretend für die Gesamtheit der abstrakten Wis

Tilmann Borsche weist darauf hin: „Nietzsche interprets the intuition of the pure intellect via one of many concepts traditionally opposed to it by understanding intuition as a kind of imagination of the body“ (The Epistemological Shift from Descartes to Nietzsche: Intuition and Imagination, in: Babette E. Babich, Robert S. Cohen (Hg.), Nietzsche and the Sciences I: Nietzsche, Theories of Knowledge, and Critical Theory, Dordrecht, Boston, London 1999, 56). David Best erklärt: „It is because the feelings which can be experienced while moving cannot be experienced in other ways“ (ders., Philosophy and Human Movement, London, Boston, Sydney 1978, ).

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senschaften. Die Aufhebung und Integration der Gegensätze ist in der ‚Perspektive‘ gegeben. Sie ist Garant für einen Rundumlauf, der für die allumfassenden Grad- und Kraftverschiebungen des geschehens und der interpretationen bürgt. die solcherart in der Metamorphose entstandenen Erkenntnisse besitzen den Charakter von echten naturwissenschaftlichen ergebnissen, da sie aufgrund anthropologischer konstanten periodisch wiederkehrend, bzw. gesetzlich sind. Deswegen sind u. a. für den Menschen Raum-, Zeitund Geschwindigkeitsveränderungen ein so spannendes Untersuchungsfeld, von dem er sich geradezu magisch angezogen fühlt, angefangen von den Medienwissenschaftlern über die Künstler, Architekten und Mathematiker, Physiker bis zu den Sportlern und den ausgelassenen Spielen der Lebewesen. Sie transformieren seinen Erkenntnishorizont und treiben seinen wissenstand in ungeahnte höhen und weiten. die von nietzsche bezeichnete ‚intelligente sinnlichkeit‘ kann keinen stillstand ertragen, sie muss sich selbst, ihr Leben, ihre virtuelle Umgebung, ihr Erfahrungswissen in jedem Augenblick aufs Neue, immer wieder und wieder, neu gestalten: und sei es ihr eigener Untergang: „Wir haben die Lüge nöthig […], um zu leben, das gehört selbst noch mit zu diesem furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins […], muß der Mensch von Natur schon ein Lügner sein, er muß mehr als alles Andere noch Künstler sein … Und er ist es auch: […] Wissenschaft – Alles nur Ausgeburten seines Willens zur Kunst, zur Lüge […]. Daß der Charakter des Daseins verkannt wird – tiefste und höchste Geheim-Absicht der Wissenschaft, Frömmigkeit, Künstlerschaft. […] lauter Verführung zum Leben! In Augenblicken, wo der Mensch zum Betrogenen wird, wo er wieder ans Leben glaubt, wo er sich überlistet hat: oh wie schwillt es da ihm auf! […]. Welches Gefühl der Macht! […] Die Lüge ist die Macht“ (KSA, NF, 13, 193f.). Und so kommt es zu nietzsches berühmter folgerung, die sich nicht nur auf die kunst bezieht, sondern auf seine Interpretation des Geschehens an sich: „Die Kunst und nichts als die Kunst. Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans zum Leben“ (ebd.). Und welche eine nun verständliche Verführung zum ‚Medium‘ des interaktiven Computers, zur Verführung ins ‚labyrinthische‘ Netz?

iv. visionen Die Wissenschaft bezieht ihren Wahrheitsgehalt demnach aus der Lüge. Überprüft man, was geschehen würde, wenn man ein hundertprozentiges wissen erlangen könnte, dann zeigen experimente mit selbstlernenden computerprogrammen, dass es zu einem Crash kommt, anstatt zu einem umfassenden wissen. hundertprozentiges wissen blockiert sich selbst; es ist ein Seinsmodus, den Nietzsche ausgeschlossen hat. Er analysiert: „Die unbedingte Nothwendigkeit alles Geschehens enthält nichts von einem Zwange: der steht hoch in der Erkenntniß, der das gründlich eingesehn und eingefühlt hat […] ‚Alles begreifen‘ – das hieße alle perspektivischen Verhältnisse aufheben das hieße nichts begreifen, das wesen des erkennenden verkennen“ (KSA, NF, 12, 37). Die Fragstellung und den Lösungsansatz vom Gegenstand des Wissens her zu nehmen und nicht ebenso vom wesen des erkennenden auszugehen, bedeutet nur halbe wissenschaft zu betreiben, in einer Sackgasse stecken zu bleiben. Es ist und bleibt die Aletheia, die in diesem Konflikt den Weg weisen kann, da sie die momentan für wahr gehaltene ‚Wahrheit‘ firmiert und

Erkenntnistheorie im Virtuellen



verifiziert: „Fünf, sechs Sekunden und nicht mehr: da fühlt ihr plötzlich die Gegenwart der Harmonie. Der Mensch kann, in seiner sterblichen Hülle das nicht aushalten, er muß sich physisch umformen oder sterben. Es ist ein klares und indiskutables Gefühl […] das schrecklichste ist die schauerliche Bestimmtheit, mit der es sich ausdrückt und die Freude, mit der es erfüllt […]“; persönlich werdend, fährt er fort: „In diesen 5 Sekunden lebe ich eine ganze Menschen-Existenz, für sie würde ich mein ganzes Leben geben, es wäre nicht zu theuer bezahlt“ (KSA, NF, 13, 146). Der selbst für Nietzsche ungewöhnlich pathetische sprachduktus unterstreicht die bedeutung seiner worte, seinen gefühlten ernst. auf der anderen seite thematisiert er damit ein wissen und ein gefühl, dass ‚jeder‘ Mensch kennt, nicht nur der Wissenschaftler im unmittelbaren Erkenntnisvorgang, der ihm die höchste Evidenz seines gefunden Ergebnisses zuteil werden lässt, und das ihn zudem mit dem nötigen Mut und der Wagnis ausstattet, es der gesellschaftlichen Öffentlichkeit mitzuteilen. es ist ausgerechnet das heutzutage als unwissenschaftlich verstandene, wie nietzsche es ausdrückt, ‚klare und indiskutable gefühl‘, das für die weiterentwicklung der Wissenschaft und ihrem Nicht-zu-einem-Ende-Kommen Sorge trägt. Im Grunde handelt es sich jeweils lediglich um den momentanen stand der wissenschaft, wie die Historie zeigt, erkenntnistheoretische Wiederholungen und Modifizierungen nicht ausgeschlossen. Das Medium der virtuellen Realität und des Cyberspace weist den Weg zur Klärung seiner eigenen Doppeldeutigkeit als Technologie und als Medium. Im Pathos der Distanz, begründet auf den aletheia-begriff, werden die charakterisierungen von gibson, Lanier und Nietzsche einsichtig, da die virtuelle Realität, bzw. jede mediale Tätigkeit von den beiden Tätigkeiten des Aktiven und des Passiven getragen sein sollte, so wie Schreiben- und Lesenkönnen zusammengehören. Das Können im Virtuellen setzt sich, im bisher noch nicht technisch realisierten idealfall analog zusammen, aus der logischen programmierung der welten und der navigation einerseits sowie andererseits aus dem phantasievollen, kreativen Gebrauch, der deswegen, wie oben erklärt, nicht unlogisch ist. Das Element der ‚Unbestimmtheit‘ ist viel mehr, es ist ein dominierender faktor. der ‚intuitive‘ Gebrauch wird nicht umsonst von der Fachwelt als ein wesentliches Merkmal des virtuellen herausgestellt. der dumpf-passive konsument mag auf die sich gegenseitig durchdringende gegensatz-charakteristik verzichten können, was in diesem technologischen Medium, das wie selten zuvor gesellschaftspolitisch relevant wird (Berichterstattung, datenschutz, versammlungen) langfristig für die demokratie und die selbstbestimmung des individuums nicht ratsam zu sein scheint. Die virtuelle Realität zeigt durch ihre Spannungen auf gesellschaftlicher wie naturwissenschaftlicher ebene möglicherweise den künftigen weg zur allgemeinen wissenschaft des kommenden 22. Jahrhunderts auf. Mit Blick auf die Ziellinie, dem Wunsch nach ergebnisorientierten Taten und Werken, muss man das Beobachter- und Messproblem, umfassender formuliert, den ‚gegensatzcharakter des allgemeinen geschehens‘, auf seiner erkenntnistheoretischen Rechnung haben und ausbuchstabieren, d. h. buchstabieren und rechnen gleichzeitig (um im medialen Bilde zu verbleiben): „Die Verschönerung der Wissenschaft […] und so viel Unbestimmtheit, Unvernunft und Träumerei in sie einzumischen, dass man ihr ‚wie in der wilden Natur‘ und doch ohne Mühsal und Langeweile wandeln könne, – das ist kein geringer Ehrgeiz: […] womit vielleicht ein Zeitalter anhebt, das die mächtigste Schönheit gerade in den ‚wilden, hässlichen‘ Teilen der Wissenschaft



Miriam Ommeln

entdeckt, wie man seit Rousseau erst den Sinn für die Schönheit des Hochgebirges und der Wüste entdeckt hat“ (KSA, M, 3, 262). In einem neuen, echten ‚Wissens-Zeitalter‘ wäre man dann vielleicht der Erkenntnis näher als dem Wissen, da man den Wissensbegriff wissensgerecht (bedingt und durch die Virtualität hindurch), umgewertet hätte, weil: „der höchste Mensch, gesetzt daß ein solcher Begriff erlaubt ist, der Mensch wäre, welcher den Gegensatz­Charakter des Daseins am stärksten darstellte“ (KSA, NF, 12, 519).

wolfgang ernst*

medienarchäologie nach nietzsche

Friedrich Nietzsche definiert Historie als den „Versuch das Heraklitische Werden […] in Zeichen abzukürzen.“ Nietzsche weiß: Kultur hat einen historischen Index; Wahrnehmung aber operiert mit einer anderen Zeit. Nietzsche hat den Begriff des Unzeitgemäßen forciert; darin nistet zugleich eine Provokation der Medienhistorie. Nervenlaufzeiten im Menschen und Elektrizität in Medien schließen alle historische Distanz kurz. Das Denken der Aktualpräsenz von latenten Speichern enthüllt die Zeitdramatik technischer Medien wie neurobiologischer Prozesse im Menschen. Für beide wäre ein ‚Zeitsinn‘ zu formulieren, aber nicht emphatisch im Sinne der Historie, sondern physiologisch im Sinne von Sensorik (aisthesis): Zeitkritik mit Nietzsche. Schon in der vortechnischen, rhetorischen Temporalität von Sprache offenbart sich die ahistorische Zeit, nicht als Negation, sondern Alternative zur Zeit der sogenannten Geschichte, insofern sie ‚nie ruhen‘, nicht still stehen kann und nicht in der emphatischen Zeit, sondern im zeitkritischen Bereich operiert, da sie als das „in jedem kleinsten Zeitmomente Wirkende ein Verschiedenes ist“ (KSA, NF, 7, 575f.; KSA, NF, 9, 549). radikaler noch formuliert Nietzsche an anderer Stelle die nicht-lineare, mithin fraktalzeitliche Alternative zur Historie, die eine Funktion der sakkadenhaften Lektüre typographischer Texte selbst ist: „Die Zeit ist gar kein continuum, sondern es gibt nur total verschiedene Zeitpunkte, keine Linie […] Also ist jede Wirkung actio in distans, d. h. durch Springen“ (KSA, NF, 7, 578f). Das bewusst so komponierte Stück-Werk von Nietzsches Aphorismen zieht die Konsequenz daraus.

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Unter Mitwirkung von Christof Windgätter. Martin Stingelin, Historie als „Versuch das Heraklitische Werden […] in Zeichen abzukürzen“. Zeichen und Geschichte in Nietzsches Spätwerk, in: Nietzsche­Studien 22 (1993). Christof Windgätter, Medienwechsel. Vom Nutzen und Nachteil der Sprache für die Schrift, Berlin 2006, 299f. Der hier vorliegende Gedankengang operiert mit philologisch präzise recherchierten wie medienepistemologisch reflektierten Forschungsergebnissen Windgätters. Zum sprunghaften, zeitkritischen Akt der Lektüre aus medienphysiologischer Sicht: Ernst Pöppel, Grenzen des Bewußtseins. Wie kommen wir zur Zeit und wie entsteht Wirklichkeit?, Frankfurt am Main, Leipzig 2000.

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Fragen wir im Anschluss daran nach Nutzen und Nachteil der Historie für den Begriff der Medien.4 Nietzsche hat es im siebten Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft (1882) formuliert: Bisher habe all das, was dem Dasein Farbe gegeben hat, noch keine Geschichte.5 Nun wäre zu ergänzen: Es fehlte lange eine Historiographie jener Medien, die bis dahin nur im Latenzzustand der Archäologie schlummerten, verborgen am Werk der Kultur. Muss deren Erweckung im Namen von Geschichte geschehen oder verfehlt diese notwendig ihr Objekt? Nietzsches Form der Historiographie ist bekanntlich die genealogische, in dezidierter Absage an die narrativ-prosaische Form (auch eine Hegel-Kritik). Seit alters lautet die Alternative zu Geschichten: Listen, eine Schreibtechnik, der auch Nietzsche sich bedient, indem er in seinen Notizbüchern Listen über gelesene, zu besorgende, zu schreibende Bücher verzeichnet und sogar Register eines zukünftigen (freilich nie erschienenen) Gesamtwerkes angelegt hat: Historie im Modus der vergangenen Zukunft. (KSA NF, 12, 246, 419–435; KSA 13, NF, 12f., 194–211.) Nietzsches Aphorismen führen, im Unterschied zu fast allen anderen Schreibformen in der typographischen Galaxis vor dem Computer, operativ aus, was sie sagen, und sind deshalb durchnummeriert, sprich: gezählt. So hat es wahrscheinlich seinen eigenen logischen Grund, warum das, was dem Dasein Farbe oder Klang verleiht (die elektromagnetischen Wellen), so lange keine Geschichte hatte: Weil Schwingungen nicht erzählbar sind, nur zählbar, auf den Begriff der Frequenzen gebracht erst seit der frühen Neuzeit (Marin Mersenne). Medienarchäologie meint nicht schlicht ‚den‘ historischen Moment, sondern ‚das‘ Moment einer techno-logischen Konstellation. Hier unterscheiden sich (mit Michel Foucault im Gefolge) Nietzsches Genealogie und Archäologie als Methode: „Genealogy offers us a processual perspective on the web of discourse, in contrast to an archaeological approach which proved us with a snapshot, a slice through the discoursive nexus […] Beyond this, Foucault […] has suggested a three-dimensional approach, involving genealogy, archaeology and, in addition, strategy.“7 So tritt eine viel dimensionale Matrix (zu deren Paramtern auch die Zeitachse zählt) an die Stelle der bisherigen Historiographie: ohne Geschichte zu verachten, doch zurechtgerückt neben anderen Kräften im Feld der Medien. Wenn Medien, als diskursmächtiger Begriff, recht eigentlich erst die elektronischen und technomathematischen Prozesse der Übertragung, Speicherung (seit geraumer Zeit auch Berechnung) von Daten zum Zweck ihrer zeiträumlichen Kommunikation meinen, konnte und wollte Nietzsche sie auf dem historischen Stand seiner technischen Kenntnis noch kaum denken, im Sinne seiner unzeitgemäßen Betrachtungen aber epistemologisch ahnen. Sein Rückblick auf ungeschriebene Geschichte korrespondiert mit seinem 4 5

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Wolfgang Ernst, Von der Mediengeschichte zur Zeitkritik, in: Archiv für Mediengeschichte,  (2006). Martin Stingelin, Friedrich Nietzsches Psychophysiologie der Philosophie, in: Sven Dierig, Henning Schmidgen (Hg.), Physiologie und physiologische Praktiken im 19. Jahrhundert, Berlin (MaxPlanck-Institut für Wissenschaftsgeschichte), Preprint 120 (1999). Über Listen: Wolfgang Ernst, Musenmutterwerk, in: Bernhard Siegert, Peter Berz, Annette Bitsch (Hg.), FAKtisch. Festschrift für Friedrich Kittler zum 60. Geburtstag, München 2003. Phil Bevis, Michèle Cohen, Gavin Kendall, Archaeologizing genealogy: Michel Foucault and the economy of austerity, in: Economy and Society 18 (Heft 3) 1989, unter Bezug auf: Michel Foucault, L’Ordre du Discours, Paris 1971.

Medienarchäologie nach Nietzsche

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Ausblick auf eine zu schreibende Geschichte: „Prämissen des Maschinen-Zeitalters. Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prämissen, deren tausendjährige Conklusion noch Niemand zu ziehen gewagt hat“ (KSA, WS, 2, 674). Medienarchäologie ‚nach Nietzsche‘ meint also zum einen: Medienarchäologie gemäß Nietzsche; sodann aber meint ‚nach Nietzsche‘ auch jene Epoche elektromagnetischer, elektronischer und elektromathematischer Medien nach 1900, an denen ein Mediendenken mit Nietzsche chronologisch und definitionsgemäß an seine Grenzen gerät: Nietzsches Todesjahr.

Wie nicht Mediengeschichte schreiben (Genealogie mit Nietzsche) Nietzsche wagte, das Modell des Historischen infrage zu stellen. Die Frage nach Nutzen und Nachteil der Historie für einen Begriff der Medien schwingt zwischen den Zeilen seiner Differenzierung einer antiquarischen, monumentalen und kritischen Historie mit: „Da erblickt man wohl das widrige Schauspiel einer widrigen Sammelwuth, eines rastlosen Zusammenscharrens alles einmal Dagewesenen“ (KSA, HL, 1, 265). Demgegenüber zeichnet es (elektro-)technische Medien aus, dass sie nicht primär das Produkt eines Sammelns, sondern das Versammeln selbst im Vollzug sind. Alle Vergangenheit ist hier in Resonanzen aufgehoben, gleich der schwingenden Saite, die für Augen und Ohren eines Pythagoras (als Monochord) ebenso gleichursprünglich erklingt wie für die eines Mersenne und für uns heute. So sind an Medien Prozesse am Werk, die sich immerzu ereignen, invariant gegenüber dem jeweiligen kulturhistorischen Kontext, insofern sie den Gesetzen von Physik und Mathematik verpflichtet sind. Medien also zugleich historisch und unhistorisch zu denken ist die Aufgabe, die Nietzsche der Medientheorie hinterlässt. Genealogie macht die Einmaligkeit der Ereignisse unter Verzicht auf eine monotone Finalität ausfindig; „sie muß den Ereignissen dort auflauern, wo man sie am wenigsten erwartet und wo sei keine Geschichte zu haben scheinen“.8 Sie steht geradezu im Gegensatz zur Suche nach einem Ursprung: „Es geht darum, aus der Historie ein Gegen-Gedächtnis zu machen und in ihr eine ganz andere Form der Zeit zu entfalten.“9 Technische Medien tun dies längst; sie entfalten eine genuin medienarchäologische Zeit. Archäologie meint hier gerade nicht Sehnsucht nach Kenntnis des Ursprungs im historischen Sinne, sondern das Gespür für Möglichkeitsbedingungen im nicht-diskursiven Feld: der andere Sinn der altgriechischen arché.0 Legen wir Nietzsches ‚kritische‘ Historie (welche das Modell von Geschichte kaum noch intakt lässt) auf die Ebene des Zeitkritischen tiefer, was der medienarchäologischen 8 9 0 

Michel Foucault, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: Ders., Von der Subversion des Wissens, München 1974, 83f. Ders., ebd., 104. Über die arché als ‚Kommando‘: Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben, Berlin 1997 (Einleitung). Analog dazu, wie Nietzsche die (von ihm als ‚absurd‘ beschriebene) entscheidende medientechnische Operation in Richard Wagners Oper beschreibt: die „Tieferlegung des Orchesters“ (Nietzsche, KSA 14, 490); Friedrich Kittler, Weltatem. Über Wagners Medientechnologie, in: Diskursanalysen 1, Opladen 1987.



Wolfgang Ernst

Ebene zeitkritischer Prozesse entspricht. Hier entfaltet sich eine Dramatik von Ereignissen, der die Sinnesphysiologie des 19. Jahrhunderts mit dem vom Schweizer Uhrmacher Matthäus Hipp entwickelten Chronoskop zur Latenz- und Reflexzeitmessung auf die Spur kommen wollte. Eine andere, subliminale Historiographie, oder besser: Hysteriographie. Medienarchäologie vergisst im Zusammenhang damit nicht, wie non-linear sich technologische Apparaturen zu historischen Diskursen verhalten. Das Hipp’sche Chronoskop wurde ursprünglich für die exakte Bestimmung von Geschoßgeschwindigkeiten entwickelt, existierte als messmediale Praxis also vor der experimentellen Psychologie und hat auf die Verwendung oder Umnutzung in psychologischen Experimenten sicher nicht gewartet. Medienprozesse tragen einen historischen Index, indem sie unter bestimmten Bedingungen ins Werk und in die Welt gesetzt wurden: Es ist die genealogische Bestimmung von Medientechniken „etwas zu werden, das man am Anfang nicht war“. Insofern verlangen sie nach medienhistorischer Genealogie, die allein zu beschreiben vermag, wie die uns vertrauten Massenmedien (die Bildröhre des Fernsehens) als Messmedien entstanden sind (als Oszilloskop). Gibt es sie überhaupt Medien strictu sensu oder vielmehr nur das Medien-Werden von Apparaten, Symboliken, Technologien als je unterschiedliches Zusammentreffen heterogener Faktoren? Angenommen, es gäbe keine Medien in einem substanziellen und dauerhaften Sinn, sondern bestenfalls Funktionen von ‚Transformationen, die aus bestimmten Sachverhalten oder Einrichtungen Medien machen‘.14 Trifft also auf Medientheorien zu, was Alexander und Wilhelm von Humboldt für Wissenschaft allgemein definierten „als etwas noch nicht ganz Gefundenem und nie ganz Aufzufindenden“?15 Wenn dem so wäre, würde kein Radio je eine Sendung empfangen. Es gehört zum medienarchäologischen Gesetz, dass der Test aller Medien die gelungene Sendung und der Empfang sind, und dazu müssen sie aus den Prototypen in Versuchslaboren zu gültig Gewordenen wechseln. Gewiss, Medien als Objekte der Forschung befinden sich in einem Prozess permanenter Innovation; die andere Seite aber ist ihre zeitweilig technische Kanonisierung. Die technologische Infrastruktur eines Mediensystems, einmal gefunden, bleibt über lange Zeiträume stabil, ansonsten kann sie nicht massenhaft wirksam sein. Ersetzen wir die Frage nach dem Medienwerden oder die Frage, ob es Medien überhaupt gibt, durch die Feststellung, dass Medien ‚geben‘: Daten nämlich, sobald sie messend, registrierend, prozessierend, übertragend am Werk sind. Dazwischen die messtheoretische Fundierung: Sie schließt die Lücke zwischen Empirie und Theorie, zwischen Daten und numerischen Gesetzmäßigkeiten (Formeln). Solche Ersetzungen, Versetzungen, Verstellungen, Eroberungen und Umwälzungen hat Foucault in seinem Beitrag zur Gedenkschrift für seinen Lehrer Jean Hyppolite,   14 15 

Maximilian Wontorra, Apparate der frühen experimentellen Psychologie, CD-ROM (Dokumentation Wundt-Kongress). Martin Stingelin, Hubert Thüring, Sich selbst erschreiben. Wie Michel Foucault in seinen „dits et écrits“ ein anderer wurde, in: Basler Magazin, Nr. 47 vom 26. 11 1994, 6f. Joseph Vogl, Medien­Werden. Galileis Fernrohr, in: Archiv für Mediengeschichte Bd. 1 (2001), 121. Zit. nach: Marc Schalenberg, Wissenschaft als Leidenschaft. Wilhelm und Alexander von Humboldt gaben der Universität ihren Namen, in: Der Tagesspiegel, Berlin Nr. 17031 vom 22. 4. 2000, B 2. Josef Lukas, Psychophysik der Raumwahrnehmung, Weinheim 1996, 152.

Medienarchäologie nach Nietzsche

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Nietzsche, la généalogie, l´histoire, 1971 als Ereignisse bezeichnet. Der Ort, wo sich diese Ereignisse einprägen und ihre Spuren hinterlassen, ist der menschliche Körper. Er ist das wichtigste Studienobjekt des Historikers im Nietzscheschen und Foucaultschen Sinne.17 Foucault argumentiert in Überwachen und Strafen dahingehend, dass der menschliche Körper in eine Machtmaschinerie eingeht, die ihn durchwühlt, zergliedert und wieder zusammensetzt. Die Inschrift im Materiellen der Apparate bleibt von ihm dagegen weitgehend ungesagt; so unterscheidet sich die körperbetonte Genealogie von der medienbetonten Archäologie; auch Nietzsche ist mit seiner Genealogie eher ein Denker des Apparativen und Maschinellen. Nur an einer einzigen Stelle in der Archäologie des Wis­ sens vergleicht Foucault Aussagentypen mit dem Arrangement von Schreibmaschinentastaturen. Nietzsche hat anhand seiner kurzen Erfahrung mit der Schreibkugel Marke Malling Hansen18 um 1880 erfahren und beschrieben, wie die typographische Maschinerie den Körper und seine Gedanken selbst neu zusammensetzt, mithin also die Schreibmaschine zum Autor Nietzsches wurde.19

Menschen und Medien an den Grenzen zur Elektrophysiologie Nietzsche ist einerseits Kronzeuge aller Medientheorie; auf halber Strecke zu Marshall McLuhans Einsicht ‚The medium is the message‘ (Buch-Kapitel in Understanding Me­ dia, 1964) liest sich Nietzsches Brief an Heinrich Köselitz Ende Februar 1882: „Sie haben recht – unser Schreibwerkzeug arbeitet mit an unseren Gedanken“ (KGB, III 1, 172). Zu dieser kanonischen Erkenntnis Nietzsches steht das Maßgebliche geschrieben.0 Doch Schreibfeder und Schreibkugel sind Werkzeuge, die als Kulturtechniken noch der Epoche von phonetischem Alphabet und Buchdruck angehören – ‚ein‘ Ingredient dessen, was dann die symbolische Maschine namens Computer ausmacht, jene auf zwei (also binäre) Tasten reduzierte Schreibmaschine, die Alan Turing 1936 für die Berechnung alles Berechenbaren als Papiermaschine entwarf. Daneben aber emergiert im Jahrhundert Nietzsche eine neue Medienwelt, die McLuhan im engeren Sinne überhaupt erst zur eigentlichen Medienwelt erhebt: die Epoche des Elektrischen und Elektronischen. Das Werden von Medien zur Wissenschaft, wie es auf den Begriff gebracht wird, als McLuhan die Medien in den Rang eines Buchtitels erhob, geschah erst zu einem Zeitpunkt, als Medien in ihrer elektronischen Existenz (Radio, vor allem aber Fernsehen) derart eskalierten, dass sie eine eigenständige akademische Refle17 18 19

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Martin Stingelin, Hubert Thüring, Sich selbst erschreiben, 6. Dieter Eberwein, Nietzsches Schreibkugel. Ein Blick auf Nietzsches Schreibmaschinenzeit durch die Restauration der Schreibkugel, Schauenburg 2005. Christof Windgätter, Medienwechsel: „Wie nietzsche, KSB 6, 170, 186 zeigt, ist dies (SchrT S. 19) weder die erste noch die letzte Formulierung, in der ‚Schreibmaschine‘ als (Satz-)Subjekt auftritt“ (373, Fn. 159). Martin Stingelin, Kugeläußerungen. Nietzsches Spiel auf der Schreibmaschine, in: Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt am Main 1995;. friedrich nietzsche, Schreibmaschinentexte. Vollständige Edition, Faksimiles und kritischer Kom­ mentar, hg. von Stephan Günzel, Rüdiger Schmidt-Grépaly, Weimar 2002.

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xion verlangten; mit erheblicher Verspätung, aber instinktsicher haben die Universitäten darauf mit der Einrichtung entsprechender Fächer reagiert. Der qualitative Umschlag von Kulturtechniken zu elektronischen Medien aber ist einer, den Nietzsche, mit sicherem Gespür für nicht-diskursive, nicht-kulturelle Prozesse, zumindest ahnte. Steht also die Medientheorie der Gegenwart zu Nietzsche in einem historischen Verhältnis, oder ist dieses Verhältnis in anderen Figuren, die vielleicht nicht einmal mehr Geschichtsfiguren sind, zu formulieren? Medientheorien der Gegenwart stehen zu Nietzsches Denken in einem gleichursprünglichen Verhältnis, analog zum Phänomen der elektromagnetischen Induktion, auf deren Entdeckung durch Michael Faraday als Erschütterung des bisherigen Weltbilds der Diskurs der Epoche Nietzsches ebenso sensibel reagierte, wie es die elektrotechnischen Dinge nicht-diskursiv, die medienarchäologische Ebene, praktisch tun. Nietzsche liebt den Süden und das Mediterrane, doch jenseits von Griechenland spürt der gleiche Nietzsche, dass der magnetische Feldbegriff die altgriechischen epistemé unterläuft. Ein kritischer Punkt für Medientheorie: Von welchem Moment an ist philologisches, literarisches und künstlerisches Vokabular nicht nur unpassend, sondern auch hinderlich, die elektromathematische Voraussetzung der hochtechnischen Medien suchend und erfindend zu denken? Nicht in der Hermeneutik von Philosophie und Geisteswissenschaft, sondern in der Sprache der Natur- und Ingenieurswissenschaften verhandelt, lässt sich Nietzsches voluntaristisches Denken ‚elektrologisch‘ (Windgätter) rekonstruieren; seine wiederkehrende Begrifflichkeit von Strömen und Wellen erscheint in einem anderen Licht, als es der Antikenbezug oder die Deutung von Nietzsches nautischer Metaphorik auf den ersten Blick suggerieren. Eine solche Elektrologie reduzierte auch den Rhetorikbzw. Metaphernbegriff, für die Nietzsche insbesondere durch seine französisch-postmodernen Rezipienten berühmt geworden ist, nicht länger auf schlichte Körperphysiologie (Reize, Erregungen, Übertragungen). Indiz dafür ist kein reiner Begriff, sondern ein höchst medienmaterieller Indikator: das Dynamometer. Dieses Messgerät von Kraftmomenten findet bei Nietzsche 1888 pointiert Erwähnung, auch in der Hinsicht, dass es selbst die erotische Spannung zwischen Menschen buchstäblich ermessen sollte: „Die Muskelkraft eines Mädchens wächst sobald nur ein Mann in seine Nähe kommt“ (KSA, NF, 13, 526). Ermöglicht würden solche Verhältnisse durch die in Charles Férés Études expérimentales formulierte ‚induction psycho-motrice‘, ein Terminus aus der Elektro 



Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt am Main 1979. Philippe Lacoue-Labarthe, Nancy Jean-Luc, Friedrich Nietzsche. Rhétorique et langage, in: Poé­ tique, 5 (1971); Sarah Kofman, Nietzsche et la métaphore, Paris 1972; Paul de Man, Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust, New Haven, London 1979; Josef Simon, Sprache und Sprachkritik bei Nietzsche, in: Matthias Lutz-Bachmann (Hg.), Über Friedrich Nietzsche. Eine Einführung in seine Philosophie, Frankfurt am Main 1985; Claudia Crawford, The Beginnings of Nietzsche’s Theory of Language, Berlin, New York 1988; Josef Kopperschmidt, Nietzsches Entdeckung der Rhetorik oder Rhetorik im Dienste der Kritik der unreinen Vernunft, in: Ders., Helmut Schanze (Hg.), Nietzsche oder „Die Sprache ist Rhetorik“, München 1994. Christof Windgätter, Medienwechsel, 253 (Zitat Nietzsche u. Fußnote 2); ebd., 258 (Zitat Nietzsche und Fußnote 18).

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physiologie.24 Bereits der Anblick einer Geste oder Mimik reicht aus, um deren Imitation zu provozieren25: eine aisthetische Form der Induktion, wie sie die jüngste Entdeckung der Neurobiologie, die sogenannten Spiegelneuronen, affirmiert.

Die Konvergenz von Nervenzeit und Computerzeit Was die Computer der gegenwärtigen Epoche von Automaten früherer Zeiten unterscheidet, ist „die Beziehung dieser Mechanismen zur Zeit“. Als signalverarbeitende Maschinen sind sie keine trivialen Maschinen, sondern mit der äußeren Welt für den Empfang von Eindrücken und für die Verrichtung von Handlungen verbunden und entfalten im Anschluss daran eine eigene Dramatik. Sie setzen das Drama der Welt mit eigenen Mitteln, nach eigenem medialem Recht, zeitkritisch fort. Sie lassen sich dahingehend plausibel in physiologischen Ausdrücken beschreiben, weshalb Norbert Wiener sie ausdrücklich mit den Mechanismen der Physiologie in einer Theorie namens Kybernetik zusammengefasst interpretiert. Joseph Carl Robnett Licklider beschrieb 1960 den Menschen als ein lärmendes und langsames „narrow-band device“27, dessen Nervensystem aber mehrere Prozesse parallel zu prozessieren in der Lage ist. Inzwischen hat der Hochleistungsrechner den Menschen auch in dieser Hinsicht eingeholt, weil die elektronische Geschwindigkeit in den Rechner rückte. Die Schnelligkeit der Signalverarbeitung in Computern übertrifft die Sinnesverarbeitung von Menschen und vermag sie zu emulieren: gleichursprünglich im zeitkritischen Bereich namens Echtzeit. Damit kommt es zu einer neuen Form von Mensch-Maschine-Symbiose, diesmal in der Zeitphase, eine ganz und gar zeitkritische Historie. Bei Nietzsche finden sich Ansätze zu seinem kybernetischen Begriff der Organsteuerung im Nervensystem (der von Wiener formulierte ‚Servo-Mechanismus‘, den McLuhan 1964 als zentralen Begriff hochtechnischer Mensch-Medienverhältnisse aufgreift). Die Innervation „übt ihre Herrschaft über die Muskelaktion [...] wahrscheinlich ohne merklichen Aufwand einer physischen Kraft“ aus, wie überhaupt „der Kraftaufwand des Maschinisten etwas verschwindend Kleines ist. (Contakt – Einfluß der motorischen Nerven.)“. (KSA 9, 452.) Wo Nietzsche vom ‚Automatismus‘ spricht, erschöpft sich der Begriff also keineswegs im Mechanistischen. Nietzsche ist auf halbem Weg zu einer Nachrichten- bzw. Signaltheorie von ‚feedback‘ und ‚control‘; der epistemologische Scheideweg ist der zwischen Elektrologie und Elektronik. So sind Nietzsches Texte als Archiv oder Bibliothek nicht in einem rein historischen Zustand, sondern ebenso Zeitgenossen Wieners und McLuhans, wenn das Elektrische in ihnen aufblitzt. Das deutet 24

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Bernhard Siegert, Passage des Digitalen, Berlin 2003, 380f.; Christof Windgätter, KraftRäume: Aufstieg und Fall der Dynamometrie, in: Zeichen der Kraft. Wissensformationen 100 – 1900, hg. von Thomas Brandstetter, Christof Windgätter, Berlin 2007, 108–137. Charles Féré, Sensation et mouvement. Études expérimentales des psycho­mécanique, Paris 1887, 13f. Norbert Wiener, Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine, Reinbek 1968, 68. Joseph Carl Robnett Licklider, Man­Computer Symbiosis, in: IRE Transactions on Human Factors in Electronics, 1 (März 1960), 6.

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auf Wissenselemente, die sich nach dem Gesetz der Medien selbst schreiben, von ihren Verhältnissen als Wissen im Menschen bestellt werden: Medienphilosphie, aber nicht von Seiten der Philosophen, sondern der Technik. „Je crois que le monde extérieur a été créé tout simplement pour nous être une occasion de penser“ exzerpiert Nietzsche in diesem Zusammenhang André Marie Ampère (KSA NF, 9, 217); dieser hat dezidiert eine Théorie mathémathique des phénomenes electromagnetiques geschrieben. Doch es ist James Clerk Maxwell, der Nietzsche von Michael Faraday trennt, wenn es um den mathematisch (und nicht philosophisch) möglichen Begriff von Wellen und Schwingungen im elektromagnetischen Feld geht. „Zwecke sind Zeichen: nichts mehr! Signale!“ (KSA, NF 9, 263.) Bernhard Siegert unterstreicht in dem Zusammenhang, wie Nietzsche in den 1870er Jahren erkenntnistheoretisch noch mit einer rhetorischen Semiotik operiert, während in den 1880ern eine Ästhetik der momenthaften Aufmerksamkeit, der physiologischen Reaktionszeiten, mithin der Signale, an diese Stelle tritt. Die Philosophie ist im Zeitalter der elektrischen Telegraphie angekommen.28 Unsichtbare, dennoch messbare Kräfte sind in unserer Sinneswahrnehmung am Werk; Heinrich Hertz hat sie zum Radio geführt. Der menschliche Körper fungiert ebenso als Sender wie als Echo oder Widerstand (Theremin) elektromagnetischer Wellen29; Charles Férés Vermessungen ‚dynamometrischer‘ Reaktionen des Auges auf Farben signalisiert bereits die Verschiebung von statischen Modellen zur elektrodynamischen Episteme. Nietzsche, der ein Werk über die Physiologie der Kunst plante, liest es. Um der Laufzeit von Nervenreizungen zeitkritisch Herr werden zu können, musste Helmholtz von trägheitsbehafteten Messmaschinen auf elektrische Anordnungen umschalten. Der von Ètienne Jules Marey verbesserte Sphygmograph, ein Apparat zur Darstellung des arteriellen Pulses, sucht dessen Verlauf noch durch rein mechanische Übertragung auf ein Schreibwerk zeitlich getreu abzubilden; gekoppelt ist diese analoge Anordnung an ein mechanisches Uhrwerk: Puls und Zeit als Zahl im digitalen Takt. Doch zur hochempfindlichen Messung subtiler Nerven- und Hirnströme bedurfte es eines Medienwechsels hin zum Saitengalvanometer, worin die Auslenkung eines stromdurchflossenen metallisierten Quarzfadens durch ein starkes Magnetfeld zur Strommessung verwendet wird.0 Was Ampère und Hans Christian Oerstedt nur als Phänomen feststellten, wird hier zur medienaktiven Datenarchäologie: von der Vermessung des Herzschlags zur Vermessung des menschlichen Signalflusses selbst, ein epistemologischer Sprung von der Mechanik zur Elektronik. Der medizinisch noch heute vertraute Elektrokardiograph schließlich arbeitet zunächst mit einem Elektronenröhrenverstärker, dann auf Transistorbasis. Auf der Ebene der Sensoren emulieren nun Computer die menschlichen Sinne selbst: Aisthesis, die entschiedene und ebenso vermessen(d)e Akzentverschiebung 28 29

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Bernhard Siegert, Passage des Digitalen, 378. Unter dem Titel Resonanzen stand im Herbst 2005 eine Ausstellung des Zentrums für Kunst und Medientechnologie (Karlsruhe) über Körper im elektromagnetischen Feld (Städtische Galerie Karlsruhe). Entsprechende Geräte und Erläuterungen finden sich in der Historischen Instrumentensammlung am Johannes-Müller-Institut für Physiologie, Humboldt-Universität zu Berlin (Charité). Siehe Peter Bartsch (Hg.), historische instrumentensammlung. Katalog des Johannes­Müller­Institut für Physio­ logie, Bonn, Berlin 2000.

Medienarchäologie nach Nietzsche



Nietzsches gegenüber der philosophischen Ästhetik, kommt in digitaler Signalprozessierung, in der Modellierung der Physik und in granularer Synthese zum Zug. Sándor Ferenczi ahnt es, als er die psychoanalytische talking cure, noch orientiert an Sprache und Buchstabe, durch die Zahl zu ersetzen sucht und damit den Computer antizipiert. Gottfried Wilhelm Leibniz’ pétits perceptions werden hier apparativ als Unbewusstes: „Man kann nur dunkel ahnen, daß auch der einfachste Denkakt auf einer Unzahl von unbewußten Rechenoperationen beruht, bei denen vermutlich alle Vereinfachungen der Arithmetik (Algebra, Differentialrechnung) zur Verwendung kommen, und daß das Denken in Sprachsymbilen nur eine höchste Vereinfachung dieser komplizierten Rechentätigkeit bedeutet […], die aber auch von denen unbewußt geleistet wird, die nicht den geringsten Sinn für Mathematik und Logik haben.“ Der ‚Feld‘-Begriff selbst markiert die Überschreitung gegenüber dem alteuropäischen Wissenshaushalt. Nietzsche zeigt seine Sensibilität für die neue elektromagnetische epistemé, sucht sie zurückzuübersetzen ins Vokabular altgriechischer Philosophie, Mythologie und Ästhetik (statt in Mathematik). Der dionysische Rausch aber ist nur begrenzt plausibel als Analogie zu jenem Begriff von noise lesbar, wie er in der medienbedingenden Nachrichtentheorie (Claude Shannon) auf der Grundlage jener Thermodynamik (Entropiebegtriff) gilt, die zeitgleich zu Nietzsche entwickelt wurde (Ludwig Boltzmann). Das Dionysische als Metapher für Prozesse der Elektrik, der Nervenreizung und der Signalverarbeitung lenkt in seiner kulturhistorisch-humanistisch vertrauten Suggestivität eher ab denn dass es erhellt. „Für eine dionysische Aufgabe gehört die Härte des Hammers […] in entscheidender Weise zu den Vorbedingungen“ (KSA, EH, 6, 349). So steht Nietzsche im Wesentlichen immer noch in der epistéme von Maschinen und Energetik. Seine Reflexion des Hämmerns der Schreibkugel gehört noch der Gutenberg-Epoche an und macht ihn zwar zum Denker des Maschinischen, doch noch nicht zum Medienphilosophen. Nietzsche hat sich aus pragmatischen Gründen (extreme Kurzsichtigkeit) für die Schreibkugel interessiert, doch kaum für den epistemologischen Appell der Medien. Seine Texte anerkennen die epistéme des Elektrischen (vertraut seit Luigi Galvani und Alessandro Volta), übersetzen diese aber in vitalistische Metaphern der Kultur zurück. Die für hochtechnische Medien unabdingbare Methode, sie elektromathematisch zu durchdenken, bleibt an diesen Stellen versagt. Das Elektrische bei Nietzsche ist also Brücke zur hochtechnischen Medienkultur (im strengen Sinne) und Hindernis zugleich, eine Grenzlinie, janusköpfig vor- und zurückblickend, Pro- und Retention. Wo schlug Nietzsche eine Bresche zur Denkbarkeit der neuen Medienrealität, und wo wird eine Anlehnung an Nietzsche für den aktuellen Begriff der Medien hinderlich? Mit Nietzsche wie Nietzsche über Nietzsche hinaus Medien zu denken ist eine Gabe, welcher der Medienwissenschaft tatsächlich widerfuhr. Nietzsche war ein Gespür für Medienprozesse gegeben, die mit dem Vokabular der humanistischen Kultur nicht mehr 

 

Sándor Ferenczi, Das Problem der Unlustbejahung. Fortschritte in der Erkenntnis des Wirklich­ keitssinnes, in: Ders., Schriften zur Psychoanalyse, Bd. II, hg. von M. Balint, Frankfurt am Main 1982, 210; Thorsten Lorenz, Die Psyche zählt statt erzählt. Zur Entdeckung einer kinemato­graphi­ schen Mathematik der Seele, in: Jochen Hörisch, Michael Wetzel (Hg.), Armaturen der Sinne, München 1990, 264. Christof Windgätter, Medienwechsel (Kapitel Vom Apollinischen zum Dionysischen). Hier sind die Schriften Friedrich Kittlers gemeint, vor und nach seiner Kehre zu Griechenland.



Wolfgang Ernst

zu fassen sind. Wer weiß, welche Aphorismen Nietzsche noch hinterlassen hätte, wäre ihm die Epoche der Elektronenröhre noch zur Einsicht gekommen.

Fehlt die Zahl? Nietzsche an den Grenzen zum Kalkül Kybernetische Ästhetik teilt mit Nietzsche die Sensibilität für sensorische Prozesse, geht aber, in der Version Wieners, einen entscheidenden Schritt darüber hinaus, indem sie Physiologie streng mit Mathematik kombiniert: sozusagen mit Leibniz. Die Polarisierung von Nietzsches Denken bleibt zumeist auf Sprache, Leib und Historie ausgerichtet; dennoch fehlte es auch ihm nicht an einem Gespür für mathematische Präzision.34 mit einem Dynamometer ließen sich die ihn interessierenden ästhetische Empfindungen objektivieren, indem Dynamik nach Zeit in numerische Werte differenzierbar wurde: „[D]as Aufwärts in dieser Scala bedeutet jedes Wachsen an Werth: das Abwärts in dieser Scala bedeutet Verminderung des Werths“ (KSA, NF, 13, 283). Von daher auch Nietzsches Annahme, dass „eine wissenschaftliche Ordnung der Werthe einfach auf eine Zahl- und Maßscala der Kraft aufzubauen wäre“ (ebd., 282). Und überhaupt: „Alles, wofür nur das Wort ‚Erkenntniß‘ Sinn hat, bezieht sich auf das Reich, wo gezählt, gewogen, gemessen werden kann, auf die Quantität“ (KSA, NF, 12, 238). Hermann Ebbinghaus und Joseph Jastrow konstruierten tatsächlich einen Apparat, der ganz unverblümt Ästhesiometer heißt. Auch dynamometrische Daten werden nach dem Ablesen zunächst nicht verbalsprachlich, sondern mathematisch weiterverarbeitet, verrechnet zu einer Statistik von Mittelwerten als Leistungsanalysen von Individuen und Gruppen; so wird ein regelrechter Volkskörper nicht durch ideologische Erzählung, sondern durch Auszählung und Verrechnung geformt. Mathematische Kybernetik aber bleibt nicht beim Ablesen und Tabellieren von Sinnesdatenflüssen als Zahlenwerten stehen, sondern verrechnet diese algorithmisch als Rückkopplungen und Schleifen: die Bedingung der Einsicht von Modellierbarkeit des zentralen Nervensystems (deren Ausweitung McLuhan zufolge elektronische Medien sind) durch den Computer. Mit Wiener teilt Nietzsche die Einsicht in das „fundamentale Phänomen des Lebens, das der Reizbarkeit“35; zudem lebt Nietzsche schon in der Epoche elektrischer Telegraphie. Was ihm (im Unterschied zu Wiener) jedoch fehlt, ist eine Nachrichtentheorie zur Übertragung und Regelung solcher Signale im Menschen und in der Maschine. An dieser Stelle steht für Nietzsche die Kunst: „Damit es irgend ein ästhetisches Thun und Schauen giebt, dazu ist eine Physiologische Vorbedingung unumgänglich: der Rausch. Der Rausch muss erst die Erregbarkeit der ganzen Maschine gesteigert haben“ (KSA, NF, 13, 529f.). Was aber bei Nietzsche schlicht dionysisches Rauschen bleibt, kann die nachrichtentechnische Kybernetik als Beschreibung von Filtern gegenüber noise begreifen und technisch meistern. In der Vermessung des Signal-Rauschen-Abstands, den auch Michel Serres’ Kommunikationstheorie aufgreift, 34

35

Christof Windgätter, „… with mathematic precision“. On the Historiography of the Dynamometer, in: The Virtual Laboratory. Essays and Resources on the Experimentalization of Life, http://vlp. mpiwg-berlin.mpg.de/essays/data/art42, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin 2005. Norbert Wiener, Kybernetik, 32.

Medienarchäologie nach Nietzsche



wäre das Begriffspaar ‚apollinisch-dionysisch‘ dann eine Filtereinstellung. Mit mathematischer Variationsrechnung, für die schon Leonhard Euler steht, ist dann statt der ewigen Wiederkehr des Gleichen die Zukunft einer unstetigen Zeitreihe vorhersagbar. Dies verlangte die Waffentechnologie des Zweiten Weltkriegs, in dem jedes Unwissen solcher Mathematik tödlich war. Doch schon die physikalische Thermodynamik und statistische Mechanik des ausgehenden 19. Jahrhunderts brachten es, zeitgleich zu Nietzsche (Boltzmann, Josiah Gibbs), auf den Punkt einer neuen Einsicht, die mit dem altgriechischen Wissensmodell brach. In dynamischen Partikelwolken statt symbolisch geordneten Gewissheiten liegt der eigentliche epistemologische Skandal: „Die Sphärenmusik ist ein Palindrom, und das Buch der Astronomie liest sich in gleicher Weise vorwärts wie rückwärts. Wenn wir also die Planeten filmen würden, um ein wahrnehmbares Bild ihrer Bewegung zu zeigen, und den Film rückwärts ablaufen ließen, so ergäbe sich noch, übereinstimmend mit der Newtonschen Mechanik, ein mögliches Bild der Planeten. Wenn wir dagegen die Turbulenz der Wolken in einem Gewitter filmen und den Film rückwärts ablaufen ließen, erschiene er gänzlich verkehrt.“ Pythagoras’ musikmathematischer Ansatz machte in vorchristlicher Zeit immerhin berechenbar, was vorher als unkalkulierbar galt, die von Nietzsche inszenierte Opposition vom Dionysischen und Apollinischen: „Was vorher praktiziert wurde, was als Tonqualität hingenommen, wovon sich Menschen mitreißen, in ekstatischen Taumeln versetzen oder ihre Gefühle ausdrückenden, sie zugleich suggerierende, mitreißende Gestalt musikalischer fließender Bewegung erfuhren – das erscheint jetzt fassbar als Resultat fester rational-quantitativer einsichtiger Verhältnisse.“37 Was einsichtig, wird, kann theoretisiert werden: „So wurde die Musik, diese scheinbar gefühlshafteste aller Künste, die erste rationalisierte Kunst.“38 Wolfgang Heise streicht in seinem Typoskript nachträglich das ‚scheinbar‘ und stellt damit die Frage nach der Mathematisierbarkeit musikalischer Emotion. Dass es so etwas wie eine mathematische Ästhetik gibt, wird auf der Ebene des Findbuchs im Heise-Archiv selbst offenbar; dort ist sein Nachlass nämlich im System numerischer Staffelung (gleich Nietzsches Aphorismen) organisiert. Pythagoras, der eine frühe Medienästhetik entworfen hat, indem er die harmonische Ordnung der Welt (Kosmos) als Zahlenwerte begriffen hat, taucht in der numerischen Logik des Heise-Archivinventars selbst auf: „3.2.2.1.1.2.4. Pythagoras“. Heise beschreibt es: Die von Pythagoras initiierte „neue Qualität“ des menschlichen Denkens liegt in seiner „Entdeckung der Quantität“ als allgemeiner Kategorie. So werden die Zahl zur arché und die Prinzipien des Mathematischen die Prinzipien alles Seienden.39 Die Zahl ist erkenntnisführend, und so kommt es, um Heise dort fortzuschreiben, wo seine Feder mit seinem Tod abbrach, zum medienarchäologischen Kurzschluss von Pythagoras und dem digitalen Raum.40 Nun ist der Computer dasjenige Medium, das tatsächlich aus der Behauptung des Pythagoras Welt gemacht hat: insofern seine streng binären Operationen  37 38 39 40

Ebd., 54f. Wolfgang Heise, Pythagoras­Vorlesung, Typoskript im Heise-Archiv (Seminar für Ästhetik der Humboldt-Universität zu Berlin), Paginierung P12. Ebd., P13. Ebd., P 2. Wolfgang Ernst, Der anästhetische Blick? Wahrenhmung durch Medien, in: Karin Hirdina, Renate Reschke (Hg.), Ästhetik. Aufgabe(n) einer Wissenschaftsdisziplin, Freiburg i. Br. 2004.

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zumindest alles, was berechenbar ist, berechnen. Ist Mathematik das Modell oder das genuine Abbild der Welt? Nietzsche diktiert im Sommer 1873 Carl von Gersdorff seine Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne: „Alles Wunderbare […], das wir gerade an den Naturgesetzen anstaunen, das unsere Erklärung fordert und uns zum Misstrauen gegen den Idealismus verführen könnte, liegt gerade und ganz allein nur in der mathematischen Strenge und Unverbrüchlichkeit der Zeit- und Raum-Vorstellungen. Diese aber produciren wir in uns […] mit jener Nothwendigkeit, mit der die Spinne spinnt; wenn wir gezwungen sind, alle Dinge nur unter diesen Formen zu begreifen, so ist es dann nicht mehr wunderbar, dass wir an allen Dingen eigentlich nur eben diese Formen begreifen“ (KSA, WL, 1, 885).41 In diesem hermeneutischen Zirkel wirkt Natur (und damit auch Medienphysik gegenüber Medienkultur) geradezu autopoietisch. Naturgesetzte, so Nietzsche weiter, „müssen die Gesetze der Zahl an sich tragen, und die Zahl gerade ist das Erstaunlichste in den Dingen“ (ebd., 886). So gilt bis zu Anton Zeilingers Quanteninformatik auch für Nietzsche, ‚daß die Gesetze der Zahl denen der Physik entsprechen, ohne daß ein gleichursprünglicher Nachweis zu erbringen wäre‘. Nur die Natur der Zahlen ist eine andere, wenn sie die Reellen und gar Imaginären Zahlen einbezieht. Es war Immanuel Kants Zeitgenosse Leonhard Euler, welcher damit dem Geräusch und dem Knall zum Recht verhalf, als einem unharmonischen Ereignis. Nietzsche beschreibt die Berechenbarkeit solcher ästhetischen Unfälle anhand des Messgeräts: „Man kann den Eindruck des Häßlichen mit dem Dynamometer messen. Wo er niedergedrückt wird, da wirkt irgend ein Häßliches“ (KSA, NF, 13, 499), unmittelbarer Impulsdurchgang durch Mensch und Medium. Durch die aufmerksame Lektüre der Schriften Robert Julius Mayers erfährt Nietzsche von einer Welt, die mit Diskontinuitäten, Impulsen, Spannungen, aufgestauten Kräften und deren plötzlichen Entladungen rechnet42: nahe der Grenze zur Quantentheorie, jener epistemologischen Schwelle, mit der das 20. Jahrhundert anbricht. Als Nietzsche stirbt, wird dieser Gedanke bei Max Planck geboren, und für die Elektronenbahnen des Atoms ist gerade der anharmonische Oszillator zum Musterbeispiel geworden.43 Nietzsche schreibt ausdrücklich von einer Nachahmung der Zeit-Raum-Verhältnisse auf dem Boden der Metaphern. Metaphern sind bei ihm nicht nur im Sinne sprachlicher Rhetorik, sondern ebenso im Sinne von Harold Innis’ Empire and Communications (1950) gedacht: als mediale Form der Übertragung, des Transfers, der Kommunikation. „Metaphorik ist sichtbar gemachte Medialität“44 und Nietzsche denkt sie, im Diskurs seiner Zeit, bis zum Gebrauch der Telegraphie für die Analyse des Menschen sehr konkret: „Getrennte Theile des Körpers telegraphisch verbunden – d. h. Trieb“ (KSA, NF, 10, 307). Damit ist eine notwendige, aber noch nicht hinreichende Bedingung für den Medienbegriff erfüllt; die andere Seite ist die Mathematik. Eine metaphorische Mathematik aber gibt es nur, solange Erkenntnis im Medium der Sprache reflektiert wird: „An die Stelle der sprachlichen Reflexion sind heute Rechner getreten. Die Zahlen haben sich 41 42 43 44

Martin Stingelin, Das Netzwerk von Gilles Deleuze. Immanenz im Internet und auf Video, Berlin 2000, 15. Christof Windgätter, KraftRäume. Günther Ludwig, Wellenmechanik. Einführung und Originaltexte, Berlin, Oxford, Braunschweig 1969, 25. Rudolf Fietz, Medienphilosophie. Musik, Sprache und Schrift bei Friedrich Nietzsche, Würzburg 1992, 174.

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verselbständigt.“45 So sind Metaphern technomathematisch Fleisch, oder besser: Hardund Software geworden. An dieser Stelle tut Not, Medienbegriffe zu differenzieren. Maschinen sind Medien in einem zwar technischen, doch nicht hochtechnischen Sinn, und Symbolschriften (Zahlwerk, Alphabete) stellen eher Kulturtechniken denn Medien im Sinne jenes Begriffs dar, der mit McLuhan diskursmächtig geworden ist. Rechnendes Medium ist, sofern wir nicht missbräuchlich den Menschen selbst als Medium bezeichnen, erst der Computer; berechnete Medien meint die Elektronik (etwa Rundfunkfrequenzen). Das von Faraday formulierte, von James Clerk Maxwell durchgerechnete elektromagnetische Feld wird damit zum Generellen dessen, was der Fall ist.

Weber, Fechner, Wundt. Die Grenze der altgriechischen epistemé an der elektrotechnischen Medienmathematik Die unmittelbare Kommunikation zweier Signalsysteme (Mensch, Maschine) kann erst stattfinden, seitdem die Messmedien nicht mehr mechanisch, sondern elektrisch, also so schnell wie Nervenreizungen selbst sind. Die Einrichtung der menschlichen Physiologie durch elektromechanische Apparate offenbart sich beim Besuch der Versammlung von Wilhelm Wundts psycho-physiologischen Reaktionszeitmessgeräten an der Universität Leipzig 1879, das weltweit erste physiologische Versuchslabor, eine mitreißende Kombination aus Feinmechanik und Elektrotechnik. Diese Allianz von technischen Medien und menschlichen Sinnen unterläuft den Begriff der Kultur; sie vollzieht sich subliminal. In Leipzig denkt bereits Gustav Theodor Fechner das Verhältnis von Körper und Seele nicht mehr im Rahmen einer kosmischen Ästhetik der Proportionen und starren Intervalle, sondern als „Idee, das Differenzial der lebendigen Kraft zum Maß der geistigen Intensität zu machen, indem ich nicht mehr den absoluten, sondern den verhältnißmäßigen Zuwuchs in Betracht zog“, resultierend in der logarithmischen Eingebung, „daß, wenn die lebendge Kraft durch Summation ihrer absoluten Zuwüchse von einem bestimmten Anfangswerth entsteht, auch wohl die Seele die zugehören verhältnißmäßigen Zuwüchse summiren werde“.46 Gottlob Friedrich Lipps veröffentlichte zwei Briefe von Wilhelm Weber an Fechner über das psychische Maß.47 Im ersten Brief (Göttingen, 12. 12. 1850) macht Weber einen Unterschied zwischen der Modellierung (psycho-)physischer Vorgänge durch mathematische Größen (die mathematischen Operationen zugänglich werden), und ihrer tatsächlichen Messung. Und dann im Geiste Joseph Fouriers ein Gedanke zu petits perceptions, subliminaler, nur noch medienarchäologisch zugänglicher, weil messbarer Wahrnehmung, und Modulation von hochfrequenten durch niederfrequente Signale. Das Zusammenwirken innerer und äußerer Kräfte beruht demnach auf Superposition: „Kleine von außen erregte Wellen, welche für sich unter der Schwelle des Bewußtseins bleiben würden, können, durch die aus dem Innern stammende Grundwelle 45 46 47

Martin Stingelin, Das Netzwerk von Gilles Deleuze, Berlin 2000, 16f. So notiert er in sein Tagebuch September/ Oktober 1850. 57. Bd. Berichte über die Verhandlungen der Königl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, Math. Phys. Cl., Leipzig 1905, Sitzung vom 3. 7. 1905.



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getragen, über die Schwelle des Bewußtseins steigen und dann verschiedene Nummern der Empfindungsgrade und verschiedene Empfindungsraten hervorbringen.“ Es folgt die mathematische Formulierung (also Formel) der Differentiation dieser Intensitätsgrade von Empfindungen; Brief II schließlich (15. Januar 1851) betont diese Differenz zwischen gedachter theoretischer Gradation und einer wirklichen Messung. In hochtechnischen Experimentalanordnungen wie Wundts Vermessung menschlicher Reaktionszeit bei akustischer Reizung in den späten 1890er Jahren wird der Mensch von den Medien selbst ‚gestellt‘.48 Solche Messapparaturen operieren im selben Medium wie jene Elektrizität, durch die Signale im Nervensystem übermittelt werden.49 Die Erregungsgeschwindigkeit und Laufzeit von neuronalen Reizen wurden mit einer der Elektrizität selbst entsprechenden Methode des ‚zeitmessenden Stroms‘ (Claude-Servais-Mathias Pouillets Galvanometer) visualisiert. Wundt interessierte zunächst primär die menschliche Psycho-Physiologie50; unter der Hand aber manifestiert sich nolens volens ein anderes, emergierendes Regime, sichtbar in jeder elektromagnetischen Spule an seinen Instrumenten, die, um zeitkritisch zu werden, der Geschwindigkeit (d. h. Trägheitsreduktion) der Elektromechanik selbst bedürfen: Bruch mit dem Vitalismus des Geistes, Anbruch der Medienkultur. Schreibt Wundt in den 1860er Jahren im Zusammenhang mit seinen Zeitmeßanordnungen noch von der ‚Geschwindigkeit der Gedanken‘ und der ‚Willenszeit‘, heißt es in den 1890er Jahren mit dem von Sigmund Exner übernommenen Begriff ‚Reaktionszeit‘.51 Psyche und Geist selbst werden zeitkritisch. Der Mensch wird damit als signalverarbeitendes Wesen gestellt: die Vermutung der Kybernetik avant la lettre. Wundts hochpräzise kalibrierten Apparate bringen ein anderes Menschenbild hervor, mit dem Nietzsche bereits kommuniziert. Wundts Vermessungen der Aufmerksamkeit gegenüber elektrischer Funkengeschwindigkeit oder zur Lokalisierung von Geräuschen entbergen den Menschen mit medienarchäologischen Mitteln als Signaltier.52 Arthur Schopenhauer formuliert die Desintegration der Wahrnehmung in ihrer zeitkritischen Zuspitzung und vergleicht die Natur der subjektiven Aufmerksamkeit mit einer „Laterna magica, in deren Fokus nur ein Bild zur Zeit erscheinen kann und jedes […] bald verschwinden muß“53; schon Gotthold Ephraim Lessing erkannte die optische Wahrnehmung als zeitkritischen, neuronalen Prozess: „Unsere Sinne verrichten diese verschiedene [sic] Operationen mit einer so erstaunlichen Schnelligkeit, daß sie uns nur eine einzige zu sein bedünken.“54 48 49 50 51

52 53

54

Wilhelm Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, 3 Bde., Leipzig 1908ff. Emil du Bois-Reymond, Untersuchungen über tierische Elektrizität, 1848 (Bd. 1), 1849–1860 (Bd. 2). Wilhelm Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, Leipzig 1874. Sven Dierig, Physiologie und Psychologie im Kontext. Labor, Stadt, Technik, in: Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (Hg.), Preprint 120 (1999): Workshop Physiologische und psycho­ logische Praktiken im 19. Jahrhundert. Ihre Beziehung zu Literatur, Kunst und Technik, 27. Eine entsprechende Genealogie des Computerspiels schreibt Claus Pias, Computer­ Spiel­Welten, Wien 2002. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, II, 1, in: Ders., Werke in zehn Bänden, Zürich 1977, 159f. (zit. nach: Jonathan Crary, Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt am Main 2002, 52. Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, Stuttgart 1987, 123.

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Das medientechnisch festgestellte Tier: Aisthetisches recording Entscheidend ist auch in Helmholtz’ Versuchen zur Vokalanalyse, dass die sinoidalen Stimmgabelschwingungen durch Elektromagneten erregt werden: eine Eskalation von epistemologischer Dimension, nämlich die von Anthropologie zu Medientechnik. Damit rückt nicht mehr nur Physiologie als Möglichkeitsbedingung für Ästhetik, sondern Elektrophysik als Möglichkeitsbedingung für Physiologie modellbildend in den Vordergrund. Auch Nietzsche widerfährt dieses Gespür, ohne dass er sich explizit mit Faraday und Maxwell auseinandersetzt. Das elektromagnetische Feld, die Induktion, ebenso wie die Analysis in der Mathematik brechen mit der Herkunft alteuropäischen Wissens. Hier liegt die Chance aller Medienwissenschaft, am Schnitt (und nicht schon mit seiner damit diskontinuierten Vorgeschichte) anzusetzen. In dem Moment, wo ein elektrotechnisches Artefakt in Kombination mit einem logischen Kalkül die natürlichen Vorgänge zu modellieren erlaubt, setzt der medienwissenschaftliche Begriff ein. Helmholtz beschreibt die medienarchäologische Ebene in seiner Lehre von den Tonempfindungen ausdrücklich ‚als Grundlage für die Theorie der Musik‘ 1863: „Die mathematische Theorie und mannigfaltige Versuche mussten sich zu dem Ende gegenseitig zu Hilfe kommen“; menschliche Sinneskanäle werden nicht mehr, wie in der Zeit des mechanistischen Weltbilds, durch Apparate imitiert, welche den menschlichen Sinnesorganen nachgebaut sind, sondern nach eigenen mathematischen und experimentalphysikalischen Methoden konstruiert; audiovisuelle Medien werden zu Einrichtungen nach eigenem medialen Recht. Helmholtz nennt nicht von ungefähr die „sogenannte Sirene“ als Toninstrument, „welches durch seine Construction es möglich macht, die Zahl der Luftschwingungen, die den Ton hervorgebracht haben, direct zu bestimmen“55: kein frauenähnliches Wesen mehr, sondern eine dünne Scheibe aus Blech, welche schnell rotiert werden kann, so das durch die in gleichen Abständen eingestanzten Löcher gepresste Luft je nach Umdrehungsgeschwindigkeit verschiedene Tonhöhen erzeugt. Erst im Vollzug wird es zum Medium, das Töne wirklich hervorbringt. Wo der Mensch mit den physikalischen Phänomenen schwingt, wird er selbst zum Analogrechner. Damit wird ästhetische Empfindung nachrichtentechnisch formulierbar. Ernst Kapp beschreibt 1877 die durchgängige Parallelisierung von Telegraphensystem und Nervensystem von Seiten der Wissenschaft sowie den „Telegraph auf der Schwelle, wo der Mechanismus sich vom sinnlich Greifbaren mehr und mehr entfernend, je nach der Feinheit des verwendeten Stoffes zur durchsichtigen Form des Geistes wird“56, womit er exakt die medienarchäologische Ebene des Transition von Elektromechanik und -physik zu Sinn(es)physiologie, dem Reich des Kulturellen, beschreibt. Seine Referenz ist eindeutig; bereits Helmholtz hatte Nerven mit Telegraphendrähten verglichen: „Ein solcher Draht leitet immer nur dieselbe Art elektrischen Stromes, der bald stärker, bald schwächer oder auch entgegengesetzt gerichtet sein kann, aber sonst keine qualita55 56

Hermann von Helmholtz, 1863, 21. Ernst Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten, Braunschweig 1877, kommentiertes Inhaltsverzeichnis zu Kapitel VIII, Der elektromagnetische Telegraph, xi.

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tiven Unterschiede zeigt.“57 Es wurde als der Index des Realen empfunden, was sich da, im Unterschied zu bisherigen symbolischen Schrift- und Bildnotationen, ‚zeigt‘, oder zugespitzt formuliert: zeitigt, denn was sich hier zeigt, zeigt sich in seiner zeitkritischen Dimension. Somit wird als Ursache von Nervenreizung nicht mehr (wie in der elektrogalvanistischen Frühphase der Physiologie um 1800) eine Lebensenergie unterstellt, wie sie Johannes Müller noch bemühte, sondern in einem dramatischen, vom Stand derzeit aktueller Nachrichtenübertragungsmedien induzierten Paradigmenwechsel eine Epistemologie des Signals (also der Information) entwickelt.58 Medienarchäologie untersucht Medien dementsprechend nicht auf der Ebene ihrer Semantik, sondern auf der Ebene des Zustandekommens von Signalen, der aller Kommunikation vorgelagerten operativen Vollzugsebene. Der seit Euler eingeforderten Realität des Mathematischen folgte die konkrete Realität des Technologischen.59 Dies aber kann nicht ohne Konsequenzen für die Geschichtsschreibung technischer Medien sein, deren neue Episteme auch eine andere Beschreibung fordert und schon selbst praktiziert: Sind Kulturtechniken wie die Schrift die Übersetzung von Welt in den symbolischen Raum gewesen, so praktiziert Medientechnik die Einschreibung ihrer Dynamik selbst (kinematographisch, grammophon, elektronisch, rechentechnisch). Der davon hervorgerufene Eindruck von Unmittelbarkeit (dem die Entdecker der Photographie ebenso verfielen wie die frühen Physiologen) verlagert die Einschreibung auf die apparative Vermittlung selbst: technische Schriften. Hier stoßen wir auf das medienarchäologische Stratum, insofern diese Ästhetik auf Impulsen und Signalen, nicht immer schon auf semiotisierten Zeichen beruht – das, was Martin Carlé „Signalmusik“ nennt, die Fusion von ‚Gestalt‘ und computing.0

Die ganze Differenz: die Elektronenröhre Die Kurven am Kymo- und Ergographen sind das Eine (nämlich noch eine Form von BildZahl-Schrift. Oszillographische Signalverläufe aber sind das Andere): Funktionen von elektromagnetischer Induktion. Nietzsche gehört noch ins 19. Jahrhundert, in die Epoche des Kraft-Begriffs; das Dynamometer als psycho-physiologisches Meßinstrument ist seinerseits dem Dampfdruckindikator von James Watt (um 1800) entlehnt. Elektronik aber weist ins Reich wohldefinierter Medien, die Steuerbarkeit des freien Elektronenstroms, manifest in der Vakuum-Elektronenröhre, ein Geschehen, worin Gravitation nicht als eine Kraft anzusehen ist, sondern auf der Geometrie der Raum-Zeit beruht (Erwin Schrödinger) und Elektrizität selbst an ihre Stelle tritt. Erst die Elektronenröhre ermöglichte 57 58

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Hermann von Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik, Braunschweig 1913, 245. Wolfgang Hagen, Gefühlte Dinge. Der Oralismus im Effekt des Elektrischen als die Entdeckung der Telefonie, in: Stefan Münker, Aleander Roesler, Telefonbuch. Beiträge zu einer Kultureschichte des Telefons, Frankfurt am Main 2000. Martin Donner, Medienepistemologische Konsequenzen der Fourier­Analyse, www.medienwissenschaft.hu-berlin.de. Martin Carlé, Signalmusik MK II. Eine zeitkritische Archäologie des Technosystems QRT, Berlin 2006. Conrad Matschoss, Die Entwicklung der Dampfmaschine, 2. Bd., Berlin 1908, 681.

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die wirklich trägheitslose Vermessung von Nervenvorgängen. Edgar Douglas Adrians Werk The Mechanism of Nervous Action. Electrical Studies of the Neurone62 erforscht die Übertragung von Information im Nervensystem durch elektrische Signale, also die endogene Produktion von audio-visuellen Sinnesdaten. Hier kommt die analytische Seite der Elektronenröhre ins Spiel: nicht als Interface (jene Bildröhre, in welche Fernsehzuschauer gucken), sondern als die Möglichkeitsbedingung von modernem Radio und Fernsehen (die im Chassis des Apparats ‚verborgene‘ Seite, der Grund im Unterschied zur Figur, um eine Unterscheidung McLuhans aufzugreifen). Dieses Wissen kommt als visuelles erst zustande mit dem Oszillographen: „The history of electrophysiology has been decided by the history of electric recording instruments.“ Als Edgar Adrian im Dezember 1932 seine Nobelpreisvorlesung hielt64, widmete er sich vor allem dem zeitkritischen Aspekt der Signalübertragung im Nervensystem, ein von den Messmedien selbst generiertes Wissensobjekt. So schließt sich der epistemologische Verbund von Objekt und Subjekt des Wissens zum geschlossenen Schaltkreis, wie ihn Nietzsche einmal ahnte: „Die Hand des Klavierspielers, die Leitung dorthin und ein Bezirk des Gehirns bilden zusammen ein Organ (welches sich abschließen muß, um sich stark contrahiren zu können)“ (KSA, NF, 10, 307). Damit hat Nietzsche „bei allem Pathos für seine Physiologie der Übertragungen auch deren technischen Begriff zumindest angedeutet“.65 ‚Denis d’or‘ nannte Procopius Divisz ein von ihm 1730 erfundenes Tasteninstrument mit einem Bezug von 790 Saiten: „Dies Instrument gestattete 130 Veränderungen, worunter die Klänge fast aller bekannten Saiten- und Blasinstrumente vertreten waren, und selbst auch lose Scherze, wie z. B. der, dass den Spieler, so oft es dem Erfinder oder Besitzer beliebte, ein elektrischer Schlag überraschte.“ Ein entsprechender Kommentar kommt Nietzsches Klavierästhetik nahe, der an der Elektrizität den Stromschlag, nicht die Option von Medienmusik entdeckt: „Für eine geschichtliche Verankerung der Elektrizität in der Klangerzeugung ist das Denis d’or nicht geeignet, sieht man von den klanglichen Resultaten ab, die der durch den elektrischen Schlag erschreckte Spieler unfreiwillig zustande brachte.“67 War Nietzsche auf dem Weg, nicht nur der erste „mechanisierte“68, sondern auch der erste elektrifizierte Philosoph zu sein? Er war buchstäblich auf dem Weg dazu: nicht weniger und nicht mehr. Am 14. 11. 1881 schreibt er an Overbeck: „Ich hätte in Paris bei der Elektrizitäts-Ausstellung sein sollen“ (KSB, 6, 140).69 Die harte Grenze, die erst zu einer wirklichen Definition derjenigen Medien gereicht, wie sie diskurs- und kulturmächtig ge  64 65  67 68 69

London (Milford) 1932, wiederaufgelegt 1959. Ebd., 2. The Activity of the Nerve Fibres, in: Nobel Lectures, Physiology or Medicine 1922–1941, amsterdam 1965; http://nobelprize.org/medicine/laureates/1932/adrian-lecture.html. Christof Windgätter, Medienwechsel, 358. Hermann Mendel, Musikalisches Conversations­Lexikon. Eine Encyklopädie der gesammten musi­ kalischen Wissenschaften für Gebildete aller Stände, Bd. 3, Leipzig 1872f., 110. Peer Sitter, Das Denis d’or: Urahn der ‚elektroakustischen‘ Musikinstrumente?, pdf-Datei unter http://www.uni-koeln.de/phil-fak/muwi/fricke/303sitter.pdf, 305. friedrich kittler, nietzsche, der mechanisierte philosoph, in: kultuRRevolution. zeitschrift für ange­ wandte diskurstheorie, 9, 1985. Christof Windgätter, Medienwechsel, 282f. (Fußnote 86).

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Wolfgang Ernst

worden sind, verläuft zwischen Elektrizität und Elektronik (an deren Präzision es selbst McLuhan ermangelt). So ist das Messmedium die Botschaft: Adrian setzt mit elektronischen Medien ein Werk fort, das Helmholtz als ‚Methoden kleinste Zeittheile zu messen und ihre Anwendung für physiologische Zwecke‘ 1851 formuliert hatte. 1906, also wenige Jahre nach Nietzsches Tod, wird die zwiefach durch Lee de Forest und Robert von Lieben entwickelte Elektronenröhre zum Protagonisten. Was sie entdeckt, ist Musik im Nervensystem. Die Anspannung eines Muskels, heißt es bereits bei Marey, erzeugt Geräusche („certain bruit“), hervorgerufen durch ein Zittern von 32–35 Vibrationen pro Sekunde. Marey schreibt daher von „la tonalité des muscles“, die er mit einem „myographe plus sensible“ aufgezeichnet habe.70 Sonifikation als mediale Form akustischen Wissens heißt71 vor diesem Hintergrund, temporale Phänomene durch ein ebenfalls temporales Medium aufzuzeichnen.72„The revolution in technique has come about […] from the use of the thermionic valve to amplify potential changes. […] In all the sense organs which give a prolonged discharge under constant stimulation the message in the nerve fibre is composed of a rhythmic series of impulses of varying frequency.“73 Bei einem ganz speziellen rhythmo-dynamischen Bezug der Geschlechter zueinander, nämlich im Tanz, nimmt die messbare Kraft, so Nietzsche, zu (KSA, NF, 13, 526). Doch Elektronik geht über diesen Aspekt von Nietzsches dionysischer Metaphorik hinaus; ihre Option liegt darin, erstmals die Bewegungsereignisse selbst (die kinematische Indexikalität) registrieren zu können, weil die Geschwindigkeit der Elektronik menschliche Sinnesverarbeitung noch unterläuft. Um dies zu begreifen, reicht Philologie nicht hin: „Wir müssen zunächst den Mechanismus kennen, nach dem sich die Elektronen ‚zu gemeinsamen Tanze ordnen‘.“74 P. S.: Die Verschränkung von Zeit und Zahl im Medium. Nietzsches grammophonischer Appell Das durch Angelo Mosso zum Ergographen kritisch fortentwickelte Dynamometer basiert auf dem Dispositiv des Kymographen. Hier werden Messergebnisse in Form von Kuvendiagrammen, nicht mehr in Zahlenwerten abgelesen. Graphische Operationalität speichert die Signalflüsse sofort, nicht erst nachträglich als Aufzeichnung in Tabellen. 70

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Étienne-Jules Marey, Du mouvement dans les fonctions de la vie. Leçons faites au Collège de France, Paris 1868, 213f.; Soraya de Chadarevian, Die „Methode der Kurven“ in der Physiologie zwischen 150 und 1900, in: Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 150/1950, hg. von Hans-Jörg Rheinberger, Michael Hagner, Berlin 1993, 47. Axel Volmar, Die Anrufung des Wissens. Eine Medienepistemologie auditorischer Displays und auditiver Wissensproduktion, in: Jens Schröter, Tristan Thielmann (Hg.), Display II: Digital. Navi­ gationen: Zeitschrift für Medien und Kulturwissenschaften, , 7. Jg., Nr. 2, 2007. Ein treffender Gedanke in Christof Windgätter, ZeitSchriften. Eine Revolution der Experimentalkul­ tur im 19. Jahrhundert, in: Axel Volmar (Hg.), Zeitkritische Medienprozesse, Berlin 2008, Fußnote 37. Edgar Adrian, Nobelpreisvortrag vom 12. 12. 1932: The Activity of the Nerve Fibres, in: Nobel Lec­ tures, Physiology or Medicine 1922–1941, Amsterdam 1965; http://nobelprize.org/medicine/laureates/1932/adrian-lecture.html. H. G. Möller, Über die Frequenz der Barkhausenschwingungen, in: E.N.T. 1930, Heft 11, 411.

Medienarchäologie nach Nietzsche



Der Unterschied ist ein medienepistemologischer: Das Dynamometer verwandelt analoge Bewegungen in Zahlenwerte auf einer diskreten, disjunkten Skala, während der Ergograph die graphische Methode vollzieht und mit der Kinematographie bzw. ChronoPhotographie als Messinstrument endet. Die Ermüdungskurven verschränken Zahl und Schrift differential, also analytisch im Sinne der gleichnamigen Mathematik. Gewiss, der Ergograph ist noch nicht zeitkritisch, insofern seine Kurven ganz vertraut im wahrnehmbaren Bereich sich zeichnen. Auch Buchstabenschrift lebt davon, zumeist zeitunkritisch zu sein (sofern nicht als Morsecodes im Kriegsfall). Anders sieht dies aus, wenn Buchstaben als Frequenzen erscheinen und dieser Klang selbst berechenbar wird. Hier ist der Moment, wo eine Medienarchäologie mit Foucault nicht weiterkommt: er analysiert Aussagen nicht auf dieser mikrophysikalischen Ebene. Nietzsche selbst formuliert jenen Blick, der vielmehr das Privileg technischer Medienoptik ist: „Diese perspektivische Welt, diese Welt für das Auge, Getast und Ohr sind sehr falsch, verglichen schon für einen sehr viel feineren Sinnen-Apparat […] Je tiefer man hineinsieht, um so mehr verschwindet unsere Werthschätzung“ (KSA, NF, 11, 146). Kurvenschreiber machten jene flüchtigen Prozesse sichtbar und zum langsamen Analysieren speicherbar: Artikulationen des Lebens als eine Funktion nicht nur der makrohistorischen, sondern auch der subliminalen Zeit. Jede Ergographie ist als solche eine Kritik (oder Abkürzung) von Historiographie. Im Medienverbund aus Zahl, Schrift und Bild erzeugt sie Zeichen der Zeit. Nicht zufällig spricht Marey von seinen Apparaten als „microscope[s] du temps“.75 Nietzsche hat eine kritische Historie, also eine kritische Reflexion makrozeitlicher Prozesse gefordert. Tatsächlich aber rückt diese Forderung durch Messmedien in den zeitkritischen Bereich, gekoppelt an eine wahrhaft mediale Historiographie. Die graphische Methode generierte die Vorstellung von Lebens- als Schwingungsprozessen, vertraut aus der musikalischen Akustik seit Mersenne und Joseph Sauveur. Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik ist ins Zeitkritische der Sinneswahrnehmung verlegt; Marey hat seine Methode ausdrücklich am Vorbild musikalischer Notationen in Verbindung mit kartesianischer Geometrie entwickelt.76 Mit dem Phono(auto)graphen Léon Scotts schlugen diese Messschreiber in das Wunder der Speicherung menschlicher Stimmakustik selbst um. Nietzsche zum einen ist eine Adresse im Gedächtnis, ein Schlagwort im Inventar des Archivs, ein Name im Katalog der Bibliotheken. Zwar schlägt schon im Moment der buchstäblichen Lektüre der Nietzsche-Textmonumente die unverwechselbare enar­ geia des Autors Nietzsche durch: Sie scheint durch, aktualisiert im quasi-Medium des lesenden Menschen, ein Prozess, der in der Tat eine vergegenwärtigende Abkürzung der historischen Distanz im Akt des Lesens darstellt. So überträgt sich ein Denken auf ein anderes. Doch es gibt eine neue, medientechnische Bedingung von Übermittlung im Unterschied zu den klassischen Kulturtechniken der so genannten Tradition. Der Unterschied philologischer (lesender) Hermeneutik zur Aktualzeit von Medien liegt darin, dass erstmals eine ferne Stimme ohne die geborgte Stimme des (laut oder verinnerlicht) lesenden Menschen zu ertönen vermag, aus dem organlosen Körper des Apparats, je75 76

Étienne-Jules Marey, La méthode graphique dans les sciences expérimentales et particulièrement en physiologie et en médicine, Paris 1878, XII. Ders., Du mouvement dans les fonctions de la vie, 11f., 93.



Wolfgang Ernst

derzeit gleichursprünglich und (anders als die non-linearen Lektüren des menschlichen Auges) im Gleichklang. Stephen Greenblatt beschreibt zu Beginn seiner Verhandlungen mit Shakespeare den für alle (Kultur-)Historiker charakteristischen phantasmatischen ‚Wunsch, mit den Toten zu sprechen‘. Auch das heißt, anders gelesen, arché­au­logie: toten Texten eine Stimme abringen zu wollen. Doch dieses eines virtuellen Dialogs ist nichts als das Echo unserer eigenen Stimme. Vernehmen wir Nietzsche aus diesem off: „Niemand redet mit mir als ich selbst, und meine Stimme kommt wie die eines Sterbenden zu mir! Mir dir, geliebte Stimme, mit dir, dem letzten Erinnerungshauch alles Menschenglücks, laß mich nur eine Stunde noch verkehren, durch dich täusche ich mir die Einsamkeit hinweg und lüge mich in die Vielheit der Liebe hinein, denn mein Herz sträubt sich […] und zwingt mich zu reden, als ob ich Zwei wäre“ (KSA, NF, 7, 460).77 Samuel Becketts Einakter Krapp´s Last Tape hat dieses akustische Spiegelstadium, die Konfrontation eines alternden Individuums mit seinen frühen Tonband-Tagebuchaufzeichnungen, als Medientheater dramatisiert. Hier manifestiert sich jene ungeschriebene, weil vom Alphabet kaum fixierbare Historie, nach der Nietzsche verlangt. Vom Vokalalphabet zur Phonographie: „Für Nietzsche waren nicht das Wort, sondern der Ton, die Tonstärke, die Modulation und das Tempo, also die Musik hinter den Worten, das kommunikativ Wesentliche“78, also die dionysischen Amplituden der Nadelschrift eher denn musikalische Semantik. Doch leider ist keine Edison-Walze mit Nietzsches Stimme überliefert (es sei denn, sie schlummert in einem verborgenen Archiv). Seit 1877 ertönt die menschliche Stimme von Phonographen, der konsequenten Fortschreibung des Kymographen. Als Nietzsche stirbt, wird Elektrizität selbst zum Ton (das Dynamophon von Thaddeus Cahill, um 1900). Um die Peripathie von der Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik zur genuinen Medienmusik aus der Praxis der Elektroakustik zu vollziehen, muss das philologische Paradigma verlassen werden zugunsten eines Studiums der Elektrotechnik; dazwischen erneut Nietzsche, der sich zwar für Physiologie und Elektrizität, nicht aber für das Medienwerden derselben interessiert hat. Am Ende grüßt Nietzsche uns, seine Leser, in einem telephonischen Appell: „Ihr wißt, […] wie viel mehr ich wollte – nämlich ein elektrisches Band über ein Jahrhundert hin zu spannen, aus einem Sterbezimmer heraus bis in die Geburtskammer neuer Freiheiten des Geistes“ (KSA, NF, 8, 480). Damit beschreibt sich Nietzsche bereits als elektrische Schrift, mithin als Magnetton, avant la lettre in jedem Sinne, alle Philologie und ihr Medium (das phonetische Alphabet) nicht nur phonographisch, sondern im elektromagnetischen Feld unterlaufend. 1888 veröffentlicht der Maschinenbauer Oberlin Smith in The Electrical World seinen Aufsatz Über einige mögliche Formen des Phonographen als Fortschreibung von Thomas A. Edisons mechanischer Schallaufzeichnung: „Ein Elektromagnet soll einen magnetisierbaren Tonträger, z. B. einen Seidenfaden mit eingewebten Stahldrahtstücken, im Rhythmus der von einer Membrane aufgefangenen und in elektrische Ströme umgewandelten Schallwellen magnetisieren. Bei der Wiedergabe sollen 77 78

Zit. als Motto in: James Miller, Die Leidenschaft des Michel Foucault, 1995, 19. Harro Zimmermann (Rez.), Partitur des vielstimmigen Lebensorchesters, zu: Reinhart Meyer-Kalkus, Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001, in: Sonderbeilage: Die Zeit, Nr. 25, Juni 2002, 18.

Medienarchäologie nach Nietzsche



dann umgekehrt die magnetischen Impulse elektrische Ströme erzeugen und diese wiederum eine Lautsprechermembrane in Schwingungen versetzen.“79 In diesem elektrischen Kurzschluss zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird aus der historischen Distanz ein induktives Verhältnis. Mediengedächtnis, wie es Nietzsche vorschwebt, erzeugt so eine eigentümliche Präsenz der Vergangenheit auf dem Niveau der Sinneswahrnehmung: ein ungeheurer Choque für die am Begriff der Historie trainierten Philosophien der Zeit des Symbolischen zugunsten einer Zeit des Realen, die den elektronischen Medien eignet. Der Bruch verläuft Ende des 19. Jahrhunderts ebenso durch Nietzsche hindurch wie zwischen Phonograph und Magnetton.

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Zit. nach: Friedrich Naumann, Vom Akakus zum Internet. Die Geschichte der Informatik, Darmstadt 2001, 127.

stephan braun

nietzsches ‚wende zur schrift‘ selbstbezüglichkeit, performanz, remediation

i im abschnitt Schrift und Telekommunikation von Signatur Ereignis Kontext referiert Jacques derrida das gängige verständnis von schrift als einem ‚kommunikationsmittel‘: wenn die menschen schreiben, so deshalb, „weil das, was sie zu kommunizieren haben, ihr ‚denken‘, ihre ‚ideen‘, ihre ‚vorstellungen‘ (représentations) sind. das vorstellende denken (la pensée représentative) geht der kommunikation voran und leitet die kommunikation, die die ‚idee‘ und den bezeichneten inhalt transportiert“. diese vulgäre auffassung von kommunikation vergisst hierbei, dass die übertragung als solche immer auch eine voraussetzung der medien ist. schließlich ist die metapher die bedingung der übertragung und die übertragung selbst: „das meta-phorein ist gleichsam das vor-gängige und un-mittelbare vor den mittelhaften werkzeug- und zwecksetzungen, denen die medien als mittel dienen.“ die vorstellung von dem, was Jahrhunderte lang für ein medium gehalten wurde, dass die sprache „als Mitte zwischen vorhandenen subjekten wie als Mittel ihrer Verständigung funktioniert; dass also gedanken durch wortgebrauch ihre stelle wechseln können: von kopf zu kopf, von den intentionen eines senders zu den interpretationen eines empfängers“, wird so schon bei friedrich nietzsche fragwürdig. im nachgelassenen text Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne von  wird zunächst jene sicher geglaubte differenz zwischen begriff und metapher, die dem modell der reibungslosen vermittlung zwischen sender und empfänger zugrunde 

 

Jacques derrida, Signatur Ereignis Kontext, in: ders., Limited Inc., wien 00, . die traditionelle, tonangebende philosophische interpretation der schrift laufe darauf hinaus, sie als überträger zu sehen, dessen reichweite technisch erweitert werden könne, ohne dass die „integrität des sinns“ in mitleidenschaft gezogen wird: „der sinn, der inhalt der semantischen botschaft würde durch unterschiedliche Mittel, technisch stärkere vermittlungen, über eine sehr viel größere entfernung hinweg übertragen, kommuniziert werden“ (ebd., ). georg christoph tholen, Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, frankfurt am main 00, . christof windgätter, Medienwechsel. Vom Nutzen und Nachteil der Sprache für die Schrift. berlin 00, ; siehe zudem seine lektüre der seiltänzerszene in der Vorrede von Also sprach Zarathu­ stra, die er als in-szene-setzung des scheiterns von kommunikation liest (ebd., ff.).



Stephan Braun

liegt, problematisch. im kontext der gesetzgebung der sprache gerät hierbei das material der sprache in den blick, denn schließlich ist der bau der sprache aus metaphern und begriffen zusammengesetzt, wobei diese nichts anderes als verblasste metaphern seien. der mensch bewegt sich demnach immer schon und immer zu in einem netz, an dem er, je nach künstlerischer Gestaltungskraft, mitwirkt, in einem Geflecht, das seine möglichkeiten zu denken und zu schreiben bedingt und begrenzt. derrida zieht hieraus die konsequenzen: „nietzsche ist im gewebe des textes ein wenig verloren, wie eine spinne, dem ungleich, was durch sie entstanden ist: ich sage mit bedacht wie eine spinne oder wie mehrere spinnen.“ der ausweg aus der verlorenheit (aus diesem Quasi-transzendental) ist die künstlerische daseinsweise; aus diesem grunde redet der freigewordene intellekt „in lauter verbotenen metaphern und unerhörten begriffsfügungen, um wenigstens durch das zertrümmern und verhöhnen der alten begriffsschranken dem eindrucke der mächtigen gegenwärtigen intuition zu entsprechen“ (ksa, wl, , ). der gesetzgebung der sprache unterworfen, subjekt der sprache, klammere sich der bedürftige (vernünftige) mensch an das „ungeheure gebälk und bretterwerk der begriffe“, während die rettende planken-ansammlung eines geborstenen schiffes dem „freigewordenen intellekt des rhapsoden“ (des intuitiven menschen) als „ein gerüst und spielzeug für seine verwegensten kunststücke“ dient (ebd., ). allein, still steht das schiff nicht, vielmehr stellt sich wahrheit als ein „bewegliches heer von metaphern, metonymien, anthropomorphismen“ dar (ebd., 0), so dass ausschließlich die mobilität der daseinsweise des künstlerischen menschen dem fluss der metaphorisierung gerecht wird. die „‚tausendfache complexität‘ der sprache“ bzw. die macht der sprache relativiert den gedanken vom freien spiel mit dem material. 

 





„an dem bau der begriffe arbeitet ursprünglich, wie wir sahen, die Sprache, in späteren zeiten die Wissenschaft. wie die biene zugleich an den zellen baut und die zellen mit honig füllt, so arbeitet die wissenschaft unaufhaltsam an jenem grossen columbarium der begriffe, der begräbnisstätte der anschauung“ (ksa, wl, , ). Jacques derrida, Sporen. Die Stile Nietzsches, in: werner hamacher (hg.), Nietzsche aus Frank­ reich. frankfurt am main, berlin , . nietzsche verschiebt demnach den aristotelischen topos, das es „ein zeichen von begabung“ sei, Metaphern zu finden (Aristoteles, Poetik, stuttgart , f.). die gabe zur metaphernbildung besteht nicht mehr darin, ähnlichkeiten zu sehen, sondern darin, sprache künstlerisch zu gestalten. Den Gedanken vom Fluss der Metaphorisierung erweitert Nietzsche 1887 zum Geflecht des flüssigen Sinns: „Die Form ist flüssig, der ‚Sinn‘ ist es aber noch mehr“ (KSA, GM, 5, 315). Konsequenz der Metaphorisierung der Geschichte eines ‚Dings‘ bzw. der Verflüssigung des Sinns ist die Aufforderung an die philosophen: „Auf die Schiffe!“ (ksa, fw, , ). christof windgätter, Medienwechsel, . zudem: „Macht in und als Sprache ist die Ohnmacht des Menschen als Subjekt. […]; das ruder aus der hand zu legen –, meine formel dafür ist amor fati‘“ (ebd., ). dem freien spiel mit der sprache stellt sich in der folge eine reihe von störungen entgegen.  notierte nietzsche: „in wahrheit ist der m‹ittler› nicht uneigennützig“ (ksa, nf, , ). dezidiert hat windgätter diese dreifache typologie der störungen beschrieben. erstens: physiologische störungen, die vom leib des schreibers herrühren, zweitens: ästhetische störungen, die vom corpus der schrift ausgehen, drittens: technische störungen, die von der mechanik der schreibgeräte verursacht werden (christof windgätter, „Und dabei kann immer noch etwas verloren gehen! –“. Eine Typologie feder­ und maschinenschriftlicher Störungen bei Friedrich Nietzsche, in: davide giuriato, martin stingelin, sandro zanetti (hg.), „SCHREIBKUGEL IST EIN DING GLEICH MIR: VON EISEN“. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte. – Zur Genealogie des

Nietzsches ‚Wende zur Schrift‘



nach dem verlust des souveränen subjekts, von dem sich das vorbild arthur schopenhauer noch nicht gänzlich gelöst hatte, indem er den dem principium individuationis vertrauenden menschen als kapitän vorstellt, der zwar mit einem unzulänglichen transportmittel, doch unbeschadet über das meer (des lebens) fährt, stellt die künstler-existenz nunmehr die pharmaka gegen das zerreißen des schleiers zur verfügung0 bzw. tauscht der künstler die unversehrtheit des schiffes gegen ein konglomerat von planken ein. die noch über die pessimistische daseinsweise und positivistische demontage des schiffs der sprache hinausgehende sprachkritik kultiviert das leben mit dem schiffbruch. das denken der metapher und der sprache radikalisiert sich nochmals, wo es um das „medium schrift“ bzw. um den bezug zur schreibmaschinen-schrift als medium geht. ironie der geschichte, die maschine, die eine erleichterung beim schreiben bewirken sollte, trifft am . februar  „mit einem reise-schaden“ ein (ksb, , ). vielleicht ist es dieser defekt, der den gesundheitlich angeschlagenen die wiederherstellung am . februar so enthusiastisch begrüßen lässt: „hurrah! die Maschine ist eben in meine wohnung eingezogen; sie arbeitet wieder vollkommen“ (ksb, , 0). Der ‚erste mechanisierte Philosoph‘ thematisiert, reflektiert, problematisiert in der folge das schreiben mit der schreibmaschine. in seinem „wohl berühmteste[n] techno-biografisch-selbstbezügliche[n] Schreibmaschinen-Gedicht“ vom . .  identifiziert sich Nietzsche sogar mit der Schreibmaschine: „schreibkugel ist ein



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Schreibens II, münchen 00). in Vom Nutzen und Nachteil der Sprache für die Schrift ergänzt nietzsche diese typologie der störungen um drei kategorien des diskurses als medium: macht, körper und rauschen (windgätter, Medienwechsel, ). in der Geburt der Tragödie stellt der kapitän, der dem meere trotzt, dem element, das nietzsche zur metapher der schrift werden lässt, ein denk-bild des im ‚schleier der maja‘ gefangenen individuums dar: „wie auf dem tobenden meere, das, nach allen seiten unbegränzt, heulend wellenberge erhebt und senkt, auf einem kahn ein schiffer sitzt, dem schwachen fahrzeug vertrauend“ (ksa, gt , ). von narkose- und heilmitteln spricht nietzsche vielfach (ksa, gt, , , ). um 0 hatte das „nautische arrangement“ vom schiffbruch als kennzeichen eines positivistischen wissenschaftsverständnisses konjunktur (hans blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Pa­ radigma einer Daseinsmetapher, frankfurt am main , ). friedrich kittler, Grammophon Film Typewriter. berlin , . Jacques derrida, Maschinen Papier. Das Schreibmaschinenband und andere Antworten, wien 00, . stephan günzel, Nietzsches Schreibmaschine, in: friedrich nietzsche, SCHREIBMASCHINENTEX­ TE (vollständige edition: faksimiles und kritischer kommentar), hg. von stephan günzel, rüdiger schmidt-grépály, 00, . friedrich kittler lässt mit diesem schreibmaschinen- aphorismus überhaupt die „schreibmaschinenliteratur“ beginnen: mit diesem gedicht, „das auch Über die Schreib­ maschine und ihre Beziehung zum Schreiben heißen könnte“ (friedrich kittler, Grammophon Film Typewriter, ). dieter eberwein datiert das „typoskript “ auf den . .  (dieter eberwein, Nietzsches Schreibkugel. Ein Blick auf Nietzsches Schreibmaschinenzeit durch die Restauration der Schreib­ kugel, schauenburg 00, ). dass dieser miniatur-aphorismus tatsächlich von nietzsches hand stammt, gilt inzwischen als belegt (stephan günzel, Nietzsches Schreibmaschinentexte. Interpre­ tationsansätze und Vorstellung der Edition (2005). htttp://www.geophilosophie.de/texte/guenzel_ nietzsche-sm.pdf. ..00, f.).



Stephan Braun

ding gleich mir – von ei{sen}/ und doch leicht zu verdrehn zumal auf reisen{:}/ geduld und takt muss rei{ch}lich man besitzen/ und feine fingerchen uns zu benuetzen“ (schrt, ). nietzsches „schreibmaschinenteXte“, die monumente des epochenumbruchs von monistischer hand- zu bifurkativer maschinenschrift darstellen, führen die „wendung zur Medientheorie“ vor augen. hierbei fällt auf, dass das schreibmaschinenschreiben eine Reflexion auf seine materiellen bzw. medialen Bedingungen begleitet.0 in den wenigen typoskripten (briefe, aphorismen, gedichte, sentenzen, fingerübungen), die er auf der ‚malling-hansen-schreibkugel‘ zwischen dem . .  und dem . .  verfasst hat, setzt sich eine andere ‚organologie‘ in szene. das gedicht, das in diesem zusammenhang von besonderer bedeutung ist, ist eine beilage im schreibmaschinen-brief vom . .  an heinrich köselitz (schrt,  und ). in diesem postalischen parergon mit dem titel LIED VON DER KLEINEN BRIGG, GENANNT ‚DAS ENGELCHEN‘ das wohl am ./ . .  entstand, inszeniert nietzsche ein spiel mit den vermittlern der schrift mit den mitteln der schrift. d. h.: Dieses Gedicht über Kommunikation thematisiert, reflektiert und problematisiert die metaphoro‚logie‘ und die medialität der sprache bzw. der schrift.

 



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friedrich nietzsche, SCHREIBMASCHINENTEXTE, hg. von stephan günzel, rüdiger schmidtgrépály weimar 00 (nachfolgend als sigle schrt). die schreibmaschinenteXte werden, da nietzsches schreibmaschine großbuchstaben schrieb, insofern es typoskripte sind, in großbuchstaben zitiert, in klammern gesetztes und klein geschriebenes deutet daher auf handschriftliche einfügungen hin. eine „wendung zur Medientheorie“, „deren bestimmungswort aber nicht buchstäblich = lateinisch gelesen: als mitte zwischen subjekten oder mittel ihrer verständigung, vielmehr in der weise, dass nun am material z. b. seiner bücher, texte und fragmente die materialitäten ihrer herstellung und ausstattung in den blick geraten“ (christof windgätter, Rauschen. Nietzsche und die Materialitäten der Schrift, in: Nietzsche­Studien, bd. , berlin, new york 00, f. stephan günzel, Nietzsches Schreibmaschinentexte, . eine übersicht über die technischen störungen der schreibgeräte gibt windgätter in „UND DABEI KANN IMMER NOCH ETWAS VERLOREN GEHEN!“, –. „der rückgriff auf die schreibmaschine oder den computer verzichtet nicht auf die hand. er bringt eine andere hand ins spiel, eine andere ‚steuerung‘“ (Jacques derrida, Maschinen Papier, ). rené stockmar hat darauf hingewiesen, dass privat-briefe im prinzip einen schreiber, aber keinen autor besitzen (rené stockmar, Private Briefe – Freie Wissenschaft. Briefe Edieren am Beispiel Von Friedrich Nietzsches Briefwechsel 172–174, KGB II/3 und II/4, basel, frankfurt am main 00, ). eberwein datiert die abgebildeten typoskripte  und  auf den ./. .  (dieter eberwein: Nietzsches Schreibkugel. Ein Blick auf Nietzsches Schreibmaschinenzeit durch die Restauration der Schreibkugel,f.). insgesamt sind zudem folgende entwürfe und fassungen des gedichts zu verzeichnen: das typoskript  (die ersten vier strophen) am .  . geschrieben (schrt, ), typoskript  am . .  (vier weitere strophen und eine schlusszeile, die die zweite seite zu typoskript  bilden, schrt, ), typoskript  am . .  (die letzten vier strophen und eine schlusszeile, schrt, ), eine handschriftliche fassung (schrt, , 0). typoskript  und  werden zur beilage im brief vom . .  an heinrich köselitz. nietzsche veröffentlicht das gedicht in den Idyllen aus Messina (ksa, im, , f.).

Nietzsches ‚Wende zur Schrift‘



die zuwendung zur schrift ist zunächst mit der hinwendung zur physik des schreibens verbunden. in dieser schreib-szene, in der es um die selbstbezügliche thematisierung, Reflexion und Problematisierung der Intensitäten Schreiben und Schrift geht, werden die medien zur botschaft. selbstbezüglichkeit meint hier eine form des schreibens über schrift in und als schrift. erstes mediales indiz: das wort (leitmotiv) EN­ GELCHEN (griech.: ángelos – ‚bote‘). mit der ‚verdichtung‘ der schrift zum medium der Kommunikation wird die Identifizierung des in Genua befindlichen Schreibmaschinisten mit dem ‚Weltumsegler‘ aus Genua begreiflich. nach (und infolge) der ‚genueserschreibmaschinen-episode‘ erscheint dem ehemaligen „Luft­Schifffahrer des Geistes“ (ksa, m, , ) das meer mit anderen augen, als metapher für die potenz der schrift: ein „weib“, für das der jeweilige stil ein ‚mittel‘ darstellt, um den ‚zweck‘ (das kind) hervorzubringen (ksa, za, , ). schrift aber ist in gewisser weise weib und kind oder eben mädchen und schiff zugleich.











schriftmetaphysik, so windgätter, schlage bei nietzsche in „schriftphysik“ um; schriften könne man nicht „aus den gedanken und reden des sog. autors“ ableiten, so dass sie „bloße notationen“, „verräumlichter λογος [sic] oder aufgeschriebene φωνη“ sind, sondern diese funktionieren „genuin graphematisch“, schrift werde „autarkes Medium“ (christof windgätter, Rauschen, ff.). im anschluss an rüdiger campe spricht martin stingelin im kontext einer Genealogie des Schrei­ bens von einer „schreib-szene“, wo sich das ensemble ‚sprache‘ (semantik des schreibens), ‚instrumentalität‘ (technologie des schreibens) und ‚geste‘ (körperlichkeit des schreibens) „in seiner heterogenität und nicht-stabilität an sich selbst aufzuhalten beginnt, thematisiert, problematisiert und reflektiert“ (Martin Stingelin, ‚Schreiben‘ (einleitung), in: ders. (hg.), „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte – Zur Genealogie des Schreibens I, münchen 00, ). der terminus ‚selbstbezüglichkeit‘ bezeichnet bei sandro zanetti (in anlehnung an roman Jacobsens feststellung, das wort sei nicht als bloßer repräsentant von gegenständen oder als gefühlsausbruch, sondern außerdem als wort zu lesen) eine „form des sprechens über sprache mit und in sprache“ (sandro zanetti, Im Spiegelkabinett der Sprache. Figuren der Selbstbezüglichkeit am Beispiel einer Notiz aus dem Nachlass Nietzsches, in: djavid salehi, rüdiger schmidt (hg.), Nietz­ sche. Text Kontext. weimar: 000, , ). das gedicht Nach neuen Meeren, in das das Motiv des Genueser Schiffes Aufnahme findet (KSA, fw , ), geht auf eine ‚vorstufe‘ zurück, die im Juli/august  entstand (ksa, nf, 0, ). der weltumsegler bejaht die offenheit der unendlichen interpretationen. dem denken hingegen, dem angesichts der weite eines „uferlosen Ozean[s]“ das grauen befällt, weil es, das wanken der begriffe verspürend, das „Nichtverstehen“ zu überwinden sinnt, ist dementsprechend der „innere Stern des geistes“, ein „Polarstern“ (g. w. f. hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissen­ schaften im Grundrisse: Dritter Teil, Werke, bd. 0, frankfurt am main 0, ). beiden denkern gemeinsam ist das rühmen der schönheit des schiffes. doch während dem einen dieses „stück holz“ ein „schwan der see“ ist, der die „täuschung“ des meeres überwindet (ders., Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, werke bd. , frankfurt am main 0, ), begreift der andere das schiff als denk-bild für die transportierende kraft der metapher (siehe fußnote 0). ein weiteres beispiel für schrift als schiff, das von der hand, dem organ, begleitet wird, ist in Jen­ seits von Gut und Böse in szene gesetzt, wo der aphorismus das schiff ist, in dem und von dem es heißt: „die hand fest am steuer! – wir fahren geradewegs über die moral weg“ (ksa, Jgb, , ).

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Stephan Braun

‚remediation‘ des typoskripts  (gsa /bw ,) (mit freundlicher genehmigung der stiftung weimarer klassik)

Nietzsches ‚Wende zur Schrift‘

‚remediation‘ des typoskripts  (gsa /bw ,) (mit freundlicher genehmigung der stiftung weimarer klassik)





Stephan Braun

ii vilém flusser bringt die heterogenität der geste des schreibens unter anderem mit den folgenden Faktoren in Zusammenhang: „eine Oberfläche (Blatt, Papier)“, „ein Werkzeug (füllfeder)“, „eine zu schreibende botschaft (ideen)“ und „das schreiben“. eben diese faktoren verdichten sich im gedicht von der brigg zum Sujet der Schrift. das weibliche schiff,0 „dereinst ein mädchen“, durchläuft, bis es zu dem wird, was es einmal war, drei transformationen. in strophe drei präsentiert es sich als „lämmchen“, in strophe vier als „hündchen“ und in strophe sieben als „kätzchen“. in drei ‚zoographischen‘ gestalten setzt es sich in szene, hinter denen sich die drei elementaren bedingungen von Literatur, das Weiße, die Oberfläche des Schreibens (als ‚LÄMMCHEN‘), das schreibwerkzeug, in diesem falle die schreibmaschine (als ‚hündchen‘) und die schreib-hand (als ‚kätzchen‘), verbergen. damit sind die drei bedingungen des schreibens und ‚mittler der schrift‘ in ein verhältnis zur schrift als dem medium der Medien gesetzt. Vermittlungsfigur zwischen dem ‚Geist der Idee‘ und der ‚Körperlichkeit des schreibens‘ ist beim schreibmaschineschreiben die hand; die kluft zwischen hand und blatt überbrückt die maschine, und das papier, dem die typenstangen als verlängerung des organs zusetzen, hält die materialität resp. die manifestationen der schrift fest. so möchte man meinen, transportieren die mittler idealiter das gedachte. gesetzt, die übermittler, die den hiat zwischen schreiben und schrift überwinden und die fracht transportieren, agierten nicht ohne (reibungs-)verluste, so ließe sich behaupten: die schreib-hand, die maschine, das papier agieren nicht als ideale, sondern als mediale agenten von (sinn-)passagen und lieferanten von botschaften. ins auge fällt zudem, dass die richtung quasi verkehrt herum verläuft: vom blatt über die schreibmaschine zur hand. papier (‚lämmchen‘) von den drei medien ist das papier, dieses erste medium, multimedium schlechthin, medium der medien, zuerst in szene gesetzt: „überall hin, wo ein flämmchen/ für mich glüht, lauf’ ich, ein lämmchen,/ meinen lauf sehnsüchtiglich.“ dorthin, wo ein ‚flämmchen‘ ist, läuft das ‚lämmchen‘, d. h. zur flamme, die eine geläufige Metapher für den lebendigen Funken des Logos ist (Platon bevorzugt ihn  0



vilém flusser, Gesten. Versuch einer Phänomenologie, frankfurt am main , . aphorismus 0 von die Fröhliche Wissenschaft mit dem titel Die Frauen und ihre Wirkung in die Ferne handelt von einem „segelschiff“, einer „gespenstische[n] schönheit“, ein „zweites verewigtes selbst“, das „wie aus dem nichts geboren“ erscheint. dieses „mittelwesen“ wird aus dem „nichts“, weiß auf schwarz, geboren und, visitation des phainesthai, irrt umher; es ist nicht mehr ein ‚schwan im see‘, der wie das wort (logos) über das wasser getrieben wird, es ist vielmehr die (Nicht­)Wahr­ heit der weißen metapher, die eine ungeheure wirkung ausübt, wenn sie „wie ein ungeheurer schmetterling über das dunkle meer hinläuft!“ (ksa, fw, , ). charles grivels, Der siderale Körper. Zum Prinzip der Kommunikation, in: Jochen hörisch, michael wetzel (hg.), Armaturen der Sinne. Literarische und technische Medien 170 bis 1920, münchen 0, f.

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gegenüber dem nomadentum der schrift), das licht des glaubens, das den evangelien entweicht und trost spendet (augustin), das die gewissheit der évidence zu repräsentieren vermag (descartes), die männlich konnotierte idee begreifbar werden lässt, den poetischen einfall, der die „asche des erlebten“ überdauert, bezeichnen kann, das erkenntnisvermögen oder die wahrheit ins rechte licht setzt; dorthin führt dessen lauf ‚sehnsüchtiglich‘. die parodie auf die metaphysik des lichts (und deren subjektive nachfolgemodelle in der neuzeit: übertragung des lumen naturale auf den menschlichen verstand resp. den prozess der aufklärung), die durch die wendung ‚flämmchen‘ ins spiel gebracht wird, verdankt sich der kraft der übertragung, denn allein durch die kontextualisierung erhält diese wendung ihre subversive wirkung. durch die subversion der gründer-trope wird die seinsweise der ästhetischen übertragung bzw. das angewiesensein auf die metapher begreifbar. von den schönen wörtern als „eigentliches licht des gedankens“ spricht dem entsprechend schon pseudo-longinos. kein göttliches licht konstituiert demnach die wahrheit, sondern menschlich, allzumenschlich, ist ihr ursprung (die figur vom licht als einfacher vorstellung ist folglich keine einfache idee, so Paul de Man, „sondern eine Täuschung des Lichts, des Verstands oder der Definition“). dass das flämmchen sowohl das licht der idee als auch das licht des geistes bezeichnen kann,0 ermöglicht „die nomadische ambiguität des metaphorischen.“ was diese selbstbezügliche metapher ‚lämmchen‘ darstellt, ist ein reversbild. dort, wo sinnbildlich   



 

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platon, Briefe, in: ders., Sämtliche Werke, bd. . (übersetzt von friedrich schleiermacher und hieronymus und friedrich müller), reinbeck bei hamburg , f. michael wetzel, Die Enden des Buches oder die Wiederkehr der Schrift. Von den literarischen zu den technischen Medien. weinheim , . „[n]ach descartes rührt die wohlbegründete gewißheit daher, daß sich die sache uns in einem bestimmten licht präsentiert, indem die wahrheit derart klar ist, daß sie nicht zu leugnen ist“ (charles taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, frankfurt am main , ). „stets ist die flamme ein männliches genitale“ (sigmund freud, Die Symbolik im Traum. 10. Vor­ lesung (studienausgabe bd. : Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Neue Folge), frankfurt am main 000, . walter benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, in: ders., Gesammelte Schriften I, 1, hg. von rolf tiedemann, hermann schweppenhäuser. frankfurt am main , . Einige Jahre später notiert Nietzsche eine in diesem Zusammenhang interessante Reflexion: „Harmlosigkeit der […] philosophen: sie meinen, wenn man erst das werkzeug prüfe, bevor man es anwendet, nämlich das erkenntnisvermögen. dies ist schlimmer noch als ein streichholz prüfen {wollen}, bevor man es brauchen will. es ist das streichholz, das sich selber prüfen will, ob es brennen wird“ (kgw, nf, iX , ). pseudo-longinos, Vom Erhabenen (griechisch/deutsch), darmstadt , . paul de man, Epistemologie der Metapher, in: anselm haverkamp (hg.), Theorie der Metapher, darmstadt , 0. selbst die repräsentationen der sonne als paradigma des nichtsinnlichen oder des begriffs bilden metaphern: „Jedesmal, wenn die sonne vorkommt, hat die metapher ihren anfang genommen. […]. sie ist bereits ein künstliches licht (lustre), man könnte sagen, eine künstliche konstruktion, falls diese bedeutung noch glaubwürdig erscheinen könnte, wenn die natur verschwunden ist“ (Jacques derrida, Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text, in: ders., Randgänge der Philosophie, wien , ). georg christoph tholen, Die Zäsur der Medien, .



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das papier dem licht zustrebt, sind die rollen vertauscht: auf der suche nach einem gedanken ist der Grund (die Oberfläche) aktiv. Das Papier der Maschine, das sonst von den typen beschrieben wird, das unterliegende, also subiectum ist, erhält einen aktiven part, wird aktant der schrift. zur subversion gehört auch, dass die seinsweise, die traditionell dem opfer zugewiesen ist, verkehrt wird. mit dem ‚lämmchen‘, das an das opfer in archaischen riten erinnert, ist vor dem weißen stier aus Also sprach Zarathustra (ksa, za, , f.) eine ‚zoographie‘ der moderne in szene gesetzt. beim anblick des papierträgers der malling-hansen ist der eindruck einer foltermaschine nicht von der hand zu weisen. hinzu kommt, dass die maschine oder besser gesagt ihre reparaturbedürftigkeit nietzsches geduld so sehr auf die folter gespannt haben dürfte, dass dieses erlebnis unter umständen mit in die konzeption des gedichts eingegangen ist. stimmungen sind, martin heidegger hat es eindrücklich nachgewiesen, medien des denkens, sind inbegriffe der existenz. phänomenaler eindruck und stimmung bilden demnach zwei voraussetzungen dieser metapher. mit dem ‚lämmchen‘ ist also eine mediale bedingung des schreibens und der schrift selbstbezüglich in szene gesetzt. in Also sprach Zarathustra und vor allem in den nachgelassenen aufzeichnungen von  wird das opfer bzw. die „Aufopferung“ endgültig zur voraussetzung der überwindung der metaphysik erhoben (ksa, nf, 0, ). und noch aus einem weiteren grunde steht das weiße am beginn der transformationen, repräsentiert diese nicht-farbe weiß, wie wassily kandinsky in Das Geistige in der Kunst beschrieben hat, einerseits das schweigen als möglichkeitsbedingung des sprechens, andererseits das nichts, „welches vor dem Anfang, vor der Geburt ist“. dieses das ‚flämmchen‘ ersetzende ‚lämmchen‘ als analogon zu papier und weiße bildete dann ein weiteres Quasi-transzendental. das opfer, das das überleben (in) der schrift zumindest in aussicht stellt, ist nicht mehr ein mensch-medium (das lamm gottes), sondern ein schreib-medium. die dekonstruktion der vorstellung vom subjekt als medium der transzendenz lässt die kehre zur physik der schrift greifbar werden. das laut-werden aus diesem schweigenden grund ist mit der zweiten medialen ‚zoogra

 

  

in franz kafkas In der Strafkolonie ist es der körper eines verurteilten, der malträtiert wird und in einer überdimensionalen schriftmaschine zu tode kommt (franz kafka, Sämtliche Erzählungen, frankfurt am main ). einen eindruck von den bestandteilen erhält man bei dieter eberwein, Nietzsches Schreibkugel, . „dieses ‚es ist einem so und so‘ ist nicht und nie erst die folge und begleiterscheinung unseres denkens, tuns und lassens, sondern – grob gesprochen – die voraussetzung dafür, das ›medium‹, darin jenes geschieht“ (martin heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit. frankfurt am main 00, 0). stephan braun, „Ein weißer Stier will ich sein“ – Nietzsche und die Kultur der Zukunft, erscheint 00. wassily kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, bern-bümpilz , . das prinzip des papier-herstellens beruhte lange auf drei vorgängen: zerfaserung des rohstoffes, schöpfung der fasermilch mit einem sieb und leimung (gustav barthel, Konnte Adam schreiben? – Weltgeschichte der Schrift, stuttgart , f.). spekulativ bleibt, ob die vorstellung von pergament mit der des Papiers zusammengeflossen ist. Tierhäute als Beschreibstoff fanden bis ins 16. Jahrhundert verwendung. noch von Johannes gutenbergs zeiliger bibel wurden nicht nur exemplare auf papier, sondern auch auf pergament hergestellt (ebd., ).

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phie‘ eindrucksvoll in szene gesetzt: „glaubt ihr wohl, dass wie ein hündchen/ belln ich kann und dass mein mündchen/ dampf und feuer wirft um sich?“ schreibmaschine (‚hündchen‘) die schreibmaschine, die, wie friedrich kittler gezeigt hat, auf bis dahin nicht gekannte weise „papier und körper“ trennt, ist ein ‚zwischending‘ (heidegger).0 und jedes medium, das den schreiber dem träger der schrift näher bringt, fordert eine andere „organologie“. den hinweis darauf, dass mit dem ‚hündchen‘ die ‚malling hansen‘ gemeint sein könnte, gibt nietzsche selber. in einem schreibmaschinen-brief an franz overbeck zwei tage nach dem brief an köselitz, in dem das gedicht als beilage enthalten ist, vergleicht er sein schreibgerät mit einem hund (dem begleittier des melancholikers): „diese maschine ist delicat wie ein kleiner hund und macht viel noth – und einige unterhaltung“ (schrt, ). die metapher von der ‚malling Hansen‘ findet ihre eindrücklichste Thematisierung in der mechanischen „Artikulation“ der schreibmaschine, deren geräuschkulisse in eine graphophonie umgesetzt ist: „glaubt ihr wohl, dass wie ein hündchen belln ich kann.“ aus diesen erwägungen heraus wird ersichtlich, weshalb das mündchen den ort der phoneti

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von zarathustra als „Fürsprecher der Stimme und ihrer Schrift in ihrer Zusammengehörigkeit“ spricht petra meyer in Die Stimme und ihre Schrift. Die Graphophonie der akustischen Kunst. wien , . friedrich kittler, Grammophon Film Typewriter, . ders., ebd., . Jochen höffe begreift hiermit übereinstimmend die schreibmaschine als sekundäres medium (Jochen höffe, Eine Geschichte der Medien. Von der Oblate zum Internet, frankfurt am main 00, ff.). wie problematisch diese dreifache typologie ist, wird deutlich, wenn man die Definition für die dritte Art von Medialität betrachtet und beachtet, dass Lesen von Schrift nichts anderes als technik ist: „tertiär sollen also die medien genannt werden, die sowohl auf der sender- wie auf der empfängerseite die mobilisierung von technik erfordern, auf daß kommunikation gelinge“ (ebd., f.) Jacques derrida, Maschinen Papier, . es muss eine gewisse phänomenologische attraktion darin liegen, in der schreibmaschine einen hund zu sehen, denn auch siegfried kracauers ich-erzähler schreibt, dass sie ihm „[w]ie ein herrenloses hündchen“ zugelaufen sei (siegfried kracauer, Das Schreibmaschinchen, in: ders., Gesam­ melte Schriften V, 2: Aufsätze 1927–1931, frankfurt am main 0, ). roland barthes beschreibt die funktionsweise der schreibmaschine: ihre art sei es, dass sie beim druck eines fingers einen kleinen bissen kode ausspuckt (catherine viollet, Mechanisches Schreiben, Tippräume. Einige Vorbedingungen für eine Semiologie des Typoskripts, in: SCHREIBKUGEL IST EIN DING GLEICH MIR: VON EISEN. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte. Zur Genealogie des Schreibens II, hg.: von davide giuriato, martin stingelin, sandro zanetti, münchen 00, ). zwei verse im ersten schreibmaschinen-brief entsprechen dieser assoziativen verbindung von drucken und spukken: „nicht zu freigiebig: nur hunde/ scheissen zu Jeder stunde“ (schrt, ). im nachlass (frühjahr ) ist dieser aphorismus dem sonderling timon in den mund gelegt. unmittelbar darauf folgt ein satz über die notdurft, der mit Aus der Tonne des Diogenes überschrieben ist (ksa, nf, , ), mit dem namen des philosophen, der ‚hund‘ genannt wurde. christof windgätter, „UND DABEI KANN IMMER NOCH ETWAS VERLOREN GEHEN! –“, .



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schen artikulation repräsentiert. der ton, den die schreibmaschine hervorbringt, ist ihre sprechweise (parole). so ist auch nicht auszuschließen, dass das glockensignal, das bei der ‚malling hansen‘ kurz vor erreichen des zeilenendes ertönte, den titel des gedichts mit inspiriert hat – die engel lassen grüßen! die typen bilden ihr ‚mündchen‘. die schreibmaschine ‚äußert‘ allerdings nicht nur vehement ihren anspruch auf „mitschreier“-schaft (schrt, ), sondern bekundet auch eine ‚mitschreiberschaft‘. nietzsche verfasst hierzu, ende februar , einen seiner berühmtesten miniatur-aphorismen: „sie haben recht – unser schreibzeug arbeitet mit an unseren ged\{a}\nken“ (schrt, ). stephan günzel sieht in dieser bemerkung im brief an köselitz sogar „die erste explizitmachung der abhängigkeit des denkens vom medium seiner artikulation“. ausgehend von diesen indizien und motiven lassen sich verbindungen zu anderen passagen herstellen, so dass intertextuelle beziehungen sichtbar werden. so zum aphorismus  von die Fröhliche Wissenschaft (die erste Auflage erschien im August 1882, ein halbes Jahr nach der genueser schreibmaschinen-episode) mit dem titel Mein Hund, wo es heißt: „ich habe meinem schmerz einen namen gegeben und rufe ihn ‚hund‘“ (ksa, fw, , ). dass der schmerz den namen des gerätes erhält, das den der augen und des kopfes verringern sollte, ist bezeichnend. früh ist so der zusammenhang zwischen schmerz-vermeidung und wunsch nach der schreibmaschine greifbar: „von  tagen, liebe schwester  anfallstage,  davon im bett zugebracht – so steht es seitdem […]. dein brief kam recht als ermuthigung: ich bedarf sie sehr und weiß mitunter nicht, wie ich den alpdruck der existenz noch tragen soll […]. ist denn in zürich die schreibmaschine?“ (postkarte, sommer , ksb , ). so überrascht es nicht, dass die Defekte der Maschine thematisiert und reflektiert werden. Hinter der Formulierung „sprach ein bitterböses wörtchen/ einst“ verbirgt sich wohl ein solcher. nur konsequent also, dass störung und unwohlsein in einem satz zur sprache gebracht werden: „bei den letzten anfaellen habe ich eine ungeheure menge galle erbrochen. diese maschine war wieder einmal in reparatur“ (brief an franziska und elisabeth nietzsche vom . . , schrt, ). das in strophe zwei verwendete wort ‚bläht‘ evoziert eine lautgebärde, die in diesem kontext besondere aufmerksamkeit verdient. schließlich indiziert sie den akt  

stephan günzel, Nietzsches Schreibmaschinentexte, . in Also sprach Zarathustra findet sich die ungewöhnlichste mit einem Hund in Zusammenhang stehende stelle: in der szene Vom Gesicht und Räthsel. dort heißt es, nachdem zarathustra dem geist der Schwere den Gedanken der ewigen Wiederkunft zugeflüstert hat: „Also redete ich, und immer leiser: denn ich fürchtete mich vor meinen gedanken und hintergedanken. da, plötzlich, hörte ich einen hund nahe heulen./ hörte ich jemals einen hund so heulen? mein gedanke lief zurück. Ja! als ich kind war, in fernster kindheit:/ – da hörte ich einen hund so heulen“ (ksa, za, , 0). als er einen menschen im mondscheine liegen sieht, neben ihm, „springend, gesträubt, winselnd“, der hund, schließlich schreiend, wird deutlich: schreibmaschine, schmerz und bejahung der ewigen wiederkunft sind durch komplexe, mehrfach kodierte, intertextuelle beziehungen miteinander verknüpft. physiologie, schreiben und übermensch durchdringen sich und laufen im gedanken der (un-)möglichen möglichkeit des überlebens (in) der schrift zusammen. der bezug zwischen dieser selbstreflexiven, ‚auto-bio-graphischen Schreib-Szene‘ und der Schreibmaschinen-Episode ist bisher noch nicht zur kenntnis genommen worden (stephan braun, Topographien der Leere – Friedrich Nietzsche. Schreiben und Schrift. würzburg 00, f.).

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des atmens (selbst die worte ‚dampf‘ und ‚feuer‘ in strophe vier bergen noch elemente des blähens in sich). durch die reduktion des kapitäns (metonymie des autors) auf ein sich blähendes fähnchen (einen typographischen vers) am steuer (der schreibmaschine) einer brigg (eines gedichts) vollzieht sich die dekonstruktion des neuzeitlichen konstrukts ‚autorschaft‘, die zudem mit der demontage des pneumatologischen kerns des logo-phono-zentrismus, dessen inbegriff der atem ist, einhergeht. kein schöpferisches individuum mehr hinter der schrift, das alle botschaften initiiert resp. sämtliche vorgänge steuert, zeichnet sich ab, sondern ein von anonymen kräften der sprache umfangenes wesen. dem entsprechend ist der titel in der ‚werkfassung‘ nicht mehr LIED VON DER BRIGG, GENANNT ‚DAS ENGELCHEN‘, sondern Die kleine Brigg, genannt ‚das En­ gelchen‘ (im, ksa , f). weshalb aber stirbt der hund, als er ein „bitterböses wörtchen“ sprach, ist das wort der anfang vom ende?: „mein geliebter freund entwich:/ Ja, er starb an diesem wörtchen.“ die kluft gibt zu denken: „kaum gehört, sprang ich vom klippchen/ in den grund und brach ein rippchen/ dass die seele mir entwi{ch}“: „(4.–11. 02. 1882) 1. Reparatur durch Mechaniker in Genua/ zustand: stark verbogene typenstangen, vordere hauptsäule nach hinten verbogen// die verbogene typenstange ‚‘ (nr. ) wird [von einem äußerst ungeschickten mechaniker – einfügung s. b.] ausgebaut und in einem schraubstock gerichtet, wobei sie abbricht.“0 warum jedoch die anspielung auf den adamitischen schöpfungsmythos? und dann in dieser umdeutung? schließlich bricht das rippchen eines weiblichen schiffes und aus ihm entweicht die seele: ein männlich konnotierter topos wird zur weiblichkeit verkehrt. aus der weiblichen rippe geht die seele hervor, wie der begriff aus der meta

 

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Dampf: „die lautliche vorform von Dampf führt dagegen auf eine bedeutung ‚blasen, fauchen‘ […], mit labialerweiterung lit. dùmplės f. ‚blasebalg‘“ zu; Feuer: „(weiter zu einer lautgebärde phu- ‚blasen‘, indem ursprünglich die durch Blasen auflodernde Flamme gemeint war?)“ (Friedrich kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, berlin, new york , ; ). zur verbindung von blasen und schreibgerät siehe das kapitel Papierdrache in Leben Fibels: „himmel! wie muß ein mann den dampf und rauch des lebens durch seine schreibspule von sich weggeblasen haben, wenn er nicht nur nach dem morgensegen hinschreibt“ (Jean paul, Leben Fibels, in: ders: Schmelzles Reise nach Flätz, Dr. Katzenbergers Badereise, Leben Fibels, Der Komet, Selberlebensbeschreibung, Selina. frankfurt am main , ). michael wetzel, Die Enden des Buches oder die Wiederkehr der Schrift, . die darstellung vom wort als auslöser des todes spielt auf zwei biblische vorstellungen an. erstens auf den schöpfungsmythos, in dem der göttliche logos das medium der erschaffung der welt ist. zweitens auf abwertung der schrift gegenüber dem sinn (des wortes): „denn der buchstaben tötet/ aber der geist machet lebendig“ (. korinther , ). das spiel mit diesen grundlegenden mythologischen vorstellungen eröffnet ein reversbild, das die dekonstruktion des logozentrismus und die kehre zur physik der schrift einleitet. dieter eberwein, Nietzsches Schreibkugel, . die onto-theologische verbindung von atem, wort und ohr, der pneumatologisch-akroamatische zug, der das gesprochene wort über die schrift erhebt, wird bei Johann gottfried herder ins feld geführt: „es war odem gottes, wehende luft, die das ohr aufhaschte, und die toten buchstaben, die sie hinmalten waren nur der leichnam, der lesend mit lebensgeist beseelt werden musste“ (Johann gottfried herder, Sprachphilosophische Schriften, hamburg 0, ).



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pher: „in den grund und brach ein rippchen,/ dass die liebe seele wich:/ Ja, sie wich durch dieses rippchen!“ als chiffre für die weibliche zeugungskraft, unverzichtbarer anteil des künstlers, wird die rippe schließlich in Also sprach Zarathustra eingeführt. Jacques derrida, in auseinandersetzung mit emmanuel lévinas, schreibt über diesen jüdisch-christlichen schöpfungsmythos und führt dessen, die geschlechterdifferenz betreffenden, implikationen kühn ins extrem: „es muß Selbes gegeben haben, das diesen anderen gemeinsam war: die frau wurde dem mann entnommen, ist aber nach ihm gekommen: die Weiblichkeit selbst der Frau ist in dieser anfänglichen Nachträglichkeit“. die weiblichkeit der frau wird zum ‚synonym‘ für die potenz der metapher und für die anfängliche nachträglichkeit der schrift. evas rippe, nicht adams, der traditionell das material repräsentiert, lehm, dem gott, ihn in die hand nehmend, das leben eingehaucht hat, entweicht die ‚seele‘. nicht das prinzip, vielmehr die metapher wird zum medium der beseelung. dieses beiwerk des ewigen aber ist „wie ein kätzchen“. die selbstbezügliche note kommt wohl auch wegen dieser aufwertung des weiblichen bei der darstellung der dritten medialen ‚zoographie‘ ins spiel: „meine seele wie 



 





. mose : „vnd gott der herr bawet ein weib aus der riebe, die er von dem menschen nam“ (Die Bibel. Die ganze heilige Schrift des neuen und des alten Testaments, (deutsche übersetzung von martin luther), dreieich , . Also sprach Zarathustra handelt von den „unfruchtbaren“, die „mager in den rippen“ sind, weil gott ihnen, als sie schliefen „heimlich etwas entwendet“ habe, um „sich ein weibchen daraus zu bilden!“; erst der dichter wird gewahr: „wundersam ist die armuth meiner rippen!“ (ksa, za, , ). Jacques derrida: Choreographien, in: ders., Auslassungspunkte (Gespräche), wien , 0. beispiele für diese mit der zurückgebliebenheit [restance] der schrift zusammenhängende nachträglichkeit bilden zwei ‚schreibfehler‘. so tippt nietzsche: „leg ich mich aus so leg ich mich hinein/ so moeg ein freud mein interprete sein“ (schrt, ). ein ebenso signifikanter Verschreiber findet sich in der handschriftlichen Fassung des Gedichts von der Brigg, indem nietzsche einmal „kätchen“ statt kätzchen schreibt (schrt, 0). roland barthes hat diesbezüglich gezeigt, dass solche Schreib- oder Tippfehler nicht ausschließlich als ein Nicht-Identifizierbares anzusehen sind, und die möglichkeit einzubeziehen versucht, dass „ein lesbarer fehler“ vorliegt, der das system „mitten ins herz“ trifft (roland barthes, Über mich selbst, münchen , 0). wie der sinnhafte tippfehler, durch den der freund zu „freud“ wird, einer störung zu verdanken ist, genauer dem widerstand des schreibmaterials, liegt der grund für das auftreten des wortes „kätchen“ vielleicht in der potenz der schrift oder im schreibmaschinen-(anschaffungs-)grund beschlossen. in einer nachlass-aufzeichnung (frühjahr ) heißt es im expliziten bezug auf das Kätchen von Heilbronn (und auf diese weise sich aus dem letztgenannten grund erhebend, sich von ihm emanzipierend): „der schrei ‚liebe mich‘ – die cas pathologiques“ (ksa, nf, , ). dem mythos zufolge „hat gott sein ebenbild aus lehm (hebräisch ‚adamah‘) geformt, darin seinen odem eingegraben und daraus den menschen (hebräisch ‚adam‘) geschaffen […] es läßt sich […] darin der ursprung des schreibens erkennen […] er hat zuerst einen gegenstand (lehm) in seine hand genommen (hat ihn begriffen), dann hat er ihn zu einem parallelepiped umgeformt (er hat gearbeitet), und schließlich hat er ihn in-formiert (er hat formen in ihn gegraben)“ (vilém flusser, Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft?, frankfurt am main , f.). nach theodor w. adorno kommt gerade durch die schreibmaschine ein mehr an selbstbezüglichkeit ins spiel (theodor w. adorno, Worte ohne Lieder, in: ders., Gesammelte Schriften, bd. XX, ii (Vermischte Schriften II), frankfurt am main , ).

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ein kätzchen/ that eins zwei drei vier fünf sätzchen,/ schwang dann in dies schiffchen sich:/ Ja sie hat geschwinde tätzchen.“ hand (‚kätzchen‘) friedrich kittler hat hervorgehoben, dass mit der schreibmaschine die „metaphysik der handschrift“ in der 00-jährgen denkgeschichte der philosophie ein ende nimmt. nietzsche, ‚der erste mechanisierte philosoph‘, registriert nicht nur die medial-epistemologische umbruchsituation, vielmehr agiert er, überhaupt nicht blind für den einschnitt des medialen, behände auf der klaviatur, um das diskursive rauschen seiner zeit einzufangen. fünf finger, fünf sätze. der sprung in die ‚medientheorie‘ ist wahrlich ein satz! Mit der Thematisierung, Reflexion, Problematisierung der Hand, dieser (von Hegel) angenommenen „‚mitte‘ des verhältnisses zwischen geist und werk“, wendet sich nietzsche der vergessenen medialität des schreibens zu.0 die hand ist nunmehr keine Übermittlungsfigur der Idee mehr, denn ein Abgrund trennt Bewusstsein von Bewusstsein, schreiben von schrift: „anstatt […] differenz in identität, auseinandersetzung in einverständnis zu überführen, reißt […] ein ‚abgrund‘ auf“: „die kleinste kluft steht zwischen mir und dir: aber wer schlug je brücken über die kleinsten klüfte“ (ksa, nf, 0, ). beim schreibmaschinenschreiben, bei dem durch einen einzigen fingerdruck auf eine taste gleich der ganze fertige buchstabe auf das papiers gesetzt wird, ist dieses „in den gebraucher eingebaute[] werkzeug“ von der realisierung so weit entfernt, weil der 



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friedrich kittler, NIETZSCHE, DER MECHANISIERTE PHILOSOPH, in: kultuRRevolution. Zeit­ schrift für angewandte Diskurstheorie, nr.  (Juni) , . konträr hierzu martin heideggers lesart, der zufolge die schreibmaschine die schrift, und d. h. bei ihm des wortes, dem wesensbereich der hand entreiße. dieses selbst werde zu etwas ‚getipptem‘ (martin heidegger, Parmenides, in: ders. Gesamtausgabe, bd. . ii abteilung (Vorlesungen 1923–1944), frankfurt am main , ). „An die Stelle der flexiblen Schnittstelle ›Hand‹ indes rückt Hegel das »Organ« ›Hand‹ als die bestimmte »Mitte« des Verhältnisses zwischen Geist und Werk“ (Stephan Kammer, Reflexionen der Hand – Zur Poetologie der Differenz von Schreiben und Schrift, in: davide giuriato, stephan kammer (hg.), Bilder der Handschrift – Die graphische Dimension der Literatur, frankfurt am main, basel 00, ). „wenn in der medienepistemologischen umbruchsituation um 00 die hand als vergessene medialität des schreibens wiederkehrt, dann tut sie dies in allen nur erdenklichen erscheinungsformen des spuks. kämpfende, zusammenbrechende und ihren dienst verweigernde, sich verselbständigende hände“ (ders., ebd. ). christof windgätter, Medienwechsel, . „das organ ist ein in den gebraucher eingebautes werkzeug“ (martin heidegger, Die Grundbe­ griffe der Metaphysik, ). in §  dieser vorlesung aus dem winter-semester /0, in dem die Frage nach dem Wesen des Organs abgewogen wird, unterscheidet er zwar die fähigkeit des organs von der fertigkeit des zeugs („der federhalter ist als zeug fertig für das schreiben, aber es hat keine fähigkeit zum schreiben“, ebd., ), warnt jedoch vor einer isolierten betrachtung: man dürfe sich nicht an den tatbestand halten, dass das organ an sich die „fähigkeit zum“ besitze (ebd., ), vielmehr müsse man einerseits sehen, dass sich organ und zeug grundverschieden zur zeit verhalten, und dass fähigkeit nicht im aristotelischen sinne eines naturfaktors zu begreifen sei,

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Stephan Braun

Buchstabe sich an einem anderen Ort befindet, als dort, wo die Hände arbeiten. bei diesem schreib-klavier agiert die hand auf der tastatur, die typen schlagen auf das papier. die finger der schreib-hand überwinden die räume zwischen den tasten, die durch sprünge zu überwinden sind; kongruent dazu stellen die ‚spatien‘, die leerstellen der schreibmaschinen-schrift, die begleiter der buchstaben dar. bei so viel abgründigkeit ist es nur folgerichtig, dass die ‚seele‘ nach dem sturz in den abgrund entweicht: „kaum gehört, sprang ich vom klippchen/ in den grund und brach ein rippchen,/ dass die seele mir entwi{ch}.“ der sprung als grundgeschehnis der loslösung von der metaphysik des grundes, die im 0. Jahrhundert, wie heidegger dargelegt hat, durch das „prinzip des zuzustellenden zureichenden grundes“ in gestalt der information bestimmt wird, vollzieht sich als satz aus der metaphysik und damit als satz in den grund der physik der schrift: abkehr (absprung) vom paradigma der schöpferischen ‚produktion‘ und absetzung (absatz) von der vorstellung von ‚kommunikation‘ als durch einen göttlichen odem vermittelte, absolute übertragung des sinns. die ‚seele‘, das ansonsten ewig gleichbleibende (korrelat zur causa sui), erfährt durch das zerschellen an den klippen ihre letzte transformation: „meine seele wie ein kätzchen/ that eins zwei drei vier fünf sätzchen.“ durch die sätze der finger der schreib-hand, durch das springen auf der tastatur, die eine parallelhandlung in gang setzt, präsentiert sich am ende das ‚sätzchen‘. nach fünf sätzchen ist der vers vollendet. die hand, von den typenstangen verlängert, springt schaffend von wort zu wort. diese selbstbezügliche performanz des denk-bilds von der schreib-hand überbietet sich nochmals darin, dass in der nachfolgenden zeile das hineinschwingen der ‚seele‘ in das schiff evoziert wird: „schwang dann in dies schiffchen sich“. der transport bewahrt das ‚flämmchen‘ vor dem tode. der gedanke, vom papier (‚lamm‘) aufgenommen, von der malling hansen artikuliert, überlebt durch die hand und in der remediation der hand. vor dem ‚flämmchen‘ jedoch war das ‚mädchen‘, überall im gedicht präsent und doch verborgen. das weibliche existiert immerfort im ständigen aufschub. seine repräsentationen sorgen mitunter dafür, dass der grund, aus dem eine gestalt hervorgeht, in gewisser weise präsent bleibt: „Jetzt ein schiff, dereinst ein mädchen/ ach noch immer sehr ein mädchen.“ erst die potenz der schrift verschafft sichtbarkeit. deshalb erscheint stets ‚das geborene‘, nicht ‚das gebärende‘. schwindelig kann einem werden, wenn man bedenkt, dass noch die rede von der ‚potenz der schrift‘ eine metaphorische geburt des abgrunds

 

sondern dass diese fähigkeit aus regellosen trieben hervorgeht, die dressiert oder besser kultiviert werden können, um ein ‚fähigsein‘ zu ermöglichen. erst vor dem hintergrund dieser relativierenden differenz wird ersichtlich, was die folgende bestimmung sagen und was sie nicht sagen will: „das Fähige dagegen untersteht nicht einer vorschrift, sondern es ist selbst regelmitbringend und regelnd“ (ebd., f.). friedrich kittler, Aufschreibesysteme 100 bis 1900, münchen 00, . martin heidegger, Der Satz vom Grund, in: ders., Gesamtausgabe, bd. 0. i. abteilung: Veröffent­ lichte Schriften 1910–1976, frankfurt am main , .: „information besagt einmal die benachrichtigung, die den heutigen menschen möglichst schnell, möglichst umfassend, möglichst eindeutig, möglichst ergiebig über die sicherstellung seiner bedürfnisse informiert, ihres bedarfes und dessen deckung unterrichtet. demgemäß gewinnt die vorstellung von der sprache des menschen als einem instrument der information in steigendem maße die oberhand“ (ebd.).

Nietzsches ‚Wende zur Schrift‘



ist, in dem jede rippe bricht. über diese abgründe des weiblichen hat derrida vielleicht alles gesagt, was zu sagen möglich war; worüber er nicht schreiben konnte, darüber hat er geschwiegen. über dem mystischen (ab-)grund der schrift, der die übermittlungsproblematik des chorismos in gewisser weise teilt, öffnet sich die metaphorologie der medien und lässt die doppelte kluft oder auch den zwiefachen hiat begreifbar werden, der schreiben und schrift trennt: das gedachte übertragen in geschriebenes (erste metapher) und das geschriebene übertragen in schrift (zweite metapher): „und jedesmal vollständiges ueberspringen der sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue“ (ksa, wl, , ). diese schreib-hand, die weiblich werden wird, imitiert die schreibweise der schreibmaschine: das ‚tätzchen‘, das das papier beschreibt, agiert wie die type der schreibmaschine, wie die prothese der hand. die tippende hand ist das ‚tätzchen‘ und als solches die ‚seele‘ als ‚kätzchen‘. hierzu passt, dass ‚tatze‘ eine intensivbildung zu ‚tappe‘ oder zu mndd. tacken (‚berühren, betasten‘) ist; beidem liegt lautmalerisch ein dumpfer schlag zugrunde. chiffriertes autogramm nietzsches: das tappen bezeichnet die gangart eines bären mit seinen pfoten, ein tier, mit dem sich nietzsche später vielfach identifizieren wird.0 erst mit der ‚zoographie‘ ‚kätzchen‘, ein tier, dem im volksmund neun leben zugesprochen werden, so viele, wie die brief-fassung des gedichts strophen hat, das wort ‚engelchen‘ in den strophen vorkommt und gestalten erscheinen, kommt zügige bewegung ins spiel („that […] sätzchen“, „schwang“, „geschwinde“). das motiv der katze, symbol des weiblichen, weist auf die von nietzsche









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Jacques derrida, Die Stile Nietzsches. anhand des platonischen begriffs der chōra, den dieser abschätzig als amme des werdens auffasst, hat derrida demonstriert, inwiefern die erzeugte abgründigkeit (mise en abyme) in eine politik der orte und in eine „struktur eines bodenlosen übereinanderlegens von eindrücken (surimpression)“ involviert ist (ders., Chōra, wien 00, ). das weibliche als abgründige metapher bzw. figur der grundlosigkeit setzt nietzsche kunstvoll in szene: „man hält das weib für tief – warum? weil man nie bei ihr auf den grund kommt. aber das weib hat gar keinen grund: es ist das faß der danaiden“ (ksa, nf, , ). „unentscheidbar ist vielmehr, ob die dem medium zugeeignete bedeutung, nämlich Mittel, Instru­ ment oder Botschaft zu sein, das ›eigentliche‹ des mediums bezeichnet, also im aristotelischen sinne die geltung einer klaren, ›einfachen‹ vorstellung beanspruchen kann, oder ob diese bestimmungen nur hilfreiche oder hilflose Metaphern sind“ (Georg Christoph Tholen, Die Zäsur der Medien, 0). in seiner charakterisierung des modernen menschen als „prothesengott“ (prothese: ‚künstlicher ersatz für einen körperteil‘; gr. prósthesis (‚zusatz, vermehrung‘); thésis (setzung‘) und prós (‚hinzu‘)) ,nennt freud zwar telefon und grammophon, nicht jedoch die schreibmaschine, die für ihn nur prothese einer prothese ist, weil die schrift bereits eine sei: „die schrift ist ursprünglich die sprache des abwesenden“ (sigmund freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: ders., Studienausga­ be, bd. iX: Fragen der Gesellschaft/Ursprünge der Religion, frankfurt am main 000, f.). friedrich kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, . stephan braun, Topographien der Leere, ff. die neun gestalten wären: das engelchen als schiff, als mädchen, ein mit hundert fähnchen geschmücktes, ein kapitänchen, ein lämmchen, ein wie ein hündchen bellendes, ein bitterböse sprechendes, dem der geliebte entwich, ein rippchen gebrochenes, dem die seele wich, eine seele wie ein kätzchen.



Stephan Braun

prognostizierte zukünftige weiblichkeit der écriture hin. schreiben wird ‚dereinst‘ vielleicht weiblich sein. die kehre zum weiblichen forciert sich durch den zeitweiligen abschied von der tinte (der metonymie für samen). mit dem gebrauch der malling hansen schlägt nietzsche den Weg der Verweiblichung ein: „nietzsche wird eins mit der rezeptiven empfindlichkeit seiner maschine und widerruft den phallogozentrismus klassischer schreibgriffel. nicht autorschaft, sondern verweiblichung ist sein los.“ die lücke, die die schreibkugel hinterlässt, wird kurzzeitig lou salomé einnehmen. nach der ‚genueser-schreibmaschinen-episode‘ erscheinen fortan, wohl aus diesem grunde, die mittler der welt weiblich. vor allem leben und wahrheit werden zu chiffren weiblicher medialität, sind die „mütter des seins“, bilden die matrizen der metapher. dann aber ist die welt: „ein sich selbst gebärendes kunstwerk“ (ksa, nf, , ). aus dem schoß des weiblichen würde die welt geboren, in ihn versänke sie. dadurch erklärte sich, weshalb das wort ‚dereinst‘ nicht nur in die vergangenheit weist, sondern auch, passend zum philosophen des posthumen, initial des zukünftigen ist: „Jetzt ein schiff, dereinst ein mädchen“. weiblichkeit und schrift, reserve und aufschub: „der text bleibt/ ist (r[est]e).“

iii deutlich wurde bisher: in dem selbstbezüglichen gedicht von der kleinen brigg, genannt ‚das engelchen‘, ist die auseinandersetzung mit den medien literatur geworden. angesichts der bisherigen darlegungen ist es deshalb abwegig zu behaupten, dass es für die bedeutung gleichgültig sei, mit welchem schreibwerkzeug ein buchstabe geschrieben wird, wie dies ferdinand de saussure getan hat. schließlich ringt nicht nur nietzsche dem schreiben mit dem neuen medium andere sinnperspektiven ab, auch dem leser erschließt sich die bedeutung des gedichts von der brigg in seiner die ‚mittler der schrift‘ in szene setzenden selbstbezüglichkeit erst vor diesem hintergrund. 

  

 

der sich in europa bahn brechenden kulturellen emanzipation des weibes setzt nietzsche in Jenseits von Gut und Böse die emanzipation des weiblichen wertes entgegen, d. h. die natürlichere natur, die in langer zucht verfeinerte kultur der natur, die in der „tigerkralle unter dem handschuh“ bestehe: „Das, was am Weibe Respekt und oft genug Furcht einflösst, ist seine Natur, die ‚natürlicher‘ ist als die des mannes, seine ächte raubthierhafte listige geschmeidigkeit, seine tigerkralle unter dem handschuh, seine naivität im egoismus, seine unerziehbarkeit und innerliche wildheit, das unfassliche, weite, schweifende seiner begierden und tugenden ...... was, bei aller furcht, für diese gefährliche und schöne katze ‚weib‘ mitleiden macht, ist, dass es leidender, verletzbarer, liebebedürftiger und zur enttäuschung verurtheilter erscheint als irgend ein tier“ (ksa, Jgb, , ). friedrich kittler, NIETZSCHE, DER MECHANISIERTE PHILOSOPH, . „so trat die berühmteste ménage à trois der literaturgeschichte anstelle einer ruinierten schreibmaschine“ (friedrich kittler, Grammophon Film Typewriter, 0). in der ersten hälfte des . Jahrhundert aufgekommen, trägt das wort ‚dereinst‘ sowohl die bedeutung ‚ehemals‘ (im sinne von quondam) als auch ‚künftig‘ (im sinne von aliquando) (Jacob und wilhelm grimm, Deutsches Wörterbuch (Erstbearbeitung) auf CD­ROM, hg. von hans-werner bartz u. a., frankfurt am main 00; lemma: dereinst). Jacques derrida, Glas, münchen 00, 0. ders., Grammatologie, frankfurt am main , .

Nietzsches ‚Wende zur Schrift‘



eindrucksvoll ist das selbstbezügliche spiel, das die medien in metaphorischer gestalt zum thema werden lässt, in der zweiten strophe in szene gesetzt. bemerkenswert ist in ihr, dass der letzte vers offensichtlich per hand eingesetzt ist. dies wäre nicht verwunderlich, wenn ‚der mechanisierte philosoph‘ eine korrektur hätte vornehmen müssen. im fünften vers der zweiten strophe ist allerdings keine „vergessene zeile“ zu sehen, sondern ein markanter eingriff, einschließlich eines „schreibfehlers“. mit der inszenierung des kalligraphischen eingriffs in die typographische ordnung ist die strikte trennung zwischen „objet calligraphique“ und „objet typographique“ (roland barthes) überbrückt.0 der kapitän hinter dem steuerruder wird more metaphorico zum segelfähnchen, das das schiff schmückt: „und das schönste kapitänchen/ bläht an menem steuer sich,/ {als das hunderterste fähchen}“. als eines der fähnchen ist der schreiber, dessen hand die schreibweise der tastatur-fähnchen nachahmt, zu einer serie von buchstaben geworden. symptomatisch, dass man die zahl 0 erhält, wenn man die buchstaben der in der brieffassung zehnmal genannten metapher für das gedicht (‚engelchen‘) und der metonymie, die den autor repräsentiert (‚kapitänchen‘), addiert. in der ‚werkfassung‘, im gleichen Jahr veröffentlicht, hat sich die Besonderheit der Autorschaft verflüchtigt: Das ‚KAPITÄNCHEN‘ ist zu einem graphisch gleichwertigen element unter einer serie von zeichen geworden. durch die Serialisierung des Steuermanns, der eine „Selbstreflexion auf dessen Buchstäblichkeit“ vorangegangen ist, wird der schriftcharakter nochmals hervorgehoben, die dekonstruktion von autorschaft vorangetrieben. das ‚kapitänchen‘, selbst teil einer „zeichenkette“, ist fortan nichts anderes als eine serie von zeichen. markantes indiz für die Reflexion dieser Relativierung von Autorschaft ist, dass Nietzsche in der handschriftlichen version des gedichts zunächst „das allerschönste fähnchen“ schreibt, dann „allerschönste“ streicht und darunter „hunderterste“ setzt. die herausgehobene position wird  

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dieter eberwein, Nietzsches Schreibkugel, . nach dem eindruck, den die faksimiles geben, ist die ganze zeile mit der hand, in für ihren schreiber ansonsten untypischen druckbuchstaben geschrieben. der nachbericht zu den briefen bestätigt dies: „Zeile 15 von Ns Hand mit Bleistift, der Maschinenschrift angepaßt in Großbuchstaben“ (nachbericht zur dritten abteilung, erster teilband, kgw , , ). mit dem ‚schreibfehler‘, der kommentar im nachbericht schreibt schlicht: „statt fähnchen versehentlich fähchen“ (ebd.), wird eindruckvoll die botschaft von der autonomie des autors konterkariert. roland barthes, zit. nach ottmar ette, Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie, frankfurt am main , 0. martin stingelin, Kugeläußerungen. Nietzsches Spiel auf der Schreibmaschine, in: hans ulrich gumbrecht, k. ludwig pfeiffer (hg.): Materialität der Kommunikation. frankfurt am main ,  und: „tatsächlich markiert die schreibmaschine in nietzsches werk einen entscheidenden bruch […] dieses denken einer ursprünglichen Differenz oder Kluft, das als Umkehrungsfigur der präsenzmetaphysik in seiner argumentation mit einem metaphorischen gebrauch der metapher auf einen unendlichen regress zurückgebunden ist […], wird abgelöst durch nietzsches wortspiel als poetische formulierung poetologischer information darüber, wie dieses wortspiel gemacht ist“ (ebd., ). in der Genealogie der Moral begreift nietzsche die geschichte eines ‚dings‘, eines organs, eines brauchs als „fortgesetzte zeichen-kette von immer neuen interpretationen und zurechtmachungen“ (ksa, gm, , ).



Stephan Braun

eingeebnet, das „kapitänchen“ erscheint nicht mehr als das „allerschönste“, sondern als „das hunderterste fähnchen“ (schrt, ). konkret hat sich in den selbstbezüglichen verfahrensweisen mit der malling hansen eingestellt, was michel foucault in Was ist ein Autor? konstatiert: das schreiben (écritu­ re) ist zur öffnung eines raumes geworden, in dem das schreibende subjekt verschwindet, ein ereignis, das sich seit stéphane mallarmé unaufhörlich wiederhole. die pointe dieser metonymie, die die sprachlich-medial-epistemische konstruktion von autorschaft vor augen führt, aufgrund derer der autor (der unterworfene souverän von machtgesättigten Schreibprozessen) als Schrift erscheint, findet in Jenseits von Gut und Böse ihr (vom psychologischen ‚handwerk‘ in szene gesetztes) komplement: „[D]as ‚Werk‘, das des Künstlers, des Philosophen, erfindet erst Den, welcher es geschaffen hat, geschaffen haben soll; die ‚grossen männer‘, wie sie verehrt werden, sind kleine schlechte dichtungen hinterdrein“ (ksa, Jgb, , ). ausgehend von diesen überlegungen wird deutlich, dass das schiff mit den hundert fähnchen einerseits ein bild der schreibmaschine ist, andererseits das gedicht selbst repräsentiert. schiff ist bekanntlich eine metapher für dichtung, hin und wieder ist es weiblich. auf ihm tut ein typographisches ‚kapitänchen‘ dienst, ein steuermann, der aus keinem anderen ‚material‘ als sein Schiff besteht. Die Thematisierung und Reflexion der vielfachen Medialität von schrift führt nicht nur zu einer problematisierung der ‚vermittler‘ von literatur und philosophie, sondern inszeniert zudem spielerisch kritik an der neuzeitlichen vorstellung von autorschaft. im gedicht nimmt ein, diesem subjektzentrierten konzept zuwiderlaufendes modell, konturen an: der autor, von der metapher fortbewegt und umfangen, ist nach dem ‚transport‘ bzw. dem ‚transfer‘ ein überbleibsel der ‚remediation‘. die fähigkeit metaphern zu gebrauchen, lässt sich innerhalb dieses kontexts nicht mehr als gabe des menschen denken, die dieser ohne weiteres autonom gebraucht und frei schaffend beherrscht, die künstlerische existenzweise zeichnet sich vielmehr vor allem dadurch aus, dass der künstler sich von der macht der sprache steuern lässt und medium der metapher wird, regie führt, ohne regisseur zu sein. der regent untersteht  

 





michel foucault, Was ist ein Autor? in: ders., Schriften in vier Bänden/ Dits et Ecrites. Band 1: 1954–1969, frankfurt am main 00, 0. „daß auch die schiffe des traumes weiber bedeuten, machen uns die etymologen glaubwürdig, die behaupten, schiff sei ursprünglich der name eines tönernen gefäßes gewesen und sei dasselbe wort wie Schaff“ (sigmund freud, Die Symbolik im Traum, ). Jacques derrida, Der Entzug der Metapher, in: volker bohn (hg.), Romantik. Literatur und Philo­ sophie. Internationale Beiträge zur Poetik, frankfurt am main , . sandro zanetti bestimmt in anlehnung an Jay david bolter und richard grusin den begriff „‚remediation‘“ als „eine aufnahme, übersetzung, integration, implementierung eines mediums in ein anderes“ (sandro zanetti, (Digitalisiertes) Schreiben. Einleitung, in: davide giuriato; martin stingelin; zanetti (hg.): „System ohne General“. Schreibszenen im digitalen Zeitalter, – Zur Genealogie des Schreibens III, münchen, f. Metaphern zu finden „ist das Einzige, was man nicht von einem anderen erlernen kann, und ein Zeichen von begabung. denn gute metaphern zu bilden bedeutet, daß man ähnlichkeiten zu erkennen vermag“ (aristoteles, Poetik, f.). dennoch geht es nicht um die reaktivierung der von platon abgewerteten vorstellung von inspiration, sondern um die aufwertung von medialität: wenn die kraft durch einhauchen (īnspīrātio) übertragen wird, dann nicht (von) einem rhapsoden, sondern den ‚mittlern der schrift‘. denn allein

Nietzsches ‚Wende zur Schrift‘



nunmehr dem regiment. alle register zu ziehen, ist vielleicht allein für denjenigen möglich, der sich von der metapher umfangen und fortbewegen lässt. konsequent, dass das autorschaftsmodell, das in diesem schreibmaschinen-gedicht konturen annimmt, schon an ein „System ohne General“ (gilles deleuze, félix guattari) gemahnt.00 die relativierung von autorschaft und die performanz der schrift gehen schließlich hand in hand: „[d]ie schrift [‚écriture‘] [zerstört] jede stimme, jeden ursprung […] die schrift ist der unbestimmte, heterogene, unfixierbare Ort, an dem unser Subjekt entflieht, das Schwarzweiß, in dem sich jede identität aufzulösen beginnt, angefangen mit der des schreibenden körpers.“0 an die stelle der spuren, die auf die präsenz eines anwesenden verweisen, treten reste, repräsentation eines abwesenden. Nietzsches Gedicht, in dem Metaphorizität und Medialität thematisiert, reflektiert und problematisiert werden, geht noch über die relativierung von autorschaft hinaus. schließlich ist über das selbstbezügliche spiel mit den metaphern und medien eine ‚wende zur schrift‘ vollzogen, die ihren ersten höhepunkt in Also sprach Zarathustra und einen weiteren in der ‚auto-bio-graphie‘ Ecce Homo erreicht, eine kehre also, die nicht nur den schriftsteller und das gedicht von der KLEINEN BRIGG, GENANNT ‚DAS ENGELCHEN‘ in einen unendlichen prozess der remediation eingelassen sieht, sondern autorschaft und textualität überhaupt in neuem licht erscheinen lässt. es gibt also handhabe, um den nach der schreibmaschinen-episode mehr denn je mit notizheft und bleistift wandernden als ersten genuinen denker der schrift auszuweisen.



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wer sich einen „rest von aberglauben“ bewahrt, kann glauben, „bloss mundstück, bloss medium“ zu sein (ksa, eh, , ). beispiele für diese aktive passivität des sich-von-der-sprache-umfangen-lassens, die der anonymität der steuerungsfunktion entspricht, sind zahlreich. in den Dionysos­Dithyramben wird das schiff, als metapher für die metapher, schließlich zur mobilen ruhestätte, die die überreste des lebenden dem meer der schrift und damit dem werden übergibt. die schifffahrt steht für den prozess der remediation, durch den dem tod begegnet werden kann. in Die Sonne sinkt erreicht diese ‚kryptographie‘ eines überlebenden ihren höhepunkt. die metapher stellt hier das genuine thanatographische transportmittel des überlebenden (in) der schrift dar, eines überlebenden, der im lebenden einstmals „nur eine art des todten“ sah (ksa, fw, , ), so dass nicht auszuschließen ist, dass das tote eine form des lebens einschließt: am abend seines lebens, das anagramm als spur zukünftiger navigationen auf dem meer unendlicher interpretationen, ist der überlebende, die graphischen ausläufer verweisen auf die letzte reise ins ungefähre, unvermittelt, aufgehoben und versehrt: „silbern, leicht, ein fisch/ schwimmt nun mein nachen hinaus“ (ksa, dd, , ). dies der programmatisch gilles deleuze und pierre-felix guattari entnommene titel des dritten bandes der Genealogie des Schreibens: „Als ‚azentrisches, nicht hierarchisches und asignifikantes System ohne General‘ kennzeichnen Deleuze und Guattari das ‚Rhizom‘, jenes Wurzelgeflecht, das in Mille Plateaux als dynamisches modell, im unterschied zum hierarchischen modell des baumes, mit dem anspruch eingeführt wird, alle ‚möglichen arten des werdens‘ von dezentralen, netzartigen organisationsformen und verkettungen von ereignissen zu beschreiben und konzeptuell zu erfassen“ (sandro zanetti, (Digitalisiertes) Schreiben: Einleitung, ). roland barthes, Der Tod des Autors, in: uwe wirth (hg.), Performanz. Zwischen Sprachphiloso­ phie und Kulturwissenschaften, frankfurt am main 00, 0.

holger brohm

‚die verklärte welt des auges‘ der traum als medium des selbst

das . Jahrhundert war ein Jahrhundert des traums. es setzte ein mit den romantischen bemühungen um die emanzipation der phantasie, die im zeitalter der aufklärung aufgrund ihres ungeregelten charakters noch als gefährdung des bürgerlichen subjekts angesehen und daher dem disziplinierten vermögen der einbildungskraft nachgestellt wurde, welche sich der herrschaft der vernunft untergeordnet hatte. mit der aufwertung der phantasie erfuhr der traum seine nobilitierung zum zentralen ästhetischen phänomen. damit ging die umkehrung des verhältnisses von traum und wirklichkeit einher: „die welt wird traum, der traum wird welt“ lautete das leitmotiv in novalis’ Heinrich von Ofterdingen. in dieser wesenhaften einheit wurde der traum durch novalis zum ursprung der schöpfung und somit auch der kunst erhoben, zusätzlich bewahrte er die im geschichtlichen prozess unleserlich gewordene erinnerung an die verlorengegangene paradiesische sprache in form seiner hieroglyphenschrift auf: der traum wird zum Speichermedium der spezifisch kodierten menschlichen Ursprungserfahrung. neben dem metaphysischen traumkonzept der romantik entwickelte sich im . Jahrhundert ein zweiter, empirisch orientierter strang des traumdiskurses, der auf ein psychologisch bzw. physiologisch fundiertes traumverständnis zielte. hier verloren der rätselcharakter der traumbilder, der auch in künstlerische produktionen und technische medienapparaturen implementiert wurde, sowie die problematik ihrer sinnzuschreibung (der lesbarkeit der träume) an bedeutung; statt dessen interessierten die dem traumvorgang zugrunde liegenden psychischen abläufe und funktionen. im ergebnis wurde   

paraphrase eines zitats aus friedrich nietzsches Die dionysische Weltanschauung (ksa, dw, , ). novalis, Heinrich von Ofterdingen, in: ders., Schriften, band : Das dichterische Werk, stuttgart 0, . zur entwicklung medizinischer, philosophischer, literarischer traumdiskurse in ihren eigenen entfaltungen und wechselseitigen Verflechtungen, die sich im 19. Jahrhundert in Frankreich vollzogen haben: susanne goumegou, Traumtext und Traumdiskurs. Nerval, Breton, Leiris, münchen 00, –; zum deutschsprachigen psychologischen traumdiskurs in der zweiten hälfte des  . Jahrhunderts: stefan goldmann, Via Regia zum Unbewussten. Freud und die Traumforschung im 19. Jahrhundert, gießen 00; ders. (hg.), Traumarbeit vor Freud. Quellentexte zur Traumpsychologie im späten 19. Jahrhundert, gießen 00.



Holger Brohm

der prozess der durchdringung aller lebensbereiche durch eine nach den kriterien des positivismus organisierte rationalität bis in die bereiche des schlafes vorangetrieben, bestimmte erkenntnisse wie die entdeckung des psychischen automatismus durch Jules baillarger setzten jedoch der herrschaft der rationalität und des freien willens gewisse grenzen. das Jahrhundert des traumes endete mit sigmund freud, der  seine Traumdeutung abschloss und versuchte, mit der symbolischen datierung der veröffentlichung auf 00 bereits in das neue Jahrhundert zu gelangen, ohne doch das alte hinter sich lassen zu können. freud begnügte sich nicht mit den erklärungen des traums als somatischem vorgang, er sah in ihm vielmehr einen seelischen akt, der gleichwertig in die gesamtheit der menschlichen seelischen aktionen verkettet ist. die deutung der träume setzte für ihn die genaue kenntnis des seelischen apparates und der von ihm geleisteten traumarbeit voraus. genau diese einsicht in den bau des seelischen apparates zu liefern, war die erklärte absicht freuds, die er in den fallstudien und theoretischen herleitungen der umfangreichen Traumdeutung verfolgte: mit dem erfolg, einen neuen diskurs zu begründen. der vorangestellte kurze gang durch das kulturelle feld der traumdiskurse hat keineswegs zum ziel, friedrich nietzsches traumdenken in einer evolutionären abfolge von denkern und themen zu platzieren. das hieße zum einen, nietzsche in ein schema des historismus zu pressen, gegen das er sich polemisch in seinen schriften gewendet hat. insofern erübrigt sich auch die oft diskutierte frage, ob und inwieweit nietzsche bereits vor freud eine psychoanalytische theorie avant la lettre entwickelt habe. zum anderen würde man auf diese weise die traumdiskurse im . Jahrhundert ihres charakteristikums einer interdiskursiven gemengelage berauben, die erst die gleichzeitigkeit des ungleichzeitigen von positivistisch-wissenschaftlicher entzauberung und romantisch-philosophischer Aufladung der Traumphänomene erklärt. Jedoch wird dank der skizze deutlich, in welcher konstellation nietzsches traumdenken einsetzt und welchen spezifischen Einsatz er dabei einbringt. Unter dieser Voraussetzung sollen im folgenden die traumgedanken nietzsches, mit einem schwerpunkt auf die Geburt der Tragödie, einer re-lektüre unterzogen werden, die frage nach den dimensionen des medialen ins zentrum der aufmerksamkeit stellend.

i. gemessen am gesamtumfang seiner überlieferten texte nehmen nietzsches äußerungen zum Traum keinen großen Raum ein, sie finden sich jedoch zum Teil an prominenter Stelle, wie in der tragödienschrift, in den aphorismensammlungen, besonders in Menschli­ ches, Allzumenschliches, und in den traumerzählungen des Zarathustra. darüber hinaus sind auch in den Nachgelassenen Fragmenten spuren des traumdenkens zu erkennen, die als vorarbeiten zum einen zu späteren veröffentlichungen führen, die zum anderen  

sigmund freud, Die Traumdeutung. gesammelte werke, bd. /, frankfurt am main , 00. christina lissmann, Der Traum bei Nietzsche und Freud, in: Johann figl (hg.), Von Nietzsche zu Freud. Übereinstimmungen und Differenzen von Denkmotiven, wien , –; eine umfassende analyse der relation beider denker gibt reinhard gasser, Nietzsche und Freud, berlin, new york .

‚Die verklärte Welt des Auges‘



aber kleine, gleichsam absichtslose einschlüsse bilden und nicht in die entstehungsgeschichte anderer texte eingebunden sind. insbesondere aus letzteren geht hervor, dass nietzsche nicht nur ein traumdenker war, sondern ebenso ein geübter träumer gewesen sein muss. so pries er des öfteren die heilende kraft des schlafes, um dann in einem fragment aus dem sommer  hinzuzufügen: „der schlaf ohne traum – das wäre mir das höchste böse“ (ksa, nf, 0, 0). und in der Fröhlichen Wissenschaft heißt es: „man träumt gar nicht, oder interessant“ (ksa, fw, , ). nietzsches traumdenken verdankt wesentliche einsichten der lektüre antiker wie auch zeitgenössischer autoren, hier ist neben arthur schopenhauer vor allem der englische anthropologe edward tylor zu nennen. bestimmte topoi des traumdenkens, wie zum beispiel blaise pascals gleichnis vom handwerker, der sich jeden tag zwölf stunden als könig träumt und sich schließlich als solchen wähnt, werden aufgenommen und variiert (ksa, wl, , ). Jedoch treten die intertextuellen bezüge nicht in jedem fall so offen zutage, durch ihre Kombination bzw. Konfrontation mit anderen Begrifflichkeiten oder durch die übertragung in neue zusammenhänge werden sie oft fast unkenntlich. so lässt sich im ergebnis eines durchgangs durch die texte kaum eine konsistente traumtheorie bestimmen, zu vielfältig sind die zusammenhänge, in denen der traum thematisiert wurde. nicht zu vergessen, dass nietzsche sein denken selbst einigen wendungen und damit zugleich frühere texte einer selbstkritik unterzogen hat.

ii. in einem kleinen aufsatz stellt der berliner philosoph steffen dietzsch die spielerische, aber nicht unbegründete spekulation an, welche konsequenzen sich aus der reise nach paris ergeben hätten, die nietzsche gemeinsam mit leipziger freunden für das Jahr  geplant hatte. im diesem Jahr erschienen die Gesänge des Maldoror, jene die gewöhnliche vorstellungskraft übersteigenden tagträume des jungen isidore-lucien ducasse, der sich den nom de plume lautreamont gegeben hatte. von dessen zeitgenossen blieb 





dazu die überlieferte aufzeichnung des jährigen nietzsche vom sommer : „es ist eigenthümlich, wie rege die pfantasie [!] im traume ist; ich, der ich immer des nachts bänder von gummi um die füße trage, träumte, dass zwei schlangen sich um meine beine schlängelte, sofort greife ich der einen an den kopf, wache auf und fühle dass ich ein strumpfband in der hand habe“ (kgw ,, 0). unter diesen umständen verwundert es nicht, dass der träumende philosoph mittlerweile selber zur figur literarischer texte von sebastian barker (The Dream of Intelligence, manchester ) oder von Joachim köhler (Nietzsches letzter Traum, münchen 000) avanciert ist. herbert treiber unternahm die modellhafte analyse eines traumaphorismus unter der zuhilfenahme von nietzsches ‚idealer bibliothek‘, soweit sie sich rekonstruieren lässt; er verweist auf nietzsches technik, sich solcher begriffe zu bedienen, die einer langen tradition wahrnehmungs- und erkenntnistheoretischer diskurse entstammen (hubert treiber, Zur „Logik des Traumes“ bei Nietzsche. An­ merkungen zu den Traumaphorismen aus Menschliches, Allzumenschliches, in: Nietzsche­Studien  (). steffen dietzsch, Nietzsche und die Gesänge des Maldoror, in: gerhard schweppenhäuser, Jörg h. gläser (hg.), Nietzsches Labyrinthe. Perspektiven zur Ästhetik, Ethik und Kulturphilosophie, weimar 00.

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Holger Brohm

das buch unbeachtet, es wurde erst von den surrealisten um andré breton entdeckt und bekannt gemacht. dietzsch imaginiert dennoch ein zufälliges treffen des philosophen nietzsche mit dem schriftsteller lautreamont und fragt nach den auswirkungen, die sich aus der begegnung der beiden männer, die in einigen aspekten gleichgesinnt erscheinen, sich jedoch in ihrem kulturellen erfahrungshorizonten unterscheiden, hätten ergeben können. in der realität kam es nicht zu dem erträumten zusammentreffen, denn nietzsche blieb in basel und veröffentlichte dort  die schrift Die Geburt der Tra­ gödie aus dem Geiste der Musik. mit ihr teilte er das schicksal lautreamonts, unter den kollegen auf weitgehende ablehnung zu stoßen. neben den vielen provokationen, mit denen die abhandlung aufwartete, musste aus pariser sicht, aus der kenntnis nicht nur von lautreamont, aber auch von charles baudelaires lyrik und mehr noch von gérard de nervals Aurelia9, das unzeitgemäße des traumbegriffs überraschen, den nietzsche hier in anwendung brachte. nachdem er im hauptteil das thema der schrift angeschlagen hat, die analyse des apollinischen und des dionysischen kunsttriebes, die beide an die getrennten kunstwelten des traumes und des rausches gebunden sind, gibt nietzsche die folgende erklärung: „im traume traten zuerst, nach der vorstellung des lucretius, die herrlichen göttergestalten vor die seelen der menschen, im traume sah der grosse bildner den entzückenden gliederbau übermenschlicher wesen, und der hellenische dichter, um die geheimnisse der poëtischen zeugung befragt, würde ebenfalls an den traum erinnert“ (ksa, gt, , ). der traum wird mit einem beglückenden luziden bild gleichgesetzt, an dem nichts Verwirrendes oder auch Unheimliches zu erkennen ist: wie ist diese begriffliche Unstimmigkeit zu erklären? in der gegenüberstellung von traum und rausch zeigt sich zunächst nietzsches bestreben, seine ästhetik auf physiologischen prinzipien zu verankern, deren polarität er im fortgang der argumentation noch verstärkt. so wird der traum als individualisierend im gegensatz zum entindividualisierenden rausch gefasst; er ist an das bild gebunden und erzeugt im modus des schönen eine lust; dagegen ist der rausch mit der musik verknüpft, er agiert im modus des erhabenen usw. die konfrontation beider prinzipien ist insoweit nachvollziehbar; dagegen ergeben sich aus ihrer bezeichnung als traum und rausch, die in der zeitgenössischen psychologie als benachbarte und somit vergleichbare phänomene betrachtet wurden0, einige fragen, deren sich nietzsche selbst bewusst war, wenn er noch  in einem späten fragment von der apollinischen vision sprach: 

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zur analyse des aus einem weiten traumbegriff (neben dem traum den wahn und die vision einschließenden) resultierenden traumdiskurses in gérard de nervals Aurélia, in der traum und leben zwei ineinander übergehende welten darstellen (susanne goumegou, Traumtext und Traumdiskurs, –0). alfred maury, Le sommeil et les rêves. Ètudes psychologiques sur ces phénomenes et les divers états qui s’y rattachent, paris ; siehe auch die erst nach nietzsches tragödien-schrift veröffentlichte abhandlung von paul radestock, Schlaf und Traum. Eine physiologisch­psychologische Untersu­ chung, leipzig . „es giebt zwei zustände, in denen die kunst selber als eine art naturgewalt im menschen auftritt: einmal als vision, andrerseits als der dionysische orgiasmus. dieselben sind physiologisch vorgebildet im traum und im rausch: ersterer als einübung jener kraft zur vision verstanden, als eine lust am gestalten-sehen, gestalten-bilden“ (ksa, nf, , ).

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die vision galt in der antike ebenso wie der traum als botschaft göttlichen ursprungs. damit wird noch einmal deutlich, dass nietzsches traumbegriff nur durch den bezug auf antike Quellen, von ihm selbst schon durch den verweis auf lukrez angezeigt, zu erklären ist. bereits in der antike unterlag der traum in seiner höchst unterschiedlichen phänomenalität bestimmten kategorisierungen. am bekanntesten dürfte in dieser hinsicht die von homer im . gesang der Odyssee erwähnte unterscheidung der träume nach ihrer herkunft sein: „die verständige penelope sagte: ‚fremder, es gibt unerforschliche träume von dunkler sprache, und nicht alles erfüllt sich, was sie den menschen ankündigen. Es gibt zwei Pforten für die flüchtigen Träume: eine aus Horn, die andere aus Elfenbein. die durch das polierte elfenbein kommen, trügen uns und bringen leere worte; und die durch das geglättete horn gehen, verkünden dem sterblichen, der sie sieht, dinge, die wirklich wahr werden.‘“ galten homer alle träume als göttlichen ursprungs, so differenzierte sich im weiteren die ansicht über die herkunft der träume. zwar gab es weiterhin den traum voraussagenden charakters, somnium, die träume illusionären charakters ohne jeden bezug zur wahrheit sah man dagegen aus einem körperlichen mangel hervorgehen: insomnium, das aus einer gewissen Schlaflosigkeit hervorgehende Traumbild. Die spätantiken Traumkritiker artemidor von daldis und macrobius, die wahrscheinlich auf ähnliche, nicht überlieferte griechische Quellen zurückgegriffen haben, verfeinerten im weiteren die differenzkriterien; sie unterschieden nicht mehr nur die bedeutungsvollen von den bedeutungslosen träumen, zudem bezogen sie erstere in allegorischer oder theorematischer weise auf verschiedene referenten. während für artemidor die träume (enhýpnion) aus den affekten des individuums hervorgingen, standen die traumgesichte (óneiros), zu denen auch die visionen und orakel zählten, zur gegenwärtigen und zukünftigen welt in beziehung. „so unterscheiden sich denn enhýpnion und óneiros in allen stücken, das erste spricht vom individuum, der zweite von den ereignissen der welt; das eine erwächst aus zuständen des körpers und der seele, der andere greift voraus über den ablauf der zeit; das eine bekundet das spiel des zuviel und zuwenig im bereich der gelüste und abneigungen; der andere benachrichtigt die seele und bildet sie zugleich. auf der einen seite sagen die träume des begehrens das wirkliche der seele in ihrem aktuellen zustand; auf der anderen sagen die traumgesichte des seins die zukunft des geschehens in der ordnung der welt.“    

einen überblick in das griechische traumdenken gibt christine walde, Antike Traumdeutung und moderne Traumforschung, düsseldorf 00. homer, Odyssee XiX, f.; zit. nach der fassung von Jorge luis borges, Buch der Träume, frankfurt am main , . artemidor von daldis, Das Traumbuch, aus dem griech. übertragen, mit einem nachwort, anmerkungen und literaturhinweisen versehen von karl brackertz, münchen . michel foucault, Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3, frankfurt am main , . in der perspektive des nietzsche-lesers foucault erscheint die traumkritik als ‚existenztechnik‘; er verwendet damit einen begriff, der an den der kulturell kodierten ‚körpertechniken‘ von marcel mauss anschliesst. nietzsche hat bereits im august  das traumbuch des artemidor zur kenntnis genommen (barbara von reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ (Kap. 1–12), stuttgart, weimar , .



Holger Brohm

Diese Typologie der Träume findet aber bei Nietzsche keine Verwendung. Im Anschluss an lukrez bestimmt er den traum als voraussetzung und im gleichen zug als resultat ästhetischer produktion, dem apollinischen schönen. interessanterweise vollzieht sich hier eine umkehrung des traditionellen verständnisses vom zusammenhang von kunst und traum: es wird nicht der traum am modell der kunst, sondern die kunst am modell des traumes erklärt. der träumer ist nicht der versteckte künstler, der freilich kein manifestes artefakt vorweisen kann, sondern es muss erst träumen, wer künstler werden will, denn der traum stellt ihm den entwurf vor augen, nach dem er schafft. mit anderen worten: der traum wird als organ der wahrnehmung und der darstellung von welt angesehen, die im modus des scheins erfolgt. der schein erscheint als zweite ebene der wirklichkeit, er eint kunst und traum und steigt in nietzsches ästhetischer theorie zu einer zentralen kategorie auf. im schein ist die wirklichkeit der unmittelbaren anschauung entzogen, weil sie wie hinter einem schleier verborgen ist oder aber weil wir von dem strahlenden schein, wie er von der mit gold und elfenbein besetzten zeus-statue des phidias in olympia ausgeht, geblendet sind und den blick abwenden, die augen schließen müssen: „das schauen, das schöne, der schein umgränzt das bereich der apollinischen kunst: es ist die verklärte welt des auges, das im traum, bei geschlossenen augenlidern, künstlerisch schafft“ (ksa, dw, , ). doch gerade aus dem nach innen gewendeten blick ergeben sich gefahren für den apollinischen träumer, die „verklärte welt des auges“ muss sich erkämpft werden, „wenn wir […], um überhaupt mit dieser inneren lust am schauen träumen zu können, den tag und seine schreckliche zudringlichkeit völlig vergessen haben müssen“ (ksa, gt, , ). doch kann sich das individuum widerspruchslos von den ansprüchen des tages frei halten? spätestens an diesem punkt kippt nietzsches traumdiskurs aus der antike in die eigene gegenwart: „gefährlichkeiten und schrecken“ breiten sich im traum aus (ebd., ), der dadurch einen zwiespältigen charakter gewinnt. so lässt sich auch auf nietzsche übertragen, was gerhard neumann aus der analyse der traumwelten von Jean paul geschlossen hat. neumann erkennt eine „abfederungsfunktion des traumes“, die eine erfahrung des erhabenen fundiert, in der sich das endliche, seiner selbst bewusste subjekt in dem Konflikt mit der Unendlichkeit seines Unbewussten erfährt. dabei ist es jedoch der traum selbst, der diesen blick in den abgrund des eigenen selbst, des „inneren afrikas“ (Jean paul) eröffnet.

iii. mit der rede vom schauen und vom blick, aber auch vom scheinen eröffnet sich die frage nach der medialität der traumwahrnehmung, nach der mittelbarkeit unseres welt- und selbstverhältnisses. die frage nach den medien zielt aber nicht nur auf die technischen apparaturen der bilderzeugung vom spiegel über die camera obscura bis hin zum film 

gerhard neumann, Traum und Transgression. Schicksale eines Kulturmusters: Calderón – Jean Paul – E. T. A. Hoffmann – Freud, in: ders., rainer warning (hg.), Transgressionen. Literatur als Ethnographie, freiburg i. br. 00, 00.

‚Die verklärte Welt des Auges‘



oder den computergestützen digitalen bildprogrammen, sosehr auch der scheincharakter der von ihnen erzeugten bilder zur analogie mit dem traum einlädt und als modell der erklärung dient. als medien sollen im allgemeinsten sinn alle träger von informationen bezeichnet werden, die dem menschlichen zugriff auf die wirklichkeit form verleihen. die medien sind damit nicht etwas, was den kulturellen aktivitäten äußerlich bleibt, ihnen hinzugefügt ist; sie sind vielmehr diesen handlungen immer schon inhärent. oder wie es die medienphilosophin sybille krämer formuliert: „medien aisthetisieren; sie phänomenalisieren kognitive und kommunikative welten. nur soweit es medien gibt, können wir zeichen überhaupt erzeugen, zirkulieren lassen, verändern, speichern, löschen. allerdings […]: indem medien aisthetisieren, wird das semiotische nicht nur konstituiert und befördert, sondern zugleich auch überschritten und unterminiert. die materialität, körperlichkeit und ereignishaftigkeit des medialen birgt einen überschuss gegenüber jeder semiotischen ordnung, die in ihr zur geltung kommt.“ angesichts des problems, die auswirkungen der medien zu fassen, könnte man mit einem hinweis auf die schon sprichwörtlich gewordene aussage marshall mcluhans ‚the media is the message‘ verweisen und zur tagesordnung übergehen. tatsächlich scheint nietzsches parallelisierung von traum und kunst in der Tragödien-schrift mcluhans these zu bestätigen, nach der die inhalte der medien immer schon die jeweils älteren medien seien: danach hätte die kunst den traum zum inhalt. diese antwort bleibt jedoch unbefriedigend, zuwenig wird damit das gefangensein in den bildern erklärt. in dieser hinsicht ist es angebracht, auf die bildanthropologischen untersuchungen des kunsthistorikers hans belting zurückzugreifen, in deren rahmen „die bildfrage als körperfrage“ behandelt wird. belting geht von einer komplizenschaft des blicks mit dem körper aus, die zum bild führt und dem menschen die herrschaft über die bilder streitig macht. „der körper ist ein ort für die projektion und den empfang von bildern.“ zudem ist er auch ein speicher von bildern, die sich ständig in das sehen einmischen, und das sowohl im wachen als auch beim träumen. aus den interventionen des körpers resultiert die besondere komplexität des medialen hinsichtlich des bildes: „der medienbegriff hat in der bilderfrage eine andere bedeutung. hier sind medien die körper der bilder. zwischen bild, körper und medium verschiebt sich die konstellation immer aufs neue, und doch kann man im bild weder den körper noch das medium ausblenden.“0 aber auch im körper lassen sich weder bild noch medium ausblenden, so dass Belting vom Körper als „lebendem Medium“ spricht, dessen Spezifik einen besonderen blick auf die sinne und die sinnestätigkeiten erlaubt. beltings bildanthropologie ist ein offenes projekt, das die fragestellungen vorantreibt, die aus dem pictural turn hervorgehen. aus der damit eröffneten perspektive ge

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zur unterscheidung einer starken, weiten bedeutungsvariante des medienbegriffs und einer schwachen, eingeschränkten: Jochen schulte-sasse, Medien/medial, in: karlheinz barck, martin fontius, dieter schlenstedt, u. a. (hg.), Ästhetische Grundbegriffe, bd. , stuttgart, weimar 00, . sibylle krämer, Das Medium zwischen Zeichen und Spur, in: gisela fehrmann, erika linz, cornelia epping-Jäger, Spuren Lektüren. Praktiken des Symbolischen, münchen 00, f. hans belting, Blickwechsel mit Bildern. Die Bildfrage als Körperfrage, in: ders. (hg.), Bilderfra­ gen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, münchen 00, . ders., ebd.



Holger Brohm

winnt nietzsches unzeitgemäßer traumbegriff neue aktualität, seine erläuterung des apollinischen traumes liest sich dann wie ein vorgriff auf beltings analyse der herkunft der bilder: „vielmehr geht es darum, dass menschen am eigenen körper erfuhren, wie bilder entstehen, bevor sie selbst daran gingen, bilder künstlich herzustellen. vielleicht kann man noch weitergehen und sagen, dass sie durch schatten und wasserspiegel erfuhren, was bilder sind, und dass diese erfahrung den trieb auslöste, nicht nur selbst zum bild zu werden, sondern ähnliche bilder herzustellen.“

zwar geht belting nicht darauf ein, doch in seiner argumentation scheint der apollinische kunsttrieb durch, für den der träumende körper zum medium wird, um den geträumten körper als bild zu produzieren. in der ‚artistenmetaphysik‘ der Geburt der Tragödie hat der geträumte, in der „verklärten welt des auges“ geschaute körper noch eine göttliche gestalt; in dem maße aber, in dem er den leib zum leitfaden seiner philosophie bestimmte, wurde der träumer selbst zum geschauten akteur des traumes – in einer vielzahl von personen, zu denen er das material in sich trägt: „ebenso zeigt uns der traum, wie sehr wir andere personen sein könnten – wir machen es sehr gut nach“ (ksa, nf, , 0). die medialität des an den körper gebundenen traums erlaubt eine besondere selbstbeziehung, die dem träumenden ich zum beispiel auch die erfahrung des schwebens ermöglicht, die ihm im wachen verwehrt bleibt: „[u]nsere träume sind zu alledem viel mehr unsere erlebnisse als man glaubt“ (ebd., ). der traum ermöglicht somit eine Selbstreflexion, die alle Bezüge eines Individuums auf andere und anderes einbezieht. Im Diskurs der Moderne wird diese Form der ästhetischen Selbstreflexion mit dem emphatischen begriff der subjektivität belegt, einem begriff, der kaum nietzsches ungeteilte zustimmung fand. dass diese selbstbezüglichkeit im medium des traumes erprobt wird, macht neben den lustvollen momenten auch auf dessen illusionären, scheinhaften charakter aufmerksam. am ende des . Jahrhunderts vermochte nietzsche nicht mehr das hohe lied vom ‚traum im traum‘ zu singen, das einige Jahrzehnte zuvor im umfeld der romantischen bewegung angestimmt wurde. so behauptete Johann gottlieb fichte in seiner abhandlung über Die Bestimmung des Menschen, dass „bilder […] das einzige [sind], was da ist, und sie wissen von sich, nach weise der bilder“. einige zeilen später fügte er hinzu: „alle realität verwandelt sich in einen wunderbaren traum, ohne ein leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen geist, der da träumt; in einen traum, der in einem traume von sich zusammenhängt. das anschauen ist der traum; das denken, – die Quelle allen seins, und aller realität, die ich mir, meines deins, meiner kraft, meiner zwecke – ist der traum von jenem traume.“  



ders., ebd., . zur problemgeschichte moderner subjektivität: Josef früchtl, Die Unverschämtheit, Ich zu sagen – ein künstlerisches Projekt der Moderne, in: michael lüthy, christoph menke (hg.), Subjekt und Medium in der Kunst der Moderne, berlin 00, –. Johann gottlieb fichte, Die Thatsachen des Bewusstseyns, in: Fichtes gesammelte Werke. hg. von immanuel hermann fichte, bd. : Zur theoretischen Philosophie II, berlin  (fotomechanischer nachdruck der ausgabe von /), .

‚Die verklärte Welt des Auges‘



nietzsches replik gegen solche phantasie der verschmelzung fällt lapidar aus: „der größte theil unseres wesens ist uns unbekannt.trotzdem lieben wir uns, reden als von etwas ganz bekanntem, auf grund von ein wenig gedächtniß. wir haben ein phantom vom ‚ich‘ im kopfe, das uns vielfach bestimmt“ (ksa, nf, , ). es ist der schein des traumes, der dem individuum den blick auf die unermesslichkeit des „phantoms vom ‚ich‘“ erspart und ihm eine einheit imaginiert, wo lediglich eine ungeordnete vielheit aufzufinden ist.

iv. so ist der traum immer ein doppeltes, wobei jeweils beide elemente in einem spannungsvollen verhältnis der komplementarität zueinander stehen. der traum ist leiblichsomatisches und psychisches problem, er trägt als vorgang mediale Qualitäten und ist als resultat bild, er ist eine form des zugangs zur welt und privilegierter wie problematischer modus der selbsterfahrung. das . Jahrhundert als ein Jahrhundert des traumes im sinne einer urgeschichte der moderne zu analysieren ist der bestimmende ansatz für walter benjamins unabgeschlossenes Passagen­Werk: „das XiX Jahrhundert ein zeitraum (ein zeittraum), in dem das Individualbewusstsein sich reflektierend immer mehr erhält, wogegen das Kollektivbewusstsein in immer tieferem schlafe versinkt.“ benjamin möchte diesem big sleep, dessen traum in der architektur, der technik oder der mode ästhetische gestalt angenommen hat, ein ende bereiten und zum erwachen als der dialektischen form des eingedenkens treiben. und noch einmal erfolgt der rückgriff auf ein bild der antike: „das kommende erwachen“, so benjamins geschichtlichesphilosophische hoffnung, „steht wie das holzpferd der griechen im troja des traumes“.

 

walter benjamin, Passagen­Werk, in: ders., Gesammelte Schriften, bd. v, , frankfurt am main , . ders., ebd. .

annette bitsch

physiologische ästhetik

nietzsches konzeption des körpers als medium

. physiologische ästhetik im charakteristischen stil, nämlich mit der dynamik eines hammers zerstört nietzsche alle filigranen, feingeistigen von klassischer Schule dressierten Gefühlsantennen, die im sinnlichen Schein des Kunstwerks die Levitation von Seele, Urbild, tiefem Sinn erspüren. Er diffamiert all jene, die in platonischer Tradition in der Schönheit des Kunstwerks nicht die Sinnlichkeit von Form und Farbe, Lilino, Celeste und Bleu Planète, sondern vielmehr den übersinnlichen Charakter dieser Schönheit anbeten. Mit unverbesserlichem Donnerhall verweist er, für den Seele Nervenaktivität und der tiefe Sinn ein wirksames narkosemittel ist, auf „jene gänzlich irrthümliche Scheidung von ‚Geist‘ und ‚Körper‘ […], die, besonders seit Plato, wie ein Fluch auf der Philosophie liegt […] Alle jene Vielheit und Buntheit der erfahrungsmäßig bekannten Welt, der Wechsel ihrer Qualitäten, die Ordnung in ihrem Auf und Nieder wird erbarmungslos als ein bloßer Schein und Wahn bei Seite geworfen […] Nur in den verblaßtesten, abgezogensten Allgemeinheiten, in den leeren Hülsen der unbestimmtesten Worte soll jetzt die Wahrheit wie in einem Gehäuse aus Spinnefäden, wohnen: und neben einer solchen ‚Wahrheit‘ sitzt nun der Philosoph, ebenfalls blutlos wie eine Abstraktion und rings in Formeln eingesponnen. Die Spinne will doch das Blut ihrer Opfer; aber der parmenideische Philosoph haßt gerade das Blut seiner Opfer, das Blut der von ihm geopferten Empirie“ (KSA, PHG, 1, 844). Er beleidigt Oberlehrer, die im Geiste eines Christian Fürchtegott Gellert die Subjekte vermittels der Kunst von einer korrupten Wirklichkeit purgieren, sie existentiell am Wahren, Guten, Schönen ausrichten und auf das Absolute der Idee hin emotionieren, indem 

„Religion und Kunst (auch die metaphysische Philosophie) bemühen sich, auf die Aenderung der Empfindung zu wirken […] Je mehr Einer dazu neigt, umzudeuten und zurechtzulegen, um so weniger wird er die Ursachen des Uebels in’s Auge fassen und beseitigen; die augenblickliche Milderung und Narkotisirung, wie sie zum Beispiel bei Zahnschmerz gebräuchlich ist, genügt ihm auch in ernsteren Leiden. Je mehr die Herrschaft der Religionen und aller Kunst der Narkose abnimmt, um so strenger fassen die Menschen die wirkliche Beseitigung der Uebel in’s Auge, was freilich schlimm für die Tragödiendichter ausfällt – denn zur Tragödie findet sich immer weniger Stoff, weil das Reich des unerbittlichen, unbezwinglichen Schicksals immer enger wird – , noch schlimmer aber für die Priester: denn diese lebten bisher von der Narkotisirung menschlicher Uebel“ (KSA, Ma-1, 2, 108).

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Annette Bitsch

er andere, ganz andere Motive unterstellt: „So haben sich einige Völker, vermöge dieser Kunst des Idealisirens, aus Krankheiten grosse Hülfsmächte der Cultur geschaffen: zum Beispiel die Griechen, welche in früheren Jahrhunderten an grossen Nerven-Epidemien (in der Art der Epilepsie und des Veitstanzes) litten und daraus den herrlichen Typus der Bacchantin herausgebildet haben. – Die Griechen besassen nämlich Nichts weniger, als eine vierschrötige Gesundheit“ (KSA, MA-1, 2, 175). Er zerschmettert die in Marsilio Ficinos Theologia platonica niedergelegten Grund- und Heilssätze zur göttlichen Idee des schönen2, verstört Kastalische Quellen und sabotiert die Mission à la Leonardo da Vinci, Albrecht Dürer, Michelangelo Buonarotti (Humanismus, Persönlichkeit, moralische Veredelung), unmissverständlich darlegend, dass deren ästhetisch-künstlerische Ambitionen von anderen Mächten angeschoben werden und als solche „zunächst der physiologischen Beleuchtung und Ausdeutung [bedürfen], […] alle insgleichen warten auf eine Kritik von seiten der medicinischen Wissenschaft“ (KSA, GM, 5, 290). Die Anagogen lässt er aus der contemplatio hochfahren und wild um sich blicken auf ein Laboratorium, „[in dem] wir [mit uns] experimentiren […], wie wir es uns mit keinem Thiere erlauben wurden, und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf: was liegt uns noch am ‚Heil‘ der Seele!“ (ebd., 358). Aus der Weltseele, die der Graf von Shaftesbury mit dem Schönen, Guten, Wahren identifizierte3, macht er den Willen, eine das principium individuationis zersprengende dionysische Urkraft (KSA, DW, 1, 577; KSA, NF, 7, 365), sich manifestierend als Ohrschmerz4 oder als „physiologische Ubertät, die sich entladen möchte, und einen Druck bis zum Gehirn ausübt“ (KSA, NF, 7, 446). Die von Gregor dem Grossen und auch in den Libri Carolini mit Sorgfalt und Bedacht gemachten Ausführungen zu der unterweisenden und auf Gott ausrichtenden Zielsetzung der Kunst5 kompromittiert er, indem er jenen Gott bzw. dessen Sohn, den „Stifter des Christenthums“, auf die Position eines „Zahnarztes“ versetzt, „der jeden Schmerz durch Ausreissen des Zahnes heilen will; so zum Beispiel indem er gegen die Sinnlichkeit mit dem Rathschlage ankämpft: ‚Wenn dich dein Auge ärgert, so reisse es aus‘“ (KSA, WS, 2, 590). Und die Antwort auf Johann Georg Sulzers in der Allgemei­ nen Theorie der Schönen Kunst (1773–75) gegebene Bestimmung der Kunst: „ihr Zweck ist lebhafte Rührung der Gemüther, und in ihrer Anwendung haben sie die Erhöhung des Geistes und Herzens zum Augenmerk […] der Tugend Reizung zu geben“, lautet: „Unter 2 3 4

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Zu Marsilio Ficino: Paul Oskar Kristeller, Die Philosophie des Marsilio Ficino, Frankfurt am Main 1972; Tamara Albertini, Marsilio Ficino, München 1997. Anthony Ashley Cooper, 3. Earl of Shaftesbury, Freundschaft und Menschenliebe, in: Klaus-Dieter Eichler (Hg.), Philosophie der Freundschaft, Leipzig 1999, 98ff. „Habe ich noch Ohren? Bin ich nur noch Ohr und Nichts weiter mehr? Hier stehe ich inmitten des Brandes der Brandung, deren weisse Flammen bis zu meinem Fusse heraufzüngeln – von allen Seiten heult, droht, schreit, schrillt es auf mich zu, während in der tiefsten Tiefe der alte Erderschütterer seine Arie singt, dumpf wie ein brüllender Stier: er stampft sich dazu einen solchen ErderschüttererTact, dass selbst diesen verwetterten Felsenunholden hier das Herz darüber im Leibe zittert“ (KSA, FW, 3, 424). Arnold Angenendt, Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400 bis 900, stuttgart 2001; Pierre Riché, Gregor der Große. Leben und Werk, München 1996. Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Neue vermehrte zweyte Auflage, Leipzig (1792).

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ihnen fehlt auch jene ekelhafteste Species der Eitlen nicht, die verlognen Missgeburten, die darauf aus sind, ‚schöne Seelen‘ darzustellen und etwa ihre verhunzte Sinnlichkeit, in Verse und andere Windeln gewickelt, als ‚Reinheit des Herzens‘ auf den Markt bringen: die Species der moralischen Onanisten und ‚Selbstbefriediger‘“ (KSA, GM, 5, 370f). Aus den bis zu diesem Punkt mit Hammerschlag und Donnerhall vorgebrachten Passagen und Zitaten schliesst sich bereits auf, dass Friedrich Nietzsches Konzept einer physiologischen Ästhetik das auf der Trennung und zugleich Akkordanz von Körper und Geist, res extensa und res cogitans, basierende Phantasma eines einheitlichen leibgeistigen Subjekts unrettbar subvertiert und damit mit einer jahrhundertelangen ästhetischen Tradition bricht, die auf dem Primat des Geistes über den Körper, der Metaphysik über Physis und Sinnlichkeit, der Bedeutung über dem materiellen Signifikanten beruhte. Die idealistische Philosophie des Geistes wird zu einer Medienphilosophie des Geistes, und die klassische Scheidung von Leib und Seele, die vor solchem medialen Hintergrund natürlich nicht mehr verfangen kann, wird ersetzt durch die Dialektik von Gesundheit und Krankheit, die das gesamte Werk wie ein gänzlich unidealistischer Spuk durchdringt.7 Das Subjekt Nietzsches spekuliert nicht mehr auf das Wahre und Gute, sondern auf einen Zustand von Gesundheit, den es nur dadurch herbeizuführen vermag, dass es seine Krankheitssymptome und körperlichen Störfrequenzen, seinen Schmerz und sein Leiden in Zeichen überträgt, oder besser: entlädt. Auf diese Weise wird es in der physiologischen Ästhetik zum Medium von einer Krankheit und einem Schmerz, die es selbst als Subjekt im innersten konstituieren, um via Kommunikation, oder mit Nietzsche: „Transfiguration“ (KSA, FW, 3, 349) dionysische Heilungserfahrungen und fröhliche Wissenschaftserlebnisse zu durchlaufen8, die jedoch (die zyklothyme, zwischen Euphorie und Lebensekel alternierende Struktur seines gesamten Werkes und Denkens zeigt es) ambulante, durch kein göttlich-metaphysisches Fundament auf Dauer gestellte Zustände darstellen. Im Unterschied zum Logos zeichnet sich ein Körper durch Unzuverlässigkeit, Unbere7

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Nietzsche beschreibt in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Fröhliche Wissenschaft und in Mensch­ liches, Allzumenschliches den Prozess, in dem er sich zum erkenntnisbegeisterten Philosophen und passionierten Schriftsteller entwickelt hat, als eine nach langer Krankheit eintretende Genesung (KSA, FW, 3, 345ff.). Für die Dominanz des Begriffspaars ‚gesund‘ und ‚krank‘ in unterschiedlichsten Kontexten (moralische, historische, ästhetische, philosophische) hier entsprechende Stellen aus der Menschliches Allzumenschliches: KSA, MA-1 2, 17–21; 44; 62; 66–76; 102; 113; 118–122; 136; 139; 175; 189; 204; 209, 231–233; 279; MA-2, 2 372–376; 404–407; 414; 422; 444; 448; 460; 492; 497f.; 502–504; 519–523; 531; WS, 2, 567; 588; 593; 604; 609; 621; 627; 633–636; 644; 657; 666; 670; 685; 692; 696; 703. Zu Nietzsches Übersetzung künstlerischer Prozesse und Entwicklungen in die physiologischen Termini von Gesundheit und Krankheit (Astrid Deuber-Mankowsky, Praktiken der Illusion. Kant, Nietzsche, Cohen, Benjamin bis Donna J. Harraway, Berlin 2007). dies., Praktiken der Illusion in der Moderne, in: Vorwerk 8, 2008: „Sie [die Philosophie als Kunst der Darstellung, Anm. A. B.] vermittelt dem Philosophierenden die Möglichkeit, seinen Zustand zu kommunizieren. Und darin liegt auch schon das Geheimnis ihrer heilenden Kraft: Die ‚Umsetzung seines Zustandes in die geistigste Form und Ferne‘ ist bereits der Gang aus der Untätigkeit und als solcher Teil der Gesundung. […] Aus diesem Zustand eines existentiellen Sinnverlusts soll die Philosophie nach Nietzsche allein dadurch heraus führen, dass sie ihn symbolisiert. Für Nietzsche besteht die genuine Aufgabe der Philosophie darin, dass sie, über den Umweg der Zeichensetzung, den Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Denkens überwinden hilft“ (Kapitel: Nietzsche); Marco Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophische und ästhetische Lebernsgestaltung bei Nietzsche von „Morgenröte“ bis „Also sprach Zarathustra“, Berlin, New York 1997.

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chenbarkeit, genuine Anfälligkeit für Infekte und Defekte aus, von „Kopfkrankheiten“ (KSA, GM, 5, 260) über „intestinale Krankhaftigkeit“ bis zur „Neurasthenie“ (ebd., 266). ‚Kopfkrankheiten‘, ‚intestinale Krankhaftigkeit‘, ‚Neurasthenie‘, physiologische Funktionen, Dysfunktionen und Bedürfnisse am Grund aller großen Würfe und Werke aus Kunst, Philosophie, Literatur: die physiologische Ästhetik rückt genau das, dessen sich die klassische Ästhetik verweigert und das sie im Namen des Geistes aus dem inneren System9 evakuiert hatte, nämlich die unbewussten und physiologischen Faktoren am und als Grund der philosophischen wie künstlerischen Erkenntnisse gleichermaßen ins Zentrum ihres wissenschaftlich-produktionsästhetischen Interesses. „Sieht man jene Kraft näher an, so ist hier auch kein künstlerisches ganz freies Erfinden: das wäre etwas Willkürliches, also Unmögliches. Sondern die feinsten Ausstrahlungen von Nerventhätigkeit auf einer Fläche gesehn: sie verhalten sich wie die Chladni’schen Klangfiguren zu dem Klang selbst: so diese Bilder zu der darunter sich bewegenden Nerventhätigkeit. Das allerzarteste sich Schwingen und Zittern! Der künstlerische Prozeß ist physiologisch absolut bestimmt und nothwendig. Alles Denken erscheint uns auf der Oberfläche als willkürlich, als in unserem Belieben: wir bemerken die unendliche Thätigkeit nicht“ (KSA, NF, 7, 446; KSA, FW, 3, 350).

2. Psycholabor und Nervenklinik Aus diesem sowie den vorangegangenen Zitaten (Nerven-Epidemien, Epilepsien, Ausstrahlungen von Nerventätigkeit, Experimente, bei denen vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe aufgeschlitzt wird, physiologische Entladungen und Überdruck im Hirn) erschließt sich unmissverständlich, von welchem Diskurs die physiologische Ästhetik infundiert wird: die Experimentalwissenschaft, materialistische Psychiatrie und Psychophysik des 19. Jahrhunderts. In den Psycholaboratorien von Wilhelm Wundt, Carl Friedrich Wilhelm Ludwig, Hermann von Helmholtz, Hugo Münsterberg, Jean-Martin Charcot und Wladimir M. Bechterev wird die seit Platon mit metaphysischem Copyright versehene Seele in den Nerven positiviert, die ehemals gottgeweihten und gelenkten Akte Denken, Fühlen, Wollen werden als Funktionen der Wahrnehmung experimentell untersucht und neurophysiologisch verifiziert. Ganz im Sinne Nietzsches wird die Seele aus dem Ideenhimmel auf den Boden der physiologischen Tatsachen geholt, wenn Wundt und Ludwig Versuchspersonen in Reiz- und Reaktionsexperimenten daraufhin konditionieren, ihre seelischen oder psychischen Leistungen reproduzierbar und aufschreibbar zu machen, und wenn Helmholtz und Emil Du Bois-Reymond galvanometrische Messungen von Nervenlaufzeiten in motorischen Fasern anstellen, die jede bewusste Wahrnehmungsschwelle unterlaufen.10 Psycholabor und Nervenklinik: Das sind die Zentralstationen, die als andere Schauplätze zugleich Nietzsches Unbewusstes zu beherrschen scheinen und als solche die Aussagen des Philosophen, des Moralkritikers und des Schriftstellers in gleicher Weise soufflieren. So, wenn er zum Beispiel das Aroma 9 10

Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt am Main 1993, 57ff. Zu den Geschehnissen im Psycholabor: Ute Holl, Kino, Trance und Kybernetik, Berlin 2002, 170– 245.

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von Schizophrenie und Chloralhydrat, das er selbst zur Genüge inhaliert hat, als smog über dem gesamten europäischen Kulturraum wiedererkennend wittert: „Wer nicht nur seine Nase zum Riechen hat, sondern auch seine Augen und Ohren, der spürt fast überall, wohin er heute auch nur tritt, etwas wie Irrenhaus-, wie Krankenhaus-Luft, – ich rede, wie billig, von den Culturgebieten des Menschen, von jeder Art ‚Europa‘, das es nachgerade auf Erden giebt“ (KSA, GM, 5, 369). Psycholabor und Nervenklinik, das sind die Orte, wo die Leib-Seele-Problematik, die Philosophie und Wissenschaft seit Aristoteles in Atem hält und die in Nietzsches physiologischer Ästhetik eine zentrale Rolle spielt, in eine neue Potenzebene übergeht.12 Was nicht heißt, dass sie gelöst wird. Was wiederum Nietzsche, der nicht nur Objekt in der Nervenklinik und Subjekt am Schreibtisch war, sondern darüber hinaus vor Sigmund Freud die Frage ‚Wer spricht?‘ stellte, gewusst hat. Der anti-platonische Kern der physiologischen Ästhetik, die die Seele nicht als immaterielles Gewirke zwischen Absolutum und Negativ-Mondamin vom Körper trennt, sondern im Gegenteil physiologisch als ‚feinste Ausstrahlung von Nerventätigkeit‘ materialisiert, hat seine Entsprechung in den Grundannahmen der Psychophysiker, Experimentalphysiologen und Psychiater nach dem Ausgang des Göttinger Materialismus-Streits, ‚Seele oder Sekret‘, wobei die Seele von Anfang an hoffnungslos verloren war bzw. von den entsprechenden Apparaten des Psycholabors auf ihre neuronalen Frequenzereignisse hin examiniert wurde.13 Die Quintessenz dieses Seele-gegen-Sekret-Gefechts könnte man auch mit Nietzsches Kommentar ziehen, „daß mit dem Organischen auch das Künstlerische beginnt“ (KSA, NF, 7, 436). In den psychologischen wie psychotechnischen Laboratorien des ausgehenden 19. Jahrhunderts werden reihenweise Testgeräte und Vermessungsapparaturen konstruiert, zu denen in erster Linie chronometrische und photographische Techniken gehören. Empfiehlt sich hierin einerseits eine Geschichte der Verfeinerung der Aufzeichnungstechniken für 

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13

Ivo Frenzel, Friedrich Nietzsche in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 2000; Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie, München 1981; Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit, Würzburg 1990. Zur Leib-Seele-Problematik: Friedrich Hermanni, Thomas Buchheim (Hg.), Das Leib­Seele­Pro­ blem. Antwortversuche aus medizinisch­naturwissenschaftlicher, philosophischer und theologischer Sicht, München 2006. Mit einschneidenden politischen und institutionellen Konsequenzen erhoben im Göttinger Materialismusstreit von 1854, auf den Carl Vogt mit der Sentenz ‚Seele oder Sekret‘ abhob, Physiologen, Chemiker und Physiker Anspruch auf die Seele, die bis dato dem Monopol der Geisteswissenschaftler und Philosophen unterstand. Als um 1870 die Trennung von Psychologie und Physiologie öffentlich deklariert und institutionell vollzogen wurde, war die Seele als dichotomisches Pendant zum Sekret bereits verwirkt. Mit der Institution der Psychologie als autonome Disziplin durch Wilhelm Wundt in Leipzig hatte sich bereits ein solches wissenschaftliches Feld etabliert, das mit Seelen im Sinne von tiefem Wesen, Äthesie und geistgewirkter Innerlichkeit operierte. Selbst in der Psychologie, von den Physiologen, die con brio Seelen- bzw. Nervenstränge an Wechselstromgeneratoren und anderes Laborgerät anschlossen, gar nicht zu reden, wurde die Seelenanalyse bereits als Nervenanalyse mittels entsprechender technischer Apparate fortgesetzt. Dazu: Ute Holl, Kino, Trance und Kybernetik, 180ff.; Carl Vogt, Köhlerglaube und Wissenschaft. Eine Streitschrift gegen Rudol­ ph Wagner in Göttingen, Giessen 1855; Heinz Degen, Vor hundert Jahren: Die Naturforscherver­ sammlung zu Göttingen und der Materialismusstreit, in: Naturwissenschaftliche Rundschau, Heft 7 (1954).

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physiologische Funktionen, so darf darüber nicht vergessen werden, dass mit der Entwicklung neuer Test-Apparate auch neue Körper konstruiert werden14, die dadurch konstituiert sind, dass gerade der Teil, der in den unterschiedlichen Konzeptionen vom cartesischen Mechanismus bis zum psychophysischen Parallelismus noch eindeutig vom Physischen separiert werden konnte, nun eingezogen wird in die organischen Funktionen und konkretisiert als Reizverarbeitung in den Nerven. Im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert wird die Seele zum Nerv, und das heißt, Helmholtz zufolge, zum Telegraphendraht.15 man hätte an dieser Stelle auch Ludwig, Wundt, Charcot, Eugen Bleuler, Paul Emil Flechsig oder Etienne Jules Marey konsultieren können. Man hätte sich an Freud, Schüler von Ernst Brücke und Helmholtz wenden können, der schreibt: „diese Seele ist nichts Einfaches, vielmehr eine Hierarchie von über- und untergeordneten Instanzen, ein Gewirre von Impulsen“, der weiter mit dem psychischen Apparat ein auf der Verschränkung von neurophysiologischen, energetischen und elektrizitätsphysikalischen Diskursen basierendes Modell für das Unbewusste konstruiert17 und der später die aus der Importation des Telegraphenrelais in diesen Apparat hervorgehende Theorie der Signalangst inauguriert.18 Oder an Bleuler, demzufolge das Denken „sich am besten unter dem Bilde von Schaltungen in einer elektrischen Anlage vorstellen [lässt], die verschiedene Apparate miteinander verbinden und unabhängig voneinander laufen lassen, sie aus- und einschalten kann.“19 Man hätte Gustav Theodor Fechner fragen können, der in den Elementen der Psychophysik die physikalischen Gesetze der Nervenaktivität als Relation zwischen Reizstärke und Empfindungsstärke analysiert und so das „Massprinzip der Empfindlichkeit“ als Übertragungs- und (negative) Verstärkungsformel von Physik in Psyche: gamma = k log beta/b instituiert.20 Natürlich und nicht zuletzt hätte man Nietzsche in dieser Sache beanspruchen können, der klar gestellt hätte, dass es mit all den Seelensachen „vorbei [ist], weil wir leicht auf ein verletztes Gehirn und auf Krankheit schliessen. Es ist kein Zweifel, der Gegensatz von einer reinen unkörperlichen Seele und einem Leibe ist fast beseitigt“ (KSA, NF, 8, 38). Es wäre mehr als unwahrscheinlich, dass Nietzsche auf einer seiner Passagen durch die Nervenheilanstalten und deren psychotechnische Luna-Parks nicht auf einen ‚Ruhmkorff‘, jenen legendären, direkt von der Induktionsmaschine abgeleiteten Wechselstromgenerator, Zenit jedes Laboratoriums, gestoßen, wenn nicht gar zwecks Elektroschocktherapie mit ihm verkabelt worden wäre.21 Um, in Folge, affirmieren zu können: Das Nervensystem 14 15

 17 18 19 20 21

Ute Holl, Kino, Traum und Kybernetik, 2002, 172f. Hermann von Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik, Braunschweig 1870: „Man hat die Nerven vielfach nicht unpassend mit Telegraphendrähten verglichen“ (233). Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Frankfurt am Main 1999, XII, 9. Ders., ebd., I, 511; II/III, 541–616; XIII, 29f., 60, 246ff., 391. Ders., ebd., X, 276ff.; XI, 407ff., 420; Annette Bitsch, Die Genealogie des Unbewussten aus der Medientheorie und Philosophie der Zeit, Bielefeld 2008. Eugen Bleuler, Lehrbuch der Psychiatrie, Berlin 1916, 16. Gustav Theodor Fechner, Elemente der Psychophysik, Leipzig 1860/1889, Bd. 2, 13. Zum Ruhmkorffschen Wechselstromgenerator oder schlicht Ruhmkorff: Bernhard Siegert, ALI­ ENS. Zum Trauma des Nicht­Konvergenten in Literatur, Mathematik und technischen Medien, in: Kommunikation, Medien, Macht, hg. von Rudolf Maresch, Niels Werber, Frankfurt am Main 1999, 192–219; Emil Kosack, Heinrich Daniel Rühmkorff, ein deutscher Erfinder. Ein Lebensbild zu sei­

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ist ein Stromkreislauf. Ein Nerv im Zeitalter des Experimentaldispositivs ist ein Medium, das einen Wechselstrom, das heißt die endlose diskrete und selbstdekonstruktivistische Alternation eines elektrischen und eines magnetischen Feldes implementiert. Gefühle sind nicht länger Weihen und Wehen von Seele, Wesen, Innerlichkeit, Innigkeit. Gefühle sind Impulsfrequenzen in afferenten Fasern. Gefühle sind radikal verzeitlichte Serien, Frequenzereignisse, operationalisierte Verdikte zur sinnlosen Reproduktion traumatisch erfahrener Signale. Gefühle sind letztendlich nichts als Schmerzen: die agonale, dämonisch indifferente unterbrechungslose Serie von Unterbrechungen, das ostinate Pochen und Pulsieren des berühmten Nietzsche-Kopfschmerzes. Die Frösche hat er in jedem Fall gesehen, die „‚Reflexbewegungen‘ im Falle irgend einer plötzlichen Schädigung und Gefährdung, von der Art, wie sie ein Frosch ohne Kopf noch vollzieht, um eine ätzende Säure loszuwerden“ (KSA, GM, 5, 375). Die Reflexbewegungen jener Frösche, die zwecks Inspektion ihrer Seelenaktivitäten mit ätzenden Chemikalien behandelt wurden oder die von Du Bois-Reymond, inspiriert durch die Versuche seines Vorgängers Carlo Mateucci und angewiesen durch seinen Lehrer Johannes Müller, an den auf Charles Grafton Pages Induktionsspule zurückgehenden Stromschneider angeschlossen wurden, einer Maschine, die den voltaischen Gleichstrom in eine Serie fast dauerloser diskreter Impulse zerhackt, um sie so zu tetanisieren bzw. den Nachweis der wechselstromartig zuckenden Konstitution der Froschseele, genannt „Nervenaktionsstrom“, zu führen.22

3. Wundt und Nietzsche Die Seele, im Medienzeitalter der Experimentalisierung kein göttlich-überirdisches Sein mehr, unstofflich, weihevoll, sakral in sich ruhend, sondern ein höchst profaner, neuronal lokalisierbarer und induzierbarer Geist, ein ausgesprochen unruhiger Geist, ein im metronomischen Takt genau jener chronometrischen Uhren und Messgeräte laufender Geist, die Wundt, von der wissenschaftlichen Ausbildung her Physiologe, 1875 nach seinem nach Ruf als Professor für Philosophie nach Leipzig23 dort in großem Stil und vorbildlich für viele weitere Psycholabor-Gründungen auf der ganzen Welt aufgebaut hat.24 Das Forschungsfeld der mentalen Chronometrie eröffnend, untersucht er fortan den gesamten Bereich der neuronalen Aktivitäten, die von der experimentellen Psychologie als Seelentätigkeiten

22

23

24

nem 100. Gweburtstage, Leipzig, Hannover 1903, 15f.; Annette Bitsch, Die Genealogie des Unbe­ wussten aus der Medientheorie und Philosophie der Zeit, 123f. Karl Eduard Rothschuh, Vom Spiritus animalis zum Nervenaktionsstrom, in: Ders., Physiologie im Werden (= Medizin in Geschichte und Kultur 9), Stuttgart 1969, 121; Timothy Lenoir, Models and instruments in the development of electrophysiology, 1845–1912. Historical Studies in the Physical and Biological Sciences 17, Part 1, 1986f, 9ff.; Bernhard Siegert, Passage des Digitalen. Zeichen­ praktiken der neuzeitlichen Wissenschaften 1500–1900, Berlin 2003: „Der experimentell hervorgerufene Starrkrampf ist eine psycho-physiologische Signatur des Wechselstromzeitalters“ (349). Alfred Arnold, Wilhelm Wundt. Sein philosophisches System, Berlin 1980; Hans Hiebsch, Wilhelm Wundt un die Anfänge der experimentellen Psychologie, Berlin 1977; Ute Holl, Kino, Trance und Kybernetik, 182ff. Claus Pias, ComputerSpielWelten, Diss., Weimar 2000, 16.; Ute Holl, ebd., 182ff.

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adressiert werden: Perzeption, Apperzeption, Aufmerksamkeit, Reminiszenz, Assoziation. Dabei geht es (wir befinden uns schon weit jenseits der episteme der Repräsentation) weder Nietzsche noch Wundt um Sinn und Bedeutung der jeweiligen Perzeptionen, Reminiszenzen, Assoziationen, sondern allein um deren zeitliche Operationalität, um deren Takt: Rhythmen, dieses Schibboleth von physiologischer Ästhetik und physiologischer Experimentalpsychologie gleichermaßen.25 Denken, Philosophieren, Schreiben, Existieren, alles wird von Nietzsche auf Rhythmen gebracht, immer wieder, über sein Werk hinweg spricht es von Rhythmen, um zugleich von Rhythmen skandiert zu werden, die sich im Optimalfall zu einer Choreographie fügen, in den Tanz der Dionysos­Dithyramben eintreten. die Werke scheinen überhaupt nirgends still stehen zu können, überall, ohne Unterlass bebt es, webt und rüttelt vom charakteristischen Nietzsche-Rhythmus. So wie die Seelen und Wesen, die Wundt zwecks Messung und Inspektion mit den Medien seines Psycholabors kurzschließt, und die jeden platonischen Urgrund unwiderruflich vergessen haben: „Unser Bewusstsein ist rhythmisch angelegt. Der Grund dieses Verhaltens liegt aber schwerlich in einer spezifischen, bloss dem Bewusstsein zukommenden Eigenschaft, sondern er steht offenbar mit unserer gesamten psychophysischen Organisation in engster Beziehung. Das Bewusstsein ist rhythmisch angelegt. So folgen sich Herzbewegungen, Gehbewegungen in regelmässigen Rhythmen. Unter ihnen empfinden wir zwar die Pulsation des Herzens im normalen Zustande nicht. Wohl aber wirken schon die Atmungen, wenn auch nur als schwache Erregungen, auf uns ein, und bilden vor allem die Gehbewegungen einen deutlichen erkennbaren Hintergrund unseres Bewusstseins.“26 Aber der Rhythmus ist nicht die einzige Losung, Schlüsselsignifikant, an dem sich Nietzsches Partizipation an Wundts experimenteller Psychologie und den sie konstituierenden Medien ablesen lässt. Vielmehr ist er vernetzt mit einem anderen Begriff bzw. Begriffspaar, das sich ebenfalls von Wundt zu Nietzsche übertragen zu haben scheint. „Alle ‚bösen‘ Handlungen sind motivirt durch den Trieb der Erhaltung oder, noch genauer, durch die Absicht auf Lust und Vermeidung der Unlust des Individuums; als solchermaassen motivirt, aber nicht böse“ (KSA, MA-1, 2, 96); „Begierde nach tiefem Schmerz […] man will, wie es scheint, die heftigere Unlust immer noch lieber als die matte Lust“ (ebd., 344); „Der Cyniker erkennt den Zusammenhang zwischen den vermehrten und stärkeren Schmerzen des höher cultivirten Menschen und der Fülle von Bedürfnissen; er begreift also, dass die Menge von Meinungen über das Schöne, Schickliche, Geziemende, Erfreuende ebenso sehr reiche Genuss-, aber auch Unlustquellen entspringen lassen musste“ (ebd., 227); „Das eigentliche Material alles Erkennens sind die allerzartesten Lust- und Unlustempfindungen: auf jener Fläche, in die die Nerventhätigkeit in Lust und Schmerz Formen hinzeichnet, ist das eigentliche Geheimniß: das, was Empfindung ist, projicirt zugleich Formen, die dann wieder neue Empfindungen erzeugen. Es ist das Wesen der Lust- und Unlustempfindung, sich in adäquaten Bewegungen auszudrücken: dadurch daß diese adäquaten Bewegungen wieder andere Nerven zur Empfindung veranlassen, entsteht die Empfindung des Bildes“ (KSA, NF, 7, 448). Eines der zentralen Ergebnisse der Wundt’schen experimentellen Gefühlsanalyse ist: Alle komplexen Gefühle wie Freude, Heiterkeit, Sorge, Zorn, Furcht etc. lassen sich in 25 26

Dies., ebd., 194–205. Wilhelm Wundt, Einführung in die Psychologie, Leipzig 1911, 3.

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drei emotionale Grundpaare zerlegen: Lust und Unlust, Spannung und Lösung, Erregung und Beruhigung, und umgekehrt können aus diesen elementaren Gefühlspaaren alle höherstrukturierten Gefühle künstlich erzeugt werden. Vorstellungen, Bedeutungen, Gefühle, früher beheimatet im logozentrischen Hoheitsbereich und ausgezeichnet durch Ganzheit und Unantastbarkeit gegenüber jedem Versuch profaner positivistischer Erdung, werden durch analytische Reduktion auf die kurz unterhalb der Wahrnehmungsschwelle laufenden Elementarseelenoperationen Lust/Unlust, um ihre hieratisch unergründbare Tiefe gebracht.27

4. Repräsentation versus Übertragung Sehr viel expliziter als Wundt hat Nietzsche diese seelische Lust/Unlust-Impulsserie, aus der via metaphorischer Überdeterminierung alle weiteren Potenzen von Vorstellung, Bedeutung, Gefühl hervorgehen, als medialen Verlaufsprozess erfasst und dargelegt. Die Stelle ist berühmt und sie wiederholt sich, sie insistiert in verschiedenen Versionen im gesamten Werk (KSA, NF, 7, 454, 490; KSA, WL, 1, 878f.) Eine der vielen Variationen: „Das ‚Ding an sich‘ (das würde eben die reine folgenlose Wahrheit sein) ist auch dem Sprachbildner ganz unfasslich und ganz und gar nicht erstrebenswerth. Er bezeichnet nur die Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdrucke die kühnsten Metaphern zu Hülfe. Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue. Man kann sich einen Menschen denken, der ganz taub ist und nie eine Empfindung des Tones und der Musik gehabt hat: wie dieser etwa die Chladnischen Klangfiguren im Sande anstaunt, ihre Ursachen im Erzittern der Saite findet und nun darauf schwören wird, jetzt müsse er wissen, was die Menschen den Ton nennen, so geht es uns allen mit der Sprache. Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen. Wie der Ton als Sandfigur, so nimmt sich das räthselhafte X des Dings an sich einmal als Nervenreiz, dann als Bild, endlich als Laut aus. Logisch geht es also jedenfalls nicht bei der Entstehung der Sprache zu, und das ganze Material worin und womit später der Mensch der Wahrheit, der Forscher, der Philosoph arbeitet und baut, stammt, wenn nicht aus Wolkenkukuksheim, so doch jedenfalls nicht aus dem Wesen der Dinge“ (KSA, WL, 1, 879). Empörung, Erschütterung in mittleren Graden und Schlimmeres hätte sich ausgebreitet unter den Geistern des abendländischen Logozentrismus, in der episteme der Repräsentation. Ineins mit dieser Demontage des klassischen Zeichenmodells entweiht Nietzsche das ‚Ding an sich‘, das, zusammen mit dem dazugehörigen idealistischen Bewusstseinskonzept, dieses Modell schließlich apriorisch transportieren und versichern 27

Ute Holl, Kino, Trance und Kybernetik, 198ff. An dieser Stelle muss auch auf Freuds Lust-Unlustprinzip verwiesen werden, das zumindest teilweise durch den experimentalphysiologischen Diskurs formatiert wird: Sigmund Freud, Gesammelte Werke, II/III, 579–610; XI, 70f., 369–389; XIII, 3ff., 19f., 29–37, 67–69; 249–375.

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sollte: jene sakrosankte Bedeutung des Transzendentalsignifikats, die um Himmels und des Überlebens der klassischen episteme willen aus dem Wesen der Dinge und bitte nicht aus Wolkenkukuksheim stammen sollte.28 In aller Kürze zu diesem Zeichenmodell, das Bedeutungen und immaterielle Seelenstimmen hochhält von Port-Royal bis Ferdinand de Saussure und das von Jacques Derrida, Michel Foucault, Jacques Lacan, allesamt passionierte Nietzsche-Leser, gründlich untersucht und dekonstruiert worden ist. Zwei Teile bilden das klassische Zeichen: das Signifikat bzw. die Bedeutung und der diese Bedeutung repräsentierende Signifikant, und nichtsdestoweniger ist es eine heilige Einheit. Und es wird (mit ihm die ganze Welt) monopolisiert von genau dem großartigen und luziden Bewusstsein idealistischer Ästhetik, dem Nietzsche mit seiner physiologischen Ästhetik Strom und Licht abdrehen will. Die Einheitlichkeit des Zeichens wird bedingt und konsolidiert durch die Untrennbarkeit beider Teile, Signifikat und Signifikant (Saussure 28

Derridas Dekonstruktion des an das Zeichenmodell der Repräsentation gebundenen abendländischen Logozentrismus: Jacques Derrida, Grammatologie, 54–60. Ähnlich legt Foucault im Konzept der reduplizierten Repräsentation die Komplizität des klassischen Zeichens mit dem idealistischen Bewusstsein dar. Das für die episteme der Repräsentation bestimmende Schema sieht eine Dualität von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt vor. Ein solides und unveränderliches Erkenntnissubjekt beobachtet und beschreibt sein Objekt, seinen wissenschaftlichen Gegenstand. In diesem Erkenntnissubjekt identifiziert Foucault das cartesische Subjekt oder Bewusstsein, sich auszeichnend durch Selbstgewissheit und Selbsttransparenz, welches in seinem Akt der Objektivierung des Gegenstands nichts Geringeres vornimmt als eine Substitution. Das Cogito ersetzt den realen, als solchen unergründbaren, unsagbaren und unvorstellbaren Gegenstand durch seine eigene Vorstellung von diesem Gegenstand. Die apriorische Voraussetzung dieser Erkenntnistechnik jedoch bildet wiederum das Zeichenmodell der Repräsentation: Alle potentiellen Gegenstände der Erkenntnis müssen, um überhaupt erst solche werden zu können, dem binären Zeichenmodell der Klassik bzw. des Logozentrismus unterstellt werden. Die Folge ist eine durch das Signifikat dominierte untrennbare Verknüpfung von Signifikant und Signifikat. Die reale Welt wird durch ein von der Bedeutung und vom Bewusstsein dominiertes Zeichensystem gefiltert, alles was durch diesen Filter fällt, wird fortan nicht mehr zur Welt gehören: Was nicht benennbar und vorstellbar ist, ist fortan nicht mehr existent. Die klassische episteme ist konstituiert durch eine völlige Transparenz des Zeichensystems auf die Welt hin und darüber hinaus durch eine Kongruenz des Seins und des Seins als Wort der Sprache (das Verb ‚sein‘ sichert die ontologische Überbrückung von Sprache und Denken). Im Sinne reduplizierter Repräsentation repräsentiert das Verb ‚sein‘ zugleich das Sein der Sprache bzw. der Repräsentation und (in Form attributiver Verbindung) das Sein aller anderen Dinge. So kommt es, dass das klassische Subjekt die Welt in der Vorstellung zu imperialisieren vermag: Nur das, wovon es eine Vorstellung und eine diese Vorstellung abbildenden Namen hat, hat eine ontologische Berechtigung, alles andere wird ausgeblendet, eskamotiert. Ineins damit tritt jedoch eine perfekte Verkennung dieser apriorischen oder unbewussten Mechanismen ein. Das klassische Cogito ist erstens blind gegenüber dem Bruch, der fundamentalen Unterschiedenheit zwischen der Existenz des realen Gegenstand und der Existenz dieses Gegenstands als eine durch einen Signifikanten fixierte imaginäre Bedeutung im begrenzten Radius seines Bewusstseins. Und zweitens ist es blind gegenüber der Tatsache, dass die Wahrheit dieser Gegenstände nicht in einer metaphysisch fundamentierten und beglaubigten Bedeutung liegt, sondern in der Existenz des reinen und bedeutungslosen Signifikanten selbst. Nur dieser Signifikant garantiert die Identität des vorgestellten Gegenstands mit sich selbst; nur aufgrund der Tatsache, dass die imaginäre, als solche volatile Vorstellung mit einem ganz bestimmten materiellen Signifikanten verknüpft wird, ist eine Kontinuität und Identität der Dinge der Welt in der Zeit möglich: Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1974, 98ff.; Jacques Lacan, Das Seminar XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (1963–1964), Weinheim, Berlin 1978, 81f,, 85ff.

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vergleicht sie mit den beiden Seiten ein und desselben Blattes Papier: „man kann die Vorderseite nicht zerschneiden, ohne zugleich die Rückseite zu zerschneiden“29). – In dieser Untrennbarkeit, Unzerreissbarkeit erkennen Derrida und Lacan das eigentliche Haupt- oder Transzendentalsignifikat der episteme der Repräsentation30: Natur, Seele, Logos oder was auch immer, jedenfalls nichts, was im entferntesten in physiologischen Prozessen, hämatologisch oder endekrinologisch, in Blutandrängen oder auf neurologisches Unheil deutende Anisokurien materialisiert werden kann. Aus diesem dekonstruktivistischen Blickwinkel zeigt sich, dass, um ein Begriffspaar von Georges Bataille anzuwenden, die vordergründig dualistische Struktur des klassischen Zeichenbegriffs in Wahrheit monistisch bestimmt ist31: Das Postulat der Untrennbarkeit stellt, zusammen mit der Forderung nach Arbitrarität, die Dominanz der Bedeutung über den auf eine rein repräsentative Funktion begrenzten Signifikanten sicher.32 Nur wenn der Signifikant, in seiner Funktion reduziert auf ein rein instrumentelles Repräsentationsmodul, der jeweiligen einen und einzigen und nur dieser Bedeutung unauflöslich verkettet ist, kann ein für das Zeichenmodell der Repräsentation und das durch diese formatierte idealistische Bewusstseinskonzept tödlicher Krisenfall verhindert werden. Nämlich jener von Saussure, dem letzten Apostel in logozentrischer Nachsaison, als Monstruosität gefürchteter33 und von Nietzsche als Tanz stimulierte Fall, in dem der Signifikant in Derridas Reich der Dissemination eintritt, seine eigenen Wege zu gehen und zu tänzeln beginnt, um in den Bereich der Bedeutungen zu interpolieren und deren Herrschaft unterminieren. Genau das passiert, wenn man den Zeichenprozess nicht länger mit der immateriellen Bedeutung, sondern mit in ‚Nervenreizen‘ materialisierten Signifikanten beginnen lässt, die in Folge keineswegs das ‚Ding an sich‘ oder ‚die reine folgenlose Wahrheit‘ repräsentieren, son29 30

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Ferdinand de Saussure, Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 1967, 134. Jacques Derrida, Grammatologie, 71ff.; Jacques Lacan, Schriften II, Weinheim, Berlin 1975, 21– 29; Jacques Lacan, Das Seminar III. Die Psychosen (1955–1956), Hamburg 1990, 160f.; Annette Bitsch, Zwischen Linguistik und Kybernetik. Lacans Diskurs der Psychoanalyse, in: Michael Franz, Wolfgang Schäffner, Bernhard Siegert, Robert Stockhammer (Hg.), Electric Laokoon. Zeichen und Medien, von der Lochkarte zur Grammatologie, Berlin 2007, 272–279. Bataille entwickelt den für die Geschichte des abendländischen Denkens prägenden Gegensatz eines monistischen und eines dualistischen Gedankenkreises ausgehend von der Gnosis (George Bataille, Der niedere Materialismus und die Gnosis, in: Wolfgang Schulz (Hg.), Dokumente der Gnosis, München 1986, 7–15). Jacques Derrida, Grammatologie, 53–75; Jacques Lacan, Schriften II, 17–30; Annette Bitsch, Zwi­ schen Linguistik und Kybernetik. Lacans Diskurs der Psychoanalye. nietzsche konterkariert mit einem quasi-evolutionistischen Konzept die in der klassischen Forderung der Arbritrarität implizierte metaphysische Notwendigkeit der Beziehung eines ganz bestimmten Signifikanten auf ein ganz bestimmtes Signifikat: „Selbst das Verhältniss eines Nervenreizes zu dem hervorgebrachten Bilde ist an sich kein nothwendiges; wenn aber eben dasselbe Bild Millionen Mal hervorgebracht und durch viele Menschengeschlechter hindurch vererbt ist, ja zuletzt bei der gesammten Menschheit jedesmal in Folge desselben Anlasses erscheint, so bekommt es endlich für den Menschen dieselbe Bedeutung, als ob es das einzig nothwendige Bild sei und als ob jenes Verhältniss des ursprünglichen Nervenreizes zu dem hergebrachten Bilde ein strenges Causalitätsverhältniss sei; wie ein Traum, ewig wiederholt, durchaus als Wirklichkeit empfunden und beurtheilt werden würde. Aber das Hart- und Starr-Werden einer Metapher verbürgt durchaus nichts für die Nothwendigkeit und ausschliessliche Berechtigung dieser Metapher“ (KSA, WL, 1, 885.) Jacques Derrida, Grammatologie, 65.

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dern vielmehr in Metaphernoperationen ‚Bäume, Farben, Schnee und Blumen‘ und dann, ungezügelt und nicht länger mit der einen jeweiligen Bedeutung untrennbar vernäht, womöglich eine diaphane Eisprinzessin, ein nervöses Elektron, einen Busstop am Äquator, Arien von Purcell und den Code einer Liebe, etwas Lapislazuliblaues, Bromazanil 6 und Neuschwanstein als Eisbombe generieren. es ist nicht nur legitim, sondern naheliegend, nietzsche an diesem punkt, an dem er das repräsentationslogische Zeichen mit der Figur der Metapher destruiert, mit dem überzeugten Nietzsche-Leser Lacan zu erläutern, der über 50 Jahre später den unbewussten Tanz der Signifikanten nicht auf dieselbe, aber auf eine in den entscheidenden Punkten vergleichbare Weise gegen das Signifikat des imaginären Bewusstseins ausspielt. Genau wie Nietzsche befördert Lacan die Ablösung vom idealistisch-repräsentationslogischen Ideal des Primats eines Urbilds, Signifikats oder Begriffs und kehrt diese Beziehung dahingehend um, dass das Signifikat nurmehr zum „Niederschlag“ einer vorgängigen, in reinen Signifikanten ablaufenden metaphorischen Prozedur wird.34 Entsprechend hebt Nietzsche hervor, „dass auch der Begriff, knöchern und 8eckig wie ein Würfel und versetzbar wie jener, doch nur als das Residuum einer Metapher übrig bleibt, und dass die Illusion der künstlerischen Uebertragung eines Nervenreizes in Bilder, wenn nicht die Mutter so doch die Grossmutter eines jeden Begriffs ist“ (KSA, WL, 1, 882). Genau wie bei Nietzsche wird Lacans Metapher als Algorithmus zur Produktion von Bedeutung nicht mehr an der Wahrheit oder wahren Bedeutung des ‚Dings an sich‘ ausgerichtet, der dann ein Signifikant als reines Repräsentationsmedium subordiniert wäre, sondern vielmehr arbeitet Lacan wie Nietzsche mit der Vorstellung von Übersetzungen oder Transfigurationen, die auf der Ebene des Unbewussten ihren Anlauf nehmen, also dort, wo Signifikanten im Realen des Körpers laufen wie Nietzschesche Nervenreize. Ein unbewusster Signifikant, so Lacans Metaphernformel, wird durch einen anderen Signifikanten ersetzt, welcher in einem folgenden Schritt als Signifikat auf die Bewusstseinsebene übertragen wird, jedoch mit der unbewussten Kette verbunden, d. h. vom Unbewussten her determiniert bleibt.35 Das Subjekt Lacans bedient sich nicht mehr eines Signifikanten, um damit ein bestimmtes Signifikat zu repräsentieren, sondern um sein unbewusstes Begehren zu bedeuten, zu verschlüsseln, zu übertragen. Und Nietzsches Subjekt ist in seinen Tanz- und Transfigurationsakten nicht durch ein platonisches Wissen um das Urbild oder Ding an sich beseelt, um dieses so wie die Wahrheit aller anderen Dinge der Welt in Zeichen zu repräsentieren, sondern wird motorisiert durch einen physiologisch in Form von Nervenreizen prozessierenden Willen zur Übertragung, der sich, weil das Ding an sich bei Nietzsche wie bei Lacan die Unübertragbarkeit selber ist, realisiert in metaphorischen Sprüngen, bei denen Signifikanten, leichtfüssige, promiskuitive, pudrige, duftige und fröhlich aus jeder repräsentativen Bindung an die eine Bedeutung entfesselte Signifikanten ‚Bäume, Farben, Schnee und Blumen‘ und dann womöglich Revolver-Penny und Calamity-Jane, kandierte Positronen, Erinnerungen an die Zukunft, Venedig im Winter und den geteilten Saal, E = mc², Twin Peaks und Apriorismen unter Kartoffel-Koriander-Kruste erzeugen. 34 35

Jacques Lacan, Schriften II, 23f., 29, 144. Zu Lacans Konzept der Metapher: Jacques Lacan, Schriften 1, Weinheim, Berlin 1973, 212f.; Ders., Schrfiten II, 32, 40ff., 90; Ders., Das Seminar XI, 261f.; Ders., Das Seminar III, 160.; Annette Bitsch, Always Crashing into the Same Car. Jacques Lacans Mathematik des Unbewußten, Weimar 2001, 141–149.

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Aber das ist als Erläuterung der berühmten Passage, ihrer zahlreichen ebenso berühmten Variationen, nicht hinreichend. Das reicht noch nicht. Was genau ist diese Unübertragbarkeit bzw. ‚das räthselhafte X des Dings an sich‘? Es ist der Prozess selber, der im Körper des Subjekts ablaufende Prozess (hier ereignet es sich, springt es in die Augen, dass und wie das Subjekt bei Nietzsche zum Medium wird) der metaphorischen Übertragung und Übersetzung, der Ebenenwechsel von Nervenreizen zu Lauten und Klängen und weiter zu Farben und Formen und Bildern und Aromen zwischen Patchouli und Chloroform, Fallkrisen und il n’y a pas d’amour heureux. Das ‚räthselhafte X des Dings an sich‘, selbst unübertragbar, ist der Prozess der Übertragung: „Wie der Ton als Sandfigur, so nimmt sich das räthselhafte X des Dings an sich einmal als Nervenreiz, dann als Bild, endlich als Laut aus“ (ebd., 879). Bei Nietzsche ist das Subjekt zum Medium seines eigenen Schmerzes und ineins seines Willen zur Übertragung dieses Schmerzes in akustischen und optischen Signifikanten geworden, Belladonna, Veronal, Totenglocken, kohlendioxidgraue Sicht, Signifikanten, die, weit jenseits der Repräsentation eines ganz bestimmten Was, vielmehr nur in immer neuen Melodien und Kaleidoskopien das reine Dass chiffrieren. Das ‚Dass‘ des Schmerzes. Das ‚Dass‘ des Existierens. Das ‚Dass‘ des Medium-Seins. Am Anfang kein Urbild, so sanft, sakrosankt und ätherisch, wie nur körperlose Wesenheiten, Schleier, Feenhände, über eine Seele dahinstreichen können. Am Anfang ein physiologischer Reiz, traumatisch à la Freud, schmerzhaft, blitzhaft, blickzerstörend, mit dem das Sein als Medium operationalisiert wird, und in Folge ist es nicht, wie in Platons Anamnese, die Seele, sondern der Körper, der nicht mehr vergessen kann: „Vielleicht kann der Mensch nichts vergessen. Die Operation des Sehens und des Erkennens ist viel zu complicirt, als daß es möglich wäre, sie völlig wieder zu verwischen, d. h. alle Formen, die einmal vom Gehirn und Nervensystem erzeugt sind, wiederholt es von jetzt ab so oft. Eine gleiche Nerventhätigkeit erzeugt das gleiche Bild wieder“ (KSA, NF, 7, 447.)

5. Entladung und Signaltechnik Die Hauptbeschäftigung des logozentristischen Bewusstseins, die Repräsentation eines Was, wird bei Nietzsche dispensiert zugunsten der Aktivität eines unbewussten Willens, der wieder und wieder und in immer neuen metaphern das reine dass seiner operationalen Konstitution, eines „höchst complicirtes Letzten in der Natur.Nerven vorausgesetzt“ (ebd., 462), überträgt. Oder auch zur Entladung bringt. Denn wenn Nietzsches Metapher auch noch nicht so bedingungslos informationstheoretisch funktionieren kann wie diejenige Lacans, so entspricht sie doch den aktuellen technischen Standards ihrer Zeit. Und in dieser Hinsicht war Nietzsche, wie sich im Kontext der Psychotechnik bereits gezeigt hat, stets auf der Höhe. 1881 lässt er sich von Peter Gast Robert Julius Mayers Mechanik der Wärme nach Genua schicken. „Die Spuren der Mayer-Lektüre durchziehen die nachgelassenen Fragmente vom Frühjahr bis zum Dezember 1881.“36 Nietzsche liest die Schriftensammlung weniger auf die Resonanzen des verkannten Entdeckers des Ersten Thermodynamischen 36

Bernhard Siegert, Passage des Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften 1500–1900, Berlin 2003, 362ff.. Zu Nietzsches Mayer Rezeption: Martin Bauer, Zur Genealogie

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Hauptsatzes hin, sondern konzentriert sich auf Mayers späten Text Über Auslösung.37 Nietzsche destilliert damit diejenigen Anteile des Buches, die der im Energieerhaltungssatz implizierten Proportionalität von Ursache und Wirkung bereits massiven inneren Widerstand entgegensetzen: „Es giebt für uns nicht Ursache und Wirkung, sondern nur Folgen (‚Auslösungen‘) NB.“ (KSA, NF, 9, 472). „Man schließt aus großen Kraft-Auslösungen auf große Ursachen. Falsch!“ (ebd., 492). Nietzsche liest nicht die 1842 erschienenen Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur, in denen mayer aus schiffsärztlicher Tropenerfahrung heraus causa aequat effectum: eine Ursache ruft eine bestimmte Wirkung hervor, diese ist wiederum Ursache für eine andere Wirkung, ohne dass es je endet und versiegt, also die Religion von Thermodynamik I deduziert, sondern er liest den Text desjenigen, den man nach einer Depersonalisationserfahrung, die ihn in die geschlossene Psychiatrie geführt hat, logisch legitim als den zweiten Mayer bezeichnen kann.38 Die Nervenklinik (sicher mit integriertem Psycholabor) ist der Ort, an dem sich Mayer mit seinem ersten Selbst und seiner ersten Theorie überwirft, stattdessen eine medienapriorisch durch das Telegraphenrelais fundierte Logik der ‚Auslösung‘ ausruft39,

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von Nietzsches Kraftbegriff. Nietzsches Auseinandersetzung mit J. G. Vogt, in: Nietzsche-Studien 13 (1984), 218. Robert Julius Mayer, Über Auslösung, in: Ders., Mechanik der Wärme. Sämtliche Schriftern, hg. von Hans Peter Münzenmayer, Heilbronn 1978. Als Schiffsarzt in den Tropen stellte Mayer fest, dass das venöse Blut der Matrosen eine hellere Färbung aufweist als im mitteleuropäischen Klima. Er führte dies darauf zurück, dass Oxydationsprozesse im Organismus in den Tropen verlangsamt ablaufen, weil ein Teil der vom Körper benötigten Wärme von der Umwelt bereitgestellt wird. Die Beobachtung gibt den ersten Anstoß zur Formulierung des Energieerhaltungssatzes. Causa aequat effectum, so die Zauberformel des 1. Thermodynamischen Hauptsatzes: Eine Ursache induziert eine bestimmte Wirkung, und diese ist wiederum Ursache für eine andere Wirkung. Diese Wirkungskräfte erachtet er als quantitativ unzerstörbare und qualitativ mutative Objekte. Der 1. Thermodynamische Hauptsatz relativiert alle Gegenstände oder Erscheinungen in der äusseren Wirklichkeit dahingehend, dass er sie nur als unterschiedliche Materialisationsformen und Transformationsstufen einer universalen Energie betrachtet. (Ders., Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur, in : Ders., ebd., 33ff.; Michel serres, Kommunikation, Frankfurt, Main 1995, 44f. Mayers Arbeiten werden zunächst von der physikalischen Wissenschaft ignoriert oder herabgewürdigt. Erst nachträglich hat John Tyndall 1862 in einem Vortrag an der Royal Institution mayer als den eigentlichen entdecker des energieerhaltungssatzes rehabilitiert, ohne dadurch dem mittlerweile internierten Mayer Recht verschaffen zu können gegenüber dem bis heute als Begründer von Thermodynamik I verehrten Hermann von Helmholtz, bei dem es fünf Jahre nach Mayer und zwei Jahre nach James Prescott Joules Messungen 1847 in Über die Erhaltung der Kraft heißt: „Kräfte sind Ursachen; mithin findet auf dieselben volle Anwendung der Grundsatz: causa aequat effectum. Ursachen sind (quantitativ) unzerstörliche und (qualitativ) wandelbare Objekte“ (Hermann von Helmholtz, Über die Erhaltung der Kraft. Eine Physikalische Abhandlung, in: Ders., Wissenschaftliche Abhandlungen, Leipzig 1882f., 12f.). Mayer spricht, in der Nervenklinik, zu seinen Psychiatern nur noch in manischem, aber hellsichtigem Stil von ‚Auslösungen‘. Auch: Károly Simonyi, Kulturgeschichte der Physik, Leipzig, Berlin 1990), 366ff.; Christian Kassung, Entropiegeschichten. Robert Musiks ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘ im Diskurs der modernen Physik, München 2001, 150–172. Waren Dampfmaschinen, Homöostaten, Transformatoren paradigmatische Gestelle der Thermodynamik, so ist das Telegraphenrelais das typische Modul der Nachrichtentechnik. Es markiert einen Paradigmenwechsel, den Umbruch vom Schlusskapitel der Ontologie zum Anfangskapitel der Operationalität. Die Thermodynamik bildete das letzte wissenschaftlich-ontologische Konzept, das ein

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die die gesamte quietistische Ontologie von Ursache-und-Wirkung subvertiert. „Derselbe Mayer, dem die Tropen die Wahrheit schenkten, die Helmholtz zum Propheten einer universalen Disziplin Physik machte, die auf der metaphysischen Gleichung Ursache = Kraft = Gesetz beruhte, schrieb 35 Jahre später also einen Text, der das Grundprinzip einer nicht dem Ursache-Wirkungs-Prinzip unterstehenden Physik abhandelte.“40 die Beispiele, die er für sein Prinzip der Auslösung vorbringt: der elektrische Funke als Auslöser der Knallgasexplosion und der Schuss lassen sehr nach Art einer physiologischen Ästhetik in die Erfahrung eintreten, mit welchem Impetus das Relaisprinzip in dem durch den Transzendentalversicherungskonzern Kausalität und die Ethik der Konserve regulierten Welthaushalt von Thermodynamik I eintraf.41 eine solche detonation, ausgelöst durch eine minimale Signalenergie, die in kein Ursache-Wirkung-Verhältnis hinsichtlich der von ihr erzielten Resultate (gegenständlich betrachtet: Transzendentalpuschel und Konservendosen fliegen durch die Luft) mehr zu bringen ist, musste natürlich Nietzsches Leidenschaft entfachen. Ganz davon abgesehen, dass sich Mayers in der Nervenheilanstalt ereignende Metanoia von der Energieerhaltung zur Auslösung perfekt mit Nietzsches genealogischer Methode konjugieren lässt, findet Mayers späte Theorie in vieler Hinsicht Eingang in

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substantielles Substrat der Dinge, eine universale Substanz, eine Materie supponierte. Dann führte die beginnende Kommunikations- und Nachrichtentechnik, in erster Linie die Telegraphie, das Telegraphenrelais ein. Es brachte den bahnbrechenden Schritt in die Epoche der Information, sofern sich mit ihm das ursprüngliche Signal übertragen liess, aber nicht in Form derselben ursprünglichen Energie. Technisch basiert das Telegraphenrelais auf dem Prinzip der Induktionsspule, des Wechselstromsmediums, das Signale fortpflanzt und überträgt. Was das Telegraphenrelais gegenüber der einfachen Induktionsspule auszeichnet, ist, dass die Ansprechschwelle des Relaisankers, der vom Magnetfeld, das das ankommende Signal induziert, angezogen wird und so den Ortsstromkreis schliesst, fast auf Null reduzieren kann. Damit war es möglich, ein und dasselbe ursprüngliche Signal über weite Strecken fortzupflanzen, dies in Form des Relais‘ mittels eines Minimums an Übertragungsenergie. Die Differenzierung zwischen Signal und Energie, deren technisch-apriorische Möglichkeitsbedingung das Relais darstellt, läuft auf die Demontage der auf Proportionalität basierenden Dampfmaschine, die Demontage der von der Dampfmaschine motorisierten Wirklichkeit hinaus. Der Dampfmaschinenweltmotor wird abgelöst durch eine subtile elektrische und kurz darauf elektronische Apparatur, die nicht länger substantielle, sondern immaterielle und virtuelle Welten der Informatik generiert (Bernhard Siegert, Passage des Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften 150 –1900, 369–382.; Hugo Theodor Horwitz, Das Relais­Prinzip. Eine technische Studie über Energieformen und Energiewertung, in: Technik und Kultur 20, Heft 7, 1929; Norbert Wiener, Kybernetik. Regelung und Nachrichtenpübertragung im Lebewesen und in der Maschine, Düsseldorf 1963. Bernhard Siegert, Passage des Digitalen, 378. Zu Ethik ond Ontologie dieses Haushalts: Ders., Passage der Digitalen. Zeichenpraktiken der neu­ zeitlichen Wissenschaften 1500–1900, („Die Natur ist ein Nullsummenspiel, Gott ein Buchhalter. Alles was irgendwo gewonnen wird, geht anderswo verloren, alles was irgendwo verloren geht, wird anderswo gewonnen. Im Gesamtsystem aller Irgend- und Anderswo geht nichts verloren und wird auch nichts gewonnen“ (371) Norbert Wiener, Kybernetik. Regelung und Nachrichtenüber­ tragung im Lebewesen und in der Maschine: „Die Erhaltung und die Abnahme der Energie sind die herrschenden Grundsätze des Tages, und das Objekt der Begierde ist eine glorifizierte Wärmemaschine, die irgendeinen brennbaren Stoff verbraucht anstatt des Glykogens der menschlichen Muskeln“ (74); Joseph Vogl, Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, Berlin 2002, 47ff.

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die physiologische Ästhetik. So stellt Nietzsche klar, dass Immanuel Kants und Arthur Schopenhauers „Erkenntniß a priori“ im Zeitalter der Auslösung inkommensurabel werden wird mit metaphysischen Glaubenssätzen, unter die auch der „Glauben an Ursache und Wirkung“ subsumiert werden muss, und darum neu angebunden und verbunden werden müssen mit dem „Gefühl des Willens“ (KSA. NF, 9, 661f.). Dieser Wille muss jedoch streng demarkiert werden von dem mit einem autonomen und einheitlichen Bewusstsein verknüpften Voluntarismus des Idealismus. Vielmehr handelt es sich um einen sich physiologisch realisierenden und unbewussten Willen, der einer das Bewusstsein unterlaufenden Nerventechnik folgt, so wie sie im Experimentaldispositiv an der Tagesordnung ist. So macht beispielsweise Helmholtz am Galvanometer, dem Gerät zur Messung von Nervenlaufzeiten in animalischen Muskelfasern, eine Art Freudsche Erfahrung des Unbewussten zweiter Art.42 Uneinholbar entzieht sich die Geschwindigkeit der Laufzeit des Signals in den Nerven der bewussten Wahrnehmung, womit cartesische Seinsgewissheit und Seinstransparenz, jede Möglichkeit eines selbstreferentiellen Denkaktes, in die Unmöglichkeit fallen: „Der Mechanismus des Geschehens und der hundertfältigen feinen Arbeit, die Operationalität des unbewussten Willens, bleibt dem Bewusstsein verschlossen.“43 Analog dazu setzt Nietzsche den medienapriorisch durch das Relais- oder Auslösungsprinzip bestimmten und an den Tetanisiermaschinen der Psycholabors trainierten Willen auf direkten Konfrontationskurs zu allen durch die Eudämonie des Ursache-Wirkung-Prinzips mechanisierten Gedankenkreisen von Transzendentalphilosophie bis Thermodynamik I. Aus dem Blickwinkel physiologischer Ästhetik, aus dem Blickwinkel nietzscheanischen Perspektivismus muss das Prinzip Ursache-und-Wirkung relativiert werden als Phantasma, das das einheitliche leibseelische Subjekt-Konzept unterstützt. Eine Außerkraftsetzung des Ursache-Wirkung-Prinzips konterkariert dieses Konzept nach Art einer Freudschen Dezentrierung des Subjekts und ersetzt es durch das Konzept eines unbewussten Willens, der sich als ein Körper-Medium erweist, in dem Nervenimpulse metaphorisch Laute, Klänge, Farben, Formen, Bilder und Aromen zwischen Niewiederkehr, leichenblauem Anathema und the sleep of rea­ son, weiter ‚Bäume, Farben, Schnee und Blumen‘ und dann womöglich ein leichtlebiges Silberatom, eine ferne Schönheit im Anonyme-Park-Avenue-Lady-Stil, rauschende Feste, verbotene Früchte und ein ungewisses Etwas, diskrete Irrfahrten, Hurst-Rauschen, Melancholie im Brutkasten und eine Neurose auf Krustentier-Brandale mit Ingwer übertragen. Hatte Nietzsche sich, wie erläutert, bereits 1873 die Verhältnisse von Reizen, Dingen, Bildern und Worten als metaphorische Übersetzungsleistungen konzipierend, auf einem zur Rückkehr nicht mehr geeigneten Weg vom Denk- und Zeichenprinzip der Repräsentation entfernt44, so wird die Opposition 1880 nach der Mayer-Lektüre absolut: Die Verhältnisse von Wort, Vorstellungsbild, Wille, Handlung werden nun explizit als Signalket42 43 44

Hermann von Helmholtz, Über die Methoden, kleinste Teiltheile zu messen und ihre Anwendung für physiologische Zwecke, in: Ders., Wissenschaftliche Abhandlungen, Bd. II, 873. Ders., ebd. In dieser vor der Mayer-Rezeption situierten Phase erodiert Nietzsche Kausalität und Repräsentation mit Hilfe von Johann Julius Baumanns Assoziationsbegriff, der als Äquivalent zur ‚Auslösung‘ zu sehen ist (Bernhard Siegert, Passage des Digitalen. Zeichenpraktiken des neuzeitlichen Wissen­ schaft 1500–1900, 372.

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te beschrieben. 1880, nachdem die 1873 begonnene physiologische Erkenntniskritik zu einer physiologischen Willenskritik eskaliert ist, wird das Zeichenmodell der Repräsentation endgültig und mit Hammerdynamik vernichtet. Unmissverständlich macht Nietzsche klar, „daß ein Wort oft ein Signal ist, keine Ursache, zur Bewegung“ (KSA, NF, 9, 289f.). Die dionysos-dithyrambischen Bewegungen und Tänze des Philosophen werden nicht länger bedingt, fundiert und notfalls aufgefangen durch metaphysische Ursachen: sie werden durch Signale ausgelöst wie die katatonischen Triller, Tremolos und Zitterpartien der an den Apparaten des Psycholabors hängenden Versuchspatienten. Ein kleines PS am Ende dieses Kapitels. Nietzsche hat nicht nur den späten Wahnsinns-Mayer genau studiert, sondern mindestens ebensoviel Zeit und Leidenschaft in die Lektüre von Charles Féré investiert, der Assistent Jean-Martin Charcots und spätere Leiter der anatomischen pathologie an der Clinique des maladies du système nerveux. im Jahr 1887 erscheint Férés Sensation et mouvement, in dem er Michael Faradays Induktion im Diskurs der experimentellen Psychologie und Psychiatrie installiert und das Phänomen induction psycho­motrice einführt45, das in exakter Korrelation steht mit Nietzsches anti-repräsentativischer Theorie des Zeichens als physiologisch wirkendes, impulsauslösendes Signal. Am deutlichsten ist der Niederschlag der Spuren, die sich Féré lesend in Nietzsche eingeschrieben haben, in seiner späten Restitution der mit der Geburt der Tragödie versäumten ästhetischen Theorie sichtbar: Das frühere Konzept der Ansteckung wird nun, konsequent induktionselektrisch und psychophysiologisch, in das Konzept der Induktion verwandelt (KSA, NF, 13, 296ff.; 409).

. medien Die Belege ließen sich erweitern, die Quadrille zwischen den Diskursen amplifizieren. Aber die Richtung ist klar, die Übertragung hat stattgefunden, die physiologische Ästhetik hat durch das tetanische Bibbern und Beben am Ruhmkorff und all die anderen paroxysmalen oder sonstwie abenteuerlichen Nerven-Geschehnisse an den anderen Experimentiergeräten des Psycholabors zumindest an Schwung und Rückenwind gewonnen, was den Widerruf „jener gänzlich irrthümlichen Scheidung von ‚Geist‘ und ‚Körper‘ […], die, besonders seit Plato, wie ein Fluch auf der Philosophie liegt“ (KSA, PHG, 1, 843) angeht. Es ist bereits ausführlich abgelichtet worden: In der Psychophysik wird die Seele zur Nervenaktivität und der Körper an Kymographen, Pneumographen, Galvanometer, Tachistoskope, Schlitteninduktorien, Stromschneider und Ruhmkorffsche Wechselstromgeneratoren angeschlossen. Die Seelen von Fröschen und Menschen bestehen nicht in der Tiefe ihres Was, sondern in der diskreten Waslosigkeit von Frequenzen und Oszillationen, eskalierend im Frenesie, Tetanus oder den Insignien einer Kultur, die Nietzsche mit folgenden Worten beschreibt: „In der Nachbarschaft des Wahnsinns. – Die Summe der Empfindungen, Kenntnisse, Erfahrungen, also die ganze Last der Cultur, ist so gross geworden, dass eine Ueberreizung der Nerven- und Denkkräfte die allgemeine Gefahr ist, ja dass die cultivirten Classen der europäischen Länder durchweg neurotisch sind und fast jede ihrer grösseren Familien in einem Gliede dem Irrsinn nahe gerückt ist“ 45

Charles Féré, Sensation et mouvement. Études expérimentales de psycho­mécanique, Paris 1900), 13.

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(KSA, MA-1, 2, 204). Laborgeräte, Körper und ihre physiologischen Schnittstellen werden verbunden zu Medien46, das alte beseelte Körperbild wird suspendiert zugunsten der Entwürfe und anthropologischen Modelle einer neuen operationalen Ontologie, die nicht auf der Dualität zweier statischer Entitäten, Seele und Körper, Subjekt und Objekt, res cogitans und res extensa basiert, sondern Seele und Körper als ein und denselben, physiologisch verifizierbaren Vorgang, als ein Prozessieren von Nervenreizen begreift, das, jede bewusste Wahrnehmung unterlaufend, imaginäre Bedeutungseffekte wie klassische Cogitos und ‚Bäume, Farben, Schnee und Blumen‘ überträgt. Im Experimentaldispositiv wird die Vorzeichnung und mehr noch: die technische Vorschrift darauf hin gegeben, wie in Nietzsches physiologischer Ästhetik klassische Bewusstseinsleistungen der Repräsentation in neurophysiologisch implementierte, also mediale Übertragungsprozesse verwandelt werden: „Was ist ein Wort? Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten“ (KSA, WL, 1, 879). So weit ist die Verbindung installiert, aber ist das Subjekt Nietzsches, gezeichnet durch „die grösste und unheimlichste Erkrankung […], von welcher die Menschheit bis heute nicht genesen ist, das Leiden des Menschen am Menschen, an sich“ (KSA, GM, 5, 323), darum schon gleichzusetzen mit den faradaysierten und nervlich stroboskopierten Objekten, die Helmholtz & Co in ihren distanziert-kühlen Forscherblick nehmen? Je nach Krisenzustand der Kreatur, die da gerade am Galvanometer, Stromschneider oder Ruhmkorff hängt, wäre eine Assoziation im Stile Nietzsches sicherlich lagerecht: „Hier ist Krankheit, es ist kein Zweifel, die furchtbarste Krankheit, die bis jetzt im Menschen gewüthet hat: – und wer es noch zu hören vermag (aber man hat heute nicht mehr die Ohren dafür! –) wie in dieser Nacht von Marter und Widersinn der Schrei Liebe, der schrei des sehnsüchtigsten Entzückens, der Erlösung in der Liebe geklungen hat, der wendet sich ab, von einem unbesieglichen Grausen erfasst … Im Menschen ist so viel Entsetzliches! … Die Erde war zu lange schon ein Irrenhaus!“ (ebd., 333). Aber das hätten sich Helmholtz & Co und ihre Nachfahren, die Neurologen und Internisten des 20. und 21. Jahrhunderts, unmöglich erlauben dürfen. Es ist eine allgemein anerkannte Tatsache, dass kein Mediziner forschen und praktizieren könnte, wenn er seine Augen und Ohren nicht für genau das verschlossen hätte, was Nietzsches ganzes Schreiben beherrscht und interpungiert: Schmerz und Erleiden, wenn er nicht am toten Objekt arbeiten würde. Erst aus philosophischer Perspektive wird diese einfach und nüchtern zu konstatierende Tatsache zum Problem, zeigt sie doch einerseits die Grenzen von Nietzsches diskursiver Instruktion durch die Psychophysik und erfordert andererseits eine in bezug auf die experimentelle Physiologie aktualisierte Wiederaufnahme der LeibSeele-Problematik bzw. der Supposition eines einheitlichen Subjekts. Was den ersten Punkt betrifft, so verweist Nietzsche selbst auf die Differenz, die das Subjekt der physiologischen Ästhetik, das von Krankheit und Schmerz erlösende und produktive Funktion macht, indem es seinen Zustand in Zeichen überträgt, von den psychophysisch konfigurierten Wesen trennt: „Es steht uns Philosophen nicht frei, zwischen Seele und Leib zu trennen, wie das Volk trennt. Wir sind keine denkenden Frösche, keine Objektivir- und Registrir-Apparate mit kalt gestellten Eingeweiden – wir müssen beständig unsre Gedanken aus unsrem Schmerz gebären und mütterlich ihnen Alles mitgeben, was wir von Blut, 46

Ute Holl, Kino, Trance und Kybernetik, 176.

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Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual, Gewissen, Schicksal, Verhängniss in uns haben. Leben – das heisst für uns Alles, was wir sind, beständig in Licht und Flamme verwandeln auch Alles, was uns trifft, wir können gar nicht anders“ (KSA, FW, 3, 349f.). Nicht dass ein Frosch keine Seele bzw. Nerven hätte, im Gegenteil, würde Du-Bois Reymond protestieren. Aber erstens ist es fragwürdig, ob die ganze existenziale Dimension beim Frosch ebenso dramatisch ausfällt wie beim Menschen: ‚Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual, Gewissen, Schicksal, Verhängniss‘. Und zweitens, gewichtiger, ist der Frosch im Gegensatz zum menschlichen Subjekt nicht durch die janusköpfige Gabe, Fluch und destination zugleich, ausgezeichnet, zum medium seines eigenen schmerzes zu werden, seinen eigenen Schmerz zu übertragen als ‚Licht und Flamme‘ und zu transfigurieren in ein schockfarbenes Kammerflimmern und dunkle Wellengänge, Seraphina in ChantillySpitze und Downtown-Diven, Belle de Jour einsam auf den novembergrauen Promenaden von Deauville, Philipp Marlowe einsam in Edward Hoppers Nachtbar und Popeye im L’Étoile über gerösteten Entenherzen mit Kaviarkartöffelchen, Paten und Päpste, wütende Venus, La donna è mobile und Küsse aus Perugia, Metastasen in der Königsstadt Ubud auf Bali und mit Blaulicht durch nichtgaußsche Berge die es niemals gab. Kurz und mit Nietzsche: in „Poesie“.47 Transfiguration als Spiel mit dem zur Übertragung des ‚Dass‘ befreiten Signifikanten als der äusserste Gegensatz zur Petrifizierung des Signifikanten zwecks Repräsentation der vom Cogito administrierten Bestände des Was. Und selbst wenn, und damit ist der zweite Punkt: das leibgeistige Einheitssubjekt angesprochen, Helmholtz & Co keine Frösche, sondern menschliche Versuchspatienten an ihren ‚Objektivir- und Registrir-Apparaten‘ auf deren Nervenreaktionen hin beobachten und untersuchen, haben sie es nicht mit Subjekten, sondern mit Objekten zu tun, anders und genauer formuliert: sie erzeugen im Akt der Beobachtung und Untersuchung selbst ein Objekt. In dem Moment aber fällt die materialistische Psychiatrie zurück in die Denkmatrix idealistischer Philosophie. Auch wenn als Grund und Integrationszentrum des Wesens jetzt nicht mehr die Seele, sondern der Leib vorausgesetzt wird, so wird weiterhin mit der Hypothese eines einheitlichen, mit sich identischen Wesens gearbeitet. Die nächsthöhere Potenzebene, die, bezüglich der Leib-Seele-Problematik in der Experimentalphysiologie erreicht wird, stellt also keine tatsächliche Transzendierung des Einheitsdenkens dar. Vielmehr hat nur eine Inversion stattgefunden: Anstelle der Seele hypostasiert nun der Leib ein holistisch-einheitssicherndes Element. Damit bleibt der Psychophysiker, auch wenn die Positionen umgekehrt sind, wenn jetzt der Leib die Seele bestimmt, letztlich dem alten dualen Schema von res cogitans und res extensa, Subjekt und Objekt verhaftet. Denn um dieses Objekt als ein Subjekt anerkennen zu können (mit 47

„Das Nachahmen ist darin der Gegensatz des Erkennens, daß das Erkennen eben keine Übertragung gelten lassen will, sondern ohne Metapher den Eindruck festhalten will und ohne Consequenzen. Zu diesem Behufe wird er petrificirt: der Eindruck durch Begriffe eingefangen und abgegränzt, dann getödtet, gehäutet und als Begriff mumisirt und aufbewahrt. Nun aber giebt es keine ‚eigentlichen‘ Ausdrücke und kein eigentliches Erkennen ohne Metapher. Aber die Täuschung darüber besteht, d. h. der Glaube an eine Wahrheit des Sinneneindrucks. Die gewöhnlichsten Metaphern, die usuellen, gelten jetzt als Wahrheiten und als Maaß für die seltneren. An sich herrscht hier nur der Unterschied zwischen Gewöhnung und Neuheit, Häufigkeit und Seltenheit […] Nun aber ist das Seltene und Ungewöhnliche das Reizvollere – die Lüge wird als Reiz empfunden. Poesie“ (KSA, NF, 7, 491).

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Lacan zu sagen) oder um die generativen Transfigurationsleistungen, die es, den vom Stromschneider zugefügten Schmerz kommunizierend, erbringt, empfangen zu können (mit Nietzsche zu sagen), hätte er die beiden Pole, Subjekt und Objekt, von einer dualen in eine dialektische Beziehung überführen müssen. Damit aber hätte er (er hat es nicht getan, er ist Mediziner und nicht Philosoph, Physiologe, nicht ästhetischer Physiologe) die Einheit zerbrechen, das Subjekt dezentrieren oder anders und einfach die letzte medienapriorische Konsequenz aus dem Gerät, an dem er tätig ist, dem elektrischen Auslösungsgerät, ziehen müssen. Das betrifft vielleicht sogar Helmholtz besonders, Helmholtz mehr als das ‚Co.‘ namens Ludwig, Wundt, Münsterberg, Charcot, Bechterev und die anderen, denn als Begründer von Thermodynamik I, der letzten klassischen, auf einem zuverlässig bleibenden Sein beruhenden Ontologie, und weiter als derjenige Physio-Unternehmer, der das Kantische Apriori in den empirischen Raum zu importieren suchte48, war helmholtz in gewisser Weise vorbelastet, aus dem Zerbrechen des Ursache-Wirkung-Prinzips nicht derartig radikale Konsequenzen ziehen zu können wie der Philosoph des dionysischen Willens: „Die Sätze ‚keine Wirkung ohne Ursache‘, ‚jede Wirkung wieder Ursache‘ erscheinen als Verallgemeinerungen viel engerer Sätze: ‚wo gewirkt wird, da ist gewollt worden‘ ‚es kann nur auf wollende Wesen gewirkt werden‘ ‚es giebt nie ein reines folgenloses Erleiden einer Wirkung, sondern alles Erleiden ist eine Erregung des Willens‘“ (KSA, NF, 9, 662). Im oben entfalteten Kontext der letzten, rückstandlos sauberen Bereinigung vom repräsentationslogischen Logozentrismus und unter Bezug auf die transund intersubjektive physiologische Kraft des Willens exekutiert Nietzsche eine Destruktion der Einheit der Person und der ihr komplementären Einheit des Objekts, für die Helmholtz die entsprechenden Nerven, nämlich rauschbereit und fallsüchtig dem Zerfall des principii individuationi entgegen, doch nicht hätte mitbringen können. Über weite Strecken, das hat sich bis zu diesem Punkt gezeigt, folgt Nietzsche dem Denken und Diskurs des Experimentaldispositivs. Es hat sich gezeigt in der Deklination klassischer 48

Helmholtz hatte sich nicht nur durch abschlussreiche physiologische, mathematische und physikalische Untersuchungen meritiert, sondern sich auch im Zuge intensiver Kant-Lektüre über die Grenzen des positivistischen Formkreises hinausbegeben. Sich derart als Philosoph und Wissenschaftler in die Tradition des Neukantianismus stellend, bestand sein Anliegen jedoch nicht in einer Abgrenzung des empirischen vom philosophischen Bereich, so wie es in Kants Sinne gewesen wäre, sondern in einer produktiven Verbindung, einer Integration oder Importation Kantischer transzendentalphilosophischer Theoreme in die positive physikalisch-physiologische Naturwissenschaft. Tatsächlich galt Helmholtz in naturwissenschaftlichen Kreisen als einer der ersten und führenden Neukantianisten (Moritz Schlick 1921 in Erläuterungen zu Helmholtz’ ‚Die Tatsachen in der Wahrnehmung‘. In: ders., Schriften zur Erkenntnistheorie, hg. von Ecke Bond, Wien, Newe York 1998, 197); seine neukantianisch modellierte Erkenntnistheorie, in die sich evolutionistische und Raymond Poincarés Gedanken vorwegnehmende Aspekte einmengen, lokalisiert das Kantische Apriori nicht mehr in einer transzendentalen Sphäre, sondern lässt es als fortlaufende Erfahrung und Restitution von Erfahrung in einem sinnesphysiologischen oder motorischen, von entsprechenden Messapparaturen gesicherten Bereich operieren. Auf diese Weise vollzieht Kants der Vollendung entgegenstrebende Vernunft ihre Bahn in einem zunehmend erschlossenen experimentalwissenschaftlich-positivistischen Raum (Daniel Tyradellis, Untiefen. Husserls Begriffsebene zwischen Formalismus und Lebenswelt, Würzburg 2006), 34–42; Annette Bitsch, Die Genealogie des Unbewussten aus der Medientheorie und Philosophie der Zeit, 255–262; Hermann von Helmholtz, Die Tatsachen in der Wahrnehmung, in: ders., Schriften zur Erkenntnistheorie, 147–195.

Physiologische Ästhetik

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Philosophenprobleme in Termen von Gesundheit und Krankheit; in der Relativierung der gesamten Urteilslogik dahingehend, dass „uns organische Wesen […] ursprünglich Nichts an jedem Dinge [interessirt], als sein Verhältniss zu uns in Bezug auf Lust und Schmerz“ (KSA, MA-1, 2, 39); in der Adaption Wundtscher Reihen: Lust-Unlust und Anspannung-Entspannung am Grund aller höherwertigen oder tiefgründigeren geistigemotionalen Tätigkeiten; in der Dekonstruktion der Repräsentationslogik in signaltechnischen Auslösungs- und Entladungsbegriffen. Das Psycholabor ist vernehmlich vorhanden in Nietzsches weit verstreuten Ausführungen zur physiologischen Ästhetik; in der Diagnose, dass ehemals der Moral unterstellte Probleme nun in den Bereich der Medizin fallen49; in Formulierungen, die den Eindruck erwecken, Nietzsche sei persönlicher Zeuge von Wundts Erforschung synästhetischer Phänomene gewesen: „Jede Perception erzielt eine vielfache Nachahmung des Reizes, doch mit Übertragung auf verschiedene Gebiete. Reiz empfunden übertragen auf verwandte Nerven dort, in Übertragung, wiederholt usw. Es findet ein Übersetzen des einen Sinneseindrucks in den andern statt: manche sehen etwas oder schmecken etwas bei bestimmten Tönen. Dies ein ganz allgemeines Phänomen“ (KSA, NF, 7, 490); in der Überzeugung, dass „der künstlerische Prozeß […] physiologisch absolut bestimmt und nothwendig [ist]“ (ebd., 446) bis hin zu dem Willen, den Nietzsche wie die Männer am Schlitteninduktorium nervenphysiologisch definiert. Aber da bricht auch der Weg ab, denn menschliche Medien, also Medien ihres eigenen Schmerzes („hinterdrein ist es die Wunde selbst, die ihn zwingt, zu leben“, KSA, GM, 5, 367) unterscheiden sich von den Objekten oder Objektivierungsopfern an den Tetanisiermaschinen darin, dass sie in den Übertragungen, mit denen sie diese für ihr Sein konstitutive Wunde in Bildern und Tönen kommunizieren, erhört werden. Das vermögen Experimentalphysiologen, die nur neuronale Frequenzereignisse registrieren, nicht mehr zu leisten, und so muss ihnen der Faktor des aufgrund der Befähigung und schicksalhaft auferlegten Aufgabe zur Transfiguration existentiell an den Schmerz gebundenen Subjekts, das Nietzsche mit einem Schmetterling vergleicht, notwendigerweise entgehen: „Diess Alles einzusehen, kann tiefe Schmerzen machen, aber darnach giebt es einen Trost: solche Schmerzen sind Geburtswehen. Der Schmetterling will seine Hülle durchbrechen, er zerrt an ihr, er zerreisst sie: da blendet und verwirrt ihn das unbekannte Licht, das Reich der Freiheit. In solchen Menschen, welche jener Traurigkeit fähig sind wie wenige werden es sein! – wird der erste Versuch gemacht, ob die Menschheit aus einer moralischen sich in eine weise Menschheit umwandeln könne“ (KSA, Ma-1, 2, 104f.). Entgehen muss ihnen damit auch das, was Nietzsche noch jenseits des in Nervenreizen prozessierenden und Metaphern zwischen Schneewittchen im Walhalla, Elbenforschern auf Island und Sterbebegleitern auf dem Walk of Fame stimulierenden Willens situiert, jener „Urschmerz und Urwiderspruch […] als unersättlich Gier zum Dasein und ewiges Sichwidersprechen in der Form der Zeit, also als Werden“, jene unbenennbare Zone, wo „jeder Augenblick […] den vorhergehenden frißt, jede Geburt […] der Tod unzähliger Wesen [ist], Zeugen Leben und Morden […] eins [ist]“ (KSA, CV, 1, 768). 49

„Wer die antike Moral kennt, wird sich wundern, wie viel damals moralisch genommen wurde, was jetzt medicinisch behandelt wird, wie viele Störungen der Seele, des Kopfes damals dem philosophen, jetzt dem Arzt zur Heilung übergeben werden, wie besonders die Nerven und ihre Beruhigung jetzt durch Alkalien oder Narkotika bedacht werden“ (KSA, NF, 7, 749).

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Annette Bitsch

Das reine ‚Dass‘ der Flamme von Ecce homo hat den positivistischen Denkradius des Experimentaldispositivs weit hinter sich gelassen. Im Zusammenhang seines Zerwürfnisses mit Richard Wagner und seiner veränderten kritischen Haltung gegenüber Schopenhauer restituiert Nietzsche das in seinem frühen Text Dionysische Weltanschauung von 1870 als „Vernichtung der Individuatio“ (KSA, DW, 1, 577) beschriebene Konzept des Dionysischen dahingehend, dass er es aufgrund seiner Unmittelbarkeit und Unübertragbarkeit vom Willen abgrenzt. Gegen Schopenhauer identifiziert er den Willen nicht mehr mit jenem letzten unbenennbaren und uneinholbaren X des Urschmerzes selbst, sondern differenziert das Verhältnis dahingehend, dass der Wille „nichts als die allgemeinste Erscheinungsform eines uns übrigens gänzlich Unentzifferbaren“ (KSA, NF, 7, 361) sei. Sich neurophysiologisch realisierende Erscheinungsform, mag man hinzufügen, auch wenn diese sich als unbewusst subjektive Kraft der Transfiguration den „Objektivirund Registrir-Apparaten“ bereits entzieht, so wie erst recht „jene Kraft […], die unter der Form des ‚Willens‘ eine Visionswelt aus sich erzeugt“ (ebd., 365), alle Versuche der Aufzeichnung, Messung und Objektivierung rettungslos zum Scheitern verurteilt. Ein Anschluss an den Stromschneider, ein Anruf durch das vom Ruhmkorff ausgehende primordiale Signal machen (so wie Trauma und Seinsklüftung in der Psychoanalyse) sicher die Voraussetzungen, dass das Sein bei Nietzsche nicht mehr wie ein seraphischer Geist in ewig sanften Winden schaukelt, sondern als eine real-physische Substanz gedacht wird, die Übertragungs- und Konfigurationsprozesse implementiert. Aber das reine und operationale und als Urschmerz erfahrene ‚Dass‘ des mediatisierten Seins kann so wenig wie das trotz und in diesem Schmerz sich entzündende Begehren zur Übertragung des Unübertragbaren, zur metaphorischen Erzeugung dessen, was auf immer unergründbar bleiben wird, von den Maschinen erfasst, von Helmholtz & Co als Washeit säkularisiert, objektiviert werden. Das Movens zur ‚Transfiguration‘ als das „Nicht anders Können […] als seinen Zustand jedes Mal in die geistigste Form und Ferne umzusetzen“ (KSA, FW, 3, 349) ist bis auf weiteres neurophysiologisch oder neurochemisch nicht aufzulösen. Bleiben nur, usque ad finem (aber wann wird das sein?) ‚Bäume, Farben, Schnee und Blumen‘, dann vielleicht Filles Fatales in schwarzen Netzstrümpfen, Ätomchen im Kommissar Maigret-Trenchcoat, ein unsichtbares Tier in der U 8, Risse und Frakturen und Spiel mir das Lied vom Tod, mag sein Paul Eluards Briefe, Franz Kafkas Briefe, Nervenzittern mit Avocadocreme im Wan-Tan-Tütchen, die eigene Rakete und auf und davon.

iii. friedrich nietzsches affektenlehre . nietzsche-werkstatt, schulpforta (.–. september 00)

volker caysa

ein versuch, nietzsches affektenlehre systematisch zu verstehen

i im folgenden wird der versuch unternommen, friedrich nietzsches affektenlehre systematisch existenzialanalytisch darzustellen. warum? versucht man nietzsches begriff des affekts genauer zu bestimmen, wird man feststellen müssen, dass nietzsche die begriffe affekte, leidenschaft und gefühl allzu oft, wie im alltäglichen sprachgebrauch üblich, gleichsetzt. nietzsche gibt uns keine klare antwort darauf, was ein affekt, ein gefühl, eine stimmung, ein trieb, eine leidenschaft, eine lust, ein instinkt, eine begierde sind, inwiefern sie willen zur macht sind und wodurch sie sich vom willen zur macht unterscheiden (ksa, gd, , f.). typisch sind folgende überlegungen vom sommer 0: „begierde! das ist nichts einfaches, elementares! vielmehr ist eine noth (druck, drängen usw.) zu unterscheiden und ein aus erfahrung bekanntes mittel, dieser noth abzuhelfen. es entsteht eine verbindung von noth und ziel, als ob die noth von vornherein zu jenem ziele hinwolle. ein solches wollen giebt es gar nicht. ‚mich verlangt zu uriniren‘, ist ebenso irrthümlich als ‚es gibt einen willen zum nachttopf‘“ (ksa, nf, , f.). kurze zeit später notiert nietzsche: „das gefühl der lust der ergebung ist vielleicht weiblich – und beider gefühle sind beide geschlechter fähig, aber ein überschuß in jedem besonders. gott weiß, mit welchen eigenheiten der geschlechtlich weiblichen funktion es zu thun zu haben mag, daß ihre sinnliche erregung nicht wesentlich als wille zur macht sich äußert: beherrscht werden, dienen, sie fühlen sich schwächer durch die liebe. die ernäherung des eierstockes fordert kraft ab“ (ksa, nf, , 0). wir müssen also selbst versuchen begriffe wie affekt, gefühl, erregung stimmung, begierde mit nietzsche gegen Nietzsche genauer zu differenzieren, als es bei ihm selbst zu finden ist, um eine philosophische theorie der affekte zu entwickeln, die weder in analytisch-kognitivistische, noch in psychologische, physiologische oder neuerdings neurobiologische reduktionismen in bezug auf die bestimmung von affekten und gefühlen zu verfallen. das soll hier versucht werden, in dem affekte als existenziale verstanden werden sollen. mit der bestimmung der affekte als existenziale knüpfte ich an martin heideggers existenziale analytik an, wende sie körperanalytisch und vereindeutige sie in einer wichtigen begrifflichen Bestimmung. Denn Heidegger will in Sein und Zeit die ontologische



Volker Caysa

Befindlichkeit gegenüber der ontischen Stimmung auszeichnen, was er selbst dort nicht durchhält. in seinem späteren so genannten zweiten hauptwerk Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) spricht er dann selbst von „leitstimmung“ und „grundstimmung“ und favorisiert damit wieder den begriff der stimmung, um die existenzialität des daseins zu erfassen, was sich ebenfalls in seinen Nietzsche-vorlesungen des wintersemesters 1936/37 findet.

ii will man die frage beantworten, wie in einem körperanalytisch-säkularen kontext affekte existenzial zu verstehen sind, muss zunächst die frage geklärt werden, was überhaupt Existenziale sind. Existenziale reflektieren durch Stimmungen konstituierte, typische verhaltensweisen im menschlichen dasein. sie sind je unterschiedlich gestimmte dispositionen zu handeln. existenziale als daseinsbestimmungen sind stimmungen, die für unser dasein konstitutiv sind, die das sein zu dem machen, was es für uns wesentlich ist. existenzialien und kategorien sind nach heidegger „die beiden grundmöglichkeiten von seinscharakteren.“ während existenziale „die seinscharaktere des daseins“, die „seinsverfassung des daseins“ reflektieren, sind Kategorien die „Seinsbestimmungen des nicht daseinsmäßigen seienden“. kategorien als kategorien des seins als solchen erfassen das sein in seinem an-undfür-sich-sein. existenziale „als kategorien des daseins“ erfassen das sein in seinem für-uns-und-durch-uns-sein. durch existenziale vermag heidegger das den kategorien Vorgängige und deshalb sie Begründende, den präreflexiven Grund, der all unsere selbstverhältnisse bestimmt, das immer schon gestimmte empraktische der praxis als bedingung der möglichkeit kategorialer erkenntnis zur sprache zu bringen. existenziale erfassen begrifflich das leibliche Gestimmtsein der Kategorien. durch existenziale wird die wahrheit des da-seins für uns und durch ihre immer schon vorhandene gestimmtheit erschlossen. die vernünftige wahrheit wird also ursprünglicher als stimmungswahrheit erschlossen; das verständige erkennen wird erschlossen durch die die daseiende existenz konstituierenden stimmungen. dadurch wird es möglich, das philosophische denken in die alltäglichen lebensvollzüge, in die mög 

    

martin heidegger, Sein und Zeit, tübingen , ff. stimmungen werden hier in ihrer positiven funktionalität für die welterschließung verstanden. das setzt voraus, dass man sich von bloß negativen vorurteilen gegen über stimmungen frei macht, die darauf hinauslaufen, stimmungen verhindern, die klare und deutliche erkenntnis; stimmungen trüben das urteilsvermögen, wie es in der rede von der ‚schlechten laune‘, der ‚stimmungsmache‘, der ‚gefühlsduselei‘, der ‚stimmungskanone‘ zum ausdruck kommt. martin heidegger, Sein und Zeit, . ders., ebd., . ders., ebd., . ders., . ders., Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), in: ders., Gesamtausgabe. II. Abteilung: Vorlesun­ gen, band , frankfurt am main , .

Ein Versuch, Nietzsches Affektenlehre systematisch zu verstehen



lichkeitsbedingungen praktischer lebensvollzüge, in die es immer schon verwoben ist und die es konstituieren, zu reflektieren. existenziale erfassen, die dem vernünftigen kategorialen denken vorgängigen und es immer begleitenden stimmungen. die immer schon leiblich gestimmten stimmungen sind das, was der vernunft praktische macht gibt; sie sind das, was sie begründet und nicht bloß bedroht: ein mangel an stimmung kann auch ein grund für unvernünftiges handeln sein. all unsere vernünftigkeit war einmal stimmung und all unser gestimmtsein ist nicht vom leibsein zu trennen. empraxis als immer schon gestimmtes sein, das unser dasein bestimmt, ist leibliches eingestimmtsein. die kategorie der vernunft und deren theoretische praxis muss also aus dem leiblichen gestimmtsein, aus den existenzialien als den grundformen des empraktischen heraus verstanden werden, weil sie deren ausdruck ist. die verständige, ‚kleine‘ vernunft basiert auf einer umfassenderen ordnung, als es ihr begriffliches System verständiger Regeln und Unterscheidungen zu erfassen vermag. Existenziale versuchen daher den vorbegrifflichen Grund verständiger Rede zu erfassen und das ist auch der grund, warum sie anstelle von verstandeskategorien allzu oft auf die welt der dichtung und der mit ihnen verbundenen metaphern zurückgreifen muss. wenn man nietzsche und heidegger vorwirft, sie seien eigentlich keine denker, sondern (gescheiterte) dichter, dann hat das systematisch den grund darin, dass beide denker des empraktischen sind, und das empraktische kann zunächst nur über metaphern erfasst werden, die dann von der Philosophie verbegrifflicht werden. Darum muss ein Denken, das den begriffen vorgängiges erfassen will, auf metaphern zurückgehen, denn die metapher gibt uns die möglichkeit, zur sprache zu bringen, was noch keinen begriff hat. wenn nietzsche sagt: „bevor ‚gedacht‘ wird, muss schon ‚gedichtet‘ worden sein“ (ksa, nf, , 0), geht es nicht darum, die dichtung gegen das denken auszuspielen, sondern das denken gegen die ängstliche abdichtung der verstandesbegriffe durch die Dichtung für das Nichtbegriffliche, dass die Begriffe begründet, zu öffnen. Insofern muss für nietzsche wissenschaftliches wissen durch nichtwissenschaftliches wissen ergänzt werden, soll die wissenschaft eine produktive zukunft haben: es gehört für ihn zu einer „höhere(n) cultur“, „dem menschen ein doppelgehirn, gleichsam zwei hirnkammern“ zu geben: „einmal um Wissenschaft, sodann die Nicht-Wissenschaft zu empfinden: neben einander liegend, ohne verwirrung, trennbar, abschliessbar; es ist dies eine forderung der gesundheit. im einen bereiche liegt die kraftquelle, im anderen der regulator: mit illusionen; einseitigkeiten, leidenschaften muss geheizt werden, mit hülfe der erkennenden wissenschaft muss den bösartigen und gefährlichen folgen der überheizung vorgebeugt werden“ (ksa, ma-, , 0). die existenziale repräsentieren in einem körperanalytisch-säkularem verständnis idealtypisch leibhaftige emotionale und affektive zustände, die zwar dem historischen werden und gewordensein unterliegen, aber auch überzeitliche geltung beanspruchen können, insofern sie in jeder historischen epoche unterschiedlich ausgeprägt vorliegen. Mit den Existenzialen fixieren wir das Allgemeinmenschliche, das Menschlich-Allzumenschliche historisch-konkreter stimmungen und damit auch das intersubjektiv und interkulturell gültige von besonderen subjektiven und kulturellen stimmungsausprä

zum verhältnis von metapher und begriff bei nietzsche: ksa, wl, , ff., ff.



Volker Caysa

gungen. existenziale stellen in diesem kontext den objektivierbaren affektiv-emotionalen kern einer lebensform, eines lebensstils dar. sie sind der zentrierende kern einer lebensform, der die einander widerstrebenden lebensphasen einer lebensform zu einer einheit zusammenführt und dadurch sinn stiftet. wie jedes individuum so hat auch jede kultur, jede gemeinschaft und lebensform eine mitte in sich selbst und die wird formiert durch das jeweilige basisexistenzial. die existenzialanalytik ist demzufolge aufklärung der stimmungen, in denen sich unsere existenz als möglichkeit des selbstseins, die das wesen unseres daseins ist, gründet. im kontext einer solchen aufgeklärten existenzialanalytik wird der versuch unternommen, körperanalytisch zu reformulieren, was seit arthur schopenhauer, aber nicht erst bei schopenhauer, in der philosophie moderne mit dem wollen thematisiert wurde und zu dem nietzsche schreibt: „in jedem wollen ist erstens eine mehrheit von gefühlen, nämlich das gefühl des zustandes, von dem weg, das gefühl des zustandes, zu dem hin, das gefühl von diesem ‚weg‘ und ‚hin‘ selbst, dann noch ein begleitendes muskelgefühl, welches, auch ohne das wir ‚arme und beine‘ in bewegung setzen ‚wollen‘, sein spiel beginnt. wie also fühlen und zwar vielerlei fühlen als ingredienz des willen anzuerkennen ist, so zweitens auch noch denken: in jedem willensakte giebt es einen commandierenden gedanken; – und man soll ja nicht glauben, diesen gedanken von dem ‚wollen‘ abscheiden zu können, wie als ob dann noch wille übrig bliebe! drittens ist der wille nicht nur ein complex von fühlen und denken, sondern vor allem noch ein affekt: und zwar jener affekt des commando’s“ (ksa, Jgb, , ). existenziale sind radikal, sie gehen an die wurzel unseres daseins. als zugrundeliegendes bestimmen existenziale die typischen grundformen, durch die der mensch wesentlich ‚da‘ ist und die dieses da-sein konstituieren, zentrieren und perspektivieren. insofern existenziale unser dasein zu dem machen, was es für uns ist, sind sie eine conditio humana.

iii die mitte der existenziale sind sinnhafte stimmungen und diese sind ausdruck der Grundbefindlichkeiten unserer Existenz. Diese Grundbefindlichkeiten sind Hintergrundgefühle, die als affekte und als leidenschaften erscheinen, die wiederum unbewusst und bewusst, oft auch vorbewusst, sind. existenziale sind immer schon gestimmte ausgestaltungen des willens zur macht, sie bewegen sich als solche durch macht bestimmte stimmungsdispositionen im spannungsfeld von plötzlicher affektivität und andauernder leidenschaft, die zugleich das allgemeine menschliche potential sind, durch das unser dasein bestimmt wird. nietzsches affektenlehre wird also einerseits systematisch positiv aufgenommen, andererseits auch kritisiert. kern der philosophie der affekte nietzsches sind folgende 

diese linie ist in der deutschsprachigen philosophie auf meister eckhart zurückzuführen (uta störmer-caysa, Der Wille in Meister Eckhardts Erfurter „Reden“, ein ungenannter Gegner des Duns Scotus und einige Fragen an die Textgeschichte, in: martin schubert, Jürgen wolf, annegret haase (hg.), Mittelalterliche Sprache und Literatur in Eisenach und Erfurt, frankfurt am main u. a. 00.

Ein Versuch, Nietzsches Affektenlehre systematisch zu verstehen



thesen: () „morphologie der affekte: reduction derselben auf den willen zur macht“ (ksa, nf, , ); () „die ableitung aller affekte aus dem einen willen zur macht: wesengleich“ (ebd., 0); „daß der wille zur macht die primitive affekt-form ist, daß alle anderen affekte nur seine ausgestaltungen sind“ (ksa, nf, , 00); () „die moralen sind auch nur eine zeichensprache der affekte“ (ksa, Jgb, , 0). in diesem kontext können nach nietzsche affekte als stimmungen verstanden werden, die durch plötzlichkeit und augenblicklichkeit der lust bzw. unlust gekennzeichnet sind. der affekt im strengen sinne überfällt, überwältigt. affekte sind demzufolge kurzzeitig hereinbrechende stimmungen, sind plötzliche erregungsformen der stimmungen. affekte sind widerfahrnisse, die zunächst nicht verfügbar sind, die uns ohne unser zutun unmittelbar leiblich ergreifen. affekte sind kurzzeitige gefühle. gefühle als stimmungen sind dagegen durch anhaltende lust und unlust bestimmt; sie sind lang anhaltende stimungen und in diesem sinne echte leidenschaften, sie sind verstetigte erregungsformen der stimmungen; leidenschaften sind andauernde gefühle. aus der sicht der affekte sind Stimmungen plötzlich, augenblicklich, flüchtig; aus der Sicht der Leidenschaften sind Stimmungen andauernd, stetig, prozessual. Affekte sind plötzliche Erregungen, verfliegende aufgeregtheiten, augenblickliche stimmungen; leidenschaften sind dauernde, lang anhaltende stimmungen. stimmungen haben also einen doppelcharakter; sie sind affekte und leidenschaften. demzufolge gibt es eine gefühlsontologische differenz: es gibt plötzlich hereinbrechende gefühle, affekte, und es gibt lang anhaltende gefühle, leidenschaften. Diese gefühlsontologische Differenz findet sich auch im Ansatz bei Nietzsche. So sind für ihn einerseits affekte konvulsive leidenschaften (ksa, gt, , ), wobei er der gleichsetzung von affekt und leidenschaft bei schopenhauer folgt, andererseits sind leidenschaften andauernde stimmungen für ihn, wenn er von „leidenschaft der erkenntniss“ (ksa, m, , f.; ksa , fw, , ) spricht. sind affekte unvorsätzlich, so sind verstetigte gefühle durch vorsatz und überlegung vermittelt. entsprechend dieser differenzierung von hereinbrechenden und anhaltenden stimmungen könnte man ‚heiße‘ und ‚kalte‘ existenzialformen unterscheiden und damit verbunden von einem zweikammersystem im affekt- bzw. gefühlshaushalt des menschen sprechen, durch das unsere stimmungen reguliert werden. affekte stimmen mich auf gefühle ein. wenn das affektive gefühl verstetigt ist, wird aus der einstimmung ein andauerndes bestimmtsein, ein andauerndes gestimmtsein, das kein kurzeitiges, zufälliges, affektives gestimmtsein, eine laune, ist. das bestimmtsein durch das unterschiedliche gestimmtsein durch affekte und leidenschaften erzeugt eine unterschiedliche taktische und strategische bereitschaft zu handeln. leidenschaften wirken in diesem stimmungsfeld als affektdispositionen; affekte erscheinen als akute leidenschaften. im alltag werden affekte, leidenschaften und gefühle meistens miteinander identifiziert. Dieser Entdifferenzierung wird hier widersprochen: Affekte sind plötzlich hereinbrechende gefühle, leidenschaften sind verstetigte gefühle. beide können je unterschiedlich zu grund- und leitstimmungen werden und bewegen sich im spannungsfeld von geworfenheit und entwurf, wobei allerdings auf der seite des affekts die geworfenheit und auf der seite der leidenschaft der entwurf zu dominieren scheint. dieses erscheinungsbild von affekt und leidenschaft wird noch dadurch verkompliziert und überlagert, dass im alltäglichen lebensvollzug affekt und leidenschaft als



Volker Caysa

nichtalltägliche und alltägliche gestimmtheit erscheinen, was dazu führt, dass man affekt und gefühl wie ereignis und erlebnis gegeneinanderstellt. die stimmung als affekt, der sich ereignet, wird mit der metapher des blitzes erfasst: ein blitz schlägt ein, wie bei martin luthers stotternheimer erlebnis oder nietzsches ewige wiederkunftsidee am see von silvaplana im august  (ksa, eh, , ), und es vollzieht sich eine umkehr im leben, eine kehre, eine umwertung des bisher geltenden werte (ksa, m, , ff.; ksa, wa, , ; ksa, eh, , ). wie aber der ‚blitz‘, der übermensch, in seiner ganzen existenziellen bedeutung erst wahrgenommen werden kann, wenn die menschen auf sein erscheinen vorbereitet werden, wenn sie ihn erwarten, weil es „verkündiger des blitzes“ wie zarathustra gibt (ksa, za, , ), so hat die wirkung der affekte als ereignis, das alles umkehrt, oft das gefühl als leidenschaft zur voraussetzung, denn diese erzeugt ein gespanntsein, ein bereitsein für, ein warten auf das ereignis. affekte, gefühle, stimmungen sind nach nietzsche als wille zum leben im sinne des willens zur macht zu verstehen und sind von daher immer schon mit interpretationen, wertschätzungen, perspektivierungen, entscheidungen und hierarchisierungen verbunden; die affekte und gefühle bestimmen, was und wie wir wählen, was wir und wie wir etwas ab- und hochschätzen grundlegend: „Welche Gruppen von Empfindung innerhalb einer seele am schnellsten wach werden, das wort ergreifen, den befehl geben, das bestimmt zuletzt die gütertafel. die werthschätzungen eines menschen verrathen etwas vom aufbau seiner seele, und worin sie ihre lebensbedingungen, ihre eigentlich noth sieht“ (ksa, Jgb, , ; auch ksa, nf, , 0, f.).

iv entsprechend nietzsche konzeption der ‚grossen vernunft‘ ist die vernunft kein stimmungsfreies, kein affekt- und gefühlsfreies selbstverhältnis, sondern ihr ethos ist selbst von stimmungen bestimmt, sie ist selbst ein praktisch-leibliches verhalten, das durch stimmungen regiert wird. die stimmungen sind es, die unser praktisches verhältnis zur welt bestimmen. vernünftiges denken ist ohne stimmungen nicht nur nicht handlungsfähig, sondern auch nicht überlebensfähig, weil stimmungen wesentlich unsere entscheidungs- und selbsterhaltungsfähigkeit bestimmen. eine ontopraxeologische lebensphilosophie hat also nicht nur die Zeitlichkeit des Seins zu reflektieren, die allem Dasein voraus liegt und es begründet, aber selbst nicht daseinsanalytisch absolut begründbar ist, sondern auch die existenziale als stimmungen, die wesentlich als sehende, insofern kognitive und nicht nur als verblendende, blind machende affekte und gefühle zu verstehen sind: „es giebt nur ein perspektivisches sehen, nur ein perspektisches ‚erkennen‘; und je mehr afekte wir über eine sache zu worte kommen lassen, je mehr augen, verschiedne augen wir uns für dieselbe sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser ‚begriff‘ dieser sache. den willen aber überhaupt eliminieren, die affekte sammt und sonders aushängen, gesetzt, dass wir dies vermöchten: wie? hiesse das nicht den intellekt castriren? (ksa, gm, , ). affekte und gefühle sind nach nietzsche begründet und vermittelt durch bewegungen und erregungen des leibes (ksa, za, , 0). die macht des leibes besteht darin,

Ein Versuch, Nietzsches Affektenlehre systematisch zu verstehen



stimmungen zu entwerfen, wie der leib andererseits durch die macht der affekte und gefühle geworfen wird. der alte cartesianismus meinte, das selbstbewusstsein sei ein besonderer mentaler zustand, der von anderen mentalen zuständen abgleitet wird. dem folgte im grunde noch kant im konzept der Kritik der reinen Vernunft. nach nietzsche und sigmund freud aber wissen wir, das selbstbewusstsein ist ein besonderer mentaler zustand, der wesentlich durch den leib und die mit ihm verbundenen stimmungen bestimmt ist. durch den leib, der uns stimmt, sind wir organisch mit einer welt ursprünglicher bedeutungen empraktisch verbunden, durch den gestimmten und stimmenden leib erschließt sich uns die welt ursprünglich und anscheinend unmittelbar: leibstimmungen sind bedeutungsverleiher: sie geben unserer umwelt bedeutung als mitwelt. der stimmungsleib erschließt uns empraktisch die welt in ihrer bedeutsamkeit für uns. durch den stimmungsleib erschließt sich der menschliche mikrokosmos den makrokosmos, insofern wir per gestimmtem leib die natur außer uns durch analogisierung mit unserer leib-natur wahrnehmen. die natur geht uns durch unseren stimmungsleib an, unsere lebensanschauung ist wesentlich durch unseren leib gestimmt (ksa, fw, , f.). affekte und gefühle basieren, in der vermittlung durch triebe und instinkte, auf den bewegungen und erregungen unseres leibes. durch sie bekommen wir eine vorstellung von unserer leiblichen verfasstheit. stimmungen sind wahrnehmungsformen unseres leibzustandes, die wiederum unser denken bestimmen. eine stimmung wahrzunehmen, heißt wahrzunehmen, dass sich der Leib in einem bestimmten Zustand befindet. es stellt sich folglich die frage, wenn auch stimmungen zweifelsohne nicht von neurophysiologischen vorgängen im menschlichen gehirn zu trennen sind, ob sie auf dieses organ ihrer wahrnehmung zu reduzieren sind und ob nicht der gesamte sinnliche leib, zu dem auch das gehirn gerechnet werden muss, das zentrum all unserer gestimmtheit ist. über stimmungen erfahren wir den leib, was aber nicht heißt, dass leibsein und gestimmtsein miteinander abstrakt identisch sind, sondern sie sind konkret miteinander identisch; sie entsprechen einander nicht nur, sie widersprechen auch einander. leib und stimmung sind zwar nicht trennbar, aber sie sind unterscheidbar, sie scheinen voneinander abhängig zu sein und des öfteren scheint der zustand des einen nichts mit dem zustand des anderen zu tun zu haben. wie sehr aber leibsein und gestimmtsein einander bedingen, zeigt sich in der körperhaltung, die wir jeweils durch einen affekt oder durch eine leidenschaft vermittelt einnehmen.0

0

im anschluss an nietzsche ist dies in bezug auf den hass näher analysiert in: rolf haubl, volker caysa, Hass und Gewaltbereitschaft, göttingen 00.

udo tietz

die grammatik der gefühle ein versuch über nietzsches affektenlehre

die bücher und aufsätze zu friedrich nietzsche füllen ganze bibliotheken. Jedes Jahr wächst die sekundärliteratur weiter, so dass diese allenfalls noch mit den mitteln der modernen datenerfassung zu überblicken ist. sucht man in diesem unendlichen meer der sekundärliteratur nach texten zu nietzsches affekt- und gefühlstheorie, dann werden wir feststellen, dass, gemessen an anderen themen, hierzu fast nichts existiert, oder jedenfalls nichts vernünftiges. dies ist umso erstaunlicher, als die philosophie der gefühle eine echte konjunktur hat. aristoteles gilt als ihr begründer. in einer für die ganze tradition maßgeblichen weise hat er gezeigt, dass es sich bei dem, was man seither als affekte bezeichnet, um positive oder negative gefühle handelt (also lust oder unlust), die sich ihrem eigenen sinn nach auf ein urteil aufbauen, und zwar auf ein werturteil. die furcht ist danach das unlustgefühl, das ich dann habe, wenn ich mir eines mein wohl gefährdenden ereignisses bewusst bin, neid das unlustgefühl, das ich angesichts des umstandes habe, dass jemand anderer etwas wertvolles hat oder tut, das ich meinerseits gerne hätte oder täte. bei aristoteles sind werte immer werte für einzelne personen (gut für …), bezogen auf ihr wohl, obwohl aristoteles noch nicht von ,wert‘ spricht, sondern vom guten. von diesen gefühlen unterscheidet aristoteles die moralischen gefühle. sie sind dadurch definiert, dass sie Lust- bzw. Unlustgefühle sind, die sich auf das Urteil über einen moralischen Wert- bzw. Unwert aufbauen: Wir empfinden Empörung, wenn wir gefühlsmäßig auf die nach unserem urteil schlechte handlung eines anderen negativ reagieren, groll, wenn eine als schlecht beurteilte handlung uns selbst schädigt, und schuld oder scham angesichts einer nach unserem urteil schlechten handlung von uns selbst. diese gefühle gäbe es also gar nicht, wenn wir nicht moralisch urteilen würden. nur als urteilende, d. h. als rationale wesen sind wir auch fühlende wesen und keineswegs umgekehrt. eine ähnliche intuition hatte rené descartes, der innerhalb des rationalistischen paradigmas die wohl raffinierteste Affekt- und Gefühlstheorie vorlegte. Die Affekte, denen descartes eine eigene abhandlung gewidmet hat, nehmen innerhalb seiner philosophie eine schlüsselstellung ein, da sie die verbindung zwischen der physiologie des nerven

aristoteles: Rhetorik , Werke bd. , berlin 00, . buch.

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systems und der moral der affektkontrolle und affektenlenkung herstellen sollten. nachdem die Möglichkeit einer Wissenschaft von der Natur durch den Nachweis der Mathematisierbarkeit aller beziehungen materieller dinge festgestellt schien, ging descartes daran, die mathematisch-physikalische methode auf jenen psychophysischen bereich anzuwenden, in dem die affekte ihren ort haben. descartes betrachtete die affektenlehre als teil der physik, so daß es unter dieser prämisse auch plausibel erscheinen mußte, die affekte derselben methode zu unterwerfen, die er bereits erfolgreich in der physik angewendet hatte. Die Beherrschung der Affekte sollte durch die exakte Erkenntnis derselben ermöglicht werden. so wie die technik die theoretische erkenntnis der kausalen beziehungen durch die physik voraussetzt, so setzt die beherrschung der affekte deren kausale erklärung voraus, weshalb descartes sagt, es sei weder sein ziel, „die affekte nach der art der rhetoren, noch nach art der moralphilosophen, sondern ausschließlich nach art der physiker zu erklären“. dabei nehmen die affekte (‚affekt‘ steht, dem modernen sprachgebrauch entsprechend, für passion) eine stellung ein, die ihre behandlung unter zwei gesichtspunkten erlaubt: unter physiologischen, sofern sie nach ihren ursprung aus körperlichen Vorgängen betrachtet werden und unter psychologischen, sofern sie als Bewusstseinsphänomene erlebt werden und auf das Bewusstsein, nicht auf den Körper, bezogen sind. in diesem zusammenhang will descartes zeigen, dass sich alle psychologischen phänomene auf physiologische gegebenheiten zurückführen lassen. im rahmen eines behavioristischen reduktionsprogramms versucht er „die ganze maschine unseres Körpers so zu erklären, daß wir nicht mehr Grund für die Annahme haben werden, unsere seele rufe in ihm die nach dem befund der erfahrung willensunabhängigen bewegungen hervor, als für das urteil, in einer uhr gebe es eine seele, die bewirkt, daß sie die stunden zeigt“. dass der durchführung dieses ehrgeizigen programms von anfang an schwierigkeiten im weg standen, die sich im rahmen der cartesianischen affektenlehre als unüberwindbar herausstellen sollten, ist bekannt: wobei ich hier nicht auf die oft verlachte annahme der zirbeldrüse anspiele. descartes hatte mit dieser wenigstens eine erklärung für etwas, wofür seine vorgänger überhaupt keine theoretische erklärung anbieten konnten. nein, die schwierigkeiten, von denen ich spreche, ergeben sich aus der notwendigen abgrenzung der affekte von den unbewussten physiologischen vorgängen einerseits, etwa von der Herztätigkeit und der Atmung, und von den Empfindungen des Hungers und des durstes andererseits, die, obwohl sich auch bei ihnen die seele passiv verhält, nicht auf die Seele selbst, sondern auf den Körper bezogen sind und damit per Definition nicht unter die affekte fallen. eine weitere schwierigkeit besteht darin, affekte von den vorstellungen zu unterscheiden, bei denen sich die seele auch leidend verhält, obwohl wir kaum geneigt sind, vorstellungen als Affekte zu bezeichnen. selbst wenn wir uns auf den standpunkt von descartes stellen, erscheint er hier kaum überzeugend. aber wie dem auch sei. sicher ist: descartes versucht die affekte im rahmen eines behavioristischen reduktionsprogramms zu beschreiben. dabei unterscheidet er sechs grundaffekte (staunen, liebe, hass, begierde, freude, trauer), von denen sich dann die  

rené descartes: Passions de l’âme, in: Œuvres de Descartes, bd. , paris , . ders., ebd., .

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sekundären affekte ableiten lassen sollten. und immer ist die these, dass sich durch einen ‚eindruck im gehirn‘ der affekt und sein gehalt erklären ließe. descartes fasst alle vorgänge im nervensystem als mechanischen prozess auf. nur mittels einer mechanischen theorie glaubte er zu einer erkenntnis der zusammenhänge im psychologischen bereich zu gelangen; nur, wenn sich die affekte im rahmen einer streng wissenschaftlichen theorie erklären lassen, meinte er die moral als technik der affektbeherrschung realisieren zu können. Die Physikalisierung der Psychologie war in seinen Augen der einzige weg, der zu diesem ziel führt, so wie die mathematisierung der physik sich ihm als notwendige bedingung der naturbeherrschung mit wissenschaftlichen mitteln der technik darstellte. neben den schon erwähnten schwierigkeiten, tut sich eine weitere auf. wenn die rationale Kontrolle der Affekte überhaupt als möglich erwiesen werden soll, dann muss die Theorie zeigen, inwieweit und auf welche Weise Affekte beeinflussbar sind, zumal schon descartes davon ausging, dass alle versuche aussichtslos seien, die passiones direkt beherrschen zu wollen. denn man kann sie nie dem kausalgeschehen entziehen: der ultrarationalist descartes steht uns hier sehr viel näher als etwa baruch spinoza und später Immanuel Kant, die genau von einer solchen Möglichkeit ausgingen. Die Annahme der Beeinflussbarkeit der Affekte setzt die These der psychophysischen wechselwirkung voraus. so wie die physischen vorgänge die seele auf dem weg über die Lebensgeister und die Zirbeldrüse beeinflussen, so kann die Seele ihrerseits über diese Drüse auf den Körper und seine Zustände einwirken: und damit auch auf jene Vorgänge, die die Affekte auslösen. Descartes nimmt an, dass bestimmte Bewegungen der Zirbeldrüse immer bestimmte Willensakte nach sich zögen, dass aber die durch häufige Wiederholung entstandene Verbindung durch Übung auch wieder aufgelöst und durch neue Verknüpfungen ersetzt werden könne. Letztendlich ist aber für die Beherrschung der seele die erkenntnis der wahrheit und die fähigkeit der richtigen urteilsbildung entscheidend, zumal trotz der von ihm behaupteten willensfreiheit sich nicht bestreiten ließ, dass die Affekte nicht unter der Knute des Willens stehen. Ihre Entstehung ist völlig unserer kontrolle entzogen, ihre beherrschung ist es mindestens zum teil. demgemäß versichert descartes, „daß selbst jene, die die schwächsten seelen haben, eine unbedingte Herrschaft über alle ihre Affekte gewinnen könnten, wenn man genügend eifer auf ihre ausrichtung und lenkung verwendete“. durch vernünftig herbeigeführte Verknüpfungen von Vorstellungen und Affekten können die Affekte und Leidenschaften durch die vernunft kontrolliert und beherrscht werden. descartes meint also, dass letztendlich keine seele so schwach sei, dass sie nicht eine absolute macht über ihre leidenschaften erlangen könnte, wenn sie in methodischer Hinsicht gut angeleitet wird. Deshalb gibt es auch kein vernünftiges leben ohne wissenschaftliche erkenntnis. dies gilt mutatis mutandis auch noch für kant. auch dieser meint, es sei eine krankheit des gemüts, wenn man sich affekten und leidenschaften unterwerfe, da dies die herrschaft der vernunft ausschließe. analog zu descartes geht auch er davon aus, dass die vernunft über die affekte und leidenschaften zu herrschen habe, was dieser dadurch  

ders., ebd., 0. immanuel kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, werkausgabe bd. Xi, hg. von wilhelm weischedel, frankfurt am main , 0.

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gelingen soll, dass sie sich durch kontingenzreduktion zum bloßen ‚ich denke‘ der transzendentalen Apperzeption entkörperlicht. zwar sieht auch kant, dass der mensch nicht nur ein vernünftiges, sondern auch ein sinnliches wesen ist: das heißt, dass er ein wesen ist, dessen denken und handeln nicht nur durch die vernunft, sondern auch, und sogar in erster linie, durch die affekte und leidenschaften bestimmt ist, worauf kant auch das radikal Böse im Menschen zurückführt. Aber er hält dieses affekt- und leidenschaftsbedingte Böse für beherrschbar: Erstens durch die moralische Vernunft und zweitens durch das zusammenspiel von republikanischer verfassung, politischer öffentlichkeit und welthandel. nur durch die herrschaft der vernunft über die affekte, leidenschaften und egoismen kann der einzelne wenigstens äußerlich zivilisiert werden und sich als guter bürger erweisen, ohne zuvor zum guten menschen geläutert worden zu sein. kant war von den segensreichen wirkungen der vernunft gegenüber den affekten, leidenschaften und egoismen so sehr überzeugt, dass er sogar erklärte, „selbst ein volk von teufeln (wenn sie nur Verstand haben)“ könnte das Problem eines friedlichen Miteinanders im Rahmen einer republikanischen Staatseinrichtung lösen. nietzsche bestreitet dies aus mindestens drei gründen. der erste grund ist politischer natur. er meint, dass der versuch, die welt durch die vernunft in ein paradies zu verwandeln, diese realiter in eine Hölle verwandelt hat, womit wieder die Affekte und Gefühle, besonders die so genannten negativen gefühle, eine atemberaubende karriere machen. man denke etwa an die nobilitierung des hasses, die mit den romantikern begann und die sich zunächst gegen napoleon, gegen das fleisch gewordene transzendentale subjekt der geschichte richtete. später richtete sich dieser hass gegen den gesamten prozess der gesellschaftlichen modernisierung mit allen seinen sozial destruktiven nebenfolgen. man hasste in ihm nicht nur die hybride gestalt des entfesselten ichs, sondern auch den furor des rationalismus, dem nichts heilig ist. der hass, von dem descartes und spinoza sagten, er könne „niemals gut sein“, weil er jedes staatlich organisierte leben zunichte machen würde, wird von nun an zu einem gefühl, auf welches sich eine neue wir-gemeinschaft gründen soll, wobei der gegensatz von freund und feind als konstitutiv für deren gründungsakt betrachtet wird. der hass und die negativen gefühle erhalten von nun an eine geschichtsphilosophische Wendung: Der größte Napoleonhasser war übri

  

die ausnahme hiervon scheint die ‚achtung‘ zu sein. insofern diese aber ein intelligibles gefühl sein soll, im unterschied zu allen anderen gefühlen, die er als ‚neigungen‘ auffasst und umstandslos der menschlichen sinnesnatur zuschlägt, ist die ‚achtung‘ sofort wieder aus der gruppe der gefühlsphänomene herausgehoben, weil sie in einem unmittelbaren zusammenhang mit der vernunft steht. denn beim gefühl der ‚achtung‘ soll es sich um eine triebfeder handeln, die a priori erkannt wird und die eine subjektive wirkung darstellt, welche die reine vernunft als objektiven bewegungsgrund auf das Gemüt des Menschen hat, im Unterschied zu unseren gewöhnlichen, in Kants terminologie, pathologischen gefühlen, die nur eine ‚triebfeder a posteriori‘ sind (immanuel kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, ebd., ba ): wobei sich die frage stellt, ob ein solches gefühl überhaupt noch gefühl genannt werden kann. immanuel kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, werkausgabe bd. vi, hg. von wilhelm weischedel, frankfurt am main , f. baruch spinoza, Ethik, leipzig , 0. aurel kolnai, Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle, frankfurt am main 00; rolf haubl, volker caysa, Haß und Gewaltbereitschaft, Göttingen 2007.

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gens Heinrich von Kleist, der als einer der größten Meister der starken und überwältigenden gefühle gelten kann. die beiden anderen gründe sind philosophischer natur. nietzsche meint zweitens, dass die annahme einer entleiblichten vernunft, wie sie seit descartes in unterschiedlichen varianten in der philosophie der neuzeit anzutreffen ist, widersinnig sei. die vernunft ist für ihn eine in geschichtlichen und sozialen kontexten situierte und leiblich inkarnierte vernunft. analog zu wilhelm dilthey geht auch nietzsche davon aus, dass, in dem ‚ich denke‘, das nach kant alle meine vorstellungen begleiten sollte, kein wirkliches Blut fließt, sondern nur der verdünnte Saft abstrakter Denktätigkeit. Und er meint drittens, dass sich nicht nur die Möglichkeit einer solchen Kontingenzreduktion, sondern bereits deren bloße wünschbarkeit bestreiten lässt. für nietzsche erscheinen alle versuche der vernunft gegenüber dem tobenden meer der affekte und leidenschaften die oberhoheit zu sichern, von vornherein auf scheitern angelegt. die vernunft kann nach nietzsche gegenüber den affekten und leidenschaften schon deshalb nicht die rolle eines platzanweisers spielen, weil es das leben selbst ist, dass der vernunft zu grunde liegt. und das leben ist trieb, affekt, leidenschaft. wenn das leben aber wesentlich trieb, affekt und leidenschaft ist, dann ist es unmöglich, daß das Bedingende zum Bedingten wird. Ja, die Vernunft kann nun nicht einmal mehr die rolle eines platzhalters und interpreten spielen, weil nach nietzsche das leben selbst als ein interpretationsgeschehen zu verstehen ist, welches sich in kognitiver hinsicht nicht unter die kontrolle der vernunft bringen lässt.0 Jedes interpretieren ist ein übermächtigen, „ein mittel […], um herr über etwas zu werden“ (ksa, nf, ). das interpretationsgeschehen ist ein ‚wille-zur-macht-geschehen‘, ein geschehen, dem sich nichts zu entziehen vermag. genau dies versuchte descartes und alle, die ihm folgten. sie alle wollten das bedingte zur bedingung machen. und sie wollten dies deshalb, weil sie meinten, nur so sei ein vernünftiges Zusammenleben der Menschen unter Bedingungen möglich, wo ein jeder seinen affekten unterworfen wäre und noch seine eigenen wünsche und interessen verfolgt. denn der den affekten unterworfene mensch, so descartes, spinoza oder kant „steht nicht unter seinen eigenen gesetzen, sondern unter denen des schicksals, dessen macht er dermaßen unterworfen ist, daß er oft gezwungen ist, dem schlimmsten zu folgen, obgleich er das bessere sieht“. für nietzsche ist dies nichts anderes als ein nicht zu ende säkularisiertes christentum. Seit Descartes versucht die Philosophie mit begrifflichen Mitteln das zu tun, was vorher das Christentum tat: die „Herdengefühle“ durch moralische Kodifizierung zum Sieg zu führen. denn „christliche gefühle“, so nietzsche, sind „herdengefühle“, gefühle der schlecht weggekommenen, denen es vor dem leben ekelt. die „moral ist eine vorwissenschaftliche Form, sich mit der Erklärung unserer Affekte und Zustände abzufinden. Moral verhält sich zu einer einstmaligen pathologie der gemeingefühle, wie alchemie zu chemie“ (ksa, nf, 0, ). in wahrheit gibt es „gar keine moralischen phänomene; sondern nur eine moralische interpretation gewisser phänomene“ – und zwar eine irrtümliche interpretation (ebd., 0 

günter abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, berlin, new york . baruch spinoza: Ethik, .

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). das, was gemeinhin als moral bezeichnet wird, ist nach nietzsche nichts anderes, als „das Loben und Tadeln unserer Affekte, das Wertabschätzen also“ (ebd., ). ich denke, dies ist in den groben umrissen bekannt. im folgenden werde ich daher drei erklärungen vorstellen, die nach nietzsche grund und ursache der affekte und gefühle sind. die erste erklärung ist eine kulturalistische, die zweite eine naturalistische und die dritte eine kognitivistische erklärung. im rahmen der kulturalistischen erklärung rekonstruiert und kritisiert nietzsche die entstehung jener gefühle und affekte, die man in einem engeren sinn als moralische gefühle bezeichnen kann. es sind die affekte und gefühle, die durch das christentum und später durch die philosophie als dem leben dienlich ausgezeichnet bzw. als dem leben schädlich verworfen wurden, die nietzsche im rahmen einer genealogischen rekonstruktion thematisch macht. bereits in der Geburt der Tragödie bemerkt er: „christentum war von anfang an, wesentlich und gründlich, ekel und ueberdruss des lebens am leben, welcher sich unter dem glauben an ein ,anderes‘ oder ,besseres‘ leben nur verkleidete, nur versteckte, nur aufputzte. Der Hass auf die ,Welt‘, der Fluch auf die Affekte, die Furcht vor der Schönheit und sinnlichkeit, ein Jenseits, erfunden, um das diesseits besser zu verleumden, im grunde ein verlangen in’s nichts, an’s ende, in’s ausruhen, hin zum ,sabbat der sabbate‘ – dies alles dünkte mich, ebenso wie der unbedingte wille des christenthums, nur moralische werthe gelten zu lassen, immer wie die gefährlichste und unheimlichste form aller möglichen Formen eines ,Willens zum Untergang‘, zum Mindesten ein Zeichen tiefster Erkrankung, Müdigkeit, Missmuthigkeit, Erschöpfung, Verarmung an Leben, – denn vor der moral (in sonderheit christlichen, das heisst unbedingten moral) muss das leben beständig und unvermeidlich unrecht bekommen, weil leben etwas essentiell unmoralisches ist, – muss endlich das leben, erdrückt unter dem gewichte der verachtung und des ewigen nein’s, als begehrens-unwürdig, als unwerth an sich empfunden werden. moral selbst – wie? sollte moral nicht ein ,wille zur verneinung des lebens‘, ein heimlicher instinkt der vernichtung, ein verfalls-, verkleinerungs-, verleumdungsprincip, ein anfang vom ende sein? und, folglich, die gefahr der gefahren? … Gegen die moral also kehrte sich damals, mit diesem fragwürdigen buche, mein instinkt, als ein fürsprechender instinkt des lebens, und erfand sich eine grundsätzliche gegenlehre und gegenwerthung des lebens, eine rein artistische, eine antichristliche. wie sie nennen? als philologe und mensch der worte taufte ich sie, nicht ohne einige freiheit – denn wer wüsste den rechten namen des antichrist? – auf den namen eines griechischen gottes: ich hiess sie die dionysische“ (ksa, gt, , f.). der so verstandene ekel in verbindung mit jenen gefühlen, die in der literatur meist als moralische bezeichnet werden, ist für nietzsche der schrittmacher einer moral, die er als eine der schwäche und damit als sklavenmoral ansieht. es ist dies eine haltung gegenüber allen vitalen und sinnlichen formen des menschlichen lebens als solchen, eine haltung, die sich gegen das leben im ganzen richtet, weshalb diese gefühle auch nicht als episodische gefühle aufzufassen sind, welche sich hier und dort, bei dieser oder jener gelegenheit einstellen. es ist eine grundeinstellung, die immer präsent ist und alle phänomene des lebens betrifft. es ist mehr als fraglich, ob es sich bei den von nietzsche zusammengetragen affekten und gefühlen überhaupt noch um ein phänomen handelt, welches unter diese begriffe fällt: ich vermute, dies ist nicht der fall. sicher jedoch ist, dass er dieser moral der schwä-

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che eine der stärke und dem lebensekel einen ‚intellektuellen ekel‘ gegenüberstellt, der als ein ekel vor dem lebensekel verstanden werden kann. nietzsche wendet sich mit seinem ‚intellektuellen ekel‘ gegen die ‚ganze neue moral‘, die sich auf ‚ganz abstrakten maximen‘ stützt, „die ihren ursprung nicht in den affekten haben soll. aber motive des Handelns und der Affektion, die nicht ihre Wurzel in Empfindung und Affekt hätten, giebt es nicht. das spiel der affekte macht alle lebensäußerungen bis zur produktion der abstraktesten Ideen begreiflich. Die Leidenschaften gehören zum Leben, man darf sie nicht als Störer des Glücks verdächtig machen. Das Dasein wird eine öde Wüste ohne Liebe und haß. die menschen wollen die gleichmäßige ruhe gar nicht, sie suchen erregung und aufregung. sie fordern lust und schmerz gleichsam heraus. nichts großes wird ohne leidenschaft vollbracht, sagt aristoteles. das leben selbst ist jenes große, welches nicht ohne leidenschaft vollbracht wird. von den leidenschaften abstrahiren führt einerseits zur askese, andererseits zum wohlberechneten matten sinnengenuß; da wird alles, was dem leben werth ertheilt, vernichtet. der mensch sinkt im zweiten falle unter das thier, im ersten wird er zum widerwärtigen ungeheuer (,er tastet die wurzel alles strebens ohne unterschied an‘). dort wendet man sich gegen einen theil der lebensbedingungen, hier gegen den ganzen inhalt. der gemeine selbstmord ist etwas verhältnißmäßig Unschuldiges gegen das Beginnen, das Wesen der Gattung selber zu ertödten, nicht nur ein einzelnes individuum. selbst der mord kann als geringeres verbrechen erscheinen, als das finstere Werk der Leute, welche das Leben mit ihren Anklagen vergiften. – Und so geht die unverschämte schimpferei vor; darin kommt vor ,die entwurzelung alles großen und Edlen, die Verhöhnung und Anfeindung aller humanen Empfindungen und Gefühle‘ –; ,im bunde mit der ausschweifung und der abgestumpften ausgelebtheit‘ – ,geht eine vermeinte philosophie dann kühn daran, den haß des lebens und des lebendigen auszusäen‘“ (ksa, nf, , f.). „Überwindung der Affekte? – nein, wenn es schwächung und vernichtung derselben bedeuten soll. Sondern in Dienst nehmen: wozu gehören mag, sie lange zu tyrannisiren (nicht erst als einzelne, sondern als gemeinde, rasse usw.) endlich giebt man ihnen eine vertrauensvolle freiheit wieder: sie lieben uns wie gute diener und gehen freiwillig dorthin, wo unser bestes hin will“ (ksa, nf, , ). am ende des genealogischen projekts steht dann eine „psychologie (affektenlehre) als morphologie des willens zur macht“ (ksa, nf, , ). die zweite erklärung ist eine naturalistische, genauer, eine biologistische. in ihrem rahmen will nietzsche zeigen, wie sich die affekte und gefühle als resultat von organischen prozessen begreifen lassen und behauptet: „moralische zustände sind physiolo­ gische zustände – deutlich z. b. bei der liebe. fast alle wesentlich angenehm, wesentlich nöthig für den Organismus des Einzelnen“ (KSA, NF, 9, 313). Die „moralischen Urtheile sind mittel, unsere affekte auf eine intellektuelle weise zu entladen als dies durch gebärden und handlungen geschieht. das schimpfwort ist besser, als ein faustschlag oder ein anspeien; die schmeichelei (lob) besser, als ein streicheln oder lecken (kuß); der fluch übergiebt einem gotte oder geiste die rache, die das thier selbst gegen seinen feind ausübt. Vermöge der moralischen Urtheile wird es dem Menschen leichter zu Muthe, sein affekt wird entladen. schon der gebrauch von formen der vernunft bringt eine gewisse nerven- und muskelbeschwichtigung mit sich; das moralische urtheil entsteht in jenen zeiten, wo die affekte als lästig und die gebärden als eine zu grobe erleichterung empfunden werden“ (ebd., ). nietzsche meint, daß bei allen unseren „affekten […] der

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intellekt dermaaßen thierisch-primitiv (sei), wie im traume. – diese thierischen schlüsse für alle affekte nachzuweisen“ (ebd., ). die naturwissenschaften, besonders biologie und Physiologie scheinen ihm hierfür alle nötigen Mittel bereit zu stellen: „Jetzt hat man den Kampf überall wieder entdeckt und redet vom kampfe der zellen, gewebe, organe, organismen. aber man kann sämmtliche uns bewußte Affekte in ihnen wiederfinden – zuletzt, wenn dies geschehen ist, drehen wir die Sache um und sagen: das was wirklich vor sich geht bei der regsamkeit unserer menschlichen affekte sind jene physiologischen bewegungen, und die affekte (kämpfe usw.) sind nur intellektuelle ausdeutungen, dort wo der intellekt gar nichts weiß, aber doch alles zu wissen meint. mit dem wort ,ärger‘ ,liebe‘ ,haß‘ meint er das warum? bezeichnet zu haben, den Grund der bewegung; ebenso mit dem worte ,wille‘ usw. – unsere naturwissenschaft ist jetzt auf dem wege, sich die kleinsten vorgänge zu verdeutlichen durch unsere angelernten affekt-gefühle, kurz eine Sprechart zu schaffen für jene vorgänge: sehr gut! aber es bleibt eine bilderrede“ (ebd., ). erschien in den augen von descartes die physikalisierung der psychologie als der einzig gangbare weg, um den affekten auf die schliche zu kommen, so sieht nietzsche den einzig gangbaren weg in der biologisierung der psychologie. nicht mehr die physik ist für ihn die leitwissenschaft, sondern biologie und physiologie. unabhängig von dieser differenz aber erscheint das resultat erstaunlich ähnlich. der anticartesianer nietzsche sucht analog zu descartes unterschlupf bei einer einzelwissenschaft, um die affekte philosophisch in den griff zu bekommen, nur dass es nicht mehr die physik sein soll, der das erklärungsparadigma entlehnt wird, sondern die biologie und physiologie, insofern diese „den selbsterhaltungstrieb als kardinalen trieb eines organischen wesens“ ansetzen. denn „leben selbst ist wille zur macht“, und dieser äußert sich schon auf der stufe des organischen. etwas später wird nietzsche fordern, dass „die psychologie wieder als herrin der wissenschaften anerkannt werde, zu deren dienste und vorbereitung die übrigen wissenschaften da sind. denn psychologie ist nunmehr wieder der weg zu den grundproblemen“ (ksa, Jgb, , ). heute würde er wohl die neurophysiologie zur leitwissenschaft erklären, versteht er doch diese psychologie als „physio-psychologie“ (ebd., ). „Zum Plane. an stelle der moralischen Werthe lauter naturalistische werthe. vernatürlichung der moral. an stelle der ,sociologie‘ eine Lehre von den Herrschaftsgebilden an stelle der ,erkenntnißtheorie‘ eine Perspektiven­Lehre der Affekte (wozu eine hierarchie der Affekte gehört). die transfigurirten affekte: deren höhere Ordnung, deren ,Gei­ stigkeit‘. an stelle von metaphysik und religion die ewige Wiederkunftslehre (diese als mittel der züchtung und auswahl)“ (ksa, nf, , f.) und „undurchsichtigkeit, um die zur erhaltung und machtsteigerung wesentlichen affekte zu heiligen (um sich für sie das gute Gewissen zu schaffen)“ (ebd., ). nietzsche sieht „die Moralen als Zeichen­ sprache der Affekte: die Affekte selber aber eine Zeichensprache der Funktionen alles Organischen“ (ksa, nf, 0, f.), wobei sich die frage stellt, um was für eine sprache es sich bei diesen ‚zeichensprachen‘ überhaupt handeln soll. ich denke, dass sich diese sprachen überhaupt nicht mehr als sprachen in unserem sinne verstehen lassen. 

udo tietz, Phänomenologie des Scheins. Nietzsches sprachkritischer Perspektivismus, in: Nietz­ scheforschung, bd. , hg. von volker gerhardt, renate reschke, berlin 000, ff.

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von hier aus meint nietzsche nicht nur die cartesianische idee des ‚ich denke‘, des ‚Cogito ergo sum‘ als eine Fiktion entlarven zu können, weil es schließlich nicht klar sei, dass ich es bin, der denkt (nietzsche meint allen ernstes, es wäre weit angemessener, zu sagen ‚es denkt mich‘), sondern auch die affekte und gefühle. auch sie meint nietzsche als eine Fiktion entlarven zu können, so sie von einem ‚Ich‘ gehabt werden. Vielmehr soll auch hier gelten: ,es fühlt mich‘. sätze wie: ,ich habe angst‘, ,ich bin wütend auf fritz‘ etc. wären nur sprachliche rationalisierungen eines geschehensvollzugs, dessen leistungen dem selbstbewusstsein nicht verfügbar sind. „unsere urtheile über unser ,ich‘ hinken nach, und werden nach einleitung des außer-uns, der über uns waltenden macht vollzogen. wir bedeuten uns selber das, als was wir im höheren Organismus gelten – allgemeines Gesetz. Die Empfindungen und die affekte des organischen sind alle längst fertig entwickelt, bevor das einheits-gefühl des bewußtseins entsteht.“ (ksa, nf, , ) und in der tat: wenn wir uns wirklich „nur als eines haufens von Affekten“ bewusst würden und wenn „selbst die sinneswahrnehmungen und Gedanken … unter diese Offenbarungen der Affekte“ gehörten (KSA, NF, 0, 0), so wie dies von nietzsche im rahmen der naturalistischen erklärung behauptet wird, dann wären wir nicht mehr herr im eigenen haus. das ich, ob als denkendes, handelndes oder fühlendes wesen, wäre dann tatsächlich unrettbar. es wäre nicht nur um die cartesianische ich-substanz geschehen (was nicht weiter problematisch wäre, da ihr ohnehin niemand eine Träne nachweint), sondern auch um das gewöhnliche, d. h. das klein geschriebene ‚ich‘, auf das wir treffen, wenn wir sätze bilden wie: ‚ich gehe spazieren‘, ‚ich habe schmerzen‘‚ich habe angst‘. der witz wäre jedoch, dass es nun auch keine probleme mit uns mehr gäbe, da wir fortan nicht mehr als akteure und schausteller unseres eigenen Stückes gelten könnten. Wir wären wirklich jenseits von Gut und Böse. Affekte und Gefühle erfordern aber ein reflexives Ich-Bewusstsein, das praktische Erwägungen anstellen kann, weshalb diese auch nicht dort anzutreffen sind, wo nietzsche sie ausgemacht zu haben meint: auf der ebene des organischen. affekte und gefühle setzen ein selbst voraus, das überlegungen, handlungen, absichten, ziele und pläne auf sich als einer in raum und zeit identischen person bezieht, die sich nicht nur phänomenal als solche erlebt. affekte und gefühle betreffen mithin unseren jeweiligen selbstentwurf, wie reflektiert dieser auch immer ausfallen mag. es geht bei affekt- und gefühlsmäßigen äußerungen immer um die erhaltung dieser personalen ich-identität und nicht nur um die erhaltung eines organismus, ein aspekt in der gefühlstheorie der gegenwart, auf den harry frankfurt aufmerksam gemacht hat. wie immer man die geistigen fähigkeiten anderer tiere einschätzen mag, niemand konzidiert ihnen eine personale ich-identität, die sich auf die werte und wertzuschreibungen des animal rationale beziehen. affekte und gefühle sind mehr als kausal verursachte reaktionen eines organismus. sie haben einen phänomenalen gehalt, der in der perspektive der ersten person singular erfasst wird. indes, wenn dies auch nur annähernd 

 

ders., Das animal rationale und die Grundlagen der wissenschaftlichen Vernunft. Zur anthropologi­ schen Transformation der Erkenntnistheorie bei Friedrich Nietzsche, in: Nietzscheforschung, bd. , hg. von volker gerhardt, renate reschke, berlin 00, ff. eva-maria engelen, Gefühle, leipzig 00, . harry frankfurt, Some Mysteries about Love, nicht gedrucktes ms (internet).

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richtig sein sollte, muss auch die these falsch sein, dass „wir denken, fühlen, wollen, uns erinnern, (…) ebenfalls ,handeln‘ (…) (könnten): und trotzdem braucht das Alles nicht ,in’s bewusstsein zu treten‘“ (ksa, fw, , 0). affekte und gefühle sind ein merkmal menschlicher subjektivität und werden in der perspektive der ersten person bewusst erlebt: wobei es in diesem zusammenhang strittig ist, ob der phänomenale gehalt repräsentationalistisch erklärt werden kann oder nicht. nietzsche ist offensichtlich dieser meinung. für ihn sind affekte und gefühle sensorische Repräsentationen körpereigener Zustände. Er will das mit Gefühlen und Affekten verbundene phänomenale Empfinden repräsentationalistisch erklären. Und er will dies deshalb, weil er gar keine andere theorie als eine repräsentationalistische hat. nietzsche ist ein reiner repräsentationalist. das problem, affekte und gefühle als repräsentationales Gewahrsein eines bestimmten körperlichen Zustandes zu verstehen, besteht jedoch darin, dass wir affekte und gefühle nicht nur haben, sondern uns dieser immer auch bewusst sind: etwa im unterschied zu wahrnehmungen, die wir als wahrnehmungsakte nicht selbst wahrnehmen. wir nehmen zwar war, dass die herzfrequenz steigt und die Hände feucht werden, aber bisher hat noch niemand erklären können, warum wir das eine mal angst haben und das andere mal verliebt sind. in beiden fällen kann das gefühl mit beiden körperlichen Symptomen einhergehen, so dass der Unterschied auf der Empfindungsebene zu liegen scheint, auf der Ebene des phänomenalen Gehalts, den der reräsentationalistische ansatz von nietzsche genauso wenig erklären kann, wie der von william James, carl gustav lange und antonio damasio. es gibt keine internen phänomenalen zustände, die wie Qualia ein internes etwas sind, das wir erfahren oder wahrnehmen. affekte und gefühle sind zwar mehr als kausal verursachte reaktionen, aber sie repräsentieren dem bewusstsein nicht etwas in der welt, zum beispiel gefahr: weil es kein etwas in der welt gibt, was angst ist. angst haben wir, wenn wir eine situation so oder so ansehen. wer dies nicht tut, wird auch keine angst haben. die these vom phänomenalen charakter der affekte und gefühle hat zunächst nichts mit „thatsachen des bewußtseins“ (ksa, nf, , 0) und einer kognitiven selbsttransparenz zu tun. nietzsche hat recht, wenn er sagt, dass wir auch in der inneren erfahrung „nie auf ,thatsachen‘“ stoßen werden. und er hat auch mit der these recht, daß wir „nur in der sprachlichen form denken“ können (ebd., 193). Er irrt aber, wenn er meint, den subjektiven und phänomenalen charakter der affekte und gefühle durch einen organisch bedingten Geschehensprozess wegphilosophieren zu können. Für die so genannte ,innere erfahrung‘ ist nun einmal die perspektive der ersten person singular konstitutiv. in der formulierung von thomas nagel: wie es ist, in diesem zustand zu sein. sein berechtigtes misstrauen gegen die beobachtung der „inneren welt“ durch den „berüchtigten ,inneren sinn‘“ verleitet ihn zu der these, nirgendwo gibt es mehr täuschung als hier (ksa, nf, , f.).   

antonio r. damasio, Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, münchen 000; ders., Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, münchen . hilary putnam, The Treefold Cord. Mind, Body and World, new york , ff. thomas nagel, What is it like to be a bat (), in: ders., Mortal Questions, cambridge, london , f.

Die Grammatik der Gefühle

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damit aber nicht genug. nietzsche erklärt schließlich: „[d]as aufeinanderwirken der gedanken (im logischen) ist scheinbar, – es ist ein kampf der affekte“ (ksa, nf, , ), womit die grenzen des sinns endgültig überschritten werden. man kann dann wirklich nur sagen: dumm gelaufen, sofern wir diese these nietzsche überhaupt noch selbst zurechnen dürfen und nicht seiner organischen ausstattung. vielleicht hätte er sich zu mehr oder zu anderen körperlichen Ertüchtigungen aufraffen sollen, dann hätten möglicherweise seine affekte einen anderen gedanken als diesen erzeugt. ich will es hierbei bewenden lassen. ich denke, dass sich eine naturalistische erklärung der Affekte in dem Sinn, wie Nietzsche sie anbietet, mit unlösbaren Schwierigkeiten konfrontiert sieht, die sich im rahmen dieser erklärung nicht beheben lassen. dabei resultieren die schwierigkeiten nicht aus dem kausalen aspekt der these, dass die affekte eine ursache in der welt haben. sie resultieren vielmehr aus der behauptung, affekte haben ihr pendant in ‚physiologischen‘ gegenstücken: eine these, die bereits descartes vertrat, der am ende nicht mehr affekte von wahrnehmungen, von schmerz und hunger unterscheiden konnte. analog nietzsche. hier wie dort handelt es sich um passiones. Wir können aber nicht sagen um welche. Mehr noch. Im Rahmen der naturalistischen erklärung lässt sich auch eine andere these nicht mehr begründen, die, dass alle affekte ‚nützlich‘ sind. denn dies drückt in jedem fall eine wertung aus, die sich jedoch im rahmen der naturalistischen strategie als einer wertfreien disziplin nicht ableiten lässt. und so bleibt es am ende wie bei descartes eine pure versicherung, dass die affekte ‚alle ihrer natur nach gut sind‘. ich denke, nietzsche ist nirgends so nahe bei descartes, wie im rahmen der von mir als naturalistisch bezeichneten erklärung. auch sein programm ist ein reduktionsprogramm, mit dem alle psychischen phänomene auf physiologische phänomene zurückgeführt werden sollen, nur dass nietzsche descartes’ maschinenmetapher durch die organismusmetapher ersetzt. ich komme zur dritten erklärung. diese nenne ich die kognitivistische erklärung der affekte und gefühle. um es vorweg zu sagen: sie ist noch schlechter konturiert als die naturalistische und die kulturalistische. Wir werden jedoch sehen, dass sie eine Möglichkeit bietet, nietzsche besser zu verstehen, als er sich selbst verstand. die erklärung behauptet: „wenn unsere affekte das mittel sind, um die bewegungen und bildungen eines gesellschaftlichen organism zu unterhalten, so würde doch nichts fehlerhafter sein als nun zurückzuschließen, daß im niedrigsten organism es eben auch die affekte seien, welche hier selbstreguliren, assimiliren, exkretiren umwandeln, regeneriren – also affekte auch da vorauszusetzen, lust unlust willen neigung abneigung. es wäre ein so toller Fehler als wenn man, nach der Thatsache des Blutumlaufs im menschlichen Körper, (auf) ähnlichen blutumlauf für die niedrigsten organismen schließen wollte. – unsere affekte setzen gedanken und geschmäcker voraus, diese ein nervensystem usw“ (ksa, nf, , f.), eine these, die bereits aristoteles vertrat, insofern er meinte, gefühle bauen auf urteilen auf, zu denen nur der mensch fähig ist. nirgendwo hat nietzsche die affekte des animal rationale schärfer vom tier geschieden als hier – aber dies nur nebenbei. weit interessanter ist, dass nietzsche die ‚gedanken und geschmäcker‘ zu voraussetzungen der affekte und gefühle erklärt. dies läßt sich m. e. nur so verstehen, dass unsere überzeugungen, urteile und werturteile nicht resultate, sondern voraussetzungen der affekte und gefühle darstellen. oder, wie nietzsche sagt: affekte sind eine konstruktion des intellekts, wobei er jedoch hinzufügt: eine

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erdichtung von ursachen, die es nicht gibt. nun sind konstruktionen des intellekts für gewöhnlich Überzeugungen, Wünsche, Hoffnungen, Absichten etc. Es sind Gebilde, die durch und durch propositional, d. h. sprachlich strukturiert sind, was in bezug auf die affekte und Gefühle bedeuten würde, dass sie nur gehabt werden können, wenn sie in einer sprachlichen form gehabt werden. die bereits erwähnte zeichensprache der affekte und gefühle, die sich bei nietzsche kaum noch als sprache verstehen ließ, wäre dann identisch mit der sprache, mit der wir auch ansonsten über dinge und ereignisse sprechen: womit die these vom zeichencharakter der affekte und gefühle eine plausible form erhält. wenn nietzsche im rahmen der kognitivistischen erklärung gefühle und affekte als sprachlich verfasste versteht, wenn er noch sagt, „alle affekte und triebe sind durch unsere Werthschätzungen gefärbt; in uns concurriren ganz verschiedene schätzungen“ (ksa, nf, 0, ), dann ergibt sich daraus eine konsequenz, die er selbst auch sah: die konsequenz der kontextrelativität und damit die einer ‚vielheit der moralen‘: nietzsche behandelt moral und ethik stets gleichbedeutend, sonst müsste er hier von einer ‚vielheit der ethischen selbstentwürfe‘ von individuen und kollektiven sprechen. mit dem kognitivistischen ansatz in der affekt- und gefühlstheorie tritt also nicht nur der urteilscharakter von affekten und gefühlen ans licht, sondern auch ihr werturteilscharakter, wobei ich unter einem werturteil ein urteil verstehe, in dem ein prädikat einer möglichen Beurteilung einem Gegenstand zu- oder abgesprochen wird. Im Anschluss an Kant, der in Bezug auf das Urteil von Prädikaten eines möglichen Urteils sprach, können wir von Prädikaten einer möglichen Beurteilung sprechen0, wobei dies auch erklären würde, warum gefühle eine holistische verweisungsstruktur haben, wenngleich nietzsche meint, gefühle sind „unter sich […] im widerspruch“, weil sie „aus verschiedenen gütertafeln“ stammen (ebd. ). denn wenn diese tatsächlich propositional verfasst wären, dann stünden sie natürlich auch im selben hermeneutischen raum des gebens und nehmens von gründen, den man mit wilfried sellars den „logischen raum der gründe“ nennen kann. kurz: die in affekten und gefühlen enthaltenen bewertungen von dingen und ereignissen beziehen sich immer auf ein subjekt, das diese affekte und gefühle hat. so fühlt zwar jeder für sich allein: die sprache der affekte und gefühle aber ist eine intersubjektiv geteilte sprache. affekte und gefühle sind subjekt- oder kontextrelativ in dem sinne, dass sie auf den zurückverweisen, der sie hat, ein gesichtspunkt, der von martha nussbaum stark gemacht wurde, die im anschluss an aristoteles eine theorie der gefühle entwarf, die ebenfalls als kognitivistisch gelten kann: „emotions are appraisals or value judgments, which ascribe to things and persons outside the person’s own control great importance for that person’s own flourishing.“ gefühle und affekte „repräsentieren“ nicht „teile der welt“, weil werturteile keine urteile sind. in urteilen reden wir über dinge und er 0    

immanuel kant: Kritik der reinen Vernunft, werkausgabe bd. iii, frankfurt am main , b . herbert schnädelbach: Werte und Wertungen, in: Logos, / (00), f. udo tietz, Vernunft und Verstehen. Perspektiven einer integrativen Hermeneutik, berlin 00. martha nussbaum, Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions, cambridge 00, f. dies., ebd., . eva-maria engelen, Gefühle, .

Die Grammatik der Gefühle



eignisse, wir behaupten, dass sie rot oder grün sind. in werturteilen bewerten wir dinge und ereignisse, wir behaupten, sie sind gut oder schlecht. ob ein wein rot oder gut ist, stellen wir daher auch nicht auf die gleiche weise fest. im ersten fall schauen wir einfach nach. die antwort auf die frage, ob ein wein rot ist oder nicht, ist davon abhängig, ob unsere feststellung richtig war oder ob wir einer wahrnehmungstäuschung unterlagen. im zweiten fall ist die antwort auf die frage allein davon abhängig, ob wir trockene oder süße weine präferieren. die antwort auf die frage, ob ein wein gut ist oder schlecht, ist also nicht davon abhängig, ob unsere feststellung richtig oder falsch war, sondern davon, ob wir wahrhaftig sind oder nicht. ich sage beispielsweise, dass mir der trockene wein schmeckt, obwohl ich süße weine vorziehe, weil ich angst vor den mitleidigen blicken meiner tischgenossen habe. wie bereits bemerkt: werturteile sind subjektrelativ und hängen von unserer eigenen präferenzstruktur ab. nun will ich nicht vorgeben, dies sei das, was nietzsche eigentlich gemeint habe. seine auffassungen sind hierfür zu inkohärent, zu rhapsodisch. zudem stünde dem seine krude urteilstheorie entgegen, die urteile auf einer rein empiristischen basis glaubt erklären zu können. Es ist aber das, was er hätte meinen sollen und wozu er im Rahmen der naturalistischen und der kognitivistischen erklärung auch einige anregungen gegeben hat. ich denke etwa an die kausale theorie der affekte und an die these der werturteilhaften einbindung der gefühle und affekte. man würde daher fehlgehen, wenn wir den kausalen aspekt der gefühlstheorie von nietzsche verwerfen, als ließe dieser sich nicht von der atomistischen psychologie trennen. ich denke, dass sich nietzsches einsichten in die kausale bedingtheit der gefühle und affekte sehr wohl mit ihrer kognitiven verfassung in einklang bringen lassen. nämlich dann, wenn man sie aus ihrer erkenntnistheoretischen Maschinerie herauslöst, neu formuliert und zu einer fesselnden und überzeugenden theorie zusammenstellt.



eine ähnliche auffassung vertritt robert c. solomon, The Passions. Emotions and the Meaning of Life, indianapolis, cambridge , .

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vergessen als der größte affekt? affekt, vergessen und gerechtigkeit in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben

dieser beitrag beschäftigt sich mit dem zusammenhang zwischen affekt, erinnerung und gerechtigkeit bei friedrich nietzsche. die these ist, dass nietzsches überlegungen über vergessen und erinnerung in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben von  neues licht in die frage nach den affekten bringen können. in dieser zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung weist nietzsche darauf hin, dass der mensch sich in einem aktiven vergessen engagieren muss, um einen lebenshorizont bilden zu können. diese aktivität ist zugleich ungerecht und dringend notwendig. nietzsches auffassung der affekte spielt in diesem zusammenhang eine wichtige, wenngleich indirekte, rolle. wenn er auf die traditionell negative und neurotische auffassung der affekte verweist, weist er auf ein grundlegendes und all zu menschliches bedürfnis hin: der mensch versucht das leben durch die erkenntnis immer und ängstlich zu kontrollieren, um das leben rechtfertigen zu können. das leben aber, so nietzsche, lässt sich nicht durch die eliminierung der affekte rechtfertigen. so gibt es zwischen affekten und horizontbildung wesentliche Verbindungen, und diese Beobachtung erfordert eine weitere Reflexion über Nietzsches auffassung von gerechtigkeit und ungerechtigkeit. mein beitrag umfasst drei teile: erst einige kommentare zu nietzsche und den affekten. danach geht es um Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben und nietzsches auffassung der geschichte sowie seine diagnose der ‚historische seuche‘ und schließlich versuche ich einige weiterführende kommentare zum zusammenhang zwischen affekt, vergessen und gerechtigkeit.

i. nietzsche und die affekte in seiner Vorbereitungen zu einer Abhandlung über die Affectation von  schreibt der dänische philosoph poul martin møller: „es ist eine affectation, wenn einer, der eine abhandlung schreiben will, sich einen titel vorstellt und davon beschränkt wird.“ es 

poul martin møller, Forberedelser til en Afhandling om Affectation, in: Efterladte Skrifter, bd. , københavn 0,  (teilübersetzung: bernd henningsen, Vorbereitungen zu einer Abhandlung über die Affectation, in: ders., Poul Martin Møller oder Die dänische Erziehung des Søren Kier­



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fragt sich, ob Nietzsche von dieser Charakteristik getroffen wird? Sicherlich finden wir im Nachlass zahlreiche entwürfe zu verschiedenen büchern! aber vielleicht weisen diese entwürfe genau auf nietzsches umgang mit dem affektiven element des lebens hin? so verstanden könnte man sagen, dass sein perspektivismus demonstriere zusammen mit seinem experimentellen Stil ein zentrales philosophisches Problem: Wie soll man sich zu den affekten verhalten? lassen sich affekte überhaupt ‚befreien‘? und kann man zwischen lebensbejahenden und -verneinenden affekte unterscheiden? bei møller herrscht über die sache kein zweifel: seine lehre ist keine affektenlehre, sondern er schreibt über affectation, d. h. affektiertheit, die etwas negatives ist. bei nietzsche aber bilden die affekte ein unabgeklärtes problem. einerseits kritisiert er die traditionelle erkenntnistheorie, indem er die erkenntnis im rahmen der affekte anbringt: die erkenntnis ist selbst von affekten abhängig, aber der mensch vergisst, dass erkenntnis und vernunft nicht etwas objektives ist, das mit der wahrheit korrespondiert. dieses vergessen hat oft zur folge, dass die affekte mit misstrauen betrachtet werden. aber man darf, so nietzsche, mit den affekten rechnen. in diesem sinne verweisen die affekte auf etwas unkontrolliertes und fremdes. andererseits treten die affekte immer als moral/moralen auf (ksa, Jgb, , 0–). man könnte es so formulieren, dass die affekte etwas affektiertes oder verstelltes fassen. in diesem sinne muss eine lehre von den affekten gleichzeitig eine lehre von perspektiven einschließen, weil wir den affekten nur durch eine interpretierende aktivität begegnen. gibt es dann bei nietzsche eine affektenlehre? ich bin nicht ganz sicher. stattdessen treten die affekte immer an der grenze der vernunft und erkenntnis auf und tragen zu ihrer neuorientierung bei. so schreibt nietzsche im nachlass der achtziger Jahre: „das recht auf den großen affekt – für den erkennenden wieder zurückzugewinnen! nachdem die entselbstung und der cultus des ‚objektiven‘ eine falsche rangordnung auch in dieser sphäre geschaffen haben. der irrtum kam auf die spitze, als schopenhauer lehrte: eben im loskommen vom affekt, vom willen liege der einzige zugang zum ‚wahren‘, zur erkenntniß; der willensfreie intellekt könne gar nicht anders, als das wahre, eigentliche wesen der dinge sehn“ (ksa, nf, , 0). freiheit von affekten reicht nur zu einer ‚kleinen vernunft‘; es geht für nietzsche aber um eine ‚große vernunft‘, d. h. eine vernunft, die einen zusammenhang zwischen leben und erkenntnis zu etablieren vermag. ein solcher zusammenhang ist jedoch wegen der „psychologie der metaphysik“ und „de[s] Einfluß[es] der Furchtsamkeit“ erschwert (KSA, NF, 13, 536). Er notiert weiter: „was am meisten gefürchtet geworden ist, die ursache der mächtigsten leiden (herrschsucht, wollust usw.), ist von den menschen am feindseligsten behandelt worden und aus der ‚wahren‘ welt eliminiert. so haben sie die affekte schritt für schritt weggestrichen, – gott als gegensatz des bösen angesetzt, d. h. die realität in die negation der begierden und affekte verlegt (das heißt gerade in’s nichts)“ (ebd.).

  

kegaard. Eine kritische Monographie mit einer ersten Übersetzung von seiner Abhandlung über die „Affectation“, frankfurt am main . Jürgen habermas (hg.), Friedrich Nietzsche. Erkenntnistheoretische Schriften, (nachwort), frankfurt am Main 1968. Volker Caysa hat vorgeschlagen, die Affekte als Existentialen zu betrachten (Volker Caysa, Versuch, Nietzsches Affektenlehre systematisch zu verstehen, in diesem band). Jürgen habermas, Nachwort, ff.

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zwei kommentare: erstens soll die furcht als leitmotiv unterstrichen werden. der mensch versucht, das mächtige leiden des lebens zu erklären, und die affekte werden dann zum prügelknaben: sie, zusammen mit der begierde, werden als die ursache der mächtigsten leiden benannt; und vielleicht werden sie sogar als sünde benannt, um theologisch zu sprechen. Zweitens: Nietzsche findet, dass die Idee von Ursache und Wirkung falsch ist. die negation der begierde und affekte offenbart keine realität, die in einem engen verhältnis zu gott, der idee oder der wahrheit steht. er entwickelt diese perspektive weiter: „Der Glaube an ‚Affekte‘. affekte sind eine construktion des intellekts, eine Erdichtung von Ursachen, die es nicht giebt. alle körperlichen Gemeingefühle, die wir nicht verstehen, werden intellektuell ausgedeutet, d. h. ein Grund gesucht, um sich so oder so zu fühlen, in personen, erlebnissen usw. also etwas nachtheiliges gefährliches fremdes wird gesetzt als wäre es die ursache unserer verstimmung: thatsächlich wird es zu der verstimmung hinzugesucht, um der Denkbarkeit unseres zustandes willen. – häufige Blutzuströmungen zum Gehirn mit dem Gefühl des Erstickens werden als Zorn in­ terpretirt: die personen und sachen, die uns zum zorn reizen, sind auslösungen für den physiologischen zustand. – nachträglich, in langer gewöhnung, sind gewisse vorgänge und gemeingefühle sich so regelmäßig verbunden, dass der anblick gewisser vorgänge jenen zustand des gemeingefühls hervorbringt und speziell irgend jene blutstauung, samenerregung usw. mit sich bringt: also durch die nachbarschaft: ‚der affekt wird erregt‘ sagen wir dann“ (KSA, NF, 10, 657f.). obwohl er hier nicht völlig eine gewisse affektiertheit vermeidet, bleibt die botschaft klar: eine kleine und nein-sagende vernunft (der intellekt) konstruiert die affekte als ursache. sie sagt z. b., dass der physiologische zustand eine funktion von zorn ist. der mensch versucht also die affekte zuerst zu kontrollieren, dann zu eliminieren. demgegenüber hält nietzsche an der betrachtung fest, dass die affekte als das vorkommando des lebens im kampf gegen eine alles verschlingende erkenntnis dienen. statt die affekte eliminieren zu wollen, spricht er für eine integration von leben und erkenntnis. die affekte sind nicht ursache oder sünde. sie bezeichnen vielmehr eine art von alterität, und als solche sind sie die bedingung einer neuorientierung hinsichtlich sowohl des selbst als des anderen.

ii. nietzsches diagnose des historischen fiebers als ein beispiel für die spannung zwischen leben und erkenntnis wir können Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben als nietzsches kommentar zu der klassischen philologie als akademischer disziplin betrachten. mit friedrich august wolf (–) hatte sich die klassische philologie als selbständige akademische disziplin, als altertumswissenschaft, etabliert. während die wiederentdeckung der griechischen antike in der deutschen klassik eine begeisterung für pädagogische ideen hervorrief, wurde die altertumswissenschaft im neunzehnten Jahrhundert von den idealen des anbrechenden historismus geprägt. aber wenn nietzsche, der philologiepro

Jens erik kristensen, lars-henrik schmidt, Om Historiens Nytte [Vom Nutzen der Historie], introduktion in friedrich nietzsche Om Historiens nytte (Vom Nutzen der Historie), kopenhagen , .

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fessor, erklärt, dass die klassische philologie sich unfruchtbaren und lebensverneinenden wissenschaftsidealen verschrieben hat, nimmt er nicht nur an einer inner-philologischen diskussion teil: „wir“, so nietzsche, „[leiden] alle an einem verzehrenden historischen Fieber“ (KSA, HL, 1, 246). Der Historismus bewirkt für Nietzsche eine Krise, die fundamentale probleme über das verhältnis zwischen leben und erkenntnis freilegt. was macht man mit der ansammlung von historischem wissen? wie schätzt man die vergangenheit, wenn man kein lebendiges verhältnis dazu etablieren kann? in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, im ersten abschnitt, geht nietzsche von einer genealogischen und psychologischen perspektive aus: das tier erinnert sich, wie das spielende kind, an nichts. aber das spielende kind muss früher oder später das spiel und das leben in unbekümmertheit verlassen, um mit dem erinnern zu beginnen. Individuation gehört zur menschlichen Existenz. Ich erinnere an den englischen Dichter Wystan Hugh Auden, bei dem es heißt: „[T]he so-called traumatic experience is not an accident, but the opportunity for which the child has been patiently waiting […] in order that its life may become a serious matter.“6 persönlichkeit bilden ist eine ernsthafte sache, und so muss das kind traumatische erfahrungen aufsuchen. in Zur Genealogie der Moral verfolgt nietzsche diese traumatische spur und vertritt die meinung, dass individuation, genealogisch gesprochen, vermittels ‚denkzettel‘ vorgeht: eine gruppe wird als ‚schlecht‘ bezeichnet, wenn diese nicht der situation herr werden kann. und wenn die niederlagen sich wiederholen, wächst die menge an traumatischen erinnerungen, weil die erfahrungen nicht zum ausdruck kommen können. so sehen wir, dass untergedrückte gruppen oft eine starke erinnerungskultur haben. in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung geht es aber für nietzsche vor allem um die fähigkeit, vergessen zu können. ohne diese fähigkeit ist alles ein werden und ein vergehen. darum muss der mensch an sein „eigenes sein“ (ebd., 0) glauben, und dieser glaube wird unter dem druck der erfahrungen gefordert und ermöglicht. in der Historien-schrift (abschnitte  und ) unterscheidet nietzsche zwischen einer monumentalischen, einer antiquarischen und einer kritischen historie (ebd., ). diese unterscheidung ist nicht auf die historische wissenschaft gemünzt, sie ist, wie oben angedeutet, ein rahmen innerhalb dessen, was nietzsches erkenntnistheoretische frage darstellt. die monumentalische art der historie gehört kulturen oder menschen, die das ewige in der historie suchen. man muss etwas unhistorische wollen, um wirklich historisch zu existieren. Das Unhistorische entscheidet sich deshalb von dem Überhistorischen, weil das letztere eine metaphysische perspektive, religiös oder künstlerisch, voraussetzt. hier wird das historische nur schein. aber wenn der strebende mensch sieht, dass die historie wirklich monumentalische elemente fasst, erkennt er in der historie eine grenzüberschreitende perspektive, die die gegenwart erhellen kann. dies ist dann ein unhistorischer blick. die begierde nach etwas großem und ewigem ist mit der erwähnten furcht vor dem chaotischen element des lebens konfrontiert. die menschen sind, so nietzsche, geängstigte und kurzlebende thiere: „[s]ie wollen zunächst nur eines: leben 6



wystan hugh auden, The Wandering Jew, in: The New Republic, 0. februar  (rezension verschiedener büchern franz kafkas), zit. nach: W. H. Auden. Prose, bd. , hg. von edward mendelson, princeton, new Jersey 00, . søren kierkegaard, Furcht und Zittern, frankfurt am main , – (Vorläufige Expectoration), wo Johannes de silentio die begeisterung der entsagung psychologisch beschreibt: der wille (zur

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um jeden preis“ (ebd., ). der mensch will leben, aber er fürchtet dasselbe leben und negiert deshalb das leben. es gehört also mut dazu, das unhistorische in der historie zu verfolgen. die historie ist nicht nur ein archiv für verschiedene anschauungen, sondern sie fasst auch und primär Existenzbegierde. Lebensbegierde und Lebensfurcht kämpfen mit einander, und die unhistorische Perspektive wird früher oder später fixiert und domestiziert. die plastische kraft (nietzsche entlehnt den ausdruck von Jacob burckhardt) wird abgeschwächt, und eine vorwegnahme in der vergangenheit wird nicht länger als symbol einer unhistorischen bemühung in der historie gesehen, sondern sie wird ein fetisch, womit andere perspektiven in der geschichte so wie in der gegenwart ausgeschlossen werden. so ist nietzsches analyse auch ein kommentar zum missbrauch der kulturgeschichte. der zweite abschnitt endet mit folgendem fazit: „[d]er kritiker ohne noth, der antiquar ohne pietät, der kenner des grossen ohne das können des grossen sind solche zum umkraut aufgeschossene, ihrem natürlichen mutterboden entfremdete und deshalb entartete Gewächse“ (ebd., 264f). zur zweiten art der historie: es könnte auch sein, dass eine antiquarische aktivität passend wäre. wer dies erkennt, so nietzsche, fühlt, dass „[h]ier liess es [das leben] sich leben […] denn es lässt sich leben, hier wird es sich leben lassen, denn wir sind zäh und nicht über Nacht umzubrechen“ (ebd., 265). Diese ‚Heimatperspektive‘ beinhaltet einen sinn für die bewahrung eines festen horizontes; der gegenwärtige horizont ist ganz und gar mit dem horizont der vergangenheit zusammengeschmolzen. aber auch hier leidet die vergangenheit selbst, weil diese antiquarische aktivität nur unmittelbar das leben rechtfertigen kann. im grunde führt auch die antiquarische perspektive zu einem ungerechten umgang mit der vergangenheit: „die vergangenheit selbst leidet, solange die Historie dem Leben dient und von Lebenstrieben beherrscht wird“ (ebd., 267). nietzsche insistiert darauf, dass die vergangenheit sowohl heimlichkeit als auch alterität umfasst. Ich finde, dass es hier eine strukturelle Übereinstimmung zwischen einem ungerechten verkehr mit der vergangenheit und einem ungerechtern verkehr mit den affekten gibt: beide werden domestiziert im hinblick auf ihre regulierung und kontrolle. dazu kommt, dass man an die affekte sowohl als die vergangenheit glaubt, indem man beide als ursachen, wozu man sich positiv oder negativ verhalten kann, konstruiert. kommen wie zur dritten art der historie: der kritischen. es gibt eine steigerung an hermeneutischer intensität, wenn nietzsche die drei verschiedenen perspektiven entwickelt. so bedeutet die kritische perspektive auch ethische fragestellungen, indem die spannung zwischen gerechtigkeit und ungerechtigkeit im verhältnis zum menschlichen umgang mit der vergangenheit intensiviert wird. man muss die vergangenheit kritisch betrachten, um Raum für die gegenwärtige Existenz zu schaffen. Und diese zersetzende kritik ist oft besonders unversöhnlich: „es ist nicht die gerechtigkeit, die hier zu gericht





macht) tritt hier als wille zum nichts auf, verkleidet sich in lebensbejahende affekte (freude, begeisterung, zielstrebigkeit). nietzsche erkennt, dass man die gegenwärtige kunst mit der ‚klassischen‘ kunst ausgerottet (ksa, HL, 1, 258–265). Die Problematik ist noch heute aktuell. Die dänische Regierung ließ 2006 einen kultur-kanon erstellen. dem kanon folgte eine emotional geladene debatte über ‚dänische werte‘. wir erkennen den gesichtspunkt in hans-georg gadamers und paul ricœurs hermeneutischen theorien der interpretation wieder.



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sitzt; es ist noch weniger die gnade, die hier das urtheil verkündet: sondern das leben allein, jene dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht“ (ebd., 269). Aber wenn man kurzen prozess mit der vergangenheit macht, übersieht man, dass die gegenwart selber ein produkt und resultat der vergangenheit ist. die undankbarkeit betreffs der vergangenheit ist „ein versuch, sich gleichsam a posteriori eine vergangenheit zu geben, aus der man stammen möchte, im gegensatz zu der, aus der man stammt – immer ein gefährlicher versuch, weil es so schwer ist eine grenze im verneinen des vergangenen zu finden, und weil die zweiten Naturen meistens schwächlicher als die ersten sind“ (ebd., 0). soviel zu den drei arten der historie: die monumentalische historie wird zum fetischismus; es fehlt der antiquarischen historie ein kritischer sinn, und es fehlt der kritischen historie dankbarkeit und pietät.

iii. affekt, vergessen und gerechtigkeit in den abschnitten  bis  von Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben diskutiert nietzsche verschiedene beispiele für den gegenwärtigen umgang mit der vergangenheit. es geht um eine diagnose der gegenwart, die von dem missverhältnis zwischen einerseits von einem innerlichen Wissen und andererseits von Handlung und Praxis ausgeht. dieses missverhältnis ist die bedingung der moderne, wo man sich, um die viel zu vielen eindrücke verarbeiten und sie überleben zu können, „nur mit einem vorsätzlich stumpfsinn zu retten weiss“ (ebd., ). dieser stumpfsinn ist ein zentrales thema in nietzsches philosophie, nicht nur, aber weil er auf die spannung zwischen leben und erkenntnis hinweist. es geht auch um die frage, wie man sich zu dem stumpfsinn verhält.0 wie wir jetzt sehen, wird auch ein im ausgangspunkt lebensbejahendes interesse für die vergangenheit, sei es monumentalisch, antiquarisch oder kritisch, früher oder später erstarren. so fasst nietzsches idealistisches dictum: „Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangene deuten“ (ebd., f.), selbst den schlüssel zu einem unvermeidlichen und paradoxen Stumpfsinn. Und genau das Problem der Vergangenheit verschärft sich in der moderne, weil die spannung zwischen innerlichkeit und handeln, zwischen eindruck und ausdruck schief geworden ist. wie kann man dies aushalten? das ist auch zarathustras frage: „Wenn es götter gäbe, wie hielte ich’s aus, kein gott zu sein! Also giebt es keine götter“ (ksa, za, , 0). Das ist die Existenzbedingung nach dem Tod Gottes: Die Vergangenheit leidet immer; die ungerechtigkeit ist unvermeidlich. so wird nietzsches modernitätsanalyse eine art ‚theodizee‘: warum gibt es immer ungerechtigkeit? wie kann man „das chaos in sich organisiren“ (ksa, hl, , ), wenn es immer ungerechtigkeit impliziert? nietzsche stellt in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung die frage nach der ungerechtigkeit: die wörter ‚gerechtigkeit‘ und ‚ungerechtigkeit‘, ‚gerecht‘ und ‚ungerecht‘ kommen 0

dass dieses thema nietzsche beschäftigt, darf nicht überraschen. seine philosophie bleibt von einer jüdisch-christlichen anthropologie abhängig (stephen mulhall, Philosophical Myths of the Fall, princeton, new Jersey 00; giles fraser, Redeeming Nietzsche: On the Piety of Unbelief, london 00).

Vergessen als der größte Affekt?



unzählige male vor. es geht dabei immer um eine diagnose der moderne, aber nietzsche weist auch indirekt eine behandlungsform an, die die erfahrung der ungerechtigkeit voraussetzt. abschließend geht es skizzenhaft um diese dimension. in Menschliches, Allzumenschliche I preist nietzsche die gerechtigkeit als eine „gattung der genialität […] eine Gegnerin der Ueberzeugungen“ (KSA, MA-1, 2, 361). Hier tritt er als distanzierter kritiker auf, gewiss im noch dienst des lebens, denn überzeugungen sollen nicht mit leben verwechselt werden; aber das lebensbejahende pathos ist zeitweilig eingestellt. die gerechtigkeit will „jedem […] das seine geben“ (ebd.). die horizontbildende aktivität kann nie von überzeugungen ausgehen, aber hat immer etwas mit „der Gestaltung der eigenen Existenz“ zu tun. doch zarathustra erkennt, dass eine solche gerechtigkeit keine substanz hat. in Also sprach Zarathustra, im abschnitt Vom Biss der Natter betont er, dass „[a]n dem, der von grund aus gerecht sein will, wird auch noch die lüge zur menschen-freundlichkeit. aber wie wollte ich gerecht sein von grund aus! wie kann ich Jedem das seine geben! diess sei mir genug: ich gebe Jedem das meine“ (ksa, za, , ). ich gebe gern zu, dass diese aussage ein bisschen dunkel ist. trotzdem: als arzt der kultur, und nietzsche tritt schon in Menschliches, Allzumensch­ liches als ein solcher auf, kann der philosoph nur diagnosen stellen. so kommt es dem Seher und Propheten Zarathustra so vor, dass es immer um die eigene Existenz geht. Das Zarathustra-buch ist ein „buch für alle und keinen“ (ebd., ), und weder zarathustra noch andere propheten können gerechtigkeit direkt mitteilen. wir sehen, dass die frage nach Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit den Konflikt zwischen Leben und Erkenntnis in nietzsches philosophie verschärft. es gibt, trotz ihrer ganz verschiedenen genres, zentrale berührungspunkte zwischen der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung und Also sprach Zarathustra. so entspricht die im Zarathustra-buch wiederkehrende bewegung von über- und untergang der dialektik der horizontbildenden aktivität in Vom Nutzen und Nachttheil der Historie für das Le­ ben, und diese struktur weist auf eine fundamentale ethische dimension in nietzsches philosophie hin. es geht um eine umgehung der ungerechtigkeit, die aber nicht die ungerechtigkeit schlechthin verdrängt. so verweist nietzsche in der frühen betrachtung auf die tatsache, dass „jeder handelnde seine that unendlich mehr als sie geliebt zu werden verdient, [liebt]: und die besten thaten geschehen in einem solchen ueberschwange der liebe, dass sie jedenfalls dieser liebe unwerth sein müssen, wenn ihr werth auch sonst unberechenbar gross wäre“ (ksa, hl, , ). gerechtigkeit im tiefsten sinn ist aber eine illusion: gerechtigkeit und ungerechtigkeit bleiben bei nietzsche metaphysische ‚Störungen‘. Alles beruht auf „eine[r] pietätvolle[n] Illusions-Stimmung“ (ebd., 296) und „kräftige[n] wahnbilder[n]“ (ebd., ). diese affektive und neuorientierende ‚als-obaktivität‘ bleibt aber ungerecht. so insistiert nietzsche darauf, dass ungerechtigkeit nicht  

sven brömsel, Pathos der Distanz in Nietzsche­Handbuch, hg. von henning ottmann, stuttgart, weimar 000, . in Vom Biss der Natter kritisiert zarathustra eine ethik des mitleidens und formuliert seine alternative: „so ihr aber einen feind habt, so vergeltet ihm nicht böses mit gutem: denn das würde beschämen. sondern beweist, dass er euch etwas gutes angethan hat“ (ksa, za, , ). dazu walter kaufmann, Nietzsche. Philosopher, Psychologist, Antichrist, princeton, new Jersey , : „to have claws and not to use them, and above all to be above any ressentiment or desire for vengeance, that is, according to nietzsche, the sign of true power.“

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Lars K. Bruun

nur eine abstrakte und bedauerliche bedingung des lebens ist. der mensch ist nicht nur das opfer eines chaotischen lebens. ungerechtigkeit ist ‚meine‘ ungerechtigkeit als affektives, erkennendes und handelndes wesen. es geht nicht nur um den mut dazu, den herrschenden werten zu trotzen oder um den mut zum schlechten geschmack: das wäre eine aufgabe des genies; der mensch muss auch erfahren, dass seine horizontschaffende aktivität immer ungerechtigkeit einschließt. es geht vor allem um den mut, ungerecht zu sein. diese doppelte dimension wird von nietzsche genau formuliert, wenn er sagt, es „gehört sehr viel kraft dazu, leben zu können und zu vergessen, in wie fern leben und ungerecht sein Eins ist“ (ebd., 269). Die Formulierung ist sowohl elegant als verdichtet: ‚vergessen‘, d. h. das aktive vergessen, korrespondiert sowohl zu dem sinn für vergessen als zu einem ‚erinnernden‘ vergessen der ungerechtigkeit. weiter sagt nietzsche: „luther selbst hat einmal gemeint, dass die welt nur durch eine vergesslichkeit gottes entstanden sei; wenn gott nämlich an das ‚schwere geschütz‘ gedacht hätte, er würde die welt nicht geschaffen haben“ (ebd.). sogar gott sieht, so scheint es, von verschiedenen verhältnisse ab. aber von etwas absehen zu können, ist jetzt eine sache für den menschen. die frage ist nun, ob und in welchem sinn das aktive vergessen gottes ein vorbild für die menschen sein können, wenn der mensch an sein ‚eigenes‘ Sein glauben muss (ebd., 0)? so muss sich die philosophie mit und nach nietzsche transformieren um zu einer perspektivischen und experimentellen Philosophie zu werden. Was heißt dann sein eigenes leben zu dichten? nietzsche vertritt schon in der Geburt der Tragödie die auffassung, „nur als aesthetisches Phänomen ist das dasein und die welt ewig gerechtfertigt“ (ksa, gt, , ). aber im grund lassen das dasein und die welt sich nie rechtfertigen. der mensch kann sich aber vielleicht auf einen blick einlassen, der die illusorische und begrenzte betriebsamkeit des menschen durchschaut: und ‚trotzdem‘ alles im besten lichte sieht? kommen wir auf die affekte zurück. es ist, als ob nietzsche die affekte dann und wann als eine art ‚heilmittel‘ inszeniert. wir müssen aber der versuchung, eine solche spur zu verfolgen, widerstehen, wenn wir nicht authentizitätsszenarien konstruieren wollen, die selbst gewaltsam und essentialistisch werden. so befreit das abbrechen im dionysischen vergessen nicht ohne weiteres die affekte, weil das ideal: ein großes Ja zum leben, selbst gewaltsam wird. wenn aber nietzsche mit den affekten auf die grenze der erkenntnis verweist, bereitet er eine wichtige nicht-essentialistische spur vor. statt die affekte zu verdrängen, könnte man mit nietzsche von einer zustimmung des lebens mit leib und seele sprechen, die die affekte willkommen heißt, weil sie die aufmerksamkeit auf das umgreifende (so karl Jaspers) hinlenken. die affekte können aber nur indirekt auf eine große vernunft hinweisen. die große, lebendige vernunft ist, so nietzsche in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, eine möglichkeit, aber sie ist nicht möglich, d. h. realisierbar. aber es gibt, in dem bewusstsein ungerecht zu sein, eine perspektive des andersseins, die die handlungen der kleinen vernunft korrigieren kann. vielleicht könnte man sich sogar eine utopie der gerechten ungerechtigkeit, wo das vergessen nicht zu einer gewaltsamen verdrängung führt, und das vergessen eine erinnerung von ungerechtigkeit voraussetzt und einschließt, vorstellen? erst dann könnte man von einer befreiung der affekte, und von dem vergessen als der größten leidenschaft und den größten affekt, sprechen. 

günther figal, Nietzsche. Eine philosophische Einführung, stuttgart , ff.

Josef ehrenmüller

nietzsches psychologie bzw. physiologie der philosophie

einleitung friedrich nietzsche ist bestrebt, den menschen in all seinem denken und handeln auf die physiologie, die triebe, den leib, die affekte zurückzuführen. diese begriffe verwendet er zum teil synonym und austauschbar, was aus der unklarheit darüber resultiert, wie diese phänomene zusammenhängen. er bekennt dies auch: „das wort trieb“ werde nur aus „bequemlichkeit […] überall dort angewendet, wo regelmäßige wirkungen an organismen noch nicht auf ihre chemischen und mechanischen gesetze zurückgeführt sind“ (ksa, nf, , 0). als letztes erklärungsmotiv rekurriert er zunächst evolutionstheoretisch auf die triebe der selbst- und arterhaltung (gattungserhaltung nach damaliger terminologie), dann auf das lust-unlust-prinzip, schließlich auf den willen zur macht, wobei er in seinen schriften recht inkonsequent ist: denn obwohl er zu begründen versucht, warum die ersten beiden motive zu kurz greifen und der wille zur macht das eigentlich antreibende sei, kommt er auch zu zeiten, in denen er den willen zur macht propagiert, auffallend häufig auf das Lust-Unlust-Prinzip und auf evolutionäre Erklärungen zurück. und nichts weist darauf hin, dass er dabei nur aus gründen argumentativer vereinfachung und verkürzung das dahinter liegende motiv des willens zur macht weglässt. mit seinem rekurs auf die physiologie und auf den willen zur macht unterminiert nietzsche den stellenwert unseres bewusstseins in fundamentaler weise – mit ähnlichen und zum teil denselben argumenten, wie dies bald darauf die psychoanalyse systematischer tun wird. bewusstes denken, fühlen und wollen seien produkte physiologischer vorgänge und unterlägen nicht – bzw. nur sehr eingeschränkt – unserer kontrolle. das zeige sich z. b. darin, „dass ein gedanke kommt, wenn ,er‘ will, und nicht wenn ,ich‘ will“. nicht ich denke, sondern „es denkt“ (ksa, Jgb, , ). wie, woher und wodurch ein gedanke auftauche, wüssten wir nicht, und wir seien „sicherlich mehr zuschauer dabei als urheber dieses vorgangs“ (ksa, nf, , ). ein gedanke sei ein „symptom“ (ebd., ) unseres psychophysischen gesamtzustandes. alles, was von diesen psychophysischen vorgängen ins bewusstsein dringe, sei schon ausgelegt, schematisiert, verfälscht (ksa, nf, , ): „unser sogenanntes bewusstsein [ist] ein mehr oder weniger phantastischer commentar über einen ungewussten, vielleicht unwissbaren, aber gefühlten text“ (ksa, m, , ).



Josef Ehrenmüller

wie diese inneren vorgänge abliefen, in welcher kausalen relation etwa gedanken und gefühle zueinander stünden, sei uns absolut verborgen. verschiedene mutmaßungen, die Nietzsche dazu dennoch anstellt, weisen weit voraus und finden zum Teil Bestätigung durch die forschungen der letzten Jahrzehnte, in denen die affekte und deren grundlegender Einfluss auf unsere Denkprozesse intensiv untersucht werden. Nietzsche meint z. b., es sei falsch, zwischen aufeinander folgenden gedanken eine direkte verbindung, „ein unmittelbares ursächliches band“ anzunehmen. stattdessen spielten zwischen zwei gedanken „noch alle möglichen Affekte ihr spiel: aber die bewegungen sind zu rasch, deshalb verkennen wir sie, leugnen wir sie“ (ksa, nf, , f.). er betont, dass der Mensch immer fühle (KSA, NF, 8, 407) und beständig Lust- oder Unlustempfindungen habe. und nach walter kaufmann ist „die wendung gegen den populären dualismus von vernunft und leidenschaft […] eines der leitmotive von nietzsches denken.“ entsprechend kritisiert nietzsche „alle philosophen“, da sie sich samt und sonders präsentierten, „als ob sie ihre eigentlichen meinungen durch die selbstentwicklung einer kalten, reinen, göttlich unbekümmerten dialektik entdeckt und erreicht hätten“, während im grunde „ein einfall, eine ,eingebung‘, zumeist ein abstrakt gemachter und durchgesiebter herzenswunsch von ihnen mit hinterher gesuchten gründen vertheidigt wird“ (ksa, Jgb, , f.). gegen jene, die in diesem sinne an eine „reine geistigkeit“ glaubten, richtet er seine „Psychologie der Philosophen: ihr entfremdetster calcul und ,geistigkeit‘ bleibt immer nur der letzte blasseste abdruck einer physiologischen thatsache; es fehlt absolut die freiwilligkeit darin, alles ist instinkt, alles ist von vorn herein in bestimmte bahnen gelenkt“ (ksa, nf, , ).

psychologie bzw. physiologie der philosophie das projekt einer psychologie der philosophie durchzieht sein gesamtes werk, von der frühen phase, als er noch in basel gelehrt hat, bis zu seinen letzten, nicht mehr vollendeten plänen. im vorwort zu Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen von  betont er den blick auf die jeweilige persönlichkeit hinter einem philosophischen system. während letzteres für die nachgeborenen zumeist als „ganz irrthümlich“ eingeschätzt werde, sei die jeweilige persönlichkeit darin und dahinter unwiderleglich. und „wie man vom gewächs an einem orte auf den boden schliessen“ (ksa, phg, , 0) könne, lasse sich aus dem philosophischen werk die persönlichkeit dahinter erschließen. in einem brief an lou andreas-salomé vom september  klingt seine freude darüber durch, dass sie offensichtlich ein ähnliches ansinnen geäußert hat: „meine liebe lou, ihr gedanke einer reduktion der philosophischen systeme auf personal-acten ihrer urheber ist recht ein gedanke aus dem ,geschwistergehirn‘“ (ksb, , ). und sein letzter, unvollendet gebliebener plan eines opus magnum zur ,umwertung aller werte‘ besteht nach kaufmann inhaltlich „aus der untersuchung der psychologischen motivation zu religiösem glauben, metaphysischen lehren und der moral“. ge 

walter kaufmann, Nietzsche, darmstadt , . ders., ebd., .

Nietzsches Psychologie bzw. Physiologie der Philosophie



gen die metaphysiker, die glaubten, die dinge von höchstem wert müssten einen eigenen ursprung haben, etwa „im schoosse des sein’s, im unvergänglichen, im verborgenen gotte, im ,ding an sich‘“ (ksa, Jgb, , ), betont nietzsche gerade deren niedere, leibliche, triebhafte abkunft und wirft den metaphysikern ein „Missverständnis des Leibes“ vor: die „tollheiten der metaphysik“ seien zunächst immer „als symptome bestimmter leiber“ (ksa, fw, , ) anzusehen. die philosophen meinten irrtümlich, sie redeten von der wahrheit, seien sich dabei aber „nicht bewußt, daß sie von sich reden“ (ksa, nf, 0, ). Jede große philosophie sei bisher „das selbstbekenntnis ihres urhebers und eine art ungewollter und unvermerkter mémoires“ (ksa, Jgb, , ) gewesen. – das treffe natürlich auf alle produkte des geistes zu: so sei die musik als „eine zeichensprache der affekte“ (ksa, nf, 0, ) anzusehen, und ästhetik sei „nichts als eine angewandte physiologie“ (ksa, nw, , f.). und bezüglich verschiedener moralvorstellungen und -begründungen weist er auf eine ganze palette von gefühlen hin, die hinter den verschiedenen rationalen argumentationen jeweils motivierend wirksam seien: „es giebt moralen, welche ihren urheber vor anderen rechtfertigen sollen; andre moralen sollen ihn beruhigen und mit sich zufrieden stimmen; mit anderen will er sich selbst an’s kreuz schlagen und demüthigen; mit andern will er rache üben, mit andern sich verstecken, mit andern sich verklären und hinaus, in die höhe und ferne setzen; diese moral dient ihrem urheber, um zu vergessen, jene, um sich oder etwas von sich vergessen zu machen; mancher moralist möchte an der menschheit macht und schöpferische laune ausüben; manch anderer, vielleicht gerade auch kant, giebt mit seiner moral zu verstehn: ,was an mir achtbar ist, das ist, dass ich gehorchen kann, und bei euch soll es nicht anders stehn als bei mir!‘ – kurz, die moralen sind auch nur eine Zeichensprache der Affekte“ (ksa, Jgb, , 0). daher bedürfe es, um etwa die fragen der moral beantworten zu können, „moral­ historischer studien“, die interdisziplinär betrieben werden müssten, und bei denen die mitarbeit von physiologen, medizinern und sprachwissenschaftlern notwendig sei, denn diese probleme bedürften „zunächst der physiologischen beleuchtung und ausdeutung“ (ksa, gm, , f.). schon zuvor, in Menschliches, Allzumenschliches, hatte er gefordert: „alles, was wir brauchen und was erst bei der gegenwärtigen höhe der einzelnen wissenschaften uns gegeben werden kann, ist eine Chemie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen […] Wie, wenn diese Chemie mit dem ergebnis abschlösse, dass auch auf diesem gebiete die herrlichsten farben aus niedrigen, ja verachteten stoffen gewonnen sind?“ (ksa, ma, , ). die verschiedenen ausgangspunkte, motive, psychodynamischen aspekte usw., die sich bei Nietzsche als Bruchstücke einer Psychologie der Philosophie finden lassen, werde ich strukturieren und systematisch zu ordnen versuchen – wissend, dass so ein systematisierender zugang nietzsches stil und intention zuwiderläuft. 

parallelen zu freud drängen sich auf, der  im Entwurf einer Psychologie psychische phänomene auf neuronale prozesse zurückführen wollte, aber diesen versuch mangels ergiebigkeit wieder fallen lassen musste. das bestreben ist verständlich aus der zeit heraus mit ihren großen wissenschaftlichen fortschritten. die hoffnung und damit verbundene anstrengungen, metaphysik ein für allemal zu erledigen, hielten ja zumindest noch bis in die 0er Jahre an (wiener kreis und der traum einer einheitswissenschaft).



Josef Ehrenmüller

. ausgangspunkte und motive .. furcht furcht spielt in nietzsches philosophie eine wichtige rolle. sie wird zunächst als zentraler motivationaler faktor neben dem willen zur macht angesehen. nach kaufmann versucht nietzsche in der Morgenröthe unter anderem „seine implizite hypothese zu erhärten, daß sich alle psychischen phänomene durch zwei schlüsselbegriffe erklären lassen, nämlich durch furcht und macht.“ beide entstünden aus einem mangel an macht. furcht, als negatives motiv, veranlasse uns dazu, etwas zu vermeiden, während der wille zur macht, als positives motiv, uns etwas anstreben lasse. in einer notiz im nachlass von /, in der der wille zur macht erstmals namentlich erwähnt wird, ist dieser motivationale aspekt auf einen konkreten sozialen kontext bezogen: „furcht (negativ) und wille zur macht (positiv) erklären unsere starke rücksicht auf die meinungen der menschen“ (ksa, nf, , ). meines erachtens liegt diesen motiven das ,bedürfnis nach anerkennung‘ zugrunde, was aber für nietzsche kein thema zu sein scheint. auch deshalb bekommt sein konzept des willens zur macht so eine zentrale bedeutung, der jedoch im zwischenmenschlichen bereich nur ,eine‘ ausdrucksform des bedürfnisses nach anerkennung ist. in der weiteren entwicklung legt sich nietzsche, was diese beiden aspekte betrifft, auf den willen zur macht als alleinigem grundprinzip fest. dennoch bleibt die furcht ein bedeutender psychodynamischer faktor.

... furcht und die sozialisation des menschen nietzsche betrachtet den menschen in der frühzeit seiner evolutionären entwicklung als „das gefährdetste thier“ (ksa, fw, , ) und im zusammenhang damit als „das furchtsamste aller geschöpfe“ (ebd., ). dadurch sei er umso mehr auf die hilfe und den schutz der mitmenschen angewiesen gewesen. also habe er sich einerseits den anderen gegenüber ausdrücken und verständlich machen, andererseits mitgefühl für die anderen entwickeln müssen. voraussetzung dafür sei die entwicklung des bewusstseins gewesen, die somit der furcht und der not unter diesen lebensumständen geschuldet sei. überhaupt habe die furcht einsichten und erkenntnisse über den menschen im allgemeinen mehr gefördert als etwa die liebe. im gegensatz zu letzterer, welche verblende und sich täuschen lassen wolle, wolle die furcht erkennen und erraten, „wer der andere ist, was er kann, was er will: sich hierin zu täuschen, wäre gefahr und nachtheil“ (ebd., ). neben diesen positiven aspekten der furcht (ihrer zentralen rolle in der sozialisation des menschen, der bildung von gemeinschaften und kulturen und als voraussetzung dafür in der phylogenetischen entwicklung des bewusstseins sowie in der förderung von einsichten und erkenntnissen) nennt nietzsche auch negative: sie führe, im verbund mit unserer faulheit, dazu, dass wir uns von kindheit an zunächst den eltern und dann den anderen mitmenschen anpassten. (wiederum geht es dabei um das ,be 

walter kaufmann, Nietzsche, . kritisch ist einzuwenden, dass furcht die wahrnehmung ebenso einschränkt und verzerrt, wenn auch in anderer weise.

Nietzsches Psychologie bzw. Physiologie der Philosophie



dürfnis nach anerkennung‘, d. h. die furcht, nicht verstanden, nicht angenommen, nicht geliebt zu werden, ist maßgeblich.) wir übernähmen die werte und wertschätzungen der anderen (ebd., ) und glichen uns im denken und handeln den anderen an (ksa, se, , ). wir verstellten uns so lange und gewöhnten uns an diese verstellung, „sodass sie zuletzt unsere natur ist“ (ksa, m, , ), sich in unseren organen und instinkten (ebd., 0) niederschlage.

... furcht und die entstehung von religion, wissenschaft und philosophie die verschiedenen weltanschauungen und -erklärungen entstehen nach nietzsche aus dem jeweiligen lebenszusammenhang und sind wesentlich affektiv bedingt. religiöse vorstellungen und praktiken hätten die frühen menschen in der konfrontation mit der unberechenbaren, bedrohlichen und Furcht einflößenden Natur entwickelt. Im Aphorismus Ursprung des religiösen Cultus’ in Menschliches, Allzumenschliches beschreibt er, wie die menschen in der frühzeit viel unmittelbarer und direkter den naturvorgängen ausgeliefert gewesen seien. ihre ganze existenz, ihr glück und unglück seien davon abhängig gewesen. Wettereinflüsse, Klimaveränderungen, Hunger, Krankheit und Tod seien unvorhersehbar, nicht verstehbar und damit nicht beeinflussbar gewesen. Ein Verständnis von naturgesetzen und kausalprozessen habe noch völlig gefehlt, daher seien die naturvorgänge als handlungen beseelter wesen interpretiert worden. diesen menschen „muss die natur – die unbegriffene, schreckliche, geheimnisvolle natur – als das Reich der Freiheit, der willkür, der höheren macht erscheinen, ja gleichsam […] als gott“ (ksa, ma, , ). um nicht ohnmächtig und voller angst diesen vorgängen und den dahinter vermuteten wesen ausgeliefert zu sein, hätten sie im lauf der zeit verschiedene bewältigungsstrategien und praktiken entwickelt: eine strategie sei der versuch der zähmung und beherrschung gewesen: durch flehen und gebete, durch opfer, durch magie und zauberei sollten die mächte günstig gestimmt und die Naturvorgänge zum eigenen Vorteil beeinflusst werden. Dadurch sei der „religiöse cultus“ entstanden. dessen sinn sei es, „die natur zu menschlichem vortheil zu bestimmen und zu bannen, also ihr eine Gesetzlichkeit einzuprägen, die sie von vorn­ herein nicht hat“ (ksa, ma, , ). eine weitere praktik sei es, die bedrohlichen und leid bringenden phänomene und ereignisse zu verstehen, sie in ein erklärungssystem einzugliedern, einen sinn darin zu erkennen. zum einen verhelfe das verstehen, dem geschehen einen teil seiner bedrohlichkeit zu nehmen, denn verstehen heiße letztlich „etwas neues ausdrücken können in der sprache von etwas altem, bekanntem“ (ksa, nf, , 0) – und das bekannte sei gewohnt und vertraut und damit weniger beängstigend. zum anderen sei ein leid leichter zu ertragen, wenn ein höherer sinn darin erkannt werde – und die religiösen vorstellungen böten einen solchen höheren sinn. dies erst mache den großen stellenwert der christlichen moral sowie der asketischen ideale verständlich: der mensch „war in der hauptsache ein krankhaftes thier: aber nicht das leiden selbst war sein problem, sondern dass die antwort fehlte für den schrei der frage ,wozu leiden?‘ der mensch, das tapferste und leidgewohnteste thier, verneint an sich nicht das leiden: er will es, er sucht es selbst auf, vorausgesetzt, dass man ihm einen Sinn dafür aufzeigt, ein Dazu des leidens. die sinnlosigkeit des leidens, nicht das leiden, war der fluch, der bisher über der menschheit



Josef Ehrenmüller

ausgebreitet lag, – und das asketische Ideal bot ihr einen Sinn! es war bisher der einzige sinn; irgend ein sinn ist besser als gar kein sinn“ (ksa, gm, , ). und drittens erfüllte die religion funktionen des trostes und der linderung angesichts dieser verschiedensten leiden. „das christenthum in sonderheit dürfte man eine grosse schatzkammer geistreichster trostmittel nennen, so viel erquickliches, milderndes, narkotisierendes ist in ihm gehäuft“ (ksa, gm, , ). für nietzsche lässt sich religion letztlich dahin gehend definieren, dass ein physiologisch bedingtes Unlustgefühl nicht ursächlich bekämpft und stattdessen heilung oder milderung auf psychologisch-moralischer ebene gesucht werde. dies nennt er die „allgemeinste formel“ für religion (ebd., ). nur als mittel im „Kampf mit dem Unlustgefühl“ (ebd.) habe religion also ihre berechtigung, so dass nietzsche den schluss zieht, „daß eine religion entsteht um das herz zu erleichtern und zu grunde geht, wenn sie hier nichts mehr zu erleichtern hat“ (ksa, nf, , ). ähnlich stehe es mit der wissenschaft. denn jegliches suchen nach ursachen und erklärungen für phänomene sei durch furcht veranlasst: „der ursachen-trieb ist […] bedingt und erregt durch das furchtgefühl“ (ksa, gd, , ). am beispiel unangenehmer Empfindungen und Sensationen des Leibes („Hemmung, Druck, Spannung“) weist er auf den „irrthum der imaginären ursachen“ (ebd., ) hin. sowohl im traum während des schlafes als auch im wachzustand schöben wir den physiologisch bedingten Empfindungen nachträglich eine Ursache unter, um uns Erleichterung zu verschaffen. nietzsches ausführliche „psychologische erklärung“ hierzu: „etwas unbekanntes auf etwas bekanntes zurückführen, erleichtert, beruhigt, befriedigt, giebt ausserdem ein gefühl von macht. mit dem unbekannten ist die gefahr, die unruhe, die sorge gegeben, – der erste instinkt geht dahin, diese peinlichen zustände wegzu­ schaffen. erster grundsatz: irgendeine erklärung ist besser als keine. weil es sich im grunde nur um ein loswerdenwollen drückender vorstellungen handelt, nimmt man es nicht gerade streng mit den mitteln, sie loszuwerden: die erste vorstellung, mit der sich das unbekannte als bekannt erklärt, thut so wohl, dass man sie ,für wahr hält‘. beweis der Lust (,der kraft‘) als criterium der wahrheit“ (ebd., ). so setzten sich mit der zeit „die gewöhnlichsten erklärungen“ (ebd.) durch. zum einen seien dies allgemeine annahmen, die wir alle mehr oder weniger teilten: „wir haben uns eine welt zurecht gemacht, in der wir leben können – mit der annahme von körpern, linien, flächen, ursachen und wirkungen, bewegung und ruhe, gestalt und inhalt: ohne diese glaubensartikel hielte es jetzt keiner aus zu leben!“ (ksa, fw, , f.) zum anderen entwickelten wir je nach individuellem hintergrund und abhängig vom umfeld, in das wir hineinwuchsen und eingebettet seien, individuell unterschiedliche annahmen („der banquier denkt sofort an’s ,geschäft‘, der christ an die ,sünde‘, das mädchen an seine liebe“ (ksa, gd, , ) – und der philosoph an die jeweils leitende idee bzw. vorstellung, möchte ich ergänzen), mit denen jeweils „am schnellsten, am häufigsten das Gefühl des fremden, neuen, unerlebten weggeschafft worden ist“ (ebd.). dies habe zur folge, dass sich bestimmte annahmen und erklärungen durchsetzten und schließlich zu einem „system“ (ebd.) konzentrierten: einer bestimmten denkweise, einstellung, weltanschauung. entsprechend kritisiert nietzsche den „aberglaube(n) der physiker“ (stellvertretend für alle wissenschaften): „wo sie verharren können d. h. wo die regelmäßigkeit der erscheinungen die anwendung von abkürzenden formeln erlaubt, mei-

Nietzsches Psychologie bzw. Physiologie der Philosophie



nen sie, sei erkannt worden. sie fühlen ,sicherheit‘: aber hinter dieser intellektuellen sicherheit steht die beruhigung der furchtsamkeit: sie wollen die Regel, weil sie die welt der furchtbarkeit entkleidet. Die Furcht vor dem Unberechenbaren als Hinter­ Instinkt der wissenschaft“ (ksa, nf, , ). für die philosophie schließlich gelte das ebenso: „und wir philosophen – haben wir unter erkenntniss eigentlich mehr verstanden? […] wie? ist unser bedürfniss nach erkennen nicht eben dies bedürfniss nach bekanntem, der wille, unter allem fremden, ungewöhnlichen, fragwürdigen etwas aufzudecken, das uns nicht mehr beunruhigt? sollte es nicht der Instinkt der Furcht sein, der uns erkennen heisst? sollte das frohlocken des erkennenden nicht eben das frohlocken des wieder erlangten sicherheitsgefühls sein? […] dieser philosoph wähnte die welt ,erkannt‘, als er sie auf die ,idee‘ zurückgeführt hatte: ach, war es nicht deshalb, weil ihm die ,idee‘ so bekannt, so gewohnt war? weil er sich so wenig mehr vor der ,idee‘ fürchtete? – oh über diese genügsamkeit der erkennenden! man sehe sich doch ihre principien und welträthsel-lösungen darauf an! wenn sie etwas an den Dingen, unter den Dingen, hinter den Dingen wiederfinden, das uns leider sehr bekannt ist, zum beispiel unser einmaleins oder unsre logik oder unser wollen und begehren, wie glücklich sind sie sofort! denn ‚was bekannt ist, ist erkannt‘: darin stimmen sie überein“ (ksa, fw, , ). die oben zitierte annahme nietzsches, die er als ‚ersten grundsatz‘ postuliert – „irgend eine erklärung ist besser als keine“ bzw. „irgend ein sinn ist besser als gar kein sinn“ –, hat inzwischen empirische bestätigung gefunden: so zeigen experimente mit posthypnotischen aufträgen oder mit split-brain-patienten, dass wir ständig bestrebt sind, sowohl bei wahrnehmungsvorgängen als auch bei handlungen und verhaltensweisen zu verstehen und zu interpretieren bzw. – uns selbst und anderen – erklärungen zu liefern (selbst dort, wo es keine erklärungen gibt bzw. wo wir die wirklichen motive nicht wissen können). dies basiert auf einem mechanismus, der offenbar in der linken großhirnhemisphäre seinen sitz hat. michael gazzaniga hat diesbezüglich vom „interpretier-mechanismus“, vom „fabuliertalent der linken hemisphäre“ gesprochen.

.. unlustgefühle, leid, krankheiten leidvolle erfahrungen verschiedenster art, ein „übergewicht der unlustgefühle über die lustgefühle“ (ksa, ac, , ), seien die ursache dafür, natur, wirklichkeit, ,diese‘ welt abzuwerten und andere, höhere, freudvollere welten zu imaginieren. in den religionen, in der metaphysik, in der idealistischen philosophie sei dies besonders ausgeprägt. was 

 

zu ergänzen ist, dass nietzsche zur zeit von Menschliches, Allzumenschliches streng zwischen religion, kunst und metaphysik einerseits und wissenschaft andererseits differenziert. während erstere im umgang mit erlittenem leid nur linderung verschaffen könnten, indem sie unsere haltung und sichtweise dazu veränderten – etwa mit der einstellung „wen gott lieb hat, den züchtigt er“ –, sei nur die wissenschaft imstande, die ursache des übels zu bekämpfen und dieses selbst zu beseitigen (ksa, ma-, , 0). dies klingt an hegels formulierung aus der Phänomenologie des Geistes (vorrede, XXXvi) an: „das bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.“ michael s. gazzaniga, Rechtes und linkes Gehirn: Split­Brain und Bewußtsein, in: Spektrum der Wissenschaft, dezember , .



Josef Ehrenmüller

die religion betrifft, hat nietzsche speziell das christentum im blick: „weder die moral noch die religion berührt sich im christenthume mit irgendeinem punkte der wirklichkeit. lauter imaginäre Ursachen (,gott‘, ,seele‘, ,ich‘, ,geist‘, ,der freie wille‘ – oder auch ,der unfreie‘); lauter imaginäre Wirkungen (,sünde‘, ,erlösung‘, ,gnade‘, ,strafe‘, ,vergebung der sünde‘) […] eine imaginäre Teleologie (,das reich gottes‘, ,das jüngste gericht‘, ,das ewige leben) […] – jene ganze fiktions-welt hat ihre wurzel im Hass gegen das natürliche (– die wirklichkeit! –), sie ist der ausdruck eines tiefen missbehagens am wirklichen […] Aber damit ist Alles erklärt. wer allein hat gründe sich wegzulügen aus der wirklichkeit? wer an ihr leidet. aber an der wirklichkeit leiden heisst eine verunglückte wirklichkeit sein […] das übergewicht der unlustgefühle über die lustgefühle ist die Ursache jener fiktiven moral und religion“ (ksa, ac, , f.). leid führe also dazu, dass sich die menschen eine Ersatzwelt schafften und in diese flüchteten, welche in vielem geradezu das Gegenteil der realen Welt darstelle. Diese fiktive Welt werde dann als die eigentlich wirkliche betrachtet, sie sei schließlich aus dem grund erfunden worden, „um die einzige welt zu entwerthen, die es giebt“ (ksa, eh, , ). mit diesen „hinterwelten“ („leiden war’s und unvermögen – das schuf alle hinterwelten“, ksa, za, , ) sind auch philosophische theorien und systeme gemeint, speziell in ihren idealistischen varianten. in einem brief an malwida von meysenbug schreibt nietzsche, er betrachte „den idealismus als eine instinkt gewordne unwahrhaftigkeit, als ein nicht-sehn-wollen der realität um jeden preis: jeder satz meiner schriften enthält die Verachtung des idealismus“ (ksb, , ). was an der realität nicht gesehen werden wollte und folglich verleugnet und eliminiert worden sei, seien unsere triebhafte natur und die damit im zusammenhang stehenden „Begierden und Affekte […] die Unvernunft, das willkürliche, zufällige“. diese seien als „die ursache der mächtigsten Leiden“ (ksa, nf, , ) am meisten gefürchtet worden. nietzsche will, als teil seiner ,umwertung aller werte‘, gerade diesen verleugneten aspekten als den basalen und entscheidenden zu ihrem recht verhelfen. er erkennt „in dem, was bisher geschrieben wurde, ein symptom von dem, was bisher verschwiegen wurde“ (ksa, Jgb, , ). wobei dies, was etwa die affekte betrifft, gerade die negativen, leid bringenden seien: „gesetzt aber, Jemand nimmt gar die affekte hass, neid, habsucht, herrschsucht als lebenbedingende affekte, als etwas, das im gesammt-haushalte des lebens grundsätzlich und grundwesentlich vorhanden sein muss, folglich noch gesteigert werden muss, falls das leben noch gesteigert werden soll“ (ebd.). – der blick hinter die ideale auf die triebhafte menschliche natur und deren bedürfnisse sei auch als programm im titel von Menschliches, Allzumenschliches angedeutet, wie nietzsche in Ecce homo bekennt: „der titel sagt ,wo ihr ideale dinge seht, sehe ich – menschliches, ach nur allzumenschliches!‘“ (ksa, eh, , ).

. psychodynamisch relevante mechanismen und faktoren .. willensschwäche das gesagte trifft nach nietzsche auf die willensschwachen zu: sie könnten leid und Krankheiten nur bewältigen, indem sie Trost und Schutz in fiktiven Welten, Religionen, philosophischen systemen suchten. leid und krankheiten bewertet nietzsche positiv als notwendige voraussetzungen des philosophierens, aber man müsse stark genug dafür sein

Nietzsches Psychologie bzw. Physiologie der Philosophie



und sich diesen phänomenen stellen und sie (damit sich) überwinden können. wenn er sich von den willensschwachen, d. h. den metaphysikern etc., abzuheben versucht und betont, dass er im gegensatz zu ihnen durch willensstärke den „grosse(n) schmerz“ überwinden und in seinem philosophieren „letzte tiefe“ (ksa, nw, , ) erreichen könne, verwickelt er sich in unauflösliche Widersprüche. Ohnehin sehe ich solche Ausführungen, die sich in Abwandlungen bei Nietzsche immer wieder finden, vor allem als Ausdruck seines eigenen kampfes mit lebenslangen beschwerden und krankheiten. insofern trifft seine oben zitierte aussage – die philosophen meinten irrtümlich, sie redeten von der wahrheit, und seien sich dabei „nicht bewußt, dass sie von sich reden“ – auch auf ihn zu.

.. „missverständniss des traumes“ das phänomen des traumes spielte nach nietzsche eine entscheidende rolle bei der Schaffung fiktiver, idealer Welten. In Menschliches, Allzumenschliches glaubt er darin gar den ursprung aller metaphysik zu erkennen: „im traume glaubte der mensch in den zeitaltern roher uranfänglicher cultur eine zweite reale Welt kennen zu lernen; hier ist der ursprung aller metaphysik. ohne den traum hätte man keinen anlass zu einer scheidung der welt gefunden. ,der todte lebt fort; denn er erscheint dem lebenden im traume‘: so schloss man ehedem, durch viele Jahrtausende hindurch“ (ksa, ma, , ). an den träumen zeigten sich die fehlerhaftigkeit unseres denkens, die falschen schlussfolgerungen, das fragwürdige bedürfnis, stets nach – letztlich nur imaginären – ursachen und erklärungen zu suchen. daher sei „vom traume auszugehn“, weil sich darin der „irrthum der imaginären ursachen“ (ksa, gd, , ) am deutlichsten offenbare. denn es gäbe „zwischen wachen und träumen keinen wesentlichen unterschied“. auch im wachzustand sei es so, dass unsere triebe „nichts anderes thun, als die nervenreize interpretieren und nach ihrem bedürfnisse deren ,ursachen‘ ansetzen“ (ksa, m, , ). Einen entscheidenden Grund dafür, dass wir diesem und anderen Irrtümern verfielen, sieht nietzsche in der tatsache, dass wir in unserer sprache gefangen seien und dadurch zu bestimmten denkprozessen und -mustern verführt würden.

.. verführung durch die grammatik die struktur einer sprache führe zu bestimmten denkprozessen und bedinge damit wesentlich die art und weise unseres philosophierens. so sei die ähnlichkeit der philosophien im indogermanischen sprachraum verständlich. „dank der unbewussten herrschaft und führung durch gleiche grammatische funktionen“ (ksa, Jgb, , ) würden gewisse arten des denkens begünstigt und andere verhindert. in diesem sprachbereich sei – im gegensatz etwa zu uralischen und altaischen sprachen – die betonung des subjekts und die trennung von subjekt und prädikat in der struktur der grammatik verankert. durch diese sprachliche verführung habe sich in uns die unterscheidung von subjekt und prädikat als „stärkster glaube“ (ksa, nf, , ) etabliert und damit verbunden, auf ontologischer ebene, die annahme der existenz von subjekten überhaupt. subjekte seien aber nur eine „fiktion“ (ebd., ). von einem selbst schon illusionären ‚ich denke‘ oder ‚ich will‘ ausgehend, würden auch alle sätze ohne ‚ich‘ analog aufgefasst, sodass wir

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Josef Ehrenmüller

z. b. ‚der blitz leuchtet‘ sagten und dabei in einen täter (blitz) und in ein tun (leuchtet) unterschieden, obwohl es nur ,ein‘ geschehen sei.

.. sublimierung der begriff der sublimierung ist im deutschen zwar schon seit dem mittelalter in verwendung (im sinne des lateinischen sublimare = erhöhen), jedoch erst nietzsche gibt ihm die spezifische Bedeutung, in der er dann über Freud als psychischer Abwehrmechanismus eingang in unsere alltagssprache gefunden hat. nietzsche kann sich immerhin auf platon beziehen, der diesen mechanismus im Symposion beschreibt, allerdings ohne den entsprechenden terminus zu verwenden: „platon meint, die liebe zur erkenntniß und philosophie sei ein sublimirter geschlechtstrieb“ (ksa, nf, , ). im unterschied zu platon und freud, für die es ausschließlich um den geschlechts- bzw. sexualtrieb geht, fällt für nietzsche jegliche triebverwandlung unter diesen begriff. da sämtliche triebe wiederum vom willen zur macht abgeleitet seien, handle es sich letztlich um „metamorphosen des willens zur macht“ (ksa, nf, , 0), die durch sublimierung bewirkt würden. ein zentraler aspekt dieser verwandlungen sei ein prozess der verinnerlichung: „alle instinkte, welche sich nicht nach aussen entladen, wenden sich nach Innen – dies ist das, was ich die Verinnerlichung des menschen nenne: damit wächst erst das an den menschen heran, was man später seine ,seele‘ nennt. die ganze innere welt, ursprünglich dünn wie zwischen zwei häute eingespannt, […] hat tiefe, breite, höhe bekommen, als die entladung des menschen nach aussen gehemmt worden ist“ (ebd.). damit würde den trieben zwar die direkte befriedigung versagt, sie würden jedoch nicht einfach unterdrückt, sondern ihnen werde mittels sublimierung oder ‚verfeinerung‘ ermöglicht, auf sozial verträglichen umwegen ihr ziel zu erreichen: „alle moral ist eigentlich nur eine verfeinerung der maaßregeln, welche alles organische nimmt, um sich anzupassen und doch zu ernähren und Macht zu gewinnen“ (ksa, nf, 0, 0). darin ist impliziert, dass diese für die phylogenese postulierten vorgänge und mechanismen in der ontogenetischen entwicklung jedes individuums im laufe seiner enkulturation in analoger weise wirksam sind. die parallelen zu freud sind unübersehbar: nach dessen ansicht stelle „all die komplizierte denktätigkeit […] nur einen durch die erfahrung notwendig gewordenen Umweg zur Wunscherfüllung dar.“0 würden von beginn an unsere triebbedingten wünsche und bedürfnisse sofort erfüllt, würden wir nicht zu denken beginnen, da kein bedarf dafür gegeben sei. und der zitierte satz nietzsches über die moral als aspekt der anpassung erinnert an freuds realitätsprinzip, das im kern nichts anderes ist als das durch die realen – und das heißt vor allem: sozialen – umstände geformte und verwandelte lustprinzip. in der konkreten anwendung zeigen sich die schwächen und unzulänglichkeiten dieses ansatzes jedoch allzu deutlich. insgesamt kommt nietzsche also über interessante anregungen und manche tiefe einsichten in seinem vorhaben einer psychologie bzw. physiologie der philosophie nicht hinaus.  0

es gibt indes vereinzelte andeutungen freuds, nach denen auch der destruktionstrieb sublimiert werden könne. sigmund freud, Die Traumdeutung, in: Gesammelte Werke 2/3, london , .

manos perrakis

nietzsches musikästhetik der affekte

auf die frage nach dem wesen der musik gibt es zwei antworten und einen unendlichen streit zwischen zwei parteien. die einen behaupten, die musik sei hauptsächlich ausdruck von affekten, bzw. die sprache des gefühls. die anderen plädieren für das primat der form und behaupten, musik sei eine organisation von klängen, gemäß dem motto eduard hanslicks ‚spiel tönend bewegender formen‘. die erste position ist die so genannte gefühlsästhetik der musik, die zweite ist unter dem namen ‚musikalischer formalismus‘ bekannt. es handelt sich um zwei klassische auffassungen der musikästhetik, die einander allerdings nicht zwingend ausschließen. aber man darf nicht vergessen, dass der musikalische formalismus aus einem polemischen impuls gegen eine übermäßige dominanz der gefühlsästhetik hervorgegangen ist. friedrich nietzsche, besonders wenn er zusammen mit richard wagner und arthur schopenhauer genannt wird, wird allgemein zu den gefühlsästhetikern gezählt. hier soll allerdings nicht von einer gefühlsästhetik die rede sein, sondern von einer musikästhetik der affekte; und dies aus drei gründen: erstens ist die gefühlsästhetik eng mit der romantik verbunden, die nietzsche mit allen mitteln zu überwinden suchte. daher ist bei ihm das gefühl im ästhetischen bereich negativ konnotiert. zweitens spielt das affektive moment von kunst und erkenntnis bei nietzsche eine sehr große rolle, weil er es auf die elementare sinnlichkeit des menschen zurückführt. drittens bilden die affekte das hauptmoment desjenigen diskurses, der unter der späteren formel von der ‚großen vernunft des leibes‘ bekannt ist. bevor wir explizit zu nietzsche kommen, soll eine historische skizze vorgelegt werden. in deren mittelpunkt steht die philosophiegeschichtliche wandlung der auffassung, dass die musik ausdruck von affekten ist. die stellung der musik im system der künste  

zu nietzsches auseinandersetzung mit gefühlsästhetik und formalismus: christoph landerer, Form und Gefühl in Nietzsches Musikästhetik, in Nietzscheforschung,  (00), –. hanslick schreibt im vorwort von Vom Musikalisch­Schönen: „leidenschaftliche gegner haben mir mitunter eine vollständige polemik gegen alles, was gefühl heißt, aufgedichtet, während jeder unbefangene und aufmerksame leser doch unschwer erkennt, daß ich nur gegen die falsche einmischung der gefühle in die Wissenschaft protestiere […] ich teile vollkommen die ansicht, daß der letzte wert des schönen immer auf unmittelbarer evidenz des gefühls beruhen wird“ (eduard hanslick, Vom Musikalisch­Schönen. Aufsätze/Musikkritiken, hg. von klaus mehner, leipzig , ).



Manos Perrakis

und die der affekte in der philosophie weisen große parallelitäten auf. früher war weder die musik innerhalb der künste, noch waren die affekte in der philosophie als der erkenntnis dienende instanzen hochgeschätzt. bis zum . Jahrhundert war die instrumentalmusik (der stein des anstoßes zwischen gefühlsästhetik und formalismus) nie selbstständig, sondern sie war von einem singtext oder von einer bestimmten funktion abhängig; sie unterlag einer strengen metaphysischen oder sozialen ordnung und wenn es momente gab, in denen sie als etwas selbstständiges auftrat, war dies überaus verdächtig und gegenstand heftiger polemik. denn in einer langen tradition waren die affekte gefürchtet, wenn ihre präsenz zu stark war, als etwas, vor dessen macht man immer gewarnt hat, etwas, was sich dem logos widersetzte und gebändigt sein sollte. das ändert sich langsam seit der aufklärung, von der aus es zu einer entscheidenden wendung im . Jahrhundert kommt. musik und affekte gewinnen an systematischer bedeutung und erfahren eine allmähliche aufwertung. genauer gesagt fällt die aufwertung der musik im system der künste mit der aufwertung der affekte in der philosophie zusammen. früher war die verbindung der musik mit den affekten ein grund, dass die musik eine niedrige stellung innerhalb des systems der künste innehatte, denn die Affekte wurden mit dem niederen Erkenntnisvermögen des Menschen identifiziert. Das ändert sich mit dem erscheinen der ästhetik als selbständiger disziplin. ästhetik ist nicht mehr gnoseologia inferior, sondern eine der rationalen logik ähnliche erkenntnisform, die nicht mehr wegen mangelnder klarheit ausgegrenzt wird. die aufwertung der affekte durch die ästhetik führt zur emanzipation der instrumentalmusik, die im ausgehenden . Jahrhundert beginnt und im . Jahrhundert eine apotheose erfährt. im . Jahrhundert verselbstständigt sich die instrumentalmusik, man spricht besonders im falle der symphonie und der sonate und natürlich im falle von ludwig van beethoven, später auch von Johannes brahms von ‚absoluter musik‘, d. i. die instrumentalmusik, die von allen außermusikalischen zwecken losgelöst wird und als reine form gegenstand ihrer selbst ist. das ist die formalistische prägung des begriffs der absoluten musik. – es gibt einen früheren begriff, der metaphysisch geprägt ist. nach dem metaphysischen begriff ist die musik offenbarung der wahrheit der welt und manifestation des absoluten, weil das affektive moment des glaubens in das von der musik hervorgerufene gefühl verlagert wird. Die metaphysische Prägung des Begriffs ist mit der Gefühlsästhetik eng verflochten. seit der aufklärung gewinnen die affekte immer mehr an bedeutung, indem sie als gefühle bewusst werden, als etwas, was im eigenen selbst erkannt wird und als verinnerlichte form des verstandes auftritt. die natur der affekte gilt nicht mehr als objektiv festgelegt wie in den alten affektenlehren. die affekte werden nun vom selbstbewusstsein eines ‚ich‘ im eigenen bereich des gefühls interpretiert. philosophiegeschichtlich betrachtet gibt es somit einen übergang vom affekt zum gefühl. vom gefühl ist dann die rede, wenn das subjekt versucht, seine affekte zu interpretieren, um sich ihrer auf diese weise zu bemächtigen. wenn man vernunft in etwas, das früher als vernunftwidrig galt, zu finden sucht, bedeutet dies nichts anderes als ein Plädoyer für mehr Vernunft. Das  

vgl. alexandra kertz-welzel, Die Transzendenz der Gefühle. Beziehungen zwischen Musik und Ge­ fühl bei Wackenroder/Tieck und die Musikästhetik der Romantik, sankt ingbert 00, . vgl. stefan hübsch: Vom Affekt zum Gefühl, in: ders., dominic kaegi, (hg.), Affekte. Philosophi­ sche Beiträge zur Theorie der Emotionen, heidelberg , –0.

Nietzsches Musikästhetik der Affekte



ist eine leistung, die besonders der romantik zu verdanken ist, die nicht als opposition zur aufklärung wahrzunehmen ist, sondern als ergänzung und dramatisierung ihrer internen seite. nur durch die aufwertung der affekte war die aufwertung der musik als sprache der affekte möglich. diese aufwertung bereitet aber große probleme für die philosophische ästhetik, denn die affekte sind unbildlich und daher kann das abbild-vorbild paradigma der kunst keine ausreichende erklärung für die musik abgeben. vielmehr wird es schwierig, die musik auf einen begriff zu bringen, denn einerseits fehlt die anschauung und andererseits sind die affekte unbestimmt und von der disposition des subjektes bedingt. die musik wird bewertet je nachdem, wie hoch jeder philosoph die affekte schätzt, woraus sich ersehen lässt, warum etwa immanuel kant und georg wilhelm friedrich hegel sich in bezug auf die musik extrem zurückhaltend äußern, obwohl in ihren dichten und rätselhaft klingenden formulierungen eine verborgene dynamik liegt, vorausgesetzt, dass man ihre ansätze als versuche in die richtung einer aufwertung der affekte interpretiert. bei arthur schopenhauer und nietzsche genießt die musik einen so hohen vorrang vor den anderen künsten, weil das affektive moment der erkenntnis bei ihnen so hoch steht. Bei Schopenhauer findet eine Aufwertung der Affekte statt, denn es ist sozusagen ein vergrößerter affekt, der wille, der die welt bewegt. dem willen werden attribute zugeschrieben, die den charakter von affekten kennzeichnen. der wille ist blind und ziellos, genau wie ein affekt. um einen affekt als prinzip der welt gelten zu lassen, muss die allgemeine philosophische einstellung gegenüber den affekten sich geändert haben. schopenhauer lokalisiert die ultimative wahrheit der welt in den affekten: so macht er den willen, der die summe der affekte in sich schließt, zum hauptprinzip der welt. daher mag kaum verwundern, dass er der musik, der traditionellen sprache der affekte, als ausdruck, sogar als ‚unmittelbaren‘ ausdruck des willens die erste stelle in der hierarchie der künste zuweist, was einmalig in der philosophischen ästhetik ist. während die anderen künste erscheinungen des willens sind, ist die musik unmittelbares „abbild des willens selbst“. wenn die musik abbild des willens und der wille das ‚ding an sich‘ der welt ist, wäre laut schopenhauer die „wahre philosophie“ eine „vollkommen richtige, vollständige und in das einzelne gehende erklärung der musik“. dieser aufforderung schopenhauers scheint nietzsche mit großer konsequenz nachgekommen zu sein. aus schopenhauers diktum lässt sich eine komplette denkstrategie entwickeln. wenn die musik die intimste sprache der welt spricht und die innersten regungen einer kultur in tönen wiedergeben kann, muss der gewinn für die philosophie sehr hoch sein, wenn der philosoph die intime sprache der musik in die philosophische sprache übersetzt. diese übersetzung ist gleichzeitig ein versuch zur übersetzung des unbewussten im sinne von dem, was noch nicht oder nicht mehr bewusst ist, aber bewusst werden kann. die philosophische aufwertung der musik bedeutet also die aufwertung des unbewussten oder umgekehrt könnte man sagen, die aufwertung des unbewussten bedeute die philosophische aufwertung der musik, da dadurch die innere welt, die immer gegenstand der musik war, bedeutsamkeit für unsere erkenntnis erhält.  

arthur schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, erster teilband, zürich , . ebd., .



Manos Perrakis

nietzsche hat die affekte in zusammenhang mit der musik in den drei phasen seines werkes aus drei verschiedenen perspektiven gesehen, die dem allgemeinen charakter jener phasen entsprechen. es handelt sich um eine metaphysische, eine historisch- genealogische und eine physiologische perspektive. in systematischer hinsicht sind die drei Perspektiven miteinander verflochten und bedingen einander. in der ersten phase bleibt nietzsche im bann schopenhauers, er differenziert sich aber von ihm, indem er annimmt, der wille könne gegenstand, aber nicht ursprung der musik sein. der wille ist somit ein symbol der musik und nicht umgekehrt. die musik ist erscheinung; als solche erscheint sie in unserem intellekt als wille (vgl. ksa, gt, , 0f.). wenn der wille ein vergrößerter affekt ist, was ist dann dasjenige element, das der intellekt als reinen Willen kodifizieren kann? Darüber gibt Nietzsches Begriff des Gefühls zu dieser zeit auskunft: „was wir ‚gefühl‘ nennen, das lehrt die auf schopenhauers bahnen wandelnde philosophie als einen komplex von unbewußten vorstellungen und willenszuständen begreifen. […] In welcher Weise theilt sich nun das Gefühl mit? Theilweise, aber sehr theilweise kann es in gedanken, also in bewußte vorstellungen umgesetzt werden; dies gilt natürlich nur von dem theile der begleitenden vorstellungen. immer aber bleibt auch auf diesem gebiet des gefühls ein unauflösbarer Rest [hervorhebung – m. p.] Der auflösbare allein ist es, mit dem die Sprache, also der Begriff zu thun hat: hiernach bestimmt sich die grenze der ‚P o e s i e ‘ in der ausdrucksfähigkeit des gefühls“ (ksa, DW, 1, 572). Der Wille ist also der Oberbegriff für das Gefühl. Nietzsche definiert das gefühl als eine form des verstandes (komplex von unbewussten vorstellungen und willenszuständen), die aber einen unkodifizierbaren Rest hat. Dieser unauflösbare Rest ist der reine Wille Schopenhauers und nach Schopenhauer drückt Musik den unauflösbaren teil des gefühls, den reinen willen aus. nietzsches kritik an schopenhauer richtet sich genau gegen diesen punkt. wenn es einen unauflösbaren Rest beim Gefühl, beim Willen gibt, wie können wir dann sagen, die Musik sei dessen unmittelbarer Ausdruck? Dass sie Ausdruck des reinen Willens ist, ist nach nietzsche eine konstruktion des intellekts. die musik erscheine im „spiegel der bildlichkeit und der begriffe“ (ksa, gt, , 0). nur durch die sprache können wir etwas empirisch bekanntes, d. i. das phänomen der musik, als ausdruck für etwas unbekanntes (wille) benutzen. nietzsche stellt den willen als ursprung der musik in frage, aber die wichtigkeit des willens als gegenstand der musik wird davon nicht im geringsten getroffen. man braucht eine mächtige symbolische Sprache für diesen unauflösbaren Teil des Gefühls, des Willens, weil dieser Teil mit dem Phänomen des Lebens zu identifizieren ist, wie es sich in der eigenen individualität manifestiert. anders formuliert: der wille ist der wichtigste gegenstand der musik; daher ist es von größter wichtigkeit, das ziel dieser gegenstandssetzung zu verfolgen. wenn der wille, das ‚ding an sich‘ schopenhauers, gegenstand der musik und nicht ursprung derselben ist, bedeutet dies, dass man die bedeutsamkeit des willens in die musik hineinlegt. das hat mit dem zweck zu tun, die musik zum organ einer tragischen weltanschauung zu machen, in deren rahmen sie als gegenkraft gegenüber der sprachlich-begrifflichen Abstraktion der zeitgenössischen Kultur wirkt, die die vitalen kräfte des menschen unterdrückt. die willenssymbolik der musik 

nietzsches lebenslange auseinandersetzung mit der musik besteht m. e. genau in diesem punkt.

Nietzsches Musikästhetik der Affekte



macht diese als sprache der affekte zu einer mächtigen gegensprache. musik ist hier als gegenpol zum historismus, dem inbegriff aller abstrakten theoretischen diskurse, die die Natur des Menschen als Empfindungswesen unterdrücken, zu verstehen. es wäre allerdings verfehlt anzunehmen, dass nietzsche wie die romantiker an eine opposition zwischen verstand und gefühl glaubt. nietzsche geht immer von einem antagonismus der kräfte aus. das gefühl als ‚movens‘, als dem menschen innewohnende kraft, wird im zeitalter des historismus verdrängt. die musik soll dem prinzip des gleichgewichts dienen, indem sie das gefühl in der konstellation eines antagonismus von kräften unterstützt. was den systematischen zusammenhang zwischen musik und affekt anbelangt, ist zu betonen, dass es nicht um den ausdruck einzelner affekte geht, wie in den traditionellen affektenlehren der musik, wo verschiedene affekte mit ihren musikalischen ausdrucksformen aufgezählt sind. vielmehr ist die rede von einem großen affekt, dem willen, der alle anderen umfasst. Das allein zeigt, dass die Affekte zu einem begrifflichen Status gelangt sein müssen, den es früher nicht gab. sonst wäre es nicht möglich gewesen, aus ihnen ein einheitsprinzip der welt zu bilden, wie das der fall von schopenhauers willen ist. andererseits, da traditionell die welt der affekte genau den gegenpol zur begrifflichen welt, die dem verstand entspringt, bildet, muss ein großer affekt, der wille, als etwas ungeheures wirken, als etwas über den verstand hinausgehendes. durch die willenssymbolik der musik wird ersichtlich, dass die affekte als metaphysische entität, als Wille transzendiert sind, denn aus dem unauflösbaren Teil des Gefühls wird eine Willensmetaphysik konstruiert. bei schopenhauer gibt es zwei große abstraktionen, die nietzsche ihm implizit zum vorwurf macht. erst transzendiert er die affekte als willen und macht aus der mannigfaltigkeit und vielheit der affekte ein einheitliches prinzip, dann intellektualisiert er ein empirisches phänomen, die musik, als ausdruck der als wille transzendierten affekte. hatte nietzsche die willenssymbolik schopenhauers als konstruktion des intellekts kritisiert, benutzt er seit Menschliches, Allzumenschliches eine historisch-genealogische methode, um die metaphysische würdigung der musik zu dekonstruieren. schopenhauers metaphysik der musik wird nun zum inbegriff romantischer gefühlsästhetik, die den unauflösbaren Teil des Gefühls als Präsenz des Göttlichen in der Immanenz transzendiert und von da aus die musik als sprache des gefühls zum medium des göttlichen erhoben hat. als grund für die romantische auffassung der musik, die von ihrer überladung mit metaphysik gekennzeichnet ist, nennt nietzsche in den aphorismen – von Mensch­ liches Allzumenschliches I die langjährige symbiose der musik mit dem wort, d. h. mit dem dichterischen und vor allem mit dem religiösen text, die eine überladung der musikalischen form mit gefühls- und begriffsbedeutsamkeit als folge hat, wozu die religiöse umstimmung, die mit dem protestantismus stattgefunden hatte, besonders viel beigetragen haben soll. die musik sei dadurch von ihrem ursprünglich dogmatischen grundcha 

wie musik als gegenpol fungiert, wird explizit in Richard Wagner in Bayreuth ausgeführt. die rede von einem ‚princip des gleichgewichts‘ kommt viel später vor (ksa, ma-, , ). der gedanke aber ist in bei nietzsche als unentbehrlicher bestandteil seiner kulturkritischen methode von anfang an präsent.



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rakter im katholizismus und von ihrem im zeitalter der renaissance und vor-renaissance vorherrschend gelehrten charakter befreit worden. so wurde sie zur „gegenrenaissance“ im bereich der künste. von da an wurde die musik vollkommen in den bereich der ‚innerlichkeit‘ gewendet, was die herrschaft der affekte zur folge hatte, denn das aus der religion stammende affektive moment ist für die kunst insgesamt unentbehrlich.0 die musik hat die symbolik des wortes absorbiert, nachdem sie sich von ihrer funktion, wortbegleiterin in einem singtext zu sein, gelöst, und als selbstständige instrumentalmusik den affektiven gehalt dieser symbolik behalten hatte. früher war musik mittel für die symbolik des wortes, jetzt ist die symbolik des wortes zum mittel der musik geworden. wie kann man aber in den unbildlichen affekten der musik eine so reiche symbolik wahrnehmen? Hier müssen wir auf Nietzsches Begriff des Gefühls zurückgreifen. Nietzsche hat das gefühl als komplex von bewussten und unbewussten vorstellungen betrachtet. mit seiner historisch-genealogischen betrachtung setzt er diesen ansatz fort, indem er durchgehend in Menschliches, Allzumenschliches zeigt, dass diese vorstellungen auch resultate einer langen historischen gewohnheit, eines historischen verinnerlichungsprozesses sind. – Was ist aber bis zu diesem Punkt festzuhalten? Einerseits sieht Nietzsche, dass die romantik aus dem affektiven moment der musik eine programmatik der offenbarung gemacht hat. andererseits wird ihm klar, dass nach dem ende einer zeit metaphysischer gewissheiten, also nach dem ‚tod gottes‘, das affektive moment der religion auf die musik übertragen wird und wirft folglich die frage auf, ob musik als ersatz für die religion fungieren darf, um die gestigen bedürfnisse des menschen zu befriedigen. man muss daran erinnern, dass das . Jahrhundert einen quasi-religiösen kult der musik entwickelt hat und der begriff der kunstreligion aus dieser zeit stammt. eines steht jedoch für nietzsche fest: dass die romantik den affektiven charakter der musik ausgenutzt hat. sie hat aus einem empirischen phänomen ein symbol für die transzendenz gemacht, für eine transzendenz, an die man nach der kopernikanischen wende nicht mehr glaubt oder glauben sollte (vgl. ksa, fw, , ). nietzsche scheint diesbezüglich allerdings unentschlossen zu sein. einerseits verneint er den metaphysischen charakter, den die romantische gefühlsästhetik der musik zuschreibt, aber andererseits sieht er, wie wichtig musik in der übergangsphase zu einer säkularen welt für die geistigen bedürfnisse des menschen in ihrer funktion ist, ersatz der religion zu sein. in nietzsches letzter phase der radikalen polemik gegen die metaphysik werden die geistigen bedürfnisse zu bedürfnissen eines leibes, dem eine große vernunft attestiert 0





der religiöse affekt wird als höchste steigerungsform verstanden: „der religiöse affekt ist die interessanteste Krankheit, der der Mensch bisher verfiel. Sein Studium macht einem die gesunden menschen beinahe langweilig und widrig“ (ksa, nf, , ). „nietzsche ist sich vollkommen darüber im klaren, dass das in der musik aufbewahrte religiöse gefühl eine der wertvollsten errungenschaften der menschheit sei, etwas, das dem leben unendlichen wert verleihe. […] er hängt selber mit seinen gefühlen an der metaphysischen musik, während sein verstand von ihr fortstrebt, er ist gleichzeitig von der notwendigkeit ihrer überwindung wie von der unverzichtbarkeit der musik überzeugt. einen klaren ausweg aus diesem dilemma zeigt Menschliches, Allzumenschliches nicht“ (Jens-peter schütte, Nietzsche und das Ende der Musik, in: roderich barth, u. a. (hg.), Protestantismus zwischen Aufklärung und Moderne, frankfurt am main 00, . „das sogenannte metaphysische bedürfniß ist eine gegeninstanz gegen die wahrheit irgend einer metaphysik. der wille commandirt“ (ksa, fn, , ).

Nietzsches Musikästhetik der Affekte



wird. In der gewichtigen Formel der ‚großen Vernunft des Leibes‘ findet eine Umkehrung statt. hatte man früher affekte und leib als instrumente des geistes gesehen, sieht nietzsche jetzt den geist aus der perspektive des leibes: „werkzeug deines leibes ist auch deine kleine vernunft, mein bruder, die du ‚geist‘ nennst, ein kleines werk- und spielzeug deiner grossen vernunft“ (ksa, za, , ). durch den ansatz einer physiologie der kunst, die das ästhetische paradigma der großen vernunft des leibes ist, wird das rein affektive Moment, jener ‚unauflösbare Rest‘ des Gefühls in den Leib versetzt. das hat gravierende konsequenzen für die ästhetik im allgemeinen. wenn der leib die wichtigste instanz ist, dann können keine allgemeinen ästhetischen kriterien von außen gesetzt werden. Physiologie der Kunst und folglich der Musik scheint wie eine Auflösung der ästhetik zu sein. wenn allein dem leib überlassen wird, welche kunst symbol seines willens wird, dann muss jede ästhetik absolut individualistisch sein. das stellt besonders nietzsches abweisung der romantik in frage, etwa wenn er im späteren nachlass erklärt, er sei nicht gesund genug für die romantische musik. Bedeutet aber die Physiologie der Kunst eine Auflösung der Ästhetik? Nein, denn die große vernunft des leibes (affekte) braucht auch die ‚kleine‘ vernunft der allgemeinen kriterien (verstand). der leib ist keine selbstständige entität, wie man vom willen schopenhauers denkt, sondern ein individuum. wenn nietzsche behauptet, er sei nicht gesund genug für die romantische musik, handelt es sich nicht nur um einen physiologischen einwand. es ist nicht nur, dass nietzsche auf sie körperlich negativ reagiert, sondern die ganze vorgeschichte mit wagner und seine ästhetischen einwände gegen die romantik müssen mitgedacht werden. dies alles gehört zur großen vernunft des leibes. der leib will, aber sein wille ist kein blinder drang, sondern vernünftig, insofern er, so volker gerhardt, „sich mitteilende Einheiten schafft“ und durch das bedürfnis der mitteilung auf andere, und daher auf allgemeinheit, angewiesen ist. der leib, dem eine große vernunft, d. h. eine komplexe struktur attestiert wird, wird von der kulturellen verfassung des individuums bestimmt. den leib zu bestimmen, ist alles andere als einfach, denn es handelt sich um ein höchst kompliziertes system mit vielen schichten: „gesellschaftsbau vieler seelen“ (ksa, Jgb, , ) nennt ihn nietzsche. der leib hat seine eigene vernunft, d. h. er hat einen eigenen willen, es gibt keinen leib ohne willen und keinen willen ohne leib. der gedanke dieser einheit, die die große vernunft des leibes impliziert, kommt schon bei schopenhauer vor. nietzsche tut nichts anderes als diese prämisse schopenhauers im ästhetischen kontext zu ‚aktualisieren‘. durch die große vernunft des leibes rehabilitiert er einen vergessenen aspekt schopenhauers, und es wird in der forschung kaum beachtet, dass schon schopenhauer den willen mit dem leib zusammen gedacht hat, wie es zwei stellen aus der Welt als 

  

das klingt einerseits nach einem ungezügelten individualismus, zeigt aber andererseits, wie reif das individuum ist, jenseits allgemeiner, von außen gesetzter kriterien, seinem eigenen gefühl zu vertrauen. die individuellen kriterien sind es, die die allgemeinen legitimieren sollen und nicht umgekehrt. vgl. ksa, nf, , . volker gerhardt, Von der ästhetischen Metaphysik zur Physiologie der Kunst, in: Nietzsche­Studien,  (), . vgl. ksa, nf, , : „das studium des leibes giebt einen begriff von der unsäglichen complikation.“



Manos Perrakis

Wille und Vorstellung eindeutig zeigen: „der wille ist die erkenntniß a priori des leibes, und der leib die erkenntniß a posteriori des willens“ oder „endlich ist die erkenntniß, welche ich von meinem willen habe, obwohl eine unmittelbare, doch von der meines leibes nicht zu trennen. ich erkenne meinen willen nicht im ganzen, nicht als einheit, nicht vollkommen seinem wesen nach, sondern ich erkenne ihn allein in seinen einzelnen akten, also in der zeit, welche die form der erscheinung meines leibes, wie jedes objekts ist: daher ist der leib bedingung der erkenntniß meines willens. diesen willen ohne meinen leib kann ich demnach eigentlich nicht vorstellen.“ diese stellen zeigen deutlich, dass schopenhauer den willen zusammen mit dem leib gedacht hat. allerdings ist er in seiner metaphysik der musik nicht auf die rolle des leibes eingegangen. dadurch hätte er die allgemeinheit und die unerklärlichkeit der musik adäquater fassen können. wenn man aber schopenhauers these von der einheit zwischen dem willen und dem leib und nietzsches ansatz einer physiologie der kunst ausgeht, dann kommt man wieder dazu, musik und willen miteinander zu verbinden. der leib entscheidet, welche musik zum symbol seines willens wird, eine entscheidung, die besonders offenkundig wird, wenn wir eine musik wieder und wieder hören wollen. auf diese kongeniale weise ergänzt nietzsche den musikphilosophischen ansatz schopenhauers. durch den leib-diskurs vollendet er die willenssymbolik der musik und rehabilitiert schopenhauer, der den willen in engem zusammenhang mit dem leib gedacht hatte. indem nietzsche dem leib eine große vernunft zuerkennt, macht er die musik noch stärker vom subjekt abhängig. das affektive moment, das die Quelle aller schwierigkeiten in der deutung der musik ist, wird dadurch als unentbehrlicher bestandteil der leiblichen verfassung des subjektes festgelegt und somit endgültig in der individualität verankert, so dass es keinen raum mehr für eine ‚transzendenz der affekte‘ geben kann. nietzsche zeigt das affektive moment in seiner vielfalt, indem er über affekte und nicht über den einen willen schreibt und immer von einem zusammenhang mit dem leib ausgeht. dadurch wird ausdrücklich betont, dass die deutung der musik vom subjekt abhängig ist. im zentrum von nietzsches musikästhetik der affekte steht nichts anderes als die these, dass das, was einen menschen in seiner eigenen individualität am meisten ausmacht, seine affekte sind. in diesem sinne könnte man sagen, die musik mache dem individuum seine affektive natur am vollkommensten transparent. denn die affekte der musik können nichts anders als die affekte des individuums sein, in denen das individuum durch die große vernunft des leibes sein selbst anerkennen und sich seiner bemächtigen kann.

 

arthur schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, . ebd., .

konstanze schwarzwald

nietzsche und die große sehnsucht ein versuch, nietzsches affektenlehre und anthropologie weiterzudenken

i. rausch und leib geht man von der these aus, dass der rausch sowohl ursprünglichkeitstrieb und grundlegende bestimmung des lebens ist, kann er weitergehend als trieb verstanden werden, der den grundtrieben des menschen (hunger, durst, sexualität) zu grunde liegt und in ihnen immer schon vorhanden ist. in verbindung mit dem willen zur macht, ist der rausch der ‚motor‘ der selbstermächtigung des menschen, das heißt, seines triebes, stets über sich hinaus schaffen zu wollen. das menschliche leben kann daher als ein sich aus sich selbst heraus steigerndes und nicht nur ein sich erhaltendes, als ein über-sich-selbst-hinausschaffendes sein begriffen werden. der rausch wird nach friedrich nietzsche nicht als regressives, repressiv-einschläferndes prinzip bestimmt, sondern als aktives potential des willens zur macht. leben ist wille zur macht und dieser ist nicht zu trennen vom willen zum rausch. menschliches leben ist demnach das rauschhaft-schöpferische über-sichselbst-hinaus-schaffen des menschen, indem er macht über sich gewinnt. wer vom rausch spricht, darf vom leib nicht schweigen. wie beim rausch die rauschontologische differenz von dionysisch-orgiastischem und apollinischem unterschieden werden muss, so muss auch die leibontologische differenz berücksichtigt werden, die eine differenzierung zwischen einerseits dem leib als der unverfüglichen körpernatur und dem körper als instrumentell handhabbarem, gebrauchbarem, als technisch verfügbarer leib, bedeutet. bei der leibontologischen differenz handelt es sich nicht um eine entweder-oder-struktur, also: ich bin nicht in bestimmten zuständen entweder leib oder körper, sondern um ein gleichzeitigkeitsverhältnis, das zur analyse des leibes als „grosser vernunft“, wie ihn nietzsche in Also sprach Zarathustra bezeichnet, grundlegend ist. (ksa, za, , ). der leib wird bei nietzsche in Von den Verächtern des Leibes im kontext des selbst identifiziert: „Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger 

die rausch- und leibontologische differenz ist eine grundbestimmung innerhalb einer philosophie des rausches von volker caysa im anschluss an heideggers ontologische differenz von sein und seiendem, die er in seinem buch Körperutopien. Eine philosophische Anthropologie des Sports, frankfurt am main, new york 00, expliziert (–; –).

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Konstanze Schwarzwald

gebieter, ein unbekannter weiser – der heisst selbst. in deinem leibe wohnt er, dein leib ist er“ (ebd., 0). zum wesen dieses selbst bzw. leibes heißt es weiter: „über sich hinaus [zu] schaffen. das will es am liebsten, das ist seine ganze inbrunst“ (ebd.). – im folgenden wird der frage nachgegangen, ob es wissensformen des leibes gibt, die prärational, vor-theoretisch, empraktisch funktionieren und wesentlich über die affekte thematisiert werden können. das schaffen des leibes, der „sich den geist als eine hand des willens“ (ebd.) schuf, unterliegt einer impliziten bewegung: das über-sich-selbst-hinaus. was aber ist es, so könnte man im anschluss an nietzsche fragen, das dieses affektiv-rauschhafte übersich-selbst-hinaus-schaffen des leibes perspektiviert? welchem willen oder welchem Prinzip folgt dieses Schaffen und wie ist es durch den einzelnen beeinflussbar? Gibt es in dieser scheinbar chaotisch-rauschhaften, undurchsichtigen bewegung so etwas wie ein inneres streben, eine prärationale sinnhaftigkeit, die für uns nicht klar ersichtlich ist, die sich leibvermittelt-empraktisch offenbart, aber theoretisch nicht erklärbar scheint? ist dem körperleben, dem leib, ein großes suchen, ein großes sehnen, eine große sehnsucht eigen?

ii. zur großen und zur kleinen sehnsucht etymologisch leitet sich der begriff der sehnsucht ab vom mittelhochdeutschen ‚sensuht‘ (liebesbegierde, sich sehnen nach, verlangen nach), dem mittelhochdeutschen ‚senen‘ (sich strecken), aus dem mittelhochdeutschen ‚senden‘ (schicken nach, eine botschaft senden). damit ist das mittelhochdeutsche wort ‚sênelich‘ verbunden, welches eine etwas andere bedeutung hat: begehrend, voller verlangen. aber es bedeutet auch: liebesschmerz, Qual, kummer. der zweite teil des mittelhochdeutschen sehnsuchtsbegriffes ‚suht‘ bedeutet: krankheit, leiden. sinnverwandt ist der begriff ‚heiziu‘: fieber und ‚vallendiu‘: epilepsie, das im griechischen ‚epilepsis‘ soviel bedeutet wie: ergreifen. Im moderneren Sinne wird der Begriff der Sehnsucht häufig mit ‚Suche‘ verbunden. die sehnsucht ist bei nietzsche immer verbunden mit dem typus des ‚starken‘, des ‚übermenschen‘. in Zarathustra’s Vorrede heißt es: „ich liebe die großen verachtenden, weil sie die großen verehrenden sind und pfeile der sehnsucht nach dem anderen ufer“ (ebd., ). von hier aus wird versucht, den begriff der sehnsucht im anschluss an nietzsches rauschphilosophie weiter zu entwickeln und eine ‚sehnsuchtsontologische differenz‘ von ‚großer sehnsucht‘ und ‚kleiner sehnsucht‘ einzuführen. wenn von der ‚kleinen sehnsucht‘ die rede ist, wäre es eigentlich passender im plural, von ‚kleinen sehnsüchten‘ zu sprechen, die nietzsche in der . vorrede des Zarathustra thematisiert: „man hat sein lüstchen für den tag und sein lüstchen für die nacht: aber man ehrt die gesundheit. ‚wir haben das glück erfunden‘ – sagen die letzten menschen und blinzeln“ (ebd., 0). das begehren der ‚kleinen sehnsüchte‘ ist gegenständlich, es ist konkret auf etwas bezogen. es hat ein ziel und ist in diesem sinne erfüllbar. eine ihrer weiteren eigenschaften aber ist, dass sie aus der logik dieser lust- bzw. lüstchenstruk

konstanze schwarzwald, Kritik – Macht – Sehnsucht, in: dies., u. a. (hg.), Kritik­Entwürfe. Beiträ­ ge nach Foucault, berlin, münster 00.

Nietzsche und die Große Sehnsucht



tur heraus dem drang erliegt, immer mehr und immer wieder zu ersehnen, ganz nach nietzsches motto: „denn alle lust will – ewigkeit“ (ebd., 0). die ‚kleinen sehnsüchte‘ tendieren zur sucht und gier und zur davon abgeleiteten stillosigkeit. sie sind grund des alltäglich anwesenden hedonismus in den modernen erlebnisgesellschaften. oft sind sie verbunden mit affektiven anwandlungen, kurzweiligen affekten, die uns im wahrsten sinne des wortes überfallen können und auch sollen. – die ‚große sehnsucht‘ dagegen perspektiviert die ‚kleinen sehnsüchte‘. sie geht aufs ganze, nämlich aufs leben. sie ist lebenssucht, lebenssuche. die ‚große sehnsucht‘ ist daher im gegensatz zu den affektgetriebenen ‚kleinen sehnsüchten‘ ein anhaltendes gefühl, eine leidenschaft. das verhältnis von ‚großer und kleiner sehnsucht‘ ist aber nicht als eine entweder-oder-struktur zu begreifen, sondern als ein gegenseitiges bedingungsverhältnis; die ‚große sehnsucht‘ kann sich in ‚kleinen sehnsüchten‘ stiften und anders erfahren, wie sich die ‚kleinen sehnsüchte‘ in der ‚großen sehnsucht‘ gründen können. sie unterliegen einem wechselspiel der dominanzen: das eine kann das je andere verhindern, aber auch hervorbringen.

iii. sehnsucht und hoffnung im nächsten schritt der analyse wird der sehnsuchtsbegriff in den kontext von nietzsches begriff der hoffnung gestellt. nach nietzsche ist der mensch selbst eine hoffnung, eine „beinahe gewissheit, als ob mit ihm sich etwas ankündige, etwas vorbereite, als ob der mensch kein ziel, sondern nur ein weg, ein zwischenfall, eine brücke, ein grosses versprechen sei“ (ksa, gm, , ). aber was wird uns versprochen? der „übermensch“, „der sinn der erde“ (ksa, za, , ). daran anknüpfend wird nun die idee des übermenschen weitergedacht unter hervorhebung des apollinischen und der verschiebung der dominanz des verhältnisses von dionysischem und apollinischem, das beim späten nietzsche oft in der romantisierenden feier des dionysischen gipfelt. das ‚prinzip übermensch‘ wird erweitert um das ‚prinzip selbstregierung‘, der typus ‚übermensch‘ wird ergänzt durch den typus des ‚asketen‘, um diesen näher bestimmen zu können. der begriff des ‚übermenschen‘ ist nicht zu trennen vom begriff des ‚letzten menschen‘ und des ‚höheren menschen‘. schon bei nietzsche sind diese bestimmungen des menschen nicht als kategorien, sondern als existenziale zu verstehen, daseinsbestim

 

der doppelcharakter von lust und gefühlen wird „gefühlsontologische differenz“ genannt (volker caysa, Der Hass – eine große Stimmung, in: rolf haubl, volker caysa, Hass und Gewaltbereit­ schaft, göttingen 00: „im alltag werden affekte, leidenschaften und gefühle miteinander identifiziert. Dieser Entdifferenzierung wird hier widersprochen: Affekte sind plötzlich hereinbrechende gefühle, und leidenschaften sind verstetigte gefühle. beide können je unterschiedlich zu grundund leitstimmungen werden und bewegen sich im spannungsfeld von geworfenheit und entwurf, wobei allerdings auf der seite des affekts die geworfenheit und auf der seite der leidenschaft der entwurf zu dominieren scheint“ ()). volker caysa, Kritik als Utopie der Selbstregierung, berlin 00. existenziale sind hier nicht fundamentalontologisch verstanden, wie bei heidegger, sondern kulturalistisch. zur kritik an heidegger: volker gerhardt, Der Rest ist Warten. Von Heidegger führt kein Weg in die Zukunft, in: Merkur  (00), .



Konstanze Schwarzwald

mungen, aus denen sich je verschieden daseiende haltungen des menschen, ein je individuelles lebensethos, eine existenzielle haltung sich selbst und anderen gegenüber ableitet. wobei zu bemerken ist, diese existenziale sind nicht nur als interpersonelle typologie zu verstehen, als soziologische schichtung, sondern auch als intrapersonelles spannungsfeld des individuums selbst.

iv. der letzte mensch wenn das grundkriterium von mensch-sein in der an nietzsche anknüpfenden bestimmung des lebens, das über-sich-selbst-hinaus-schaffen ist, müsste man den ‚letzten menschen‘ als ‚un-menschen‘ bezeichnen, als unmenschlich beschreiben, weil die natur, durch die wir als menschen je schon rauschhaft sind, an ihm verloren gegangen zu sein scheint, denn er ist kein über-sich-selbst-hinaus-schaffender und genügt nicht dem notwendigen: „Eins ist Noth. – seinem charakter ‚stil geben‘ – eine grosse und seltene kunst! sie übt der, welcher alles übersieht, was seine natur an kräften und schwächen bietet, und es ist dann einem künstlerischen plane eingefügt, bis ein Jedes als kunst und vernunft erscheint und auch die schwäche noch das auge entzückt. […] umgekehrt sind es die schwachen, ihrer selbst nicht mächtigen charaktere, welche die gebundenheit des stils hassen“ (ksa, fw, , 0). der ‚letzte mensch‘ ist ein mensch des ressentiments, der jedes potential, jede möglichkeit an stärke, die er an sich bemerkt, nicht zum über-sich-selbst-hinaus-schaffen im sinne der ‚grossen vernunft‘ des leibes nutzt, sondern vielmehr einsetzt, um andere, stärkere sich selbst gleich zu machen. er ist nicht fähig, sich selbst zu stilisieren und deshalb vergönnt er es auch nicht den anderen. der ‚letzte mensch‘ setzt seine kraft im gegenteil zur schwächung anderer, nicht zur stärkung seiner selbst ein. das genau aber ist seine Macht. Das macht ihn stark ebenso wie sein häufiges Auftreten innerhalb einer masse. sie, die ‚letzten menschen‘, sind die ‚verächter des leibes‘: „noch in eurer thorheit und verachtung, ihr verächter des leibes, dient ihr eurem selbst. ich sage euch: euer selbst selber will sterben und kehrt sich vom leben ab. nicht mehr vermag es, was es am liebsten will: – über sich hinaus zu schaffen. das will es am liebsten, das ist seine ganze inbrunst“ (ksa, za, , 0). die ‚letzten menschen‘ schaffen sich von sich selbst weg, sie haben keine ahnung von sich als selbst und somit auch nicht von ihrer ‚großen sehnsucht‘: ihre sehnsucht beschränkt sich maximal auf ihre „seh-sucht“. damit verbunden ist die reduktion des dionysischen in der modernen kulturindustrie nicht nur auf die seh-sucht, sondern auch auf die hör-sucht. das dionysische ist wesentliches moment der musikindustrie geworden. zur folge hat dies, dass das dionysische in der modernen kulturindustrie in zwei reduktionismen erscheint: einerseits einer reduktion der apollinik nur auf das bildliche und andererseits in der reduktion nur des dionysischen auf das hören, auf das rauschen der musik.



volker caysa, Grundbegriffe einer Anthropologie des Körpers, unveröffentlichtes manuskript.

Nietzsche und die Große Sehnsucht



v. der höhere mensch der ‚höhere mensch‘ ist ein über-sich-selbst-hinaus-schaffender. er besitzt die fähigkeit, sich in gewisser weise seiner natur anzupassen. er ist apolliniker, anders ausgedrückt: Er ist ein Techniker im Sinne des griechischen Begriffes τεχνη, das erst einmal mit ‚geschick‘ übersetzt werden kann. er geht selbsttechnisch versiert mit sich und seinem körper um, aber noch nicht im sinne des asketen, denn er hält sich den rausch, das dionysische, die gefahr, das selbstexperiment vorsätzlich, intelligent und ängstlich vom hals und kann sich als selbst, als leib nur partiell erfahren. der ‚höhere mensch‘ weiß nicht nur, dass er ohne ein mindestmaß an apollinik nicht auskommen kann, sondern er versucht erst gar nicht, sich in den strom des lebens zu werfen, er will sich nicht mitreißen lassen, nicht mal ein stück weit. aber erst, wer es wagt, sich mitreißen zu lassen, das heißt, sich einzulassen, hineinzulassen, kann seine apollinischen fähigkeiten dem leben gemäß, entlang des anspruches des lebens an sich selbst, beileibe, ausbilden und damit seine apollinischen kräfte, wenn auch niemals ganz gemäß, dem dionysischen anpassen. der ‚höhere mensch‘ lehnt in gewisser weise furchtvoll das experiment, das dem ‚prinzip selbstregierung‘ zu grunde liegt, ab: so haben wir auch nichts mehr von ihm zu fürchten (und zu erwarten): „was macht heute unseren widerwillen gegen ‚den menschen‘? […] nicht die furcht; eher dass wir nichts mehr an dem menschen zu fürchten haben; dass das gewürm ‚mensch‘ im vordergrund ist und wimmelt; dass der ‚zahme mensch‘, der heillos-mittelmäßige und unerquickliche bereits sich als ziel und spitze, als sinn der geschichte, als ‚höheren menschen‘ zu fühlen gelernt hat“ (ksa, gm, , ). der ‚höhere mensch‘ weiß mit den affekten umzugehen, will aber seine leidenschaften nicht behalten, sondern sie ablegen, leidenschaftslos sein. er lässt sich auf seine ‚kleinen sehnsüchte‘ geschickt ein und verhindert dadurch eine ahnung der ‚großen sehnsucht‘ zu bekommen und sich dem wissen des leibes, der ‚grossen vernunft‘ auszusetzen.

vi. der übermensch der ‚übermensch‘ ist der mensch der ‚großen sehnsucht‘, ein dionysisch über-sichselbst-hinaus-schaffender und damit vorrangig ein getriebener seiner ‚großen sehnsucht‘, seiner lebenslust, seiner beständigen suche. selbst wenn er ruht, ist es so, als holte er lediglich zum schwung aus und dieses schwungholen ist selbst ein akt des übersich-selbst-hinaus-schaffens. er ist niemals im stillstand, obwohl er sich gewöhnlicher alltäglicher mittel der entspannung bedient. wenn er schläft, schafft er, denn er sehnt sich dabei. wenn er fernsieht, schafft er, denn er sehnt sich dabei, wenn er sport treibt, schafft er, denn er bereitet sich leiblich auf kommende denkekstasen, überfälle, anfälle, die seinen ganzen leib betreffen können, vor, die aus ihm herausbrechen werden, die seine nächsten dionysischen ein- und aufbrüche (die wie knochenbrüche wirken) sein werden, die er dann auszuhalten hat und nicht nur das, sondern deren unbändige steigerung auch schon in aussicht ist. trieb- und affektgewiss nimmt er sich selbst in die hand und macht 

askese wird verstanden als einübung in die körpertechnik mit dem ziel der gelassenheit.



Konstanze Schwarzwald

sich beständig im über-sich-hinaus gesund. seine gesundheit ist kein quantitatives höher und weiter, sondern sein mehr und mehr an intensität seines le(i)bens. insofern ist er ‚ein typisch gesunder‘, jemand, der ‚im grunde gesund‘ ist. dagegen: „ein typisch morbides wesen kann nicht gesund werden, noch weniger sich selbst gesund machen; für einen typisch gesunden kann umgekehrt kranksein sogar ein energisches stimulanz zum leben, zum mehr-leben sein“ (ksa, gd, , ). der übermensch hat die tendenz zur stärke, aber es ist ihm auch ein hang zur gefahr bzw. des sich-verlierens in der gefahr zu eigen, die „begierde nach tiefem schmerz. – die leidenschaft lässt, wenn sie vorüber ist, eine dunkele sehnsucht nach sich selber zurück und wirft im verschwinden noch einen verführerischen blick zu. es muss doch eine art von lust gewährt haben, mit ihrer geisel geschlagen worden zu sein. die mässigeren Empfindungen erscheinen dagegen schaal; man will, wie es scheint, die heftigere unlust noch lieber als die matte lust“ (ksa, ma, , ).

vii. der asket auch der ‚asket‘ ist ein über-sich-selbst-hinaus-schaffender und zwar in einem noch weiteren sinne: er ist ein über sein wesentlich-rauschhaftes über-sich-selbst-hinausschaffen hinaus-schaffender. er hat die fähigkeit, einen schritt weiter zu gehen als der ‚übermensch‘ und so per askese seine sehnsucht grundlegend selbst zu bestimmen: er ist ein „reflektiert Sehnsüchtiger“. der ‚asket‘ ist ein gelassener, enthaltsamer. er übt sich in seine lüste, die auch lustvolle abgründe sein können, ein, sodass er sie beinahe körpertechnisch perfekt bedienen kann. er spielt dabei mit nüchternheit und kälte, obwohl er gewiss nicht kalt ist. er ist seinem feuer, seiner leidenschaft, seiner ‚großen sehnsucht‘ im gegensatz zum ‚übermenschen‘ gewachsen, er ist in und mit ihnen gewachsen. der ‚asket‘ ist der eigentlich radikale, der an seine eigenen wurzeln gehende, denn er hält seine sehnsüchte, ohne sie krampfhaft festhalten zu wollen, indem er sich enthalten kann. er will das nietzschanische ‚alle lust will ewigkeit‘ tatsächlich realisieren: durch einübung, worunter eine zeitlich begrenzte enthaltsamkeit zu zählen ist, denn nur so kann die lust gehalten werden. der ‚asket‘ ist der eigentliche apolliniker, weil er sich im gegensatz zum ‚höheren menschen‘ nicht vor den widerfahrnissen der gefahr abschirmt, sondern sie ebenso lebt und damit selbst ein teil von ihr geworden ist: er ist selbst zur gefahr geworden. von ihm ist noch etwas zu befürchten und damit auch zu erwarten! er ist ein mit seiner liebe, seiner leidenschaft, seiner ‚großen sehnsucht‘ gekonnt umgehender; er ist der eigentliche sehnsuchtskünstler als künstler der gelassenheit. der ‚asket‘ lässt das eigentliche seiner ‚großen sehnsucht‘, die authentizität, ihren existenziellen kern, nicht so rasch wie der ‚letzte mensch‘ verbrennen. er ist damit ein großer (selbst-)konservativer, ein bewahrer echter werte, die er selbst schafft. er hat die fähigkeit zur protrahierbarkeit und kann so die intensität der ‚großen sehnsucht‘ halten.  

an dieser stelle erweitere ich die anthropologische typologie nietzsches. es handelt sich um den versuch einer explizierung des in nietzsches rede vom ‚übermenschen‘ implizit enthaltenen. volker caysa, Zur reflektierten und stilisierten Sehnsucht, unveröffentlichtes manuskript.

Nietzsche und die Große Sehnsucht



das verhältnis ‚übermensch‘ und ‚asket‘ ist vergleichbar mit der differenzierung, die volker caysa in seinem buch Körperutopien zwischen „orgiastischer ekstase“ und „asketischer ekstase“ trifft, also zwischen dem orgiastiker und dem asketen als virtuosen. da heißt es: „die asketische ekstase ist im gegensatz zur orgiastischen ekstase nicht notwendig mit entdifferenzierung des erlebens, nicht mit plötzlichkeit des höhepunktes, sondern mit konzentrierter selbststeigerung durch ‚protrahierbarkeit‘ verbunden. diese protrahierbarkeit wird möglich durch den methodischen einsatz des willens und des bewußtseins, was wiederum eine regulierte steigerbarkeit, eine selbsttechnische stabilisierung und kontrollierte überschreitung der verschiedenen rauschzustände in eine art ‚konzentrationsekstase‘ ermöglicht.“0 Die „asketische Ekstase“ findet bei Caysa noch eine weitere Steigerungsform: die „virtuos-asketische ekstase“, die eine „harmonieekstase“ ist. es ist die höchste und letzte stufe des rausches, wo „rausch und askese empraktisch und maßvoll miteinander verbunden“ sind. der ‚asket‘ als ‚großer sehnsüchtiger‘, der im anschluss an nietzsche zu zeichnen versucht wird, ist ein sehr seltener, denn er ist einer der ‚starken‘. indem er sich selbst erfährt, ist er ein leiblich-empraktisch zu-sich-selbst-kommender, zu seinem werk, das er selbst ist, zu seinem lebenskunstwerk. zum existenzial des asketen hin zu leben, bedeutet für den einzelnen, hinter seinen affekten lenkende leidenschaften zu erziehen, hinter seinen ‚kleinen sehnsüchten‘ empraktisch die ‚große sehnsucht‘ mehr und mehr zu erschließen und auf sie als perspektivgebende ‚stimme des leibes‘ zu hören.

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volker caysa, Körperutopien,  f. ders., ebd., .

paolo stellino

affekte, gerechtigkeit und rache in nietzsches Zur Genealogie der Moral

. vorbemerkungen ‚gerechtigkeit‘ und ‚rache‘ sind zwei begriffe, die gewöhnlich als stark unterschiedlich betrachtet werden. Sowohl in der Fiktion (von der Literatur bis zu den Kinofilmen), wie auch in der realität, würde niemand zweifeln, dass es eine große trennung zwischen den beiden begriffen gibt. ‚gerechtigkeit‘ ist ohne zweifel ein positives konzept: gerecht-sein bleibt eine der tugenden, nach der man streben sollte. im gegenteil dazu ist ‚rache‘ als ein vermächtnis unserer tierischen vergangenheit zu tadeln und zu kritisieren. gerechtigkeit ist siegreich und strahlend, rache brutal und wild. die entgegensetzung der konzepte innerhalb unserer begriffswelt ist offensichtlich, aber ist das nicht eine ‚scheinbare‘ gegenüberstellung? sind die beiden sinnbezirke völlig getrennt oder überschneiden sie sich, auch wenn wir es nicht bemerken? und was heißt es, von einer ,gerechten rache‘ zu sprechen? diese fragen zwingen uns, den ursprung von gerechtigkeit und rache zu untersuchen, die genealogie beider begriffe zu rekonstruieren. unvermeidbar ist die auseinandersetzung mit der philosophie friedrich nietzsches dabei, besonders mit seiner Genea­ logie der Moral. Eine Streitschrift, dessen manuskript nietzsche am 0. Juli  an den verleger constantin georg naumann sandte und das am 0. november erschien. so stelle ich an den anfang eine analyse des begriffspaares ,gerechtigkeit‘ und ,rache‘, wie nietzsche sie vor allem in der zweiten abhandlung der Genealogie der Moral durchführt. zweitens bringe ich diese analyse in zusammenhang mit dem begriffspaar: ,aktive‘ und ,reaktive affekte‘, das nach nietzsche mit dem ursprung von gerechtigkeit eng verbunden ist. um dann die aufmerksamkeit auf die unterschiedliche terminologie richten, die der philosoph benutzt und deutlich zu machen, wie der begriff ,ressentiment‘ eine wichtige rolle beim verständnis von nietzsches analyse des unterschieds zwischen gerechtigkeit und rache spielt (einschließlich der verschiedenen nuancen dieses begriffs). Abschließend ziehe ich Aischylos’ Orestie-triologie heran, da sie meiner meinung nach eine der nüchternsten Reflexionen über die Grenze zwischen Gerechtigkeit und rache enthält. 

curt paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie, bd. , münchen , .



Paolo Stellino

. gerechtigkeit und rache als nietzsche in der Genealogie der Moral seine analyse des ursprungs der gerechtigkeit und der rache durchführt, hatte er sich schon einige Jahre zuvor mit dieser frage beschäftigt. in Der Wanderer und sein Schatten untersucht der philosoph die „begriffs- und Empfindungswurzel“ des Wortes ,Rache‘, die ein komplexes Gefühl zu sein scheint und unterscheidet zwischen zwei verschiedenen ursachen der rache: in einem fall geht es nur um die Selbst-Erhaltung – „wir handeln so, ohne wieder schaden zu wollen“, schreibt nietzsche, „sondern nur, um noch mit leib und leben davonzukommen“; im anderen Fall handelt es sich im Gegenteil dazu um eine Wiederherstellung unserer Ehre: „Wenn unsere ehre durch den gegner gelitten hat, so vermag die rache sie wiederherzustellen“ (KSA, WS, 2, 565). Wie diese Stelle beweist, hatte die Frage nach der Genealogie der Gerechtigkeit und der rache einige Jahre vor  in nietzsche schon interesse geweckt, aber man muss sehen, dass die Behandlung dieser Frage zu einer exemplarischen Klarheit und Vollendung erst in der Genealogie der Moral kommt. In diesem Werk fragt der Philosoph nach dem ursprung der gerechtigkeit, die seiner meinung nach auf keinen fall auf dem boden des ressentiment zu suchen ist. nietzsche bezieht sich im allgemeinen auf anarchisten und antisemitische kreise, die versuchen, „die Rache unter dem namen der Gerechtigkeit zu heiligen“ (KSA, GM, 5, 309f.), und geht dann genauer auf den deutschen Philosophen karl eugen dühring ein, der philosophie und ökonomie an der berliner universität von 1863 bis 1877 lehrte. Wie der Band Nietzsches persönliche Bibliothek beweist, erwarb nietzsche im Jahre 1875 acht Werke von Dühring, unter denen Der Werth des Lebens eines war, das er mit großer aufmerksamkeit las, da fast das ganze heft U III 1 der Nachgelassenen Fragmente (Sommer 1875) mit Notizen von diesem Werk gefüllt wurde. Es ist nicht verwunderlich, dass der philosoph, als er das thema der gerechtigkeit und der rache in der Genealogie der Moral anschneidet, Der Werth des Lebens, zusammen mit dührings Cursus der Phi­ losophie als streng wissenschaftlicher Weltanschauung und Lebensgestaltung, explizit erwähnt. der grund für seine heftige polemik gegen den berliner philosophen liegt hauptsächlich darin, dass unsere ganze rechtordnung nach dührings meinung aus dem rachewunsch des menschen entspringt. das rechtsgefühl ist „wesentlich ein ressentiment, eine reactive Empfindung, d. h. es gehört mit der Rache in dieselbe Gefühlsgattung“. Wie Aldo Venturelli in seinem Essay Asketismus und Wille zur Macht. Nietzsches Aus­ einandersetzung mit Eugen Dühring erklärt, hatte dieser die these vertreten, „der erste und natürlichere Ursprung der Gerechtigkeit liege eben in dem Vergeltungstriebe“. die rache und das ressentiment wären also die grundlage der gerechtigkeit und in diesem sinne würden beide begriffe von dühring in ihrer positiven funktion betrachtet wer   

eugen dühring, Der Werth des Lebens. Eine philosophische Betrachtung, Breslau 1865. ders., Cursus der Philosophie als streng wissenschaftlicher Weltanschauung und Lebensgestaltung, leipzig . ders., Der Werth des Lebens, . aldo venturelli, Asketismus und Wille zur Macht. Nietzsches Auseinandersetzung mit Eugen Düh­ ring, in: Nietzsche­Studien, 15 (1986), 131.

Affekte, Gerechtigkeit und Rache in Nietzsches zur genealogie der moral



den. „Wenn die Gerechtigkeit zunächst auf ihre natürlichen statt auf ihre ethischen oder rechtsphilosophischen Ursprünge zurückgeführt wird“, schreibt Venturelli, „kann sie der auffassung dührings nach das gefühl des individuums nicht außer acht lassen, dass das unrecht erlitten hat, und eben so wenig die notwendigkeit eines kompensationsmechanismus, der das vorher bestehende gleichgewicht zwischen dem geschädigten und dem Schuldigen wiederherstellt.“6 in dührings theorie nimmt nietzsche die gefahr wahr, die rache und ressentiment unter dem namen der gerechtigkeit rehabilitiert werden, aber genau der boden dieser zwei gefühle ist „der letzte Boden, der vom Geiste der Gerechtigkeit erobert wird“ (ebd., 310). Im Gegensatz zu Dührings Meinung erklärt Nietzsche, wie Gerecht-sein immer ein positives Verhalten ist. Man muss viel Wert, Kraft und Adel besitzen, um sogar gegen denjenigen, der uns hat Leiden lassen, gerecht zu sein: „Wenn es wirklich vorkommt, dass der gerechte mensch gerecht sogar gegen seine schädiger bleibt […], wenn sich selbst unter dem ansturz persönlicher verletzung, verhöhnung, verdächtigung die hohe, klare, ebenso tief als mildblickende objektivität des gerechten, des richtenden auges nicht trübt, nun, so ist das ein Stück Vollendung und höchster Meisterschaft auf Erden“ (ebd., 310f.). Selbstverständlich ist die von Nietzsche erwähnte Objektivität nicht in einem erkenntnistheoretischen sinne zu verstehen, sondern als freiheit von reaktiven affekten, die das richtende auge trüben können. um diese wichtige unterscheidung zu verstehen, ist es hilfreich, auf eine stelle der dritten abhandlung der Genealogie der Moral zu verweisen, wo nietzsche die objektivität als verschiedenheit der perspektiven und der affekt-interpretationen kennzeichnet: „es gibt nur ein perspektivisches sehen, nur ein perspektivisches ‚Erkennen‘; und je mehr augen, verschiedne augen wir uns für dieselbe sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser ‚begriff‘ dieser sache, unsre ‚Objektivität‘ sein“ (ebd., 365). Der Unterschied zwischen den beiden Auffassungen von objektivität ist folgender: im ersten fall geht es einfach darum, die unterschiedlichen affekte nicht zu kastrieren, um „die Verschiedenheit der perspektiven und der affektInterpretationen für die Erkenntnis nutzbar zu machen“ (ebd., 364f.); im Gegenteil dazu geht es im zweiten Fall darum, die reaktiven Affekte nicht zu Wort kommen zu lassen, da „selbst bei den rechtschaffensten personen schon eine kleine dosis von angriff, bosheit, insinuation genügt, um ihnen das blut in die augen und die billigkeit aus den augen zu jagen“ (ebd., 311). der ursprung der gerechtigkeit und des rechts ist also nicht aus dem geiste der rache zu erklären, sondern auf dem boden aktiver und aggressiver mächte, die ihre kraft benutzten, um „der ausschweifung des reaktiven pathos halt und maas zu gebieten und einen Vergleich zu erzwingen“ (ebd.). Nietzsche rekonstruiert die Genealogie der Gerechtigkeit, die als ein bedürfnis der starken betrachtet wird: die oberste gewalt, gegen das ressentiment gerichtet, richtet das recht und die gesetze auf und setzt das fest, was recht oder unrecht, erlaubt oder verboten ist. die macht legt den unterstehenden schwächeren das gesetz auf und setzt an stelle der rache den kampf gegen die feinde der 6 

ders., ebd. der unterschied ist kleiner als man denkt: nur aktive affekte ermöglichen die objektivität des richtenden auges, genau so wie nur durch aktive und interpretierende kräfte das sehen ein ‚etwassehen‘ wird.

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Paolo Stellino

gemeinschaft und ihrer ordnung. von diesem moment an wird jede art von schaden als ein frevel gegen das gesetz betrachtet und von der gewalt bestraft. die geschädigten kommen zu einer immer unpersönlicheren abschätzung der tat und lernen mit der zeit, sich auf die gerechtigkeit zu berufen, das rachegefühl zu beherrschen und auf die rache zu verzichten. nur von der aufrichtung des gesetzes und nicht, wie dühring behauptete, vom akte der verletzung an, kann man von recht und unrecht sprechen: „An sich von recht und unrecht reden entbehrt alles sinns, an sich kann natürlich ein verletzen, vergewaltigen, ausbeuten, vernichten nichts ‚unrechtes‘ sein, insofern das leben essentiell, nämlich in seinen grundfunktionen verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend fungiert und gar nicht gedacht werden kann ohne diesen Charakter“ (ebd., 312).

. affekte nietzsche zufolge kann die frage nach dem ursprung der gerechtigkeit vom biologischen Problem des Wertes der Affekte nicht getrennt werden. Zuallererst unterscheidet der Philosoph zwischen zwei verschiedenen arten von affekten: die aktiven und die reaktiven. die einen gehören zum aktiven menschen und besitzen einen höheren biologischen Wert; die anderen gehören zum reaktiven Menschen und besitzen einen niedrigeren biologischen Wert. In der Philosophie Nietzsches steht dieser Unterschied wesentlich in zusammenhang mit dem ressentiment und mit dem sklavenaufstand in der moral, die mit den Juden beginnt. im unterschied zu den vornehmen und mächtigen, die sich aus dem ‚Pathos der Distanz‘ heraus das Recht, Werte zu schaffen, genommen haben, sind die Juden unfähig, eine authentische aktion gegen ihre feinde und überwaltiger durchzuführen und nehmen Rache durch eine Umwertung der aristokratischen Werte. Die Leidenden und die kranken werden jetzt zu ‚den guten‘, die herren und die machthaber zu ‚den bösen‘. der unterschied zwischen den einen und den anderen liegt in einer verschiedenen voraussetzung: einerseits „eine mächtige leiblichkeit, eine blühende, reiche, selbst überschäumende gesundheit, sammt dem, was deren erhaltung bedingt, krieg, abenteuer, Jagd, tanz, kampfspiele und alles überhaupt, was starkes, freies, frohgemuthes Handeln in sich schliesst“ (ebd., 266); andererseits Ohnmacht, Krankheit, Leiden, milde und dazu noch ressentiment, rache, hass und groll. die gerechtigkeit geht vom boden der aktiven affekte aus, und der aktive mensch ist ihr hundert schritte näher als der reaktive Mensch. Wie gesagt, stellt Nietzsche zwei Gründe zu diesem gerechteren verhalten des aktiven menschen fest: der eine ist physiologisch und liegt darin, dass man viel Wert und Kraft braucht, um frei von reaktiven Affekten wie Ressentiment und Rache sein zu können; der andere ist dagegen historisch und soziopolitisch und besteht nicht nur in dem bedarf der gewalt, der ausschweifung des reaktiven pathos einhalt zu gebieten, sondern auch in dem Willen zur Macht der Mächtigen, die das Recht als ein Mittel, „größere Macht-Einheiten zu schaffen“ (ebd., 313), betrachten. der begriff des rechts als mittel wurde von nietzsche schon neun Jahre vorher in Menschliches, Allzumenschliches entwickelt, in einem aphorismus mit dem titel Ur­ sprung der Gerechtigkeit. Wenn es zu einem Machtgleichgewicht zwischen zwei oder mehr mächtigen kommt, wenn es „keine deutlich erkennbare uebergewalt gibt und ein Kampf zum erfolglosen, gegenseitigen Schädigen würde“, dann entspringt das Bedürfnis

Affekte, Gerechtigkeit und Rache in Nietzsches zur genealogie der moral



nach Gerechtigkeit und der Gedanke, „über die beiderseitigen Ansprüche zu verhandeln“ (KSA, MA-1, 2, 89). Ursprünglich ist Gerechtigkeit Austausch und Vergeltung, und insofern die rache ein austausch ist, gehört sie ursprünglich in den bereich der gerechtigkeit (das heißt aber nicht, dass Gerechtigkeit ursprünglich in den Bereich der Rache gehört). Zweifellos herrscht hier der egoistische Instinkt zur Selbsterhaltung vor: Wozu sich nutzlos schädigen und das ziel vielleicht doch nicht erreichen? diese genealogische erklärung des ursprungs der gerechtigkeit wurde bei nietzsche in der Genealogie der Moral dann erneut behauptet. vom höchsten biologischen standpunkt aus sind rechtszustände immer ausnahmezustände, weil sie eine restriktion des lebenswillens, der immer nach der macht strebt, darstellen. nur als mittel zur erschaffung größerer machteinheiten darf das recht gerechtfertigt werden: „eine rechtsordnung souverain und allgemein gedacht, nicht als Mittel im Kampf von Macht-Complexen, sondern als mittel gegen allen kampf überhaupt, etwa gemäss der communisten-schablone Dühring’s, dass jeder Wille jeden Wille als gleich zu nehmen habe, wäre ein lebens­ feindliches Princip, eine Zerstörerin und Auflöserin des Menschen, ein Attentat auf die Zukunft des Menschen, ein Zeichen von Ermüdung, ein Schleichweg zum Nichts“ (KSA, GM, 5, 313).

. nietzsches terminologie die erste terminologische präzisierung, die ich vornehme, betrifft den begriff der ,rache‘. Wenn über Rache gesprochen wird, muss man bedenken, dass Nietzsche diesen begriff mindestens mit zwei verschiedenen nuancen benutzt. einerseits schildert er sie als ein ‚Wurmgefühl‘, das den Geist des Ohnmächtigen langsam erforscht und zerfrisst und ihn kranker macht; andererseits wird Rachsucht unter die starken und gefährlichen triebe wie unternehmungslust, tollkühnheit, verschlagenheit, raubgier und herrschsucht gezählt. am anfang werden diese aktiven triebe von der gemeinschaft nicht nur geehrt, sondern auch gepflegt, weil man sie gegen die Feinde braucht. Aber wenn das gefüge der gesellschaft gegen äußere gefahren gesichert ist, werden sie als unmoralisch gebrandmarkt (KSA, JGB, 5, 121ff.). Der Unterschied zwischen diesen zwei Nuancen liegt hauptsächlich darin, dass einerseits die ohnmächtigen unfähig sind, eine aktion gegen ihre schädiger durchzuführen und langsam hass, groll und ressentiment schwelen, die zu einer Reaktion führen (z. B. zur Sklavenmoral); andererseits ist Rache ein aktiver trieb, der nicht zurückgehalten werden kann, sondern ausgelebt wird. hier ist die rache ausdruck einer starken natur. an zweiter stelle möchte ich die aufmerksamkeit auf den begriff ‚affekt‘ richten. nietzsche unterscheidet zwischen aktiven und reaktiven affekten, aber in bezug auf das physiologische problem von der aktivität und reaktivität benutzt er eine vielfältige terminologie. Wenn er Dührings Auffassung der Gerechtigkeit kritisiert, spricht er vom „reaktiven Gefühl“ und von der Übermacht der „Gegen- und Nach-Gefühle“ (KSA, GM, 

„So viel gegen diese Tendenz im Allgemeinen: was aber gar den einzelnen Satz Dühring’s angeht, dass die heimat der gerechtigkeit auf dem boden des reaktiven gefühl zu suchen sei, so muss man ihn, der Wahrheit zu Liebe, mit schroffer Umkehrung diesen andren Satz entgegenstellen: der letzte



Paolo Stellino

5, 312). gegen diese gefühle stellt das recht einen kampf dar und dieser kampf wird nicht von den aktiven Affekten, sondern seitens „aktiver und aggressiver Mächte“ durchgeführt, welche ihre Stärke verwenden, um der Ausschweifung des „reaktiven Pathos“ Halt zu gebieten (ebd., 311).0 in bezug auf die gegenüberstellung der begriffe ,aktivität‘ und ,reaktivität‘ spricht er von „spontanen, angreifenden, übergreifenden, neu-auslegenden, neu-richtenden und gestaltenden Kräfte[n]“ (ebd., 316). die benutzung unterschiedlicher terminologie durch nietzsche erschwert auf jeden Versuch einer genauen begrifflichen Bestimmung. So gilt für Begriffe wie ,Affekt‘, ,Gefühl‘, ‚macht‘, usw. das, was ingo christians in bezug auf den begriff ‚kraft‘ sagt: „statt das Wesen der Kraft begrifflich zu bestimmen und dadurch seiner Auffassung nach im übertragenen und wörtlichen sinn festzustellen, geht er [nietzsche – p. s.] den für ihn zentralen fragen nach, wie kraft wirkt, wie sie sich verwandeln läßt (durch auslassung, Entladung, Aufstauung, Stärkung, Schwächung, Sublimierung) und in welchen Formen sie auftreten kann.“ Wie die Emotionen, springen die Affekte aus einer tiefen und unbewussten ebene heraus und stellen die vielheit unseres leibes dar. unter die großen Affekte zählt Nietzsche Zorn, Furcht, Wollust, Rache, Hoffnung, Triumph, Verzweiflung, grausamkeit. im gegenteil zu den affekten, die vorübergehend sind und als plötzliche erregungen betrachtet werden können, scheinen die instinkte dauerhaft zu sein. außerdem besitzen sie eine regulierende funktion für unseren leib und unser leben. auch das pathos ist dauerhaft und kann als ein zeichen betrachtet werden, das denjenigen kennzeichnet, der dieses pathos besitzt. der begriff wird manchmal von nietzsche mit dem des ,gefühls‘ assoziiert. eine semantische ähnlichkeit zwischen den begriffen ,mächte‘ und ,kräfte‘, die ausdruck einer potenzialität zum handeln sind, gehört ebenso ins spektrum der thematik.

. ressentiment miguel skirl informiert in Nietzsche Handbuch, dass der begriff ‚ressentiment‘ von Nietzsche erstmals im Exzerpt von Dührings Werth des Lebens (KSA, NF, 8, 131ff.) erwähnt wird, im publizierten opus jedoch erst in der Genealogie der Moral (ksa, gm, 5, 270). Die meisten Interpreten unterstreichen Dührings Einfluss auf Nietzsches Bestimmung dieses begriffs, aber, wie andrea orsucci in seiner einführung zur Genealogie

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Boden, der vom Geiste der Gerechtigkeit erobert wird, ist der Boden des reaktiven Gefühls!“ (KSA, GM, 5, 310). „das entscheidenste aber, was die oberste gewalt gegen die übermacht der gegen- und nach-gefühle thut und durchsetzt […] ist die aufrichtung des Gesetzes“, (ebd., 312). „historisch betrachtet, stellt das recht auf erden […] den kampf gerade wider die reaktiven gefühle vor, den krieg mit denselben seitens aktiver und aggressiver mächte, welche ihre stärke zum theil dazu verwendeten, der ausschweifung des reaktiven pathos halt und maas zu gebieten und einen Vergleich zu erzwingen“ (ebd., 311). ingo christians, Kraft, in: Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar 2000, 265. miguel skirl, Ressentiment, in: ebd., .

Affekte, Gerechtigkeit und Rache in Nietzsches zur genealogie der moral



der Moral richtig erkannt hat, haben auch fjodor m. dostojewskijs Aufzeichnungen aus dem Kellerloch dabei eine entscheidende Rolle gespielt. Wie der Brief vom 23. Februar 1887 an Franz Overbeck beweist, erwarb Nietzsche Ende 1886/Anfang 1887 (vor der Genealogie der Moral) in einem Buchladen Nizzas L’esprit souterrain, eine zusammenstellung zweier ins Französische übersetzter Werke von Dostojewskij: Eine gekürzte Fassung der Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (Записки из подполья), und eine vollständige übersetzung der frühen novelle Die Wirtin (Хозяйка). der philosoph war von der lektüre völlig verzaubert und bezeichnete den zweiten teil von L’esprit souterrain, und zwar die gekürzte fassung als „geniestreich der psychologie, eine art selbstverhöhnung des γνωθι σαυτόν“ (KGB, III 5, 27). Die Hauptfigur bei Dostojewskij ist ein armseliger Beamter, der im Ruhestand ist und den ganzen tag in einem kellerloch, einer ratte gleich, verbringt. er leidet an einer hypertrophie des Bewusstseins und findet Gefallen an der Betrachtung seiner Feigheit und ohnmacht zum handeln. er fühlt sich erniedrigt und träumt ständig von der möglichkeit, sich zu revanchieren. voller ressentiment (die übersetzer benutzen das französische Wort ressentiment) ist Dostojewskijs Held die perfekte Verkörperung des reaktiven menschen. Was also ist das Ressentiment? Bei Skirl heißt es dazu: „Als reaktiver Affekt steht das ressentiment den aktiven affekten und n.s emphatischer bejahung etwa der schnellen Rache gegenüber.“16 die von skirl erwähnte schnelle rache ist ausdruck einer starken natur und wird von nietzsche als aktiver und gefährlicher trieb positiv aufgewertet. im gegenteil dazu führt das ressentiment zu einer rache, die langsam und lange ausgebrütet wird und deren genesis kompliziert ist. nietzsches meinung nach sucht jeder leidende instinktiv zu seinem leid eine ursache, genauer, „einen für leid empfänglichen schul­ digen Thäter, – kurz, irgend etwas Lebendiges“ (KSA, GM, 5, 374). An ihm entlädt der leidende seine affekte und diese affektentladung stellt den versuch dar, das leid zu erleichtern. nietzsches vermutung ist daher folgende: die physiologische ursächlichkeit des ressentiments und der rache ist in einem verlangen nach betäubung von schmerz durch affekt zu suchen. man will einen quälenden schmerz durch eine heftigere emotion, durch einen möglichst wilden affekt, betäuben: der vorwand ist die schuld: „irgend Jemand muss schuld daran sein, dass ich mich schlecht fühle“ (ebd., 374); der Affekt ist das ressentiment, und die folge ist die rache.



 

16

andrea orsucci, Genealogia della morale. Introduzione alla lettura, Rom 2001, 59ff.; Renate Müller-buck, „Der einzige Psychologe, von dem ich etwas zu lernen hatte“. Nietzsche liest Dostojews­ kij, in: Dostoevsky Studies, New Series, 6 (2002). charles anthony miller, Nietzsche’s Discovery of Dostoevsky, in: Nietzsche­Studien, 2 (1973). theodor dostoïevski, L’esprit souterrain, Paris 1886: „Il est peut-être plus capable de ressentiment que l’homme de la nature et de la vérité“; 288 : „La frayeur et le ressentiment avaient disparu de son visage, qui n’exprimait plus qu’une surprise désolée“ (288). miguel skirl, Ressentiment, .



Paolo Stellino

6. Die Orestie: zwischen gerechtigkeit und rache aischylos‘ Orestie sind drei tragödien (Agamemnon, Choephoren, Eumeniden), die das komplizierte thema des zusammenhanges und der grenze zwischen gerechtigkeit und rache behandeln. die erste tragödie schildert die ermordung von agamemnon, könig von argos, der an die opferung seiner tochter iphigenie und an das konkubinat mit seiner sklavin kassandra schuld ist, durch seine frau klytaimnestra und ihren geliebten aigisthos. in der zweiten tragödie beschließen orestes und elektra, agamemnons kinder, den tod ihres vaters zu rächen. orestes, der bei einem freund agamemnons aufgewachsen ist, täuscht vor, ein reisender aus phokis zu sein, um die todesnachricht Orestes’ zu überbringen und bittet Klytaimnestra um ihre Freundschaft. Seine Rache ist erbarmungslos, sein schwert durchbohrt zuerst aigisthos, dann die eigene mutter. sobald er den palast verlässt, erscheinen die erinnyen, die rachegöttinnen, die klytaimnestras tod rächen wollen. in der letzten tragödie geht es schließlich um die entscheidende frage, ob orestes für die ermordung seiner mutter bezahlen soll. agamemnons sohn bittet Athene um ihren Schutz: Ein Prozess wird eingeleitet und Apollo ergreift Orestes’ partei. am ende des prozesses gehen die richter zur urne: athene gibt orestes ihre entscheidende stimme und bewahrt agamemnons sohn vor der rache der erinnyen. die Rachegöttinnen, voller Wut, drohen, ihren Hass über das Land auszuschütten, aber Athene verspricht ihnen einen sitz bei den altären und ehrungen durch die bürger. schnell lässt der Zorn (κότου, Eum. 900; Groll und Ressentiment) der Rachegöttinnen nach, es geschieht ihre metamorphose von rachsüchtigen göttinnen wohlmeinenden und ehrenhaften eumeniden. die Orestie stellt einer der besten versuche dar, einerseits die affekte, die zur rache treiben, zu beschreiben, und andererseits die grenzen zwischen gerechtigkeit und Rache, zwei Begriffe, die sich in den drei Tragödien häufig überschneiden, zu untersuchen. klytaimnestra entschließt sich, die opferung der tochter zu rächen, und glaubt, die gerechtigkeit durch die ermordung agamemnons erfüllt zu haben. seinerseits rufen orestes und elektra, die den tod ihres vaters rächen wollen, zeus an und fordern von ihm Gerechtigkeit. Aber worin besteht das Gerechte (το δίκαιον)? „Worte des Hasses/ zahlen für Worte des Hasses./ Laut brüllt Dike [die Gerechtigkeit] auf,/ wenn sie die Schuld eintreibt./ Blutiger Schlag/ zahlt für blutigen Schlag./ Wer tut, muß leiden./ Ururalt ist die Geschichte, die das sagt“ (Choeph. 310–314). der chor, dessen sätze ausdruck der talionslehre sind, ruft die gerechtigkeit an, aber das, was der chor sich wünscht, muss ein Rächer (βλάπτων) erfüllen. Orestes tötet seine Mutter und ihren Geliebten und zeigt Zeus den mantel, den klytaimnestra benutzt hat, um agamemnon zu töten. dieser mantel ist der Beweis, dass Orestes, der Rächer mit Recht (εν δικη, Choeph. 987; ος νόμος, Choeph. 990) den Muttermord beging. die erwähnten stellen der drei tragödien stellen nur einige beispiele, aber sie zeigen die schwierigkeit, eine klare demarkationslinie zwischen gerechtigkeit und rache, schuld und unschuld zu ziehen. es wichtig zu verstehen, inwieweit erlösung und freiheit vom ressentiment, der schlüssel für die metamorphose der erinnyen zu eumeniden, d. h. von der rache zur gerechtigkeit, sind: als die erinnyen nicht an die gründe, die 

Bernd Seidensticker (Hg.), Die Orestie des Aischylos, münchen .

Affekte, Gerechtigkeit und Rache in Nietzsches zur genealogie der moral



orestes zum muttermord gezwungen haben, sondern nur an ihrer eigenen rache interesse zeigen, tadelt athene die rachegöttinnen scharf: sie mögen als gerecht gelten, aber sie handeln nicht danach. Die Erinnyen suchen Rache, nicht Gerechtigkeit; ihr einziger Zweck ist nicht Orestes’ Schuld oder Unschuld zu prüfen, sondern Klytaimnestras Tod zu rächen. erst als die göttinnen, frei von ressentiment und groll (die affekte, die sie von Anfang an, bis zur Schlussmetamorphose kennzeichnen) sind, können sie das Recht sprechen und von den bürgern verherrlicht werden.

. schlussfragen Aischylos’ Orestie zeigt, dass die entgegensetzung von gerechtigkeit und rache komplizierter ist als man denkt. auch wenn es wahr ist, wie nietzsche behauptete, dass das ressentiment die objektivität des gerechten und richtenden auges nicht gestattet, müssen wir uns jedoch fragen, ob jemand, der nicht frei von ressentiment ist, das gerechte erfüllen kann. Anders gefragt: War Orestes gerecht, auch wenn er vom Ressentiment affektiert wurde? So antwortet Aischylos: „Es führte die Hand im Kampf/ die wahrhafte Tochter des Zeus,/ die Dios Kore,/ Dike nennen sie treffend die Menschen,/ tödlichen Zorn/ haucht sie gegen ihre Feinde“ (Choeph. 948–52). Nochmals hängt die Gerechtigkeit (Dike) mit dem Zorn zusammen. Nochmals benutzt Aischylos das Wort κότον in zusammenhang mit der gerechtigkeit. fragen bleiben: kann gerechtigkeit als institutionalisierte rache betrachtet werden? können wir wirklich jede möglichkeit leugnen, wie nietzsche zu behaupten scheint, dass das gefühl des verletzt-seins (das, nach nietzsches meinung zum Ressentiment und zur Rache führt) nicht auch zur Gerechtigkeit führen kann?

niklas corall

heilige wesen – lebewesen formen des aktiven fatalismus bei kant und nietzsche

. einleitung die behandlung zweier radikal unterschiedlicher autoren, die man beide sehr schätzt, birgt die große gefahr in sich, dass zum schluss der auseinandersetzung beide autoren unrechtmäßig einander angeglichen und beider theorien nicht mehr deutlich voneinander zu differenzieren sind. diese gefahr verstärkt sich noch, wenn man mit beiden autoren auf ein gemeinsames ziel hinarbeiten möchte, welches vielleicht keiner der denker von sich aus im sinn hatte. ein interessantes exempel jedoch für eine richtige methode der behandlung zweier unterschiedlicher autoren mit gemeinsamem nutzen für die eigene theoriebildung bietet friedrich nietzsche im zusammenhang mit ‚zarathustras lehre‘ der ewigen wiederkehr des gleichen. noch von arthur schopenhauer als widerlegung jeglicher theorie des werdens genutzt in Die Welt als Wille und Vorstellung, wird sie von nietzsche als metapher für die höchste form der bejahung einer welt des werdens genutzt, ohne dass beide theorien dafür einander angeglichen würden. in anlehnung an diese methode versuche ich im folgenden, nietzsches widerlegung der freiheit des willens als eine weiterführung der kantischen theorie heiliger wesen zu verstehen, als auch die theorie immanuel kants als veranschaulichung von nietzsches handlungstheorie heranzuziehen. mit diesen beiden schritten ist mein eigentliches ziel, die ausarbeitung eines aktiven fatalismus, der zwischen determinismus und libertarianismus angesiedelt sein soll, noch nicht getan, allerdings muss bereits bei der verknüpfung zweier so weit ausdifferenzierten theorien auf nebengedanken und vertiefungen außerhalb des hauptstranges verzichtet werden, um einen roten faden der argumentationsführung zu gewährleisten. Entgegen des zwangläufig auftretenden Eindruckes ist es dabei nicht meine intention, die theorien lediglich einem vergleich und einer bewertung zu unterziehen, sondern die absicht, die stärken beider theorieansätze in einer übergrei

arthur schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, stuttgart, frankfurt am main, : „welches man übrigens am kürzesten abfertigt durch die bemerkung, dass eine ganze ewigkeit, d. h. eine unendliche zeit, bis zum jetzigen zeitpunkt bereits abgelaufen ist, weshalb alles, was da werden kann oder soll, schon geworden sein muss“ () und: „Jene unendliche Quelle kann kein endliches maß erschöpfen; daher steht jeder im keime erstickten begebenheit, oder werk, zur wiederkehr noch immer die unverminderte unendlichkeit offen“ ().



Niklas Corall

fenden theorie zu verbinden und sowohl auf ein solides fundament zu kommen als auch einen fruchtbaren Inhalt für die weitere Theoriebildung zu finden. ich beginne mit kants freiheitstheorie in der Kritik der praktischen Vernunft, suche sie so kurz als möglich, darzustellen, um auf sein gedankenexperiment der heiligen wesen zu kommen und in verbindung mit diesem nietzsches aktiven fatalismus des willen zur macht herauszuarbeiten. was genau unter ‚aktivem fatalismus‘ zu verstehen ist, wird sich im folgenden ergeben.

. kants theorie der freiheit in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten grenzt kant den bereich der freiheit negativ ab, als eigenschaft der kausalität lebender, vernünftiger wesen, „unabhängig von fremden sie bestimmenden ursachen wirkend sein zu [können], so wie Naturnotwendig­ keit die Eigenschaft der Kausalität aller vernunftlosen Wesen [ist], durch den Einfluss fremder ursachen zur tätigkeit bestimmt zu werden.“ er stellt fest, dass diese annäherung an einen begriff der freiheit zwar negativ und dadurch unfruchtbar sei, weist jedoch darauf hin, dass man durch die zergliederung der begriffe, die in dieser negativen Definition enthalten sind, zu der Erkenntnis geleitet wird, dass der positive Begriff der freiheit durch die eigene gesetzgebung des willens ausgefüllt werden müsse. kausalität kann nur mittels gesetzmäßigkeit gedacht werden, so dass diese durch den willen selbst gegeben werden muss, wenn es einen freien willen geben sollte, der sich kausal auf dinge der erscheinungswelt anwendet. er hebt diesen zugang zur kausalität damit von demjenigen vernunftloser materie ab, welchen er als durch die naturnotwendigkeit bestimmt versteht. das menschliche handlungsvermögen umfasst beide zugänge zur kausalität, da es zum einen leiblich, daher der naturnotwendigkeit unterworfen, zum anderen vernunftbegabt und zu einer eigenen gesetzgebung fähig ist. nach dieser herleitung weist kant in der Kritik der praktischen Vernunft nach, dass nicht nur für die freiheit eine eigene gesetzgebung notwendig ist, sondern auch, dass diese nur aufgrund eines freien willens bestehen kann. zunächst muss also diejenige gesetzmäßigkeit gefunden werden, als deren notwendige voraussetzung (deren seinsgrund) er berechtigt ist, die freiheit zu setzen. er zielt darauf ab, einen imperativ als existent nachzuweisen, welcher lediglich durch seine logische form, unabhängig vom empirischen inhalt, auf den er angewandt wird, eine entscheidungs- und handlungsgrundlage bietet. So wäre der Mensch imstande, unabhängig von natürlichen Einflüssen, 

  

für seine beweisführung im bereich der freiheit bedarf kants begriff der vernunft keiner weiteren voraussetzung als des satzes vom widerspruch. so in zusammenhang mit kant das wort vernunft von mir gebraucht wird, muss es nicht weiter inhaltlich ausgebaut werden als zur anwendung des satzes vom widerspruch fähig. immanuel kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: ders., Gesammelte Schriften, bd. , berlin 00ff., . ders., ebd. ich fasse relevante punkte der §§ – (Kritik der praktischen Vernunft) zusammen: eine genauere darstellung würde das thema sprengen.

Heilige Wesen – Lebewesen



nach einem notwendigen kriterium, (welches nach kants verständnis von notwendigkeit nur der reinen vernunft und nicht der erfahrung entstammen kann) zu entscheiden. dieser imperativ, von dem abgeleitet werden kann, muss für alle vernunftbegabten wesen als a priori gültig erkannt werden können, was bedeutet, dass er mit strenger notwendigkeit die gültigkeit eine handlungsregel zu bestimmen imstande ist und kategorisch eine handlung vorschreibt, unabhängig von der materie der überprüften handlungsregel. auf innerweltliche ziele gerichtete, bei kant auch als hypothetisch bezeichnete imperative, können nicht als kriterium dienen, da jedes der angestrebten ziele subjektiv und a posteriori bestimmt wird, wodurch keine strenge notwendigkeit gegeben sein kann. daher ist es bei solchen, auf empirische ziele bezogenen imperativen nicht möglich, ihre unabhängigkeit von der naturnotwendigkeit zu bestimmen. das von kant so genannte sittengesetz ist, seiner ansicht nach, die einzige formel, welche die geforderten kriterien erfüllt und uns die möglichkeit der überprüfung unserer handlungsregeln bietet: „handle so, dass die maxime deines willens jederzeit zugleich als prinzip einer allgemeinen gesetzgebung gelten könne!“ mit diesem ist es möglich, jede handlungsrichtlinie oder maxime, auf die gültigkeit ihrer logischen form und damit auf übereinstimmung mit der reinen praktischen vernunft zu überprüfen. eine nicht gültige maxime würde sich als allgemeine gesetzgebung selbst nach den prinzipien der logik widerlegen. somit kann der mensch durch das sittengesetz allein nach einer formel entscheiden, die nicht aus subjektiven, empirischen gegebenheiten konstruiert wurde. das vermögen eines vernunftwesens, sich nach diesem kriterium zu richten und dadurch handlungen auszuüben, die sich auf die erscheinungswelt auswirken, jedoch aus einer kausalität heraus entstehen, die nicht der erfahrung entstammt, bezeichnet kant als freiheit: „Jene unabhängigkeit aber ist freiheit im negativen, diese gesetzgebung aber der reinen, und als solche, praktischen vernunft, ist freiheit im positiven verstande.“ er stellt heraus, dass dieser imperativ, der die erkenntnis der freiheit als seiner voraussetzung ermöglicht, für den menschen ein ‚sollen‘ darstellt, da bei ihm als endlichem vernunftwesen nicht die vernunft allein den willen zu bestimmen imstande ist. immer wirken gleichzeitig sinnliche Einflüsse mit, die unterdrückt werden müssen und zu deren unterdrückung er durch den imperativ genötigt wird. der mensch muss sich somit durch seine Vernunft dazu zwingen, frei zu handeln, was nach Kants Definition von Freiheit keinen widerspruch bedeutet. der mensch ist wesentlich ein vernunftwesen, wenn auch ein endliches, daher verhilft er nach kant seinem wesen zu einer eigenen gesetzgebung.



  

der einwand, alle bösen handlungen seien nach kant unfrei, trifft meiner ansicht nach, zumindest im rahmen der Kritik der praktischen Vernunft nicht zu, da er lediglich darauf aufmerksam macht, dass wir ohne den imperativischen charakter des sittengesetzes nicht in der lage wären, unsere freiheit zu erkennen (immanuel kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Gesammelte Schriften, bd. , berlin 00, aa, ). ders., ebd., aa, 0. es gibt auch indifferente handlungsrichtlinien, die jedoch hier nicht von belang sind. immanuel kant, Kritik der praktischen Vernunft, aa, .

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Niklas Corall

. die „heiligen wesen“ Dennoch ist sein Wille jederzeit von der Sinnlichkeit affiziert und kann daher kein reiner wille sein. letzteren ungeteilten willen bezeichnet er in einem gedankenexperiment als einen „heiligen willen“, der allein durch die vernunft bestimmt wird. dieser muss nach kant als „das selbstbewusstsein der reinen praktischen vernunft“0 betrachtet werden. er ist „keiner dem moralischen gesetze widerstreitenden maximen fähig“. die handlungsform eines wesens dieses heiligen willens ist nicht dem sittengesetz unterworfen, sondern empfindet selbiges als sein Wollen und nicht, wie es dem Menschen erscheint, als imperativ. dadurch, dass dieses wesen reine vernunft ist, diese reine vernunft den willen nach einer eigenen gesetzgebung bestimmt, ist es nach kant absolut frei. diese, im Gedankenexperiment beschriebenen Wesen, welche einen nicht affizierten Willen besitzen und reine vernunftwesen sind, bezeichnet kant als „heilige wesen“. dadurch, dass das sittengesetz immer eine handlungsoption bietet, für die heiligen wesen gleichzeitig absolut konstitutiv ist, gibt es nur jeweils eine einzige möglichkeit für sie, einer situation zu begegnen. kant scheint im falle der heiligen wesen von einer freiheit auszugehen, welche keinerlei entscheidungsfreiheit beinhaltet. trotzdem nennt er die handlungsart heiliger wesen, wenn auch in form einer rhetorischen frage: „einerlei mit dem positiven begriff der freiheit“, also mit der eigenen gesetzgebung. das sittengesetz ist eine bereits bestehende ausformulierung des willens heiliger wesen und somit für jede handlung gleichzeitig bereits bestehend als auch notwendig bestimmend. eine komplette ausdeutung kommender entscheidungen und ein notwendig erfolgendes handeln fallen unter den begriff der freiheit als eigener gesetzgebung, eine bestimmung, die zunächst paradox erscheint.

. die lebewesen nietzsche bestimmt den menschen als ungeteiltes wesen. die art von trennung, welche kant zwischen vernunft und sinnlichkeit zieht, setzt nietzsche zu einem früheren zeitpunkt, in einer abgrenzung zwischen dem leben und der natur. während die natur in Jenseits von Gut und Böse als „indifferenz selbst als macht“ metaphorisch gedeutet wird (ksa, Jgb, , ), gibt er eine gegensätzliche beschreibung des lebens: „ist das nicht gerade ein anders-sein-wollen als diese natur ist?“ (ebd., ). das „leben selbst ist wille zur macht“ (ebd., ), nicht jedoch ist es der kosmos. die überspitzte darstellung der welt als „wille zur macht – und nichts ausserdem“ (ebd., ) wird bereits ein paar aphorismen vorher angekündigt. er spricht dort davon, dass man, mittels den naturwissenschaftlern ebenbürtiger und schlechter interpretationskunst, die welt ebenso gut als letzte konsequenz eines willens zur macht deuten könne, als sie den 0   

ders., ebd., aa, . ders., ebd., aa, . ders., ebd. zu bemerken ist, dass sie nicht fähig sein können, ihre eigene freiheit zu erkennen, wie es der mensch anhand des imperativischen charakters des sittengesetzes ist. ders., ebd., aa, .

Heilige Wesen – Lebewesen



naturgesetzen unterworfen zu verstehen (ebd., ). dass der wille zur macht jedoch an verschiedenen stellen mit dem leben gleichgesetzt wird, als die große vernunft des leibes (ksa, za, , ff.), dass er jedoch nicht als kosmologisches prinzip, welches vor dem leben steht, betrachtet werden darf, macht nietzsche im zarathustra deutlich: „der traf freilich die wahrheit nicht, der das wort nach ihr schoss vom ‚willen zum dasein‘: diesen willen – giebt es nicht! ‚denn: was nicht ist, das kann nicht wollen; was aber im dasein ist, wie könnte das noch zum dasein wollen! nur, wo leben ist, da ist auch wille: aber nicht wille zum leben, sondern, so lehre ich’s dich – wille zur macht!“ (ebd., f.). nietzsche trifft die unterscheidung zwischen natur und leben auf der basis des dynamischen charakters beider. damit macht er eine trennung, aufgrund derer er sein konzept des willens um die permanenz des werdens erweitern muss. aus diesem grund wählt er den begriff des ‚willens zur macht‘. frühere versionen, sei es die ‚entwicklung‘ in der Morgenröthe oder die ‚plastische kraft‘ in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben verliehen der lebensdynamik nicht eine steigerung in die permanenz. um nicht eine teleologische deutung auf einen endzweck dieser entwicklung zuzulassen, schließt Nietzsche die permanente Selbst-Überwindung dieses Lebenswillen mit in die Definition ein. ebenso schließt er seine setzung mit ein, dass nicht die lebenserhaltung das eigentliche leben bedeutet, sondern dass sich leben oft genug opfert – um macht (ebd., .). mit hilfe dieses konstruktes entsteht für nietzsche die möglichkeit, einer leib-seele problematik auszuweichen und die lebewesen als ungeteilte wesen zu deuten, als eine reine, „große vernunft“: „leib bin ich ganz und gar, und nichts außerdem; und seele ist nur ein wort für ein etwas am leibe. der leib ist eine grosse vernunft, eine vielheit mit einem sinne, ein krieg und ein frieden, eine heerde und ein hirt. werkzeug deines leibes ist auch deine kleine vernunft, mein bruder, die du ‚geist‘ nennst, ein kleines werk- und spielzeug deiner grossen vernunft“ (ebd., ). die seele wird bereits zu beginn von Jenseits von Gut und Böse begrifflich umgedeutet, wenn er andere metaphern für seele und subjekt, wie „gesellschaftsbau der triebe und affekte“ oder „subjekts-vielheit“ (ksa, Jgb, , ) vorschlägt. diese vielfalt nimmt er in aphorismus , in welchem er eine beschreibung des wollens gibt, zur grundlage. wollen selbst wird als „etwas complicirtes, etwas, das nur als wort eine einheit ist“ (ebd., ff.) beschrieben. innerhalb der willensbestimmung gibt es viele verschiedene zusammen- und gegeneinander wirkende kräfte. er geht davon aus, dass zum einen gefühle bei der willensbestimmung mitwirken, muskelbewegungen, jedoch auch ein „commandirender gedanke“, verbunden mit einem „affekt des commandos“ (ebd.). diesem affekt des commandos, der an früherer stelle als umschreibung des willens selbst herangezogen wird (ksa, fw, , ), lässt sich am ehesten mit schopenhauers Definition des Affekts nahe kommen, als einer „heftige[n], übermäßige[n] Regung des willens“. wenn dieser gedanke zum befehlen gelangt, also vom rest dieses gesellschaftsbaus „Mensch“ ausgeführt wird, empfinden wir dabei die „‚Freiheit des Willens‘ – das ist das Wort für jenen vielfachen Lust-Zustand des Wollenden, der befiehlt und sich zugleich mit dem ausführenden als eins setzt, – der als solcher den triumph über  

diese spekulative these, der ich noch eine zweite zur seite stellen möchte, ist nicht tragender bestandteil der argumentation und kann unabhängig von dieser betrachtet werden. arthur schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, .



Niklas Corall

widerstände mit geniesst, aber bei sich urtheilt, sein wille selbst sei es, der eigentlich die widerstände überwinde“ (ksa, Jgb, , ). im spätwerk nietzsches wird dies zugespitzt: in Ecce Homo, der mit dem untertitel Wie man wird, was man ist versehen wurde, beschreibt er, wie die „zur herrschaft berufne ‚idee‘“ zunächst im stillen zu befehlen und zu leiten beginnt und erst später „etwas von der dominirenden aufgabe, von ‚ziel‘, ‚zweck‘, ‚sinn‘ verlauten“ lässt (ksa eh, , ff.). der herrschende gedanke ebnet sich, je nach stärke, seinen weg. in der dritten abhandlung der Genealogieder Moral spricht nietzsche davon, dass der „dominirende instinkt“ seine forderungen durchsetzt (ksa gm, , ff.). unsere vorstellung von freiem als auch vom unfreien willen müssen dadurch als falsche verdinglichungen (ksa Jgb, , f.) verworfen werden. ein verlangen nach einem solchen freien willen ist für nietzsche bereits ein anzeichen von schwachem willen, während es ein zeichen starken willens ist, seinen weg, vom herrschenden gedanken vorgeschrieben, bis zum ende zu gehen und anderes diesem willen unterzuordnen (ebd.). in diesem kontext ist die formel amor fati sowohl als ausdruck höchster lebensbejahung im sinne des ‚werde, der du bist‘, als auch des starken willens zu verstehen. sein leben jedoch einem imperativ unterzuordnen, der von außen auferlegt worden ist, bedeute andererseits lebensverneinung. um die kompromisslosigkeit von nietzsches ansatz herauszustellen, möchte ich einen blick auf die handlungstheorie und vor allem auf die subjekttheorie werfen. während es bis zu diesem zeitpunkt wirkt, als wäre die handlung durch ein ich, ein persönliches subjekt zu bestimmen, macht nietzsche diese interpretation mit seiner beschreibung von gedanken als auch kräften und affekten gänzlich unmöglich. zunächst wird die cartesianische beweisführung des ‚cogito‘ von nietzsche mit dem hinweis darauf abgetan, „dass ein gedanke kommt, wenn ‚er‘ will, nicht wenn ‚ich‘ will; so dass es eine Fälschung des thatbestandes ist, zu sagen: das Subjekt ‚ich‘ ist die bedingung für das prädikat ‚denke‘“ (ebd., ). die Quelle dieser gedanken, bzw. man muss genauer davon sprechen, als denkprozesse an sich, wird als das leben selbst oder der wille zur macht verstanden. des weiteren wird über die metapher der adler und lämmer in der streitschrift Zur Genealogie der Moral ebenfalls die möglichkeit einer entscheidungsinstanz angezweifelt: „ein Quantum kraft ist ein eben solches Quantum trieb, wille, wirken – vielmehr, es ist gar nichts anderes als eben dieses treiben, wollen, wirken selbst, und nur unter der verführung der sprache (und der in ihr versteinerten grundirrthümer der vernunft), welche alles wirken als bedingt durch ein wirkendes, durch ein ‚subjekt‘ versteht und missversteht, kann es anders erscheinen“ (ksa, gm, , ). um es mit anderen worten zu beschreiben, sind wir nach nietzsche wie derjenige, „welcher aus seiner kammer tritt, in der minute, da die sonne aus der ihren tritt und sagt: ‚ich will, dass die sonne aufgehe‘“ (ksa, m, , ). diese, in der Morgenröthe beschriebene geisteshaltung ist tatsächlich diejenige, auf welche nietzsche im späteren gelangen wird, wenn er den menschen vor seinen fatalismus, den der ewigen wiederkehr stellt. nietzsche vertritt einen aktiven fatalismus, der im sinne von kants heiligen wesen als absolute freiheit des lebens und damit unseres wesens ausgelegt werden muss. Hierzu ist ein, vielleicht nicht zufällig begrifflich so gewähltes, „heiliges Ja-sagen“ (ksa, za, , ) von nöten, von dem nietzsche in den drei verwandlungen spricht. ebenso wie kant wählt er den begriff des heiligen. ob es eine direkte anspielung ist, sei dahingestellt.

Heilige Wesen – Lebewesen



. das heilige Ja-sagen und die fehlgeleitete doppelung inwiefern jedoch ist der freie wille bei nietzsche lediglich eine falsche verdinglichung und welche interpretationsmöglichkeiten für eine absolute freiheit bleiben? einen freien willen zu haben oder einen unfreien, ist nach nietzsche zunächst gleichermaßen mythologisch. „der ‚unfreie wille‘ ist mythologie: im wirklichen leben handelt es sich nur um starken und schwachen willen“ (ksa, Jgb, , ), schreibt er und versteht darunter eine spontane kraft, die nicht von einem subjekt gesteuert wird, sondern die das empfundene Subjekt erst konstituiert. Freier Wille ist die begriffliche Beschreibung des Gefühls, wenn der herrschende gedanke sein eigenes wirken erlebt. es ist eine weitere falsche verdinglichung, von einem determinismus oder einem ‚cartesianischen theater‘ der zeitgenössischen naturwissenschaft zu sprechen, da nietzsche eine sehr deutliche abgrenzung zwischen natur und leben vornimmt, von denen er letzterem eine dynamik zuordnet, die nicht kausal angestoßen wird, sondern dem entgegengesetzt, die träge materie zu seinem wirken benutzt. während wir zwar aus physikalischen bestandteilen zusammengesetzt sind, sind wir eine form des lebens. wir müssen uns mit nietzsche (und wie kants heilige wesen) gleichzeitig als dem leben gehorchend und selbst befehlend betrachten. „Ein Teil von uns gehorcht, ein anderer befiehlt, wir können uns mittels des synthetischen begriff ‚ich‘ darüber hinwegsetzen“ (ebd., ). innerhalb eines determinismus wäre der befehlende aus dem individuum herausgerissen und müsste an anderer stelle gesucht werden, wenn es ihn innerhalb der theorie überhaupt geben kann. wenn wir unserem willen folgen, unserem herrschenden gedanken, so ist gerade diese form der unterordnung des gesamtseelenbaus und der akzeptanz dieses, uns wesentlich ausfüllenden willens, die erfüllung unseres wesens, somit die entscheidung aus uns selbst heraus. die ansicht verführt zunächst zu einer fälschlichen grammatischen verdoppelung, einem rückfall in „die versteinerten grundirrthümer der vernunft“ (ksa, gm, , ), den ich anhand der heiligen wesen nachzeichnen, als auch mittels alternativer sichtweisen kants und nietzsches anfechten möchte. die absolute freiheit der heiligen wesen erscheint zunächst kontraintuitiv, da wir ihnen neben der tatsache, dass sie aus reiner vernunft bestehen, eine davon unabhängige entscheidungsinstanz hinzuinterpretieren wollen. das gefühl, die vernunft entscheide über den Kopf der heiligen Wesen hinweg, lässt uns die ‚heilige Entscheidungsfindung‘ als einen mangel an entscheidungsfreiheit erscheinen. nach nietzsches theorie und im sinne von kants reiner praktischer vernunft der heiligen wesen muss man sich gegen eine falsche doppelung des urhebers bewahren. nietzsche beschreibt die kraft bereits als wirken, ohne dass sie eines urhebers bedarf (ebd., f.). der wille, der den menschen bestimmt, ist das leben ‚in‘ ihm, er selber besteht aus nichts anderem, der subjektsbegriff löst sich daher in einen ‚gesellschaftsbau der triebe und affekte‘ auf und trifft nur dadurch eine eigene entscheidung, als sich die triebe ihrer stärke nach äußern. das leben, das über unseren kopf hinweg entscheidet, gibt es bei nietzsche nicht, da es sowohl das ‚untere als auch das obere begehrungsvermögen‘ gänzlich ausfüllt. 

‚wenn‘ der wille – zur macht kommt, um die zweite spekulative these über die entwicklung des begriffs des willen zur macht anzudeuten.



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die möglichkeit, die bei nietzsche zunächst nach einer freien willensentscheidung im heutigen sinn aussieht, sich gegen seinen weg zu wehren und daran zu grunde zu gehen, darf aber nicht als eine vom willen abgetrennte entscheidung genommen werden. nach nietzsche versucht in dieser situation ein wille, der durch unfähigkeit, über sich hinaus zu schaffen, sich nicht als lebensfähig erwiesen hat, sich durch eine ablehnung des lebens an das leben zu binden. noch facettenreicher wird die vermeintliche willensverneinung in der dritten abhandlung der Genealogie der Moral behandelt. man muss auch im sinn behalten, dass es verschiedene miteinander in konkurrenz stehende willen gibt, welche nicht nur innerhalb der eigenen seele, sondern ebenfalls im zusammenleben mit anderen Lebewesen Einfluss auf den individuellen Menschen auszuüben versuchen. somit lässt sich die entscheidung entgegen seinem willen mit einem sieg fremden willens gleichsetzen, welcher macht über die eigene person gewinnt und seine gesetzgebung durchsetzt: „dem, wird befohlen, der sich nicht selber gehorchen kann“ (ksa, za, , ). so drückt sich nietzsche durch zarathustra aus. die eigene gesetzgebung ist der weg der freiheit, die erfüllung des eigenen wesens wird kontrastiert mit der erfüllung anderer willen. das leben als ein experiment ist der ausdruck, den nietzsche dem dasein ohne objektive kriterien zugeteilt hat, ein ständiges suchen und versuchen. eine ständige suche nach dem, was man ist. dadurch ist kein weg vorgezeichnet, er offenbart sich jedoch, wenn er angetreten ist. der mensch entpuppt sich als „räthselrather und erlöser des zufalls“ (ebd., ). ein vorgedanke dieser aktiven form des fatalismus wird in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben beschrieben, wo er mittels des begriffs der ‚plastischen kraft‘ eine fähigkeit beschreibt, jeglichen zufall, jedes weltgeschehen seinem eigenen interpretationskontext unterzuordnen. als illustration der entscheidungsfreiheit bei nietzsche führt er in Also sprach Zara­ thustra die metapher der ewigen wiederkehr an. die welt zu verstehen als versteinertes werden, eine bereits getroffene entscheidung wieder zu treffen und sie dadurch für die ewigkeit zu bejahen, eine bejahung des gesamten kontextes seines eigenen lebens und eigenen willens, diese vorstellung ist es, die der wille zur macht erfordert, die jedoch durch den gedanken der ewigen wiederkehr fassbar wird und eine als sein begriffene welt ermöglicht. Jede entscheidung, als bereits getroffen zu bejahen, als wiederkehrend zu wollen und sich selbst als den knotenpunkt der zeit zu begreifen, ist die eigentliche absicht der ewigen wiederkehr und die eigentlich bereits im konstrukt des willen zur macht inbegriffene handlungstheorie. unter diesem verständnis kann zarathustra, anstatt solchen Fatalismus als belastend zu empfinden, seiner Seele zusprechen: „ich nahm von dir alles gehorchen kniebeugen und herr-sagen; ich gab dir selber den namen ‚wende der noth‘ und ‚schicksal‘. oh meine seele, ich gab dir neue namen und bunte spielwerke, ich hiess dich ‚schicksal‘ und ‚umfang der umfänge‘ und ‚nabelschnur der zeit‘ und ‚azurne glocke‘“ (ebd., ). die absolute freiheit nach nietzsche, auch wenn er sie selbst nicht so bezeichnen würde, besteht in der handlung nach dem eigenen willen zur macht, eine schlussfolgerung, die ohne die art und weise, in der er mensch und wille vorab bestimmt hat, als selbstverständlich gedacht worden wäre.

Heilige Wesen – Lebewesen



. aussichten obgleich dieser text mit mehr aufgeworfenen als beantworteten fragen zu schließen scheint, möchte ich an dieser stelle einen ausblick geben, wie die verknüpfung kants und nietzsches zur erschaffung eines theoretischen fundaments führen kann, von dem aus man im rahmen der freiheitsdebatte auf eine interessante position zwischen libertarianismus und determinismus kommt. gelingt es nämlich, die mit hilfe nietzsches dargestellte these, des aus dem mechanistischen naturkontext herausgehobenen lebewesens zu beweisen oder zumindest plausibel zu machen, so ergibt sich im rahmen der freiheitsdebatte ein fruchtbarer ansatz. der mensch, auf den nach dieser betrachtung dasselbe handlungsmodell angewandt werden kann, wie es kant für die heiligen wesen gebraucht, wäre zu einer eigenen gesetzgebung, unabhängig von der naturnotwendigkeit in der lage. gleichzeitig lässt sich die handlungsbestimmende instanz im jeweiligen subjekt suchen, weshalb man weder in die problematik eines ersten verursachers in einer kausal determinierten welt gerät, noch in einem überindividuellen prinzip wie der Vernunft eine individuelle Freiheit finden muss. Der Mensch muss nicht geteilt werden in gehirn und bewusstsein, sondern gerade die einheitlichkeit des menschenbildes bei nietzsche bietet die möglichkeit, über den begriff der interpretation durch den willen, den befehlenden und gehorchenden in einer person zu begreifen. eine weitere schwierigkeit, mit welcher der liberalismus zu kämpfen hat, ist die scheinbare unmöglichkeit, eine kausalität im handeln anzunehmen, welche nicht von der umwelt determiniert ist und dennoch nicht als zufällige handlung gewertet wird. nietzsche bietet über die willenskausalität einen dritten weg, welcher die übliche grammatische vorstellung von einer Aufspaltung der Handlung und Verursacher und Ausführenden auflöst. ein ansatz zur plausibilisierung dieser form der beschreibung könnte es sein, im rahmen von kants theorie die ewige wiederkehr des gleichen als möglichen kategorisch gebietenden imperativ zu betrachten, als einen a priori gegebenen „instinkt der freiheit“, wie nietzsche den willen zur macht in der genealogie nennt (ksa, gm, , ). dieser wendet sich zwar auf die materie an, muss jedoch nicht, wie kant jeglichen trieb beschreibt, erst durch die erfahrung ausgelöst werden, sondern stellt die grundlage für weiteres handeln dar, so er lieber noch das nichts will, als nicht zu wollen (ebd., ). für den also kein ziel als vorraussetzung bestehen muss, sondern der sich als dieser instinkt der freiheit seinen „weg zur macht, zur that, zum mächstigsten thun“ (ebd., 0) selbst suchen muss. insofern ist es ein reizvoller weg, nietzsches bild der ewigen wiederkehr zu einem kategorisch gebietenden imperativ umzufunktionieren. wesentlich schwieriger, allerdings lohnender, erscheint die möglichkeit, einen nachweis zu versuchen für eine form der interpretation, die der materie vorgeschaltet sein muss und die (ebenso wie die kantischen anschauungsformen a priori) die eigentliche erkenntnis erst ermöglicht. der ansatz lässt sich am ehesten über theorien der phänomenologie und dort besonders über das bewusstseinsmodell des frühen Jean-paul sartres 

wie schwerwiegend die unterscheidung sein kann, zeigt die argumentation galen strawsons, wenn er darlegt, die suche nach einem ultimativ verantwortlichen akteur bringe kein ergebnis und glaubt, den begriff als unmögliche forderung bewiesen zu haben (galen strawson, Bounds of Freedom in: robert h. kane, The Oxford Handbook of Free Will, oxford 00).



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erfahren, der aufzeigt, wie bewusstsein und welt immer gleichzeitig gegeben sein müssen. schafft man es, den begriff des bewusstseins, der bei sartre gleichzeitig passiv als auch spontan sein muss, über das willensmodell nietzsches zu fundieren und ihm eine plausible dynamik zu verleihen, besteht eine gute möglichkeit aus der hier vorgenommen verbindung zweier zunächst unterschiedlicher theorien eine auf die stärken beider basierende freiheitstheorie aufzubauen.

iv. aufsätze

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philosophieren im widerspruch zur philosophie

. ein künstler als philosoph Trotz periodisch aufflackernder Zweifel gehört Friedrich Nietzsche zu den großen Denkern. Auch wenn sein Werk in fast allem unfertig geblieben ist, obgleich sich viele seiner Gedanken in einer exaltierten Geste erschöpfen und es in seinen Schriften kaum eine Einsicht gibt, die sich nicht schon bei anderen findet, ist er zum Klassiker der Philosophie geworden. Während man noch schwankt, ob sich in ihm das 19. Jahrhundert in großartiger Verzerrung spiegelt oder ob er es bewusst karikiert, ist sein Werk längst ein fester Bestandteil der philosophischen Tradition. In wenigen Jahrzehnten seiner Wirkungsgeschichte wandelte sich der Provokateur zum Kanoniker, dem Zeitschriften, Buchreihen, Forschungseinrichtungen und wissenschaftliche Vereinigungen ihren Namen verdanken. Wer nach tiefen Einsichten ins menschliche Dasein, nach pointierter Zeit- und Problemdiagnostik, nach Höhepunkten humaner Selbstdarstellung oder auch nur nach einem Werturteil über das Philosophieren sucht, der kommt um Nietzsche nicht herum. Er ist der moderne Klassiker par excellence. Doch wie hoch man seinen Wert als einen gegen alles Klassische revoltierenden Klassiker der Philosophie auch ansetzt: Eine Ausnahme bleibt Nietzsche durch seinen Anspruch, nicht nur als Künstler zu wirken, sondern selbst eine Art Kunstwerk zu sein. In der Linie der Wirkung durch das Werk hat er in Platon, Seneca, Alighieri Dante, Voltaire, Jean-Jacques Rousseau oder Friedrich Schiller große Vorläufer. Mit Blick auf die künstlerische Form seines eigenen Daseins aber ist er singulär: Sein ästhetischer Wille ist nicht allein auf sein musikalisches, poetisches, prophetisches und aphoristisches Schaffen bezogen. In seinem Werk soll vielmehr die Ästhetisierung seiner eigenen Existenz zum Ausdruck kommen. Darin liegt Nietzsches romantisches Erbe. Er nimmt den Impuls von Novalis, Friedrich Hölderlin und George Lord Byron auf und ist Søren Kierkegaard, von dem er vermutlich gar nichts weiß, besonders nahe. Die Romantik ist die große Wasserscheide des europäischen Denkens. Sie trennt die Zeit zwischen zweitausendfünfhundert Jahren wissenschaftlicher Aufklärung und der gesuchten Kultur einer säkularen Einheit von Leib und Gefühl. Nietzsche ist der erste, der daraus eine epochengeschichtliche Konsequenz zu ziehen versucht.

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In dieser Absicht versucht er seinem Leben selbst eine künstlerische Form zu geben. Dabei orientiert er sich nicht an einer in sich geschlossenen Komposition eines einzelnen Werkes. Es ist weder das Bild noch die Skulptur, weder die Symphonie noch die dramatische Dichtung. Ihn interessiert der Prozess des tragischen Geschehens, so wie es im Wechselspiel zwischen dem Protagonisten der attischen Tragödie und dem Chor in immer neuen Konfigurationen zum Ausdruck kommt. Nietzsche ästhetisiert den Gegensatz zwischen dem Individuum und der Menge zu einem hermetischen Geschehen, in dem sich das Individuum zur Höchstform steigern kann, um darin notwendig zu scheitern. Aufbau und Zerfall, Werden und Vergehen führen zu einem Rhythmus der Wiederkehr, in der sich nicht nur das Leben, sondern auch die Bildung von Kulturen vollzieht. Entscheidend ist dabei nicht das Ende, sondern die erlebte Steigerung und Verschwendung der Kräfte im geschichtlichen Akt. Der Darstellung dieser Bewegung ist sein erstes Werk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) gewidmet. Der Titel dieses Buches könnte der Taufspruch des Philosophen Nietzsche sein, der an die Stelle der ihm ursprünglich vertrauten Choral- und Orgelklänge die Musik Richard Wagners setzen möchte.

2. Leben und Werk Friedrich Wilhelm Nietzsche wurde am 15. Oktober 1844 in Röcken bei Leipzig geboren, wo 1813 schon sein Vater, Carl Ludwig Nietzsche, zur Welt gekommen war. Vater und Mutter entstammten einer Dynastie protestantischer Pfarrer, und es galt als ausgemacht, dass der hochbegabte Sohn die theologische Laufbahn einschlägt. Während seiner Schulzeit in Naumburg und in Schulpforta wird er anerkennend ‚der kleine Pastor‘ genannt. Sein erstes Studienfach im Sommer 1865 ist die Theologie. Doch schon nach dem ersten Semester in Bonn folgt er dem angesehenen Gräzisten Friedrich Wilhelm Ritschl nach Leipzig und wirft sich mit ganzer Energie auf das Studium der Philologie. Hier zeigt er so beachtliche Leistungen, dass er vor Abschluss seines Studiums als Professor für Klassische Philologie nach Basel berufen wird. Für die Dissertation, die er nicht mehr zu schreiben braucht, hatte er eine philosophische Untersuchung über Immanuel Kants Theorie des Lebens erwogen. Seit dem Sommer 1869 lebt und lehrt Nietzsche in Basel. Vor einem kleinen Kreis von Schülern hält er Vorlesungen über griechische Philosophie, Rhetorik und Literatur, die heute in der zweiten Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe seiner Werke (KGW) nachzulesen sind. Seine Antrittsvorlesung und die Vortragsreihe über Die Zukunft der deutschen Bildungsanstalten lassen erkennen, dass der junge Professor über sein Fachgebiet hinauszuwirken versucht. Das belegt auch sein nach der missglückten Teilnahme am deutsch-französischen Krieg geschriebenes erstes Buch Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Es ist eine Programmschrift zur Erneuerung der Kultur im Geiste Wagners, den Nietzsche durch Rückgang auf das frühe griechische Denken zu überbieten sucht. Die fast einhellige Ablehnung der Tragödien-Schrift durch die altphilologischen Kollegen erleichtert Nietzsche den Entschluss, die akademische Lehre durch eine offensive kulturpolitische Publizistik zu ergänzen. Durch sie will er seinen Zeitgenossen einen neuen Weg in die Zukunft weisen. In dieser Absicht schreibt er vier Unzeitgemäße Betrach­

Philosophieren im Widerspruch zur Philosophie



tungen (1874/76) und sein erstes Aphorismenbuch Menschliches, Allzumenschliches (1878), dem wenig später die Vermischten Meinungen und Sprüche (1879) sowie Der Wanderer und sein Schatten (1879) folgen. Bereits im Jahr danach erscheint eine weitere Sammlung kunstvoll arrangierter Aphorismen unter dem Titel Morgenröthe. Mit diesen Büchern vollzieht Nietzsche den Schritt zum philosophischen Schriftsteller, der sich in die Tradition der antiken Sentenzenliteratur und der französischen Moralisten stellt, um im Anschluss an Voltaire, Georg Christoph Lichtenberg und Johann Wolfgang Goethe (aber auch im Geist der romantischen Fragmentariker) eine radikalpsychologische Aufklärung zu betreiben. Schon während der Schulzeit war Nietzsches Gesundheit labil. In den Baseler Jahren verschlechtert sie sich derart, dass er mehrfach Zwangspausen einlegen muss und sich 1879 genötigt sieht, seinen Abschied von der Universität zu nehmen. Ausgestattet mit einer bescheidenen Pension führt er von da an ein ruheloses Leben, das ihn zwischen Orten in der Schweiz, Frankreich und Italien pendeln lässt, stets auf der Suche nach einem Klima, das ihm zu arbeiten erlaubt. Oft verbringt er die Sommermonate im Engadin, um im Winter in immer neuen Quartieren an der französischen und italienischen Riviera Erleichterung von seinen schweren Migräneanfällen zu suchen. Seine gewaltige literarische Produktion in den Jahren bis zu seinem Zusammenbruch im Januar 1889, lässt erkennen, dass seine gesundheitlichen Probleme auch damit zusammenhängen, dass er unablässig arbeitet. 1882 veröffentlicht Nietzsche eine umfangreiche Aphorismensammlung unter dem programmatischen Titel Fröhliche Wissenschaft. Zum Ton des Aufbruchs und der Hoffnung, der die Morgenröthe bestimmte, kommt der Wunsch nach Heiterkeit, der schon die Romantiker mit ihrer Erinnerung an den ‚lachenden Philosophen‘ der Antike, Demokrit, beseelte. Zwischen 1883 und 1885 folgen die vier Bücher von Also sprach Zarathustra. Für 1886 verordnet er sich eine Pause, veröffentlicht aber dennoch Jenseits von Gut und Böse und unmittelbar anschließend Zur Genealogie der Moral. 1887 bereitet er die Auseinandersetzung mit dem zeitweiligen Weggefährten Wagner vor, mit dem er sich 1876 überworfen hatte und der 1886 gestorben war. Der Fall Wagner erscheint Anfang 1888, Nietzsche contra Wagner, reagiert auf die Kritik an seiner Kritik und wird 1889 veröffentlicht. In der Hauptsache aber ist Nietzsche mit einem Werk beschäftigt, das den Titel Der Wille zur Macht tragen soll. Im Sommer 1888 entscheidet er sich gegen eine Publikation und verwendet einen Teil der umfangreichen Notizen für die Götzen­Dämmerung (1889) und den Anti­Christ (1890). Im September verlässt Nietzsche Sils-Maria ein letztes Mal, entkommt mit knapper Not einer Flutkatastrophe am südlichen Alpenrand und wirft in Turin das autobiographische Monument Ecce homo (1890) auf’s Papier. Schon dabei mehren sich die Anzeichen einer maßlosen Überschätzung der eigenen Kräfte. Er fordert den deutschen Kaiser zum Krieg heraus, proklamiert ein neues Zeitalter und schreibt Briefe, die einen bedenklichen Realitätsverlust erkennen lassen. Er unterschreibt mit ‚Phönix‘, ‚Nietzsche Caesar‘ oder mit ‚Dionysos – der Gekreuzigte‘, und kann offenkundig zwischen sich und seiner Kunstfigur Zarathustra nicht mehr unterscheiden. Als Jacob Burckhardt am 6. Januar 1889 eine offenbar vom Wahnsinn diktierte Karte Nietzsches erhält, alarmiert er den bereits höchst besorgten Freund Friedrich Overbeck, der umgehend nach Turin reist, wo Nietzsche am 3. Januar auf der Piazza Carlo Alberto bei dem



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Versuch, ein Pferd zu umarmen, weinend und offenkundig geisteskrank zusammengebrochen war. Seit dem Zusammenbruch in Turin lebt Nietzsche in geistiger Umnachtung. Die Diagnose der Ärzte lautet auf progressive Paralyse, auf einen unaufhaltsam fortschreitenden Abbau der Hirnfunktionen, vermutlich infolge einer lange Jahre latenten syphilitischen Infektion. Der geisteskranke Nietzsche verbringt zunächst einige Monate in psychiatrischen Anstalten in Basel und Jena. Danach übernimmt die Mutter aufopferungsvoll die Pflege. 1894 kehrt die inzwischen verwitwete Schwester Elisabeth aus Paraguay zurück und drängt sich in die Angelegenheiten des Kranken. Mit sicherem Instinkt für den wachsenden Ruhm ihres Bruders setzt sie sich als seine langjährige Vertraute in Szene, gründet ein Nietzsche­Archiv und betreibt mit großem Geschick die Publikation der Bücher. Nach dem Tod der Mutter 1897 übernimmt Elisabeth Förster-Nietzsche die Regie über die Pflege des immer mehr in Dumpfheit versinkenden Bruders. Es gelingt ihr, sich in den Besitz aller Autorenrechte an Nietzsches Schriften zu bringen. Aus dem Verkauf der Bücher verfügt sie alsbald über beachtliche finanzielle Mittel und siedelt nach Weimar über. Dort lebt sie in großem Stil, lässt ein Haus von Henry van de Velde bauen und betreibt einen makabren Kult mit dem Kranken, der von alledem offenbar nichts mehr wahrnimmt und am 25. August 1900 stirbt. Zu diesem Zeitpunkt ist Nietzsche längst zu einer Symbolfigur der europäischen Literatur geworden. Zu seiner Tragik gehört, dass der kometenhafte Aufstieg durch die Fama seiner Krankheit begünstigt wird.

3. Die Frage nach dem Wert und Sinn des Lebens Der Behauptung, Nietzsches Denken sperre sich gegen eine systematische Ordnung, weil es zu vielfältig, sprunghaft und widersprüchlich sei, lässt sich schwerlich widersprechen. Dennoch erkennt man leitende Interessen, wiederkehrende Motive und dominierende Fragen. So ist es möglich, die erste Phase seines philosophischen Denkens, die mit den ersten Baseler Vorträgen und der Geburt der Tragödie beginnt und die mit der Morgen­ röthe endet, unter die Leitfrage nach Wert und Sinn des Daseins zu stellen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens nimmt älteste Motive des metaphysischen Denkens auf. Doch vom ‚Wert‘ und ‚Sinn‘ ist ausdrücklich erst im ausgehenden 18. Jahrhundert die Rede. ‚Wert‘ ist ein Karrierebegriff aus der Nationalökonomie, ‚Sinn‘ kommt mit der durch Kant inaugurierten anthropologischen Wende in Umlauf und findet bei Schiller, Arthur Schopenhauer, Kierkegaard und Ludwig Feuerbach Verwendung. Eugen Dühring macht 1863 den Versuch einer monographischen Antwort auf die Frage nach dem ‚Wert des Lebens‘. Dass Nietzsche sich in seinem eigenen Zugang allen populären Erwägungen entzieht, macht seine Antwort klar, die sich im 9. Abschnitt der zweiten Un­ zeitgemäßen Betrachtung findet. In ihr zieht sich die metaphysische Reichweite der Frage nach der ‚Welt‘ auf den Punkt einer existenziellen Sinnfrage des ‚Ich‘ zusammen: „Wozu die ‚Welt‘ da ist, wozu die ‚Menschheit‘ da ist, soll uns einstweilen gar nicht kümmern […] aber wozu du Einzelner da bist, das frage dich“ (KSA, HL, 1, 319). Es liegt in der Konsequenz dieser Wendung zum individuellen Ich, dass Nietzsche keine allgemeine Antwort geben kann, sondern nur eine, die auf das Ich, genauer: auf sein Ich, also auf ihn persönlich bezogen ist. Das muss man bedenken, wenn man seine

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auf ein generelles Du bezogene Antwort liest: „wozu du Einzelner da bist, das frage dich, und wenn es dir Keiner sagen kann, so versuche es nur einmal, den Sinn des Daseins gleichsam a posteriori zu rechtfertigen, dadurch dass du dir selber einen Zweck, ein Ziel, ein ‚Dazu‘ vorsetzest, ein hohes und edles ‚Dazu‘. Gehe nur an ihm zu Grunde – ich weiss keinen besseren Lebenszweck als am Grossen und Unmöglichen […] zu Grunde zu gehen“ (ebd.). Nietzsches Antwort auf die Frage nach dem Sinn hat somit zwei Teile: Im ersten rät sie dem Einzelnen von jedem apriori vorgegebenen Sinn (weil ohnehin nicht erkennbar) abzusehen, und sich eigene Ziele zu setzen. Diese individuellen Ziele sollen ‚hoch‘ und ‚edel‘ sein, sie sollen dem Einzelnen sein Bestes abverlangen. Im zweiten Teil reflektiert Nietzsche auf die Folgen des selbst gesetzten Daseinssinns für die Welt. Dabei bleibt er bei seiner Prämisse, dass es einen vorgegebenen Sinn nicht geben kann. Wenn aber die ‚Welt‘ an sich keinen Sinn enthält, kann auch vom eigenen Sinn nichts übrig bleiben. Also muss selbst das ‚Große‘ einer Tat zu Grunde gehen. Damit ist das Muster vorgegeben, nach dem Nietzsche die Fragen nach dem Sinn der Kultur, der Geschichte, der Wissenschaft, der Moral und der Kunst exponiert: Er leugnet die üblichen Selbstverständlichkeiten, bestreitet, dass es eine allgemein verbindliche Antwort gibt, und fordert in allem die Produktivität des Einzelnen heraus. Das hat heroische Züge, muss aber, weil es nichts in der Welt oder in einer Sache liegendes gibt, das den Aufwand lohnt, zur Destruktion aller gewohnten Ansichten führen. Nietzsche entlarvt und demaskiert und führt mit den vorherrschenden Lehrmeinungen der Philosophie auch die alltäglichen Überzeugungen auf triviale Motive zurück. ‚Selbsterhaltung‘, ‚Trägheit‘, ‚Schwäche‘ oder ‚Eitelkeit‘ werden als Motive umso lieber genannt, je größer das gesellschaftliche Ansehen der destruierten Meinungen ist. – Seit Menschliches, All­ zumenschliches nimmt er den Titel eines ‚Psychologen‘ für sich in Anspruch und bekennt sich zum Programm einer radikalen Aufklärung, für die er René Descartes und Voltaire als Zeugen anruft. Dabei stellt er auch die Aufklärung selbst in Frage und hält es für möglich, dass Verstand und Vernunft nur Instrumente der Selbsttäuschung des Menschen sind. Sogar die Wahrheit gibt er für eine Form der Lüge aus. Das ist erheblich, weil Nietzsches Kritik ohne den Anspruch, zutreffend und begründet zu sein, jede Bedeutung verliert. Zumindest für sich selbst und für seine Leser nimmt er Aufklärung, Vernunft und Wahrheit in Anspruch. Tatsächlich beruft er sich mit der Wende zum Menschlich, Allzumenschlichen immer wieder auf große Aufklärer von der griechischen Sophistik bis hin zur europäischen Moralistik. Gorgias, Protagoras, François de La Rochefoucault und Voltaire werden mehrfach genannt. Umso stärker tritt die Diskrepanz zwischen seinen intellektuellen Prämissen und den affektiven Konsequenzen seiner Botschaft hervor. Die Selbstwidersprüche, in die er auf diese Weise gerät und die den philosophischen Ertrag seiner Kritik beträchtlich schmälern, ändern gleichwohl nichts am Unterhaltungswert seiner Aphorismen. Sie sind scharfsinnig und geistvoll und haben nicht nur der Literatur und den bildenden Künsten, sondern auch der Psychologie, in Sonderheit der Psychoanalyse Sigmund Freuds bis heute nachwirkende Anregungen gegeben. Man versteht die Art, in der Nietzsche seine Wert- und Sinnfragen stellt, aber nur, wenn man das schon vor der Ernüchterung von Menschliches, Allzumenschliches ins Spiel gebrachte Kräftepaar in Rechnung stellt, aus dessen Gegensatz er die Dynamik der griechischen Kultur zu erklären sucht: Alle mit einem Sinn verbundene geschichtliche Bewegung stammt aus dem Gegeneinander einer produktiv gestaltenden Macht,

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die Formen schafft und in sich sinnvolle Einheiten des Erlebens ermöglicht, sowie einer destruktiven Gegenmacht, die alles wieder zerstört. Die bildende Kraft nennt Nietzsche ‚apollinisch‘, der lustvolle Trieb zur Vernichtung gegebener Sinneinheiten wird ‚dionysisch‘ genannt. Beide sich lustvoll überbietenden Kräfte schaffen im Wechselspiel ihres Widerstreits die epochalen Leistungen der Kultur. In den ersten Abschnitten der Geburt der Tragödie stellt Nietzsche die dynamische Polarität apollinischer und dionysischer Kräfte nach Art einer Dialektik dar, die in Aufbau und Zerstörung unablässig Neues erzeugt. Es ist der Kampf der beiden gegensätzlichen Prinzipien, der den frühen Griechen die rasche Entwicklung vom einfachen Lied, zur kunstvollen Poesie und schließlich zur alles umfassenden Kunst der Tragödie ermöglicht. Da er die Beschreibung nicht auf die griechische Kulturgeschichte beschränkt, stellt er mit der Dialektik eine Art Bewegungsgesetz der Geschichte auf, das er auch später wiederholt dem Modell eines kontinuierlichen Anstiegs kultureller Leistungen entgegen stellt. Er möchte in Zyklen und vor allem in Renaissancen denken, nicht aber in der Linearität eines unaufhaltsamen Fortschritts. Gleichwohl bleibt er Hegels Geschichtskonstruktion nahe, weil er im Wechsel von Aufbau und Zerstörung einen, wenn auch nicht näher bezeichneten Gewinn annimmt. Auch Dionysos und Apoll werden für einen Fortschritt in Anspruch genommen, der im Aufstieg vom einfachen Gesang zur stilisierten Dramatik der Chormusik offensichtlich ist. Auf diese Weise ergreift auch Nietzsche Partei für die sinnstiftende Macht Apolls. Schließlich soll jede Destruktion bessere Bedingungen für ein opulenteres Wachstum schaffen. Doch diese Erwartung auf eine fortgesetzte Steigerung der Kräfte nach einem zwischenzeitlichen Verfall gesteht er sich nicht ein. Deshalb gelingt es ihm auch nicht, das historische Geschehen nach dem Niedergang der Tragödie angemessen zu erfassen – ganz abgesehen davon, dass er die politischen Faktoren, die mit dem Ende der griechischen Stadtkultur verbunden sind, unberücksichtigt lässt. Nietzsche schiebt die Schuld am Verfall der Tragödie einem einzigen Menschen zu, gegen den er die schwersten Vorwürfe erhebt, den er aber im gleichen Atemzug als Retter des Menschengeschlechts verklärt. Gemeint ist Sokrates, der die Dialektik beider Kunstgottheiten durchbricht, ohne ein Jünger des Dionysos zu sein. Wegen seiner angeblich nur durch seinen Verstand erbrachten Zerstörungstat wird er von Nietzsche geächtet. Da aber Sokrates durch seine Liebe zur Weisheit, zur Wahrheit und zum Wissen immerhin erreicht, dass sich die Menschheit bis auf das Jahr 1872 nicht der Verzweiflung überlassen hat (und daher noch am Leben ist), wird er, trotz seines Vergehens gegen die Tragödie, wie Nietzsche sagt, zum ‚Wirbel und Wendepunkt‘ der Weltgeschichte. Will man Nietzsches paradoxe Antworten auf die Sinnfragen, die er in den achtziger Jahren zu geben versucht, verstehen, hat man sein widersprüchliches Verhältnis zu Sokrates in den Blick zu nehmen.

4. Das verleugnete Vorbild des Sokrates Sokrates, den Nietzsche in seinen Baseler Vorlesungen wiederholt respektvoll als Gründer des philosophischen Denkens schildert, wird in der Geburt der Tragödie als eine Elementargewalt des theoretischen Denkens vorgeführt, der alles Lebendige zum Opfer fallen muss. Er sei, so heißt es, eine „wahre Monstrosität per defectum“, dem die Mensch-

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heit zwar die Theorie verdanke, aber mit der Theorie auch den Verlust ihrer produktiven Lebendigkeit. Deshalb wundert es nicht, dass sich Nietzsche auch später immer wieder abfällig über Sokrates äußert: Er sei der „weiseste Schwätzer, den es gegeben hat“ (KSA, FW, Aph. 340, 3, 569), ein „Gassen-Dialektiker“ (KSA, MA-1, Aph. 433, 2, 282), ein Weiser „voller Schelmenstreiche“ (KSA, WS, Aph. 88, 3, 592). Immerhin wird ihm der Ehrentitel eines „freien Geistes“ verliehen (KSA, MA-1, Aph. 437, 2, 284), und es bleibt bewusst, dass er ein „Zweifler“ und „Neuerer“ ist (KSA, M, Aph. 116, 3, 108). Die Anerkennung, die in diesen Äußerungen noch mitschwingt, verliert sich in den späten Schriften ganz. Sokrates wird nun zum „pessimistischen Maulwurf“ (KSA, JGB, Aph. 208, 5, 137), zum Advokaten des „Heerden-Instinkts“ (ebd., Aph. 202, 5, 124), zum „Plebejer“ (ebd., Aph. 191, 5, 112) zum „Pöbelmann“ (ebd., Apoh. 212, 5, 146), ohne Rücksicht darauf, dass Sokrates als Bildhauer immerhin ein geachtetes Handwerk gelernt hat. Schließlich verliert Nietzsche jede Hemmung, sieht im Scharfsinn des Sokrates eine „Rachitiker-Bosheit“ (KSA, GD, 6, 69), vermutet in der Dialektik „nur eine Form der Rache“ (ebd., 70), nennt ihn einen „Hanswurst“ und „unanständig“ obendrein (ebd.) und fragt – so als sei die Antwort sicher: „War Sokrates ein typischer Verbrecher?“ Gegenüber einem zu Unrecht zum Tode verurteilten Bürger, der sich an die Gesetze seiner Vaterstadt gehalten hat, ist das eine Bosheit ersten Ranges. Und dennoch ist Nietzsches Urteil über Sokrates von tiefer Bewunderung geprägt: Wie eine „Naturgewalt“ sei er über die Griechen hereingebrochen und habe mit den „allergrössten instinctiven Kräften“, aus „göttlicher Naivetät und Sicherheit“ heraus alles in seinen Bann gezogen. Das durch ihn in Gang gesetzte „ungeheure Triebrad des logischen Sokratismus“ hat nach Nietzsches Urteil keineswegs nur die Helle des Bewusstseins, sondern habe auch „etwas durchaus Räthselhaftes, Unrubricirbares, Unaufklärbares“ verbreitet (KSA, GT, 1, 90f.). Nietzsche zählt lauter Eigenschaften auf, die er selber schätzt und die der Behauptung widersprechen, Sokrates sei eigentlich nicht mehr als eine „Superfötation“ seines Gehirns. Es ist im Gegenteil so, dass auch Sokrates über ein beachtliches dionysisches Potential verfügt. Doch da er nach Nietzsches Invektiven nicht mehr als ein hochgezüchteter Verstand gewesen sein soll, muss es als umso erstaunlicher gelten, welche weltgeschichtliche Leistung ihm ausgerechnet von seinem schärfsten Kritiker zugeschrieben wird, eine Leistung, die keineswegs nur destruktiv genannt werden kann. Denn Nietzsche macht Sokrates zum Ahnherrn der welthistorischen Kehre zur wissenschaftlichen Kultur! Er nennt ihn mit der Lust an jenem Gegensatz, den er selber aushalten möchte, einen „Mystagogen der Wissenschaft“; Sokrates soll die „Universalität der Wissensgier“ erzeugt haben (ebd., 99), in deren Folge die Wissenschaft zur alles andere beherrschenden Macht werden konnte. In seinem Leben und Sterben habe Sokrates die „Universalität“ exemplarisch gemacht, die erst von da an als „ein gemeinsames Netz des Gedankens über den gesammten Erdball, ja mit Ausblicken auf die Gesetzlichkeit eines ganzen Sonnensystems, gespannt wurde“ (ebd., 100). An diese Schilderung, in der Sokrates als Denker der Globalität (um nicht zu sagen: der Globalisierung) erscheint, knüpft Nietzsche die Schlussfolgerung: „wer dies Alles, sammt der erstaunlich hohen Wissenspyramide der Gegenwart, sich vergegenwärtigt, der kann sich gar nicht entbrechen, in Sokrates den einen Wendepunkt und Wirbel der sogenannten Weltgeschichte zu sehen“ (ebd.). Das Erstaunliche an dieser Diagnose ist, dass Nietzsche die geradezu schicksalhafte Notwendigkeit der epochalen Kehre anerkennt.

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Und man braucht nur zu zitieren, um kenntlich zu machen, dass Sokrates hier nicht mehr und nicht weniger als die Rettung der Menschheit inauguriert: „Denn [so schließt Nietzsche an die These von Sokrates als dem „Wendepunkt und Wirbel“ der Weltgeschichte an – V. G.] dächte man sich einmal diese ganze unbezifferbare Summe von Kraft, die für jene Welttendenz [der sokratischen Erkenntnis – V. G.] verbraucht worden ist, nicht im Dienste des Erkennens, sondern auf die praktischen d. h. egoistischen Ziele der Individuen und Völker verwendet, so wäre wahrscheinlich in allgemeinen Vernichtungskämpfen und fortdauernden Völkerwanderungen die instinctive Lust zum Leben so abgeschwächt, dass, bei der Gewohnheit des Selbstmordes, der Einzelne vielleicht den letzten Rest von Pflichtgefühl empfinden müsste, wenn er, wie der Bewohner der Fidschi-Inseln, als Sohn seine Eltern, als Freund seinen Freund erdrosselt: ein praktischer Pessimismus, der selbst eine grausenhafte Ethik des Völkermordes aus Mitleid erzeugen könnte“ (ebd.). Sokrates ist also eine „Welttendenz“. Hätte es ihn nicht gegeben, hätte er nicht dafür gesorgt, dass die destruktiven Energien der Menschheit durch Erkenntnis und Wissenschaft absorbiert werden, bliebe nichts anderes übrig als den Tod dem Leben vorzuziehen. Denn der „Pesthauch“ des Lebens wäre unerträglich (ebd.). So ist Sokrates, wohlgemerkt: allein durch die Widersprüche, die er hervorzubringen und auszuhalten vermochte, zum Retter der menschlichen Kultur geworden. Wäre Nietzsche an der Erhaltung der Kultur nicht interessiert, hätte man ein plausibles Motiv für seine anhaltende Kritik an der historischen Gründerfigur des Philosophierens. Da er aber an nichts mehr Anteil nimmt als an der Zukunft der Kultur, ist seine Opposition gegen Sokrates schwer verständlich zu machen. Die Schärfe seiner Ablehnung erklärt sich auch nicht daraus, dass er, Nietzsche, die Kultur mit anderen Mitteln retten und ihr neue sinnlich-ästhetische Impulse geben will. Denn er muss zugestehen, dass Sokrates keineswegs ohne affektive Triebkräfte ist und dass er als ‚Mystagoge‘ auch über poetische Energien verfügt, die ihn fähig machen, an den Grenzen des Denkens zur mythischen Rede überzugehen. Außerdem weiß der junge Nietzsche die Leistung Platons zu schätzen, der seinem Lehrer Sokrates auch durch ästhetische Mittel die denkbar größte Wirksamkeit verleiht. Was also kann man zur Erklärung der scharfen Abgrenzung gegenüber Sokrates vorbringen? Wohl nur die Tatsache, dass sich in Nietzsches Angriffen jener „Sado-Masochismus an sich selber“ äußert, in dem die hellsichtigste Person aus seinem Freundeskreis den dominanten Zug dieses Denkers erkannt hat. Nietzsche grenzt sich von sich selber ab. Er will nicht zugeben, dass er ist, wer er ist. Im Kampf gegen Sokrates wehrt er sich gegen seine eigene Rationalität, über die er in der Tat in einem hohen Maß verfügt, die aber seinem Verlangen nach einer ästhetischen Revolution der Kultur zuwiderläuft. Er will Künstler sein und geht vornehmlich aus diesem romantisch eingefärbten, aber nichts desto weniger existenziellen Anspruch auf Distanz zur bloßen Theorie. In dieser Absicht stilisiert er Sokrates zum ersten „theoretischen Menschen“, der das zerstört, was die Menschheit einzig retten kann: nämlich die Kunst. Dennoch ist Sokrates ein „Wirbel und Wendepunkt“ der Weltgeschichte. Da Nietzsche, zusammen mit seinem „Vorkämpfer“ Wagner, selbst ein solcher Wirbel sein und die Gegenwende herbeiführen möchte (ebd., 

Lou Andreas-Salomé, Friedrich Nietzsche in seinen Werken (1894), neu herausgegeben mit Anmerkungen von Thomas Pfeiffer, Frankfurt am Main 2000.

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24), kommt es, trotz der betonten Differenz, zur Identifikation mit dem alten Weisen. Und die ist auch darin begründet, dass er sich ihm im durchdringenden Scharfsinn, in der Lust an der Kritik sowie in der Neigung zur Ironie verwandt fühlt. Diese psychologische Rekonstruktion einer sado-masochistischen Projektion über mehr als zwei Jahrtausende hinweg müsste man sich verbieten, wäre da nicht, neben vielem anderen, eine NachlassNotiz vom Herbst 1875, die mit einem Schlag eine intime Selbstbeziehung Nietzsches zu seinem Wunschgegner offenbarte: „Socrates, um es nur zu bekennen, steht mir so nahe, dass ich fast immer einen Kampf mit ihm kämpfe“ (KSA, NF, 8, 97).

5. Zarathustras theatralische Sendung Die Bedeutung, die Sokrates im Selbstverständnis Nietzsches hat, verstärkt die Vermutung, dass mit ihm ein Prinzip verbunden ist, das quer zur Dialektik der apollinischen und dionysischen Kräfte steht. In Sokrates zeigt sich die Eigenmacht des Denkens, die Unwiderstehlichkeit der Kritik und des Wissens, die es beide vermögen, den organischen Rhythmus des kulturellen Aufstiegs zu durchbrechen, ohne ihn zum Abbruch zu bringen. Das ist deshalb wichtig festzuhalten, weil Nietzsche nach seiner den Wechsel zwischen apollinischen und dionysischen Kräften verlangenden Geschichtsphilosophie eigentlich nur noch hätte dichten, tanzen und singen, vielleicht auch noch komponieren und musizieren dürfen. Denn gesetzt, wir können die frühen Baseler Jahre als dionysische Destruktion der Klassischen Philologie und Philosophie verstehen, denen Jahre der Kritik des Alltagsbewusstseins und der historischen Wissenschaften folgen, hätte er nun, aus einem apollinischen Grund heraus, neue poetische Gestalten schaffen müssen, in denen sich das Leben durch die Kunst zur Fortsetzung seiner selbst verführen lässt. Tatsächlich können wir Nietzsches Also sprach Zarathustra in diesem Sinne deuten. Hier tritt der Philosoph als Dichter auf, der eine Traumgestalt erzeugt, die den Weg in eine neue Zukunft weisen soll. Der ziemlich frei erfundene persische Weise steigt aus der Einsamkeit seiner auf höchsten Bergen liegenden Zuflucht, in der er nur mit der Sonne und mit seinen Tieren Zwiesprache hält, in die verlorene Welt der Mittelmäßigkeit hinab, um die in der Zwiesprache mit sich, den Tieren und dem großen Gestirn gewonnene Einsicht zu verbreiten. Wenn überhaupt, kann nur diese Einsicht die in den Niederungen ihrer Betriebsamkeit erliegenden Menschen retten. Hier sucht Zarathustra nach Schülern, die eine Botschaft verbreiten, welche alle angeht, die nicht länger wie alle sein wollen. Das mag erklären, warum das Buch, wie der Untertitel ankündigt, ‚für Alle und für Keinen‘ geschrieben ist: Es geht alle an, aber niemand möchte der sein, den es betrifft. Die Gestalt des Zarathustra ist eine apollinische Verklärung von Nietzsches eigenem Dasein: Der durch seine Krankheit zum Rückzug aus den Niederungen der Städte genötigte Denker überlässt sich der Vision einer Wirksamkeit durch andere. Sie sollen seine hoch über der Menschheit errungenen Einsichten verbreiten, damit ‚der Mensch‘ eine trotz allem gegebene neue historische Chance wahrnehmen kann. Die Schüler haben ‚neue Tugenden‘ zu verkünden, die auf ‚neuen Tafeln‘ stehen. Wie einst Moses vom 

Volker Gerhardt, Nietzsches Alter­Ego. Über die Wiederkehr des Sokrates, in: Renate Reschke/ Volker Gerhardt (Hrsg.), Nietzscheforschung, Bd. 8, Berlin 2001.



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Berg Sinai, so steigt auch Zarathustra aus der Höhe hinab. Unten aber tanzt die Menge nicht mehr orgiastisch um das goldene Kalb; sie lebt vielmehr in einer ‚bunte Kuh‘ genannten Stadt, in der die chaotische Orientierungslosigkeit bereits das Private bestimmt. Die Masse lässt sich von billigen Zauberkünstlern unterhalten und wehrt den Verkünder neuer Lehren ressentimentgeladen ab. Jeder verfolgt sein eigenes kleines Glück – und „blinzelt“ (KSA, Za, 4, 19). Große Aussichten auf epochale Ziele können da nur störend sein. Also muss Zarathustra, wie einst Jesus in Galilea, im Wechsel von Ort zu Ort nach Jüngern suchen. Ob er aber auch nur einen findet, der seine Botschaft versteht, bleibt am Ende offen. Die spektakulär-ironische Apotheose, mit der das vierte und letzte Buch von Also sprach Zarathustra schließt, ist ein Indiz für die Skepsis, zu der Nietzsche auch als Visionär noch fähig ist. Gleichwohl ist es eine Maßlosigkeit ersten Ranges, mit der er glaubt, sein Mythopoem könne eine ‚neue Stunde Null‘ heraufbeschwören und zu einer ‚neuen Zeitrechnung‘ führen. Davon kann auch nach hundertzwanzig Jahren keine Rede sein. Obgleich seine Interpreten das Buch als eine in die Form der Rede übersetzte Symphonie zu deuten suchen, wächst die Verlegenheit über die zwanghafte Imitation des Tonfalls ältester Schriften. Verlegenheit stellt sich nicht nur unter Zarathustras Zuhörern, sondern auch unter den Lesern Nietzsches ein, wenn jene, denen die Botschaft überbracht wird, als „letzte Menschen“ bezeichnet werden, deren historische Mission längst zu Ende gegangen ist. Zwar wird ihnen zugestanden „unaustilgbar“ und so langlebig wie der „Erdfloh“ zu sein. Doch sie sind unfruchtbar, unproduktiv und kleinmütig geworden. Sie haben keine großen Ziele mehr, verspüren kein „Chaos“ mehr in sich und sind unfähig, einen „Stern“ zu gebären (ebd., 17ff.). Also werden sie aufgefordert, sich selbst zu überwinden und den Weg für einen Menschen frei zu machen, der größer ist als sie. Das ist der ‚Übermensch‘, ein Wesen, über das sich naturgemäß noch wenig sagen lässt. Aber wie groß dessen Abstand zum „letzten Menschen“ sein könnte, wird daraus ersichtlich, dass sich der „Übermensch“ zum Menschen so verhält, wie der Mensch zum Affen (ebd., 14). Da ist es nur ein schwacher Trost, wenn den Zuhörern versichert wird, sie seien sogar jetzt noch „mehr Affe, als irgendein Affe“. Aber, was immer sie sind: Sie haben „Übergang“ und „Untergang“ zu sein, und wenn es hoch kommt, können sie eine „Brücke“ sein, über die der Geist zum Übermenschen schreitet (ebd., 17). Der Mensch im Sinne der tradierten Humanität hat keine Zukunft mehr.

6. Zwei Lehren Zarathustras Reden sind unendlich reich an Einsichten. Ihr Autor verdient selbst den Namen eines Weisen, der uns in vielem belehrt und in allem nachdenklich machen kann. Das gilt vornehmlich für das Verhältnis von Leib und Seele, den Umgang mit sich und seinesgleichen, für die Erziehung, die Bedeutung des Glücks, den Vorrang der Tugenden oder für die Gelassenheit im Umgang mit dem eigenen Schicksal. Ob man das auch für die Urteile über das Verhältnis der Geschlechter sagen kann, ist umstritten. Dem Autor kommt es wesentlich auf zwei ‚Lehren‘ an, deren Bedeutung er als tief und abgründig rühmt, leider aber nur in Andeutungen umschreibt. Die erste dieser Lehren proklamiert den ‚Willen zur Macht‘. Mit ihm soll sich das Geheimnis des Lebendigen

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erschließen: Alles Geschehen, so wird unterstellt, beruhe auf einer Vielfalt gegenläufiger Kräfte, die in ihrem Gegeneinander die physischen, physiologischen, sozialen und psychischen Bewegungen erzeugen und im Einzelnen wie im Ganzen für die Mannigfaltigkeit der Ereignisse und Gestalten sorgen. Deshalb heißt es immer wieder, alles sei Wille zur Macht (KSA, NF, 11, 563). – Aus späteren Erläuterungen wissen wir, dass Nietzsche mit seiner Formel den Ehrgeiz hat, die von zeitgenössischen Physikern vertretene These von der ‚Kraft‘ als letzter Einheit der Natur zu unterlaufen. Er möchte die rein physikalische Kraft ‚ergänzen‘: Sie soll nicht nur äußere Wirksamkeit entfalten, sondern auch über eine innere Dimension verfügen. Das hat zur Folge, dass seelische und geistige Momente in den Rang elementarer kosmischer Kräfte aufrücken. Die Spaltung in Materie und Idee, in Körper und Geist oder in Faktizität und Idee soll schon in der Grundlegung aller physikalisch-organischen Bewegung überwunden werden. In dieser Absicht werden ‚Macht‘ und ‚Wille‘ zur elementaren Wirkungseinheit des ‚Willens zur Macht‘ zusammengespannt. Die Berufung auf den Willen soll es möglich machen, den anthropologischen Perspektivismus, dem keine Erkenntnis entraten kann, auch in der Analyse der ersten Bedingungen zu etablieren. Das Ganze der Natur wird, wie das Insgesamt der Geschichte, nach „Analogie des Menschen zu Ende gedacht“ (ebd., 563). Daher gibt es zwischen menschlichen Handlungen und physikalischen Bewegungen keinen kategorialen Unterschied. Die Mechanik der Natur setzt sich ohne qualitativen Sprung in die elementaren Impulse des Lebens um. Umgekehrt kann alles Lebendige, das Seelisches und Geistiges einschließt, direkt auf physische Prozesse wirken. Um diese Einheit in der Dynamik der Natur zum Ausdruck zu bringen, hätte Nietzsche auch von ‚Trieb‘, von ‚Instinkt‘ oder von ‚Streben‘ sprechen können. Doch ihm kommt es darauf an, den Realitätsgehalt in der Vielfalt der Kräfte zu akzentuieren. Deshalb entscheidet er sich für die Formel vom ‚Willen zur Macht‘, deren Teilbegriffe schon für sich das enthalten, was in der Doppelung zu einer rhetorischen Verstärkung führt. Denn im ernsthaften Einsatz des Willens liegt immer schon die Macht, ihn zu realisieren. Und der Begriff der Macht lässt sich ohne einen impliziten Bezug auf einen sie dirigierenden Willen gar nicht denken. Nietzsches Zentralbegriff ist somit als Schlagwort in rhetorischer Absicht konzipiert. Eine Schwierigkeit dieses Begriffs liegt darin, dass Nietzsche nicht müde wird, die Existenz eines menschlichen Willens zu bestreiten. Wenn es richtig sein sollte, dass es beim Menschen gar keinen Willen gibt, kann auch die ‚Analogie‘ zum Menschen nicht dazu führen, allem nicht-menschlichen Geschehen einen Willen zuzusprechen. Ähnlich ist es mit seiner oft wiederholten These, dass es keine Freiheit gebe, während er gleichzeitig mit höchsten theoretischen und praktischen Erwartungen vom ‚freien Geist‘ und von der auf Freiheit gestützten Verantwortung des Menschen spricht (KSA, GM, 5, 293ff.). Hier kann man sich nur mit der Interpretationsthese Nietzsches behelfen, der zufolge alles lediglich Interpretation sein kann. Im Sinne dieser These kann auch von ‚Freiheit‘ und ‚Wille‘ die Rede sein, denn sie sind Interpretationen in der Perspektive des Menschen. Jede mögliche Rede von Freiheit, Wille oder Geist bleibt an diese Perspektive gebunden. Unabhängig davon gibt es nichts. Befriedigend ist diese relativistische Auskunft freilich nicht. Immerhin darf mit Blick auf den Menschen sowohl von der Freiheit wie vom Wille gesprochen werden, was mit der Schlussfolgerung verbunden ist, dass auch vom ‚Willen zur Macht‘ nur aus der Perspektive des Menschen die Rede sein kann. Unter Anspielung

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auf Nietzsches Behauptung, alles sei Interpretation, kann man hinzufügen, dass der ‚Wille zur Macht‘ schon deshalb als grundlegend angesehen werden kann, weil er die kleinste denkbare Interpretationseinheit ist: Wille ist die Interpretation der Macht, und Macht ist eine interpretation des willens. Die zweite Lehre Zarathustras wird selbst wie ein Geheimnis behandelt. Der persische Eremit verdankt sie seinen Tieren. Sie haben ihn auf ihre stumme Art belehrt und so erschüttert, dass er Tage lang in tiefer Ohnmacht liegen bleibt und auch danach nur noch stammeln kann (KSA, Za, 4, 270ff.). Damit, so darf man vermuten, soll anschaulich werden, dass man diese Lehre eigentlich nicht lehren kann. Tatsächlich wissen wir von Zarathustra nur wenig über sie, und von seinem Autor Nietzsche erfahren wir Näheres nur in den nachgelassenen Notizen. Gleichwohl gehört die unaussprechliche Einsicht, die Nietzsche angesichts eines pyramidalen Gesteinsblocks am See von Silvaplana gekommen sein soll, zu den bekanntesten Lehrstücken in seinem Denken. Es geht um die ‚ewige Wiederkehr des Gleichen‘. Ihr metaphysischer Kern besteht in der These, dass alles, was immer war und ist (exakt so, wie es war und ist) wiederkehrt. Die These hat nur einen Sinn, wenn sich alles, wirklich alles, ebenso wiederholt, wie es zuvor gewesen ist. Nur unter dieser Voraussetzung kann sich das Leben des Einzelnen, auf den Nietzsches zentrales Interesse gerichtet ist, wiederholen. Es geht also nicht um kosmische Zyklen, auch nicht um eine Wiederkehr des Typischen, sondern um die Wiederkunft des Identischen, um eben das, was ein Individuum in seinen konkreten Lebensumständen hier und heute ausmacht. Die These schließt ein, dass die Wiederholung nicht bloß einmal oder zweimal, sondern ‚ewig‘ geschieht. Das wiederum heißt, dass sich alles bereits unendlich oft wiederholt haben muss. In seinen Aufzeichnungen hat Nietzsche Notizen hinterlassen, die eine ewige Wiederkehr des Gleichen mathematisch-physikalisch beweisen sollen. Darin sind ihm nur wenige seiner Interpreten gefolgt, denn schon das logische Problem, wie das wiederkehrende Identische als solches erkannt werden kann, wenn es keinen Standpunkt außerhalb der wiederkehrenden Welten geben soll, macht die Beschäftigung mit dieser Lehre aussichtslos. Tatsächlich lässt sich die These weder beweisen noch widerlegen. – Nach den spärlichen Äußerungen, die Nietzsche in den von ihm veröffentlichten Schriften gemacht hat, kommt es auf den Beweis auch gar nicht an. Es reicht der Gedanke, dass eine solche Möglichkeit nicht abgewiesen werden kann. Er ist es, der Zarathustra erschüttert und der für Nietzsche von existenzieller Bedeutung ist. Wenn wir nicht ausschließen können, dass alles, was wir in unserem Leben (in der Perspektive der Freiheit) tun, sich ewig wiederholt, bekommt jede Tat, und sie mag noch so unbedeutend sein, das Schwergewicht der Unendlichkeit. Demnach müssen wir in dem Bewusstsein handeln, dass alles, was wir tun, von uns in unendlicher Wiederholung gewollt sein kann. Was wir jetzt entscheiden, führt nicht nur die aktuelle Konsequenz der einmaligen Tat herbei, sondern legt uns auch auf eine unendliche Zahl von Wiederholungen fest. Jeder Augenblick steht in der Perspektive der Ewigkeit. Deshalb gilt der Gedanke der ewigen Wiederkunft, im Kontrast zu Kants „kategorischem Imperativ“, als „Nietzsches existenzieller Imperativ“.3 So bezwingend diese Deutung erscheint, sie bedeutet einen doppelten Rückfall hinter Kant. Denn der ‚existenzielle Imperativ‘ ist im Unterschied zum kategorischen Imperativ 3

Bernd Magnus, Nietzsche’s philosophy of the eternal recurrence of the same, Berkeley 1996.

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an kein Kriterium der Verallgemeinerung gebunden; außerdem nimmt er mit der Ewigkeit die Perspektive Gottes in Anspruch. Überdies ist der Vorteil der existenziellen Nähe schon bei Kant gewahrt, der den Imperativ der Vernunft stets auf die ‚subjektive Maxime‘ des jeweils handelnden Individuums bezieht.

7. Experimentelle Antworten auf die Fragen nach dem Sinn Nietzsches Spätwerk lässt sich als Versuch verstehen, auf die in seinen Baseler Jahren aufgeworfenen Sinn-Fragen eine Antwort zu finden. Sie werden im Geist einer Experimental-Philosophie entworfen, der sich Nietzsche, einem Ausdruck Friedrich Schlegels folgend, in den achtziger Jahren verschreibt. In Also sprach Zarathustra findet sich die allgemeinste Form einer Antwort, wenn er vom ‚Sinn der Erde‘ spricht und den Menschen auf die Erde zu verpflichten sucht: „Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden!“ (ebd., 19). Was aber ist der „Sinn der Erde“? Der „Übermensch“: „Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde“ (ebd., 14). Zu den Antworten auf die Sinnfrage gehört aber auch der „Perspektivismus“, der eng mit der These verbunden ist, „alles“ sei „Interpretation“ (KSA, FW, Aph. 374; 3, 626f.). Nietzsche macht aus der Einsicht in die Standortrelativität einer jeden Wahrnehmung eine anthropologische Elementarbedingung, derzufolge der Mensch in allen seinen Leistungen an seine psychophysische Ausstattung gebunden bleibt. Der Mensch, so wird es in vielfältigen Formen variiert, könne nicht „um seine eigene Ecke“ sehen. Was immer er als „Erkenntnis“ zu gewinnen oder als Wahrheit zum Ausdruck zu bringen glaubt, unterliegt der Besonderheit seiner Natur, seiner gesellschaftlichen Stellung und seiner geschichtlichen Entwicklung: „Wir sehen alle Dinge durch den Menschenkopf an und können diesen Kopf nicht abschneiden“ (KSA, MA-1, Aph. 9, 2, 29). Demnach kann es Erkenntnis und Wahrheit im strikten Sinn des Wortes gar nicht geben. Jeder Begriff, jede Aussage und erst recht jede Theorie ist Ausdruck der Lage, in der sich der Mensch gerade befindet. Leider fehlen Nietzsche die begrifflichen Mittel, um kenntlich zu machen, worin sich das Erkennen von anderen Leistungen des Menschen unterscheidet. Man liest nur, dass es sich um etwas Sprachliches handelt. Was es aber darüber hinaus sein könnte, erfahren wir nicht. Dabei hätte er nur seiner Gleichsetzung von ‚Wahrheit‘ und ‚Lüge‘ oder seiner Forderung nach ‚Wahrhaftigkeit‘ nachgehen müssen, um zu erkennen, dass in der Erkenntnis eine Entsprechung zwischen Mensch und Welt vorliegt, ohne die es keinen selbstbewussten Bezug auf eine Sache geben könnte. Man muss nicht betonen, dass die These von einem alles umfassenden Perspektivismus sich selbst widerspricht. Sie lässt streng genommen nicht einmal Aussagen zu, die über den Augenblick hinaus Bedeutung haben. Gleichwohl glaubt Nietzsche, dass Gewohnheit und Absprache eine gewisse Gleichförmigkeit ermöglichen, die den Menschen ein situationsübergreifendes Urteilen und Handeln erlauben. Das Motiv zur Ausbildung solcher Konventionen vermutet er in der Trägheit der Individuen, die ihre Urteile und Handlungen, gleichsam aus Bequemlichkeit, berechenbar machen wollen. Damit werden sie aber auch anfällig für Aussagen, die sich angeblich auf feste ontologische Bedingungen beziehen und dem Menschen die Beweglichkeit des lebendigen Daseins nehmen.



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Darin liegt Nietzsches Erklärung für die so kühne wie niederschmetternde These, die „schrecklichste Minute der Weltgeschichte“ sei jene gewesen, in der die Menschen „das Erkennen“ erfanden (KSA, WL, 1, 875). Im Streben nach Wahrheit fixieren sich die auf Beweglichkeit angewiesenen „klugen Thiere“ auf Konstanten, die es gar nicht gibt. Die Dynamik der Welt gerinnt zu festen Begriffen, unter deren Anleitung die Menschen sich ihrer eigenen Lebendigkeit entfremden und notwendig zugrunde gehen. Die Frage ist nur, warum das nicht schon längst geschehen ist, und warum Nietzsche es wagt, seine Diagnose in der Form einer Erkenntnis vorzutragen. Will man den Perspektivismus nicht schon daran scheitern lassen, dass er sich selbst im Medium des in ihm aufgehobenen Wissens präsentiert, muss man ihn als These über die historische Relativität einer jeden sachhaltigen Aussage verstehen. In diesem Verständnis ist er zu einer Art Glaubensbekenntnis des 20. Jahrhunderts geworden. Seine Berechtigung hat der Gemeinplatz von der Relativität alles Erkennens darin, dass den ‚absoluten‘ Wahrheiten der Philosophie und der Religion der Boden entzogen wird. Hier popularisiert Nietzsche die Erkenntniskritik Kants, der er Zeit seines Lebens nahe bleibt. Soll aber der Perspektivismus einen Einwand gegen die empirische und logische Allgemeinheit der menschlichen Erkenntnis begründen, hebt er sich selber auf. Der ‚Sinn‘ der Wahrheit kann nicht darin bestehen, dass es sie gar nicht gibt, sondern nur eine ‚Illusion‘ darstellt, an der die Menschen zugrunde gehen. Gleichwohl müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass dies Nietzsches Auffassung ist. Im Gegenzug, genauer, im Widerspruch zu dieser seiner Auffassung sucht der späte Nietzsche für eine neue Verbindlichkeit und damit für eine neue Zukunft des Menschen zu werben. Er wird zum leibhaftigen Programm für jenen ‚Wirbel und Wendepunkt‘ der Geschichte, der endlich die sokratische Periode der Kultur überwindet. Dazu erklärt er sich selbst zum Vollender des Nihilismus, dem sein perspektivistischer Relativismus, sein ästhetischer Interpretationismus, sein Amoralismus und sein wiederholtes Wort vom „Tod Gottes“ (KSA, FW, Aph. 125, 3, 480ff.) vorarbeiten. Zugleich aber möchte er der Überwinder eben dieses Nihilismus sein! Sein ‚Wille zur Macht‘ soll eine ‚Große Politik‘ begründen; im Bewusstsein der ewigen Wiederkunft soll ein amor fati entstehen, in dem sich entschlossenes Handeln und gelassener Genuss des Schönen zu einer neuen Einheit verbinden. Schließlich soll die Destruktion aller überlieferten Werte die epochale Ouvertüre für eine ‚Umwertung der Werte‘ sein, die den Menschen von der Überlast der Theorien und der ethischen Bedenken befreit, damit er naiv und heiter wie ein Kind an den Aufbau einer alternativen Ordnung geht. In ihr könnten die ‚neuen Tugenden‘ den kalten Gegensatz zum Schönen überwinden. Mehr noch: In ihr könnte es dem Menschen gelingen, sich selbst zu überschreiten, auch um den Preis, dass dies nur wenigen gelingt. Vom Darwinismus inspiriert, denkt Nietzsche den Menschen als ein Tier, das in der Evolution nur eine ‚Brücke‘ zu einem neuen Wesen ist, für das der Name erst noch gefunden werden muss. Nach der Schilderung, die Zarathustra vom Menschen gibt, kann ‚Übermensch‘ in den Ohren dieses Zukunftswesens nur so lächerlich klingen, wie es im Verständnis des Menschen der Titel eines ‚Affen‘ ist.

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8. Wirkung Man übertreibt nicht, wenn man Nietzsche, der die dominierenden Motive des 18. und 19. Jahrhunderts vereinigt, der Aufklärung und Romantik, kritische Vernunft und mythopoetische Sehnsucht verbindet, als den prägenden Philosophen des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Er hat das Lebensgefühl der Jugendbewegung und der künstlerischen Avantgarde bis weit über den Ersten Weltkrieg hinaus bestimmt und konnte zugleich der Katastrophenstimmung nach der Niederlage der Zivilisation seine Stimme verleihen. Er hat den zivilisationsfeindlichen und antidemokratischen Bewegungen bis in den Zweiten Weltkrieg hinein Stichworte geliefert, hat den Existenzialismus und Humanismus der Nachkriegsgesellschaften inspiriert und ist im letzten Drittel des Jahrhunderts zur bevorzugten Berufungsinstanz all jener geworden, die sich von der Moderne, der Metaphysik, der Wissenschaft oder der Religion abwenden, ihr aber dennoch irgendwie nahe bleiben wollen. Der wichtigste Vorgang in der Nietzsche-Rezeption des 20. Jahrhunderts ist die Bemühung um eine kritische Gesamtausgabe seiner Werke. Sie hat philologische Aktivitäten in Gang gesetzt hat, die man nach Nietzsche gar nicht mehr für möglich gehalten hätte. Durch sie konnte eine historisch orientierte Forschung entstehen, die dabei ist, das weit verzweigte Netz freizulegen, in dem Nietzsche mit seiner Zeit und mit dem abendländischen Denken überhaupt verbunden ist. Erst dadurch ist sein Format als Klassiker des Denkens bewusst geworden. Seinen Vorzug, unmittelbar zu jedem zu sprechen, der ihn liest, hat Nietzsche dennoch nicht verloren.

remedios Ávila crespo

nietzsche und das problem des nichts

einleitung: der nihilismus und das nichts wenn die philosophie sich nicht davon abbringen lassen will, ein nützliches instrumentarium zum verständnis der wirklichkeit zu sein, so muss sie sich mit den problemen auseinandersetzen, die das zeitalter bestimmen, in dem sie ihr geschäft verrichtet. es besteht einigkeit darüber, dass unsere zeit mit ihren verborgenen übeln und gefahren sich im begriff des nihilismus zusammenfassen lässt. allerdings hat der begriff ‚nihilismus‘ keinen einheitlichen voraussetzbaren sinn, so dass es ratsam ist, seine bedeutung zu klären. ich möchte die thematik weder mit der gleichgültigen haltung eines philologen noch mit der interessierten haltung eines moralisten angehen, sondern mich durch ein hermeneutisches verfahren anregen lassen, wie es paul ricœur anwendet. mir scheint, dass ‚nihilismus‘ ein von bedeutungen überfrachteter begriff ist; er bezeichnet nicht nur mit friedrich nietzsches den ‚unheimlichsten aller gäste‘, sondern er richtet sich auch auf ein positives bedeutungsfeld, das es mit sicherheit wert ist, bedacht zu werden und das uns nötigt, grundlegende entscheidungen zu treffen. aus diesem grund schlage ich eine symbolische lesart des nihilismus vor, und das in der doppelten wertigkeit, die das symbol bei ricœur hat: als etwas, das sich der kritik unterwerfen, das sich aber auch anerkennen, verdächtigen und anhören, dekonstruieren und rekonstruieren lässt. 

im zeichenzusammenhang, der die sprache ist, unterscheidet ricœur eine bestimmte klasse von zeichen, die symbole sind. das symbol ist für ihn ein zeichen mit einem doppelten sinn – ein zeichen, das vermittels einer bedeutung einen besonderen bezug kennzeichnet, bzw. einen zweiten sinn. interpretation, d. h. hermeneutik, gibt es, weil es symbole gibt. das symbol zielt auf der grundlage einer ersten intentionalität (der wörtlichen und durchsichtigen) auf eine zweite intentionalität (die bildhafte und undurchsichtige); aber das grundlegende besteht darin, dass die zweite intentionalität (die latente bedeutung) als von der ersten (der offenbaren bedeutung) eingehüllt und verdeckt erscheint, und dass die beziehung, die zwischen beiden besteht, keine konventionelle oder willkürliche beziehung ist. der widerstreit zwischen verschiedenen interpretationen wurzelt darin, dass die beziehung zwischen dem ersten und dem zweiten sinn sich sowohl durch analogie als auch durch verzerrung erklärt. auf allen ebenen, auf denen sich die alternative zwischen einer bewahrenden haltung und einer entmythologisierenden und destruktiven haltung stellt, entscheidet sich



Remedios Ávila Crespo

vor einiger zeit machte John le carré, der bekannte spionageromanautor und ehemalige spion, werbung für die kinoversion eines seiner romane (The Constant Gardener). auf die ihm während einer pressekonferenz gestellte frage, ob er den Jahren nachtrauere, die er der spionage gewidmet hat, antwortete er, jene Jahre seien „außergewöhnlich und faszinierend“ gewesen, und er fügte hinzu: „ich glaube nicht, dass es irgendein geheimes zentrum gibt, sondern dass nach der letzten tür die leere kommt.“ dies mag die besondere erfahrung des nichts eines experten in der kunst des schreibens und der spionage sein. an sie lässt sich aber eine ihrerseits nicht weniger außergewöhnliche und faszinierende Philosophie anschlieβen. Darauf scheint Ernst Jünger hinzuweisen, der in der festschrift zum sechzigsten geburtstag martin heideggers schreibt: „wer nicht an sich die macht des nichts erfahren hat und nicht seiner versuchung unterlegen ist, der kennt das zeitalter am wenigsten.“ auch die folgenden zeilen lassen in bezug auf heideggers position keine zweifel: „daher ist er der härteste, aber auch untrüglichste probierstein auf die denkerische echtheit und kraft eines philosophen, ob er sogleich und von grund aus im sein des seienden die nähe des nichts erfährt. wem dies versagt bleibt, der steht endgültig und ohne Hoffnung auβerhalb der Philosophie.“ das gilt aber nicht allein für heidegger. schon nietzsche hatte in einem fragment vom 0. Juni  etwas ähnliches angedeutet: „denken wir diesen gedanken in seiner furchtbarsten form: das dasein, so wie es ist, ohne sinn und ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein finale ins nichts: ‚die ewige wiederkehr‘. das ist die extremste form des nihilismus: das nichts (das ‚sinnlose‘) ewig!“ (ksa, nf, , ). – im interesse am nichts und am nihilismus, zwei probleme, die nicht mit einander vermengt werden dürfen, setzen sich zwei wege der philosophischen tradition fort. der näher gelegene hebt mit friedrich heinrich Jacobi an, welcher im märz  in einem an Johann gottlieb fichte gerichteten brief, der im herbst desselben Jahres veröffentlicht wurde, den idealismus beschuldigt, ein nihilismus zu sein, und damit diesem begriff zum ersten mal einen philosophischen wert beimisst. dank schriftstellern wie leo tolstoi, fjodor m. dostojewski, ivan s. turgenjev, anton tschechov und anderen, sollte sich dieser begriff schon bald, am ende des . Jahrhunderts, einer großen popularität erfreuen. es sind diese philosophisch-literarischen ursprünge, in denen der negative und kritische aspekt des nihilismusbegriffs zu suchen ist. auf dem weg einer anderen und weiter zurückliegenden tradition, treffen wir dem gegenüber auf eine positivere bedeutung des nihilismus und vor allem auch auf ein interesse am problem des nichts. es handelt sich um eine tradition mit großer philosophischer dignität, die bei gorgias beginnt und über scotus eruigena, meister eckhart, dionysius vom areopag, Juan de la cruz, Jakob böhme, angelus silesius, leonardo da vinci, francisco sanchez bis zu friedrich wilhelm Joseph schelling führt. auf dem wege dieser tradition wird eine fragestellung artikuliert, die für die philosophie als solche zentral ist. gottfried wilhelm leibniz fragt im §  der Prin­

   

ricœur für eine dialektische und integrative position. dem möchte ich in bezug auf den nihilismus folgen (vf., El desafío del nihilismo [Die Herausforderung des Nihilismus], cap., trotta, madrid, 00.). tageszeitung El País vom . Juli 00, . Auf der Linie, in: Anteile. Martin Heidegger zum 60. Geburtstag, frankfurt am main, 0. martin heidegger, Nietzsche i. Gesamtausgabe, bd. ..v., frankfurt am main, , . sergio givone, Storia del nulla, bari, ; franco volpi, Il nichilismo, bari, 00.

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zipien der Natur und der Gnade, warum es eigentlich etwas und nicht vielmehr nichts gebe, wo doch das nichts einfacher als jedwedes ding sei. ‚und warum nicht das nichts?‘, könnten wir selber fragen und damit die berühmte leibniz’sche frage abwandeln. in der philosophie sind kritik und ablehnung des nihilismus durchaus kompatibel mit einem festhalten am nichts. so attestiert es auch heideggers, für den der nihilismus nicht nur in einer seinsvergessenheit besteht, sondern auch darin, dass das problem des nichts nicht ernst genug genommen wird. das nichts allerdings enthüllt sich uns nicht getrennt von der angst vor ihm, und so mahnt heidegger an, dass nur der mut zur angst „die geheimnisvolle möglichkeit der erfahrung des seins“, d. h. die philosophie ermöglicht. – ‚und warum nicht das nichts?‘, so fragen wir erneut. eine solche frage scheint, wie heidegger warnt, eine nutzlose frage zu sein, eine, die über die grenzen der logik und des gesunden menschenverstandes hinausgeht. was aber, wenn unser leben insgesamt, wie nietzsche es behauptet, dieselbe stabilität hätte wie jemand, der auf dem „rücken eines tigers“ (ksa, wl, , ) sitzt? was weiß denn der mensch wirklich von sich selbst? geht mit dem abgrund, der uns trägt, nicht der horror vacui einher? ist diese angst nicht die antwort auf den ruf des nichts? wenn dem so ist, warum sollen wir diesem nichts nicht entgegentreten? warum sollen wir seinen ruf nicht hören, warum sollen wir es nicht befragen? vielleicht besteht der schlimmste nihilismus in nichts anderem als in der weigerung zu sehen, zu hören, zu lernen. so zumindest dachten nietzsche und heidegger. es ist wahr, dass jeder der beiden eine eigene art hatte, den nihilismus zu verstehen. für nietzsche folgt er grundsätzlich aus dem zusammenbruch unserer großen werte und ideale. es handelt sich dabei um einen komplexen begriff, der sowohl auf die diagnose einer epoche zielt, als auch auf die heilmethode für den beginn einer neuen wegstrecke. der nihilismus ist das endstadium einer zeit zunehmender sinnverdunkelung, die der satz ‚gott ist tot‘ zusammenfasst, die nur durch eine bewegung von größerer intensität und anderer ausrichtung überwunden werden könnte. im gegensatz dazu denkt heidegger, dass dies nur ein teil der ganzen geschichte ist: der letzte teil, das letzte kapitel, in dem sie kulminiert. nietzsches reduktion des seins auf den wert ist demnach nichts als die konsequenz eines vergessens, eines seinsvergessens, das auch darin besteht, dass das problem des nichts nicht hinreichend ernstgenommen wird. beides, das sein und das nichts, beschwören sich gegenseitig herauf: „das nichts des seienden folgt dem sein des seienden wie die nacht dem tag. wann würden wir jemals den tag als tag sehen und erfahren können, wenn die nacht nicht wäre!“ nach heidegger hat nietzsche eine nihilistische auffassung des nihilismus. aus diesem grund gelangt er nicht zu seiner überwindung und ist unfähig, einen ausweg aufzuzeigen, selbst wenn seine erste diagnose genau ins schwarze träfe. aber ist das wirklich alles? gibt es bei nietzsche nicht auch ein tiefes interesse am problem des nichts? setzt nicht der gedanke der ewigen wiederkunft die herausforderung und die anstrengung voraus, sich demselben abgrund zu stellen, dem die angst gilt, von der heidegger spricht? im anschluss an heideggers nietzschekritik kritik schlage ich drei schritte vor. erstens, die untersuchung des wesens des nihilismus. zweitens, eine antwort auf die frage nach seiner Beziehung zur Metaphysik. Und schlieβlich eine Untersuchung darüber,  

martin heidegger, Was ist Metaphysik. Epilog. martin heidegger, Nietzsche i, .

in: Wegmarken,v., frankfurt am main, , 0.



Remedios Ávila Crespo

ob es bei nietzsche eine positive bewertung des nihilismus und vor allem des nichts gibt.

i. wesen und ursprung des nihilismus nietzsches philosophie lässt sich zum besseren verständnis als antwort auf arthur schopenhauer auslegen. diesem war das leiden zum zentralen phänomen geworden, um das herum sich sein denken drehte. der schmerz ist in erster linie eine grundlegende tatsache, die am besten verteilte sache der welt. er ist auch das ‚medium‘, in dem folgende wahrheit offenbar wird: die welt verdient es nicht, dass wir an ihr hängen. und schließlich handelt es sich beim schmerz um einen ‚leitfaden‘, der die philosophie ermöglicht: Ohne Schmerz gibt es keine Reflexion. Dieser Leitfaden weist uns den Weg sowohl zur anerkennung der bedeutung des körpers und des wesens der welt, die beide ‚wille‘ sind, als auch zu einer neuen und befreienden lebensform in der negation des lebenswillens. darüberhinaus führt schopenhauer aus, dass alles lebendige vom stigma des schmerzes gezeichnet ist und die frage, „warum nicht lieber gar nichts sei, als diese welt“, keine mögliche antwort hat. wenn, wie nietzsche behauptet, ein nihilist jemand ist, der glaubt, dass die welt, so wie sie eingerichtet ist, nicht existieren sollte und daß die welt, so wie sie eingerichtet sein sollte, nicht existiert (ksa, nf, , ), so erfüllt schopenhauer alle voraussetzungen, um ein nihilist zu sein: aus dem blickwinkel des schmerzes betrachtet verdient es die welt nicht, dass wir an ihr hängen, und es gibt keine ‚andere welt‘, die uns für das in dieser welt, der einzigen, uns zugefügte leiden entschädigen könnte. das bedeutet, dass schopenhauer nur einen einzigen ausweg in betracht zieht: die buddhistische negation des willens, seine reduktion auf das nichts. diese reduktion macht aus seiner philosophie eine nihilistische philosophie und aus seinem nihilismus einen passiven nihilismus. nietzsche seinerseits schlägt zum rätsel des lebens eine andere lösung vor. ähnlich wie schopenhauer erkennt er den schmerz als grundlegend; aber er berücksichtig zudem, dass das leiden, selbst wenn es von allen menschen ‚empfunden‘ wird, nicht auch von allen menschen gleich ‚bewertet‘ wird (ksa, nf, , f.). bei nietzsche treten zwei fragestellungen auseinander, die von schopenhauer als eine einzige behandelt werden: das problem des schmerzes ist eines, aber ein anderes und völlig verschiedenes ist die frage nach dem wert des lebens. die zweite fragestellung führt zu einem einwand, einem vorbehalt, einem bedenken gegen das leben, während anhand der ersten fragestellung lediglich eine tatsache konstatiert, eine wahrheit erkannt wird. sicher haben beide denkweisen etwas miteinander gemeinsam: sie sind beide pessimistisch. aber der pessimismus, dem sich nietzsche verschreibt, ist sehr verschieden von dem, der aus der beiläufigen Vermengung beider Fragestellungen folgt. um dies aufzuweisen ist es ratsam, die drei formen zu untersuchen, in denen sich der Nihilismus in der Nietzsches Reflexion zeigt: (1) als Diagnose seiner Zeit; (2) in seiner 

arthur schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, in: ders., werke in zehn bänden, band iv, zürich , .

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beziehung zum christentum; () in seinem verhältnis zum glauben an die kategorien der vernunft. Jede dieser drei formen verweist zu ihrem besserem verständnis auf die beiden anderen, und jede fällt mit einem von drei zentralen und aufeinander folgenden gesichtspunkten in nietzsches denkens zusammen: kritik der kultur, genealogie der moral und psychologie der metaphysik.

i.. der nihilismus als diagnose einer epoche mit dem begriff ‚nihilismus‘ fasst nietzsche die diagnose für seine epoche zusammen. so jedenfalls drückt er es in einem fragment aus, in dem er darüberhinaus eine art prophezeiung über die zukünftige zeit abgibt: „was ich erzähle, ist die geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die heraufkunft des nihilismus […] unsere ganze europäische cultur bewegt sich seit langem schon mit einer tortur der spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: wie ein strom, der ans ende will, der sich nicht mehr besinnt, der furcht davor hat, sich zu besinnen“ (ksa, nf, , ). nietzsche vergleicht die europäische kultur seiner zeit mit einem sturzbach: aufgewühlt, beklemmend, krampfhaft, haltlos, wild, ohne werte, immer an dem punkt, eine Katastrophe zu entfesseln. Von hier aus ist seine Definition des Nihilismus zu verstehen: „nihilism: es fehlt das ziel; es fehlt die antwort auf das ‚warum‘? was bedeutet nihilism? – daß die obersten werthe sich entwerthen“ (ksa, nf, , 0). und dieser prozess der endgültigen verausgabung und schwächung ist das resultat einer dekadenz. nietzsche versichert, den nihilismus auch an sich selbst gut zu kennen, auch er sei dessen gefangener gewesen, habe es aber vermocht, ihn hinter sich zu lassen: „man hat nur spät den muth zu dem, was man eigentlich weiß. daß ich von grund aus bisher nihilist gewesen bin, das habe ich mir erst seit kurzem eingestanden“ (ebd., 0). in der beschreibung seiner selbst ist er „der erste vollkommene nihilist europas, der aber den nihilismus selbst schon in sich zu ende gelebt hat, der ihn hinter sich, unter sich, außer sich hat“ (ksa, nf, , 0) behauptet auch, dass die heraufkunft des nihilismus notwendig ist, um den wahren wert derjenigen werte zu verstehen, die ihn ermöglicht haben. es ist notwendig, diese wüste des nihilismus zu durchqueren, damit man ihm am ende mit dem wahrhaften gegengift entgegentreten kann: mit dem willen zur macht verstanden als „umwertung aller werte“ (ebd.).

i.. das verhältnis von nihilismus und christlichen werten woher aber stammt dieser nihilismus, „der an die tür klopft“, „der unheimlichste aller gäste“ (ksa, nf, , )? nietzsche deutet auf acht Quellen, aus denen der nihilismus entspringt: () die christlich-moralische weltauslegung; () der sturz des christentums, das aus wahrhaftigkeit anerkennt, dass ‚alles falsch ist‘, wo es früher behauptet hatte, dass ‚gott die wahrheit ist‘; () der moralische skeptizismus, der behauptet, daß „alles keinen sinn“ hat und daß es zwischen der wahrheit, dem guten und dem schönen einen antagonismus gibt; () die sozialistischen und positivistischen systeme, die sich nach

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wie vor den christlichen werten verschreiben; () die naturwissenschaften, in denen der mensch vom zentrum in die peripherie gerückt ist; () die politischen und wirtschaftlichen ideen; () der historismus; () die kunst im sinne der romantik (ebd., ff.). er hält die letzten fünf Quellen für resultate der drei vorhergehenden. betrachten wir zunächst diese und beginnen mit den ersten beiden, die ein interessantes paradox darstellen: der nihilismus entspringt sowohl christlicher weltauslegung als auch dem zusammenbruch christlicher werte. in einem ersten schritt assoziiert nietzsche den nihilismus mit dem zusammenbruch der christlichen werte, wie ihn der ‚tolle mensch‘ aus aphorismus  der Fröhlichen Wissenschaft in seinem urteil ‚gott ist tot‘ zusammenfasst. es handelt sich um ein ereignis, das imstande ist, die geschichte der menschheit in zwei teile zu teilen, sie vor eine grundlegende und endgültige entscheidung zu stellen, bei der das problem des nichts eine wichtige rolle spielt. hier bezieht nietzsche sich auf das nichts, indem er es mit der Leere identifiziert, mit der Abwesenheit von Bezugspunkten. Nachdem er verkündet hat, dass gott gestorben ist, formuliert der tolle mensch eine reihe von fragen, die den Zustand, in dem sich die Menschheit nunmehr befindet, ans Tageslicht bringen: „Stürzen wir nicht fortwährend? und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen seiten? giebt es noch ein oben und ein unten? irren wir nicht wie durch ein unendliches nichts? haucht uns nicht der leere raum an?“ (ksa, fw, aph. , , ). dasselbe läßt sich vom aphorismus  sagen, wo diese zeit beschrieben wird als eine „lange fülle und folge von abbruch, zerstörung, untergang, umsturz“, als eine „ungeheure logik von schrecken“, und als „eine Verdüsterung und Sonnenfinsterniss, deren Gleichen es wahrscheinlich noch nicht auf erden gegeben hat“ (ebd., ). der tod gottes, der zusammenbruch aller werte und aller ideale, führt in eine krise, wie es noch keine andere zuvor gegeben hat; dieser scheint der ursprung desjenigen nihilismus zu sein, in dem sich europa befindet. Wird erst einmal das Fehlen eines Haltes anerkannt, den unsere obersten Werte gegeben hatten, ist alles nur noch abgrund und hüllt uns die leere ein, so irren wir ‚durch ein unendliches Nichts hindurch‘. Aber auch dann findet ein Wechsel von der ontologischen auf die axiologische ebene statt: dieses ‚unendliche nichts‘ wird als ein fehlen von werten interpretiert. das heißt, wenn ‚gott gestorben ist‘, scheint sich daraus eine schlußfolgerung aufzudrängen: ‚das leben ist nichts wert.‘ an dieser stelle wird die funktion sichtbar, die das christentum erfüllt hat. nietzsche sieht in ihm das große „Gegenmittel“ (ksa, nf, , ) gegen den nihilismus, sowohl den theoretischen (‚alles ist falsch‘) als auch den praktischen (‚alles ist erlaubt‘). er erkennt 

nietzsche wertet romantische kunst als vorbereiterin des nihilismus (ksa, nf, , ), zusammen mit den naturwissenschaften, der politik, ökonomie und geschichte des . Jahrhunderts. beachtenswert ist die art, wie er beklagt, dass romantische kunst und musik rauschmittel seien: „im innersten: nicht wissen, wohinaus? leere. versuch, mit rausch darüber hinwegzukommen. rausch als musik – rausch als grausamkeit im tragischen genuß des zugrundegehens des edelsten“ (ksa, nf, 0, 0). er erkennt sich darin wieder, führt und dies auf eine lange zurückliegende zeit zurück: „meine freunde, wir haben es hart gehabt, als wir jung waren; wir haben an der Jugend selber gelitten wie an einer schweren krankheit. das macht die zeit, in die wir geworfen sind, – die zeit eines großen immer schlimmeren verfallens und auseinanderfallens, welche mit allen ihren schwächen und noch mit ihrer besten stärke dem geiste der Jugend entgegen wirkt. das auseinanderfallen, also die ungewißheit ist dieser zeit eigen: nichts steht auf festen füßen und hartem glauben an sich: man lebt für morgen, denn das übermorgen ist zweifelhaft“ (ksa, nf, 0, ).

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die vorteile an, die die christlich-moralische hypothese mit sich bringt: im strom des werdens und vergehens verleiht sie dem menschen einen absoluten wert; sie dient den verteidigern gottes in dem maße, in dem sie das schlechte (das böse) als sinnerfüllt erscheinen lässt; sie nimmt an, der mensch besitze ein besonderes wissen hinsichtlich absoluter werte; sie verhindert die selbstverachtung und ist damit ein mittel der selbsterhaltung. der schluss der Genealogie der Moral ist voll von derartigen überlegungen. dort wird die eigentliche Krankheit des Menschen identifiziert: das Fehlen von Sinn, die unermessliche leere, das fehlen einer antwort auf die frage: warum leiden? auf all dies antwortete sowohl das asketische ideal als auch in letzter instanz die christlich-moralische auslegung des daseins. in ihm wurde die oberste gefahr des willens, der tiefgehende horror vacui, mit einem wirksamen gegengift konfrontiert. der wille selbst war gerettet, wenngleich es sich im anschluss daran lediglich um einen willen zum nichts handeln sollte. letzteres gilt es hervorzuheben, denn es darf nicht vergessen werden, woraus die vom asketischen ideal gelieferte auslegung entspringt: aus der schuld, aus der angst vor dem glück und vor der schönheit, aus dem lebens- und genesungswillen eines im Niedergang befindlichen Lebens. Das Ideal, das in einem Jenseits Entschädigung für das leiden sucht, ein nihilistisches: es kommt aus dem einem nichts (horror vacui) und zielt auf ein anderes (Jenseits). von hier aus zeigt sich ein anderer grundzug des christentums: nicht nur ursprung des nihilismus zu sein, sondern selber das ergebnis einer nihilistischen betrachtungsweise der welt. wenn das christentum das ideal der wahrhaftigkeit, dem es sich verschrieben hat, auf sich selber anwendet, erkennt es die in ihm anwesende lüge. dann lässt sich der bodenlose abgrund erkennen, den sein ideal verdeckt hatte: es wird die betrachtung des nichts, der leere, des absurden, des sinnlosen möglich, die das christentum mittels der projektion einer anderen welt jenseits dieser welt hatte bekämpfen wollen. so jedenfalls versteht es die doppelte überlegung nietzsches: der nihilismus entspringt sowohl der christlichmoralischen daseinsauslegung als auch dem zusammenbruch der christlichen werte. Jene konditionalform ‚wenn gott tot ist, dann ist das leben nichts wert‘, die an die formel dostojewskis erinnert, ‚wenn gott nicht existiert, dann ist alles erlaubt‘, lässt sich nun in einem anderen licht betrachten. die überlegung, dass ‚das leben nichts wert ist‘, ist nicht so sehr das resultat aus dem tod gottes, sondern vielmehr die bedingung seiner Erfindung. Darüber hinaus fasst sie den wichtigsten consensus sapientium von schopenhauer bis sokrates zusammen, was wiederum besagt, dass der nihilismus ein phänomen ist, das mit dem christentum völlig im einklang steht, von diesem aber über seine ursprünglichen grenzen hinausgetrieben wird. das christentum ist nihilismus, aber dieser ist ein umfangreicherer begriff als jenes, der begriff des nihilismus beinhaltet den des christentums. nach nietzsche drückt das christentum schon ursprünglich einen pessimismus der schwäche, eine schwache physiologische verfassung, eine tiefe innere dekadenz aus.



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i.. das verhältnis des nihilismus zum glauben an die kategorien der vernunft wenn das christentum nicht ‚das letzte‘ ist, stellet sich die frage: woher stammt das werten nach christlich-moralischer art? auf welche bedingungen weist es zurück? was ist es, das ursprünglicher ist als der christliche gott und gleichzeitig die möglichkeitsbedingung des glaubens an ihn darstellt? es gibt eine dritte form des nihilismus, die noch radikaler ist als das christentum. um sie zu verstehen, muss an das dritte element erinnert werden, aus dem nach nietzsche der nihilismus entspringt: der moralische skeptizismus, der zusammenbruch der obersten werte (das wahre, das gute, das schöne), oder, wie er an anderer stelle andeutet, das mißtrauen in die kategorien anhand derer wir das leben beurteilen (einheit, ende, wahrheit). diese überlegung markiert den übergang von einer genealogie des christentums zu einer psychologie der metaphysik. – nietzsche weist darauf hin, dass der nihilismus als „psychologischer zustand“ dann auftreten wird, „wenn wir einen ‚sinn‘ in allem geschehen gesucht haben, der nicht darin ist, so daß der sucher endlich den muth verliert. nihilismus ist da das bewußtwerden der langen vergeudung von kraft, die Qual des ‚umsonst‘, die unsicherheit“ (ksa, nf, , ). der nihilismus wird dabei als täuschung über ein eingebildetes „ende“ des werdens, eine angenommene „einheit“ des ganzen und einer mutmaßlichen „wahrheit“ gelebt (ebd., ff.). alle kategorien, wie kausalität, zweckmäßigkeit, einheit, wahrheit, sein, dank derer die welt einen wert besitzt, gehen unter. nietzsche schließt daraus, dass der glaube an die kategorien der vernunft die ursache des nihilismus ist. demnach werden auch hier, wie im fall des christentums, die kategorien, die der welt ‚sinn verleihen‘, auf die gleiche weise ausgelegt wie dasjenige, das seinen ursprünglichen mangel an sinn verbirgt. demgemäß ist der nihilismus einerseits das resultat des zusammenbruches dieser kategorien, andererseits die ursache für den glauben an solche kategorien. aber es handelt sich um einen ursprünglicheren glauben, als den an einen christlich-moralischen gott, der lediglich dessen wirkung ist. die kategorien, die unsere grammatik hervorbringen und unsere sprache ermöglichen (das ‚subjekt-prädikat‘, das ‚substantiv‘, das ‚adjektiv‘, das ‚verb‘ etc.) entsprechen den kategorien der substanz, des akzidenz, des werdens etc. nietzsche geht mit ihnen über das christentum hinaus, indem er erkennt, dass anhand des seinsbegriffes schon bei den eleaten philosophische vorurteile erschlichen werden, die eigentlich bloß sprachlich sind. mit blick auf die psychologie der metaphysik und auf das verhältnis zwischen metaphysik und nihilismus, ist das kapitel Die Vernunft in der Philosophie aus der Göt­ zendämmerung besonders erhellend. nachdem er die intoleranz seitens der philosophie gegenüber dem werden und ihre verwechslung der höchsten philosophischen begriffe mit den leersten kritisiert, bezieht sich nietzsche auf die grammatischen vorurteile, die von unserer art, die welt zu sehen, bedingt werden. so wie in bezug auf die bewegung der sterne der fehler in unserem auge liegt, so liegt im fall der metaphysik der fehler in unserer sprache. er denkt, dass die grundvoraussetzungen der metaphysik der sprache dieselben sind wie die der vernunft: der wille, das ich, die substanz. auf dieser grundlage wird der begriff des dinges geschaffen. das sein wird in erschlichener weise

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überall als ursache hinzugefügt und der wille als eine ursache betrachtet, die wirkungen hervorbringt. der begriff des seins und der gottesbegriff selbst werden von jedem wort, jedem satz, den wir sprechen, bestätigt: „ich fürchte, wir werden gott nicht los, weil wir noch an die grammatik glauben“ (ksa, gd, , ). nietzsche fasst seine eigene position in vier punkten zusammen: (a) die gründe, aufgrund derer diese welt als scheinbare bezeichnet wurde, dienen im gegenteil dazu, ihre wirklichkeit zu beweisen; (b) die besonderen merkmale des ‚wahren seins‘ fallen mit denen des nichts zusammen; (c) die Erfindung von Märchen hinsichtlich einer angenommenen anderen und wahrhaften Welt hat keinen sinn, sofern nicht ein verleumdungsinstinkt und der ‚geist der rache‘ gegen das leben dazu motiviert; (d) die zweiteilung der welt in eine wahrhafte und scheinbare, ist ein symptom der dekadenz, des niedergehenden lebens. alle diese überlegungen führen zu der erkenntnis, dass die metaphysik nihilismus ist. alle metaphysik ist nihilismus: sie scheint darüberhinaus mit einer schwachen und dekadenten körperlichen verfassung einherzugehen. aber es sei zunächst die frage gestellt, ob, wenn alle metaphysik nihilismus ist, jeder nihilismus auch metaphysik ist. im anschluss daran ist zu fragen, welche beziehung zwischen metaphysik und dekadenz besteht.

ii. metaphysik, nihilismus und dekadenz das kapitel aus der Götzendämmerung: Wie die ‚wahre Welt‘ endlich zur Fabel wurde. Geschichte eines Irrthums, gibt eine antwort auf die erste frage. nietzsche gibt dort eine überraschende und scharfsinnige zusammenfassung der geschichte der philosophie und nimmt das verhältnis zwischen wahrer und der scheinbarer welt zum leitfaden. der platonismus, der das erste stadium in dieser geschichte darstellt, vertritt die ansicht, dass die wahre welt für den weisen, den tugendhaften ‚zugänglich‘ ist. ein zweites moment wird durch das christentum gegeben, für das die wahre welt nicht gegeben, wohl aber dem guten menschen ‚versprochen‘ ist. einen weiteren schritt in dieser entwicklung stellt die kantische philosophie dar, in der die wahre welt weder zugänglich noch versprochen, sondern einzig und allein gedacht ist: es handelt sich um einen trost, eine verpflichtung, einen Imperativ. Das vierte Stadium wird vom Positivismus gekennzeichnet, in dem jene wahre und unerreichte welt zur unbekannten wird. etwas unbekanntes kann zu nichts mehr verpflichten. Ein weiterer Schritt führt, aufgrund ihrer Nutzlosigkeit, zur abschaffung der wahren welt, deren idee schlicht und einfach widerlegt wird. mit dieser widerlegung geht eine rückkehr des bon sens und der heiterkeit einher, die ein zeichen des ‚freien geistes‘ ist. schließlich wird mit dem auftreten zarathustras nicht nur die wahre, sondern auch die scheinbare welt abgelehnt und abgeschafft. – dieses kurze Resümee der Geschichte der Metaphysik identifiziert deren sukzessive Phasen mit den fortschreitenden formen des nihilismus. für die letzte phase allerdings gilt, dass, wenngleich sie nihilistisch ist, sie dennoch nicht metaphysisch ist. daraus folgt, dass obwohl alle metaphysik nihilismus ist, so ist doch nicht aller nihilismus metaphysik, wie auch der von zarathustra angekündigte aktive nihilismus, beweist. auf der anderen seite weist nietzsche darauf hin, dass die metaphysik weder, wie kant glauben machen will, auf eine natürliche neigung zurückverweist, noch, wie bei



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schopenhauer, auf eine allgemeine notwendigkeit, sondern dass sie ein symptom ist. aber wovon? die frage führt zur betrachtung des zweiten ins auge gefassten problems: das verhältnis zwischen metaphysik und dekadenz. Jenes Das Problem des Sokrates überschriebene kapitel der Götzendämmerung nimmt das problem des wertes des lebens in angriff und hebt einen consensus sapientium hervor, d. h. ein grundlegendes einverständnis, das alle philosophen von sokrates bis schopenhauer verbindet. nach nietzsches ansicht kommen sie alle in dem einen urteil über das leben überein: ‚es ist nichts wert‘: „immer und überall hat man aus ihrem munde denselben klang gehört, – einen klang voll zweifel, voll schwermuth, voll müdigkeit am leben, voll widerstand gegen das leben“ (ebd., ). dieser konsens könnte ein zeichen seiner wahrheit sein, aber nach nietzsche belegt er etwas anderes: er kennzeichnet lediglich einen gemütszustand und einen gesundheitszustand. alle diese vom leben ermüdeten weisen sind décadents; die Tatsache, dass sie sich in Übereinstimmung befinden, beweist nicht, dass sie recht haben, sondern dass zwischen ihnen eine physiologische gemeinsamkeit besteht, die dazu führt, dass sie dieselbe ablehnende haltung gegenüber dem leben einnehmen mussten. daher haben die von der metaphysik vertretenen werturteile über das leben keinen wert (sei es als wahrheit oder als falschheit), sondern fungieren allein als symptome: sie sagen nichts über das leben aus, sondern über etwas, von dem sie selber getragen werden. die tatsache, dass seitens eines philosophen im wert des lebens ein problem gesehen wird, stellt einen einwand gegen ihn, einen einspruch gegen seine weisheit dar (ebd., f.). eine verurteilung des lebens durch den lebenden ist nicht mehr als ein symptom dieser bestimmten lebensform. es geht nicht darum zu diskutieren, ob eine solche verurteilung gerecht oder ungerecht ist. auf diese diskussion lässt man sich nicht ein, weil man sich nicht auf sie einlassen kann: „man müsste eine stellung ausserhalb des lebens haben, und andrerseits es so gut kennen, wie einer, wie viele, wie alle, die es gelebt haben, um das problem vom Werth des lebens überhaupt anrühren zu dürfen: gründe genug, um zu begreifen, dass das problem ein für uns unzugängliches problem ist“ (ebd., ). der wert des lebens kann nicht abgeschätzt werden. es scheint, dass nietzsche auf einen unverrückbaren, nicht weiter diskutierbaren punkt seiner philosophie trifft, auf ein element, das wir transzendental nennen können: das leben ist das letzte, die bedingung der möglichkeit aller werte, aber es selbst kann nicht bewertet werden. es ist jenseits von gut und böse. wenn durch einen lebenden das leben verachtet wird, manifestiert sich auch hier ein lebenstypus, jedoch ein absteigendes, herabgesetztes, erschöpftes leben. An dieser Stelle lässt sich bereits vorläufig für Nietzsches Position Bilanz ziehen: (1) hinsichtlich des verhältnisses zwischen nihilismus und metaphysik behauptet er, dass alle metaphysik nihilismus ist, dass aber nicht aller nihilismus metaphysik ist. und () gibt es eine enge verbindung zwischen metaphysik und dekadenz: diese ist der ursprung von jener. er bestätigt, was er geschichtlich beobachtet hat. aber welches verhältnis besteht zwischen nihilismus und dekadenz? die drei angezeigten formen des nihilismus (diagnose einer epoche, ergebnis der christlichen werte und ihres verfalls, glaube an die vernunftkategorien) führen zu einund derselben überlegung: die enge verbindung des nihilismus mit einer schwachen, dekadenten physiologischen konstitution. worin aber besteht die dekadenz? dazu ist daran zu erinnern, wie nietzsche über den pessimismus denkt: er ist die „vorform des nihilism“ (ksa, nf, , ). aber nietzsche unterscheidet zwischen einem „pessimis-

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mus der stärke“ und einem „pessimismus des niedergangs“, bzw. einem „pessimismus der schwäche“ (ebd., 0). da der pessimismus symptom sowohl der stärke als auch der schwäche sein kann, kann er kein letztes kriterium abgeben. in einem im frühling  verfassten fragment heißt es: „man hat neuerdings mit einem zufälligen und in jedem betracht unzutreffenden wort viel mißbrauch getrieben: man redet überall von pessimismus, man kämpft sonderlich, unter vernünftigen leuten zuweilen, über eine frage, auf die es antworten geben müsse, wer recht habe, der pessimismus oder der optimismus. man hat es nicht begriffen, was doch mit händen zu greifen ist: daß pessimismus kein problem, sondern ein symptom ist, – daß der name ersetzt werden müsse durch nihilismus, – daß die frage, ob nicht-sein besser ist als sein, selbst schon eine krankheit, ein niedergang, eine idiosynkrasie ist … die pessimistische bewegung ist nur der ausdruck einer physiologischen décadence“ (ksa, nf, , ). demnach ist der nihilismus nicht die ursache, sondern „die logik“ der dekadenz (ebd., ). wenn der nihilismus die logik der dekadenz ist, so ist diese der „entlegene grund“ des Nihilismus. Beim Nachdenken über die Ursachen dieses Nihilismus stöβt Nietzsche auf das fehlen einer höheren spezies, und dadurch „wird das ganze dasein vulgarisirt“ (ksa, nf, , f.). dekadenz ist demnach ein prozess der abnutzung, ein ‚natürlicher‘ und in diesem sinne notwendiger prozess, der ein teil der dynamik des lebens selbst ist: „der Abfall, Verfall, Ausschuß ist nichts, was an sich zu verurtheilen wäre: er ist eine nothwendige consequenz des lebens, des wachsthums an leben. die erscheinung der décadence ist so nothwendig, wie irgendein aufgang und vorwärts des lebens“. es lässt sich nicht behaupten, dass es umstände gibt, unter denen solche dinge nicht existieren. „aber das heißt das Leben verurtheilen … es steht einer gesellschaft nicht frei, jung zu bleiben […] alter schafft man nicht durch institutionen ab. die krankheit auch nicht. das laster auch nicht“ (ksa, nf, , f.). deshalb ist „die décadence selbst […] nichts, was zu bekämpfen wäre: sie ist absolut nothwendig und jeder zeit und jedem volk eigen. Was mit aller kraft zu bekämpfen ist, das ist die einschleppung des contagiums in die gesunden theile des organismus“ (ebd., ). diese überlegung erlaubt einen speziellen blick auf die moral wie auf gesundheit und krankheit. was die erstere betrifft, so behauptet nietzsche, aller moralische kampf gegen die krankheit sei eine „naivetät“ (ebd.), eine nutzlose anstrengung, die krankheit mittels der moralisierung zu bekämpfen (ebd., 0f.). was das zweite betrifft, so weist er auf folgendes hin: „Gesundheit und Krankheit sind nichts wesentlich verschiedenes, wie es die alten mediziner und heute noch einige praktiker glauben. man muß nicht distinkte principien, oder entitäten daraus machen, die sich um den lebenden organismus streiten und aus ihm ihren kampfplatz machen. das ist altes zeug und geschwätz, das zu nichts mehr taugt. thatsächlich giebt es zwischen diesen beiden arten des daseins nur gradunterschiede: die übertreibung, die disproportion, die nicht-harmonie der normalen phänomene constituiren den krankhaften zustand“ (ebd.). seltsam ist dennoch, dass die erschöpften oftmals mit den besseren verwechselt werden und die stärkeren mit den schädlichen (ebd.). nietzsche fasst seine position zusammen: „ich habe das glück und sei’s die ehre selbst noch mit, nach ganzen Jahrtausenden der verirrung und verwirrung, den weg wiedergefunden zu haben, der zu einem Ja und einem nein führt. ich lehre das nein ‹zu› allem, was schwach macht – was erschöpft. ich lehre das Ja zu allem, was stärkt, was kraft aufspeichert, was den stolz […] ein langes nachdenken über die physiologie der erschöpfung zwang mich zu der frage, wie weit die



Remedios Ávila Crespo

urtheile erschöpfter in die welt der werthe eingedrungen seien“ (ebd., ). bis wohin hat der nihilismus das schicksal der menschheitsgeschichte bestimmt? und gäbe es, wie auch immer die antwort auf diese frage ausfällt, die möglichkeit einer anderen art von nihilismus, die ihrerseits auf eine neue und andere bewertung des nichts verweist?

iii. der nihilismus als göttliche art des denkens wir haben gesehen, dass nietzsche den vorschlag macht, den begriff des pessimismus durch den des nihilismus zu ersetzen. da er aber zwei formen des pessimismus unterscheidet: einen pessimismus der schwäche und einen der stärke, muss diese unterscheidung auch für den nihilismus getroffen werden. in der tat gibt es neben dem nihilismus, der die ‚logik der dekadenz‘ ausdrückt, einen anderen, der mit einer höheren kraft einhergeht, einem überschuss an leben und macht. beide formen des nihilismus fallen zusammen mit zwei entsprechenden formen, das nichts zu bewerten und sie erlauben es, den ansatz nietzsches mit der zweiten der beiden schon herausgestellten traditionen in Verbindung zu bringen. In einem Fragment aus dem Frühjahr 1884, finden wir folgende überlegung: „der europäische pessimismus ist noch in seinen anfängen: er hat noch nicht jene ungeheure sehnsüchtige starrheit des blicks, in welchem das nichts sich spiegelt, wie er sie einmal in indien hatte“ (ksa, nf, , ). es scheint mir wichtig, diese überlegung über das nichts hervorzuheben, denn nicht nur antizipiert sie zu einem guten teil diejenige heideggers, sondern sie unterscheidet sich vor allem von jener anderen aus der Götzen­ dämmerung, die das nichts mit dem ‚letzten rauch der verdunstenden realität‘ in verbindung bringt. diese überlegung über das nichts und das leere, die keinen bezug mehr zum schrecken hat, geht in richtung einer tragischen philosophie, die nietzsche der kultur seiner zeit gegenüberstellte, insbesondere und vor allem der romantik entgegenstellte. der „perfekte nihilismus“, auf den sich nietzsche bezieht, besteht in der fähigkeit, dieses nichts zu betrachten, ohne in ihm zu verschwinden; er besteht in einem tragischen pessimismus, den nietzsche dem romantischen pessimismus gegenüberstellt. „das auge des nihilisten, das ins häßliche idealisirt, das untreue übt gegen seine erinnerungen (– es läßt sie fallen, sich entblättern; es schützt sie nicht gegen leichenblasse verfärbungen, wie sie die schwäche über fernes und vergangenes gießt; und was er gegen sich nicht übt, das übt er auch gegen die ganze vergangenheit des menschen nicht, – er läßt sie fallen“ (ksa, nf, , ). gegenüber dem vollkommenen nihilismus ist der unvollständige oder unvollkommene dadurch gekennzeichnet, dass dieser, obwohl er sich des nichts bewusst ist, noch immer auf der grundlage der alten werte fortlebt. der vollkommene oder ‚extreme nihilismus‘ setzt dagegen voraus, „[d]aß es keine wahrheit giebt; daß es keine absolute beschaffenheit der dinge, kein ‚ding an sich‘ giebt“ (ebd., ). dieser nihilismus wird „als ideal der höchsten mächtigkeit des geistes, des überreichsten lebens; theils zerstörerisch theils ironisch“ (ebd., ) betrachtet; er gibt auch den maßstab zur einschätzung unserer eigenen werte ab: „daß es das Maaß der Kraft ist, wie sehr wir uns die Scheinbarkeit, die nothwendigkeit der lüge eingestehn können, ohne zu grunde zu gehn. Insofern könnte Nihilism, als Leugnung einer wahrhaften welt, eines Seins, eine göttliche Denkweise sein“ (ebd., ). ‚eine göttliche denkweise‘: auch dies ist nihilismus. wie der pessimismus, so ist auch der nihilismus ein doppeldeutiger begriff,

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ein phänomen mit zwei seiten, das sowohl ‚zeichen der dekadenz und des verfalls: passiver nihilismus‘ als auch ‚zeichen der kraft im geiste: aktiver nihilismus‘ sein kann. dieser letztere erreicht sein maximum als gewaltsame, destruktive kraft; ihm gegenüber steht ein ermüdeter nihilismus, der nicht angreift und dessen berühmteste variante der buddhismus ist (passiver nihilismus). nietzsche beobachtet, dass der nihilismus nicht nur eine meditation über das: ‚alles ist vergeblich‘ ist, sondern dass er sich auch durch gewaltsames, vernichtendes, destruktives handeln auszeichnet. diese destruktion, die sich besonders gegen die vom christentum geltend gemachten moralischen werte und gegen die obersten prinzipien richtet, die fast seit den ursprüngen der griechischen philosophie gelten, öffnet den weg zu einer furchtbaren idee der ewigen wiederkehr: „das dasein, so wie es ist, ohne sinn und ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein finale ins nichts: ‚die ewige wiederkehr‘. das ist die extremste form des nihilismus: das nichts (das ‚sinnlose‘) ewig!“ (ebd., ). so versöhnt sich der extreme nihilismus, das ewige nichts, mit dem gedanken der ewigen wiederkehr durch die betrachtung der kraft als amor fati: „welche werden sich als die Stärksten dabei erweisen? die mäßigsten, die, welche keine extremen glaubenssätze nöthig haben, die, welche einen guten theil zufall, unsinn nicht nur zugestehen, sondern lieben, die welche vom menschen mit einer bedeutenden ermäßigung seines werthes denken können, ohne dadurch klein und schwach zu werden: die reichsten an gesundheit, die den meisten malheurs gewachsen sind und deshalb sich vor den malheurs nicht so fürchten – menschen die ihrer Macht sicher sind, und die die erreichte kraft des menschen mit bewußtem stolze repräsentiren (…) wie dächte ein solcher mensch an die ewige wiederkunft?“ (bd., ). darin bestünde der aktive nihilismus. es ist wahr, dieser extreme nihilismus ist gefährlich, weil er den abgrund und das leere, die uns ‚tragen‘, und damit auch die wurzeln des denkens ‚auf gefährliche weise in der luft‘ hängen lässt, dass er keinerlei sicherheit bietet. und es ist wahr, dass sich in ihm die hybris eines heroischen willens auszudrückt. aber das denken ist nie ein einfaches abenteuer gewesen. nietzsche weist auf genau diesen umstand hin, wenn er sein eigenes denken als tragisches bezeichnet. genauso wie le carré, so könnte auch nietzsche unterschreiben, dass es ‚kein geheimes zentrum“ gibt, und dass nach der letzten tür die leere ist‘. aber diese überlegung über das nichts, das uns trägt, dieser nihilismus, führt ihn nicht zu dem gedanken, dass es nichts zu tun gibt, sondern dass es noch alles zu tun gilt; er lädt damit nicht zur Verzweiflung ein, sondern ruft zum Handeln und zur Verbindlichkeit durch das Handeln auf. Für dieses spezielle Abenteuer des Denkens, dem sich Nietzsche verpflichtet hatte, musste er sich einen begleiter suchen, der ihm seine last erträglicher, das ihm auferlegte gewicht leichter machen konnte: das lachen, die ironie, den humor, einen gemütszustand, der sich von allen anderen unterscheidet: „um aber diesen extremen pessimismus zu ertragen (wie er hier und da aus meiner ‚geburt der tragödie‘ heraus klingt) ‚ohne Gott und Moral‘ allein zu leben, mußte ich mir ein Gegenstück erfinden. Vielleicht weiß ich am besten, warum der mensch allein lacht: er allein leidet so tief, daß er das lachen erfinden mußte. Das unglückliche und melancholische Thier ist, wie billig, das heiterste“ (ksa, nf, , ). (deutsche übersetzung: marcus weigelt; durchgesehen: volker rühe)

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nietzsche on context and the individual

i. introduction napoleon’s advance into russia and the abandonment of moscow by the russian army in September 1812 provides the focal point for many of the significant events of Leo nikolayevich tolstoy’s War and Peace: the union of Nikolay and Princess Marya; a final reconciliation between prince andrey and natasha; pierre’s captivity and transformation. tolstoy also uses the abandonment of moscow as a platform for a discussion of the relationship between the individual and his historical context. he asks us to think about why individuals act as they do: „why did it happen? what can have induced these people to burn houses down and murder their fellow creatures?“ – tolstoy’s answers challenge our intuitions about individual freedom. one can distinguish three strands of individual freedom, all of which he seeks to undermine. first, a backward-looking strand: to be free, we must be free from context – we must be able to decide or act, believe or value in spite of, say, our history, environment or intellectual climate. this, tolstoy suggests, is an unreasonable assumption. napoleon and alexander believe that they act freely; however „every action they perform, which they take to be self-determined and independent, is […] interconnected with the whole course of history and predetermined from eternity“. in what way ‚predetermined‘? tolstoy doesn’t say (for reasons we shall come to). nonetheless, it is clear that he wholly rejects the image of the individual as prime mover of his thoughts and actions. – second, a forward-looking strand: once my decision is made, i must be able to bring about that which i desire. there would be no overall freedom in coming to some context-independent decision to X, if i am then compelled not to X. often, tolstoy claims, individual decisions make no practical difference. kutuzov at the Council of War after Borodino might freely decide to fight for Moscow, not to abandon it; but, tolstoy insists, whatever he decides there will be no battle, because the army isn’t positioned correctly and it has no will to fight. This second strand, while significant, will not play a part in this paper. – third, an epistemic element: even if my actions and values  

Tolstoy, Lev Nikolayevich, War and Peace, Penguin, London 2005 (1869), 1318. Hence Tolstoy’s claim that War and Peace isn’t a novel at all. See 1379. Ibid., 671.

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are free from past influences (first strand) and that I successfully pursue those actions and values (second strand), one could argue that i am not truly free unless i know that this is the case. we cannot know why napoleon decided to march eastwards; and we cannot know why thousands of frenchmen obeyed him or why thousands of russians allowed him to reach moscow. with so many interlocking wills, events, actions, and so on, how could we possibly know what causes any event to happen? at the level of human thought and action, questions of causation are inappropriate: „the more deeply we go into the causes, the more of them there are, and each individual cause, or group of causes, seems as justifiable as all the rest, and as false as all the rest in its worthlessness […] (unless you combine it with all the other associated causes)“.3 Combining the first and third strands of Tolstoy’s thinking, he claims that some unknown and perhaps unknowable forces determine the course of our lives. yet many reject his epistemic scepticism whilst retaining his negative conclusions about freedom. in ‚historical inevitability‘, isaiah berlin presents a vast spectrum of theories and outlooks, which, despite their differences, conclude that individual freedom is impossible. Hence Tolstoy is joined in his conclusion regarding the first strand by those who disagree regarding the third – by those, indeed, who think that we know too much about causation to believe in freedom. berlin divides theories of this kind into the teleological, the metaphysical and the scientific. teleological theories (georg wilhelm friedrich hegel and karl marx) claim that things are heading inevitably in some direction. metaphysical theories present a ‚reality‘ in contrast to the world of ‚appearance‘ (platonists and ‚eastern philosophy‘5) which undermines the significance of the individual. Scientific theories (marquis de condorcet and august comte) posit a physical or biological pattern from which the individual cannot escape. isaiah berlin labels all these theories ‚deterministic‘: Just like tolstoy, despite different epistemology, such theorists reject individual freedom: „the lives, characters and acts of individuals, both mental and physical, are governed by the larger ‚wholes‘ to which they belong“; „how then can i help choosing and acting as i do? the values in terms of which i conduct my life are the values of my class, or race, or church, or civilization, or are part and parcel of my ‚station‘ – my position in the ‚social structure‘“.6 in this paper, i present nietzsche as a contributor to the debate about individual freedom. In particular, I present Nietzsche’s thoughts in relation to the first strand. He was fundamentally concerned with the influence of context upon individual freedom. As early as HA, he writes: „The past continues to flow within us in a hundred waves; we ourselves are, indeed, nothing but that which at every moment we experience of this continued flowing“. 7 and in the later ti: „the individual is, in his future and in his past, a piece of fate […]. to say to him ‚change yourself‘ means to demand that everything should change, even in the past“. 3  5 6 7 

Ibid., 668. berlin, isaiah, Historical Inevitability (1953), reprinted in his Four Essays on Liberty, oup, oxford 1969, 48ff. Ibid., 104. Ibid., 62ff. HA II, 223. TI IV, 6.

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Such quotations suffice to place Nietzsche among Berlin’s ‚determinists‘. However, as with tolstoy, to pin nietzsche down to any one of berlin’s many determinisms is extremely difficult. He doesn’t offer any teleological explanation of history – instead emphasising the contingency of our values; he is critical of metaphysical explanation; he often attacks scientists and the ‚will to truth‘. nonetheless, nietzsche clearly holds, and to a substantial degree, that our thoughts, actions and values are determined by our context. (That is a central message of GM.) This is sufficient for my purposes. For I claim that Nietzsche’s contribution to the general discussion lies not in his providing some new theory of freedom or determinism; rather, it lies in undermining the value placed upon individual freedom given, as all agree, that the individual’s context has such a significant influence. this paper offers an interpretation of Thus Spoke Zarathustra (z) in the light of these concerns. at the heart of that book is the problem of individual freedom vs. the many influences of context. This problem is most apparent in the conflict between Zarathustra’s initial ideal of übermensch and his subsequent acceptance of eternal recurrence.

II. An Initial Conflict When Zarathustra first comes down from his mountain, he addresses his audience: „I teach you the übermensch“.9 these teachings, we are to understand, are „the gift“ that he is going to „bring to mankind“.10 By Part 3 of Z, Zarathustra is „the teacher of Eternal Recurrence“. eternal recurrence states that everything that happens has happened before and will continue to happen over and over again for eternity. zarathustra’s animal companions explain it as follows: „i shall return eternally to this identical and self-same life, in the greatest things and the smallest.“ a certain time period (a „great year“) is repeated again and again, identically. – zarathustra is teacher of übermensch and eternal recurrence. yet, on prima facie interpretations of übermensch and eternal recurrence, the two concepts conflict. On the one hand, Zarathustra encourages man to make progress – to become übermensch. on the other hand, eternal recurrence entails that, even if man makes progress towards becoming übermensch, his efforts will in any ultimate sense have been in vain. for eternal recurrence entails that, even if we succeed in ‚overcoming man‘ (as zarathustra entreats), we know that man will return – not just once, but eternally. – there are three critical responses to this initial conflict. Firstly, some commentators don’t accept, even prima facie, that there is tension between the progress of the übermensch and 9 10  

Z P 3. I shall use Übermensch in place of translator’s preferred Superman. z p . Z III, 13, The Convalescent. Z III, 13, The Convalescent. Earlier in Z III 13, Zarathustra rejects some of what the animals say to him, calling them „buffoons and barrel-organs“. this rejection is aimed at their lack of appreciation of the significance of Eternal Recurrence. However, there has been speculation that their description of eternal recurrence itself (not merely their grasp of its consequences) is thereby undermined. i don’t take this suggestion very seriously, principally because i am yet to discover a convincing account of what else eternal recurrence might be. for an attempted alternative, see adrian moore, Williams, Nietzsche, and the Meaninglessness of Immortality, in: Mind, Vol. 115, No. 458, 2006.

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the undermining of progress as indicated by eternal recurrence.13 second, other commentators accept that there is a prima facie conflict, but argue that this conflict resolves during z. the third interpretation (which i offer) is as follows: zarathustra initially offers the ‚gift‘ of the übermensch to man; but, when he understands eternal recurrence, he realises that Übermensch is flawed.15 This paper argues for a version of the third response. The initial conflict between übermensch and eternal recurrence is not neutralised by a closer reading of z; rather, it is deepened and a further conflict is revealed. My argument is in three stages. First, I look at what zarathustra says about ‚overcoming‘: the ‚overcoming‘ of aspects of individuals and the ‚overcoming‘ of man himself. second, i argue that the übermensch is one possible response to the idea of overcoming – one which requires us to forget about the context which determines our moral values. third, i explain why eternal recurrence undermines Übermensch as a response to overcoming: Übermensch is insufficiently life-affirming, because affirmation requires remembering the past (including the context which determines our moral values), whereas übermensch requires forgetfulness.

iii. two overcomings zarathustra’s opening words to his audience are as follows: „i teach you the übermensch. man is something that should be overcome“.16 i begin by presenting an interpretation of overcoming and how this relates to the übermensch. in part , zarathustra tells his friends that „a table of values hangs over every people […] it is the table of its overcomings“.17 zarathustra does not explain in any detail what he means by ‚overcoming‘ in this context; therefore, we may be justified in looking elsewhere in Nietzsche’s writing for some kind of definition. – It is Nietzsche’s consistent message regarding morality (as zarathustra would have it, ‚tables of values‘) that to be moral is to be divided in some sense: morality is „the self-division of man“.19 this 13

 15 16 17 

19

ivan soll, Reflections on Recurrence, in: robert c. solomon (ed.), Nietzsche: A Collection of Criti­ cal Essays, University of Notre Dame Press, Notre Dame 1980; Walter A. Kaufmann, Nietzsche: Philosopher, Psychologist, Antichrist, PUP, Princeton 1950; Kathleen M. Higgins, Reading Zara­ thustra, in: kathleen higgins and robert c. solomon (eds.), Reading Nietzsche, oup, oxford 1988. Laurence Lampert, Nietzsche’s Teaching, New Haven 1986; Robert Gooding-Williams, Nietzsche’s Life Sentence, New York 2001. robert b. pippin, Irony and Affirmation in Nietzsche’s Thus Spoke Zarathustra in: michael allen gillespie and tracy b. strong (eds.), Nietzsche’s New Seas, Chicago 1988. Z P, 3, (my emphasis) – see also Z I, 5. Z I, 15, The Thousand and One Goals. nietzsche uses ‚morality‘ in two different ways: the set of values of a certain people at a certain time; or the set of values of his people at his time (namely: 19th century christian european morality). Zarathustra’s discussion of the moralities of the Jews, Persians etc at Z I, 15 indicates that he intends the former. hence when i am discussing nietzsche’s claims about morality and overcoming, i too mean the former. for more on nietzsche’s use of the term ‚morality‘, see raymond geuss, Nietzsche and Morality, in: European Journal of Philosophy 5, 1997. HA I, 57. See also GM II, 18.

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division lies at the heart of overcoming: morality is one part of the individual trying to overcome another part. often enough, the objects of this moral overcoming are the individual’s „passions“ or „feelings“.20 nietzsche also talks of the overcoming of some aspect of man’s nature, which amounts to the similar claim that our morality consists in the overcoming of certain instinctive or natural features of ourselves (such as our passions). thus in bge, nietzsche states that „every morality is […] a bit of tyranny against nature“, where nature is best not understood as a metaphysical concept but as that which comes naturally to the individual concerned. indeed, nietzsche names a chapter of ti Morality as Anti­Nature, in which he states that „virtually every morality which has hitherto been taught, reverenced and preached“ has been an „anti-natural morality“ (where an „anti-natural morality“ is one which amounts to a „condemnation of the instincts“ of the individual). the connection between morality and overcoming, then, is that the moral man „divides his nature and sacrifices one part of it to the other“.23 which aspects or parts of our nature does our morality demand that we overcome? nietzsche speaks of the morality of a people in terms of overcoming what comes most naturally to that particular people. This definition of overcoming is explicitly given in ha: „to be a good german means to degermanise oneself“ – the german becomes good by „overcoming his german qualities“. this is echoed by zarathustra when he talks about the different tables of overcomings for the persians and the Jews. hence, the moral code of any particular people is contingent upon the history, the background, the context of that people. this is put so strongly that zarathustra makes the extraordinary claim that if he were told everything he wanted to know about any people’s „need and land and sky and neighbour“25 (its context), he would be able to „divine the law of its overcomings“: so strict is the relationship between morality and context that knowledge of the latter is sufficient for calculating the former. Zarathustra is making the point that the table of values for any individual – the particular way in which that individual is divided against his own nature – is determined completely by the history of the society of which that individual is a member.26 we now have an interpretation of zarathustra’s claim that a table of values is a table of overcomings. individuals are divided. the table of values (the morality) is a table of the ways in which individuals within some particular society seek to overcome aspects of their natures, which vary according to context. This first kind of overcoming occurs at the level of individual men. what would it be to overcome man in general? the use of ‚overcoming‘ as a feature of human value systems and as a description of what man must do to become übermensch provides the clue as to how we should answer this question. suppose the two uses of ‚overcoming‘ differ only in scope, rather than in meaning. the first overcoming concerns smaller populations (the Persians, the Jews) and looks at how their moralities repress aspects of what comes naturally to them. the second overcoming 20   23  25 26

HA WS, 53; HA WS, 136. BGE 188. See also HA I 57; HA II 323. ti iv, . HA I, 57; D, 9; D, 109. HA II, 323. Z I, 15, The Thousand and One Goals. See also D, 38 and GS, 116.

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looks at man as a whole: what comes naturally to man is precisely to be divided between his nature and morality (overcoming). zarathustra tells us that every man obeys a table of values which is determined by his context. crucially, then, übermensch overcomes that very division between nature and morality which characterises every man.27 the kind of overcoming offered by übermensch is an instance of overcoming, in that man must strive to overcome something which comes naturally to him (namely: to be divided by a morality which is determined by his context). however übermensch represents not just any instance of overcoming, but a new, second-order overcoming. the object of this second-order overcoming is the divide between nature and morality which constitutes the various other (first-order) overcomings, such as those of the Persians, Jews or Germans. An earlier aphorism supports this interpretation. At HA I 40, Nietzsche calls man „das Ueber­Thier“ (the over-animal) because he has overcome his animal past. the animal ‚man‘ becomes the ‚over-animal‘ just when he becomes divided, when he ‚imposes sterner laws upon himself‘. without this moral division, man ‚would have remained animal‘. animal man becomes over-animal man when he becomes moral and overcomes what it is to be animal. so, i claim, man becomes übermensch when he overcomes the very division which made him man (the over-animal) in the first place. To repeat this important point, nietzsche’s major claim is that the übermensch represents the (second-order) overcoming of the (first-order) overcoming which is constitutive of man.- Zarathustra illustrates this point when he concludes Z I 15 (which is called The Thousand and One Goals) by claiming that the thousand tables of values are a beast with one thousand necks. we are lacking the final, thousand-and-first goal, which would provide „the fetters […] for these thousand necks“. this beast is the nature vs. table of values structure represented in each society. Supposing that, as Zarathustra implies, this thousand-and-first goal is to be provided by Übermensch, this fits well with my interpretation. After all, Übermensch treats the thousand different value systems as arising out of the same beastly division of man; the thousand-and-first goal is, of course, to overcome this division which is instantiated one thousand times. my intention is to present z as a commentary on the relationship between the individual and his context. this brief discussion is a helpful start. what is fundamental to man is to be divided by context-dependent values. somehow, übermensch is meant to overcome this context-dependent division

iv. übermensch and context-free values in the previous section, i argued that ‚overcoming‘, both that which is inherent in all moralities (first-order) and that which must be achieved with respect to man (second-order), provides an explanation of übermensch. in this section, i support that interpretation by 27

zarathustra (and, in places, nietzsche) presents the division as a general feature of mankind. two points here: first, Nietzsche later offers a more subtle analysis of the various ‚nature vs. values‘ divides in different moralities (notably in a); christianity emerges as most divisive. second, we should be wary of crediting nietzsche with a theory of human nature (a basic or essential picture of man), although sometimes he does speak that way. hence, one might argue that zarathustra thinks he is offering a basic picture of man; but in fact he is merely expressing a context-dependent (christian) analysis.

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appealing to what zarathustra says about übermensch. most of this occurs in the prologue and in part . at the beginning of part , zarathustra describes „three metamorphoses of the spirit: the spirit shall become a camel, and the camel a lion, and the lion at last a child“. these three metamorphoses describe a progress from man towards übermensch. many commentators appear to have missed the implicit structure of part 29: following his first speech about camel, lion and child, Zarathustra makes no explicit reference to those three creatures – but on close reading it is clear that part  is structured such that zarathustra looks at each in turn.30 thus although part  makes little explicit reference to übermensch, it is structured to illustrate how man becomes übermensch. the description of these three metamorphoses (camel, lion, child) enable us to understand how übermensch will differ from man. what zarathustra describes is not a physiological transformation – a natural evolution or a programme of eugenics – but rather a development in the relationship between the individual and his system of context-depending values. – The camel spirit readily takes difficult ‚moral‘ burdens upon itself: it obeys the „great dragon […] which is called ‚thou shalt‘“. zarathustra here talks of man’s desire to punish himself (or „burden himself“) with difficult and heavy rules (moralities), whether they are Christian morals („to love those who despise us“) or scientific morals („for the sake of truth to suffer hunger of the soul“).31 zarathustra illustrates the camel spirit, its desire for heavy moralities and the psychological reasons for this: the „academic chairs of virtue“, who „must discover ten truths a day“ in order to sleep at night32; the „afterworldsmen“, who created gods and other worlds out of „suffering and impotence“33; the „despisers of the body“, „angry with life and with the earth“.34 – the lion spirit breaks free from „thou shalt“. the lion cannot create new values, but can „create itself freedom for new creation“.35 it can replace the camel’s obedience to „thou shalt“ with its own „i will!“ – a „sacred no“ to the commands of the dragon. again, zarathustra’s speeches flesh out what he means by the lion spirit: the „warriors“ for whom the „highest idea“ is that „man is something that must be overcome“36; those who „flee into solitude“37 (it is „in the loneliest solitude“ in which the camel can change into the lion) away from the herd morality. the lion spirit illustrates how we must say ‚no‘ to our context-dependent moralities as a step towards bringing about the übermensch. – the lion must become a child: for „the child is innocence and forgetfulness, a new beginning“ – a sacred ‚yes‘  29

30 31 32 33 34 35 36 37

z i, , Three Metamorphoses. others have not. for more detailed discussion of this point see michael allen gillespie, Nietzsche and the Anthropology of Nihilism, in: Nietzsche­Studien 2, Berlin 1999, 145; Lampert (1986), 35; Gooding-Williams (2001), 132. Roughly: the camel is illustrated at speeches 2, 3 and 4, the lion at 10, 11 and 12 and the child at 17. z i, , Three Metamorphoses. z i, , The Teachers of Virtue. Z I, 3, The Afterworldsmen. z i, , The Despisers of the Body: Zarathustra here makes familiar Nietzschean points (GS 344; gm). z i, , Three Metamorphoses. Z I, 10, War and Warriors. z i, , The Flies of the Market Place.

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which follows the ‚no‘ of the lion. zarathustra calls the child spirit a „self-propelling wheel“ and a „first motion“.38 Later in Part 1, he uses the very same metaphors when addressing the ‚creators‘. If you want to be both „self-propelling wheel“ and „first motion“, you must be „free“: free, that is, in order to „furnish yourself with your own good and evil“; you must „hang up your own will above yourself as a law“.39 Crucially, the Lion’s ‚no‘ is still a reaction to old values; it is still dependent on context and circumstance, rather than a true creation of new values (a ‚first motion‘). The Lion demonstrates that even somebody who stands in opposition to all the values of his time is still context-dependent. if i am „the person who struggles against X“, then i am still dependent on X for my defining characteristics.40 in this respect, the child differs completely from the lion: the child is „self-propelling wheel“ and „first motion“; the child is „innocence“ and „forgetfulness“. As first motion, the child is uncaused cause (hence „self-propelled“) of what it creates. as „innocence“ and „forgetfulness“, the child is completely ignorant of what has gone before it. hence the new values, created by the child, must not merely be a reaction to the old, but rather an entirely new, uncaused, innocent and context-free creation. tracy strong has suggested that the child connects with nietzsche’s notion of „conscious innocence“; but zarathustra does not mention ‚conscious‘ innocence. instead, it is fundamental to the child spirit that it has no self-awareness – this would undermine its status as a break from the past. zarathustra in some respects repeats nietzsche’s use (in an earlier essay) of the image of a child as „unhistorical“ and in a „state of forgetfulness“: the child, „having as yet nothing of the past to shake off, plays in blissful blindness between the hedges of past and future.“ in that essay, nietzsche had argued that an excess of historical consciousness has a variety of debilitating effects. he recommends the cultivation of certain kinds of illusion with respect to the past – ‚for the sake of life and action‘. This thought finds an echo in zarathustra’s übermensch. it is not clear exactly how zarathustra’s child relates to übermensch. it is unlikely that the child is the übermensch: it would be peculiar to choose a (human) child to represent übermensch. in any case, what is crucial for my argument is that zarathustra considers the child necessary for übermensch. that is, becoming übermensch requires forgetting the dragons, camels and lions of the past – a fresh start, unencumbered by context or past moralities. man is characterised by his enslavement to context-dependent tables of overcomings. if we want to become the übermensch, we must replace the „table of values which hangs over“ us, which results from our „need and land and sky and neighbour“43; we must replace it with our own will – so that „[our] will hangs above [us] as a law“. 38 39 40   43 

z i, , Three Metamorphoses. Z I, 17, The Way of the Creator. The Lion spirit is closely related to HA’s „Free Spirit“ (HA I, 225) – although I cannot pursue this connection here. tracy b. strong, Friedrich Nietzsche and the Politics of Transfiguration, Berkeley 1975, 259. udh, . nietzsche’s world-view is quite different in that essay. a discussion of the difference is beyond the scope of this paper. Z I, 15, The Thousand and One Goals. Z I, 17, The Way of the Creator.

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We can summarise significant points of Sections III and IV as follows: (1) Every morality is a set of rules which restricts aspects of the nature of individuals; () every morality arises out of a people’s context; (3) A necessary step towards becoming Übermensch is becoming the child spirit; () the child spirit can create freely because it is forgetful: it has forgotten the context which would otherwise determine its values; (5) Hence Übermensch overcomes man because he no longer experiences an internal conflict between his nature and context-dependent values; he obeys only his own will.

V. Eternal Recurrence and the Affirmation of Life eternal recurrence states that a certain time period is repeated and that every detail of what happens in that time will also be repeated. eternal recurrence is described differently in Thus Spoke Zarathustra from elsewhere in nietzsche’s writings (published and unpublished). an important interpretative question is whether we are to understand eternal recurrence as a metaphysical doctrine or not (and, if not, then what?).45 In one of the first passages in which Nietzsche writes about Eternal Recurrence (written before z) it is clear that he intends it not as metaphysical doctrine, but as a thought experiment, designed to test the extent to which we affirm our lives. In Part 4 of GS, Nietzsche asks how we would react „if a demon were to“ tell you about eternal recurrence. „would you not“, nietzsche asks the nay-sayer, „throw yourself down and gnash your teeth and curse the demon who spoke thus“? Hence the test of how much you affirm life: for „how well disposed would you have to become to yourself and to life to crave nothing more fervently than this ultimate eternal confirmation?“46 here in gs, eternal recurrence is posed by nietzsche (unambiguously) as the ultimate test of how much we love our lives: enough to find ‚Godlike‘ the prospect of living the exact same life an infinite number of times. in some of his unpublished notes, however, nietzsche appears to suggest that eternal Recurrence is more than just a test – it is a reality. He calls it „the most scientific of all possible hypotheses“ and some have argued that he gives (in his notes) the outlines of a supporting scientific argument. Since it remains an impossible task to interpret nietzsche’s notes, especially given that, as kaufmann says, „the manner in which he utilized his notes in his other finished books makes it clear that many notes would have been given an entirely new and unexpected meaning“47, these notes – while interesting – should not be allowed to form a basis for an interpretation of eternal recurrence. In Z, we find a synthesis of Eternal Recurrence as life-affirming test and metaphysical doctrine. Zarathustra certainly equates being life-affirming with wanting wholeheartedly the eternal repetition of one’s own existence – that is why he tells the pessimistic dwarf 45 46 47 

For a useful overview of various critical interpretations of Eternal Recurrence: Lawrence J. Hatab, Nietzsche’s Life Sentence, New York 2005, Chapter 6. GS, 341. Kaufmann (1950), 19. See Soll (1980) for a good selection and discussion of Nietzsche’s unpublished notes on the Eternal recurrence.

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that eternal recurrence is a thought which „you could not endure“49; however, the conditional nature of eternal recurrence, as emphasised in gs („what if …“50), is simply not found in z. in other words, while nietzsche may not have believed in eternal recurrence from what zarathustra says, zarathustra believes that all recurs eternally: „must not all things that can happen have already happened? […] must we not return eternally?“51 nietzsche had shown himself capable of expressing eternal recurrence as a mere thought experiment; but in the mouth of zarathustra, he chose not to. this is not because nietzsche changed his mind about the metaphysical status of eternal recurrence. rather, it is because treating eternal recurrence as real has important consequences in the context of Thus Spoke Zarathustra – especially as regards übermensch. some have thought that zarathustra can’t believe in a metaphysical eternal recurrence because he rejects the metaphysical doctrines of the „afterworldsmen“52 – his word for those who believe in other worlds which are in some sense beyond our own (heaven or kant’s transcendental metaphysics53 ). if zarathustra rejects afterworlds, then how can he consistently endorse Eternal Recurrence which, after all, posits an infinite number of afterworlds? the resolution of this apparent inconsistency comes with a full appreciation of how eternal recurrence differs from the afterworlds of the afterworldsmen. it is also important in coming to understand how Übermensch and Eternal Recurrence conflict. – the afterworlds zarathustra rejects are those created in order to turn away from the real world, towards the fictitious ‚beyond‘; they are „another existence in which to creep“54; they are, in short, an escape. this contrasts starkly with the ever-recurring afterworlds of eternal recurrence; those afterworlds are no escape at all, because they are identical to this world. instead of allowing the weaker minded and unhappy to turn away from the real world and look to afterworlds, eternal recurrence forces them to face this world head on – for it is this world they must experience for all eternity, this world from which they cannot escape. This confirms Eternal Recurrence as an acceptable metaphysical doctrine for zarathustra, regardless of whether or not nietzsche himself believed it. in assessing eternal recurrence in this way, we have also highlighted another important point: Zarathustra values affirmation of life. His criticism of Afterworldsmen is not that their doctrines are false, but that they exhibit a negative attitude towards the world. the same applies to other „camel spirits“: the „despisers of the body“ are „angry“ with life55; the „preachers of death“ are „weary of life“ and preach that „life is refuted“56. Throughout Z, Zarathustra never abandons his commitment to affirmation of life as currency of value.

49 50 51 52 53 54 55 56

z iii, , The Vision and the Riddle. GS, 341. z iii, , The Vision and the Riddle. Z I,3,The Afterworldsmen. WS 44; D P, 3. Although these are examples from Nietzsche’s other works – not Z. Z I,3,The Afterworldsmen. z i, , The Despisers of the Body. Z I, 9, The Preachers of Death.

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VI. Conflict Revisited we might have hoped that the discussion of übermensch and eternal recurrence would have made it clearer how the two fit together. In fact, not only have we not solved the initial conflict – we have made it worse. Now we have a further conflict. On the one hand, zarathustra’s innocent, forgetful child is necessary for the übermensch – so that übermensch can escape from his context and be truly free to express his own will. on the other hand, if we want to be maximally affirmative towards life, then we must affirm everything that has happened in the past to the extent that we wish it to recur eternally. at the end of section iv, i summarised the relationship between übermensch and context ((1) to (5)). From that summary and our discussion of Eternal Recurrence, the tension between übermensch and eternal recurrence can be formalised: () an individual is valued (by Zarathustra) to the extent that that individual exhibits an affirmative attitude towards life. (2) The greatest affirmative attitude towards life is exhibited by him who is made joyful by the eternal recurrence of all things – including whatever has happened in the past. (3) The Übermensch is only possible if we forget the context which determines our moralities; for only then can we freely create values ((1) to (5)). (4) Therefore, the Übermensch cannot be maximally affirmative towards life (from (7) and (8)). The tension between Übermensch and Eternal Recurrence is located at (7) and (8): Eternal Recurrence demands remembrance in order to affirm ((7)) and Übermensch requires forgetfulness (()). one attempt at reconciliation, then, between eternal recurrence and übermensch might lie in the notion of ‚forgetting‘, which has so far remained unanalysed. if one could demonstrate that nietzsche uses the term ‚forgetting‘ in two different ways, then one might argue that übermensch forgets his context (in the sense required for (8)) and yet simultaneously remembers it (in the sense required for (7). I should like to consider two such arguments, each making use of differing interpretations of remembering and forgetting. A first argument for the resolution of the conflict might proceed as follows. Consider the übermensch’s forgetfulness. zarathustra can hardly mean ‚forget‘ in the sense that i mean when i say „i have forgotten my umbrella“ (a momentary absence from consciousness. after all, the subject matter that übermensch must forget) the context which would otherwise determine his morality – is wide-ranging, detailed and as such rarely directly present in anyone’s mind. so what can ‚forgetting‘ mean? presumably, it has nothing to do with consciousness, but rather it has to do with our motivations for valuation.57 you aren’t directly aware, zarathustra claims, of your (context-dependent) motivations for valuing X; but nonetheless, such motivations act upon you. übermensch will have no such motivations – he will have ‚forgotten‘ them. – is it ‚motivational‘ remembrance that is required for the affirmation of the past at (7)? No (so the argument goes). Suppose X is some past event: in order to exhibit an affirming or negating attitude towards X, I must believe (in some sense) that X happened – and that is all. This makes the affirmation demanded by Eternal Recurrence propositional in nature: „I affirm X“.What seems to be 57

the forgetfulness of the child in Thus Spoke Zarathustra differs from another kind of nietzschean forgetting, namely the active force of forgetting which nietzsche claims is needed to prevent certain perceptions from disturbing our conscious thoughts (gm, ii, ).

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required for affirmation, then, is the kind of ‚presence in consciousness‘ remembrance which we rejected when analysing (). so (the argument continues) übermensch can motivationally-forget his past as required at () (what happened to his ancestors does not motivate what he values); but he can simultaneously consciously-remember the facts about his past (as if told about it in a history lesson), in the sense required for affirmation at (7). We must reject this first argument when we consider the notion of affirmation as presented by zarathustra. presupposed by the discussion of the kind of remembrance required for affirmation is that I can affirm or negate X only when X is present to my mind. Perhaps that is one way I might affirm or negate X; but Zarathustra makes it clear that it is not the only way. The first affirmative type discussed in Thus Spoke Zarathustra is the child spirit: its ‚innocence and forgetfulness‘ is necessary for the „sacred yes“ 58 (an affirmation). The metaphor of the child as affirmer suggests that conscious, present-to-mind affirmation is not at the forefront of Zarathustra’s thought. It hardly makes sense of the metaphor to claim that the child is affirmative because it consciously affirms specific facts and events. Instead, Zarathustra indicates a more subtle affirmation: the child’s ‚yes‘ is brought out by the way it behaves, by the attitudes it displays. similarly, the life-negating „despisers of the body“59 do not explicitly say „we are angry with life“; rather their negation is brought out in how they act. Feeding this more subtle notion of what it is to affirm back into the argument, we now see that it fails. Übermensch does not fail to affirm his context in the sense that he consciously says ‚no, I don’t affirm that context‘ (that kind of explicit negation is exhibited by the lion, who consciously says ‚no‘ to the dragon’s ‚thou shalt‘). rather, übermensch fails to affirm his context in the way that he behaves and in the attitudes he displays towards that context. by his very existence, übermensch must display a negating attitude towards the past: he must imply by his actions, by his very (motivational) forgetfulness, that he does not value it. It is for this reason that the conflict persists and that Zarathustra must abandon übermensch. This counterargument to the first attempt at resolution of the conflict might be grounds for a second attempted resolution. I have just explained that affirmation of the past (which requires remembering the past and hence is problematic for übermensch) is to be found in the way the individual behaves, not in his consciousness. a second argument against the further conflict might then proceed as follows. No kind of remembering is necessary for the affirmation of the Eternal Recurrence. We just need a generally positive attitude towards past, present and future, whatever that past, present or future may be. hence Eternal Recurrence might require merely a content-free cheerfulness – an ‚affirmation‘ which is not an ‚affirmation of‘. That Nietzsche may have had something like this in mind, might be indicated by his endorsement of amor fati.60 pursuing this second argument against the conflict, one might argue that this love of fate indicates love (an affirmative attitude), regardless of whatever happens, rather than a specific love (or affirmation) of what has happened – the latter alone being what is problematic for übermensch. the former would allow for an übermensch who has forgotten about the past in the motiva58 59 60

z i, , Three Metamorphoses. z i, , The Despisers of the Body. GS, 276; EH, „Why I am so clever“, 10.

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tional sense I argued for above, but who affirms it as a result of having such a positive attitude (never mind whatever happens to have happened). i doubt that this is what nietzsche intended by amor fati. in any case, zarathustra is reasonably clear that it is not what he intends by a very similar kind of claim. against this second argument, therefore, consider zarathustra’s version of amor fati (or something very like it): „to redeem the past and transform every ‚it was‘ into an ‚i wanted it thus!‘“61 It is not (as the second attempted resolution would have it) that the redeemer (and affirmer) has a generally positive attitude towards things, regardless of the specifics. Rather, zarathustra’s comments here indicate a more complex task: to consider every ‚it was‘, and to transform each and every ‚it was‘ into an ‚i wanted it thus‘. this is not a contentfree affirmation, but affirmation which must be directed towards every ‚It was‘ – towards the past. I have already argued above that the affirmation is not a conscious, propositional one. hence, the best option we have is the motivational kind of remembering. it is precisely that motivational remembering which is problematic for übermensch.

vii. zarathustra’s rejection of übermensch this section considers the textual evidence for zarathustra’s rejection of übermensch which supports the philosophical considerations offered previously. there is a great deal of textual evidence that zarathustra rejects übermensch and that he does so precisely for the reasons I have given. A first warning of Zarathustra’s dissatisfaction with Übermensch comes in his remarks about poets. a disciple recalls zarathustra’s earlier comment that „the poets lie too much“62, and asks zarathustra to explain himself. zarathustra’s response is peculiar. firstly, he distances himself from what he once said: ‚it is already too much for me to retain my own opinions‘. Secondly, he affirms his earlier words, but with a twist: „what did zarathustra once say to you? that the poets lie too much – but zarathustra too is a poet“. he continues: „but granted that someone has said […] that the poets lie too much: he is right – we do lie too much. we know too little and are bad learners: so we have to lie“.63 zarathustra does more than to undermine his own teachings in general. he singles out übermensch as an example of how the poets lie too much; and he likens übermensch to the kind of afterworlds (‚gods‘) we have seen him reject: „we set our motley puppets on the clouds and call them gods and übermenschen. and are they not light enough for these insubstantial seats? – all these gods and übermenschen. alas, how weary i am of all the unattainable that is supposed to be reality“.64 these comments foreshadow what is to come. not only do they support my claim that zarathustra rejects übermensch, but they also support my analysis of his reasons for doing so. recall the discussion of why zarathustra rejects gods and afterworlds: they are not sufficiently life-affirming, because they draw our attention away from life to an imagined ‚beyond‘. it is precisely for this reason that zarathustra rejects the übermensch: he 61 62 63 64

Z II, 20, Redemption. z ii, , The Blessed Isles. Z II, 17, Poets. ibid.

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too is not sufficiently life-affirming. Übermensch was supposed to be the „meaning of the earth“65, but this was a lie; instead; übermensch is a puppet set upon the clouds – beyond the earth, just as the afterworlds are. this echoes nietzsche’s earlier use of ‚clouds‘:“we must again become good neighbours to the closest things and cease from gazing so contemptuously past them at the clouds“.66 it also explains why zarathustra will later go on to dismiss poets as „accusers of life“67: as a poet who taught übermensch, zarathustra was just an accuser. zarathustra’s discussion of the poets occurs before he understands eternal recurrence.68 If Übermensch were meant to fit well with Eternal Recurrence, then we would expect zarathustra to welcome the revelation of the latter. instead, note the great difficulty and unrest which the acceptance of Eternal Recurrence causes to Zarathustra. An early hint at the eternal recurrence comes in the words of the ‚soothsayer‘ who tells zarathustra that „everything is past, everything is one“.69 the soothsayer’s cryptic words have a serious effect upon zarathustra. he „took no food or drink, had no rest and forgot speech“; he is immediately troubled with a dream from which he is awoken by his own screaming.70 In that dream, Zarathustra finds himself the guardian of ‚death’s coffins‘ – the guardian of what is past, not the herald of the future; hence he breathed the odour of dust-covered eternities. zarathustra is slowly coming to understand that eternal recurrence forces him to face the past – but the Übermensch, by definition, does not face the past and hence must be abandoned. zarathustra’s struggle continues: „the past and present upon the earth – […] that is my most intolerable burden“71, he tells his disciples. in his ‚stillest hour‘, zarathustra imagines a conversation with himself in which he debates whether or not to accept eternal recurrence and its implications: „‚i know, but i will not speak‘, zarathustra tells the ‚voiceless something‘. ‚speak your teaching and break!‘, it replies.“72 zarathustra’s disciples cannot (despite his hopes) understand why events at the end of part  force zarathustra to abandon them for good. there has been no explicit statement of eternal recurrence, just the hints we have discussed. nietzsche, however, leaves the reader in no doubt about the reasons for zarathustra’s „violent grief“73; for at the start of Part 3, we are told of Eternal recurrence when zarathustra speaks to the dwarf. nietzsche emphasises zarathustra’s horror at coming to terms with eternal recurrence. immediately after hearing explicitly of eternal recurrence, zarathustra tells of his vision: a shepherd writhing and choking because a black serpent had „crawled into his 65 66 67 68

69 70 71 72 73

Z P, 3. HA WS, 16. See also HA WS, 310. Z III, 13, The Convalescent. Pippin (1988) does not appear to recognise the significance of Z II 17, instead regarding Z II 19 as the sharp divide before which Zarathustra has confidence in Übermensch and after which he does not. Z II 19 Soothsayer ibid. Z II, 20, Redemption. see also my comment on this section in the note above. z ii, , The Stillest Hour. ibid.

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mouth – and there it had bitten itself fast“. 74 the shepherd frees himself from the serpent by biting off its head and spitting it out. zarathustra is initially unclear about what this means. Later on he understands better, identifying himself with the shepherd: „that monster crept into my throat and choked me. but i bit its head off and spat it away“75 eternal recurrence forces zarathustra to face his disgust at the ‚little man‘. it is that aspect of eternal recurrence which, zarathustra clearly tells us, was what choked him: „that great disgust at man – it choked me and had crept into my throat“. zarathustra continues: „alas, man recurs eternally! the little man recurs eternally […] and eternal recurrence even for the smallest! that was my disgust at man! ah, disgust! disgust! disgust!“76 – What Zarathustra is expressing is not merely a recognition of the initial conflict between übermensch (progress) and eternal recurrence (no progress) – although that is doubtless a factor. additionally, he is coming to understand how eternal recurrence is linked to affirmation and the Übermensch. To affirm life maximally, Zarathustra must affirm the little man and all that brought him about; but affirming the context which brought about the little man is precisely what übermensch must avoid.77 In opening section of Z, Zarathustra tells the sun that ‚Like you, I must go down‘ [ich muss, gleich dir, untergehen] that the prologue is the beginning of zarathustra’s ‚downgoing‘ is repeated again at Z I 1 and at Z I 10 (‚Thus began Zarathustra’s down-going‘ [also begann zarathustra’s untergang]). as many commentators have noted, nietzsche is playing with three meanings of the german ‚untergehen‘: to descend (in zarathustra’s case, to descend the mountain); to set (as of the sun in ‚sonnenuntergang‘); to be destroyed. a plausible and commonplace reading of this is that zarathustra himself intends only the first two connections: he is going down the mountain and, as the sun does, he will bring light to mankind. yet the further connection in the reader’s mind may well be that the prologue marks the beginning of zarathustra’s destruction or downfall.78 i should like to add one further point. if eternal recurrence forms the basis of zarathustra’s downfall (at least, his downfall as teacher of übermensch), then there is another irony at work, over and above the level of Zarathustra or the first-time reader: Zarathustra likens himself to the going-down of the sun; yet the motion of the sun is the most prominent experience we have of a kind of eternal recurrence, in that it rises and sets every day.79 a concept much like the repeated untergang of the sun (the eternal recurrence 74 75

76 77 78

79

z iii, , The Vision and the Riddle. Z III, 13, The Convalescent. Pippin (1988), 51f.: Pippin agrees that Zarathustra rejects Übermensch because he comes to understand that „he cannot affirm his doctrine [Übermensch] without affirming everything“. my interpretation may be taken as a development of the pippin line. however, pippin doesn’t give a developed account of Übermensch and so gives no full account of the deeper conflict between the forgetfulness of Übermensch and the affirmation demanded by Eternal Recurrence. Z III, 13, The Convalescent. For an alternative interpretation: Hatab (2005) Chapter 4. Gooding-Williams (2001), 58; Lampert (1986), 15; Daniel W. Conway, Solving the Problem of Socrates: Nietzsche’s Zarathustra as Political Irony, in: Political Theory 16, No. 2, May 1988, 261f. that zarathustra’s comparison between himself and the sun hints at repetition is mentioned in passing at Conway (1988), 276; curiously, Conway does not appear to connect it with Eternal Recurrence.

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of all things) forms the basis of zarathustra’s untergang; although that information is available neither to Zarathustra nor to the first-time reader of Zarathustra’s Prologue. nietzsche’s placement of untergang in the prologue may be seen as an indication to the reader that the speeches therein are not to be taken at face value; they may not be Zarathustra’s triumphant final message to man, instead forming part of his downfall. The subject matter of these speeches, to large extent, is übermensch. the additional meaning of untergang (the comparison with the motion of the sun) serves to suggest a reason why zarathustra’s übermensch speeches may be an aspect of his downfall: like the sun, he (along with everything else) must return again and again. this eternal recurrence will be the downfall of übermensch. earlier, i used nietzsche’s claims about man as ueber-thier as evidence in favour of my interpretation of übermensch. there is another passage in nietzsche’s earlier work in which he talks about ‚das ueberthier‘ with a very different meaning and connotation. at ws , nietzsche mocks man for thinking of himself as possessing free will when all other creatures are fettered by necessity. he puts it ironically: „man is the free being in a world of unfreedom, the eternal miracle worker […], the astonishing exception, the Ueberthier and almost-god, the meaning of creation which cannot be thought away, the solution of the cosmic riddle […] – Vanitas vanitatum homo.“ something of this different, mocking, ironic ‚ueberthier‘ must surely carry over to zarathustra’s übermensch, who was supposed to be the ‚meaning of the earth‘ and the solution to the problem of freedom from context. Instead, Übermensch is revealed as yet another vain fiction.

viii. concluding remarks it has often been remarked that nietzsche’s philosophical contribution lies in asking new questions, rather giving new answers. hence, he asks not is theory X true?, nor even ‚what is the value of theory X? but rather what kind of person would invent or be drawn to theory X? so the philosophical method of socrates is analysed not with reference to socrates’ arguments, but rather with reference to his ugliness.80 similar questions are asked about systems of values: nietzsche tried to explain how a morality is explicable with reference to the context of those who adhere to it – every morality has its own genealogy. it is perfectly natural for someone with that kind of outlook to seek values which escape the prison of context, to want to „furnish yourself with your own good and evil“ and „hang up your own will above yourself as a law“. otherwise, what we value seems to have less importance – merely an expression of certain contingent historical facts. this longing for radical individual freedom is expressed in the form of zarathustra’s übermensch. – yet here again nietzsche asks his new question: what kind of attitude is expressed by the longing to be new and free? the answer: a life-negating attitude. nietzsche took the hope for free creation of values to its breaking point. via übermensch, he presents the only true individual freedom: one which is neither the expression of context (the Camel) nor simply a reaction to it (the Lion). Yet Nietzsche does not (in the end) 80 

ti, ii. Z I, 17 The Way of the Creator.

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advocate a new kind of freedom or individuality. instead, through zarathustra, nietzsche tells us not only that the longing to escape our context can never be satisfied, but also that such a longing is the wrong sort of longing because it is not life-affirming. The final position in Thus Spoke Zarathustra as regards individual freedom is that we ought not to long for it. zarathustra’s eternal recurrence forces us to turn our eyes away from afterworlds, from gods and übermenschen, from forlorn, life-negating thoughts.

nietzsche bibliography a: The Anti­Christ in Twilight of the Idols and The Anti­Christ, trans. R. J. Hollingdale, London, 1968. bge: Beyond Good and Evil, trans. w kaufmann in Basic Writings of Nietzsche (2000). NY: Random house. d: Daybreak, trans. R. J. Hollingdale, Cambridge 1997. eh: Ecce Homo, trans. w. kaufmann in: Basic Writings of Nietzsche, New York 2000. ha: Human, All Too Human, trans. R Hollingdale, Cambridge 1996. gm: On the Genealogy of Morals, trans. w kaufmann in Basic Writings of Nietzsche, New York 2000. gs: The Gay Science, trans. W Kaufmann (1974). NY: Vintage Books. ti: Twilight of the Idols, in Twilight of the Idols and The Anti­Christ trans. R. J. Hollingdale, London 1968. udh: On the Uses and Disadvantages of History for Life; the second of his Untimely Meditations, trans. R J Hollingdale, Cambridge 1983. ws: The Wanderer and his Shadow in Human, All Too Human, trans. R Hollingdale, Cambridge 1996. z: Thus Spoke Zarathustra, trans. R. J. Hollingdale, London 1961.



i’m very grateful to raymond geuss and robert pippin for their helpful comments on this paper.

ralf eichberg

der zauberer bittet um geld ein brief thomas manns an das preußische kultusministerium von  und sein historisches umfeld

i thomas mann gehört unstrittig zu den ambitionierten nietzsche-lesern unter den deutschen literaten des 0. Jahrhunderts. seine Betrachtungen eines Unpolitischen von , der roman Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, er­ zählt von einem Freunde von  und nicht zuletzt sein essay Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung aus dem gleichen Jahre zeugen von seiner, sich mit den historischen und politischen verhältnissen verändernden auseinandersetzung mit nietzsches philosophie. so ist es auch nicht verwunderlich, dass die am . dezember  in münchen gegründete nietzsche-gesellschaft ihn zu ihren gründungsmitgliedern zählte. die historischen umstände der gründung der vereinigung sowie die daran beteiligten personen bleiben allerdings recht unklar. max werner vogel erwähnt thomas mann unter den personen, die ihre eintragung in die Nietzsche­Gesellschaft vorgenommen haben, nicht. er beruft sich seiner der suche nach den historischen ursprüngen vor allem auf erinnerungen unterschiedlicher zeitzeugen. die ergebnisse sind widersprüchlich, denn danach verliert der status eines ‚gründungsmitglieds‘ seine historische aussagekraft, da er durch eine einmalige zahlung von .000 mark auch im nachhinein erworben werden konnte. Beim Amtgericht Berlin findet sich zudem ein Protokoll der Gründung mit einer Liste der Anwesenden. Beide enthalten den Namen Manns nicht. Im Übrigen finden sich ledig 

 

ich danke hans rudolf vaget für seinen freundlichen hinweis. david marc hoffmann hat 00 im schwabe verlag basel die als vortrag auf dem kongress des pen-clubs in zürich am . Juni  gehaltene rede neu herausgegeben. die edition ist umso wertvoller, als sie die rekonstruierte tonaufnahme des vortrages auf cd enthält: thomas mann, Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, basel 00; renate reschke, Rezension zu david marc hoffmanns edition, in: Friedrich Nietzsche – Zwischen Musik, Philosophie und Res­ sentiment (Nietzscheforschung, bd. ), berlin 00. Münchner Nietzsche­Kreis feierte 0. Geburtstag, in: Information Philosophie , Juni 000, . max werner vogel, Chronik des Nietzsche­Kreises, Versuch einer Rekonstruktion, hg. von beatrix vogel, münchen 00.



Ralf Eichberg

lich zwei auch heute noch bekannte personen: friedrich würzbach und ernst bertram. in den druckwerken der gesellschaft wird dann aber doch mit bekannten und prominenten vorstandsmitgliedern geworben. der vorstand wurde demnach zunächst durch ernst bertram, hugo von hofmannsthal, Thomas Mann, Richard Oehler, Heinrich Wölfflin und Friedrich Würzbach gebildet. diese personen sollten nicht näher bestimmte ‚geistige richtlinien‘ verkörpern. später war eine internationalisierung geplant. auch die usa, belgien, dänemark, england, finnland, frankreich, holland, italien, norwegen, russland, schweden, die schweiz, spanien und ungarn sollten durch je ein mitglied im vorstand vertreten sein. außerdem waren geschäftsstellen in allen größeren deutschen städten sowie den hauptstädten des auslandes vorgesehen. von diesen plänen konnte nur ein bruchteil verwirklicht werden. die hauptgeschäftsstelle der gesellschaft blieb lange Jahre münchen, als nebengeschäftsstellen wurden berlin, leipzig, wien, hamburg und weimar angegeben. nach den schrecklichen erfahrungen des ersten weltkrieges sah man die internationale kulturelle verständigung als maßgebend für eine zeitgemäße beschäftigung mit nietzsches denken an. in einem werbepapier aus der frühzeit der gesellschaft heißt es: „Wir erblicken vielmehr unsere Hauptaufgabe in der Pflege eines durchaus unpolitischen, aber wahrhaft europäischen geistes“ und: „es gilt, die ‚guten europäer‘ der gegenwart zu sammeln unter dem zeichen friedrich nietzsches, der, selbst einer der größten repräsentanten guten europäertums, diesen begriff zugleich auch in den größten geistern vergangener zeiten und fremder länder bestätigt fand.“ dem konnte sich thomas mann durchaus anschließen und diesem Ansatz war die Gesellschaft in ihrer Tätigkeit verpflichtet. im Jahre  rief sie zur beteiligung an einer ‚preisaufgabe‘ mit dem doppelthema auf: „1. Der Einfluss des französischen Geistes auf die Philosophie Nietzsches, 2. Der Einfluss Nietzsches auf das geistige Frankreich“. An ihr sollten sich sowohl deutsche als auch französische forscher beteiligen. es war vorgesehen, jeweils eine deutsche sowie eine französische arbeit separat mit einem ersten preis zu würdigen. der international besetzten Jury gehörte auch thomas mann an. die gesellschaft hatte durch ein schreiben des Preußischen Ministeriums für Wissen­ schaft Kunst und Volksbildung vom . februar  einen betrag von 000 reichs-mark bewilligt bekommen. friedrich würzbach hatte sich mit einer entsprechenden anfrage an den ministerialrat wolfgang windelband, sohn des philosophen wilhelm windelband, gewandt. würzbach selbst erhielt für eine reise nach pontigny, wo offenbar die französischen arbeiten vorgestellt wurden, eine weitere zuwendung von 00 reichs-mark. die preissumme von 000 reichs-mark wurde von einem mitglied der Nietzsche­Gesell­ schaft gestiftet und musste in voller höhe für das preisgeld verwendet werden. die staat  



ders., ebd., . gsta pk, i. ha rep.  kultusministerium, v c sekt. i tit. Xi teil  nr.  bd.  nietzsche-gesellschaft in münchen, –. eine detaillierte materialreiche chronik zur entwicklung friedrich würzbachs und der Nietzsche­ Gesellschaft bietet gerd simon in seiner internetpräsenz: http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd. simon/chrwuerzbach.pdf. gsta pk, i. ha rep.  kultusministerium, v c sekt. i tit. Xi teil  nr.  bd.  nietzsche-gesellschaft in münchen, –; blatt .

Der Zauberer bittet um Geld



lichen zuwendungen sollten sowohl einen teil der laufenden kosten der gesellschaft decken als auch die ‚nicht unerheblichen arbeiten‘ zur durchführung der preisaufgabe finanzieren. in einem schreiben würzbachs an den minister vom . märz  bedankte er sich für die zusagen und legte eine pressemitteilung über die Preisaufgabe der Nietzsche­Ge­ sellschaft sowie nietzsches schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen bei, welche die gesellschaft als sonderdruck in ihrem verlag herausgegeben hatte. am . oktober  berichtete würzbach dem minister über die ergebnisse des wettbewerbs und bedankte sich für die „jährliche beihilfe“. – es waren insgesamt  arbeiten eingereicht worden. den ersten preis unter den deutschen einsendungen erhielt fritz krökel (münchen), die beste französische arbeit lieferte genevieve bianquis (paris). der zweite preis wurde zwischen kalle sandelin (kopenhagen) und hil wihlidahl (wien) geteilt. diese dazu staatlich gewährte beihilfe war anfang der 0er Jahre nicht mehr selbstverständlich, denn thomas mann wandte sich als vorstandsmitglied der gesellschaft am . Juni  mit einer bitte um unterstützung an dasselbe ministerium, welches nun von adolf grimme geführt wurde.0 zunächst umriss er die arbeit der gesellschaft in groben zügen, wobei er sie als einen „anerkannte[n] mittelpunkt der nietzsche-forschung“ bezeichnet und dabei den schwerpunkt in ihrer dienstleistungsfunktion sah, d. h. in der „beratung von nietzscheforschern und -lesern“. zwei aspekte hob er besonders hervor: einerseits betonte er die bedeutung der arbeit der gesellschaft für die internationale verständigung, speziell in bezug auf frankreich. andererseits distanzierte sich thomas mann von den zunächst „verwirrenden wirkungen nietzsches“ und verwies auf den positiven und fruchtbaren Einfluss, der Dank der Arbeit der Gesellschaft von Nietzsche ausgehe und der insbesondere der jüngeren generation zu gute komme. das mögen auch die persönliche gründe manns gewesen sein, sich für die gesellschaft zu verwenden und ihre arbeit dem minister als „gute und belangvolle sache“ darzustellen. der vermerk des ministeriums: „ […] schon mal abgesegnet“ links oben auf dem dokument lässt jedenfalls vermuten, dass die Bemühungen des Nobelpreisträgers um eine weitere finanzielle Förderung der Nietzsche­ Gesellschaft von erfolg gekrönt waren.

ii während thomas mann nach der nationalsozialistischen machtergreifung das exil wählte, arbeitete friedrich würzbach weiterhin als autor und herausgeber in deutschland und war leiter der abteilung weltanschauung im reichssender münchen. schon diese tätigkeit bedingte zumindest eine gewisse systemnähe. bereits vor  hatte er aus seinem wohlwollen gegenüber den kommenden machthabern keinen hehl gemacht.  0

gsta pk, i. ha rep.  kultusministerium, v c sekt. i tit. Xi teil  nr.  bd.  nietzsche-gesellschaft in münchen, –, blatt . gsta pk, i. ha rep.  kultusministerium, v c sekt. i tit. Xi teil  nr.  bd.  nietzsche-gesellschaft in münchen, –, blatt .

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Ralf Eichberg

zahlreiche artikel auch im Völkischen Beobachter sprechen in dieser beziehung eine deutliche sprache. in seiner publizistischen arbeit versuchte er, nietzsches schriften dem nationalsozialistischen gedankengut anzuschließen. er war mitglied der reichsschrifttumskammer und mit deren leiter, hanns Johst, persönlich bekannt. allerdings hatte würzbach eine jüdische mutter, weshalb es ihm trotz aller bemühungen nicht gelang, einen gültigen arier-nachweis zu erbringen. ein großteil des schriftwechsels mit der reichsschrifttumskammer und der reichskulturkammer behandelt dieses problem. Würzbachs Versuche, seiner Herkunft zu entfliehen und ein ‚guter‘ Nationalsozialist zu sein, sind an absurdität nicht zu überbieten. sicherlich haben die auseinandersetzungen um würzbachs so genannte rassische herkunft wesentlich dazu beigetragen, dass die sicherheitsorgane des dritten reiches auf die Nietzsche­Gesellschaft aufmerksam wurden, was schließlich zum offiziellen Verbot der Gesellschaft führte. Zunächst aber forderte man, dem Vereins-Namen die offizielle bezeichnung Reichswerk Buch und Volk voranzusetzen. am . märz  wurde die Nietzsche­Gesellschaft aber dann doch durch die staatspolizeileitstelle münchen aufgelöst und ihr eigentum beschlagnahmt. die mitgliedschaft thomas manns als vorstandsmitglied wird unter den Gründen der Auflösung ausdrücklich und an exponierter Stelle angeführt. nachdem nach der beschlagnahme die unterlagen der gesellschaft gesichtet wurden, gab man im Einzelnen folgende Gründe für die Auflösung an: „1) In der Mitgliedkartei ist der emigrant thomas mann noch als vorstandsmitglied geführt, außerdem zahlreiche Juden und feindliche ausländer. ) laut postbuch korrespondierte die gesellschaft noch um  mit Juden (auch l. berheimer-münchen), mit dem paneuropäer graf coudenhove-kalerghi, usw.). ) laut postscheckbuch (konto berlin) stand die gesellschaft noch im sommer  im zahlungsverkehr mit Juden und jüdischen unternehmungen. ) auch mit jüdischen emigranten (oskar levy – paris) wurde noch nach der machtübernahme laut vorgefundenem schriftwechsel korrespondiert. wenn auch diese nietzsche Gesellschaft offiziell rein wissenschaftliche Ziele verfolgte und seit Kriegsbeginn praktisch nicht mehr in erscheinung trat, so rechtfertigt ihre und besonders ihres präsidenten Würzbachs Einstellung zum heutigen Staat in vollem Maße die Auflösung der gesellschaft.“ zusätzlich wurden nicht näher bezeichnete differenzen mit dem Nietz­ sche­Archiv in weimar angeführt. schließlich verwiesen die beamten auf den widerspruch, dass der „halbjude“ würzbach einen ausweis der reichsschrifttumskammer vorweisen konnte. in seinem protestschreiben an hanns Johst vom 0. märz  bezog sich würzbach in erster linie auf 

 



friedrich würzbach (hg.), Das Vermächtnis Friedrich Nietzsches. Versuch einer neuen Auslegung allen Geschehens und einer Umwertung aller Werte, Aus dem Nachlass und nach den Intentionen Nietzsches geordnet, salzburg 0; Alles Lebendige ist ein Gehorchendes. Worte von Friedrich Nietzsche, zusammengestellt von Friedrich Würzbach, münchen . gerd simon, http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/chrwuerzbach.pdf, . oscar levy, herausgeber und übersetzer der großen englischen nietzsche-ausgabe, hat in zahlreichen artikeln aus dem exil die inbesitznahme nietzsches durch die nationalsozialisten bekämpft: oscar levy, Nietzsche verstehen, Essays aus dem Exil 1913­1937, in: ders., Gesammelte Schriften und Briefe, hg. von steffen dietzsch, leila kais, bd. , berlin 00. gerd simon, http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/chrwuerzbach.pdf, .

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dieses problem: „gestern war die gestapo bei mir und erklärte die nietzsche-gesellschaft auf grund eines schreibens des ministeriums für volksaufklärung und propaganda für aufgelöst. gründe: meine ungeklärte herkunft, vor allem aber die in dem schreiben angeführte tatsache, dass ich seit  nicht in ihrer kammer sei. ich zeigte den beamten meinen ausweis vom . okt.  von ihrer kammer ordnungsgemäss mir ausgestellt und bis heute nicht abgesprochen, worin ich als leiter der n. g. anerkannt bin […] ich bin rein arisch, ich bin mitglied ihrer kammer.“ aber auch diese beteuerungen und seine guten Beziehungen zu Johst konnten die Auflösung der Nietzsche­Gesellschaft nicht verhindern. nutznießer war das weimarer Nietzsche­Archiv, welches einen konkurrenten verlor und dem die hinterlassenschaft der Nietzsche­Gesellschaft übereignet werden sollte.



ders., ebd., .



Ralf Eichberg

brief von thomas mann an das preußische ministerium für wissenschaft, kunst und volksbildung vom . Juni . Quelle: geheimes staatsarchiv preußischer kulturbesitz, signatur: gsta pk, i. ha rep.  kultusministerium, v c sekt. i tit. Xi teil  nr.  bd.  nietzsche-gesellschaft in münchen, –.

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v. rezensionen

elke angelika wachendorff, Friedrich Nietzsche. Denker der Interkulturali­ tät (Interkulturelle Bibliothek, band ), nordhausen: verlag traugott bautz 00. die autorin ist als nietzsche-forscherin und beteiligte am projekt interkultureller philosophie ausgewiesen. sie verbindet beide kompetenzen, indem sie die interkulturelle dimension im denken friedrich nietzsches auslotet und kann deutlich machen, dass interkulturalität in seinem denken nicht nur eine randerscheinung ist, sondern tief darin verwurzelt. deshalb ist es berechtigt, dass er band in der reihe Interkulturelle Bibliothek erschienen ist. im Vorwort stellt wachendorff das Jahr , in dem nietzsche nach Jahren ungeheurer produktivität „erschöpft und ausgebrannt […] im angesicht der gepeinigten kreatur“ zusammenbricht, in weitreichende historische zusammenhänge. hundert Jahre früher, , bricht die französische revolution aus, die eine „neue ära demokratischer befreiung“, aber auch den „schatten unvorstellbarer grausamkeiten“ heraufgeführt hat. ein Jahrhundert später,  (nicht am . oktober, wie sie schreibt, sondern am . november) wird mit dem fall der berliner mauer die diktatur der sowjetunion über ostund mitteleuropa gebrochen. das führt zu den problemen „einer aggressiv getriebenen weltweiten wirtschaftlichen […] globalisierung sowie neuer fundamentalistischer bewegungen unterschiedlicher couleur“. licht und schatten liegen jeweils dicht beieinander. daran knüpft wachendorff die frage, ob wir in der entstandenen situation, in der „zur allgemeinen friedenssicherung“ eine „interkulturelle orientierung“ unerlässlich ist, nietzsche als „mitdenker“ und „vordenker“ begegnen können. mit andrea orsucci, dem ihr buch vieles verdankt, bejaht sie die frage nach der aktualität der „interkulturellen orientierung“ nietzsches (ff.). bevor die interkulturalität in seinem denken ausführlich und differenziert behandelt wird, findet sich eine zusammenfassende Darstellung von Nietzsches ‚Leben zwischen leiden, euphorie und einsamkeit‘. die vom vater geerbte schwache gesundheit ist die hauptsächliche Quelle des leidens. aber leiden und euphorie sind eng miteinander verwoben. die überfülle des zu-sagenden bedrückt und bedrängt das leben nietzsches. dazu kommt das nicht-verstandenwerden von kollegen und lesern, das die hauptursache seiner einsamkeit ist. diese zusammenhänge sind von karel mácha eindringlich herausgearbeitet worden, den wachendorff kennt und bewundert, aber in ihrem buch nicht erwähnt. eine bedeutende rolle spielen nach ihrer darstellung die freundschaften nietzsches: mit seinem akademischen lehrer, dem klassischen philologen friedrich wilhelm ritschl, den kommilitonen carl von gersdorff und erwin rohde, den ihm wohlgesonnenen kollegen an der universität basel, dem theologen franz overbeck, dem historiker Jakob burckhardt, dem altertumswissenschaftler Johann Jacob bachofen, „dem promovierten schweriner philosophen, Juristen und späteren mediziner paul  

andrea orsucci, Orient – Okzident. Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischen Weltbild, berlin, new york . karel mácha, Eine Stimme aus sieben Einsamkeiten. Zum Geleit, in: ders. u. a., Eine Stimme aus sieben Einsamkeiten. Der Philosoph Friedrich Wilhelm Nietzsche, münchen 00.



Rezensionen

rée“, der „jungen, höchst geistreichen russin“ lou von salomé, sowie dem „musiker und komponisten“ heinrich köselitz (alias peter gast). der letztere, „der  nach basel gekommen war, um nietzsche […] kennenzulernen und dessen vorlesungen zu besuchen“, sollte gewissermaßen die „leerstelle“ füllen, die durch das zerwürfnis mit richard wagner entstanden war, mit dem nietzsche nicht nur seit  eine freundschaftliche „intensive beziehung“ unterhielt, sondern den er bewunderte und dessen musik er eine entscheidende rolle in seinen philosophischen konzeptionen gegeben hat. das kann man so sehen, obwohl natürlich köselitz bei weitem nicht das format hat, um an die stelle wagners treten zu können. im blick auf die interkulturalität in nietzsches denken ist seine freundschaft mit dem indienforscher paul deussen besonders erwähnenswert (–). im zweiten kapitel wird die bedeutung der interkulturalität in nietzsches gesamtem werk schritt für schritt sichtbar gemacht. wachendorff unterstreicht die philosophische wichtigkeit bestimmter früher texte, die von den herausgebern „als philologica klassifiziert“ werden, wie die Aufzeichnungen zu den Baseler Vorlesungen, insbesondere den beiden über den Gottesdienst der Griechen und über die Geschichte der griechischen Literatur, die nietzsche in den Jahren von – gehalten hat. sie betont schon im ersten kapitel, dass das denken nietzsches insgesamt durch seine lektüre von artur schopenhauers hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (3. Aufl. 1859) und von friedrich albert langes Geschichte des Materialismus (1866) entscheidend beeinflusst worden ist. für die interkulturelle dimension in seinem denken wird nunmehr auf seine kennntnisnahme maßgeblicher werke der entstehenden ethnologischen wissenschaft verwiesen. besonders erwähnt werden edward b. tylors Die Anfänge der Kultur. Unter­ suchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte sowie John lubbocks Die Entstehung der Civilisation und der Urzustand des Menschen­ geschlechts, in deutscher übersetzung  bzw.  erschienen. wachendorff schließt sich der these orsuccis an, die verbindung von philosophie einerseits und „altertumswissenschaft und ethnologie“ andererseits habe das interkulturelle denken nietzsches auf den weg gebracht (–). die griechen der klassischen periode sind für nietzsche ein interkulturell geprägtes volk, das für die aufgaben der europäer in der eigenen zeit beispielhaft ist und bleibt. dies wird durch zitate aus den Nachgelassenen Fragmenten vom frühling–sommer  belegt, in denen die Griechen als ein „Volk von ‚Lernenden‘ schlechthin“ beschrieben werden, die „unaufhörlich darauf bedacht [waren], durch regen austausch mit dem fremden zu lernen“. dass mit der rückbindung der interkulturalität an das antike griechentum, die etwas ausschließliches hat, auch bereits deren grenze im denken nietzsches angezeigt wird, kommt bei wachendorff nicht zur sprache (). in elf unterabschnitten wird ausgearbeitet, worin die interkulturelle dimension im denken nietzsches besteht. dass „kultur und bildung“ wesentliche voraussetzungen für interkulturelles denken sind, ist leicht einzusehen (.). der bildungsbegriff, wie nietzsche ihn in den baseler vorträgen von  Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten 

Es mag zur Pflicht des Rezensenten gehören, auch kleinere Versehen anzumerken, wie der nicht stimmige gebrauch von anführungszeichen in den zitaten (,  anm. ), die verschreibung:  statt  ().

Rezensionen



entfaltet, ist indessen durch das bildungsideal der deutschen klassik bestimmt, nach dem bildung um ihrer selbst willen zu erwerben ist. aus heutiger sicht wären hier kritische und weiterführende gedanken angebracht. der „deutsche unterricht“ wie auch das erlernen fremder Sprachen soll gewiss nicht „nur der rein ‚formellen‘ Sprachbildung“ dienen. sprachunterricht kann und soll mehr leisten. die empfehlung „größter aufmerksamkeit, achtsamkeit, behutsamkeit und ehrfurcht“ bei der lektüre sollte aber teil einer allgemeinen hermeneutik sein und nicht nur für das studium der „klassischen literatur“ gelten (–0). „dramatisches denken“ (.) und „agonales denken“ (.) sind gleichermaßen kennzeichnend für nietzsches philosophie und befähigen diese zur interkulturalität. die öffnung für den anderen geht dabei zusammen mit der abwendung von schopenhauer, der ihm die bedeutung des buddhismus für das europäische denken vermittelt hat. es geht nietzsche jetzt darum, „liebevoll, stark und sicher im eigenen, in der eigenen sprache und tradierten kultur“ verwurzelt zu sein und von hier aus „intensiv und aufmerksam, behutsam und achtsam […] der frage nach dem anderen“ nachzugehen. das bedingt eine ablehnung des philosophischen anspruchs, der in „schopenhauers resignation und flucht in ein vorgestelltes nirwana“ enthalten ist. dessen pessimismus muss einer unbedingt lebensbejahenden haltung weichen. auch die „lobpreisung wagners“ in dem „zur eröffnung des bayreuther festspielhauses im sommer  gedachten text der vierten Unzeit­ gemäßen Betrachtung“ gerät „ins stocken“. zur lebensbejahung ohne „selbstbeweihräucherungen“ gehört bei nietzsche „naturbezug als selbstbezug“, ein „leibesbezug“, der die natur im selbst achtet und nicht diese „sich unterjocht“. das führt zur hochschätzung des „menschen plato“, des „agitatorischen politiker[s], der die ganze welt aus den angeln heben will“, der aber als schriftsteller wie kein anderer der unterjochung des leibes und der natur vorschub geleistet hat. william shakespeare ist das vorbild des dramatikers der starken gefühle, „auch goethe, aber nicht wagner“. wie shakespeare, sagt wachendorff und zitiert aus einem Nachgelassenen Fragment vom herbst , „den ganzen umkreis der modernen seele umlaufen, in jedem ihrer winkel gesessen zu haben – mein ehrgeiz, meine tortur, mein glück“, die insgesamt den „pessimismus überwinden“ und von hier aus eine offenheit für den anderen ermöglichen (0–). das „agonale denken“ der griechen kennt nach hesiod „zwei erisgöttinnen auf erden“, eine, die „den schlimmen krieg und hader“ fördert, und eine, welche die menschen zur tat „des wettkampfes“ reizt. nietzsche setzt das in Homers Wettkampf auseinander, der letzten von Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, die er  cosima von bülow, der lebenspartnerin von wagner, „zum geburtstag verehrte“. den „edelsten hellenischen gedanken, den wettkampf,“ kann man nach wachendorff auf das verhältnis der kulturen zueinander übertragen (–). aber was ist das eigene, in dem es gilt verwurzelt zu sein, und wer ist der andere, dem nietzsche sich öffnet? das eigene ist die vor allem und beinahe ausschließlich vom griechentum geprägte europäische kultur, und das andere ist indien, zum teil auch china, das „innere asien“. zur frage, wer dieser andere konkret ist, ist schon viel gesagt worden und wird nochmals zu reden sein.  

„wie shakespeare“ ist wachendorffs berechtigter zusatz (), der mit ins zitat genommen wird. graham parkes (hg.), Nietzsche and Asian Thought, chicago, london .

0

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der in spannungsvoller einheit zusammengehaltene gegensatz „apollinisches-dionysisches“ (.) spiegelt dieverbindung der griechischen mit anderen kulturen: „Ja, noch viel mehr: es ist die konstellation agonaler interkultureller begegnung“, die für nietzsche paradigmatische bedeutung hat. dionysos ist nicht ursprünglich ein griechischer gott – ebensowenig wie aphrodite. während aphrodite phönizischer herkunft ist, also einer anderen von Nietzsche als hochstehend klassifizierten Kultur entstammt, gab es dionysos-kulte in vielen die griechische umringenden kulturen, gerade in solchen, die nietzsche als „niedrig“ und mit dem von den alten griechen übernommenen terminus als „barbarisch“ qualifiziert. Wachendorff übernimmt den Unterschied unbesehen. Wie wir aus der Geburt der Tragödie wissen, ist für nietzsche das rauschhafte und ekstatische des dionysischen, das bei den „kulturen niederen niveaus“ ungehemmt und ohne ordnende gegeninstanz vorkommt, nur annehmbar im „dynamischen gleichgewicht“ mit den kräften „der beruhigung, der sammlung und konzentration, der ordnung, der begrenzung und bestimmung“ des apollinischen (–). die eigene zeit und ihre vorgeschichte seit dem untergang des antiken griechentums ist nietzsche zufolge durch „décadence und nihilismus“ gekennzeichnet (.). dass die gesamte europäische geschichte, besonders das christentum, aber auch andere religionen wie der buddhismus, der dem christentum durchaus vorzuziehen wäre, wie es schopenhauer bereits vorexerziert hat, von nietzsche als nihilistisch charakterisiert werden, ist von gilles deleuze deutlich herausgearbeitet, was wachendorff aber nicht heranzieht. décadence ist ihr vor allem ein schlüsselbegriff zur kennzeichnung historischer zeiten des niedergangs wie der eigenen zeit des späten . Jahrhunderts. – zum nihilismus gehört der „sokratismus“, der für nietzsche mit der „praxis der schriftkultur sowie deren hybrider anspruchshaltung“ verbunden ist. wachendorff arbeitet zutreffend heraus, dass „das Problem simplifizierender Verfälschung durch die Sprache“, wenn sie von ihrer körperlichen grundlage (mimik, gestik, stimmliche intonation) abgelöst wird, „eine entscheidende steigerung erfährt durch ihre verschriftlichung“ (). in der klassischen griechischen Zeit, in der jeder ‚freie Bürger‘ des Schreibens und des Lesens kundig ist, bildet dies nicht den mittelpunkt der kultur, sondern der wettstreit, gerade auch der dichter, und die aufführung der tragödie. darin bleiben die vorteile primär mündlich kommunizierender gesellschaften vor der klassischen periode erhalten. besser gesagt, sie erweisen sich als vorteile in ihrer übernahme in die genannten elemente der klassischen griechischen kultur, die noch nicht zur einseitig betriebenen verschriftlichung übergegangen ist. Bei Nietzsche findet sich in diesem Zusammenhang eine seinen sonstigen äußerungen entgegenlaufende relative hochschätzung des sprachgebrauchs der meist als „niedrig“ und „barbarisch“ eingestuften vorläufer der klassischen periode. das habe ich in meinem beitrag zum nietzsche-kongress von 00: Wo liegt Nietzsches Über­Europa? näher ausgeführt. es ist die von wachendorff übernommene grundintention nietzsches, dass der rückblick auf das antike griechentum mit seiner interkulturellen orientierung eine entscheidende bedeutung für die zukunft europas hat. der von ulrich von wilamowitz-moellendorff kritisch, ja zynisch gemeinte ausdruck „zukunftsphilologie“ lässt sich deshalb ins positive umkehren, indem nietzsches denken als „philosophie der zukunft“ gedeutet 

gilles deleuze, Nietzsche und die Philosophie, münchen , –, –0.

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wird (.). nur so kann die eigene zeit sich in die „renaissancen“ der geschichte einreihen (.). die interkulturelle orientierung ist also eine zukunftsaufgabe der philosophie, der nietzsche durch hinwendung zur fernöstlichen, besonders zur indischen philosophie nachzukommen sucht. im brief an paul deussen vom . Januar  heißt es, die indische philosophie sei „die einzige große parallele“, „die es zu unserer europäischen philosophie gibt“ (ksb, , ), indem sie ganz anders einzuschätzen ist als in der pessimistischen mitleids-philosophie schopenhauers. wachendorff erinnert daran, dass daneben die „islam-cultur“, besonders die „wunderbare maurische cultur-welt spaniens“ für nietzsche reizvoll ist (). ferner ist es nicht ohne bedeutung, dass der stifter des parsismus, zoroaster, als zarathustra die wichtigsten lehren nietzsches vom übermenschen und der ewigen wiederkunft des gleichen verkünden darf. dabei ist es nicht der licht-finsternis-dualismus des historischen zoroaster, der ihn zu dieser rolle befähigt, sondern die biographische besonderheit, dass er nach langer einsamkeit, wie nietzsche sie in sils maria durchlebt, wieder unter die menschen geht und seine lehre bekannt macht. die beschäftigung mit anderen kulturen und ihren philosophien, überhaupt die „kulturvergleichung“ fördert die „vorurtheilslosigkeit“ in bezug auf europa und hilft, gerechtigkeit gegenüber allen kulturen zu üben. so ist man in der lage, wenn man aus dem fremden zurückkehrt, das eigene „besser im ganzen zu verstehen“ (). „bejahung“ statt weltverneinung, „mitfreude“ statt mitleiden, „toleranz“ statt falschem hochmut sind neue tugenden, die es möglich machen, die „ewige wiederkunft des gleichen“ zu wollen (.; .). eine weltbürgerliche perspektive tut sich auf, in der das verlangen „nach dieser letzten ewigen bestätigung und besiegelung“ des eigenen willens gestillt werden kann (, ). das impliziert für nietzsche den gedanken eines zyklischen kulturmodells, dessen phasen wachendorff im abschnitt .0 herausarbeitet. in der vierten phase der in diesem modell konzipierten kulturentwicklung entsteht die doppelte möglichkeit des rückfalls in „barbarei und grausamkeit“ oder der „initiierung einer neuerlichen agonalen kultur“. letztere möglichkeit würde, nach dem nihilismus und pessimismus der reaktiven phase, die erneuerung der „agonalen phase“ bedeuten, die in der antiken griechischen hochkultur gestalt gewonnen hat. damit wäre ein neubeginn, eine neue erste phase erreicht. in diesem gedanken trifft die ewige wiederkehr des gleichen, das „zu einem anderen zeitpunkt und unter anderen konstellationen und bedingungen neu mit notwendigkeit geschieht, die völker jeweils in einem anderen zustand“. obwohl im detail anderes geschieht, wiederholt sich dieselbe struktur: „es handelt sich also mitnichten um eine ‚ewige Wiederkehr des Selben‘“ (125ff.). Damit ist die „Summa in interkultureller hinsicht“ (.) im grunde schon gezogen. für die eigene zeit und ihre interkulturelle orientierung lässt sich von den griechen lernen, dass es in einer kultur und im umgang der kulturen miteinander um „die aufrechterhaltung des dynamischen gleichgewichts und rechten maßes im wechselseitigen diskurs“ gehen muss, „also die vermeidung von hybris und von hierarchischen verhältnissen, sowie, wenn nötig, die wiederherstellung des gleichgewichts“ (). für nietzsches zeitdiagnose ist festzuhalten, dass er von einer hybris der einseitigen betonung des aufklärerischen, besonders des fortschrittsdenkens ausgeht, der es ein gegengewicht entgegenzustellen gilt. Heinz Kimmerle



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beatrix himmelmann, Nietzsche (Grundwissen Philosophie), leipzig: reclamverlag 00. beatrix himmelmann’s Nietzsche is an excellent brief introduction to nietzsche’s philosophical thinking: excellent not only for students and general readers, but also for philosophers and colleagues in other disciplines who do not yet know nietzsche but would like to make his acquaintance, and find out whether he would be worth their attention. the book is admirable for its choice of topics, organization, clarity, and above all for her good sense in her reading and discussion of nietzsche. she writes very accessibly; and yet she has a clear command of what she is talking about, and of the literature as well as of nietzsche’s texts. the book is actually three essays on central topics with which nietzsche was concerned – Erkenntnis und das Problem der Wahrheit and Kritik der Moral und das Ethos des ‚freien Geistes‘, and Aesthetische Rechtfertigung der Welt und die Kunst des Wider­ streit – preceded by a brief but helpful and sufficiently informative biographical sketch and a short introductory essay (Philosophie und Leben). there are other topics she might have chosen that are no less central to his thought than these (‚der Mensch‘, for example, or ‚Werte‘ and their ‚Umwertung‘) but those she has chosen are perhaps the best ones with which to begin. Readers who find themselves wanting more after having read this book will be prepared by having done so for other, more substantial studies. In her first chapter, on Philosophie und Leben, himmelmann suggests that nietzsche „versucht, eine philosophie zu formulieren, die dem leben, in dem sie wurzelt, auch angemessen ist. „That is an interesting idea, which she proceeds to develop first by identifying eight ‚Merkmale‘ of ‚Leben‘ and then eight corresponding ‚Merkmale‘ of his philosophy and philosophical thinking. she then goes on to say: „in diesem sinne versucht nietzsche, eine philosophie des lebens vorzulegen“ (). „in diesem sinne“, yes – but surely not only „in diesem sinne.“ perhaps, however, himmelmann thought that nietzsche’s lebensphilosophie itself, particularly if joined together with his philosophische psychologie and anthropologie, was too large a topic to be dealt with here, and would have required another chapter in itself. – himmelmann makes it clear in the subtitle of her first chapter (Denken in Gegensätzen) as well as in her discussion of nietzsche’s philosophical thinking in that chapter that she subscribes to the view advocated by karl Jaspers, wolfgang müller-lauter and others that nietzsche’s thought offers a profusion of ‚Gegensätzen‘, and that this fact is to be regarded as a virtue rather than a lamentable if not fatal defect of it. she suggests that it is both a consequence of his perspectivism and a strategy associated with the anti-dogmatic character of his thought. in the chapters that follow, however, little is made of this idea (fortunately, to my way of thinking). once turns to a consideration of nietzsche’s thinking on the three topics of these subsequent chapters, she instead is appropriately attentive to ways in which his thinking did develop or change, and to the basic coherence of his thinking on these matters. it is at least partly for this reason that himmelmann is surely right to assert, at the beginning of her chapter on knowledge and truth, that „nietzsches philosophie der erkenntnis nicht nur von historischem interesse ist“ (0). she devotes nearly a third of the chapter to a close reading of the early manuscript Wahrheit und Lüge im außermor­ alischen Sinne, initially giving the impression that it is his thinking in this essay to which

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she is referring. in due course, however, she quite rightly and importantly observes that, „trotz der prominenz“ of this „von ihm selbst ja nie veröffentlichte essay,“ it is „sicherlich nicht sein letztes wort zur sache. und es ist wohl auch nicht sein überzeugendstes“ (). in the remainder of the chapter she makes a start in the direction of showing how his later thinking on matters relating to knowledge and truth goes beyond what was for him a mere point of departure. as was perhaps necessary, himmelmann chose just a few later texts around which to focus, as representative of that later thinking. they are all aptly chosen texts, relating chiefly to the problem of what it means for the ideas of knowledge and truth to place as much emphasis as nietzsche does on the idea of interpretation. that is a matter with which one certainly must come to terms in interpreting nietzsche. himmelmann does run a certain risk, however, in giving as much prominence as she does to the well-known notebook entry on ‚facts‘ and ‚interpretations‘. She writes: „Nietzsches these lautete, es gebe keine tatsachen, nur interpretationen“ (). that gives the impression (shared by many) that we are dealing here with a central lehre of nietzsche’s thought, rather than an aphoristic quip in a notebook entry as a rejoinder to a particular view to which nietzsche wants to object. fortunately, several pages later, himmelmann takes note of the latter point, and contextualizes the „these“ (f.). but once it has been proclaimed to be „nietzsches these,“ it is seemingly endowed with a doctrinal weight that the reader is more likely to remember than the subsequent qualifying discussion. – in point of fact, however, himmelmann’s qualifying discussion is quite good; and it could well be recommended to anyone (colleague or student) who has heard that nietzsche takes this position and is either overly enthusiastic or unduly disdainful with respect to it (and him) for that very reason. this applies to the remainder of the chapter as well, which is remarkably cogent and sensible. readers who begin by being either misinformed or completely uninformed concerning nietzsche’s thinking on these matters, if they read it with care, will be much the better off for it, and will be suitably equipped to resist the caricatures of some representations of it (by admirers and disparagers alike), as well as to confront the confusing profusion of nietzsche’s many different sorts of comments on and uses of the ideas of knowledge and truth. himmelmann frames her discussion of nietzsche’s moral philosophy in the following chapter by her references in its title to his „kritik der moral,“ on the one hand, and to „das Ethos des ‚freien Geistes‘“ on the other. She observes that Nietzsche not only was „einer der schärfsten moralkritiker“ (), but also argued for looking at „die moral“ rather more constructively „unter der ‚Optik des Lebens‘“ (63), in a pluralistically perspectival way taking account of differing human types and contexts. she thus attempts to enable the reader understand that nietzsche is trying to shift the way we think about moral in the latter directions, rather than simply leaving it as the inviting target of his moralkritik. here too the necessity of brevity required himmelmann to be selective in her choice of texts; and once again she gives considerable space and attention to a particular well-known text that leads many to form an oversimplified view of Nietzsche’s thinking: the First Essay of Zur Genealogie der Moral. indeed, a reader might even get the impression from her own discussion of his idea of „herren-moral“ that that type of moral not only is a vivid urform („auf dem grunde aller dieser vornehmen rassen ist das raubthier“, ksa, gm, , ) of what nietzsche has in mind in speaking of a vornehmen and aristokratischen moral, but is also paradigmatic of it. that would be unfortunate, as himmelmann un-



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doubtedly would be the first to insist; but that (all too common) impression can easily be reinforced. so, when she subsequently describes „nietzsches ethik“ as having „einen aristokratischen charakter“ (), an unwary reader may associate it with the wrong kind of aristocratic model. it is not clear that there is a single (type of) ethik that can and should be called „nietzsches ethik“ (); but himmelmann’s discussion of it does usefully draw together a number of this favorite themes, in a way that should help guard against that sort of misunderstanding. in saying that nietzsche’s souveräne individuum „hat nicht nur eine gestalt von moralität wie die ‚Sittlichkeit der Sitte‘ zu überwinden, sondern auch über Sittlichkeit und moralität als solcher zu stehen“ (), himmelmann would seem to be implying that what she calls „nietzsches ethik“ is something different from any sort of sittlichkeit and any sort of moralität – and yet nietzsche does seem to want to retain a place for revised versions of both within the context of his naturalistic reconceptualization of normativity. this too raises interesting questions, which this chapter does not entirely answer. its great virtue, however, is that it does answer the question of whether nietzsche’s thinking with respect to moral and ethik is deserving of serious attention in a resoundingly positive way, shows that it is much more sophisticated and complex than is commonly supposed, and indicates what many of the issues are that his own (positive as well as critical) discussion of these matters raises and brings into focus. In her final chapter Himmelmann deals with a number of large and important themes in Nietzsche’s thought that she believes to have significant and interesting inter-connections: his aestheticism and early attempt (in Geburt der Tragödie) to suggest the possibility of an „ästhetische rechtfertigung der welt“, his purportedly „radikal perspektivisches verständnis von erkennen und handeln“ and his interpretation of life and the world in terms of wille zur macht. this is a very substantial agenda. she devotes nearly half of the chapter to a close reading of Geburt der Tragödie on the first of these interests and themes, but does manage to say enough about what happens to this early concern in nietzsche’s later thinking or the other two matters to prepare the reader for encounters with them both in nietzsche’s texts and in the secondary literature. on some points she gives the reader the impression that certain characterizations are beyond dispute that are not – as, for example, with respect to just how radikal his verständnis von erkennen und handeln actually is, and what it amounts to. her generally sound and sensible handling of them, however, should serve to make the reader less susceptible to distortions and misunderstandings of his thinking on these matters than they might otherwise be; and there are many who teach and write on Nietzsche who could profit from considering some of her observations and interpretive suggestions as well. there are few introductions to nietzsche i know of, either in english or in german, that I feel able to recommend without qualifications and cautions to students, colleagues and general readers who are unacquainted with him but want to get a sense of his thinking. this, however, is one of the few. i hope that it will be given a good english translation, and published by a press that will make it readily and widely available. it would be a welcome addition to the options available, and would be superior to most in all of the respects that matter most in an introductory volume. and it would be a useful corrective to the preconceptions and misunderstandings that many readers have about nietzsche from what they have heard about him, or may have gathered about him from their own

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initial encounters with some of his writings or (even more problematically) quotations from some of his writings by others chosen for their own purposes. nietzsche is perhaps the most quotable and widely quoted writer in the history of philosophy, and one of its most vivid aphorists, and that is both a good thing in some respects and a lamentable thing in others. he writes in ways that not only enable him to make good and important points and cases, but also invite misunderstanding as well as interest and excitement. for these reasons books like himmelmann’s are indispensable. Richard Schacht

christof windgätter, Medienwechsel. Vom Nutzen und Nachteil der Sprache für die Schrift, berlin: kulturverlag kadmos 00. christof windgätter legt mit seinem buch Medienwechsel eine interpretation nietzsches vor, die thematisch kaum aktueller und ihrem gegenstand nicht angemessener sein kann: er liest nietzsche medienhistorisch. die angemessenheit ergibt sich vor allem daraus, dass windgätter nicht versucht, eine lehrbuchartige systematisierung nietzsches vorzunehmen. ein solcher versuch ist nicht unbedingt falsch und sicher ebenso notwendig, aber es bleibt die frage, ob eine eingemeindung nietzsches in den medientheoretischen Kanon ein Reflex ist, den Nietzsche, zumal unter Philosophen, seit jeher auslöste: nämlich ihn ‚als den oder den‘ zu interpretieren. Hatte man ihn anfänglich überhaupt ‚als Philosoph‘ darstellen wollen, um ihn im Kontext einer Rückbesinnung auf ‚strenge Philosophie‘ als Gegenstand zu legitimieren oder ihn ‚als Politiker‘ und damit als ‚Volkserzieher‘ dargestellt, wäre es heute (so wäre dem Aktualitätsanspruch entsprochen) ‚als Medienphilosoph‘. Genau dieses ‚als‘ muss aber von Nietzsche her befremden: denn er ist eben nicht der, als den man ihn haben möchte, sondern der, der er ist; und als solcher nicht immer leicht feststellbar. das macht bis heute eine auseinandersetzung mit ihm fruchtbar, wenngleich es keine leichte Aufgabe ist. – Eine ‚hermeneutische Pietät‘ legt nun windgätter an den tag, wenn er, glücklicherweise ganz frei von jeglicher deutungshermeneutik, die schon unabhängig von ihrem gegenstand weiß, was die texte hergeben werden, nietzsche nicht als jemanden portraitiert, sondern ihn vielmehr gegen andere antreten lässt. gegner oder antagonisten sind in diesem fall georg wilhelm friedrich hegel und ferdinand de saussure sowie die linguistik allgemein, wobei hegel und nietzsche dem seitenumfang nach zwar etwa gleich ausführlich behandelt werden, aber das ganze buch ist auf die position nietzsches und den unterschied zu ihr konstruiert. damit schlägt windgätter den bogen von den anfängen der semiologie zur heutigen medienwissenschaft und zeigt zugleich die voraussetzungen dieses neuen paradigmas auf; wenn man so will, ist die arbeit also zugleich eine diskursarchäologische studie. das, worum es in dem historischen vergleich (mit nietzsches gesprochen: in dem ‚Geistergespräch‘) geht, ist das jeweilige Leitmedium des Denkens sowie dessen materielle verfasstheit: während erstes in der philosophie zunehmend beachtet wird, ist letzteres bislang die vorrangige domäne der kulturwissenschaft als medien(technik)geschichte gewesen. es zeichnet windgätter, der sowohl philosophie wie auch literaturund kulturwissenschaft studiert hat, aus, dass seine untersuchung keine auftragsarbeit



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aus einem der beiden derzeit meist antipodisch auftreten lagern ist, sondern eine eigenständige und integrative arbeit, auch wenn der band den auftakt der reihe Berliner Programm einer Medienwissenschaft bildet, die friedrich kittler und wolfgang ernst im verlag kadmos herausgeben. gelungener hätte der start daher nicht sein können, denn der band zeigt, wie sich das beste aus den beiden welten vergleichender begriffsarbeit und materialorientierter kulturwissenschaft verbinden lässt. die arbeit ist in ihrem ganz eigenen programm ein großer wurf, zumal auch die nietzschephilologie nicht zu kurz kommt, sondern auf ein neues niveau gebracht wird. fast gänzlich fehlte dort nämlich bisher die berücksichtigung der schriftbildlichkeit von nietzsches gedruckten und geschriebenen texten. es gab zwar bisher untersuchungen zur interpunktion und layout der titelseiten, nicht aber derart eingehend zur seitengestaltung, schriftsatz und typoskriptseiten. windgätters arbeit wird rückblickend einmal diejenige sein, die als eine der ersten auf die veränderte ausgangslange der nachlassedition reagiert haben wird, in der genau die aspekte, welche mazzino montinari nicht berücksichtigen konnte oder wollte, erschlossen wurden, berücksichtigt sind und in der zukünftigen auseinandersetzung mit nietzsche nicht mehr ignoriert werden können. das, worüber die auseinandersetzung zwischen hegel und nietzsche oder von nietzsche mit der Sprachwissenschaft allgemein geht, ist wie der nietzscheaffine Untertitel Vom Nutzen und Nachteil der Sprache für die Schrift bedeutet, das medium der sprache respektive (hier lässt Windgätter Nietzsche Nietzsche sein) die Schrift: Nietzsche reflektiert auf das leitmedium der sprache nicht allein, wie in diesen zusammenhängen bisher meist zu lesen war, indem er etwa in Über Lüge und Wahrheit im außermoralischen Sinne (systematisch rekonstruierbar) die korrespondenzvorstellung der lautsprache in zweifel zieht, sondern indem er die mediatisierung selbst oder den sinn im modus der Vermittlung thematisch werden lässt und reflektiert: Als Prämisse muss dabei gelten, dass nietzsches interesse sich im lichte dieser hinwendung zur medialität der medien zusehend von der Reflexion des gesprochenen Wortes zu derjenigen der Schrift bewegt, wobei windgätter zeigt, dass selbst die frühen auseinandersetzungen bereits im lichte der schriftlichkeit (hier liegt windgätter ganz auf der linie von Jacques derrida) erfolgt. auch hegel thematisiert zwar schrift, etwa in form der kulturellen überlegenheit des phonetischen alphabets gegenüber schriften, die mit unabgeschlossenen aggregaten von symbolen arbeiten, nur dass die autoren vor wie noch nach nietzsche diese von der warte des gesprochenen wortes aus taten, was meist eine medienvergessenheit zur folge hatte. eben aus diesem grund kann windgätter saussure vor nietzsche setzten, weil auch er diese ebene noch nicht explizit macht. nietzsche, so kurz gefasst die zentrale these von Windgätter, reflektiert die Differenz von Sprechen und Schreiben in seinen Texten sowohl auf der ebene des inhalts, als auch (das macht die aktualität der untersuchung aus) auf der ebene der form, indem er ihre performativen möglichkeiten auslotet. dies zeigt sich in vielfältiger weise, wie etwa durch nietzsches sorgsame korrekturen der druckfahnen, das zunehmende achtgeben auf die interpunktion (vor allem die gedankenstriche, mit denen nietzsche versuchsweise das geschriebene wort als ein laut zu lesendes zu vermitteln sucht). der themenbereich, mit dem windgätters abschnitt zu nietzsche beginnt und mit dem auch die ganze arbeit zu ende kommt, ist folgerichtig nietzsches umgang oder regelrecht dessen ‚Bekanntschaft‘ mit einer Schreibmaschine, in der sich seine Medienre-

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flexion verdichtet. Er zeigt auf, dass sich Nietzsches Schreiben, die Themen und Darstellungsmodi im nachgang zur schreibmaschinenerfahrung verändern. daher unterscheidet sich seine arbeit von anderen arbeiten zu nietzsches schreibgeräten, die sich nur auf die texte oder nur auf deren inhalte beziehen, die mit dem betreffenden gerät entstanden sind. doch eben das wäre ja kontingent und noch kein beleg für einen paradigmatischen wechsel, den nietzsche in seiner medientheorie vollzieht: nein, die sperrigkeit des mechanischen schreibgerätes ist nur der anlass für die weitergehende auseinandersetzung. Nicht die unmittelbaren Resultate, sondern die spezifische Erfahrung, welche mit dem schreibgerät möglich ist, wird relevant. windgätter reduziert nietzsche folglich nicht wie dies in der ersten, gleichwohl notwendigen phase der aufmerksamkeit auf die maschine geschah, auf einen mediendeterministen, sondern zeigt, wie bei ihm aufgrund der Schreibmaschinenerfahrung seine Medienreflexion neu und anders ansetzt: Während handschrift und sprechen kontinuierlich erfolgen, das schreiben mit der maschine und die neue form schrift aber diskret, wird auch eine andere form der medienkritik nötig: nicht die argumentationskette, sondern die grundlagen des argumentierens sind das, was laut windgätter für nietzsche im fokus der philosophischen tätigkeit liegen wird und liegen sollte. das bemerkenswerte an der darstellung ist, dass er nicht nur die spezifizität von Nietzsches Vorgehen aufzeigt, sondern dass Windgätter selbst den Abstand zu nietzsche markiert: er schaut vom ende des maschinenschreibzeitalters auf dessen anfang, aus dem nietzsche die konsequenz zog. also wiederum ganz im sinne nietzsches trägt das vorliegende buch in seinem erscheinungsbild dieser medienhistorischen zäsur Rechnung: Es ist als ‚Hypertext‘ verfasst; Schlüsselbegriffe sind jeweils durch Unterstreichung hervorgehoben und im rand der seite sind die stellen angegeben, an denen dazu weiteres oder vorhergehendes zu lesen ist. – dies gehört zu den insgesamt drei und zutiefst performativen aspekten der darstellung, die wiederum (hier wird herbert marshall mcluhans these von der wirkungsrelevanz der medienform auf angenehme weise praktiziert) jeweils einen weiteren topos in nietzsches schreiben aufgreifen: choreographie, körperlichkeit, topographie. die ersten beiden sind inhaltlich in der figur des tanzes verdichtet: so liest windgätter die seiltänzerszene am anfang von Also Sprach Zarathustra kongenial als eine inszenierung der schwierigkeit und des scheiterns von vermittlung sowohl im hegelschen sinne der aufhebung als auch im modernen sinne, unter anlehnung an die luhmann’sche systemtheorie, der kommunikation. den sturz des seiltänzers und das zerschmettern seines abgestürtzten leibes auf dem marktplatz wiederum bildet den einstieg in die thematisierung der körperlichkeit, sprich: materialität von schrift, text, gerät und mitteilung im allgemeinen. auf der eigenen darstellungsebene kommt das choreographische element bei windgätter ganz unmittelbar in der seitengestaltung zum ausdruck: nicht nur sind anstelle eines allgemeinen index am ende des buches die verweise direkt im inneren rand der seite eingetragen und die betreffenden worte im hyperlinklayout hervorgehoben sowie auf dem äußeren rand nach art eines kunstkatalogs oder kunstgeschichtlicher abhandlungen die zwischenüberschriften neben den text gestellt, sondern ist der text auch in sich viergeteilt: einmal durch die klassische trennung von haupt- und fußnotentext, aber zudem auch durch in den text eingelagerte textbausteine: die einmal, wiederum klassisch, längere zitate sind oder kommentare, marginalien, hinweise auf und besprechung von sekundärliteratur. die in grau statt wie die anderen schwarz gedruckten bausteine unterbrechen dabei den



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text nicht auf der ganzen breite, sondern sind seitlich in ihn eingerückt oder teilen sich mit ihm die hauptseite (nicht nur für dieses gestaltungselement muss dem kadmos verlag gedankt werden). absätze im haupttext werden weiterhin oftmals durch vorgesetzte namen eingeleitet, die wie in einem dramaturgischen text den auftreten personen ihre aussagen und positionen zuweisen. nicht nur das theatralisch-choreographische moment wird damit verstärkt, sondern auch ein neuer und über weite strecken abgeklärter umgang mit den großen nietzsche-kommentatoren erprobt. zugegeben, es wird auf anhieb nicht leicht fallen, diese arbeit zu lesen, weil die linearität des textes auf diese vielfache weise unterbrochen ist, aber es bleibt letztlich ein zugewinn für das thema. die topographischen elemente wiederum gehen daraus hervor: zum einen ist damit jede seite durch den leser auch topographisch zu erschließenden, was die arbeit in ihrer durchführung abermals an den notwendigen umgang mit der neunten abteilung der werke nietzsches heranrückt, zum anderen ist der metatext oder die alles überlagernde gliederung, die windgätter seiner arbeit und darüber der vollzogenen denkbewegung gibt, eine topographische: An Land, Am Ufer, Auf dem Meer heißen die abschnitte zu hegel, saussure, nietzsche. es hat wohl seit langem niemand mehr nietzsches aufforderung derart wörtlich genommen wie windgätter: auf die schiffe, ihr philosophen! Stephan Günzel

michael hertl, Der Mythos Friedrich Nietzsche und seine Totenmasken. Optische Manifeste seines Kults und Bildzitate in der Kunst, würzburg: verlag königshausen & neumann 00. zur breitenwirkung von nietzsches denken im ausgehenden . und beginnenden 0. Jahrhundert hat nicht zuletzt der umstand beigetragen, dass hier ein dichterisches wie denkerisches genie dem geistigen verfall preisgegeben war, und dies auch noch öffentlich wirksam grafisch inszeniert wurde. Einige Arbeiten haben sich bereits mit der Nietzscherezeption in der bildenden kunst dieser frühen zeit auseinandergesetzt, welche sich zunächst an der gestalt des leidenden denkers abarbeitete. der titel Märtyrer und Prophet beschreibt nach wie vor gültig ein gängiges interpretationsmuster dieser ersten Jahre. michael hertl hat sich mit einem wesentlichen ausgangspunkt dieser rezeptionsform beschäftigt: mit nietzsches totenmaske(n), ihrer entstehung und verwertung innerhalb des Nietzsche-Kultes der Jahrhundertwende sowie deren Rolle im ‚Mythos Friedrich nietzsche‘. letzteren sieht hertl wesentlich in den machenschaften von nietzsches schwester elisabeth und des von ihr betriebenen Nietzsche­Archivs begründet. die entstehung des mythos datiert nach hertl zwischen 0 und 0. 

siehe: Jürgen krause, „märtyrer“ und „prophet“: studien zum nietzsche-kult in der bildenden kunst der Jahrhundertwende, berlin, new york , dietrich schubert, nietzsche-konkretionsformen in der bildenden kunst 0- : ein überblick, in: nietzsche-studien, bd. 0/ (/). berlin, new york , steven e. aschheim, nietzsche und die deutschen. karriere eines kults, stuttgart, weimar 000.

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der verfasser entlastet die von nietzsche überlieferten photographien, wenn er meint, sie kämen „[f]ür eine heroisierende personendarstellung […] aber kaum als vorlage in frage“ (0). trotzdem hat nietzsche selbst viel wert darauf gelegt, in welcher form er bildlich in die öffentlichkeit gelangte. angefangen von den aufnahmen des pfortenser Konfirmanden, über die, wenn auch hochironisch zu deutende Naumburger Militäraufnahme mit säbel, bis zu den baseler professorenbildern mit modischem anzug und hut, von den denkerbildern der 0er Jahre ganz zu schweigen. alle diese aufnahmen zeugen von seinem willen, sich selbst gegenüber der öffentlichkeit zu inszenieren und bereits zu lebzeiten am eigenen mythos zu arbeiten. selbstmythologisierung, –stilisierung und inszenierung gehören zu allen lebensepochen nietzsches. die protagonisten des archivs haben dies dankbar aufnehmen, weiterführen und perfektionieren können. im weiteren fortgang der untersuchung schildert der autor nietzsches persönliche leidenserfahrung, seine zunehmende einsamkeit und die daraus resultierende abneigung gegen jegliche form des mitleids. das gefühl des mitleids sei bei nietzsche oft genug mit Erfahrungen von Hilflosigkeit verbunden gewesen, weshalb er ihm später zunehmend aus dem wege gegangen war. gegen ende seines wachen lebens erst fand sein werk größere verbreitung und auch die öffentlichkeit interessierte sich für die person, die hinter diesem werk stand. sie nahm nietzsche vor allem als leidend war, empfand gar mitleid mit ihm. Dieser Umstand steht mit der Entwicklung des ‚Mythos Nietzsche‘ im Nietzsche­ Archiv in unmittelbarer verbindung. selbst der vom wahnsinn gezeichnete sei als repräsentant seiner schriften teil des archivbetriebes gewesen, instrumentalisiert zum anbetungswürdigen idol. ziel von elisabeth förster-nietzsche war es, dieses anbetungsobjekt über den tod hinaus in funktion zu halten. die nach seinem tod im auftrag der schwester angefertigten totenmasken spielten eine wichtige rolle bei der errichtung des kults um nietzsche. die figur nietzsche erfuhr dabei eine den erfordernissen entsprechende überzeichnung. Nietzsche, so Hertl sei ein „Paradebeispiel dafür, dass ein ‚bedeutender‘ Mensch miterschaffen wird von denen, die sich in ihm sehen können oder sehen möchten“ (). sicherlich ist das überlieferte nietzsche-bild weitgehend von elisabeth förster-nietzsche geprägt. immer wieder ließ sie ihrem wunschdenken freien lauf, manipulierte biografie und Briefe des Bruders und fertigte Textkompilationen an. So konnte sie letztlich auch die abgenommene Totenmaske nicht akzeptieren. Auch hier musste ‚nachgebessert‘ werden. ebenso wie der philosoph ein hauptwerk benötigte, wie das von ihr zusammengestellte werk Wille zur Macht, so sollte durch die verbesserung des letzten abbildes des denkers ein würdiger und kraftvoller eindruck von ihm bleiben. hertl analysiert historisch genau die einzelnen versuche, dem verstorbenen die totenmaske abzunehmen. dabei stellt er mehrere grundtypen von masken heraus. natürlich hatte elisabeth förster-nietzsche früh die absicht, eine totenmaske des bruders anfertigen zu lassen (). dies wollte sie allerdings in fachgerecht-künstlerische hände legen. sie konnte zu dem zeitpunkt aber weder max klinger noch ernst moritz geyger errei

siehe: versuchendes denken ii: friedrich nietzsche als kunstgestalt zwischen selbst- und fremdinszenierung. ein projekt an der humboldt-universität, hg. von der humboldt-universität zu berlin, institut für ästhetik, vorwort: renate reschke, berlin .

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chen. daher nahm der durch seine nietzsche portraits bekannt gewordene curt stöving im beisein von harry graf kessler am vormittag des . august 00 im auftrag der schwester nietzsches totenmaske ab. ein lehrling, der mit trauerdekorationen beschäftigt war, half nach Kesslers Worten beim ‚Eingipsen‘. Eine fachgerecht abgenommene maske konnte unter diesen umständen nicht entstehen, da stöving auch übung in diesem handwerk fehlte. die maske weist erhebliche mängel auf, so eine nach links verschobene nase und eine beschädigte rechte augenbraue. nietzsches schwester empfand sie mit einigem recht als unbrauchbar. somit entstand ein zweiter typ, die so genannte klinger-maske. der bildhauer klinger arbeitete die maske in einem komplizierten verfahren nach. dabei zog er den bekannten pariser gießer pierre bingen hinzu, der einen dünnwandigen wachsausguss anfertigte. an diesem konnte klinger schließlich die schadhaften stellen der maske reparieren. chronologisch betrachtet, soll nietzsches vetter und vormund, der Jurist adalbert oehler bereits einen tag nach nietzsches tod, d. h. am . august 00, als erster eine maske abgenommen haben. dies erfolgte allerdings zu rein privaten zwecken, ganz ohne den auftrag von nietzsches schwester und unabhängig von ihr (ff.). über technische einzelheiten der abnahme ist nichts weiter bekannt. die maske ging später in den besitz der familie oehler ein und ist dort in mehreren abformungen vorhanden. die Quellenlage ist allerdings dürftig. die konkreten historischen umstände der abformung bleiben vage. so unternimmt es der autor, den angeblichen erstabguss morphologisch zu analysieren. sein ergebnis: weder der gesichtsausdruck noch abnahmetechnische differenzen lassen es zu, diese maske als ersten und authentischen abguss zu bezeichnen. nach hertl ist diese maske eine kopie der klinger-maske. beide masken führten zum grundmaterial, mit welchem sich später gekonnte und weniger gekonnte künstlerische verarbeitungen auseinandersetzten. ein heroischer ausdruck ist keiner der beiden versionen zuzuschreiben. dem, was die zeitgenossen im umfeld des archivs erwarteten, wurden die letzten abbilder des philosophen nicht gerecht. so ist es keineswegs verwunderlich, dass auch die von klinger umgearbeitete maske nicht den vorstellungen von elisabeth förster-nietzsche entsprach. für sie sprach aus ihr resignation und keine schöpferische kraft. in der folge versuchte sie auch den gipsabguss stövings an sich zu bringen, um eine weitere publikation zu verhindern. der hatte allerdings schon einen bronzeabguss davon gemacht. sie betraute den leipziger bildhauer rudolph saudeck, die maske nach ihren wünschen abermals umzuarbeiten. während Klinger lediglich die ‚verunglückte‘ Maske Stövings reparierte, lieferte Saudeck eine plastik, die den erfordernissen einer kultgemeinde entgegenkam. hertl analysiert die veränderungen am ausgangsmaterial bis ins kleinste detail. Mit gezielten Modifikationen schaffte es Saudeck, die Ausdruckswirkung der Maske fundamental ins heroische zu verkehren, wie es die gemeinde um das Nietzsche­Ar­ chiv wünschte (ff.). kritiker reagierten wie erwartet: „nietzsches kinn ist das eines Offiziers: kahl, […] angriffslustig, fast schneidend, unsinnlich.“0 die maske fand das wohlwollen von nietzsches schwester, wurde in einigen exemplaren hergestellt und an freunde des archivs verteilt. in der folge entstanden noch zahlreiche umarbeitungen  0

einzige Quelle dafür ist eine zeitungsmeldung im Rhein­Echo vom . august 0. rudolf kassner, Physiologische Studien, in: Das Inselschiff, bd. vi, heft , leipzig , ff.

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der totenmasken von unterschiedlicher Qualität und ausdruck, die hertl im einzelnen datiert und analysiert. dabei gelingen ihm einige richtigstellungen bei datierung und urheberschaft. die überlieferten totenmasken wurden zum ausgangsmaterial verschiedener künstlerischer verarbeitungen. während in der ersten hälfte des 0. Jahrhunderts vor allem heroisierende darstellungen der person dominierten, entstanden nach dem . weltkrieg zunehmend kritische sichten auf den denker, die ihn auch in seiner hinfälligkeit zeigen (Joseph beuys). dies korrespondiert mit der historisch-kritischen arbeit am nietzschenachlass und dem aufdecken der fälschungen des weimarer Nietzsche­Archivs. prägend für die künstlerische auseinandersetzung mit nietzsche waren allerdings die arbeiten klingers. er hatte nietzsche nicht mehr lebend portraitieren können, kannte aber die ursprüngliche totenmaske und die fotos, die hans olde vom kranken angefertigt hatte. im sommer 0 ließ klinger seine erste nietzsche-plastik gießen, vom archiv allerdings als noch zu pathologisch eingestuft. mit der marmor-herme war elisabeth förster-nietzsche schließlich zufrieden. sie wurde zum optischen mittelpunkt des Nietzsche­Archivs, ein ersatz für den verehrungswürdigen toten. schließlich setzt sich hertl noch mit bildwerken der zweiten hälfte des 0. Jahrhunderts auseinander (), in welchen er spuren der frühen maskenprägungen analysiert (arnulf rainer). alles heroische falle von den arbeiten ab. sie seien eine rückkehr zu stille und natürlichkeit. bei der interpretation des entwurfs von elisabeth von Janotabzowski für die nietzsche-briefmarke der deutschen post im Jahre 000 scheint dem Autor allerdings etwas entgangen zu sein (105). Der ‚Duktus der Kohlezeichnung‘ folgt nicht der strichführung von edvard munch, sondern es handelt sich um eine arbeit von Edvard Munch, die die Grafikerin hier frei benutzt hat. Das Original befindet sich im edvard-munch-museum in oslo. hertls arbeit ist kenntnis- und detailreich. besonders in den ausdruckspsychologischen analysen der bildwerke vermag er die forschungsliteratur um eine neue sichtweise zu bereichern. allerdings wünscht man sich oft eine folgerichtigere argumentation und die einhaltung einer gewissen systematik und chronologie der behandelten themen. an vielen stellen hat der leser den eindruck, als wären teile des buches separat gearbeitet und erst später zum werk zusammengefügt worden. ein gründlicheres lektorat hätte hier abhilfe schaffen können. Ralf Eichberg

heinz schlaffer, Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen, münchen: verlag carl hanser 00. heinz schlaffer ist ein wissenschaftlicher autor, der eine sensible skepsis gegenüber der eigendynamik und tendenziellen selbstgenügsamkeit akademischer forschungsdiskussionen mitbringt. Je älter und kanonischer ein werk der literarischen oder philosophischen geschichte ist, umso mehr hat für ihn die historische erkenntnis darauf zu achten, dass sie es nicht unter einer allzu selbstbezüglichen lektüre unterdrückt und verdeckt, dass sie dem werk vielmehr seine eigenen impulse lässt, die es auf den heutigen leser aus-



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üben könnte und für diesen bereithält. das bedeutet nicht, dass historische erkenntnis auf ihre erarbeiteten und gesammelten einsichten verzichten sollte. noch weniger, dass jene impulse die geschichte hindurch immer dieselben geblieben wären. im gegenteil ist schlaffer der ansicht, dass es auch dann, wenn ein werk in seiner zeit eine breite wirkung erzielt hat, erst einer späteren epoche möglich geworden sein könnte, dessen tiefere bedeutungsschichten wahrzunehmen und es im ganzen angemessen zu beurteilen. mit dem Nachteil allerdings, dass es nun für einen populären und gesellschaftlich flächendeckenden genuss dieser wahrnehmung vielleicht zu spät ist und sie nur noch professionellen gelehrten zukommt. letzteres stellt für schlaffer keinen unerheblichen nachteil dar, vielmehr einen, mit dem sich die philosophie und literaturwissenschaft nicht ohne Weiteres abfinden sollten. Für ihn basieren sie, er selbst ist emeritierter Germanist, auf dem ästhetischen bzw. philosophischen wert ihrer grundlegenden werke, weshalb ihnen die gesellschaftliche aufgabe zukommt, mit kritischen urteilen für eine lebendige öffentlichkeit dieser werke einzutreten. der gelehrte hat nicht nur mit sich und seinesgleichen zu sprechen, sondern mit allen interessierten. entsprechend dieser maxime schreibt schlaffer seine bücher. auch sein nietzschebuch muss vor dem hintergrund seiner publizistischen ansprüche gelesen werden. wie seine anderen arbeiten hat schlaffer es in einer klaren, unprätentiösen sprache verfasst, die auch dem gebildeten laien zugänglich ist, ohne dabei an bestimmender schärfe und gedanklichem tiefgang einzubüßen. das buch präsentiert seinen gegenstand in einer einladenden unmittelbarkeit, indem es von ausgeprägten Methodenreflexionen und Forschungseinbindungen absieht, die das zugrunde liegende werk als ein längst ausgelegtes erscheinen lassen und den durchschnittlichen leser abschrecken könnten. zitatnachweise, mehr in bezug auf philosophen und literaten als auf forscher, sind dem text als endnoten nachgestellt, die nur mit den nötigsten zusatzkommentaren versehen sind. obwohl dieses nietzschebuch als das programm einer detailgenauen und vielschichtigen stilanalyse angelegt und durch und durch das produkt eines philologen ist, stellt es mehr dar als eine philologische studie. schlaffer bezeichnet es als einen „gelehrten exzess von lektüre“ (), eine genauso verblüffende wie treffende selbstbeschreibung, die den akademischen anspruch und den in soziales engagement übergehenden mehrwert seiner stilanalyse zum ausdruck bringt. auf unmittelbarkeit ausgerichtet ist auch der aufbau des buchs. er besteht aus zwanzig gleichlangen kapiteln, deren anordnung auf den ersten blick nicht durch vor- oder 





siehe: heinz schlaffer, Unwissenschaftliche Bedingungen der Literaturwissenschaft, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft,  (); ders., Exoterik und Esoterik in Goethes Romanen, in: Goethe Jahrbuch,  (). schlaffers veröffentlichungen beschränken sich nicht auf akademische abhandlungen: heinz schlaffer, Über den Geist der Geisteswissenschaften. Akademische Glossen, in: Jürgen wertheimer, peter vaclav zima (hg.), Strategien der Verdummung. Infantilisierung in der Fun­Gesellschaft, münchen 00. als das nietzschebuch im august 00 herauskam, dauerte es nur wenige wochen, bis in den wichtigsten deutschsprachigen tageszeitungen umfangreiche besprechungen erschienen: Johan schloemann, Der Stil des Übermenschen, in: Süddeutsche Zeitung (0. . 00); helmut mayer, Verführt durch Nietzsches Stil, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (. . 00); oliver pfohlmann, Künstler der Entfesselung, in: Frankfurter Rundschau (. . 00); ludger lütkehaus, Leben und Schreiben im „grossen Stil“, in: Neue Zürcher Zeitung (. 0. 00).

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rückverweise hierarchisiert ist. unterbrochen wird ihre abfolge lediglich durch eine am anfang einmalig zwischengeschobene abbildung von friedrich nietzsches vorwort zu Der Fall Wagner, die allerdings der parataktischen strukturierung der kapitel keinen abbruch tut. der abbildung, durchgängig als „passage“ () bezeichnet, kommt ein besonderer status zu. sie macht die einleitende funktion der ersten beiden kapitel kenntlich, die mit ihr einen dreistufigen Einstieg in die anschließende Untersuchung bilden. Wichtiger aber ist, dass sie für die folgenden kapitel eine anschauungsgrundlage stiftet, auf die schlaffer bei seinen erörterungen fortwährend zurückkommt, um seine analysebefunde am konkreten objekt auszuweisen. daran zeigt sich die zweite, engere bedeutung seiner selbstbeschreibung. seine stilanalyse ist insofern ein gelehrter exzess von lektüre, als sie sich als eine lektüre im wortsinn präsentiert, als eine in akribischem wissensdurst unersättliche und daher immer von neuem vollzogene lektüre einer textgrundlage, die kaum mehr als eine seite umfasst. von der passage aus gesehen inszenieren sich die nachgeordneten kapitel je für sich als eine wiederholung dieser für den „gewöhnliche[n] leser“ (), „unnatürliche[n] art von lektüre“ (). die kapitelüberschriften geben dabei schlagwortartig den speziellen stilanalytischen gesichtspunkt an, der jeweils im mittelpunkt steht. die fluchtlinien seines deutungshorizonts entwickelt schlaffer vor allem in den ersten beiden kapiteln Wort und Zahl (ff.) und Stilbeschreibung (ff.). man könnte sie als essayistischen prolog der folgenden studie bezeichnen. er beginnt damit, dass der leser mit einem weltanschaulichen bekenntnis konfrontiert wird, das an entschiedenheit und polemischer brisanz nichts zu wünschen übrig lässt. es läuft darauf hinaus, den gegenwärtigen zustand der deutschen gesellschaft auf einen offenkundig irreversibel gewordenen umbruch festzulegen: „ wurde der endgültige sieg der zahl über das wort manifest, im westen wie im osten“ (). was mit dieser gesellschaftlichen bestandsaufnahme konkret gemeint ist, führt schlaffer im ersten kapitel mit einer kurzen genealogie der verehrung des wortes aus, die heute durch jenen „endgültige[n] sieg der zahl“ gebrochen sei. angelegt in der antike und durch kirchlich institutionalisierte sprachhandlungen über die Jahrhunderte verfestigt, sei sie bei den neuzeitlichen romantikern und ihrem argwohn gegenüber naturwissenschaft und technik zu jenem widerpart zur zahl geworden, der in niemand anderem als nietzsche seinen höhepunkt gefunden habe. nietzsches werk stelle die entfesselung des wortes dar und habe in deutschland zu beginn des 0. Jahrhunderts intellektuelle und vor allem auch politisch handlungswillige nachahmer gefunden. deren scheitern habe bewirkt, dass die macht des wortes auf immer verbraucht worden sei. trotz oder wegen dieses geschichtlichen rundumschlags ist es nicht leicht, den genauen sinn des ersten kapitels zu bestimmen. schwierigkeiten bereitet allen voran der konzeptuelle stellenwert des übergeordneten schemas von wort und zahl, da schlaffer bei seinen historischen darlegungen kaum einen kulturkritischen gemeinplatz unerwähnt lässt (ideologie/ ökonomie, religiöses wunder/ rationale entzauberung, moralische hingabe/ egoistisches nutzenkalkül, genialer intellektueller/ plumpe masse). zumal das prinzip zahl hat eine breite inhaltliche streuung abzudecken, von der nicht klar ist, ob sie tatsächlich so einfach zusammengefasst werden kann. weiter ist zu beobachten, dass das weltanschauliche Bekenntnis mithilfe eines raffinierten Zitierverfahrens nicht von schlaffer selbst, sondern vom ostdeutschen literaten ingo schulze ausgesprochen und



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in der folge mit weiteren zitaten der romantischen wortverehrer fortgeschrieben wird. die formale struktur des textes lässt also offen, ob schlaffer einen wirklichen gesellschaftlichen umbruch beschreibt oder nur die artikulierte wahrnehmung eines solchen rekapituliert, wobei letzteres natürlich raum für distanz und ironie geben würde. die vermutung liegt nahe, dass das gesamte kapitel nicht zuletzt die rhetorische funktion erfüllen soll, dem leser, zumal dem liebhaber nietzsches, gelegenheit zu geben, seine persönlichen überzeugungen und idiosynkrasien in die lektüre mit einzubringen und sich gleich zu beginn gründlich empören zu lassen. wenn es also keineswegs ausgemacht ist, ob schlaffer dem von ihm abgerufenen „endgültige[n] sieg der zahl über das wort“, wirklich zustimmt, so bildet er gleichwohl den hypothetischen einsatzort des folgenden. vielleicht wird er am ehesten getroffen, wenn man die zahl zunächst negativ als platzhalter für eine besonders in deutschland verbreitete enttäuschung von der sprache und ihren großen worten versteht, die ein naives, ungehemmtes und euphorisches sicheinlassen auf ihr wirkungspotential grundsätzlich verwehrt, positiv gewendet aber auch einen distanzierteren und schärferen blick für die realität ermöglicht. feststeht, dass es allein dieser „blick“ () ist, der als das allgemeine resultat von schlaffers geschichtlicher darstellung auch ins zweite kapitel hinübergenommen wird. er richtet ihn nun ganz auf nietzsches werk und dessen wirkungsgeschichte, rekapituliert ein weiteres mal eine bilanz von ostentativer ernüchterung, die darin zum ausdruck kommt, dass er die innerakademische aufmerksamkeit gegenüber nietzsche keineswegs überschätzt: „weil sich auch mussolini und hitler zu nietzsches erben erklärt hatten, endete  seine popularität; in der ddr wurden seine schriften nicht mehr gedruckt, in der bundesrepublik zunächst nicht ohne verlegene rechtfertigungen. seitdem sind sein werk und dessen wirkung fast nur noch gegenstand gelehrter abhandlungen. lediglich der erkenntniskritik nietzsches haben die französischen dekonstruktivisten eine aktuelle bedeutung, eine akademische popularität verschafft“ (f.). wenn eine solche rezeptionsgeschichtliche entwicklung für ihn zwar keineswegs erfreulich ist, so kann die tatsache, dass nietzsche heute eigentlich nur noch im akademischen umfeld eine ernstzunehmende Rolle spielt, umkehrt wieder zur Bekräftigung seiner spezifischen philologischen perspektive dienen: „nach der politisch-militärischen niederlage, die der ausgang des zweiten weltkriegs den anwendern nietzsches beibrachte, darf sich – mit unverdienter gelassenheit – das ästhetische vergnügen heutiger leser jener sprachkunst aussetzen, die nietzsche nicht nur zum ästhetischen vergnügen entfesselt hatte“ (). das gelassene ästhetische vergnügen, von dem die rede ist, wird am meisten von schlaffers eigener stilanalyse zu erwarten sein, die er auf ihren exklusiven anspruch hin inszeniert. für sie sind andere lesarten unmöglich geworden, zu denen nicht nur die politische lektüre jener anwender nietzsches zu zählen wäre, sondern im grunde jede genuin philosophische lesart. ein emphatisches erkenntnisinteresse könne es für die „nachgeborenen“, so schlaffers rigorose feststellung, nicht mehr geben, da ihnen „die geschichte das urteil über wahr und falsch abgenommen hat“ (). folgt man den inhaltlich dominierenden aussagen schlaffers, so ist gegenstand und zugangsweise seiner stilanalyse erst vor dem hintergrund dieser weltanschaulichen und zugleich akademischen szenerie zu verstehen. der text nietzsche ist zu jenem stilphänomen geworden, für das nur der „unnatürliche 

hierzu: heinz schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, münchen, wien 00.

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[…] blick des philologen“ () ein auge hat, und einer ideologiekritischen aufmerksamkeit ausgesetzt, die gegen die verlockungen des text resistent bleibt, insofern sie die normalerweise „unbewusste[n] vorgänge der lektüre bewusst“ (ebd.) macht. wenn nach dem zweiten kapitel die „passage“ aus nietzsches vorwort zu Der Fall Wagner abgebildet ist, so bedeutet das für den Lektürefluss einen Einschnitt, den sich schlaffer zunutze zu machen weiß. das dritte und die anschließenden kapitel lesen sich voraussetzungslos und in die vorangestellte textgrundlage vertieft, als hätte es die einleitung und ihren weltanschaulich aufdringlichen prolog nie gegeben. dies ist zunächst zu begrüßen, da es der objektivität und anschlussfähigkeit von schlaffers analyse zugute kommt und in der tat entwickeln seine darlegungen im folgenden ein erstaunliches maß an philologischer instruktivität. die innere abgeschlossenheit der analyseschritte macht es gleichwohl schwierig, den thematischen bogen, den die kapitel drei bis zwanzig beschreiben, adäquat zusammenfassen. festzustellen ist, dass schlaffer zu beginn seiner analyse betont sachlich beschreibend verfährt und ihre kritische stoßrichtung weitestgehend zurückhält. thematisch stehen vor allem aspekte im mittelpunkt, die man als formal bezeichnen würde. schlaffer gelingt es aber zu zeigen, dass ihre scheinbare formalität gemäß einer persuasiven absicht gestaltet wurde, die in semantischer hinsicht alles andere als nebensächlich ist. sie arbeiten immer schon einem autor zu, der unter abrufung aller ihm zur verfügung stehenden stilistischen mittel darauf aus ist, den leser auf seine seite zu bringen, ehe dieser den philosophischen inhalt seiner texte ganz verstanden hat. schlaffers analyse besticht dabei durch vielfalt und dichte. zunächst sind es konsequenterweise die formal unscheinbarsten gesichtspunkte, die unter die lupe genommen werden, wie die typographischen (Zwischen den Wörtern, ff.) und syntaktischen (Von Höflichkeit, ff.) aspekte der buch- bzw. textgestaltung nietzsches. dann werden die gesichtspunkte komplexer, indem zu poetologischen (Poesie der Prosa, ff.), medientheoretischen (Unter der Schrift, ff.) und soziohistorischen aspekten (In Erwartung der Rede, ff.) fortgeschritten wird und schlaffer auch nietzsches strategie der rythmisierung (Sprechen, ff.) und seine aphoristik (Spruch, ff.) detailgenau und erhellend untersucht. allgemein ist zu sagen, dass er sich bis zu dieser stufe der analyse noch im umfeld von fragestellungen bewegt, die teilweise bereits von der forschung, vor allem zur rhetorik nietzsches, thematisiert worden sind. vereinzelt lässt er durchblicken, dass er die relevanten beiträge wahrgenommen hat; nicht ohne allerdings darauf hinzuweisen, dass nietzsches werk mit den kategorien klassischer rhetorik nicht erschöpfend beschrieben werden kann, da es ihm immer um die mobilisierung eines neuen, bisher ungenutzten wirkungspotentials der sprache gegangen sei (, f., 0). auf diesem weg gelingt es schlaffer, mit in der forschung sprichwörtlich gewordenen fehlbeurteilungen nietzsches aufzuräumen, wie dem ausspruch theodor w. adornos, in jeder periode nietzsches würde das tausendjährige echo der rhetorenstimmen aus dem römischen senat hallen (von ihm entlarvend gegen nietzsche artikuliert). schlaffer gelingt es überzeugend zu zeigen, dass der größte und wichtigste teil von nietzsches schriften mit den klassischen periodenbildungen eines cicero gerade soviel zu tun hat, als sie sich radikal und teilweise explizit davon absetzen. höchstens in nietzsches Unzeitgemäßen Betrachtungen ließen sich Sätze finden, die an die klassische Periodenbildung erinnern. genau genommen erarbeitet schlaffer seine erkenntnisse dadurch, dass er den stilanalytischen überlegungen, die nietzsche selbst verstreut in seinem werk angestellt hat,



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nachgeht und an verschiedenen textbeispielen veranschaulicht. dies ist insofern bedeutsam, als das es den in den eingangskapiteln zur schau getragenen anti-nietzscheanischen impetus ein weiteres mal fragwürdig werden lässt, denn nietzsche scheint mehr als nur ansatzweise eine stilanalytische aufklärung seines werks zu begünstigen. eine solche tendenz latenter aufwertung steigert sich in den kapiteln 0 und , die vielleicht den sachlichen höhepunkt der stilanalyse bilden. im zehnten kapitel Stilkritik (ff.) wird nietzsche als der eigentliche begründer moderner stilkritik gewürdigt, eine historisch bis heute nachhaltige leistung, die er vor allem mit seiner ersten Unzeitgemäßen Betrach­ tung erbracht habe. das kapitel wimmelt von sätzen, die unbestreitbar auf schlaffers eigenes programm rückverweisen und zugleich die these seines prologs, es sei heute durch den „endgültigen sieg der zahl über das wort“ () auch mit allem stil vorbei, in seinem ambivalenten status zeigen: „es gehört bis in die gegenwart zur sadistischen lust der stilkritik, durch die bloßstellung der fehlerhaften sprache den autor zu verletzen, zu verachten, zu vernichten. Stilkritik ist nie höflich“ (100); „Stilkritik macht, gerade weil sie sich selbst der sprache bedienen muss, sprache zum kampfplatz“ (0). auch schlaffers auf eindeutigkeit beharrende sprache führt nicht nur gegen nietzsche und seine nachahmer, sondern auch gegen heutige dekonstruktivisten einen zur schau getragenen kampf (17, 81f., 205). „Wahrheit gegen Betrug, Besonnenheit gegen Oberflächlichkeit, Kultur gegen konsum, bildung gegen halbbildung. diese erweiterungen steigern die stilkritik zur kulturkritik, die sich um die zukunft des geistes, der nation oder der welt sorgt“ (0); „die kulturpädagogische absicht jeder stilkritik: sie möchte eine zeitenwende herbeiführen“ (0). auch schlaffer will eine zeitenwende herbeiführen, wenn er sie auch strategisch auf das Jahr  rückverlegt, also in die jüngste vergangenheit und nicht in die zukunft wie nietzsche. markanter kommt die selbstreferentielle tendenz im elften kapitel Gegensätze (0ff.) zum tragen. es verdient beachtung, weil schlaffer zu einer systematischen gesamtschau seiner bisherigen befunde ansetzt. alle untersuchten aspekte von nietzsches stil hätten gemeinsam, dass sie insgesamt auf eine produktion sprachlicher gegensätze abzielen würden. im unterschied zu den „[s]chlichten antithesen“ der „alltagssprache“ sei es nietzsche darum gegangen, „eine antithese zu diesen antithesen zu bilden“ (0). der selbstreferentielle charakter dieser feststellung liegt darin begründet, dass schlaffers darlegungen selbst mit einem gegensatz beginnen: „philosophisch interessierte interpreten nietzsches behandeln die gesamtheit seiner schriften wie ein nebeneinander, um daraus einen halbwegs plausiblen zusammenhang von ideen zu konstruieren; manche stellen resigniert fest, dass er fehle. […] wer jedoch weniger nietzsches philosophische Tiefe ergründen als seine stilistische Oberfläche betrachten will, wird noch im Zusammenhanglosen und Chaotischen immerhin ,Gesetze‘ des ‚Nacheinander‘ entdecken“ (ebd.). mit diesen aussagen scheint er lediglich auf den punkt zu bringen, was er im zweiten kapitel angedeutet hat: dass eine philosophische lektüre nietzsches heute grundsätzlich überholt sei. dann fährt er fort: „zur wahrnehmung im nacheinander gehört, dass man früheres verschwommen erinnert oder gar vergisst, kommendes vage erwartet und nur vom gegenwärtigen augenblick einen deutlichen eindruck hat. widersprüche, die sich im gedächtnis (d. h. im zettelkasten) des gelehrten interpreten festgesetzt haben, stören den lesenden gewöhnlich wenig. ihm genügt es, von dem was er gerade liest gefesselt zu sein. nietzsches aphoristische schreibweise rechnet mit lesern, die einem text von einer

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halben seite mit intensiver aufmerksamkeit folgen“ (ebd.). ohne auf alle feinheiten der formulierung einzugehen, wird bei genauer betrachtung klar, dass der anfangs eingeführte Gegensatz von „philosophische[r] Tiefe“ und „stilistische[r] Oberfläche“ gerade nicht ausreicht, um schlaffers eigene perspektive hinreichend zu fassen. sie fällt keineswegs mit der lektüre zusammen, die sich im strom momentaner eindrücke vergisst; als solche wäre sie weder fähig ‚Gesetze‘ zu erkennen noch gegenüber den Suggestionen nietzsches auf distanz zu bleiben. mit anderen worten: schlaffers stilanalyse bietet eine Art der Lektüre, auf die ‚Nietzsches aphoristische Schreibweise rechnet‘ und eröffnet vielleicht gerade die philosophische Dimension des ‚Nebeneinander‘, auf die es ihm selbst am meisten ankam, da sie nur jenseits der schlichten antithese von philosophischer Tiefe und stilistischer Oberfläche gedacht werden kann. mit den kapiteln  bis 0 erhält schlaffers stilanalyse einen spürbar anderen charakter. thematisch äußert sich dies darin, dass die bisherige argumentationslinie in gewisser weise umgekehrt wird. wurden zuvor die als formal geltenden textaspekte auf ihre inhaltstiftende funktion hin analysiert, so wird nun nietzsches wortwahl an ausgewählten beispielen auf ihren stiltechnischen unterbau rückbezogen. auffällig ist, dass die historische perspektive stärker in den vordergrund rückt, da er ausführlicher auf nietzsches politische anwender zu sprechen kommt, von denen schon in den einleitungskapiteln die rede war. dass damit die darlegungen zugleich eine umbequemere und provozierendere stoßrichtung erhalten, liegt auf der hand und kommt schon in den kapitelüberschriften deutlich zum ausdruck: Sein Kampf (ff.), Führer Nietzsche (ff.), Im Jahrhundert der Führer (ff.), Wort und Tat (0ff.), Die Stile und der Stil (ff.). der instruktivität von schlaffers darlegungen tut dies insofern keinen abbruch, als er mit dem zweiten teil seiner analyse in sein eigentliches metier vorstößt und gelegenheit hat, durch eine breite technik des zitierens seine souveräne kenntnis deutscher literaturgeschichte auszuspielen. das spektrum intertextueller bezüge zu nietzsche reicht von Joseph goebbels roman Michael, über gedichte stefan georges (aus dessen umfeld auch weniger bekannte autoren zu wort kommen) bis zu verschiedenen literatur- und kunstwissenschaftlichen arbeiten des späten . und frühen 0. Jahrhunderts. selbstverständlich werden eine große anzahl literarischer größen zitiert, die politisch mehr oder weniger unverdächtig sind und nietzsches breite verankerung in der modernen deutschen literaturgeschichte illustrieren. allerdings sind inhalt und präsentation der verbindungslinien so gestaltet, dass sie nietzsche im grunde wenig zur ehre gereichen und zumeist das veraltete, wenn nicht fatale seiner wirkungen betonen. diese für jeden nietzschefreund trostlose tendenz hält sich bis zum letzten kapitel Stil und Anti­Stil (0ff.) durch, das relativ abrupt endet und die trostlosigkeit der lektüre noch verstärkt. das kapitel beginnt ein weiteres mal damit, dass schlaffer beispiele der schlechten nachahmer von nietzsches stil anführt, um den nach ende des ersten weltkriegs „gesteigerten sprachrausch der nietzscheaner zu illustrieren“ (). die letzten absätze schlagen dann plötzlich eine andere richtung ein. schlaffer stellt den nietzscheanern eine ab den zwanziger und dreißiger Jahren einsetzende Gegenbewegung der „‚Neuen Sachlichkeit‘“(ebd.) bzw. des bewussten „Antistil[s]“ () entgegen, für die die namen kurt tucholsky und bertolt brecht stehen. das kapitel endet mit einer schlussbemerkung, dass nach dem zweiten weltkrieg mit den emigranten auch „eine bescheidenere sprache“ nach deutschland zurückgekehrt sei, die nach „einige[n] Jahrzehnte[n]“ letztlich auch die allzu betonte „schlichtheit“ () eines



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brechts abgelegt habe. nietzsches leistung als stilist, soeben noch in all ihren schlechten folgen gegenwärtig, scheint heute genauso schlagartig und gründlich vom tisch zu sein, wie schlaffers darstellung nicht nur der nach-nietzscheanischen, sondern sogar der nachnach-nietzscheanischen geschichte kurz ist. dieses ende bekräftigt die hauptaussage des buchs, die an die ideologiekritische nietzschelektüre von georg lukács erinnert: nietzsche habe eigentlich nur in der ersten hälfte des 0. Jahrhunderts eine breite gesellschaftliche bedeutung gehabt, die zwar ästhetisch und literarisch nicht fruchtlos gewesen ist, aber im grunde von ihrer unterstützung des politischen faschismus und der verirrung der deutschen intelligenz überschattet bleibt. in diesem sinne ist es nur konsequent, wenn der untertitel von schlaffers buch an die berüchtigte Formel ‚Nietzsche und die Folgen‘ anknüpft, die wie vielleicht keine zweite für die lange tradition der nietzscheverachtung in deutschland steht; konsequent auch deshalb, weil durch den Zusatz ‚Stil‘, mit dem er die Formel erweitert, tatsächlich auch konzeptuell eine neue stufe erreicht wird, auf der sich diese tradition nicht mehr so leicht widerlegen lassen dürfte wie bisher. im unterschied zu seinen vorgängern, – die nicht weniger ideologiebehaftet waren als ihre nationalsozialistischen gegner, braucht sich schlaffer nicht zu der heute unhaltbaren these zu versteigen, dass die politisch buchstäbliche lektüre von nietzsches werk inhaltlich vollkommen gerechtfertigt gewesen sei bzw. dass Nietzsche die von ihm beeinflussten Entwicklungen des frühen 0. Jahrhunderts sogar beabsichtigt habe. weil schlaffer seine rezeptionsgeschichtliche diagnose angesichts der stilistischen auswirkungen eines schriftstellers trifft, braucht er sich weder inhaltlich letztgültig festzulegen, noch die person nietzsche mit übertriebenen schuldzuweisungen zu überhäufen. wenn damit aber die stilanalytische begegnung mit Nietzsche auf einer Ebene stattfindet, die sich nicht nur mit der rhetorischen Aufgeklärtheit dieses autors vereinbaren lässt, sondern wesentlich durch seine eigenen hinweise nahegelegt wird, weist sie zugleich auf eine andere, im verlauf der thematisierten wirkungsgeschichte noch unausgeschöpfte bedeutung seines werks hin. Nietzsches Stil, so lässt sich der buchtitel auf eine latente, selbstreferentielle pointe hin lesen, ist als Das entfesselte Wort nicht nur der lehrreichste gegenstand der stilanalyse, er macht sie selbst zum jüngsten beispiel „seine[r] folgen“. Nikolas Zok

Nietzsche nach dem Ersten Weltkrieg, hg. von sandro barbera und renate müller-buck, pisa: ed. ets 00, bd. i (nietzscheana: saggi ). „das eine bin ich, das andre sind meine schriften“ (ksa, eh, , ). mit einem hinweis auf die distanz, die den autor von seinem werk trennt, beginnt jenes kapitel von nietzsches autobiographie Ecce homo (), das den bewusst überheblichen und selbstironisch zwinkernden titel Warum ich so gute Bücher schreibe trägt. an die

wolfgang müller-lauter, Über „Nietzsches Folgen“ und Nietzsche, in: Nietzscheforschung, bd.  (); renate reschke, Das Gerücht Friedrich N. Zu Innen­ und massenmedialen Ansichten der Nietzsche­Rezeption in der DDR der achtziger Jahre, in: Nietzscheforschung, bd.  ().

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ser stelle spricht nietzsche seine intention aus, die „frage nach dem verstanden- oder n i c h t -verstanden-werden“ seiner schriften nur „nachlässig“ berühren zu wollen, denn ihm sei diese Frage eigentlich ‚unzeitgemäß‘, sie sei „durchaus noch nicht an der Zeit“, genauso wenig wie er selber an der zeit sei: „einige“ (so das fazit des selbstbewussten Zarathustra-philosophen) „werden posthum geboren“ (ebd.). mit diesem lapidaren satz relativiert nietzsche aber implizit die bedeutung seiner anfänglichen unterscheidung zwischen autor und werk: die distanz zwischen schöpfer und geschöpftem schrumpft hier zusammen, und in einer totalisierenden synthese mit seinem denken projiziert sich Nietzsche hiermit in eine undefinierte Zukunft, welcher er aber die Aufgabe überlassen muss, seiner postumen geburt auf ihre weise gerecht zu werden – mit dem risiko, dass sich jene zukunft schließlich als noch unfähiger erweisen könnte, werk und denker zu ‚verstehen‘, als die Aktualität, die dem Philosophen zu diesem Zweck als allzu unreif erscheint. dem so intensiven und facettenreichen wie widerspruchsvollen und kontroversen ‚Leben‘, welches aus Nietzsches ‚postumer Geburt‘ hervorgeht, ist der zu besprechende band gewidmet, der dreizehn beiträge zu nietzsches rezeptionsgeschichte nach dem ersten weltkrieg beinhaltet. im mittelpunkt der beiträge, die mehrheitlich in deutscher, aber auch in französischer, italienischer und spanischer sprache verfasst sind, steht – wie die herausgeber im vorwort deutlich machen – die „phase grundlegender auseinandersetzung und aneignung“ von nietzsches denken, die erst nach dem ersten weltkrieg einsetzt und die von jener ersten phase von nietzsches wirkungsgeschichte zu unterscheiden ist, die eine phase „der versuchsweisen annäherung“ dargestellt habe und die von der „starken verbreitung eines romantischen mythos“ über nietzsches existenz und krankheit bedingt gewesen sei (). auch wenn sich eine deutliche trennungslinie zwischen den genannten phasen von nietzsches wirkungsgeschichte anscheinend nur schwierig ziehen lässt, ist es doch nicht abwegig, in den Jahren um den ersten weltkrieg den ausgangspunkt eines qualitativ neuen Interesses für Nietzsches Leben und Werk fixieren zu wollen. dies geschieht in der überzeugung, dass die historisch-politischen und kulturellen implikationen des weltkriegs viele denker und dichter dazu führen mussten, mit anderen augen sowie mit neuen und immer dringenderen fragen auf das leben und werk friedrich nietzsches zurückzuschauen. martin heidegger, karl Jaspers, alfred baeumler, ludwig klages, karl löwith sowie robert musil, gottfried benn, ernst bertram, heinrich und thomas mann, stefan george und sein kreis, ernst und friedrich georg Jünger, andré gide: um diese autoren drehen sich die im vorliegenden band gesammelten Beiträge, die den Leser in einer lehrreichen Reise durch Nietzsches unerschöpfliche, verwickelte und widersprüchliche rezeptionsgeschichte „nach dem ersten weltkrieg“ begleiten. darüber, dass diese rezeptionsgeschichte weit über die grenzen der deutschsprachigen Länder hinausreicht und letztlich ein großes ‚europäisches‘ Kulturphänomen darstellt, sind sich die herausgeber im klaren: der in diesen band aufgenommene beitrag über andré gide soll hier exemplarisch einen forschungsweg eröffnen, den andere interpreten auch bald gehen sollen, für deren untersuchungen die herausgeber schon die veröffentlichung eines speziell dem thema der europäischen rezeptionsgeschichte nietzsches gewidmeten sammelbandes planen. der leser der Geburt der Tragödie erinnert sich, dass nietzsche in seiner erstlingsschrift eine Frage stellt, die wie kaum eine andere auch eine ‚methodologische‘ bedeutung

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besitzt: in bezug auf die „herrlichen o l y m p i s c h e n göttergestalten“, die das fundament der apollinischen kultur der griechen darstellen, fragt er in den ersten kapiteln der Geburt der Tragödie, aus welchem „ungeheure[n] bedürfniss“, eine „so leuchtende gesellschaft olympischer wesen“ entsprungen sei (ksa, gt, , ). auf welche dringenden fragen gaben die götter des griechischen olymps eine antwort? und generell: welcher mensch und welche menschlich-allzumenschlichen, kontextuell bedingten fragen und verlangen stehen hinter jeder – auch der erhabensten – apollinischen konstruktion? unter den beiträgen, die in Nietzsche nach dem Ersten Weltkrieg am lesenswertesten und aufschlussreichsten scheinen, sind gerade die jener Interpreten zu finden, die sich auf ihre weise diese methodologische frage zu eigen gemacht und sich in nietzsches sinne gefragt haben, welches ‚ungeheure Bedürfnis‘ die jeweils von ihnen behandelten Autoren dazu gebracht habe, auf nietzsches philosophie zurückzugreifen und motive, gedanken und intuitionen dieser philosophie immer wieder zu rezipieren, zu ergänzen oder neu zu interpretieren. vor dem hintergrund dieser methodologischen frage vermögen die gelungensten beiträge des sammelbandes auf der einen seite bedeutende aspekte von nietzsches philosophie zu beleuchten, auf der anderen seite historische, philosophische oder kulturelle implikationen im kontext von nietzsches rezeption und ihrer autoren deutlich zu konturieren. zur gruppe der lesenswertesten beiträge von Nietzsche nach dem Ersten Weltkrieg ist sicher maurizio pirros untersuchung zum Nietzsche­Bild im George­Kreis zu zählen, mit welcher der sammelband eröffnet und deren analyse uns die möglichkeit geben soll, generelle themen und leitmotive des sammelbandes vorzustellen. eine negative diagnose der modernen kultur ist in der nachfolge nietzsches schnell aufgestellt; das zu verfolgende ziel besteht in der therapierung des zivilisatorischen übels, das in der modernen kultur grassiert, sowie in der wiederherstellung einer kulturellen einheit, die das moderne „nebeneinander aller stile“ zu überwinden vermag. nötig erscheint eine Wiederbelebung der kulturellen Tradition, die nicht durch die ‚lebensferne‘ schule des positivismus gegangen sei. pirros beitrag nimmt von dem „unfehlbare[n] antimoderne[n] instinkt des dichters“ george () seinen lauf und hebt zunächst den antipositivistischen ansatz bzw. das „antiphilologische unbehagen“ () des meisters und seines Kreises im Umgang mit den großen Vorgängerfiguren und den großen künstlerischen werken der tradition hervor: „georges ansatz zur behandlung der tradition“, so der autor, „beharrt auf erkennung ewiggültiger vitalität von kunstwerken, die von pragmatischen interferenzen historischer oder sozialer art völlig unabhängig zum ausdruck kommt, und sich nur in der entrückten Sphäre einer bei jeder genialen Persönlichkeit ‚a priori‘ vorhandenen weltanschauung erfahren lässt“ (). dabei gehe es im grunde um die „refunktionalisierung der vergangenheit aufgrund ihrer imaginativen fruchtbarkeit“ (16), und auch der Begriff ‚Legende‘, auf der nicht zuletzt Bertrams Nietzsche-Monographie basiert, sei wohl nur in dieser Logik zu verstehen. Wie die im Genius ‚a priori‘ vorhandene weltanschauung mit ihrem anspruch auf allgemeingültige objektivität und mit der vom kreis erstrebten erzieherischen wirkung (nicht nur elitärer art) nach außen in einklang zu bringen sei, muss freilich als unlösbarer widerspruch unbeantwortet bleiben, wie pirro feststellt. dass es sich bei der beschäftigung mit diesen fragen nicht zuletzt um die Selbstlegitimierung der vom ‚genialen Künstler‘ bzw. ‚Meister‘ und seiner Jünger gespielten rolle als anreger und stifter einer neuen kultur sowie um die durchsetzungs-

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kraft der vom kreis verfolgten kulturpolitischen ziele geht, erscheint auf den ersten blick offensichtlich, und pirro kann mit gutem recht behaupten, dass die auseinandersetzung von george und seinem kreis mit vita und werk friedrich nietzsches vor dem beschriebenen hintergrund eine besondere brisanz gewinnt. mit welchen fragen und erwartungen schauen die georgeaner (aber auch viele der anderen autoren, denen der leser im sammelband begegnet) auf nietzsche zurück? nietzsche ist der kulturkritiker, der verbündete par excellence im kampf gegen fortschrittsoptimismus, industrialisierung und massengesellschaft; er ist ein philosoph, der licht in die innere logik komplexer kulturhistorischer zusammenhänge zu bringen vermag; schließlich ist er ein denker, der sich auf grund des eigenen heroisch-leidenden lebenslaufes und eines vielschichtigen und disparaten werks wie kaum ein anderer als legende darbietet. auf den erwähnten Momenten gründet die Faszination, die von der ‚Legende‘ Nietzsche ausgeht; auf diese momente sind aber auch kritik und ablehnung zurückzuführen, denen nietzsches philosophie nicht selten im george-kreis begegnet. pirro stellt zunächst bei george selbst ein „äußerst gespaltenes“ nietzsche-gesamtbild fest, in dem die am anfang positiven äußerungen im laufe der Jahre revidiert werden. so wird der „gebieterisch[e] menschenverächter in der pose des unbeirrbaren weltüberwinders“ (), der als „verbündete[r] im Zeichen der gemeinsamen Ablehnung der Masse sowie der Verpflichtung zu gewaltsamer selbstaufwertung bzw. -behauptung des über alles eingrenzende erhabenen einzelnen“ galt, im laufe der zeit zum „selbstverliebten utopisten“ (ebd.) herabgestuft, der in seiner so strengen wie sterilen Einsamkeit unfähig ist, zur Schlüsselfigur in einem Kreis von adepten zu werden und deren schicksal durch die „bindende kraft der liebe“ (ebd.) zu lenken. pirro macht deutlich, inwieweit kontingente fragen, welche die machtausübung im george-kreis selbst betreffen, zu einer veränderung von georges haltung gegenüber nietzsche führen. georges revidiertes nietzsche-bild bleibt natürlich für die kreis-mitglieder nicht ohne folgen, es stellt die folie dar, vor welcher bedeutende arbeiten (etwa bertrams nietzsche-abhandlung) in diesen Jahren entstehen. nietzsches rezeption nach dem ersten weltkrieg im engsten sinne widmet sich der letzte teil von pirros beitrag, in dem zwei in den Jahren / erschienene publikationen kurt hildebrandts (Nietzsches Wettkampf mit Sokrates und Plato sowie Wagner und Nietzsche. Ihr Kampf gegen das neunzehnte Jahrhundert) vor dem hintergrund von bertrams nietzsche-abhandlung analysiert werden. interessant ist hier, dass sowohl bertram als auch hildebrandt einen direkten bezug zwischen Johann wolfgang goethe und nietzsche im kontext der überwindung der décadence herstellen, bezeichnenderweise zu einer zeit, in der goethe in georges anschauung die rolle übernommen hat, die nietzsche in den Jahren um die Jahrhundertwende gespielt hatte. pirros sehr lesenswerter (wenn auch stilistisch nicht immer leserfreundlicher) aufsatz gibt einen tiefen einblick in die kulturellen hintergründe, vor denen auch vivetta vivarellis beitrag Il cavaliere, la morte e il diavolo. Nietzsche e il germanesimo idealizzato di Bertram e di Thomas Mann zu analysieren ist, ein beitrag, der im sammelband der untersuchung über Gide et Nietzsche von Jacques le rider folgt. der erste weltkrieg (die politische und soziale katastrophe, die sich auf das ii. deutsche reich niederschlägt) stellt den hintergrund dar, vor dem sowohl bertrams nietzsche-abhandlung als auch thomas manns Betrachtungen eines Unpolitischen entstanden. die analogien und parallelismen, die diese werke aufweisen, führt vivarelli auf den von beiden autoren während einer



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kurzen zeitspanne gemeinsam verfolgten versuch zurück, ein „idealisiertes deutschtum“ wieder her- bzw. sicherzustellen (0). im zeichen jenes unternommenen versuchs (stichwort: ‚Bedürfnis‘) ist auch die Beschäftigung beider Autoren mit Leben und Werk Friedrich nietzsches zu interpretieren, und was besonders thomas mann angeht, wirft vivarelli die frage auf, ob nicht gerade bertrams legendäres nietzsches-bild den unpolitischen Betrachter beeinflusst habe, so dass Nietzsches Wagner-Kritik, die in der Burleske Tristan noch eine zentrale rolle gespielt hatte, in den Betrachtungen im namen des einheitlichen, ‚idealisierten Deutschtums‘ ihre Schärfe verliert. „L’opera di Bertram“, so Vivarellis These, „che pure Mann esalta come impasto di filologia e musica, è frutto di una perizia ‚filologica‘ solo apparente“ (65); darüber hinaus stelle die Abhandlung kein ‚philosophisches‘ werk dar, sondern sie sei als eine „mythisierende biographie“ zu betrachten. ausgehend von der These, dass die ‚Legende Nietzsche‘ bei Bertram als Resultat einer „gelehrten manipulation“ () entsteht, untersucht vivarelli in ihrem beitrag die leichten perspektivischen drehungen, welche die entstehung jener legende erst möglich machten. entstanden sei sie durch partielle beleuchtung einiger leitmotive in nietzsches werk und leben, durch die ständige dialektische umkehrung aller argumente, durch die negation jeden Entwicklungsprozesses sowie durch die Relativierung jener das ‚Gesamtbild‘ störenden äußerungen, in denen nietzsche selbst konkrete begründungen für eine von ihm vertretene position zu einem bestimmten zeitpunkt lieferte. ähnliche wege geht mann nach vivarelli in seinen Betrachtungen, in denen jedes historische ereignis wie bei bertram bloß als ‚mythisches Zeichen‘ in Betracht kommt. dem Gerechtigkeit betitelten kapitel von bertrams Nietzsche widmen sich anna maria Arrighettis ‚riflessioni‘, die der Beitrag La giustizia o dell’‚insolvibile disarmonia dell’esistenza‘. Il dissidio di Nietzsche nella leggenda di Ernst Bertram wiedergibt, während sich enrico de angelis mit dem thema Musils Zarathustra beschäftigt und die spuren verfolgt, die Also sprach Zarathustra, das tiefste buch, das die menschheit besitzt (zumindest für den autor der Götzen­Dämmerung), trotz der von musil geäußerten abneigung diesem buch gegenüber schließlich doch in seinem werk hinterlassen hat. Gottfried Benn antwortet auf Nietzsches Frage, wo die Barbaren des 20. Jahrhun­ derts sind heißt der aufsatz aus der feder von gunnar decker, der das thema „nietzsche nach dem ersten weltkrieg“ aus einer ziemlich breiten perspektive behandelt und bedeutende etappen in leben und werk gottfried benns revue passieren lässt: von der rolle, welche der nihilismus für benn spielt, über die vom autor geäußerte kritik sowohl an der ‚Mittelmäßigkeit‘ der Weimarer Republik als auch an den Werten der bürgerlichen gesellschaft, bis zur interpretation der kunst als der „radikalste[n] form der wirklichkeitserfahrung“ (). vor allem im werk des späten nietzsche spielt die kriegsmetaphorik keine geringe rolle. dass der erste kontakt vieler autoren mit nietzsches philosophie in den Jahren des sich tatsächlich abspielenden weltkriegs zustande kommt, bleibt für ihre interpretation des philosophen nicht ohne folgen. in Bestrittener Wille zur Macht. Nietzsche­ Rezeption bei Ernst und Friedrich Georg Jünger konzentriert sich helmuth kiesel auf die Bedeutung, die Nietzsches Werk (besonders seine ‚Machtphilosophie‘) sowohl für ernst Jünger besitzt, den autor der kriegsbücher In Stahlgewittern (0), Sturm (), Feuer und Blut (), als auch für dessen bruder friedrich georg, der in seiner abhandlung Die Perfektion der Technik () das verhältnis zwischen technisierung und

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willen zur macht thematisiert und darauf hinweist, dass „die darstellung eines überall wirksamen willens zur macht einseitig [bleibt], solange nicht die ermächtigung geprüft ist, die diesen willen zur macht erst glaubwürdig, wirksam und erfolgreich macht“ (zit. nach kiesel, ). „wozu brauchten die philosophie bzw. die politik in den zwanziger und dreißiger Jahren das denken nietzsches?“ (). diese grundlegende frage stellt martha zapata galindo in ihrem beitrag Friedrich Nietzsche und die Politik. Zur Nietzsche­Rezeption in Deutschland in den zwanziger und dreißiger Jahren, in dem die these aufgestellt wird, dass die übernahme von nietzsches denken im erwähnten historischen kontext nicht zuletzt dazu diente, „im philosophischen feld politische kontroversen und differenzen auszutragen, koalitionen und bündnisse zu zementieren und strittige herrschaftstechnische fragen zu klären“ (). mit pragmatischem blick untersucht zapata galindo die kulturellen und politischen zusammenhänge in der weimarer republik und im dritten reich (bis ), und betont dabei den instrumentalen charakter der intensiven auseinandersetzung vieler autoren mit dem zarathustra-philosophen, die in diesen Jahren nicht selten im interesse an „konkreten politisch-philosophischen programmen“ () ihre motivation fand. grundlegende themen der nietzsche-rezeption nach dem ersten Weltkrieg, mit denen sich auch andere Beiträge des Sammelbandes befassen, findet der leser in zapata galindos aufsatz aus einem politischen blickwinkel betrachtet und dargestellt wieder – etwa den kampf gegen demokratie, positivismus, materialismus und Technik vieler Vertreter der Nietzsche-Rezeption, den ‚Lebensbegriff‘ als „Alternative zum bewusstseinsbegriff“ (), die „hoffnung auf eine erneuerung deutschlands durch wiedergeburt im hellenentum“ (). der mitherausgeber des sammelbandes, sandro barbera, liefert einen beitrag, der den titel „Er wollte zu Europa, wir wollten zum ‚Reich‘“. Anmerkungen zu den Nietz­ sche­Interpretationen von Alfred Baeumler trägt. im zentrum von barberas interesse stehen auf der einen seite baeumlers  erschienene abhandlung Nietzsche der Philo­ soph und Politiker sowie die nach  verfassten (zum teil nicht veröffentlichten) aufzeichnungen, die zu einem zweiten buch über nietzsche führen sollten; auf der anderen seite frühere notizen und schriften, welche die „vorgeschichte des nietzsche-buches“ () dokumentieren, wie die vorlesungen über Theorie und Metaphysik des Erkennens, der artikel Bachofen und Nietzsche () oder die rede Der Sinn des großen Krieges (). anfänglich konzentriert sich barbera auf baeumlers „radikale[s] überdenken des zweiten teils seines buches von “ (0) in den Jahren nach . diese radikale revision stellt für barbera „nicht nur das ergebnis veränderter historisch-politischer beurteilungen“ dar, sondern geht „aus einer kritik philosophischer prägung“ hervor, die den kern des ersten nietzsche-buches, die interpretation des willens zur macht, betrifft. barbera beleuchtet den philosophischen hintergrund, vor dem baeumlers „revision der beziehung zwischen politik und philosophie im germanischen und heroischen nietzsche von “ durchgeführt wird, er macht deutlich, auf welchen prämissen baeumlers „entdeckung eines religiösen charakters in nietzsches denken“ (0f.) basiert, und klärt das verhältnis zwischen baeumlers neuer interpretation des willens zur macht und der bedeutung auf, die der einstige nationalsozialistische pädagoge nach  bezeichnenderweise dem „unpolitischen“ nietzsche beimisst. baeumlers nietzsche-rezeption vor der publikation der abhandlung von  widmen sich barberas Anmerkungen im zweiten



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teil des aufsatzes, in dem u. a. baeumlers kritik an der von nietzsche in der Geburt der Tragödie vertretenen these thematisiert wird, die tragödie sei aus einem mythos (und nicht aus dem totenkult des helden) entstanden. hinter dieser these entdeckt baeumler, wie Barbera deutlich macht, das Programm einer ‚Wiedergeburt der Tragödie‘ des frühen nietzsche im zeichen richard wagners: die tragödie sei für nietzsche aus dem mythos entstanden, und der mythos stelle wiederum die künstlerische schöpfung eines einzelnen dar; daher könne er glauben, das künstlerische genie wagner sei allein in der lage, in der moderne die ersehnte wiedergeburt des tragischen mythos zu bewirken. im aufsatz Unzeitgemäße Transzendenz. Karl Jaspers liest Nietzsche nach 1933 befasst sich matthias bormuth mit Jaspers existenzialphilosophischer lesart nietzsches und betont dabei sowohl die geschichtlich-kontingente bedeutung dieser interpretation als auch die theologischen prämissen, auf welchen sie basiert. darüber hinaus werden kritische stellungnahmen zu Jaspers nietzsche-lesart von autoren wie löwith, max horkheimer, otto friedrich bollnow, kurt hildebrandt und heidegger miteinbezogen. „ein abgrund trennt ihn [nietzsche] von seinen gewissenlosen verkündern, und doch hat er ihnen den weg bereitet, den er selber nicht ging“ (): diese worte löwiths fassen die problematik zusammen, die nietzsches faszinierende wie auch unheilvolle rezeptionsgeschichte im zwanzigsten Jahrhundert in sich trägt. einem interessanten kapitel dieser rezeptionsgeschichte widmet sich stephan steiner in seinem aufsatz Skepsis und Destruk­ tion. Friedrich Nietzsche im Bilde Karl Löwiths, in dem löwiths nietzsche-interpretation vor dem hintergrund der problematischen beziehung zwischen philosophischem denken und politischem handeln dargestellt wird. in anbetracht der tatsache, dass „die besondere kraft und geschmeidigkeit von nietzsches aphorismen“ ihre wirkung „insbesondere als leicht handhabbares instrument im dienste populistischer epigonen und anderer propheten neuer arten des lebens entfaltet“ hatten, forderte löwith nicht ohne grund, „eine philosophisch ernstzunehmende und politisch wache auseinandersetzung mit nietzsche“ (). eine solche auseinandersetzung richtete sich letztlich (wie steiner deutlich macht) sowohl gegen heidegger, löwiths lehrer und mentor, „in dessen gestalt […] der problematische zusammenhang von geist und politik am deutlichsten sichtbar [wurde]“ (), als auch gegen Jaspers nietzsche-interpretation, in der löwith einen „rückzug des denkens unter dem ideal eines bios theoretikos“ () erkannte. steiner verfolgt seinen versuch, „nietzsches aphorismen im verborgenen ganzen ihrer eigentümlichen problematik nach ihrem philosophischen grundriß zu begreifen“ (), und liefert eine lesenswerte analyse von löwiths interpretation der philosophie nietzsches als direkte antwort auf die problematik des nihilismus, jener giftigen frucht am baum der modernen, auf technik und wissenschaft gegründeten gesellschaft, die ihre kulturelle einheit einmal verloren hat. zwei beiträge über heideggers nietzsche-rezeption: Heideggers Weg mit Nietzsche von beatrix himmelmann und Interpretación y textualidad en la aproximación de Hei­ degger a Nietzsche von marco parmeggiani, schließen den ersten band Nietzsche nach dem Ersten Weltkrieg. himmelmann unterstreicht, dass nietzsche wie kein zweiter das problem des nihilismus gesehen und formuliert hat und dass dieses problem auch bei heidegger eine zentrale rolle spielte. doch betont sie, dass „heidegger […] mit den konzepten nietzsches durchaus eigenwillig und stets im dienste der eigenen theorieentwürfe [verfährt]“ (0), eine feststellung, zu der auch die analyse von nietzsches rezeptionsgeschichte bei anderen autoren durchaus führt und weiter führen könnte.

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somit tritt die hauptproblematik von nietzsches rezeptionsgeschichte wieder in den mittelpunkt: was hat nietzsche vor dem bestimmten philosophischen und kulturhistorischen Hintergrund seiner Epoche gesagt? Welches ‚Bedürfnis‘ führte viele Autoren im zwanzigsten Jahrhundert zur beschäftigung mit seinem leben und denken? auf welche fragen versprach nietzsches philosophie eine antwort zu geben? und wenn nietzsche tatsächlich „posthum geboren“ wurde, wie er in Ecce homo voraussagte, wer wurde dieser ‚postumen Geburt‘ (sofern sie schon eingetreten ist) am meisten (oder überhaupt) gerecht? mit diesen und ähnlichen fragen sind die interpreten konfrontiert, die sich mit nietzsches rezeptionsgeschichte sowohl in den deutschsprachigen ländern als auch außerhalb ihrer grenzen beschäftigen. in diesem sinne darf man auf die weiteren publikationen in der reihe Nietzscheana gespannt sein. Paolo Panizzo

personenverzeichnis kursiv gesetzte seitenzahlen beziehen sich auf den fußnotentext

abel, günter , 91, 203 adorno, theodor w. 5, 14,  adrian, edgar douglas , 130 aischylos , – albertini, tamara 16 alexander der große  ampère, andré marie 0 anaxagoras 0 anaximander 0 andreas-salomé, lou , , ,  angelus silesius  angenendt, arnold 16 arenhoevel, diego 24 aristoteles 136, 154, , , 0–0 arnold, alfred 173 arrighetti, anna maria  artemidor von daldis  aschheim, steven e. , 33 athenaios 30 auden, wystan hugh  augustinus  babich, babette e. 109 bachofen, Johann Jacob  baeumler, alfred 5, , – baillarger, Jules  balint, michael 121 barbera, sandro – barck, karlheinz 163 barker, sebastian 159

barth, roderich 236 barthel, gustav 144 barthes, roland 145, 14, , 155 bartsch, peter 120 bartz, hans-werner 152 bassenge, friedrich 35 bataille, georges  baudelaire, charles 0 baudrillard, Jean , 23, , , –, 0, 52, , 101 bauer, martin 179 baumann, Johann Julius 12 bechterev, wladimir m. 0,  beckett, samuel  beckmann, Johann 96 beethoven, ludwig van ,  belting, hans – benjamin, walter , –, , –, , , 143,  benn, gottfried ,  berger, klaus 2 berheimer, l. 0 berlin, isaiah 00–0 bertram, ernst –, , , , – berz, peter 114 best, david 109 beuys, Joseph  bevis, phil 114 bianquis, genevieve  bingen, pierre 0

Personenverzeichnis birx, h. James 46 bitsch, annette 114, 172, 173, 177, 17, 16 bleuler, eugen  blumenberg, hans 11, 137 boethius  böhme, Jakob  bohn, volker 154 bois-reymond, emil du 126, 0, ,  bollnow, otto friedrich  bolter, Jay david 154 boltzmann, ludwig ,  bolz, norbert  borchmeyer, dieter 22, 2, 43 borges, Jorge luis 161 bormuth, matthias  borsche, tilmann 109 brackertz, karl 161 brahms, Johannes  brandstetter, thomas 119 braun, lily  braun, stephan 144, 146, 151 braungart, wolfgang 6 brecht, bertolt – bretom, andré 0 bricken, william 0 brie, mme. 16 brockmann, John 102 brömsel, sven  brücke, ernst  brusotti, marco 42, 46, 47, 4, 169 buchheim, thomas 171 buonarotti, michelangelo  burckhardt, Jacob 43, , 3, ,  byron, george gordon  cahill, thaddeus  campe, rüdiger 139 cancik, hubert 4 cancik-lindemaier, hildegard 4 carlé, martin  caysa, volker 197, 202, 214, 239, 241, 242, 244,  chadarevian, soraya de 0 charcot, Jean-martin 0, , , 

 christians, ingo 43,  cicero  cohen, michèle 114 cohen, robert s. 109 colli, giorgio 29 condorcet, marie Jean antoine nicolas caritat, marquis de 00 conway, daniel w. 313 cooper, anthony ashley  cortot, alfred  coudenhove-kalerghi, graf 0 crary, Jonathan 126 crawford, claudia 11 csejtei, dezsö 56 damasio, antonio 0 dante  de angelis, enrico  decker, gunnar  degen, heinz 171 deissler, alfons 24 deleuze, gilles , 0 demandt, alexander  demokrit 0,  derrida, Jacques 115, –, 137, 13, 143, 145, 14, , 152, 154, 170, –,  descartes, rené , –0, 0–0, 0,  dessauer, friedrich 97,  deuber-mankowsky, astrid 169 deussen, paul ,  dierig, sven 114, 126 dietzsch, steffen 1, –0, 320 dilthey, wilhelm 0 dionysius areopagita  divisz, procopius  donner, martin 12 dostojewskij, fjodor m. , ,  douglas, norman  droysen, Johann gustav 0 dühring, karl eugen – dürer, albrecht  dux, günter 91

 ebbinghaus, hermann  eberwein, dieter 137, 13, 144, 147, 153 edison, thomas a.  ehrenfels, christian v. 0 eichler, klaus-dieter 16 einstein, albert 0 empedokles 0 engelen, eva-maria 207, 210 epping-Jäger, cornelia 163 ernst pöppel 113 ernst, wolfgang 114, 123,  esposito, elena 100 ette, ottmar 153 euler, leonhard –,  euripides  exner, sigmund  fanizza, federica 31 faraday, michael , 0, ,  fechner, gustav theodor ,  fehrmann, gisela 163 féré, charles , 119, 0,  ferenczi, sándor  ferrari zumbini, massimo 7 feuchtwanger, lion  feuerbach, ludwig  fichte, immanuel hermann 164 fichte, Johann gottlieb ,  ficino, marsilio  fietz, rudolf 124 figal, günther 0 figl, Johann 15 flechsig, paul emil  flusser, vilém , , , 14 fontius, martin 163 forest, lee de 0 förster, bernhard 7 förster-nietzsche, elisabeth , , , –  foucault, michel 5, –, , 115, –, , , 161,  fourier, Joseph  frank, bruno  frank, manfred , 3, 4, 6

Personenverzeichnis franke, herbert w. 0 frankfurt, harry 0 franz, michael 177 fraser, giles 21 frenzel, ivo 171 freud, sigmund 143, 151, 154, , , 175, , 223, 0,  früchtl, Josef 164 gadamer, hans-georg 2, 217 galvani, luigi  gangulee, nagendra n. 16 gasser, reinhard 15 gazzaniga, michael  gehlen, arnold –,  gellert, christian fürchtegott  gentili, carlo 42 george, stefan 6, , – gerhardt, volker 206, 207, , 241, 277 germer, andrea 1 gersdorff, carl v. ,  geuss, raymond 302 geyger, ernst moritz  gibbs, Josiah  gibson, william 0,  gide, andré  gillespie, michael allen 302 giuriato, davide 136, 145, 149 givone, sergio 26 gläser, Jörg h. 159 glöckner, ernst 6 goebbels, Joseph  goethe, Johann wolfgang v. , , ,  goldmann, stefan 157 gooding-williams, robert 302, 313 goodwin, brian 0 gorgias ,  goumegou, susanne 157 gozzi, carlo  greenblatt, stephen  gregor d. große  grimm, Jacob , 152 grimm, wilhelm , 152 grusin, richard 154



Personenverzeichnis guattari, félix  gumbrecht, hans ulrich 117, 153 günzel, stephan 117, 137, 13, 146 gutenberg, Johannes 144 haas, otto  haase, annegret 194 habermas, Jürgen 214 hagen, wolfgang 12 hagner, michael 130 hamacher, werner 136 hanslick, eduard  hardekopf, ferdinand  hartmann, eduard v. 29, – hatab, lawrence J. 307, 313 haubl, rolf 197, 202 haverkamp, anselm 143 hegel, georg wilhelm friedrich 35, , , , 139, , 227, , , 00, – heidegger, martin 0, , , , , 149, 0, –, 239, 241, –, , ,  heise, wolfgang  helmholtz, hermann v. , 12, 0, 0, , 0, , –,  henningsen, bernd  heraklit 0,  herder, Johann gottfried 147 hermanni, friedrich 171 herstatt, claudia 17 hertl, michael – hertz, heinrich 0 herzl, hans  herzl, theodor  hesiod  hiebsch, hans 173 higgins, kathleen m. 0 hildebrandt, kurt ,  himmelmann, beatrix –,  hipp, matthäus  hirdina, karin 123 hödl, hans gerald 63, 64 höffe, Jochen 145 hoffmann, david marc 31 hofmannsthal, hugo v. 

hölderlin, friedrich 30,  holl, ute 170, 172, 173, 175, 14 homer  hörisch, Jochen 121, 142 horkheimer, max  horwitz, hugo theodor 11 hotho, heinrich gustav 35 hübsch, stefan 232 humboldt, alexander v.  humboldt, wilhelm v.  hyppolite, Jean  innis, harold  Jacobi, friedrich heinrich  Jacobsen, roman 139 James, william 0 Jamme, christoph 2 Janota-bzowski, elisabeth v.  Janz, curt paul 247 Jaspers, karl 0, , ,  Jastrow, Joseph  Jean paul 147,  Jean-luc, nancy 11 Johst, hanns 0 Joule, James prescott 0 Jung, thomas 52,  Jünger, ernst , ,  Jünger, friedrich georg ,  kaegi, dominic 232 kafka, franz 144, 216 kais, leila 1, 320 kammer, stephan 149 kandinsky, wassily  kane, robert h. 265 kant, immanuel , , , , , 0– 0, 0, , –0, –, , 0, , 0– kapp, ernst 96, ,  kassner, rudolf 340 kassung, christian 10 kaufmann, walter 219, 0, , 302, 0 kendall, gavin 114

0 kertz-welzel, alexandra  kessler, harry graf 0 kesten, hermann  kierkegaard, søren , ,  kiesel, helmuth  kiesow, reiner maria 92 kirchhoff, Jochen 101 kittler, friedrich , 115, 121, 129, 137, 145, 149, 150, 152,  kittsteiner, heinz d. 42, 1, 3, 92 kitzler, bernhard 30 klages, ludwig  kleist, heinrich v. 0 klinger, max – kluge, friedrich 147, 151 Knoepffler, Nikolaus 46 koelles, august 96 kofman, sarah 11 köhler, Joachim 159 kolb, annette  kolk, rainer 6 kolnai, aurel 202 kommer, rudolf , , 17 kopperschmidt, Josef 11 kosack, emil 172 köselitz, heinrich , 13, , , ,  koselleck, reinhart , , 0 kracauer, siegfried 145 krämer, sybille 100,  krause, Jürgen 33 kristeller, paul oskar 16 kristensen, Jens erik 215 kroeber, rudi 24 krökel, fritz  kuhmann, walter 2 kutusow, michail illarionowitsch  la cruz, Juan de  la rochefoucault, françois de  lacan, Jacques – lacoue-labarthe, philippe 11 lampert, laurence 302, 313 landerer, christoph 231 lange, carl gustav 0

Personenverzeichnis lange, friedrich albert  lanier, Jaron 0–0, 0, 0,  latacz, Joachim 32 lautréamont (isidore lucien ducasse) –0 le carré, John ,  le rider, Jacques  leibniz, gottfried wilhelm , , , – lenk, hans 0 lenoir, timothy 173 lessing, gotthold ephraim  levy, oscar , , , 0 levy-rosenthal, maud – ley, peter 0 lichtenberg, georg christoph  licklider, Joseph carl robnett  lieben, robert v. 0 liepmannssohn, leo  linz, erika 163 lipperheide, christian 22, 2, 29, 34, 37 lipps, gottlob friedrich  lissmann, christina 15 lorenz, thorsten 121 löwith, karl 90, ,  lübbe, hermann 32,  ludwig, carl friedrich wilhelm 0, ,  ludwig, günther 124 luhmann, niklas ,  lukács, georg  lukas, Josef 116 lukrez – luther, martin 14, , 0 lüthy, michael 164 lütkehaus, ludger 342 lutz-bachmann, matthias 11 mácha, karel  macrobius  magnus, bernd 20 mallarmé, stéphane  man, paul de 11, 143 mann, heinrich ,  mann, thomas , –0, , – maresch, rudolf  marey, Ètienne Jules 120, 0–, 



Personenverzeichnis marx, karl , 00 mateucci, carlo  matschoss, conrad 12 maury, alfred 160 mauss, marcel 161 maxwell, James clerk 0,  mayer, helmut 342 mayer, mathias 4 mayer, robert Julius , – mcluhan, herbert marshall , , , , , , –0, ,  mehner, klaus  meister eckhart 194,  mencken, henry l.  mendel, hermann 129 menke, christoph 164 mersenne, marin –,  meyer, katrin 22 meyer, martin ,  meyer, petra 145 meyerbeer, giacomo  meyer-kalkus, reinhart 132 meysenbug, malwida v.  mieth, günter 30 miller, charles anthony 253 miller, James 132 möller, h. g. 0 møller, poul martin – montinari, mazzino 5,  moore, adrian 301 moos, ludwig 107 mosso, angelo 0 mulhall, stephen 21 müller, friedrich 143 müller, hieronymus 143 müller, Johannes  müller, klaus e. 90 müller-buck, renate 253 müller-lauter, wolfgang , 34 munch, edvard  münker, stefan 100, 12 münsterberg, hugo 0,  münzenberg, willi  münzenmayer, hans peter 10

musil, robert ,  nagel, thomas 0 napoleon bonaparte 0, –00 naumann, constantin georg  naumann, friedrich 133 nerval, gérard de 0 neumann, gerhard  neumeister, sebastian 42 nicolas, paul  niemeyer, christian 31 niethammer, lutz 0, 51,  nietzsche, carl ludwig 0,  nietzsche, franziska ,  novalis , ,  nussbaum, martha 0 oehler, adalbert 0 oehler, richard  oerstedt, hans christian 0 oexle, otto gerhard 79, 5 olde, hans  olschki, leo  olschki, margherita  ommeln, miriam 10 orsucci, andrea 4, 253, – ortega y gasset, José – ottmann, henning 219, 252 overbeck, franz 96, , , , ,  overbeck, wilhelmine friedericke charlotte  parkes, graham 329 parmeggiani, marco  parmenides 0 parsons, talcott  penzo, giorgio 31 pfeiffer, k. ludwig 117, 153 pfeiffer, thomas 276 pfohlmann, oliver 342 pias, claus 126, 173 pippin, robert b. 302, 312 pirro, maurizio 0– planck, max  platon 0–, , 143, , 0, , , 0, , , 

 pontius pilatus  poser, hans 2 protagoras  pseudo-longinos 143 purcell, henry  putnam, hilary 20 pythagoras ,  radestock, paul 160 rainer, arnulf  ranke, leopold v.  raschel, heinz 6 rathenau, walter  recki, birgit 0, 3 rée, paul – reibnitz, barbara v. 161 reschke, renate 22, 27, 31, 32, 63, 100, 123, 206, 207, 277, 339, 34 reuleaux, franz – rheinberger, hans-Jörg 130 riccadonna, graziano 31 riché, pierre 16 ricœur, paul 217,  riechelmann, cord 36 riedel, manfred  rilke, rainer maria 3 ritschl, friedrich wilhelm 0,  robling, franz-hubert 43 roddenberry, gene 0 roesler, alexander 95, 12 rohde, erwin 0,  rosedale, philip 0 rosenthal, albi (albrecht gabriel) ,  rosenthal, erwin  rosenthal, Jacques  rosenthal, Julia 16, 17, 1 rothschuh, karl eduard 173 rousseau, Jean-Jacques ,  salaquarda, Jörg 41, 2 salehi, djavid 139 sanchez, francisco  sandbothe, mike 95 sandelin, kalle 

Personenverzeichnis sartre, Jean-paul – saudeck, rudolph 0 saussure, ferdinand de –, –,  sauveur, Joseph  saxl, fritz  schadewalt, wolfgang 0, 10 schäffner, wolfgang 177 schalenberg, marc 116 schank, roger 0 schanze, helmut 11 schatz, oskar 54 schelling, friedrich wilhelm Joseph 3,  schickele, rené  schiller, friedrich , ,  schlaffer, heinz , 77, – schlegel, friedrich ,  schleiermacher, friedrich 143 schlenstedt, dieter 163 schlick, moritz 16 schloemann, Johan 342 schmidgen, henning 114 schmidt, lars-henrik 215 schmidt, rüdiger 139 schmidt-grépaly, rüdiger 117, 137, 13 schnädelbach, herbert 210 scholem, gershom , 5 schopenhauer, arthur , , –, , , , , , –, , , –, –, , , , , , , –  schrödinger, erwin  schröter, Jens 130 schubert, dietrich  schubert, martin 194 schulte-sasse, Jochen 163 schulz, wolfgang 177 schulze, ingo  schütte, Jens-peter 236 schwarzwald, konstanze 240 schweppenhäuser, hermann 5, 143, 159 scotus eriugina  seidensticker, bernd 254 sellars, wilfried 0 seneca 



Personenverzeichnis serres, michel , 10 seubert, harald 32 shakespeare, william  shannon, claude  shaw, george bernard  siegert, bernhard 114, 119, 0, 172, 173, 177, 179, 11, 12 simon, gerd 31, 320 simon, Josef 11 simonyi, károly 10 sirri, raffaele 42 sitter, peer 12 skirl, miguel – sloterdijk, peter 0–, , – smith, oberlin  smolin, lee 0 sokrates , , 0, , , –, , ,  soll, ivan 302, 307 solomon, robert c. 211, 302 sorgner, stefan lorenz 46 spahr, angela 3 spinoza 0–0 stegmaier, werner 42 steiner, stephan  stewart, doug 0 stingelin, martin , 114, 116, 117, 124, 125, 136, 139, 145, 153 stockhammer, robert 177 stockmar, rené 13 störmer-caysa, uta 194 stöving , curt 0 strawson, galen 265 strong, tracy b. 302, 0 sulzer, Johann georg  talleyrand-périgord, charles-maurice de  taureck, bernhard h. f. 4, 7 taylor, charles 143 thales von milet 0, – thielmann, tristan 130, 143 tholen, georg christoph 135, 143, 151 thüring, hubert 116, 117 thurnher, rainer 

tiedemann, rolf 5 tietz, udo 206, 207, 210 toller, ernst  tolstoi, leo , –0 treiber, herbert 159 treitschke, heinrich v.  tschechov, anton  tucholsky, kurt  turgenjev, ivan s.  turing, alan  tylor, edward ,  tyndall, John 10 tyradellis, daniel 16 van ce velde, henry  venturelli, aldo 42, – vico, giambattista  vinci, leonardo da ,  viollet, catherine  virilio, paul  vivarelli, vivetta – vogel, beatrix 32, 10, 317 vogel, max werner  vogl, Joseph 116, 11 vogt, carl 171 vögtle, anton 24 volmar, axel 130 volpi, franco  volta, alessandro  voltaire , ,  volz, pia daniela 171 wachendorff, elke angelika – waffender, manfred 107 wagner, cosima  wagner, richard –, , –, 115, , , 0–, , ,  walde, christine 161 warning, rainer 162 watt, James  weber, wilhelm  wehler, hans-ulrich 5 weibel, peter 0 weischedel, wilhelm 201, 202

 welsch, wolfgang 50 werber, niels 172 wertheimer, Jürgen 342 wetzel, michael 121, 142, 143, 147 white, hayden 34, 91 wiener, norbert 0, , ,  wieser, wolfgang 0 wihlidahl, hil  wilamowitz-moellendorff, ulrich v. 0 windelband, wilhelm  windelband, wolfgang  windgätter, christof 100, 113, 117, , 119, 121, 122, 124, 129, 130, 135, 136, 137, 13, 139, 145, 149, – wirth, uwe 155 wittkower, rudolf 

Personenverzeichnis wolf, friedrich august  wolf, Jürgen 194 wolfe, robert hewett 0 Wölfflin, Heinrich 318 wontorra, maximilian 116 woolley, benjamin 104 wundt, wilhelm , , 0, 171, –, – würzbach, friedrich – zanetti, sandro 136, 139, 145 zapata galindo, martha  zeilinger, anton  zima, peter vaclav 342 zimmermann, harro 132 zöfel, gerhard 6

autorenverzeichnis

annette bitsch reuterstr.  d – 0 berlin stephan braun liethenstr. a d – 0 pulheim holger brohm langhansstr. c d – 0 berlin lars k. bruun fakulty of theology university of copenhagen købmagergade - dk – 0 kbh. k marco brusotti hohenfriedbergstr.  d – 0 berlin volker caysa an der selz 0 d –  köngernheim

deszö czejtei universität für wissenschaften szeged philosophisches institut Petöfi S. sgt. 30-34 h –  szeged Josef ehrenmüller d’orsay-gasse / a – 00 wien ralf eichberg an der kirche  d – 0 dehlitz wolfgang ernst humboldt-universität zu berlin seminar f ür medienwissenschaft sophienstr. a d – 0 berlin

niklas corall westbahnhofstr.  d – 00 tübingen

volker gerhardt humboldt-universität zu berlin institut für philosophie unter den linden  d – 00 berlin

remedios Ávila crespo pintor manuel maldonado   ° c e – 00 granada

andreas greiert ruhrstr.  d –  hamburg

stephan günzel schröderstr.  d – 0 berlin gerald hödl hoffeldstr.  a – 0 gloggnitz anikó Juhász universität für wissenschaften szeged institut für verhaltenswissenschaften und psychologie szentháromság u.  h –  szeged leila kais mollenberg  d –  hergensweiler heinz kimmerle nieuwewater  nl –   bp zoetermeer miriam ommeln striederstr.  d –  karlsruhe paolo panizzo kamminerstr.  d – 0 berlin

 manos perrakis potsdamer str.  d – 0 berlin renate reschke schmollerstr.  d –  berlin richard schacht university of illinois philosophy 0 gregrory hall 0 s. wright str. il 0 urbana usa

Autorenverzeichnis christian schärf Johannes-gutenberg universität fachbereich  (deutsche philologie) neuere literaturgeschichte Jakob welder-weg  d –  mainz konstanze schwarzwald salomonstr.  d – 00 leipzig paolo stellino Departamento de Filosofia del derecho, moral y politica universidad de valencia av. blasco ibañez, 0 e – 00 valencia

tom stern Queen’s college cambridge cb   et united kingdom udo tietz voßstr.  d – 0 berlin nikolas zok gräfestr.  d – 0 berlin

nietzscheforschung Jahrbuch der nietzsche-gesellschaft herausgegeben von volker gerhardt und renate reschke

gesamtregister der bände –

ii

Nietzscheforschung

vorwort seit ihrer gründung 0 hat es sich die nietzsche-gesellschaft zur aufgabe gemacht, der erforschung des lebens und werkes friedrich nietzsches und der wissenschaftlichen, ideologischen und künstlerischen rezeption seines denkens durch internationale tagungen und durch workshops öffentliche aufmerksamkeit zu verleihen und eine stimme zu sein in den diskursen von aneignung, auseinandersetzung und weiterdenken, spurensuche, kritik und facettenreicher Quellenforschung. in ihrem Jahrbuch Nietzsche­ forschung, das seit  im akademie verlag (berlin) mit großzügiger unterstützung des landes sachsen-anhalt erscheint, sind diese tagungen (–00) und workshops (werkstattgespräche in schulpforta, –00) ebenso lückenlos dokumentiert wie die von hermann Josef schmidt ins leben gerufenen dortmunder nietzsche kolloquien (–00). Im Verlauf der anderthalb Jahrzehnte hat das Jahrbuch sowohl sein Outfit als auch inhaltliche schwerpunktsetzungen verändert, ohne allerdings von seinem grundlegenden anliegen abzulassen. im gegenteil: nur wer sich ändert, bleibt sich treu. die herausgeber, die im auftrage der nietzsche-gesellschaft agieren, und der akademie verlag sind davon überzeugt, dass mit dem seit band 0 auf dem cover zu lesenden schwerpunktthema als titel allen an nietzsche interessierten der zugang zu den inhalten des Jahrbuches erleichtert wird, weil eine größere transparenz sichtbar macht, worum es geht. zudem ist seitdem der autorenkreis erweitert, da neben den tagungsreferenten weitere internationale spezialisten zu den jeweiligen themen zu wort kommen. – die bde. –0 trugen jeweils ein unterschiedliches Nietzsche-Porträt (fotografisch oder künstlerisch) auf dem cover. seit band  ist es ein ausschnitt aus einem exlibris für dr. torsten unger vom erfurter künstler olaf gropp, der dem Jahrbuch sein graphisches ‚gesicht‘ gibt: ein nietzsche-kopf, der aus aufgeschlagenen seiten blickt. das erscheinen von bd.  ist anlass, allen bisherigen lesern der Nietzscheforschung mit einem gesamtregister zu danken und ihnen eine unverzichtbare arbeitshilfe zur verfügung zu stellen und allen an der gegenwärtigen internationalen nietzscheforschung interessierten eine inhaltliche übersicht zur information über die bisherigen bände anzubieten. in einem anhang sind der inhalt der ersten drei publikationen der nietzschegesellschaft, die unter dem titel Jahresschrift der Förder­ und Forschungsgemeinschaft Friedrich Nietzsche e.V. in halle/saale erschienen sind, und der inhalt der sonderbände  und  der Nietzscheforschung angefügt. des gesamtregisters ist von peggy kuwan und renate reschke zusammengestellt worden. berlin, Juli 00

Renate Reschke

nietzscheforschung Jahrbuch der nietzsche-gesellschaft bde. –

Band 1 (1994) hg. von hans-martin gerlach, ralf eichberg, hermann Josef schmidt

i. das thema: nietzsche – wozu heute? volker gerhardt Selbsterkenntnis und Selbstbesinnung. Zur anthropologischen Nähe Nietzsches zu Dilthey

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Jörg salaquarda „Leib bin ich ganz und gar …“ Zum „dritten Weg“ bei Schopenhauer und Nietzsche .

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giorgio penzo Die Fragwürdigkeit der Wissenschaft als metaphysischer Kernpunkt von Nietzsches Atheismus .

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steffen dietzsch Montaigne und Nietzsche – die Kunst des Lachens

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reinhart maurer Thesen zum Thema: Ideologie und Wille zur Macht

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Renate Reschke Der Lärm der großen Stadt, der Tod Gottes und die Misere vom Ende des Menschen. Zu Nietzsches Kulturkritik der Moderne .

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Josef Rattner Nietzsche als Erzieher .

ii. vorträge

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Hermann Josef Schmidt „Du gehst zu Frauen?“ Zarathustras Peitsche – ein Schlüssel zu Nietzsche oder einhundert Jahre lang Lärm um nichts? . .

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iv

Nietzscheforschung

iii. forum a) . dortmunder nietzsche-kolloquium – nietzsches kindheit hermann Josef schmidt „Jeder tiefe Geist braucht die Maske …“ Nietzsches Kindheit als Schlüssel zum Rätsel Nietzsche? .

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Johann figl Edition des frühen Nachlasses Friedrich Nietzsches – grundsätzliche Perspektiven . . . . . . .

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renate g. müller „Wanderer, wenn du im Griechenland wanderst …“ Reflexionen zur Bedeutsamkeit von „Antike“ für den jungen Friedrich Nietzsche

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rüdiger ziemann Abschiede – Zu zwei Jugendgedichten Nietzsches

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Jørgen kjaer Die Relevanz der Berücksichtigung von Nietzsches Kindheit beim Interpretieren und Gebrauch seiner Philosophie. Zwei Beispiele der Tradierung unbewältigter Probleme der Nietzscheschen Philosophie (Gilles Deleuze und Richard Rorty)

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klaus goch Franziska Nietzsche – Vorläufige Anmerkungen zu einer Biographie

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roswitha wollkopf Elisabeth Nietzsche – Nora wider Willen? Ein bisher unentdecktes Manuskript . .

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ursula losch, hermann Josef schmidt „Werde suchen mir ein Schwans Wo das Zipfelch(en) noch ganz“ – Spurenlesen im Spannungsfeld von Text, Zeichnung, Phantasie und Realität beim zehnjährigen Nietzsche . . . . . . . .

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rainer otte Der Vater, die Söhne, das Gesetz. Was Nietzsche und Freud mit Moses verbindet

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b) . nietzsche-werkstatt schulpforta – „nietzsche in pforta –“ hermann Josef schmidt Naumburg oder Pforta? Eine Pförtner Verlust­ und Gewinnbilanz

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thomas ahrend, martin albrecht, Jan hemming, bernd kulawik Nietzsches Jugendkompositionen der Pfortenser Zeit . . . . .

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v

Gesamtregister (Bde. I–XV) rüdiger ziemann „Das liebe ewige Leben“ – Zur Brentano­Lektüre des jungen Nietzsche

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renate g. müller „De rebus gestis Mithridatis regis.“ Ein lateinischer Schulaufsatz Nietzsches im Spannungsfeld zwischen Quellenstudium und Selbstdarstellung .

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hans gerald hödl Nietzsches Gervinuslektüre 1862 im Kontext seiner geschichtsphilosophischen Reflexionen in „Fatum und Geschichte“

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mirko wischke Friedrich Nietzsches Bekanntschaft mit der Romantik in Pforta und ihr widersprüchlicher Einfluß auf sein ethisches Denken .

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ulrich bolz Anmerkungen zu einem Fund – Gedichte von Friedrich Hölderlin .

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ulrich bolz, ralf eichberg Gespräch mit Ursula Drewes .

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iv. berichte und informationen

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Band 2 (1995) hg. von hans-martin gerlach, renate reschke, rüdiger ziemann i. das thema: nietzsche zum 0. geburtstag – gedenkveranstaltung am . oktober  in röcken hans-martin gerlach Worte am Grab eines Philosophen

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reinhard höppner Grußwort des Ministerpräsidenten des Landes Sachsen­Anhalt .

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Johann figl Geburtstagsfeier und Totenkult Zur Religiosität des Kindes Nietzsche

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hermann Josef schmidt Friedrich Nietzsche aus Röcken .

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peter andré bloch „Aus meinem Leben“ Der Selbstporträtcharakter von Nietzsches frühen Lebensbeschreibungen: Selbstdialog als Selbstbefragung . . . . . . . . . . . . .

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vi

Nietzscheforschung

werner ross Nietzsches französischer Traum .

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klaus goch Franziska Nietzsche in Röcken. Ein Blick auf die deutsch­protestantische Pfarrhauskultur

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ii. forum . nietzsche-werkstatt-schulpforta (0.–.0.) – „friedrich nietzsche und richard wagner“ Jörg salaquarda Einleitung . .

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thomas ahrend Das Verhältnis von Musik und Sprache bei Nietzsche .

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volker caysa „Richard Wagner in Bayreuth“ Oder: Der Künstler­Philosoph als Gesamtkunstwerk .

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karen Joisten Nietzsches Verständnis des „Genius“ in der frühen Phase seines transanthropologischen Denkens. Versuch einer Stellungnahme zum wesentlichen Unterschied zwischen Nietzsche und Wagner . . . . . . . . . .

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bernd kulawik „… ich nehme, aus drei Gründen, Wagner’s Siegfried­Idyll aus …“ .

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héctor Julio pérez lópez Die doppelte Wahrheit. Nietzsches Tätigkeit 170–172. Zur Beziehung griechischer Rhythmik und moderner Musikästhetik im Umkreis der „Geburt der Tragödie“ . . . . . . . . .

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renate g. müller Anmerkungen zu Nietzsches Tragödienproblem. Von der Schulzeit bis zu den Vorarbeiten zur Geburt der Tragödie unter Berücksichtigung des Verhältnisses zu Wagner . . . . .

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Jörg salaquarda Zum Seminar über „Nietzsche contra Wagner“.

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nicholas martin Nietzsche contra Wagner. „Wie ich von Wagner loskam“ .

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vii

Gesamtregister (Bde. I–XV)

iii. nietzsche-rezeption endre kiss Kunst „unter Herrschaft der Erkenntnis“ – Künstler als „zurückbleibendes Wesen“. Friedrich Nietzsches Philosophie der Kunst als ein neues Paradigma der Ästhetik

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pia daniela volz Vom „Alchimisten­Kunststück, aus Koth Gold zu machen.“ Vignette zur Schreib­Metaphorik Nietzsches . . . . .

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dieter schellong „Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung“

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Jörg salaquarda Bemerkungen zu Dieter Schellongs Besprechung von „Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung“

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hermann Josef schmidt „dergleichen drechselt man als Gymnasiast auf Bestellung.“ Nietzsches Naumburger Texte, eine Replik auf Jørgen Kjaers „andere Interpretation“ nebst einigen prinzipiellen Annotationen .

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ingrid schulze Ecce Homo. Ein Beitrag zur Ikonologie der Nietzsche­Rezeption .

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iv. kontroverse

dieter schellong Nachbemerkung . . . . . . . . . . . . . . Jørgen kjaer Nietzsches Naumburger Texte: synkretische mythopoetische Theodizee oder antichristliche Theodizeekritik? . . . .

v. berichte und informationen hans-Joachim koch Das Herbst­Kolloquium 1994 der Stiftung Nietzsche­Haus zum 150. Geburtstag des Philosophen in Sils­Maria . . .

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christian vogt Denken – Dichten – Deuten. Philosophie und Philologie in Nietzsches Werk hans gerald hödl Friedrich Nietzsche und die Musik

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elisabeth kuhn Nietzsche – am 150. Geburtstag – in Paris .

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viii

Nietzscheforschung

vi. rezensionen David Marc Hoffmann, Zur Geschichte des Nietzsche­Archivs (Steffen Dietzsch) . . . . . . . . . . . . . .

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Friedrich Nietzsche, Nietzsche digital (Rüdiger Ziemann)

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Gernot U. Gabel und C Carl Helmuth Jagenberg (Hg.), Der entmündigte Philosoph (Rüdiger Ziemann) . . . . . .

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Otto A. Böhmer, Der Hammer des Herrn; Roland Dreßler, Hermann Josef Schmidt, Rainer Wagner, Spurensuche Die Lebensstationen Friedrich Nietzsches; Volker Ebersbach, Nietzsche in Turin; Gernot U. Gabel u. Carl Helmuth Jagenberg (Hg.), Der entmündigte Philosoph, Klaus Goch, Franziska Nietzsche; Isabelle Prêtre, Mein Wahnsinn ist eine Insel; Werner Ross, Der wilde Nietzsche oder die Rückkehr des Dionysos; Werner Ross, Der ängstliche Adler; Irving .D. Yalom, Und Nietzsche weinte. (Pia Daniela Volz) . . . . . . .



Hans Jochen Gamm, Standhalten im Dasein (Ralf Eichberg)

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Margot Fleischer, Der „Sinn der Erde“ und die Entzauberung des Übermenschen (Claus Zittel) . . . . . . . . . . . .

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Band 3 (1995) hg. von volker gerhardt und renate reschke

i. das thema: nietzsche in der ddr – probleme, hintergründe, tendenzen renate reschke Das Gerücht Friedrich N. Zu Innen­ und massenmedialen Ansichten der Nietzsche­Rezeption in der DDR der achtziger Jahre . . . . . . . . . . .

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norbert kapferer Entnazifizierung und Rekonstruktion versus Ausbürgerung. Friedrich Nietzsche in der philosophischen Kultur und politischen Konstellation Deutschlands 1945–1960 . . . . . . . . .

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ii. forum a) . nietzsche-werkstatt schulpforta „friedrich nietzsches gedichte“ renate g. müller, rüdiger ziemann Nietzsches Lyrik. Vierte Nietzsche­Werkstatt Schulpforta (30.0.–01.09.1995) . . . . . . . . . . .

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iX

Gesamtregister (Bde. I–XV) andré schinkel vorläufiges morbidum. an nietzsche .

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klaus goch Lyrischer Familienkosmos. Bemerkungen zu Nietzsches poetischer Kindheitserfahrung .

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Jørgen kjaer Zarathustras Nachtlied und der Dionysosdithyrambus „Von der Armut des Reichsten“ . . . . . . .

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Jörn pestlin Massenmedium als Teil von Rezeptions­ und Wirkungsgeschichte: Nietzsche­Lyrik im Weimarer Rundfunk . . . . . . . . .

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elke günzel Die versäumte Begegnung im Engadin. Paul Celans Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche

renate g. müller „Idyllen aus Messina“. Versuch einer Annäherung Gerd Franz Triebenecker Über die mimetische Funktion der Lyrik . . .

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claus zittel Abschied von der Romantik im Gedicht. Friedrich Nietzsches „Es geht ein Wandrer durch die Nacht“

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frank lisson Der Einfluß Goethes auf die Lyrik Nietzsches .

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christian niemeyer Die Fabel von der Welt als Fabel oder Nietzsches andere Vernunft. Irrtümer um eine Geschichte? . . . . . . . . . . .

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ralf elm Der Wille zur Macht und die Macht der Geschichte bei Nietzsche und Heidegger . . . . . . . . . .

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b) . dortmunder nietzsche-kolloquium – „nietzsche als tiefenpsychologe und tiefenphilosoph“ wiebrecht ries Nietzsches Beiträge zu einer „Phänomenologie der Liebe“ .

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rainer otte „… auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend …“ Körper und Sprache in Nietzsches Netz der Aufklärung . .

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X

Nietzscheforschung

iii. aufsätze peter poellner Der frühe Nietzsche und die Verklärung der Natur

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hans-Joachim koch Herbst­Kolloquium 1995. Schwerpunktthema: „Die fröhliche Wissenschaft“ .

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uschi nussbaumer-benz Bericht über The Friedrich Nietzsche Society’s Fifth Annual Conference „Nietzsche and the future of the human“, 16./17. September 1995 . . .

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Jon stewart Hegel und Nietzsche and the Death of Tragedy kurt anglet Friedrich Nietzsches „Deus absconditus“ .

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iv. berichte und informationen

v. rezensionen Claus Zittel, Selbstaufhebungsfiguren bei Nietzsche. (Angelica Horn) .

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Anne Tebartz­van Elst, Ästhetik der Metapher ( Claus Zittel)

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Joachim Köhler, Friedrich Nietzsche und Cosima Wagner (Pia Daniela Volz

Band 4 (1998) hg. von volker gerhardt und renate reschke

i. der nietzsche-preis reden anlässlich der verleihung des nietzsche-preises des landes sachsen-anhalt am . oktober  Jörg salaquarda Laudatio auf Wolfgang Müller­Lauter

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wolfgang müller-lauter Über „Nietzsches Folgen“ und Nietzsche .

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ii. forum . nietzsche-werkstatt schulpforta „friedrich nietzsche und die politik“ hans-martin gerlach Friedrich Nietzsche und die Politik. Eine einleitende Bemerkung

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Xi

Gesamtregister (Bde. I–XV) ingo christians Die Notwendigkeit der Sklaverei. Eine Provokation in Nietzsches Philosophie .

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dina emundts Aspekte des Freiheitsbegriffs Friedrich Nietzsches

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héctor Julio pérez lópez Gesellschaftspolitische Argumente einer Artistenmetaphysik im Vorfeld der „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ .

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Joachim müller-warden Die aktuelle Entwicklung Europas, erörtert im Lichte der Philosophie Friedrich Nietzsches . . . . . . .

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matthias schloßberger Über Nietzsche und die Philosophische Anthropologie

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andreas urs sommer Zwischen Agitation, Religionsstiftung und „Hoher Politik“: Friedrich Nietzsche und Paul de Lagarde . . . . . .

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claus zittel Friedrich Nietzsches Konzeption einer Tragödie des Staates. Ästhetische und relationstheoretische Betrachtungen zum Verhältnis von Kunst und Politik bei Nietzsche . . . . . . . . . .

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iii. aufsätze ingrid schulze Nietzsche und Claude Lorrain

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dietrich schubert Nietzsches Blick auf Delacroix als Künstlertypus .

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sven brömsel Zur Nietzscherezeption der Jahrhundertwende. Ein Gedicht von Stefan George . . . . .

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Josef nolte Die Rückkehr des Verdrängten. Savonarola im Urteil von Goethe, Jacob Burckhardt und Nietzsche Josef schmid „Die Sprossen zurück“! Die ideologiekritischen Erfahrungen eines Jahrhunderts im Lichte Friedrich Nietzsches . . . . . . . .

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volker caysa Nietzsches Leibphilosophie und der Problem der Körperpolitik .

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25

Xii

Nietzscheforschung

klaus goch Hexe und Königin. Elisabeth Nietzsche – Ein kleines Psychogramm .

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renate müller-buck „Naumburger Tugend“ oder „Tugend der Redlichkeit“. Elisabeth Förster­Nietzsche und das Nietzsche­Archiv .

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uschi nussbaumer-benz Bericht über The Friedrich Nietzsche Society’s 6th Annual Conference „Nietzsche: Questions of Life and Death. Philosophy, Psychology, Psychoanalysis“ (20.–22. September 1996) . . . . . . . .

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Carol Diethe, Nietzsche’s Women: Beyond the Whip (Pia Daniela Volz) Wolfram Groddeck, Friedrich Nietzsche: „Dionysos­Dithyramben“ (Rüdiger Ziemann) . . . . . . . . . . . . . . . .

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Steven E. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen (Jörn Pestlin)

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Martha Zapata Galindo, Triumph des Willens zur Macht (Jörn Pestlin)

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iv. berichte und informationen hans-Joachim koch Herbst­Kolloquium 1996. Schwerpunktthema: „Nietzsche und die Zukunft“ .

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v. rezensionen

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Martin Stingelin, „Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs“ (Gerald Hödl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Jacques Le Rider, Nietzsche in Frankreich (Knut Ebeling)

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Band 5/6 (2000) hg. von volker gerhardt und renate reschke

i. der nietzsche-preis reden anlässlich der verleihung des nietzsche-preises des landes sachsen-anhalt am . oktober  renate reschke Laudatio auf Curt Paul Janz .

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curt paul Janz Friedrich Nietzsches Fragen nach dem Wesen der Musik

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Xiii

Gesamtregister (Bde. I–XV)

ii. forum a) . nietzsche-werkstatt schulpforta „der leib ist eine grosse vernunft“ –die aktualität der philosophie der leiblichkeit friedrich nietzsches (0.–.0.) volker caysa Eröffnung .

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volker caysa Leibkultur und Rausch .

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wolf dietrich Nietzsches Wahnsinn: Somato­psychische Aspekte .

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guido rappe Nietzsche und der Leib. Aktuelle und historische Perspektiven .

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dirk solies Die Kunst – eine Krankheit des Leibes? Zum Phänomen des Rausches bei Nietzsche

christian hick Denken als Symptom – Symptome als Gedanken: Zur Kreisgestalt von Nietzsches „großer Gesundheit“

stephan günzel Vernünftige Körper? – Körper ohne Organe! Nietzsche/Deleuze cathrin nielsen Der Meduse ins Antlitz schauen – ohne zu erstarren. Zu Nietzsches „Physiologie der Kunst“ . . . . .

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knut ebeling Der Sand im Gesicht oder Le Corps n’existe pas. Georges Bataille zum 100. Geburtstag . . . .

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wolf zachriat Nietzsches Entwurf einer geistig­leiblichen Aristokratie .

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b) . nietzsche-werkstatt schulpforta „friedrich nietzsche und die kritische theorie“ (.–.0.) Josef simon Nietzsche und der Gedanke einer Kritischen Theorie .

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christoph menke Genealogie und Kritik. Zwei Formen ethischer Moralbefragung stephan günzel Nietzsches Schreiben als kritische Geographie .

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Xiv

Nietzscheforschung

martin mühl Nietzsche als „Drehscheibe“? Der Leib und die Normativität der Grundlagen Kritischer Theorie .

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stefan schlagowsky Mensch – Natur? Zur Nachwirkung von Nietzsches „Genealogie der Moral“ auf Horkheimers und Adornos Forderung eines ‚Eingedenkens der Natur‘ im Subjekt . . . . . . .

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harald lemke Nietzsche: Kritische Theorie als Ethik .

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karsten fischer „Schritt für Schritt in der décadence …“ Zur Dialektik der Aufklärung bei Nietzsche und Adorno .

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Bernd Kulawik Wagnerkritik als Kulturkritik der Moderne bei Nietzsche und Adorno .

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iii. . dortmunder nietzsche-kolloquium (0.–.0.) „denn ich liebe es schreibend zu denken“. der junge nietzsche (–) hermann Josef schmidt Eröffnung . . . .

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hermann Josef schmidt „stets mein Vorhaben, ein kleines Buch zu schreiben“. Nietzsches Leben und Texte 1844–1864, ein Überblick

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kurt Jauslin Hexensprache der Vernunft. Bilderfluchten und Flucht der Bilder in den Kindertexten Friedrich Nietzsches .

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hans gerald hödl „Vom kleinen Stockphilister zum Kritiker der greisenhaften Jugend“. Reflexionen zum Kontext von Bildungsprogramm und Selbstentwürfen Nietzsches 15–165. Selbst ein Entwurf . . . . . . . . .

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pia daniela volz „Mein Träumen und mein Hoffen?“ Narzißtische Traumstimmung und Traumdichtung beim jungen Nietzsche .

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renate g. müller EIMAPMENH, MOIRA, TYXH/FATUM, SORS, FORTUNA. Zu verschiedenen Aspekten von Schicksal beim jungen Nietzsche

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rüdiger ziemann Ein Logis im Saalthale. Mutmaßungen über den Dichter Ernst Ortlepp

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Xv

Gesamtregister (Bde. I–XV) Johann figl Die „Ausbildung der Seele erkennen“. Die Bedeutung der frühen Texte Nietzsches innerhalb seiner Philosophie im ganzen . .

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wiebrecht ries Das Bewußtsein des Unglücks. Zu thematischen Parallelen in der Kindheits­ und Jugendgeschichte Hölderlins, Nietzsches und Kafkas . . . . . . . . . .

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iv. aufsätze wilhelm schmid Hat er nicht das Pferd geküßt? Nietzsche als ökologischer Philosoph

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reinhart maurer Nietzsche ökologisch. Der Wille zur Macht und die Liebe zu den Dingen . . . . .

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birgit recki Über die „Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen“. Friedrich Nietzsches Kulturphilosophie zwischen Ästhetik und Ethik . .

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claudia marra Der Einfluß von Nietzsches Zarathustra auf Karl Mays im reiche des silbernen löwen

sigridur thorgeirsdottir Die Kritik essentialistischer Bilder der Frauen in Nietzsches Spätphilosophie und ihre Bedeutung für philosophische Theorien der Geschlechterdifferenz . . . . . . . . elke wachendorff Friedrich Nietzsches Gedanke der ‚aesthetischen Thätigkeit‘

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hans-martin gerlach Nietzsches Denken zwischen „aristokratischem Radikalismus“ und „Psychopathia spiritualis“? Zur Nietzsche­Rezeption der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts und der Haltung der deutschen Linken . . . . . . . . .

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christa davis acampora Nietzsche’s Problem of Homer

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Xvi

Nietzscheforschung

v. rezensionen Reinhard Gasser, Nietzsche und Freud (Renate Müller­Buck)

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Nietzsche und der Weltgang der Hybris. Anmerkungen zur Historisch­kritischen Ausgabe von Friedrich Nietzsches Werken auf CD-ROM (Axel Stoller) . . . . . . . . . . .

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Band 7 (2000) hg. von volker gerhardt und renate reschke

i. vorträge „nietzsche und die zukunft der bildung“. internationale tagung der nietzsche-gesellschaft, naumburg (./.0.) christian niemeyer Wie wurde mit Nietzsche im 20. Jahrhundert Bildungspolitik gemacht? Ein Rückblick auf gut einhundert Jahre Rezeptionsgeschichte

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karol sauerland Der Bildungsgedanke des jungen Nietzsche

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erwin hufnagel Nietzsche als Provokation für die Bildungsphilosophie. Versuch den Griechischen Staat zu lesen . . . . .

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alfred schäfer Genealogie – Macht – Bildung

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ulrich michael haase Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten in bedürftiger Zeit .

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peter andré bloch Der Dichter als Lehrer. Friedrich Nietzsches pädagogische Berufung .

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ii. forum . nietzsche-werkstatt schulpforta – nietzsches sprachkritischer pragmatismus (0.–.0.) pirmin stekeler-weithofer, volker caysa Einleitung . . . . . . . . .

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pirmin stekeler-weithofer Nietzsches ontologiekritische Sprachpragmatik

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Xvii

Gesamtregister (Bde. I–XV) knut ebeling Freud, die Archäologie, die Moderne. Die archäologische Methode als Antwort auf Nietzsches Repräsentationskritik

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lukas labhart „pro ommáton poiein“. Nietzsches Teilübersetzung von Aristoteles’ „Rhetorik“, „Zur Lehre vom Stil“ und „Also sprach Zarathustra“

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christof kalb Das „Individuelle“. Humboldt, Gerber und Nietzsche über den Zusammenhang von Sprache und Subjekt .

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henning hahn Platons „Kratylos“­Dialog in der Sprachkritik Nietzsches

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djavid salehi Nietzsches Kritik der Sprache und Metaphysik und ihre moralischen Implikationen. Ein Versuch, Nietzsche als ethischen Relativisten zu lesen

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hans gerald hödl Der Gott der Grammatik. Die sprachkritischen Fundierung von Nietzsches Religionskritik udo tietz Phänomenologie des Scheins. Nietzsches sprachkritischer Perspektivismus

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tom seidel Sprach­ und Erkenntniskritik bei Friedrich Nietzsche .

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andreas hütig Zur Individualität der Praxis. Aspekte der Sprache bei Nietzsche und Cassirer

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claus zittel Die Aufhebung der Anschauung im Spiegel der Metapher. Nietzsches relationale Semantik . . . . . . . .

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kai-michael hingst Nietzsches pragmaticus. Die Verwandtschaft von Nietzsches Denken mit dem Pragmatismus von William James . . .

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sandro zanetti Nietzsches Verhör der Gerechten. Bemerkungen der Kunst und zur Sprache der Rache in einigen Texten Nietzsches . . . . . . . . . . . . . .

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Xviii

Nietzscheforschung

iii. aufsätze Jörg salaquarda Friedrich Nietzsche und die Bibel unter besonderer Berücksichtigung von „Also sprach Zarathustra“ . . . . . . . . . . . .

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günter figal Kein Grieche und kein tragischer Gott. Nietzsches Zarathustra­Dichtung zwischen Platon und Richard Wagner

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gilbert merlio Burckhardt éducateur .

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dieter thomä Glück und Person. Eine Konstellation bei Nietzsche und Max Weber

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uschi nussbaumer-benz Bericht über 7. und . Konferenz der englischen Friedrich­Nietzsche­Society, St. Andrews, 05.–0. September 1997: „Nietzsche and the German Tradition“; und Greenwich, 11.–13. September 199: „Nietzsche and Religion“ . . . . .

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George Bataille, Wiedergutmachung an Nietzsche. Das Nietzsche­ Memorandum und andere Texte (Knut Ebeling) . . . . . .

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Nietzsche in Frankreich. Neuerscheinungen im 2. Halbjahr 1999 (Jacques Le Rider) . . . . . . . . . . . . . .

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Jahrgänge 1–5/6 der Nietzscheforschung. Autorenregister (Silke Erler)

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iv. berichte und informationen hans-Joachim koch Drei Begegnungen im Herbst .

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v. miszelle roland rittig, rüdiger ziemann Nietzsche und Ortlepps ‚dämonisches Lied‘

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vi. rezensionen

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vii. gesamtinhaltsverzeichnis (index)

XiX

Gesamtregister (Bde. I–XV)

Band 8 (2001) hg. von volker gerhardt und renate reschke

i. der nietzsche-preis annemarie pieper Laudatio auf Rüdiger Safranski .

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rüdiger safranski Nietzsches Zweikammersystem der Kultur .

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ii. vorträge „ich habe das griechenthum entdeckt …“ nietzsche – seine antike und ihre wirkung – internationale tagung der nietzsche-gesellschaft, naumburg (.–.0.000) günter wohlfart Artisten­Metaphysik. Der antike Boden von Nietzsches Philosophie .

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volker ebersbach Nietzsche im Garten Epikurs .

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volker riedel Nietzsche und das Bild einer „dionysischen Antike“ in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts

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iii. forum „… als kind gott im glanze gesehen“? der junge nietzsche (–) in seinem verhältnis zu antike und christentum – . internationales dortmunder nietzsche-kolloquium, dortmund (0.–0. Juli ) hermann Josef schmidt Einführung . . . .

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hermann Josef schmidt Von „als Kind Gott im Glanze gesehn“ zum „Christenhaß“? Nietzsches früh(st)e weltanschauliche Entwicklung (144–164), eine Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . .

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eva marsal Der Sansculotte Jesus Christus. Die Christologie des Pfortaschülers Friedrich Nietzsche als Eigenständige Rezeption des zeitgenössischen theologischen Spektrums . . . . . . . . . . .

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XX

Nietzscheforschung

Jørgen kjaer Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Christentum in seiner Naumburger und Portenser Zeit . . . . . . . . . .

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volker ebersbach Nietzsche – ein Grieche unter Römern. Vorchristliche Fundamente in Nietzsches Kritik am Christentum

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kurt Jauslin Was der Löwe nicht vermochte: etwas für Kinder und Kindsköpfe. Über Fritz Nietzsches Naumburger Festungsbuch . . . . .

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rüdiger ziemann Ewiges Ziel und falsche Begriffe. Zu Friedrich Nietzsches Prometheus­Drama

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renate g. müller Erkenntnis und Erlösung. Über Nietzsches Umgang mit vorchristlich­griechischem Gedankengut vor dem Hintergrund seiner christlichen Herkunft . . . . . .

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iv. aufsätze Jörn pestlin Nietzsche im Völkischen Beobachter. Eine Bestandsaufnahme

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heinz schneppen Nietzsche und Paraguay: der Philosoph als Bauer? .

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hedwig völkerling Im Schatten von Georg Brandes. Der Däne Konrad Simonsen in seinem Briefwechsel mit Elisabeth Förster­Nietzsche . . . . . . . . .

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Jochen hengst Endspiel eines „Schreibthier“­Lebens. Metamorphose, Apotheose und Parodie in Nietzsches letztem Brief an Jacob Burckhardt . . . . . .

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steffen dietzsch Nietzsche und Ariadne .

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Hans­Martin Gerlach Wege der Nietzsche­Kritik – Jaspers, Bloch, Lukács .

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volker gerhardt Nietzsches Alter­Ego. Über die Wiederkehr des Sokrates carlo gentili Die radikale Hermeneutik Friedrich Nietzsches

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XXi

Gesamtregister (Bde. I–XV)

v. berichte und informationen hans-Joachim koch Herbst­Kolloquium 2000 der Stiftung Nietzsche­Haus in Sils­Maria Schwerpunktthema: Also sprach Zarathustra . . . . . . .

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uschi nussbaumer-benz „Nietzsche: Society, Culture und Education“. Bericht über 10. Konferenz der englischen Friedrich­Nietzsche­Society, Durham, 0.–10. September 2000 . . . . . . . . . . .

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Günter Gödde, Traditionslinien des „Unbewußten“. Schopenhauer – Nietzsche – Freud (Renate Müller­Buck) . . . . . . . . .

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Nietzsche in Frankreich – Rückblick auf das Jahr 2000 (Jacques Le Rider) . . . . . . . . . . . .

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karen Joisten Der Weg Zarathustras als der Weg über den Menschen. Nietzsches Überwindung der Anthropozentrizität als philosophische Herausforderung unserer Zeit . . . . . . . . . . .

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vi. ausstellung stephan günzel

Einführung in die Ausstellung „Ecce homo“ von Darrin Morgan zur Eröffnung am 25. August 2000 im Nietzsche­Haus in Naumburg

vii. rezensionen Christian Lipperheide, Die Ästhetik des Erhabenen bei Friedrich Nietzsche (Lukas Labhart) . . . . . . . . . . . .

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Band 9 (2002) hg. von volker gerhardt und renate reschke

i. die menschheit verbessern? nietzsches anthropologie internationale tagung der nietzsche-gesellschaft, naumburg (.–.0.00) pirmin stekeler-weithofer Stolz und Würde der Person. Grundprobleme der (Bio)ethik in einer mit Nietzsche entwickelten Perspektive . . . . . . . . .

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XXii

Nietzscheforschung

udo tietz Das animal rationale und die Grundlagen der wissenschaftlichen Vernunft. Zur anthropologischen Transformation der Erkenntnistheorie bei Friedrich Nietzsche . . . . . . .

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ii. „dionysos gegen den gekreuzigten“? friedrich nietzsches denkmotiv(e) . dortmunder nietzsche-kolloquium vom .–. Juli 00 kurt Jauslin Als­ob gegen An­sich. Etwas über den Zusammenhang von Ästhetik und Kontingenz im Denken Friedrich Nietzsches . . . . . . . . .

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hermann Josef schmidt „ich würde nur an einen Gott glauben, der“ oder Lebensleidfäden und Denkperspektiven Nietzsches in ihrer Verflechtung (1845–1888/89) . . . .

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volker ebersbach Ein versprengter Satyr. Nietzsche und das „Elitäre“ .

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eva marsal Wen löst Dionysos ab? Der „Gekreuzigte“ im Facettenreichtum der männlichen Nietzsche­Dynastie: Friedrich August Ludwig Nietzsche, Carl Ludwig Nietzsche und Friedrich Nietzsche . . .

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Johann figl „Dionysos und der Gekreuzigte“. Nietzsches Identifikation und Konfrontation mit zentralen religiösen ‚Figuren‘ . . .

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erwin hufnagel Dionysos: Metaphysik, Mythos und Moderne .

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pia daniela volz „Der Begriff des Dionysos noch einmal“. Psychologische Betrachtungen zum Dionysischen als Herkunftsmythos .

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iii. also sprach zarathustra – hauptthemen und forschungstendenzen . nietzsche-werkstatt schulpforta vom .–. september 00 matthew meyer The Tragic Nature of Zarathustra

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XXiii

Gesamtregister (Bde. I–XV) timo hoyer „[…] ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken“. Zarathustras pädagogisches Scheitern . . . .

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martin liebscher Zarathustra – Der Archetypus des „Alten Weisen“

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hans-gerd von seggern Allen Tinten­Fischen feind Metaphern der Melancholie in Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ .

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dirk solies Die Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts und der Lebensbegriff des „Zarathustra“ . .

hans-Joachim pieper Zarathustra – Sisyphos. Zur Nietzsche­Rezeption Albert Camus’

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claus zittel Sprüche, Brüche, Widersprüche. Irritationen und Deutungsprobleme beobachtet am Erzählverhalten und an der Erzählperspektive in Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ . . . . .

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rené heinen Zum „Spiel auf der Grenze des Ästhetischen und des Moralischen“. Nietzsches Vorlesungen über Rhetorik . . . . . . . . .

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Sasan Seyfi Das hundertköpfige Hunds-Ungetüm, das ich liebe. Friedrich Nietzsche und das Meer . . . . .

iv. aufsätze

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anatol schneider Nietzsches ökonomisch­philosophisches Manuskript. Metaphysik, Ökonomie und Zeitlichkeit in der zweiten Abhandlung der „Genealogie der Moral“ .

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andreas becke Askese und Ekstase. Über Weltflucht und Weltablehnung bei Nietzsche und Sloterdijk aldo venturelli Die Wiederentdeckung des Negativen. Nietzsche und der Neomarxismus in Italien

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XXiv

Nietzscheforschung

v. rezensionen Burkhard Meyer­Sickendiek, Die Ästhetik der Epigonalität. Theorie und Praxis wiederholenden Schreibens im 19. Jahrhundert: Immermann – Keller – Stifter – Nietzsche (Renate Reschke) . . . . . . . . .

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Hermann Josef Schmidt,Wider weitere Entnietzschung Nietzsches. Eine Streitschrift (Volker Caysa) . . . . . . . . . . . . .

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Band 10 (2003) ästhetik und ethik nach nietzsche hg. von volker gerhardt und renate reschke

i. der nietzsche-preis volker gerhardt Laudatio auf Marie­Luise Haase und Michael Kohlenbach Anlässlich der Verleihung des Friedrich­Nietzsche­Preises des Landes Sachsen­Anhalt am 23. August 2002 . . . .

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marie-luise haase „Nietzsche und …“ .

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volker gerhardt Genom und Übermensch. Nietzsche in der biopolitischen Diskussion .

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pirmin stekeler-weithofer Lebenswelt und Menschenzoo. Nietzsches Ethik des Überstiegs vom Bedürfniswesen zur authentischen Person . . . . . . . . .

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ii. „ethik nach nietzsche“ internationale tagung der nietzsche-gesellschaft, naumburg (.–. august 00) gunter gebauer Der Leib des Menschen nach dem Tode Gottes

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Georg Pfleiderer Theologische Ethik nach Nietzsche. Zum ‚Aristokratismus‘ protestantischer Ethik im 20. Jahrhundert .

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hansgeorg schmidt-bergmann Der „stählerne Mensch“ – Filippo Tommaso Marinettis Programm des italienischen Futurismus . . . . . . . . . . . .

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XXv

Gesamtregister (Bde. I–XV)

iii. menschlisches, allzumenschliches – hauptthemen und forschungstendenzen 0. nietzsche-werkstatt schulpforta vom .–. september 00 britta m. glatzeder Motive und Hintergründe von Nietzsches Metaphysik .

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matthew h. meyer „Menschliches, Allzumenschliches“ und der musiktreibende Sokrates .

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Pawel Pieniążek Geschichte, Kultur und Lebenskunst in „Menschliches, Allzumenschliches“ .

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oliver immel „Wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge werden“. Nietzsches Hinwendung zur „psychologischen Beobachtung“ und deren Bedeutung für einen interkulturellen philosophischen Diskurs . . . . . . . . . . .

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oliver kloss Politische Ökonomie in kosmoästhetischer Absicht. Nietzsches Bedürfnis­Konzept in „Menschliches, Allzumenschliches“ .

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carolin von roth Die Wanderung im Gebirge. Die Rezeption eines zentralen Motivs bei Nietzsche in künstlerischen Konzepten Von Olaf Metzel, Wladimir Kuprijanow und Gerhard Richter .

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andreas hütig Zwischen Barbarisierung und Vergeistigung. Nietzsches Theorie der Moderne und seine These vom Ende der Kunst . . . . . . . . . . . .

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11

marco brusotti Sprache und Selbsterkenntnis. Zu Nietzsches Aphorismus „Elemente der Rache“ .



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iv. aufsätze steffen dietzsch Ein Nomade in der Landschaft Zarathustras. Oscar Levy und der jüdische Nietzscheanismus

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mirko wischke Hat die Wissenschaft ihren Lebensnerv verloren? Friedrich Nietzsche über die Frage nach dem Wissenswerten

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sören reuter Logik, Metaphysik, Täuschung. Zur Motivkonstellation der frühen Nietzsche­Rezeption in Afrikan Spirs „Denken und Wirklichkeit“ . . . .

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XXvi

Nietzscheforschung

renate reschke Die verlorene Geliebte und ihr neues Domizil. Friedrich Nietzsche über Religion und Kunst in der Moderne

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annemarie pieper Das stille Auge der Ewigkeit. Nietzsches dionysische Rechtfertigung der Kunst .

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hans gerald hödl Italienische Städte: Orte in Nietzsches metaphorische Landschaft. Eine Annäherung . . . . . . . . . . . . . . .

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walter schmithals Zum Gedenken an Wolfgang Müller­Lauter (31.0.1924 – 09.0.2001) Zum ersten Jahrestag seines Todes . . . . . . . . . . .

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wolfgang müller-lauter Über Ökonomie und Kultur bei Nietzsche .

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Thomas Keith, Nietzsche­Rezeption bei Gottfried Benn (Rüdiger Ziemann)

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Klaus Gerhard Lickint,: Nietzsches Kunst des Psychoanalysierens. Eine Schule für kultur­ und Geschichtsbewusste Analytiker der Zukunft (Renate Müller­Buck) . . . . . . . . . . . . . . .

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Friedrich Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Neunte Abteilung, Der handschriftliche Nachlaß ab Frühjahr 1 in differenzierter Transkription, hg. V. Marie­Luise Haase und Michael Kohlenbach, 1.–3. Bd. (Stephan Günzel) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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v. memorial

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vi. rezensionen

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Band 11 (2004) antike und romantik bei nietzsche hg. von volker gerhardt und renate reschke

i. nietzsche und die romantik . Jahreshauptversammlung der nietzsche-gesellschaft, naumburg, .–. oktober 00 steffen dietzsch Karl Joëls „Nietzsche und die Romantik“ neu gelesen dirk von petersdorff Nietzsche und die romantische Ironie

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XXvii

Gesamtregister (Bde. I–XV) violetta l. waibel Hölderlin und Nietzsche über Philistertum und wahre Bildung .

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Justus h. ulbricht Neuromantik – Ein Rettungsversuch der Moderne mit Nietzsche

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ii. „[…] gegen die verlogenheit von Jahrtausenden“? friedrich nietzsche und seine interpreten. viii. internationales dortmunder nietzsche-kolloquium, 0.–0. august 00 andreas urs sommer Jesus gegen seine Interpreten oder Die Hermeneutik der Urteilsenthaltung Pilatus und der „Typus des Erlösers“ .

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Johann figl Nietzsche und die Religionsstifter

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hans-martin gerlach Nietzsche im linken und rechten Zerrspiegel

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volker caysa Nietzsches Kritik der Macht und die Macht der Kritik nach Nietzsche .

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kurt Jauslin Ordnung schaffen. Lesarten zu Nietzsches „Genealogie der Moral“ .

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volker ebersbach „Denn zwischen Keuschheit und Sinnlichkeit giebt es keinen nothwendigen Gegensatz“. Friedrich Nietzsche und die Verleumdungen des Erotischen in der Liebe . . .

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Jason m. wirth Nietzsches Fröhlichkeit. Gibt es etwas, über das absolut nicht mehr gelacht werden darf?

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erwin hufnagel Déformation professionelle. Zur Rezeption Friedrich Nietzsches in der Phänomenologie Max Schelers . . . .

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pia daniela volz Wahrsinn oder Wahnsinn? Nietzsche als Objekt belletristischer Begierde .

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karen Joisten Wie viel Nietzsche verträgt der Interpret? Oder Der Weg vom Verstehen über das Verstehen hinaus

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XXviii

Nietzscheforschung

iii. nietzsche und die griechen . nietzsche-werkstatt schulpforta vom 0.–. september 00 matthew h. meyer Die Einheit der Gegensätze als tragisches Prinzip

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enrico müller Politik, Sophistik und Philosophie im Zeitalter der athenischen Demokratie nach Nietzsche . . .

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ole schütza Nietzsche und Thukydides. Thukydides’ Herleitung des „Allgemein­Menschlichen“ aus dem Besonderen seiner Geschichtsschreibung und deren Rezeption nach Nietzsche . . . . . . . . . . .

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konstantin broese Nietzsche und die antike Aufklärung. Nietzsches kritische Auseinandersetzung mit Demokrit in seiner Leipziger Studienzeit vor dem Hintergrund seiner Lange­Rezeption christian wollek Nietzsche und das Problem des Sokrates

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arno boehler Nietzsches virtuelle Wanderung im Sprachzeitraum des „Gefährlichen Vielleicht“ . . . . . .

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axel schubert Die Genesung des Zarathustra – eine Epikrise

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martin pernet Eine Quelle für Nietzsches christliche Herkunft. Der Briefwechsel seines Vaters mit Emil Julius Schenk

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Martin Heidegger, Zur Auslegung von Nietzsches II. Unzeitgemäßer Betrachtung. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben‘, Freiburger Seminar Wintersemester 193/39, (Stephan Günzel) .

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iv. aufsätze

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v. rezensionen

XXiX

Gesamtregister (Bde. I–XV)

Band 12 (2005) bildung – humanitas –zukunft bei nietzsche hg. von volker gerhardt und renate reschke

i. der nietzsche-preis volker gerhardt Ein Arzt der Kultur. Laudatio auf Durs Grünbein anlässlich der Verleihung des Nietzsche­Preises des Landes Sachsen­Anhalt am 23. August 2002 .

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durs grünbein Die Stimme des Denkers .

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christian niemeyer Nietzsches „Bildungsvorträge“ von 172 Einige Deutungshinweise zu einem überaus fragwürdigen Text .

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christiane thompson, gabriele weiss Das Bildungsgeheimnis. Herausforderung und Zumutung der Lektüre von Nietzsches Bildungsvorträgen

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ii. schwerpunktthema: bildung – zukunft – humanitas

Jürgen oelkers Friedrich Nietzsches Basler Vorträge im Kontext der deutschen Gymnasialpädagogik

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holger gutschmidt ‚Bildungsanstalten‘ beim frühen Nietzsche. Die Universitätsidee Nietzsches zwischen Fichte und Humboldt lars-thade ulrichs Braucht ein Übermensch noch Bildung? Nietzsches ästhetisches Bildungskonzept vor dem Hintergrund von Schillers „Ästhetischen Briefen“ .

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iii. „friedrich nietzsches ecce homo“ . nietzsche-werkstatt schulpforta vom .–. september 00 enrico müller, andreas urs sommer Einleitung zur Werkstatt . . . .

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rüdiger görner Die Humanität der Selbstüberwindung. „Ecce homo“ oder die Autobiographie eines posthum Geborenen .

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XXX

Nietzscheforschung

klaus wellner Nietzsches Masken in „Ecce homo“ .

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miguel skirl Selbsteinholungsfiguren bei Nietzsche

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fernando de moraes barros Geist und Fleisch gewordene ‚Umwerthung aller Werthe‘. „Ecce homo“ als lebendiger Kommentar zum Antichrist .

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heinrich niehues-pröbsting „Welthistorischer Cynismus “? .

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Janske hermens „und so […] nenne ich Wagner den grossen Wohlthäter meines Lebens“ On „Ecce homo“ and Nietzsche’s Ideal of the ‚Grosse Gesundheit‘ . .

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tobias dahlkvist Why was Nietzsche so Wise and so Clever? „Ecce homo“ and the Melancholy Tradition

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Jürgen müller „Ecce homo“ – Nietzsches unmögliches Glück matthew h. meyer „Ecce homo“ und die Alte Komödie .

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christian benne Ecce Hanswurst – Ecce Hamlet. Rollenspiele in „Ecce homo“ .

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ekaterina poljakova Die Umwertung ästhetischer Werte. Zu Andrej Belyjs Nietzsche­Lektüre

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christian wollek A realibus ad realiora. Vjačeslav Ivanov, Nietzsche und der russische Symbolismus .

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Vjačeslav Ivanov Nietzsche und Dionysos

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henning hahn Wozu Wahrheit? Nietzsches Frage nach dem Wert der Wahrheit und ihre Pragmatische Rezeption bei Ferdinand Canning Scott Schiller .

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thomas mittmann Religion nach dem ‚Tod Gottes‘. Friedrich Nietzsche als Wegbereiter des Neuheidentums bei Ernst Horneffer . . . . . . . . . . . .

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iv. aufsätze

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XXXi

Gesamtregister (Bde. I–XV) anikó Juhász, deszsö csejtei Überlegungen zu Nietzsches Todesverständnis

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robert pippin Nietzsche’s Moral Psychology and the French Moralist Tradition .

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Christian Niemeyer, Nietzsches andere Vernunft (Hans Gerald Hödl) .

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Ecce Opus. Nietzsche­Revisionen im 20. Jahrhundert, hg. v. Rüdiger Görner, Duncan Large (Matthew H. Meyer) .

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v. rezensionen

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Aldo Venturelli, Kunst, Wissenschaft und Geschichte bei Nietzsche (Renate Reschke) . . . . . . . . . . . . . . .

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Nietzsches persönliche Bibliothek, hg. v. G. Campioni et al.; Supplementa Nietzscheana Bd. 6; H. Reich, Nietzsche­ Zeitgenossenlexikon; Alfons Reckermann, Lesarten der Philosophie Nietzsches (Stephan Günzel) . . . . . . . . . . . .

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Nietzsche and the German Tradition, hg. v. N. Martin (Diana Behler) .

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Paul Bischop, Roger H. Stephenson, Friedrich Nietzsche and Weimar Classicism (Hans­Gerd von Seggern) . . . . . . . . . .

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Band 13 (2006) friedrich nietzsche – zwischen musik, philosophie und ressentiment hg. von volker gerhardt und renate reschke

i. philosophie und musik horizonte der weltauslegung nietzsche – . Jahrestagung der nietzsche-gesellschaft, .–. oktober 00 in naumburg rüdiger görner „Ohne Musik wäre mir das Leben ein Irrthum“ Nietzsches musikalisiertes Denken . . . .

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aldo venturelli Der musiktreibende Sokrates. Musik und Philosophie in der Entstehungsgeschichte der „Geburt der Tragödie“ . . . . . . . .

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georges liébert Nietzsche – musique ou verbe. Ton oder Wort . . . . .

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XXXii

Nietzscheforschung

christoph landerer Form und Gefühl in Nietzsches Musikästhetik .

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stefan lorenz sorgner Musik und Ethik in Nietzsches „Geburt der Tragödie“

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dieter schellong „Die Musik erlangt ihre grosse Macht nur unter Menschen, die nicht discutiren können oder dürfen“. („Der Wanderer uns sein Schatten“, Aphorismus 167) Musik ist nicht gleich Musik . . . . . . . . . . . . .

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peter andré bloch Nietzsche als Gesellschaftsmusiker zwischen Parodie und Pathos .

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ii. nietzsche und das ressentiment . nietzsche-werkstatt schulpforta vom .–. september 00 ivan broisson Ressentiment und ‚Wille zur Macht‘. Nietzsche und Hume über Moral­ und Religionskritik

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tobias dahlkvist Pessimismus als Ressentiment. Eine zeitgemäße Geschichte .

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tobias grave Siegreiches Verschwinden. Wie uns der Sklavenaufstand aus den Augen gerückt ist .

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daniel heblik Der Mensch des Ressentiments ‚im Lichte‘ seiner ‚Werkstätte‘ .

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oliver immel Vom Ja des Neins. Überlegungen zur sinn­ und identitätsstiftenden Rolle des Ressentiments Im Anschluss an Friedrich Nietzsche und Jean­Paul Sartre . . . . .

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andreas hütig Wer spricht, wenn Hass spricht? Zum Sprachsubjekt des Ressentiments

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volker caysa Ressentiment und Körpertechnologisierung. Über die negativen und positiven Wirkungen des Sklavenaufstandes in der Körperethik . . . . . . . . . . . . . . .

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nicole thiemer Philosophie erzählt?! Ein Blick auf Carson McCullers „Ballade vom traurigen Café“ im Kontext von Nietzsches Analyse des Ressentiments . . .

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XXXiii

Gesamtregister (Bde. I–XV) vanessa vidal mayor Die Idee der Philosophie als Kritik bei Nietzsche und Adorno

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christine waldschmidt Die Bedeutung des Ressentiments für Zarathustras. Lehre vom Übermenschen . . . . . . . .

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stefanie winkelnkemper Der Hass des ‚Nazareners‘. Heinrich Heine antizipiert die Psychologie des Ressentiments .

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iii. aufsätze babette e. babich Nietzsches Ursprung der Tragödie als Musik. Lyrik – Rhetorik – Skulptur . . . . . .

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anatoly livry Vladimir Nabokov, der Nietzsche­Anhänger

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martine prange Valuation and Revaluation of the Idyll. Schillerian Traces in Nietzsche’s Early Musical Aesthetics

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George J. Stack, Nietzsche’s anthropic circle. Man, Science, and Myth; Von Wille und Macht, hg. von Stephan Günzel (Hans­Gerd von Seggern) .

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Friedrich Nietzsche. Rezeption und Kultur, hg. von Sandro Barbera, Paolo D’Iorio, Justus H. Ulbricht (Mattia Riccardi) . . . . .

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Thomas Mann, Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung. Vortrag am XIV. Kongress des PEN­Clubs in Zürich am 3. Juni 1947; Nietzsche Wörterbuch, Band 1, hg. von der Nietzsche Research Group (Nijmegen) unter Ltg. von Paul van Tongeren, Gerd Schank und Hermann Siemens; Friedrich Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Neunte Abteilung. Der handschriftliche Nachlass ab Frühjahr 15 hg. von Marie­ Luise Haase und Martin Stingelin (Renate Reschke) . . . . . . . .

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Georges Bataille, Nietzsche und der Wille zu Chance (Atheologische Summe III), hg. von Gerd Bergfleth (Knut Ebeling) . . . . . .

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diana behler Nietzsche in America. Elective Affinities

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iv. rezensionen

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XXXiv

Nietzscheforschung

Band 14 (2007) nietzsche und europa – nietzsche in europa hg. von volker gerhardt und renate reschke

i. der nietzsche-preis rüdiger görner Das Übermorgen im Einstmals oder wie modern ist die Moderne Laudatio für Silvio Vietta zur Verleihung des Nietzsche­Preises in Naumburg/Saale am 26. August 2006 . . . . . . .

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silvio vietta Mit Nietzsche europäisch denken. Rede zur Verleihung des Nietzsche­Preises am 26. August 2006 in Naumburg/Saale .

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hans-martin gerlach „Diese Aufklärung haben wir jetzt weiterzuführen …“ Friedrich Nietzsche und die europäische Aufklärung .

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enno rudolph Nietzsches Europa .

ii. nietzsche und europa – nietzsche in europa

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andreas urs sommer Skeptisches Europa? Einige Bemerkungen zum Sechsten Hauptstück: wir Gelehrten (Friedrich Nietzsche, „Jenseits von Gut und Böse“, Aphorismen 204–213) . . . . . . . . . . . . .

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leila kais Ein ach so guter Europäer: Thomas Common und seine Nietzsche­Zeitschrift „Notes for Good Europeans“ . .

Damir Barbarić „Wir Heimatlosen“. Nietzsches Gedanken zum Europäertum

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martine prange Nietzsche’s Artistic Ideal of Europe: „The Birth of Tragedy“ in the Spirit of Richard Wagner’s Centenary Beethoven­essay

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andrás czeglédi „Er hat mich kaputt gemacht“. Zur Nihilismusdeutung Friedrich Nietzsches

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Robert B. Pippin How to Overcome Oneself. Nietzsche on Freedom . .

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XXXv

Gesamtregister (Bde. I–XV)

iii. „nietzsche und die religionen. philosophische, religionswissenschaftliche und theologische aspekte in historischer, systematischer und rezeptionsgeschichtlicher hinsicht“ – . nietzsche-werkstatt schulpforta vom .–. september 00 hans gerald hödl Zur Funktion der Religion. Anmerkungen zu Nietzsches Einfluss auf Max Weber und zur Antizipation von religionssoziologischen Fragestellungen in „Menschliches, Allzumenschliches“ . . . . . . . .

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marco brusotti ‚Der Cultus wird wie ein fester Wort-Text immer neu ausgedeutet‘. Nietzsches Betrachtungen über den Synkretismus im „Gottesdienst der Griechen“ und die Genealogie der Moral . .

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ekaterina poljakova „Beherzter Fatalismus“. Das (Anti­)Christliche in der Perspektive des russischen Denkens .

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herbert frey Nietzsche und die antike griechische Religion .

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niklas corall „Unwälzbar ist der Stein ‚es war‘: ewig müssen auch alle Strafen sein!“ Nietzsches Auslegung des Monotheismus als Rache am Leben . . . .

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paolo stellino Jesus als ‚Idiot‘. Ein Vergleich zwischen Nietzsches „Der Antichrist“ und Dostojewskijs „Der Idiot“ . . . . . . .

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iv. aufsätze klaus goch Erweckungsphilologie. Martin Pernets seltsame Präsentation eines Nietzsche­Familiendokuments . . . .

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Jacques le rider Nietzsche et Flaubert .

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Nietzsche et l’Europe, hg. von Paolo D’Iorio und Gilbert Merlio (Knut Ebeling) . . . . . . . . . . . . . . .

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v. rezensionen

XXXvi

Nietzscheforschung

Enrico Müller, Die Griechen im Denken Nietzsches; Theodor Lindken, Rudolf Rehn, Die Antike in Nietzsches Denken. Eine Bibliographie (Renate Reschke) . . . . . . . . . . . . . . . .

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Volker Ebersbach, Der „Verlust des Mythus“ oder Das Unerlässliche steht in Frage. Nietzsches Tragische Anthropologie, Teil 2, (Karen Joisten) . .

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Claudia Rosciglione, Homo Natura. Autoregolazione e caos nel pensiero di Nietzsche (Mattia Riccardi) . . . . . . . . . . . . .

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Uwe Janensch, Goethe und Nietzsche bei Spengler. Eine Untersuchung der strukturellen und konzeptionellen Grundlagen des Spenglerschen Systems (Hans­Gerd von Seggern) . . . . . . . . . . . . . . .

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Hans­Gerd von Seggern, Nietzsche und die Weimarer Klassik (Sandro Barbera) . . . . . . . . . . . . .

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Band 15 (2008) friedrich nietzsche – geschichte, affekte, medien hg. von volker gerhardt und renate reschke vorwort .

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leila kais Zum Tod von Maud Levy­Rosenthal .

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renate reschke „[…] dass die Weisen aller Zeiten unhistorisch gedacht haben“. Friedrich Nietzsche über Weisheit, Historie und Medien . . .

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marco brusotti „Vergangenes und Fremdes“. Zum Umgang mit Fremdkulturellem in Nietzsches zweiter „Unzeitgemäßen Betrachtung“ . . . .

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dezsö csejtei, anikó Juhász Nietzsches geschichtsphilosophische Perspektive nach dem Ende der Geschichte . . . . . .

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Hans Gerald Hödl Vom Zweck der Geschichtsschreibung. Religionsgeschichte als kritische Historie bei Nietzsche. Eine Skizze

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i. in memoriam

ii. friedrich nietzsche – geschichte und medien

XXXvii

Gesamtregister (Bde. I–XV) christian schärf Das Gesetz der Philosophie. Nietzsches ‚Geschichte‘ und wir .

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andreas greiert Interpretation, Macht, Geschichte. Nietzsche für Historiker . . .

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miriam ommeln Erkenntnistheorie im Virtuellen. Navigation am Widerspruch nach dem Gedanken von Nietzsches ‚Gegensatz­Charakter des Daseins‘

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wolfgang ernst Medienarchäologie nach Nietzsche .

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stephan braun Nietzsches ‚Wende zur Schrift‘. Selbstbezüglichkeit, Performanz, Remediation .

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holger brohm ‚Die verklärte Welt des Auges‘. Der Traum als Medium des Selbst

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annette bitsch Physiologische Ästhetik. Nietzsches Konzeption des Körpers als Medium

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iii. „friedrich nietzsches affektenlehre“ . nietzsche-werkstatt schulpforta vom .–. september 00 volker caysa Ein Versuch, Nietzsches Affektenlehre systematisch zu verstehen

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udo tietz Die Grammatik der Gefühle. Ein Versuch über Nietzsches Affektenlehre

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lars k. bruun Vergessen als der größte Affekt? Affekt, Vergessen und Gerechtigkeit in „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ .

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Josef ehrenmüller Nietzsches Psychologie bzw. Physiologie der Philosophie

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manos perrakis Nietzsches Musikästhetik der Affekte

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konstanze schwarzwald Nietzsche und die Große Sehnsucht. Ein Versuch, Nietzsches Affektenlehre und Anthropologie weiterzudenken

XXXviii

Nietzscheforschung

paolo stellino Affekte, Gerechtigkeit und Rache in Nietzsches „Zur Genealogie der Moral“ .

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niklas corall Heilige Wesen – Lebewesen. Formen des aktiven Fatalismus bei Kant und Nietzsche .

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iv. aufsätze volker gerhardt Philosophieren im Widerspruch der Philosophie .

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remedios Àvila crespo Nietzsche und das Problem des Nichts .

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tom stern Nietzsche on Context and the Individual

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ralf eichberg Der Zauberer bittet um Geld. Ein Brief Thomas Manns an das Preußische Kultusministerium von 1931 und sein historisches Umfeld . . . . . . . .

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v. rezensionen Elke Angelika Wachendorff , Friedrich Nietzsche. Denker der Interkulturalität (Heinz Kimmerle) . . . . . . . .

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Beatrix Himmelmann, Nietzsche (Richard Schacht)

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Christof Windgätter, Medienwechsel. Vom Nutzen und Nachteil der Sprache für die Schrift (Stephan Günzel) . . . . . . . .

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Michael Hertl, Der Mythos Friedrich Nietzsche und seine Totenmasken. Optische Manifeste seines Kults und Bildzitate in der Kunst (Ralf Eicherg)

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Heinz Schlaffer, Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen (Nikolas Zok) . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nietzsche nach dem Ersten Weltkrieg, hg. von Sandro Barbera und Renate Müller­Buck (Paolo Panizzo) . . . . . . . . .

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XXXiX

Gesamtregister (Bde. I–XV)

Anhang 1 Jahresschrift der förder- und forschungsgemeinschaft friedrich nietzsche e.v. (bde. i–iii) (redaktion: ralf eichberg)

Band I (Halle/Saale 1990/1991) wolfgang müller-lauter Nietzsche als Herausforderung

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hans-martin gerlach Von alten und neuen Schwierigkeiten mit Friedrich Nietzsche

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siegfried krätzel Zum Nietzsche­Bild Sigmund Freuds, Alfred Adlers und Carl Gustav Jungs

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Protokoll der Gründungsveranstaltung vom 15. November 1990

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Satzung der Förder­ und Forschungsgemeinschaft Friedrich Nietzsche e.V.

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Mitgliederliste der Jahre 1990/1991 .

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Nutzungskonzeption für das Haus Weingarten 1 .

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Röcken bei Lützen nahe Weißenfels .

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manfred riedel Die Perspektive Europas. Nietzsche in unserer Zeit

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rüdiger ziemann Ein Zwischenfall ohne Folgen. Was Nietzsche bei Goethe fand .

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mirko wischke Nietzsche­Werkstatt Schulpforta September1992 .

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Mitgliederliste .

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Band II (1991/1992) Johann figl Der junge Nietzsche. Deutung und Bedeutung von Biographie und Werk henning ottmann Nietzsche und die deutsche Politik

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Xl

Nietzscheforschung

Band III (1992/1993) i. aufsätze Jörg salaquarda Die Grundconception des Zarathustra .

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pia daniela volz Nietzsche – Der Lyrische Melancholiker

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hans-Joachim koch Rudolf Pannwitz – Ein blinder Fleck in der Nietzscheforschung .

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hans-Joachim koch Der Nietzsche­Forscher Hans Erich Lampl ist tot .

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ralf eichberg Das Ende und die Konsequenz der Aufklärung .

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ii. nietzsche-werkstatt schulpforta: nietzsche und die aufklärung werner schneiders Das schlimme Spiel – Nietzsches neuer Philosophiebegriff .

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volker caysa „Was ist Kritik?“ Über die Geburt der Philosophie aus dem „Geist“ der Kritik und die Zukunft der Kritik nach Nietzsche . . . . . .

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martin stingelin Nietzsche und Die Lehren vom Verbrecher .

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wilhelm schmidt Der antike Kynismus als Vorform der Aufklärung .

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bernd kulawik Nietzsche und der Kynismus .

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ruth ewertowski „… schämt euch seiner! Vielleicht betrog er euch“. Zur Bedeutung von Zarathustras Widersprüchen .

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uschi nussbaumer-benz Die neue Aufklärung – Herrin oder Herren? (Oder: Ist Camille Paglia noch zu retten?) .

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endre kiss Der Philosoph Friedrich Nietzsche und seine Aufklärung

Xli

Gesamtregister (Bde. I–XV)

iii. rezensionen Nietzsche­Brevier, hg. von Kurt Flasch (Hans­Martin Gerlach) .

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Giorgio Penzo, Der Mythos vom Übermenschen. Nietzsche und der Nationalsozialismus (Hans­Martin Gerlach) . . . . . . .

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Uschi Nussbaumer­Benz, Nietzsche. Nadelöhr der Philosophie? Eine Einführung in die „Wille zur Macht“­Thematik (Volker Caysa) . . .

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Anhang 2 nietzscheforschung sonderbände hg. von renate reschke

Band 1 (2001) zeitenwende – wertewende. internationaler kongress zum 00. todestag friedrich nietzsches vom .–. august 000 in naumburg renate reschke Vorwort . . .

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volker gerhardt Nietzsche, Goethe und die Humanität

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herbert schnädelbach Nietzsche und die Metaphysik des 20. Jahrhunderts

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giuliano campioni Nietzsche, Descartes und der französische Geist .

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Johann figl Religionen in der Moderne. Nietzsches Diagnose, ihre Probleme und Perspektiven

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werner stegmaier Nietzsches Lehren, Nietzsches Zeichen .

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Jacques le rider Erinnern, Vergessen und Vergangnheitsbewältigung. Zur Aktualität der „Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung“ .

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i. vorträge

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Xlii

Nietzscheforschung

ernst peter fischer „Wir sind von Grund aus – ans Lügen gewöhnt“ Nietzsche und die Naturwissenschaften . . . .

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gunter gebauer Warten auf den Übermenschen

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annemarie pieper Zarathustras Botschaft – hundert Jahre später .

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knut ebeling Nietzsche, die Genealogie, die Archäologie. Ethnologie der eigenen Kultur und Geschichte der Gegenwart bei Foucault .

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reinhard schulz Nietzsche und Rorty Zwei Metaphysikoppositionen

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ii. beiträge aus den arbeitskreisen arbeitskreis : 00 Jahre nietzsche-rezeption

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dirk solies „Mit den besseren Mitteln die schlechtere Sache verteidigen“. Georg Simmels Rezeption von Nietzsches Lebensbegriff . . .

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christian niemeyer Nietzsche als „Prophet der Jugendbewegung“ – ein Missverständnis? .

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gesine märtens „Mein Nietzsche“. Nietzsches Präsenz im Denken von José Ortega y Gasset

arbeitskreis : kultur – religion – kunst hans gerald hödl Die Träume der Leidenden. Ein Zugang zu den Kriterien der Bewertung von Religionen beim späten Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . .

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uschi nussbaumer-benz „Erlösung dem Erlöser“. Nietzsches welthistorisches Konzept mit ‚Hand‘ und ‚Fuß‘ .

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thomas klauck Nietzsches Konzept einer „großen Liebe“ .

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bärbel frischmann „Und vergesst mir auch das gute Lachen nicht!“ Lachen als Signum und Symbol bei Nietzsche . .

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Xliii

Gesamtregister (Bde. I–XV) hans otto seitschek Nietzsches Blick auf Jesus

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hans-Joachim koch Zur Ausweitung von Nietzsches Naturbegriff

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laura laiseca Die Wendung zur Natur und zum Leibe in den Symbolen des „Zarathustra“ . . . . . . . . . . . .

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wolf dietrich Der Zeiger rückt. Pathos und Pathologie in Nietzsches „grosser Gesundheit“ .

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arbeitskreis : ökophilosophie und philosophie des leibes nach nietzsche volker caysa Vom Recht des Leibes .

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arbeitskreis : nietzsche und die psychologie

edith béguin Das Scheitern der väterlichen Metapher in Nietzsches Werk und Leben stefan l. sorgner Narzissmus und Nietzsches „Wille zur Macht“ .

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martin liebscher Jungs Abkehr von Freud im Lichte seiner Nietzsche­Rezeption .

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karol sauerland Ist der Übermensch androgyn? Zu Przybyszewskis Nietzsche­Rezeption

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Josef schmid Der Triumph des Glücks der Herde. Gedanken zu Nietzsches Ideen über Politik und Geschichte zur hundertsten Wiederkehr seines Todestages . . . . . . . . . . . . . .

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volker ebersbach Nietzsche, die Polis und das Politische .

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stephan günzel Nietzsches philosophische Geographie. Eine geophilosophische Propädeutik .

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arbeitskreis : nietzsche über politik und geschichte

Xliv

Nietzscheforschung

arbeitskreis : nietzsche und die wissenschaften udo tietz Was es heißen könnte, die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen . . . . . . . . . .

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elisabeth kuhn Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus im Hinblick auf die Jahrtausendwende . . . . . . . . . . .

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christof windgätter Inszenierung eines Mediums – Zarathustras „Vorrede“ und die Frage nach der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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thomas r. wolf „– denn das Problem der Wissenschaft kann nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt werden –“. Wissenschaft als Lebens­Auslegung bei Nietzsche . . . . . . .

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knut radbruch „Die Mathematik ist nur das Mittel der allgemeinen und letzten Menschenkenntnis“ . . . . . . . . . . . . . .

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arbeitskreis : ethik bei nietzsche djavid salehi Zur Moral des Immoralischen

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beatrix himmelmann Sich selbst befehlen oder sich selbst ein Gesetz geben. Modelle der Selbstbestimmung bei Nietzsche . . .

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marcin milkowski Freiheit als Ethik bei Nietzsche .

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andreas hütig Mögliche Selbstgesetzgebung und reale Sinnproduktion. Zur ethischen Funktionalisierung der ästhetischen Erfahrung bei Nietzsche und Kant . . . . . . . . . . . . . .

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othmar franz fett „Zur Genealogie der Moral“ als Forschungsauftrag. Aspekte einer möglichen Einlösung . . . . . .

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axel hutter Zur Moral der Vernunft bei Nietzsche

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Xlv

Gesamtregister (Bde. I–XV)

arbeitskreis : zur genese des genealogen eva marsal Das ‚unzeitgemäße Betrachten‘ als familiäre Denktradition. Eine Analyse des kognitiven Stils von Friedrich August Ludwig Nietzsche

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olaf pluta Zur Genese von Nietzsches Parole „Gott ist todt!“ Eine Untersuchung zu Nietzsches Quellen in Röcken, Naumburg und Pforta .

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Band 2 (2004) nietzsche: radikalaufklärer oder radikaler gegenaufklärer? internationale tagung der nietzsche-gesellschaft in zusammenarbeit mit der kant-forschungsstelle mainz und der stiftung weimarer klassik und kunstsammlungen vom .–. mai 00 in weimar renate reschke Vorwort . . .

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hans-martin gerlach Friedrich Nietzsche und die Aufklärung .

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helmut reinalter Aufklärung als Kritik und Kritik an der Aufklärung

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herbert schnädelbach Das Projekt „Aufklärung“ – Aspekte und Probleme. Zusammenfassende Thesen . . . . . . . .

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vivetta vivarelli Nietzsche als Verkünder einer neuen Aufklärung .

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steffen dietzsch Wandern als Aufklärung? Nietzsches Wanderer und sein Schatten

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karl pestalozzi Der Aphorismus – Nietzsches sokratische Schreibweise? .

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karol sauerland Zucht und Aufklärung .

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i. vorträge

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Xlvi

Nietzscheforschung

wiebrecht ries Tragische Welterfahrung contra wissenschaftliche Weltbetrachtung. Nietzsches Beitrag zum Dilemma der Modernität . . . . . .

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Josef simon Der Begriff der Aufklärung bei Kant und Nietzsche

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günter wohlfart „Die Aufklärung haben wir jetzt weiterzuführen […]“

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bruno hillebrand Nietzsche – der Dichter

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Renate Reschke Aufklärung mit und ohne Dionysos. Friedrich Nietzsches Kritik am aufklärerischen Klassizismus Johann Joachim Winckelmanns . . . . . . . . . . . . . .

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karen Joisten „Was liegt an meiner Vernunft!“ oder Zarathustras „gefährliche Wege“ einer „anderen“ Aufklärung . . . . . . . . . . . . . .

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werner stegmaier Nietzsches und Luhmanns Aufklärung der Aufklärung. Der Verzicht auf „die Vernunft“ . . . . . . .

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hans gerald hödl Nietzsches lebenslanges Projekt der Aufklärung

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cornelia buschmann Warum Aufklärung? Über das zeitgebundene Interesse an einem überzeitlichen Thema .

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hans-Joachim kertscher „… das Individuum der Zukunft“. Der Prometheus­Mythos im aufklärerischen Denken und bei Friedrich Nietzsche . . . . . . . . . . . .

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ii. beiträge aus den arbeitskreisen arbeitskreis : aufklärung – epochen- oder menschheitsproblem? helmut seidel Projekt „Aufklärung am Ende?“ .

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arbeitskreis : nietzsches aufklärungsbegriff: kontinuität und wandel im laufe seines schaffens beatrix himmelmann Nietzsche und Kant als Aufklärer .

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Xlvii

Gesamtregister (Bde. I–XV) konstantin broese Nietzsches Verhältnis zur antiken und modernen Aufklärung. Aspekte ihrer Aneignung und Radikalisierung durch den frühen Nietzsche im Lichte unveröffentlichter Manuskripte . . . .

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matthew h. meyer Die drei Verwandlungen der Aufklärung von „Menschliches, Allzumenschliches“ bis zur „Fröhlichen Wissenschaft“ . .

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dirk solies Naturwissenschaften als Aufklärung? Am Beispiel von Nietzsches Physiologierezeption .

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arbeitskreis : nietzsches überwindung des traditionellen: aufklärung als kritik oder die fortsetzung der aufklärung mit anderen mitteln matthias kossler Ästhetik als Aufklärungskritik bei Schopenhauer und Nietzsche .

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volker caysa Nietzsches existentielle Wende der Aufklärung und der Kritik

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andreas hütig Selbstaufklärung in Geschichte. Kultur der Vernunft und historischer Sinn bei Kant und Nietzsche .

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gerald posselt Aufklärung als historische und rhetorische Kritik in Nietzsches „Zur Genealogie der Moral“ . . . . . . . . . . .

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stephan günzel ‚Unterirdische‘ Radikalaufklärung von Kant und Nietzsche. Ein Beitrag zur philosophischen Archäologie und ihrer Epistemologie

arbeitskreis : nietzsche heute und die dialektik der aufklärung oder von nietzsche zur dialektik der aufklärung christian schärf Zwischen „bios“ und „persona“. Nietzsches Dialektik der Aufklärung der Frau und die Stile des Philosophen vanessa vidal mayor Zweideutigkeit der Aufklärung: Nietzsche und Adorno

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martin g. weiss Wer ist Gianni Vattimos Nietzsches? .

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leon miodonski Nietzsche als Auslöser philosophischer Wandlungen in Polen

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Xlviii

Nietzscheforschung

arbeitskreis : bildung, aufklärung und kultur oliver immel Der Wanderer und der Eckensteher. Zum Verhältnis zwischen freiem Geist und kultureller Gebundenheit bei Friedrich Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . .

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christian benne Kanon und Autonomie in Nietzsches Aufklärung

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caroline heinrich Über die gegenwärtige Lage unserer Bildungsanstalten .

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hans-walter ruckenbauer Aufklärung und Tragik – Der Freigeist Paul Rée .

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Jörg lauster Aufgeklärtes Christentum? Nietzsches Kritik der theologischen Aufklärungsrezeption

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