Nietzscheforschung: BAND 10 Ästhetik und Ethik nach Nietzsche 9783050047300

Das Jahrbuch Nietzscheforschung versteht sich als Diskussionsforum für die internationale Nietzscheforschung. Es wird se

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Nietzscheforschung: BAND 10 Ästhetik und Ethik nach Nietzsche
 9783050047300

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Nietzscheforschung Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft Band 10

Ästhetik und Ethik nach Nietzsche

Nietzscheforschung Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft

Band 10

Ästhetik und Ethik nach Nietzsche Herausgegeben

Volker Gerhardt und Renate Reschke von

in Zusammenarbeit mit

J0rgen Kjaer Jacques Le Rider Annemarie Pieper Robert B. Pippin und Vivetta Vivarelli

Akademie Verlag

Die Drucklegung erfolgte mit Unterstützung der Landesregierung Sachsen-Anhalt (Regierungspräsidium

Halle)

Abbildung auf dem Einband: Totenmaske Friedrich Nietzsches,

Fotografin: Sigrid Geske, Stiftung Weimarer Klassik

Redaktion: Veit Friemert, Julia Niemann, Jana Swiderski

ISBN 3-05-003843-8

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2003 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der R. Das

Oldenbourg-Gruppe.

eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706.

Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. -

-

Satz: Veit Friemert, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad

Printed in the Federal Republic of Germany

Langensalza

Inhaltsverzeichnis

Siglenverzeichnis

.

9

I. Der Nietzsche-Preis Volker Gerhardt (Berlin) Laudatio auf Marie-Luise Haase und Michael Kohlenbach Anlässlich der Verleihung des Friedrich-Nietzsche-Preises des Landes Sachsen-Anhalt am 23. August 2002.

13

Marie-Luise Haase

„Nietzsche und ...".

II.

17

„Ethik nach Nietzsche"

Internationale

Tagung der Nietzsche-Gesellschaft, Naumburg (22.-25. August 2002) Gunter Gebauer Der Leib des Menschen nach dem Tode Gottes

.

Volker Gerhardt Genom und Übermensch Nietzsche in der biopolitischen Diskussion.

37

51

Inhaltsverzeichnis

6 Pirmin Stekeler-Weithofer Lebenswelt und Menschenzoo Nietzsches Ethik des Überstiegs zur authentischen Person

vom

Bedürfniswesen

.

Georg Pfleiderer Theologische Ethik nach Nietzsche. Zum ,Aristokratismus' protestantischer Ethik im 20. Jahrhundert.

65

81

Hansgeorg Schmidt-Bergmann „stählerne Mensch" Filippo Tommaso Marinettis Programm des italienischen Futurismus .101 Der

-

III. Menschliches, Allzumenschliches Hauptthemen und Forschungstendenzen -

10.

Nietzsche-Werkstatt, Schulpforta (11.-13. September 2002)

Britta M. Glatzeder Motive und Hintergründe von Nietzsches Metaphysikkritik.115 Matthew H.

Meyer

Menschliches, Allzumenschliches und der musiktreibende Sokrates

.129

Pawel Pieniazek Geschichte, Kultur und Lebenskunst in Menschliches, Allzumenschliches

...

139

Oliver Immel

„Wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge werden" Nietzsches Hinwendung zur „psychologischen Beobachtung" und deren Bedeutung für einen interkulturellen philosophischen Diskurs

....

149

Oliver Kloss Politische Ökonomie in kosmoästhetischer Absicht Nietzsches Bedürfnis-Konzept in Menschliches, Allzumenschliches.157

Inhaltsverzeichnis

7

Carolin von Roth Die Wanderung im Gebirge Die Rezeption eines zentralen Motivs bei Nietzsche in künstlerischen Konzepten .171 von Olaf Metzel, Wladimir Kuprijanow und Gerhard Richter Andreas Hütig Zwischen Barbarisierung und Vergeistigung Nietzsches Theorie der Moderne und seine These vom Ende der Kunst Marco Brusotti Sprache und Selbsterkenntnis Zu Nietzsches Aphorismus Elemente der Rache

(WS 33)

...

181

.193

IV. Aufsätze Steffen Dietzsch Ein Nomade in der Landschaft Zarathustras Oscar

Levy und der jüdische Nietzscheanismus

.205

Mirko Wischke Hat die Wissenschaft ihren Lebensnerv verloren? Friedrich Nietzsche über die Frage nach dem Wissenswerten

.227

Sören Reuter

Logik, Metaphysik, Täuschung

Zur Motivikonstellation der frühen Nietzsche-Rezeption in Afrikan Spirs Denken und Wirklichkeit .245 Renate Reschke Die verlorene Geliebte und ihr neues Domizil Friedrich Nietzsche über Religion und Kunst in der Moderne

Annemarie Pieper Das stille Auge der Ewigkeit Nietzsches dionysische Rechtfertigung der Kunst

.269

.287

Hans Gerald Hödl Italienische Städte: Orte in Nietzsches metaphorischer Landschaft Eine Annäherung .299

8

Inhaltsverzeichnis

V. Memorial Walter Schmithals Zum Gedenken an Wolfgang Müller-Lauter (31.8. 1924-9. 8. 2001) Zum ersten Jahrestag seines Todes.319

Wolfgang Müller-Lauter Über Ökonomie und Kultur bei Nietzsche

.327

VI. Rezensionen Thomas Keith: Nietzsche-Rezeption bei Gottfried Benn (Rüdiger Ziemann) 343 Klaus Gerhard Lickint, Nietzsches Kunst des Psychoanalysierens. Eine Schule für kultur- und geschichtsbewusste Analytiker der Zukunft .346 (Renate Müller-Buck) Friedrich Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Neunte Abteilung, Der handschriftliche Nachlaß ab Frühfahr 1885 in differenzierter Transkription, hg. v. Marie-Luise Haase und Michael Kohlenbach, 1.-3. Bd. (Stephan Günzel).348 .

Personenverzeichnis Autorenverzeichnis

.

.355

363

Siglenverzeichnis

Werkausgaben Werkausgaben nach den Kritischen Werk-/ Briefausgaben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York 1967ff und 1980. KGW KGB KSA KSB

Kritische Gesamtausgabe, Werke Kritische Gesamtausgabe, Briefe Kritische Studienausgabe, Werke Kritische Studienausgabe, Briefe

sowie nach der Historisch-Kritischen 1933ff. HKGW HKGB

Gesamtausgabe

Historisch-Kritische Historisch-Kritische

Werke bzw. Briefe, München

Gesamtausgabe, Werke Gesamtausgabe, Briefe

Siglen einzelner Werke AC BA CV DD

DS DW EH

Der Antichrist

Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten

Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern

Dionysos-Dithyramben

David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller

(Unzeitgemäße Betrachtungen 1) Die dionysische Weltanschauung Ecce homo

Siglenverzeichnis

10

FW GD GG GM GMD GT HL IM JGB M MA NF NW PHG

SE SGT ST VM WA WB

WL WS ZA WzM

Die Fröhliche Wissenschaft

Götzen-Dämmerung Die Geburt des tragischen Gedankens Zur Genealogie der Moral Das griechische Musikdrama Die Geburt der Tragödie

Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben

(Unzeitgemäße Betrachtungen 2) Idyllen aus Messina Jenseits von Gut und Böse

Morgenröthe Menschliches, Allzumenschliches (I und II) Nachgelassene Fragmente Nietzsche contra Wagner Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen Schopenhauer als Erzieher (Unzeitgemäße Betrachtungen 3) Sokrates und die griechische Tragödie Sokrates und die Tragödie Vermischte Meinungen und Sprüche Der Fall Wagner Richard Wagner in Bayreuth (Unzeitgemäße Betrachtungen 4) Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne Der Wanderer und sein Schatten Also sprach Zarathustra Wille zur Macht

I. Der Nietzsche-Preis

Volker Gerhardt Laudatio auf Marie-Luise Haase und Michael Kohlenbach Anlässlich der Verleihung des Friedrich-Nietzsche-Preises des Landes Sachsen-Anhalt am 23. August 2002

Wir wissen es sehr zu schätzen, dass auch in diesem Jahr der Nietzsche-Preis des Landes Sachsen-Anhalt vergeben werden kann. Das Land hat viele Sorgen, und die haben sich in diesen Tagen mit der Elbe-Flut noch um einiges vermehrt. Doch die Flut hat uns auf dramatische Weise gelehrt, wie eng die Rettung des bloßen Lebens und die Sicherung des Eigentums mit dem Schutz der kulturellen Güter verbunden sind. Selbst für die unmittelbar bedrohten Dresdner war vor einer Woche die schlimmste Meldung, dass die Rettungsmannschaften den Zwinger und die Semper-Oper aufgegeben haben. Nicht erst das „gute Leben", sondern schon die Wahrung einer menschlichen Lebensperspektive überhaupt ist mit der Entfaltung eigener Vorstellungen verbunden. Deren Fundament wird durch die Kultur gelegt; nur durch sie hat unser Dasein eine Perspektive. Deshalb sollte das Land auch durch den niedrigen Pegelstand in seiner Haushaltskasse keine Veranlassung sehen, auf die Vergabe des Nietzsche-Preises und des mit ihm im Wechsel vergebenen sächsisch-anhaltinischen Literaturpreises zu verzichten. Es ist heute das vierte Mal, dass der Nietzsche-Preis vergeben wird, und ich glaube, es war noch nie so leicht, die Preisträger zu benennen. Nicht, dass die drei Vorgänger extrem umstritten gewesen wären oder dass Zweifel an ihrer Kompetenz und Reputation bestanden hätten. Wir können vielmehr auch nach Jahren mit einigem Selbstbewusstsein auf die Reihe der 1996, 1998 und 2000 Geehrten zurückblicken: -

-

Wolfgang Müller-Lauter haben wir den Kärner der Nietzsche-Forschung geehrt, der mit Mazzino Montinari zusammen die wissenschaftliche Nietzsche-Forschung in Deutschland in Gang gebracht und sowohl mit den Nietzsche-Studien sowie mit den Monographien zur Nietzsche-Forschung die bis heute dominierenden Publikationsorgane geschaffen hat. In

-

-

Mit Curt Paul Janz haben wir den hingebungsvollen Biographen ausgezeichnet, der als Musiker und Baseler Stadtgeschichtier und somit als Dilettant in des Wortes schönster Bedeutung sein halbes Leben mit dem Tag für Tag erfassenden Nachvollzug von Nietzsches physischer und psychischer Wanderschaft verbracht und -

-

Volker Gerhardt

14

damit wesentlich dazu Daseins wissen.

beigetragen hat,

dass wir heute mehr über das Rätsel dieses

Schließlich war es wichtig und richtig in Rüdiger Safranski einen Essayisten zu würdigen, der auf hohem Niveau und mit sprachlicher Meisterschaft der Philosophie zu öffentlicher Aufmerksamkeit verholfen hat. Wie wichtig das in einer Zeit ist, in der sich die Philosophen hinter ihrer eigenen Geschichte verschanzen, ihre Probleme nach der Schulzugehörigkeit sortieren und selbst bei drängenden öffentlichen Fragen die Vernunft nur als Organ vornehmer Zurückhaltung gelten lassen, brauche ich nicht zu betonen. Der Zufall wollte es, dass Safranski wenige Wochen vor der Preisverleihung sein Nietzsche-Buch publizierte. Also war die Ehrung gleich doppelt gerechtfertigt. In dieser eindrucksvollen Reihe, die philosophische Interpretation, Autobiographie und geistvolle Breitenwirksamkeit umfasst, fehlte eigentlich nur noch die Würdigung jener Leistung, die uns Nietzsches Werk neu erschlossen und die Grundlage für die neue wissenschaftliche Wirksamkeit geschaffen hat. Das ist unzweifelhaft durch die Kritische Gesamtausgabe der Werke Friedrich Nietzsches erfolgt. Sie bietet uns erstmals eine verlässliche Textgrundlage zum Studium der Schriften, der Vorlesungen, der

-

Briefe und auch des handschriftlichen Nachlasses. Diese Ausgabe ist noch nicht abgeschlossen. Die Jugendschriften und einige Philologica fehlen, an den aufwändigen Kommentaren, wie im Augenblick an dem zur Morgenröthe, wird noch gearbeitet. Aber noch vor Abschluss der ursprünglich geplanten Edition haben sich die Herausgeber zu einer Neuausgabe der Notizbücher Nietzsches entschlossen. Das war eine schwierige und selbst unter den Beteiligten nicht unumstrittene Entscheidung. Auch ich habe zu den Skeptikern gehört, und dem Verlag Zurückhaltung empfohlen. Aber die beiden Mitarbeiter, die in Basel und Berlin die Verantwortung für die konkrete Arbeit trugen, haben sich leidenschaftlich für die seitengetreue Neuausgabe eingesetzt, haben den Verlag, die Herausgeber und am Ende auch die Nietzsche-Kommission der Akademie mit beharrlichem Werben von ihrem Vorhaben überzeugt. Und als sie sich dort endlich durchgesetzt hatten, traten unvorhergesehene sachliche Probleme auf. Ich erinnere nur an die bis in den Sommer 2001 offene Frage der elektronischen Erfassung der Originale. Sie kam dann buchstäblich in letzter Minute durch eine freundliche Kooperation mit dem Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar zustande. Als man dann jedoch im Herbst 2001 erstmals das Ergebnis, die ersten drei Bände der 9. Abteilung, sah, setzte die eigene Erinnerung sofort alles daran, die alten Bedenken zu überspielen. Denn es konnte nicht sein, dass man diese heute gar nicht mehr für möglich gehaltenen Preziosen der Buchdruckerkunst nicht von vornherein auch selbst gewollt hatte! Man erkannte ja schon mit Blick auf das Druckbild, dass hier eine editorische und drucktechnische Pionierleistung gelungen war, mit der dem armen Nietzsche die jahrzehntelange Misshandlung durch Verleger und Herausgeber wenigstens symbolisch abgegolten wurde. -

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-

-

Laudatio auf Marie-Luise Haase und Michael Kohlenbach

15

Natürlich ist mit der bloßen Vorlage der seitengetreuen Wiedergabe noch nicht entschieden, was dadurch für die philosophische Interpretation gewonnen ist. Aber dass auf diese Weise jedem Leser die Möglichkeit gegeben wird, einen Blick in Nietzsches mobile Schreibwerkstatt zu tun, dass wir mehr über die materialen Aspekte seiner Produktivität erfahren und schließlich auch erkennen, dass wir nunmehr eine höchst anschauliche Vorstellung davon bekommen, was es selbst bei einem großen Autor heißt, einen Text zu verfassen alles das gehört zu den preiswürdigen Leistungen der neuen Edition. Schließlich machen die jetzt vorliegenden Notizhefte klar, dass man sie nicht so einfach zitieren kann wie einen von Nietzsche in der Fahne korrigierten Druck. Diese Ausgabe ist zwar schon dabei, Nietzsche neue Leser zu erschließen; sie vermittelt eine detektivische Lust zu lesen; zugleich aber erhöht sie auch den Respekt vor jedem einzelnen Wort, das wir im Nachlass finden. Diese in jeder Hinsicht bewundernswerte Leistung verdanken wir, Sie ahnen es schon: Marie-Luise Haase und Michael Kohlenbach. Sie haben die Innovation zu verantworten, und sie haben sie auch eingelöst. Von der Entzifferung und der Zuordnung der Stellen, von der Deutung der verschiedenen Zeichen bis hin zu der exakten Phantasie des Layouts haben sie der Kritischen Gesamtausgabe zu einer neuen Geltung verholfen. Nach hundert Jahren Nietzsche-Forschung haben sie die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass wir schon durch die Lektüre einen kritischen Gewinn verbuchen können. Und sie haben, das kann man ebenfalls schon sagen, neue Maßstäbe für andere Nachlasseditionen gesetzt. Damit habe ich die Gründe genannt, die der Jury die Preisverleihung an Marie-Luise Haase und Michael Kohlenbach so leicht gemacht haben. Wir ehren eine Leistung, die in gemeinsamer Arbeit erbracht worden ist. Deshalb müssen es die beiden auch unter sich ausmachen, wie sie mit der Preissumme fertig werden. Es liegt in der Logik der Begründung für eine Teamarbeit, an der natürlich alle Mitwirkenden der Arbeitsstellen in Basel und Berlin ihren Anteil haben, dass wir den wissenschaftlichen Werdegang der beiden Preisträger nicht im Einzelnen vortragen. Dr. Michael Kohlenbach war seit 1982 wissenschaftlicher Assistent an der Universität Basel und ist seit 1988 im Nietzsche-Projekt des Schweizerischen Nationalfonds; von 1998 bis 2001 hat er die Projektgruppe geleitet. Er hat über Kafka, Büchner, Kleist, Celan und Ingeborg Bachmann publiziert und dann 13 Jahre seines Lebens ausschließlich Nietzsche gewidmet. Wir verstehen, dass er sich nun wieder anderen Aufgaben widmen will und ehren seinen großen Anteil an der Edition. Marie-Luise Haase ist erst nach einem fünfjährigen USA-Aufenthalt zum Studium nach Berlin gekommen. Drei Jahre hat sie im Schuldienst gearbeitet, ehe sie sich weiteren Studien widmete, die sie seit 1975 als Mitarbeiterin von Müller-Lauter in Verbindung mit der Nietzsche-Forschung gebracht haben. 15 Jahre lang war sie für die -

Nietzsche-Studien verantwortlich, und daneben arbeitete sie bereits seit 1979 für die Kritische Gesamtausgabe. Sie war Montinaris engste Mitarbeiterin, hat nach dessen Tod die Edition unter Leitung von Wolfgang Müller-Lauter fortgeführt. Jetzt hat sie die weiterhin auf ihr lastende Arbeit allein zu leisten. Wer immer es auch sein wird, der die Verantwortung für die Weiterführung des Berliner Teils der

16

Volker Gerhardt

Gesamtausgabe formell übernimmt: Er wird unter der Anleitung von Marie-Luise Haase tätig sein. Michael Kohlenbach wird es mir nicht übelnehmen, wenn ich abschließend feststelle, dass wir mit der Preisverleihung auch den glücklichen Umstand würdigen, dass Montinaris philologisches Genie in Marie-Luise Haases hingebungsvoller Beharrlichkeit die denkbar beste Fortsetzung gefunden hat. Denn die Nachlass-Edition haben beide zu gleichen Teilen bewältigt. Und so passt es gut sowohl zu Nietzsche wie auch zur Kritischen Gesamtausgabe, dass wir in diesem Jahr einem Team den Preis verleihen.

Marie-Luise Haase

„Nietzsche und ..."

„Ich kritzele auf meinen Wegen hier und da etwas auf ein Blatt, ich schreibe nichts am Schreibtisch, Freunde entzijfernmeine Kritzeleien. "

Es gibt in der Sekundärliteratur zu Nietzsche eine Vielzahl von Titeln, in denen sein Name mit dem Namen einer anderen Person durch ein „und" verknüpft wird, z. B.

„Nietzsche und Sokrates", „Nietzsche und Wagner", „Nietzsche und Heine", „Nietzsche und Leopardi", „Nietzsche und Lange", „Nietzsche und Emerson", „Nietzsche und Freud", und wie ich kürzlich in Wroclaw hörte, gab es dort einen Zeitungsartikel mit dem Titel „Friedrich Nietzsche und Kylie Minogue". Die Reihe könnte noch endlos

verlängert werden. Ich komme jedoch nun zum Titel meines Vortrags. Ich möchte Ihnen heute abend vom Alltag Nietzsches, dem Alltag des Schreibens, und von meinem Alltag, dem Alltag des Entzifferns, berichten. Mein „und"-Titel lautet deshalb: „Nietzsche und Ich"

Mazzino Montinari hat uns zusammengeführt, und Wir haben uns nicht gesucht dabei ist es geblieben Nietzsche schreibt. Ich entziffere. Nietzsche schreibt beim Spazierengehen oder am Schreibtisch sitzend. Ich entziffere am Schreibtisch sitzend. Nietzsche friert meistens, wenn er in seinem jeweiligen Zimmer(chen) am Schreibtisch sitzend schreibt. ...

...

'

anläßlich der Verleihung des Friedrich-Nietzsche-Literaturpreises des Landes Sachsen-Anhalt am 23. August 2002 in Naumburg. Dieses Briefexzerpt, das auch das Motto auf der Einladung zur Preisverleihung war, ist einem Brief Nietzsches an den Arzt Otto Eiser von Anfang Januar 1880 (KGB III 1, 4) entnommen.

Vortrag gehalten

Marie-Luise Haase

18

Ich friere fast immer, wenn ich im Goethe- und Schiller-Archiv entziffere, was Nietzsche geschrieben hat.

am

Schreibtisch sitzend

I. Nietzsches Briefe legen durch die Jahre chen, frostigen Zustand:

vielfältiges Zeugnis ab von diesem unerquickli-

„Ich sehe nach dem Thermometer im Zimmer: 8 Grad Reaumur [10° C, M.-L. H.]. Dabei schneidende Winde" (an Franziska Nietzsche, Sils-Maria, 24. August 1881, KGB III 1, 120)

„Gotthardreise eisig kalt, ohne Heizung. [...] Genua selber eisig-kalt [...] Mein Zimmer [in Porto fino, M.-L. H] eisig kalt." (an Franz Overbeck, Genua, 23. November 1882, KGB III 1, 279) „Kalt. Krank. Ich leide." (an Heinrich Köselitz, Genua, 23. November 1882, KGB III 1, 279) „Auch habe ich gefroren wie nie im Leben." (an Heinrich Köselitz, Rapallo, 3. Dezember 1882, KGB III 1,288) „Hier, ohne Ofen, durchfroren, mit blauen Händen, kann ich's schwerlich lange aushalten ich müßte mir denn einen Ofen anschaffen. [...] Alle Abende melancholisch [...] frostklappernd" (an Heinrich Köselitz, Sils Maria, 2. September 1884, KGB III 1, 525)

-

„denn mein Kunststück, um die letzten 10 Jahre durchzubringen, bestand in dem Sich-auf-Eislegen; [...] Nordzimmer, blaue Hände, nichts von Ofen, eiskalte Gedanken" (an Malwida von Meysenbug, Nizza, 13. Dezember 1886, KGB III 3, 290) „Ein Nordzimmer ohne Ofen: habituelle blaue Finger. Was habe ich in den 7 Wintern meiner Existenz im Süden schon gefroren!" (an Franz Overbeck, Nizza, 25. Dezember 1886, KGB III 3, 294) „Heute [...] schreibe ich nichts als ein Ofen-Briefchen: denn die Frage ist dringend. [...] mein Zimmer, Hochparterre, gegen Norden, macht mir blaue Finger" (an Franziska Nietzsche, Nizza, 31. Oktober 1887, KGB III 5,180)

„Eben merke ich, daß die Finger blau sind: meine Schrift wird nur dem erräthlich sein, der die Gedanken erräth ..." (an Heinrich Köselitz, Nizza, 26. Februar 1888, KGB III 5, 263) Ich sitze im Benutzerraum des Goethe- und Schiller-Archivs, inzwischen das 16. Jahr, davon einige Jahre nicht frierend und nach dem post-Wende-Einbau einer Klimaanlage viele Jahre sommers wie winters gleichmäßig frierend, da die Temperatur gleichmäßig kühl gehalten wird. Im dritten Teil von Also sprach Zarathustra im Kapitel „Auf dem Oelberge" verewigt Nietzsche seinen „Frost-Frust": -

-

„Der Winter, ein schlimmer Gast, sitzt bei mir Freundschaft Händedruck." (KGW VI 1, 214)

zu

Hause; blau sind meine Hände

Was tut Nietzsche gegen diese Unbilden? Wie setzt

er

sich

zur

von

seiner

Wehr gegen die

so

ab-

trägliche Wirkung dieses Gastes auf Leib, Seele und Gemüt? Ich lasse wieder seine Briefe sprechen, die überwiegend an seine Mutter, Franziska Nietzsche, gerichtet sind:

„Nietzsche und..."

19

Er fleht seine Mutter an -

wohlgemerkt im Juli!

: -

„Dann bitte ich um [...] 1 Paar wollne Strümpfe, [...] endlich ein Paar schwarze gestrickte recht lange Handschuh mit einem Daumen. Bitte bitte!" (an Franziska Nietzsche, Sils-Maria, 13. Juli 1881, KGB III 1, 104) Er bittet seine Schwester inständig:

„Ich friere

so:

Strümpfe!

Viele

Strümpfe!" (an

Elisabeth

Nietzsche, Sils-Maria,

21.

August

1881, KGB Uli, 120) In einen Dankesbrief verpackt, nach dem Erhalt der erbetenen Kleidungsstücke, kann Nietzsche einen versteckten Vorwurf an seine Mutter nicht unterdrücken:

„Die Strümpfe sind ein wahrer Schatz, ich sehe mich schon wieder die langen stillen Abende mit doppelten Strümpfen in der Kälte sitzen. [...] Die Handschuhe kommen sehr erwünscht, ein klein wenig allerdings post festum, denn ich habe schon ein erfrornes Fingerchen." (an Franziska Nietzsche, Sils-Maria, 21. September 1881, KGB III 1, 130f.) Der Mann ist zu diesem Zeitpunkt siebenunddreißig Jahre alt und macht seine Mutter verantwortlich für sein „erfrornes Fingerchen"!

„Dein Brief [...] traf mich tief eingeschneit, [...] das Zimmer sehr kalt. [...] Die Strümpfe scheinen mir besonders gut zu thun, sie sind warm und von guter Wolle." (an Franziska Nietzsche, Sils-Maria, 25. August 1887, KGB III 5, 135) Hören Sie ein

1883/84 malt: ca.

an

Zeugnis von Paul Lanzky3, einem Verehrer Nietzsches, mit dem er von einige Jahre in Verbindung stand, das diese Klagen wirkungsvoll unter-

„Er, der immer auf wollenes Unterzeug und Schlafröcke schimpft, trug so viel wollenes Zeug auf sich wie ein Einzelner nur tragen konnte und immer einen Schlafrock." Dazu noch ein Briefzitat Nietzsches an seine Schwester, Elisabeth Förster. Offenbar hatte ihr Mann, Bernhard Förster, vor ihrer Auswanderung in das warme Paraguay seinem Schwager Hemden vermacht! Nietzsche schreibt:

„Sage Deinem Bernhard [...], daß ich die wollenen Hemden sehr zu schätzen weiß (allerdings als Unterzieh-Hemden); denn ich habe diesen harten Winter, dank dieser Bekleidung, niemals eingeheizt und in summa doch weniger gefroren als in irgend einem Winter. -" (an Elisabeth Förster, Nizza, 12. März 1886, KGB III 2, 159f.) Was Nietzsches Gebrauch des „Schlafrocks" als negativer Metapher angeht, auf die Lanzky in seinem Bericht anspielt, lese man die entsprechende Stelle in Der Wanderer und sein Schatten, Aph. 99 nach, wo Nietzsche über Jean Paul sagt: „er war ein bequemer guter Mensch, und doch ein rock." (KGW IV 3, MA II, 234)

oder aber in

'

Carmen

Verhängniss, ein Verhängniss im Schlaf-

Götzendämmerung:

Kahn-Wallerstein, Aufzeichnungen von mit Paul Lanzky in der Zeit vom Gesprächen, KGB III 7/1, Berlin 2003, 1010.

in Lugano geßhrten

1.-15. duni 1933

Marie-Luise Haase

20

„Wie viel verdriessliche Schwere, Lahmheit, Feuchtigkeit, Schlafrock [...] ist in der deutschen Intelligenz!" (KGW VI3, „Was den Deutschen abgeht", 2, 98) Nichtsdestotrotz geht wieder ein Vorwurf an seine Mutter: wo bleiben denn meine Sachen? [...] bei diesem Froste war die Abwesenheit des Schlafrocks hart (ich habe mich folglich erkältet)" (an Franziska Nietzsche, Leipzig, 1. Oktober 1882, KGB III 1, 268)

„Aber, meine liebe Mutter,

Ein Schlafrock, den er in Venedig bei seinem Freund Köselitz vergessen hatte, und den dieser ihm in „überholtem" Zustande nachschickt, bereitet Nietzsche große Freude, der er wie folgt Ausdruck verleiht:

„Lieber Freund, großes Vergnügen über den neuherausgegebenen, verbesserten und vermehrten Schlafrock! Nein, was Sie mich beschämen! Ich vermißte nämlich dies Kleidungsstück täglich [...]. Trotzdem wagte ich nicht, mir ihn kommen zu lassen, weil ich mich seines entarteten Zustandes erinnerte [...]; auch bin ich noch nicht bescheiden genug dazu, meinen Stolz im Zur-Schautragen meiner Lumpen zu suchen. Ecco!" (an Heinrich Köselitz, Nizza, 2./3. November 1887, KGB III 5,183) Im August 1888 schwört er diesem „schlumpichten Gewände" ab, wie er dieses Kleidungsstück 1884 in dem Gedicht Beim Anblick eines Schlafrocks (KGW VII 3, 28[47], 26) genannt hat. Er läßt seine Mutter wissen: ist arg zerrissen und es scheint mir für einen Gelehrten, wie ich bin, schicklicher, wenn er keine Schlafröcke trägt. Der Naumburger Winterüberzieher wird wohl an seine Stelle rücken" (an Franziska Nietzsche, Sils-Maria, 22. August 1888, KGB III 5, 396) „- er

Was tue ich gegen diese Unbilden? Welche Strategien wende ich an, um den kalten Gast zu überlisten, der beim Entziffern mein ständiger Begleiter ist? Selbst wenn im Sommer Temperaturen von 30° C herrschen, beginne ich etwa eine Stunde nach Betreten des Archivs das sogenannte „Zwiebelsystem" anzuwenden, d. h. Jacken und Schals etc. übereinander anzuziehen, denen schließlich das unentbehrlichste Kleidungsstück folgt, das Nietzsche offenbar nicht besaß, jedenfalls erwähnt er es nie: Pulswärmer! Diese werden nicht brieflich herbeigefleht, sondern undramatisch in Basel erworben, wo die schöne alte Sitte des Strickens von Pulswärmern dort „Amadisli" genannt noch gepflegt wird. -

Wenn Nietzsche

am

-

Schreibtisch sitzt -

Nietzsche schildert in Schopenhauer als Erzieher am Beispiel eines Gelehrten, wie ein von Myopie geplagter Mensch (er selbst gehört in hohem Maße zu den Betroffenen), die Welt wahrnimmt: „[...] Scharfsichtigkeit in der Nähe, verbunden mit grosser Myopie für die Ferne und das Allgemeine. Sein Gesichtsfeld ist gewöhnlich sehr klein, und die Augen müssen dicht an den Gegenstand herangehalten werden. Will der Gelehrte von einem eben durchforschten Punkte zu einem andern, so rückt er den ganzen Seh-Apparat nach jenem Punkte hin." (KGW III 1, ÜB III, 391f.)

„Nietzsche und..."

21

Man stelle sich Nietzsche vor, extrem kurzsichtig wie er war, dicht über das Papier gebeugt, das vor ihm auf der Tischplatte liegt, irgendwo in Sils oder Nizza, in einem dunklen, kalten Zimmer, eingehüllt in mehrere Schichten Kleidung, darüber den Schlafrock bzw. den Winterüberzieher, wie er mit klammen Fingern seine Visionen von den Herren der Erde, vom Übermenschen und von einem Philosophen, der mit dem Hammer philosophiert, zu Papier bringt. Am adäquatesten und wohl auch am quälendsten hat Nietzsche seine Verfassung in einem Brief ausgedrückt: „- ich selber als Ganzes komme mir so oft wie der Krikelkrakel vor, den eine unbekannte Macht über's Papier zieht, um eine neue Feder zu probieren." (an Heinrich Köselitz, SilsMaria, Ende August 1881, KGB ffl 1,122)

Wenn ich

am

Schreibtisch sitze -

Man stelle sich meine Person vor,

weitsichtig wie ich bin, stundenlang in gekrümm-

ter, regloser Körperhaltung am Schreibtisch sitzend, in Wärmendes eingehüllt (jedoch ohne Schlafrock!), Sehhilfen wie Brille und Lupe vor der Nase, ihm Nietzsche hinterherlesend, hinterherschreibend, wenn auch mit einer Zeitverschiebung von ca. 125 Jahren, Millimeter für Millimeter, Spur für Spur, Buchstabe für Buchstabe, Wort für -

-

Wort, Satz für Satz, Seite für Seite kurz: „Krikel" für „Krakel", ihm auf den Fersen bleibend.

-

II. Nietzsches handschriftlicher Nachlaß Nietzsches Nachlaß befand sich bis 1896 im Haus der Mutter hier in Naumburg, Weingarten, wo Elisabeth Förster-Nietzsche 1894 das „Nietzsche-Archiv" gegründet hatte. 1896 verlegte sie ihren Wohnsitz und das Archiv nach Weimar (in die heutige ThomasMünzer-Straße). Nach dem Tod der Mutter, 1897, erfolgte der Wechsel in die Villa Silberblick, wohin Frau Förster auch ihren kranken Bruder mitnahm. Von dort fand der Nachlaß seinen Weg nach 1945 in das Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar, wo er bis heute aufbewahrt wird. Nietzsches Bibliothek wurde Bestandteil der Weimarer Herzogin Anna Amalia Bibliothek. In Nietzsches Nachlaß sind für die Zeit von 1870 bis Januar 1889 also für einen Zeitraum von knapp 20 Jahren in etwa folgende Bestände überliefert: 46 Notizbücher (über 5000 Seiten) 72 Hefte (über 10 000 Seiten) 32 Mappen mit Blättern unterschiedlichen Formats und Anzahl (grob geschätzt 2500 -

-

-

-

Blatt) Manuskripte der nachgelassenen Schriften (ca. 500 Blatt) eigenhändig geschriebene Druckmanuskripte (u. a. die letzten acht von Also sprach Zarathustra bis Ecce homo) einige tausend Briefe Nietzsche schrieb grundsätzlich alles in Notizbücher und Hefte. Alles, das heißt von Entwürfen, Um- und Ausarbeitungen, Reinschriften über Briefentwürfe und Nótate, die -

-

-

-

Marie-Luise Haase

22

seinem Alltag galten, z. B. Einkaufslisten, Hoteladressen etc. Davon ausgenommen ist eine im Verhältnis kleine Zahl von losen Blättern und natürlich die Druckmanuskripte. Die Notizbücher variieren im Format; das kleinste, etwa handtellergroß, misst gerade einmal ca. 8 x 13 cm, die größeren ca. 11 x 17 cm; die Arbeitshefte messen zwischen 17x20 und 21x31 cm. Bei den in Mappen gesammelten losen Blättern handelt es sich zum größten Teil um aus Notizbüchern und Heften herausgerissene Seiten und um Zettel unterschiedlichster Formate, Briefumschläge, Visitenkarten mit Notizen etc. Angesichts dieses umfangreichen Nachlasses wird verständlich, dass das Schreiben jeden Tag von Nietzsches Leben bestimmte, es machte sein Leben aus. So bezeichnet er sich selbst in einem Brief an seine Mutter vom 30. Januar 1886 als „das alte SchreibeThier" (KGB III 3, 144) und sein Leben als „ein rechtes Schreibthier-leben" (KGB III 5, 431, 14. September 1888). Und das war es auch und nicht viel mehr außerdem: ein Schreibthier-Leben. Neben dem Schreiben gab es für Nietzsche als einzige regelmäßige Betätigung stundenlanges Gehen, dabei möglichst kräftig ausschreitend, bevorzugt durch einsame waldreiche Gegenden. In Ecce homo führt er dazu aus: -

„So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien gebo-

ist und bei freier Bewegung, in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern. Alle Vorurtheile kommen aus den Eingeweiden. Das Sitzfleisch ich sagte es schon einmal die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist." (KGW VI 3, „Warum ich so klug bin", 1, 279) ren

-

-

-

-

In einem Brief an den Arzt Otto Eiser geht er so weit zu behaupten:

„Ich kritzele auf meinen Wegen hier und da etwas auf ein Blatt, ich schreibe nichts Schreibtisch" (Anfang Januar 1880, KGB III 1, 4)

am

Mit dieser Aussage webt Nietzsche an seiner eigenen Legende. Tatsächlich trägt er auf seinen Spaziergängen immer ein Notizbuch bei sich, in das er mit Bleistift seine Gedanken notiert. Wie elementar wichtig diese Hefte für ihn sind, drückt er in einem Brief an seine Schwester aus: mein liebes Lama, doch mit schönen Notizbüchern und lege eine Werkstatt dazu an ich brauche jährlich mindestens 4; feinstes, sehr starkes Papier (weiß), ungefähr 100 Blätter in jedem Buche. Wenn Du von Menschen hörst, die etwas mir zu Gefallen thun wollen heiße sie Notizbücher machen." (an Elisabeth Nietzsche, Mitte Juli 1881, KGB III 1, 108)

„Versorge mich, -

-

Das gewünschte Heftformat sollte so ausfallen, dass er es unterwegs bequem in die Jackentasche stecken konnte. Natürlich fand der weitaus größte Teil seines Schreibens eben doch am Schreibtisch statt, „vor dem Tintenfass, mit zusammengedrücktem Bauche" (KGW V 2, FW 366, 296). Es war noch ein langer mühsamer Weg, bis er mit der Ausformulierung der unterwegs im Notizheft festgehaltenen Gedanken zufrieden war. Denn, wie er in Der Wanderer und sein Schatten, Aph. 131 (KGW IV 3, MA II, 248)

sagt: „Den Stil verbessern das heisst den Gedanken verbessern, und gar Nichts weiter!" -

Sie können sich davon überzeugen, mit welcher Intensität Nietzsche an der Verbesserung des Stils gefeilt hat, wenn Sie nur einen Blick auf die Seite 151 des Notizheftes N

„Nietzsche und..." VII 1

aus

der Zeit

einzugehen.

23

April-Juni

III. Nietzsche schreibt

1887

(Abb.

I)4 werfen, ohne jetzt näher auf den Inhalt

Freunde entziffern -

Der folgende Aph. 126 aus Der Wanderer und sein Schatten beschreibt sehr zutreffend das Gefühl, das einen überkommt, sitzt man vor einer solchen gründlich überarbeiteten Seite und versucht, diese zu lesen. Nietzsche schreibt:

„Diese Gegend [hier sollte man vielleicht sagen: ,Diese Seite', M.-L. H] verbirgt ihren Sinn, aber sie hat einen, den man errathen möchte: wohin ich sehe, lese ich Worte und Winke zu Worten, aber ich weiss nicht, wo der Satz beginnt, der das Räthsel aller dieser Winke löst, und werde zum Wendehals darüber, zu untersuchen, ob von hier oder von dort aus zu lesen ist." (KGW IV 3, MA II, 246) Nietzsche selbst gibt uns einen Kanon von Ratschlägen für das „gute", das „richtige Lesen", der auf das gute und richtige Entziffern genauso zutrifft, und der von den Entzifferern täglich wie eine Litanei hergesagt werden sollte. So beschreibt er in der Vorrede zu Morgenröthe von 1886 die Tugenden des „vollkommenen Lesers" als die eines „Philologen" (im recht verstandenen Sinne):

„Philologie nämlich ist jene ehrwürdige Kunst, welche von ihrem Verehrer vor Allem Eins heischt, bei Seite gehn, sich Zeit lassen, still werden, langsam werden -, [...] sie selbst wird nicht so leicht irgend womit fertig, sie lehrt gut lesen, das heisst langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Thüren, mit zarten Fingern und Augen lesen..." (KGW V 1, 9)

-

oder in der Vorrede zu Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten: „auf keinen Fall [...] sich selbst und seine Bildung unausgesetzt dazwischen bringen [...], gleichsam als ein sicheres Maaß und Kriterium aller Dinge." (KGW III 2, 141 f.) und Nietzsche bringt genau auf den Punkt wieder in Bezug auf das Lesen! was auch beim Entziffern zu beherzigen gilt: ,

-

es

-

„Unter Philologie soll hier, in einem sehr allgemeinen Sinne, die Kunst, gut zu lesen,

verstan-

den werden, Thatsachen ablesen können, ohne sie durch Interpretation zu fälschen, ohne im Verlangen nach Verständniss die Vorsicht, die Geduld, die Feinheit zu verlieren. Philologie als Ephexis in der Interpretation" (KGW VI 3, AC 52, 231) -

Wird einer dieser Grundsätze vernachlässigt, sei es in einem Moment der Eile, der Zerstreutheit oder der Ermüdung, eine Sekunde Unaufmerksamkeit schon ist die Fehlentzifferung da: das Schreckgespenst, das uns nächtens heimsucht. Ich trage Ihnen sechs Beispiele dafür vor: 1. Nietzsche notiert sich in einem Notizheft auf einer Seite mit Gelegenheitsnotizen das Stichwort „Biscuit" in lateinischer Schrift, damit er nicht vergisst, im nächsten Brief an -

4

Die Abbildungen, die in diesem Band nur schwarz-weiß gezeigt werden können, sind in KGW IX und auf der beiliegenden CD mit den Faksimiles der Handschriften farbig.

Marie-Luise Haase

24

an seine Mutter, die meistens dafür zuständig waren, eine Bestellung „Biscuits" aufzugeben. Ein Leser, dem seine „Bildung dazwischenkam", las „Boscovich", den Namen eines Autors, mit dem sich sowohl Nietzsche als auch der fehlgeleite-

Overbeck oder

beschäftigt hatten. Dem entziffernden Philosophen war der Biscuit möglicherweise zu profan. Aber Nietzsche hatte einen empfindlichen Magen, an den er vielleicht mehr dachte als an den Physiker Boscovich. Erschwerend kommt bei den Gelegenheitsnotizen hinzu, dass oft ein klärender Kontext fehlt. 2. Eine umfängliche Kenntnis von Nietzsches Werk und Nachlass kann einerseits eine große Hilfe beim Entziffern sein, da man mehr oder weniger sein Vokabular im Hinterkopf hat, auf das man unwillkürlich zurückgreift. Paradoxerweise kann sich dies auch gerade als Störfaktor erweisen, wie im vorliegenden Fall. Nietzsche schreibt in der Ausarbeitung eines bereits vorhandenen Textes:

te Leser

-

-

„Was den pessimistischen Baudelaire betrifft, so gehört er zu jenen kaum glaublichen Amphibien, welche ebensosehr deutsch als pariserisch sind; seine Dichtung hat etwas von dem, was man in Deutschland Gemüth oder ,unendliche Melodie' und mitunter auch ,Katzenjammer' nennt." (KGW VU 3, 38[5], 329) Achten Sie auf die Formulierung „unendliche Melodie", an die sich die Worte „und mitunter Katzenjammer" unmittelbar anschließen. Der erste Entwurf zu dieser Stelle lautet in etwas vereinfachter Wiedergabe:

Baudelaire, ein Pariser mit .deutschem Gemüthe' [...] sogar mit der Wagnerschen Musik der .unendlichen Melodie' verwandt u ähnlichen Ursprungs" (KGW IX 1, N VII 1, 92)

u

Auf „unendliche Melodie" folgt hier „und ähnlichen Ursprungs". Dieser Ausdruck ist von Nietzsche mit kleiner, recht undeutlicher Schrift hinzugefügt und außerdem anschließend wieder durchgestrichen. Hier hat der Nietzsche-Kenner verleitet durch die Vertrautheit mit der ersten Textstelle das ihm von dort bekannte und noch dazu so einprägsame Wort „Katzenjammer" hineininterpretiert. Statt -

-

Wagnerschen Musik u der ,unendlichen zenjammer" (KGW VII 3, 38[5], 329) „sogar mit der

Melodie' verwandt

u

ähnlichem Kat-

lautet die Stelle: „sogar mit der

Wagnerschen

Musik

u

der

,unendlichen Melodie' verwandt

u

ähnlichen Ur-

sprungs" Wenn Sie dann im Nachbericht unter den Berichtigungen eine Angabe wie „ähnlichem Katzenjammer lies: ähnlichen Ursprungs" finden, ist das für den Leser kaum begreiflich. Dabei gibt es, wie Sie gehört haben, eine ganz plausible Erklärung dafür. 3. Ein merkwürdiges Phänomen stellt die Lesehemmung dar. Man sieht einen Schriftzug, über dessen Bedeutung gar kein Zweifel besteht, aber irgendetwas sträubt sich in der Wahrnehmung, das, was man da liest, zu akzeptieren. Ohne Schwierigkeiten lesen wir Verbindungen mit der Formel „Wille zur / Wille zum", die bei Nietzsche Legion

natürlich „Wille zur Macht", dann Wille Schönheit, Wahrheit, Wille zum Leben, zum Dasein, zum

sind: allen

voran

Dummheit, zur Blindheit, Untergang, Wissen, Glauben, zur

„Nietzsche und..."

25

Nichts, Leiden, Hässlichen, Unmäßigen und was es

sonst noch alles

ken wir im folgenden Notât bei der Formulierung am Schluss?

gibt. Warum stek-

Das ist nichts Einfaches, Elementares! Vielmehr ist eine Noth (Druck Drängen unterscheiden und ein aus Erfahrung bekanntes Mittel, dieser Noth abzuhelfen. Es entsteht so eine Verbindung von Noth und Ziel, als ob die Noth von vornherein zu jenem Ziele hinwolle. Ein solches Wollen giebt es gar nicht. ,Mich verlangt zu uriniren', ist ebenso irrthümlich als ,es giebt einen Willen zum Nachttopf." (KGW V 1, 5 [5], 51 lf.)

„Begierde! usw.)

zu

„Nachttopf gehört offenbar nicht in das Vokabular eines Philosophen, geschweige denn in eine philosophische Gedankenkette, noch dazu im Zusammenhang mit Nietzsches bedeutungsträchtiger Formel „der Wille zu ...". Auch hinsichtlich der Randglossen, die Nietzsche in seinen Büchern angebracht hat, haben wir uns an alle möglichen Kraftausdrücke gewöhnt, mit denen er gern die Autoren beschimpft, als da sind: Esel, Hornochse, Bock der Böcke etc., möglichst noch mit einem „Oh" davor: „Oh Esel!" Trotzdem ließ uns die folgende Glosse, die dem Buch von Rolphs Biologische Probleme5, das sich in Nietzsches Bibliothek befindet, entnommen ist, doch wieder ungläubig innehalten und stutzen. Auf Seite 185 dieses BuDas Wort

'

ches unterstreicht Nietzsche in dem Satz

„Das Fortpflanzungsgeschäft ist also kein altruistischer Process"

die drei Worte „kein altruistischer Process" und schreibt daneben

an

den Rand: „so

wenig als das Pissen". 4. Die nächste Fehlentzifferung fällt wohl in die Kategorie derer, die auf Ermüdungserscheinungen, kurzen Absenzen (Dämmerzuständen?) beruhen oder einem Zeitdruck anzulasten sind. Sie hören ein Notât von Juni/Juli 1885:

„Niemand kam je auf den Einfall, seinen Magen als einen fremden

etwa einen göttlichen Maverstehen: aber seine Gedanken als .eingegeben', seine Werthschätzungen als ,von einem Gott eingeblasen', seine Instinkte als Thätigkeit im Dämmern zu fassen: für diesen Hang und Geschmack des Menschen giebt es aus allen Altern der Menschheit Zeugnisse." (KGW

gen

zu

VII

3, 36[36], 289)

Vielleicht ist Ihnen in dieser Passage schon eine Formulierung aufgefallen, die sich etwas sperrig in dem Kontext ausnimmt? Es geht um die Formulierung „im Dämmern", die richtig lautet: „seine Instinkte als Thätigkeit von Dämonen zu fassen"

Wir, die wir täglich entziffern, lachen herzlich über diesen Fehler, nicht aus Bosheit, sondern einfach weil es komisch klingt. Das Merkwürdige daran ist, dass die Komik sich erst einstellt, wenn der Fehler entdeckt ist. Aber das Lachen bleibt uns gleichzeitig im Halse stecken, weil wir zu genau wissen, wie schnell eine falsche Entzifferung un-

terlaufen kann. Bei dem Wort „Dämonen" sind das „D" und das „ä" deutlich auszumachen, was auch für „Dämmern" zuträfe. Der Rest besteht eigentlich nur aus einer Anzahl von Bogen im Mittelband, von denen dann aber beim aufmerksamen Hinschauen William Henry Rolphs, nellen Ethik, Leipzig, 2.

Biologische Probleme, zugleich Auflage 1884, 185.

als Versuch

zur

Entwicklung einer ratio-

Marie-Luise Haase

26

einer der Bogen, so ungefähr in der Mitte, sich geringfügig zu einem „o" rundet. Das ist aber auch schon das einzige Unterscheidungsmerkmal beider Wortbilder. Konsequenterweise muß als unvermeidlicher Folgefehler das Wort vor „Dämonen" als „im" anstatt als „von" gelesen werden. Auch hier weichen die Wortbilder minimal voneinander ab: das deutlichste Indiz für „von" ist der fehlende i-Punkt, der aber auch sonst oft genug fehlt, und eine winzige Schrägstellung am Anfang des „v", die oft auf ein „w" oder „v" hindeutet. Es reicht in solchen Fällen ein Minimum an Plausibilität, um aufkommende Zweifel an der Richtigkeit der Entzifferung zu unterdrücken. 5. Ein nicht zu unterschätzender Nebeneffekt der Neuentzifferung für die IX. Abteilung ist die vollständige Revision der bisher edierten Texte. Daher ist es angezeigt, sollte man z. B. einem Gedankengebäude einen bestimmten Begriff zu Grunde legen, vorher in den Berichtigungen nachzusehen, ob sich an der betreffenden Stelle möglicherweise eine Korrektur findet. Ich will Ihnen nur zwei Beispiele nennen, die, wie sie unschwer erkennen werden, weitreichende Konsequenzen haben können. Besondere Vorsicht ist geboten bei einem völlig unverdächtig wirkenden Text, unverdächtig, weil er so gut wie keine Korrekturen aufweist, ein glatter Text, den man einfach so herunterliest ; gerade hier lauert das Verhängnis, weil das vertrauenerwekkend klare Schriftbild einen geringen Schwierigkeitsgrad suggeriert und folglich die Konzentration reduziert wird. Bei dem ersten Beispiel handelt es sich um den bekannten, viel zitierten und viel interpretierten Entwurf mit dem Titel „Der europäische Nihilismus.", von Nietzsche unterzeichnet mit „Lenzer Heide / den 10. Juni 1887". Im 6. Teil der 16 durchnumerierten Abschnitte heißt es: -

-

-

-

„Europäische Form des Buddhismus: Energie des Wissens und der Kraft zwingt zu einem solchen Glauben. Es ist die wissenschaftlichste aller möglichen Hypothesen. Wir leugnen SchlußZiele: hätte das Dasein eins, so müßte es erreicht sein." (KGW VIII 1, 5[71], 217) Nietzsche schreibt jedoch nicht „Energie des Wissens und der Kraft", sondern

„Energie des Stoffes und der Kraft". (KGW IX 3, N VII 3, 17) Diese Fehlentzifferung wurde 100 Jahre lang von Ausgabe zu Ausgabe tradiert. 6. Bei dem zweiten Beispiel handelt sich um einen Text, der in der 2. Auflage der Kompilation Der Wille zur Macht als „Aphorismus" 619 veröffentlicht wurde. Kaum ein Autor, der über die Thematik des „Willens zur Macht" geschrieben hat, hat diesen Text ausgelassen, von Heidegger bis Müller-Lauter über Gilles Deleuze. Letzterer bezeichnet in seinem Buch Nietzsche und die Philosophie6 dieses Notât als einen „der wichtigsten Texte Nietzsches, worin er zu erklären versucht, was er unter Wille zur Macht' versteht". ,

„Der siegreiche Begriff ,Kraft', mit dem unsere Physiker Gott und die Welt geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm eine innere Welt zugesprochen werden, welche ich bezeichne als ,Willen zur Macht', d. h. als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht;"

Gilles Deleuze, Nietzsche et la philosophie, Paris 1962; hier zitiert nach der Übersetzung Schwibs, Nietzsche und die Philosophie, München 1985, 56.

von

Bernd

„Nietzsche und..." An einer falschen

27

Entzifferung in dieser Passage und deren Korrektur entzündeten sich um die Wortfolge, die von Peter Gast als „ein innerer Wille"

Diskussionen, nämlich

gelesen, und die erst durch Montinari 1974 mit dem Erscheinen von KGW VII 3 (36[31], 287) zu „eine innere Welt" korrigiert wurde. Ich möchte hier jedoch auf eine andere Stelle hinaus, deren Korrektur möglicherweise in ähnlichem Maße Gedankengebäude zu Fall bringen wird, weil sie auf einer Fehlentzifferung beruht. Gast las und druckte, wie oben zitiert:

„Der siegreiche Begriff,Kraft', mit dem unsere Physiker Gott und die Welt geschaffen haben"

„Gott und die Welt" ist ein so geläufiger, dass bei den früheren Heraushinsichtlich dieser Entzifferung kein Hauch von Zweifel aufgekommen ist. Auch gebern KGW liest in Übereinstimmung mit Gast, merkt aber im Nachbericht (KGW VII 4/2, 413) an, ohne jedoch aus diesem Indiz eine Konsequenz zu ziehen, dass Nietzsche wohl versehentlich im Manuskript „geschafft" geschrieben hat. Aber Nietzsche schreibt und meint „geschafft", nämlich: Der Ausdruck

„Der siegreiche Begriff,Kraft', mit dem unsere Physiker Gott aus der Welt geschafft haben"7

„Gott und die Welt geschaffen" oder „Gott aus der Welt geschafft"! Einerseits hat die Alltäglichkeit der Redewendung „Gott und die Welt" diese Fehlentzifferung ausgelöst, andererseits Nietzsches fast kürzelhafte Schreibweise von Präpositionen, Bindewörtern, Artikeln etc. Die Wörter „und" „uns" „was" „wir" „wird" und auch „aus" können oft identisch aussehen. Da dann einzig der Kontext über die Bedeutung entscheidet, ist es besonders wichtig, erst einmal an dem festzuhalten, was man deutlich lesen kann: in diesem Fall

IV. Die

an

dem Wort „geschafft".

neue

Abteilung IX der KGW: die Heftedition

1. Nach den Ausführungen zum Entziffern möchte ich Ihnen noch zwei Seiten aus eiHeft der Abteilung IX, der heute thematisierten Edition zeigen, um denjenigen unter Ihnen, die sie noch nicht kennen, einen kleinen Eindruck davon zu vermitteln. Die erste ist die oben bereits genannte Seite 151 aus dem Heft N VII 1, und zwar einmal Nietzsches Handschrift (Abb. 1) und deren Transkription (Abb. 2). In Sils-Maria hatte sich eine Bekannte Peter Gasts, Louise Röder-Wiederhold, bereit erklärt, für Nietzsche zu schreiben. Er diktierte ihr nach der Vorlage der ersten Niederschrift unter Berücksichtigung der von ihm dort eingefügten Korrekturen (N VII 1, 151, Abb. 1 und 2). Sie schrieb das Diktat in ein großformatiges Arbeitsheft (W I 6), und zwar immer die rechte Seite beschriftend, damit Nietzsche die linke Seite für anschließende Korrekturen und Erweiterungen zur Verfügung hatte. Beim Diktieren übernahm Nietzsche viele seiner Korrekturen aus der ersten Niederschrift, so dass diese dem Endresultat des Diktats im wesentlichen gleicht, was eine Kollationierung der diktierten Fassung (s. unten) mit der ersten Niederschrift (Abb. 2) deutlich macht. nem

7

Heft W14, 26.

Marie-Luise Haase

28

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Abb. 1

l

' Emanzipation

30

Marie-Luise Haase „In der That, alle Welt jammert heute darüber, wie schlimm es früher die Philosophen gehabt hätten, eingeklemmt zwischen Scheiterhaufen, schlechtes Gewissen und anmaß [auf S. 163: liehe Kirchenväter-Weisheit, M.-L. H.]: die Wahrheit ist aber, daß eben darin immer noch gün-

stigere Bedingungen zur Erziehung einer mächtigen, umfänglichen, verschlagenen und verwegen-wagenden Geistigkeit gegeben waren als in den Bedingungen des heutigen Lebens. Heute hat eine andere Art von Geist, nämlich der Demagogen-Geist, der Schauspieler-Geist, vielleicht auch der Biber- und Ameisen-Geist des Gelehrten für seine Entstehung günstige Bedingungen. Aber um so schlimmer [...]" ( KGW VII 3, 37[14], 315f.) Da KGW im Nachbericht erklärtermaßen nicht alle Varianten verzeichnet, entschieden die

Herausgeber, wahrscheinlich

vermeiden, wegen der großen 1, Abb. 2) nur die erste Fassung als Fragment 34[38] zu veröffentlichen, ohne die Korrekturen lemmaum

Doppelungen

zu

Übereinstimmung der beiden Texte, von der ersten Niederschrift (N VII

tisch im Kritischen Apparat des Nachberichts nachzuweisen. Sie vermerkten lediglich als (KGW VII4/2, 337) Kommentar zu diesem Fragment: „von N zu 37[14] umgearbeitet [...]; unser Text gibt die erste Fassung wieder". Diese erste Fassung lautet wie folgt: „Man klagt, wie schlimm

es bisher die Philosophen gehabt haben: die Wahrheit ist, daß zu allen Zeiten die Bedingungen zur Erziehung eines mächtigen verschlagenen verwegenen unerbittlichen Geistes günstiger waren als heute. Heute hat der Demagogen-Geist, wie auch der Gelehrten-Geist günstige Bedingungen. Aber man sehe doch unsere Künstler an: ob sie an einer Zuchtlosigkeit fast nicht alle zu Grunde gehen. Sie werden nicht mehr tyrannisch [lies: tyrannisirt, M.-L. H], so lernen sie auch nicht mehr, sich selber tyrannisiren. Wann war das Weib so gering, wie heute! Alles wird schwächer, weil Alles es bequemer haben will. Ich bin durch die härteste Schule körperlicher Schmerzen gegangen: und das Bewußtsein, darunter mich selber festgehalten zu haben und schweigsam -" (KGW VII 3, 161) -

Durch die editorische

Entscheidung,

nur

die erste

Fassung der

ersten

Niederschrift

zu

veröffentlichen, gehen jedoch Informationen verloren, über deren Stellenwert man sich streiten kann: manche werden sie für absolut entbehrlich halten, andere dagegen als

absolut unverzichtbar. Einige davon möchte ich aufzeigen: z. B. verwirft Nietzsche beim Diktat (37[14]) die Zeilen 23, 25, 36-37, 43, 44 (Abb. 2), d. h. sie blieben bisher unveröffentlicht: Die Phil, ist heute unmännlich: Z. 23: Z. 25: es verliert seine Klugheits-Instinkte wie es am meisten wohl das Verlangen Z. 36: nach „gleichen Rechten mit dem Manne Z. 37: nachEm.be Z. 43: weist Z. 44 Eine „Information", die ich persönlich für „unverzichtbar" halte, die wir mit der Heftedition vor dem endgültigen Verlust haben bewahren können, ist das von mir so geschätzte „e" des Bibers. Ich will Ihnen darlegen, was es damit auf sich hat. Nietzsche ist während der beiden Korrekturgänge (mit schwarzer und violetter Tinte) nichts an dem Wort „Biber" aufgefallen. Beim 3. Durchgang stutzt er plötzlich wir wissen nicht genau, was ihn überkam auf alle Fälle fügt er dem Wort „Biber" mit Bleistift nach dem „i" ein „e" hinzu, zwar sehr klein, aber deutlich genug (Abb. 1 und 2, Zeile 13). -

-

-

„Nietzsche und...

"

31

Der Name des Bibers wurde so, wie der Name Abrams, nachdem Jahwe ihm die Geburt eines Sohnes verheißen hatte, um einen Buchstaben vermehrt: Abram heißt von Stund an Abraham und der Biber „Bieber". Als Nietzsche Frau Röder-Wiederhold diktierte, hat diese das gerade gewonnene „e" nicht geschrieben man kann es beim Diktieren des Wortes „Bieber" ja nicht hören, so dass der Biber den eben erworbenen Buchstaben gleich wieder verliert. Jetzt ergeht es ihm wie Sara, deren Name nach eben jener Verheißung um einen Buchstaben verringert wird, nämlich um das „i" nach dem letzten „a", und die von nun an Sara statt Sarai heißt. So heißt der „Bieber" plus minus wieder „Biber". Das transitorische „e" des Bibers wäre der Nachwelt vorenthalten geblieben, wenn wir nicht zu seiner Rettung angetreten wären! Über den Stellenwert dieser winzigen Verschlimmbesserung Nietzsches kann man nicht einmal streiten, mich hat sie zumindest erheitert. -

-

-

-

-

2.

Kaleidoskop von Nietzsches Alltag

Zurück zu Nietzsches Alltag: In fast allen Notizbüchern benutzt er die Innendeckel oder die ersten und letzten Seiten für sogenannte „Gelegenheitsnotizen". Es handelt sich dabei, wie oben schon erwähnt, um Stichpunkte zu Briefen, Adressen, Buchtitel, Zugverbindungen, Rezepturen etc. Einen solchen beschriebenen Innendeckel des Heftes N VII 3 (KGW IX 3, 1), das Nietzsche von Sommer 1886 bis Herbst 1887 benutzte, sehen Sie in Abb. 3. Solche Seiten bergen eine wahre Fundgrube biographischer Details. Sie sind wie ein Mosaik von Nietzsches Alltag, einem sehr mühsamen Alltag, den er, man ist versucht zu sagen „tapfer" und manchmal mit Humor zu bewältigen trachtete. Im folgenden möchte ich Ihnen, unter Bezugnahme auf die Zeilenzählung der Transkription (Abb. 4), eine Auswahl der Nótate Nietzsches durch Belegstellen in seinen Briefen erläutern: „Nun schreibt er [Dr. Heinrich Adams, M.-L. H.] heute von Zürich (Seilergraben 29, 2)" (an Erwin Rohde, Chur, 12. Mail887, KGB III 5, 72) Z. 24: „Die Leipziger Buchhändlermesse hat mir ein lehrreiches Resultat abgeworfen. [...] Es sind überhaupt nur 114 Exemplare [von Jenseits von Gut und Böse, M.-L. H] verkauft worden (während allein 66 Exemplare an Zeitungen und Zeitschriften verschenkt worden sind)" (an Heinrich Köselitz, Chur, 8. Juni 1887, KGB m 3, 87) Z. 2-18: „In Chur habe ich Kleidung, Wäsche (Hemden, Strümpfe, Stiefeln usw.) revidirt und ausbessern lassen: so daß ich jetzt wieder hübsch in Ordnung bin." (an Franziska Nietzsche, Sils-Maria, 25. Juni 1887, KGB III 5, 99) Z. 13-15, 48: „Seit drei Monaten fehlt mir Thee, der mir zuträglich ist. Der einzige Thee, zu dem ich Vertrauen habe [...], ist der englische Thee Horniman, den man in Basel haben kann [...]. Es giebt Blechbüchsen von ein Kilo Inhalt, zum Preise von 12 ffs: darf ich um die Zusendung einer solchen Büchse ersuchen?" (an Franz Overbeck, Sils-Maria, 30. Juni 1887, Z. 8-12:

KGB III 5,

104)

Marie-Luise Haase I

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22: lästern lernen] ? 30: Lendi] Vk mit schwarzer Tinte 41: Bahnhofst] nach Textverlust: Bahnhofs 45. 7)1 nach Textvertust: 7

Abb. 4

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12 frs.

Marie-Luise Haase

34

Z. 20: „Endlich: aus der Apotheke in der Herrenstraße 100 gramm Rhabarber in Stücken." Franziska Nietzsche, Sils-Maria, 12. August 1887, KGB III 5, 126)

(an

Nach dem Erhalt der Sendung schreibt er: „Auch der Rhabarber sieht recht vertrauenerweckend aus" (an Franziska Nietzsche, SilsMaria, 19. August 1887, KGB III 5, 133) Hinter dem Stichwort „Hut" verbirgt sich folgender Tatbestand: Z. 16: „Ich sehe meinen betrübten und entarteten Hut vor mir; dabei fällt mir ein, daß ich voriges Jahr bei meinem Besuch Ihrer hübschen Höhle einen alten Hut von mir wiederfand, den einzigen, den ich bisher gern getragen habe (er war von Ihnen ausgewählt) Er schien mir noch restaurationsfähig (zu waschen, eventuell zu färben)" (an Heinrich Köselitz, Sils-Maria, 11. September 1887, KGB III 5, 148)

Nietzsche teilt Köselitz außerdem mit, dass er sogar schon bei seinem vorigen Aufenthalt in Venedig mit einem Hutmacher „in der kleinen piazza, wo Goldoni steht, vor der Rialtobrücke" wegen des Hutes verhandelt hatte. Ein schier unerschöpfliches Thema zwischen Nietzsche und seiner Mutter dreht sich Wurst und Schinken:

um

Z. 35^41 : „Was die Schinken betrifft, so fiel mir die Anzeige eines Züricher Geschäfts in die Hand, das als ,Gothaische Wursthandlung' sich bezeichnet. Es empfiehlt seine ,Thüringer Milchschinklï (ohne Fett, Knochen und Schwarte): sollte das nicht eben unsere Art Schinken sein?" (an Franziska Nietzsche, Sils-Maria, 17. Juli 1888, KGB III 5, 357)

Einen Monat später schreibt Nietzsche an seine Mutter: „Dabei fällt mir das Wort ,M7c/¡schinkli' ein: es ist die reine Ironie auf diese versalzene Sache" (an Franziska Nietzsche, Sils-Maria, 24. Juli 1888, KGB III 5, 366) Keinen unmittelbaren Zusammenhang mit den Notaten auf dieser Seite hat das folgende Briefexzerpt Nietzsches an seine Mutter (KGB III 5,333). Warum ich es dennoch verlese, wird Ihnen sofort deutlich werden: „Du hast vielleicht nicht mehr im Gedächtniß, was ich von Turin aus schrieb. [...] Im vorigen Sommer habe ich ihn aus Basel, aus Zürich, aus St. Gallen und anderswoher bezogen, mit al-

lerhand Verdruß und Enttäuschungen: so daß ich's nicht wiederholen will. [...] Da mein Sommer die Länge von 4 Monaten ungefähr hat, so brauche ich mindestens noch 12 Pfund 6 Kilo Lachsschinken." =

Mit Emphase fordert er: „Ich will dies Mal meinen ganzen Bedarf"von Schinken aus Naumburg haben." Ich schließe mit einem Seufzer Nietzsches, der wohl all seinem Geschriebenen und erst recht all seinem Gekritzelten gilt (KGW V 1, 2[32], 368): „Wer wird das lesen wollen! Gott weiß es nicht, ich auch nicht."

II.

„Ethik nach Nietzsche"

Internationale Tagung der Nietzsche-Gesellschaft,

Naumburg (22.-25. August 2002)

Gunter Gebauer

Der Leib des Menschen nach dem Tode Gottes

Tanzen ist in Nietzsches Denken eine leibliche Quelle der Inspiration. In den Tanzbewegungen wirft der Denker seine Schwere ab; sein Leib wird leicht und schwingt sich in die Höhe. Mit seinem Tanzen bereitet er seinen Flug vor. Denn Philosophie ist, fliegen lernen. Welchen metaphorischen Sinn haben diese Worte? Dies ist eine klassische Philosophen-Frage. Sie unterstellt, dass, wo immer in der Sprache Metaphern auftreten, ihre Bedeutungen nicht anders als metaphorisch sein können, im Unterschied zu buchstäblichen Bedeutungen. Nicht so bei Nietzsche; seine Sprachtheorie kennt Bilder und Metaphern, aber sie macht nicht die Unterscheidung Die Welt wird von der Sprache von buchstäblichen und metaphorischen weder abgebildet noch auf irgendeine Weise sprachlich erfasst. Unser symbolisches Welterzeugen, unsere ways of worldmaking insgesamt sind nur zur Interpretation der Welt fähig, zu nicht mehr und zu nicht weniger. Aber die Interpretation ist eine Weise der Bemächtigung der Welt: Sie dringt in die Dinge ein und formt sie von Innen her; sie gestaltet sie nach ihrem Willen. Bilder und Metaphern sind symbolische Formen, mit denen wir in der Welt handeln. Sie erzeugen ihre eigene Wirklichkeit, insbesondere an dem Ort, wo sie entstehen: im Leib des handelnden Menschen. Sprache und Leib bilden in Nietzsches Denken keine getrennten Bereiche. Sie gehen ineinander über; sie bilden ein Austauschsystem, in dem sie ihre Eigenschaften vermischen und gegenseitig steigern. Aus ihren ineinander verschlungenen Aktivitäten geht ein gemeinsamer Leib hervor: ein Sprachleib ein von Sprache durchdrungener Leib und eine verleiblichte Sprache. Unsere sprachlichen Tätigkeiten, wie Lesen, Sprechen, Hören, sind nicht rein geistiger Art; wir vollziehen sie in leiblichem Umgang mit der Sprache. Sie haben die Form eines Tastens, Berührens, Hin- und Herbewegens, Suchens und Findens. „Gut lesen, wie es die Philologie lehrt, heisst langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offengelassenen Thüren, mit zarten Fingern und

Bedeutungen.1

-

Vgl.

Nietzsche frühe

fragmentarische Formulierung

seiner

Sprachtheorie,

späteren Werken nicht aufgegeben hat: Ueber Wahrheit und Lüge KSA, WL, 1, 873-890.

die

er

auch in seinen Sinne, in:

im aussermoralischen

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Augen lesen ..."2. Der Leib bringt Bilder und Metaphern hervor und wird von ihnen durchdrungen und verändert. Er befindet sich nicht diesseits der Sprache er bildet zugleich ihre Herkunft und ihr Produkt, ihr Subjekt und Objekt. -

Im Prozeß des Lesens und Schreibens verändert Nietzsche seine leibliche Konstitution; er bildet sich einen neuen Leib, aber keinen mit übermenschlichen Kräften ausgestatteten göttlichen oder heroischen Körper. Er ist nach wie vor der irdische Leib des Menschen Nietzsche; in ihn sind die Worte, Bilder, Energie und die Kraft seiner Sprache eingedrungen. Sein Leib und seine Sprache entwickeln sich gemeinsam, stärken sich gegenseitig, so dass sie ihn fähig machen, hoch zu fliegen. In der Rede „Vom Lesen

und Schreiben" sagt Zarathustra: „Auf, lasst uns den Geist der Schwere tödten!

Ich habe gehen gelernt: seitdem lasse ich mich laufen. Ich habe fliegen gelernt: seitdem will ich nicht erst gestossen sein, um von der Stelle zu kommen. Jetzt bin ich leicht, jetzt fliege ich, jetzt sehe ich mich unter mir, jetzt tanzt ein Gott durch

mich."3

Sprache gibt die Impulse; sie macht den Leib leicht, läßt ihn hochfedern: ,jetzt jetzt jetzt". Es ist eine energetische Sprache, die auf Veränderung drängt; zugleich ist sie die höchste Form der Zeitkomprimierung. „Das Wort jetzt' wirkt gleichsam als Schlag eines Zeitmessers." Wittgenstein will, indem er den Jetzt-Impuls gibt, seinen Leser verändern; diese Aufforderung geht auch von Nietzsches Sprache aus: Jetzt geht in die Kälte der großen Höhe, wo Leib und es hoch über den alten Menschen hinaus Geist die höchste Aufnahmefähigkeit erreichen. Am Anfang des Werks steht die Mühsal des Schreibens und Denkens, sie ist Arbeit in der Tiefe der Erde. Von einer maulwurfsartigen Wühlarbeit spricht Nietzsche am Beginn der Morgenröthe: „In diesem Buche findet man einen ,Unterdirdischen' an der Arbeit, einen Bohrenden, Grabenden, Untergrabenden. Man sieht ihn, vorausgesetzt, daß man Augen für solche Arbeit der Tiefe hat -, wie er langsam, besonnen, mit sanfter Die

...

...

-

Unerbittlichkeit vorwärts kommt, ohne daß die Noth sich allzusehr verriethe, welche Licht und Luft mit sich bringt; man könnte ihn selbst bei seiner dunklen Arbeit zufrieden nennen".6 Es ist, wie Kafkas Wesen des Untergrunds in der Erzählung Der Bau sagt, „allerschwerste Arbeit meines Körpers in allen seinen Teilen", eine Arbeit mit dem Kopf, die leiblich vollzogen wird.7 Nach dem Gang in den

jede lange Entbehrung von

2

3 4

5

6

Friedrich Nietzsche, Morgenröthe, Vorrede, KSA M, 3, 17. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, KSA, ZA, 4, 49f. Vgl. Gaston Bachelard, „Nietzsche et le psychisme ascensionnel", in ders., L'air et les songes. Essai sur l'imagination du mouvement, Paris 1943. Ludwig Wittgenstein, Typescript 211, 372; zitiert nach Chris Bezzel, „Wahrnehmung, Sprache, Zeit. Zur Philosophie von Ludwig Wittgenstein", in: Kodikas /Code. Ars Semeiotica, 1996, 19, 1-

2, 64-73. Friedrich Nietzsche, Morgenröthe, a. a. O., 11. Franz Kafka, „Der Bau", in: ders., Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa, hg. v. Roger Hermes, Frankfurt/M. 1996, 465-507. Kafka beschreibt die Kopfarbeit seines unterirdischen Wesens wie folgt: „Für eine solche Arbeit aber habe ich nur die Stirn. Mit der Stirn also bin ich tausend und tausend mal tage- und nächtelang gegen die Erde angerannt, war glücklich wenn ich sie

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Untergrund, in die Fundamente und geheimen Tunnel kommt bei Nietzsche, anders als bei Kafka, der Aufstieg nach oben, ans Licht, an die frische Luft, in die Kälte und Klarheit der Höhe. Das geschriebene Werk besitzt eine eigene Körperlichkeit es ist viel

ein Text aus Buchstaben mit einem zu entschlüsselnden Sinn es ist „eine glühende und verkohlende Rolle" eine Fackel in Potenz, ein aufbewahrtes Feuer. Nietzsches Sprache wird von Taten bewohnt; sie ist in Bewegung und setzt in Bewegung. Leichtigkeit ist eine der Eigenschaften des Leibes, die man mit Hilfe der Sprache erwirbt. Man könnte die Fähigkeit der Sprache, leibliche Eigenschaften hervorzubringen, als „performativ" bezeichnen9 aber dies würde zu kurz greifen. In performativen Akten wie man sie gewöhnlich nach Austin versteht werden Handlungsergebnisse allein durch Sprechen erreicht. Eine performative Äußerung vollzieht genau die Handlung, die von ihr ausgesprochen wird: „Ich taufe das Schiff auf den Namen ,Erika'" das Aussprechen dieses Satzes vollzieht den Taufakt, ohne den Umweg über praktisches Handeln zu nehmen. Die Sprache hat das Handeln in sich aufgenommen, so dass es nicht mehr anders als im Sprechen geschieht: Während die konkrete körperliche Handlung aus der Praxis verschwunden ist, hat die Sprache ein Aktionspotential dazugewonnen und stellt dieses den Sprechenden zur Verfügung. Bei Nietzsche ist das Verhältnis zwischen Sprechen und Handeln anders geordnet als bei den performativen Ausdrücken: Sein Sprechen erzeugt Handeln, anstatt die Handlungsebene zu überspringen: Die Metaphern der Sprache werden aus ihrem Zustand der Starre gelöst, das in ihnen enthaltene Handlungspotential in einem leiblichen Geschehen freigesetzt und ihm auf diese Weise die Möglichkeit zur Entfaltung ihrer Kraft gegeben. So spricht Nietzsche fast nie in Begriffen und in einer abstrakten Philosophensprache, sondern verfahrt umgekehrt: Er formt seine Gedanken, die ein Philosoph als Argumente konstruieren und ausformulieren würde, zu Metaphern von Ereignissen aus. Er lässt seine Leser körperliche Handlungen in ihrer sinnlichen Fülle sehen. Was dabei entsteht, ist mehr als ein poetisches Sprechen, insofern das in den Metaphern enthaltene und jetzt freigesetzte Handlungspotential im Sprecher und Hörer (oder Schreiber und Leser) eine leibliche Wirksamkeit entfaltet und beide verändert. Während die Sprache in ihrem performativen Gebrauch der körperlichen Praxis eine spezifische Kapazität entzieht und in ihren Speichern aufbewahrt, erhält der Leib in Nietzsches Sprachgebrauch ein neues mehr als

-

nur

-

,

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-

-

-

Handlungspotential. Aus dem untergründigen Wühler und Arbeiter zu Beginn des Texts der Morgenröthe ist an seinem Ende ein „Luft-Schifffahrer des Geistes" geworden. Er fliegt jetzt in der Höhe, über den Dingen und redet nicht mehr als Einzelmensch, sondern als ein „Wir": „Wir Luft-Schiftfahrer des Geistes! Alle diese kühnen Vögel, die in's Weite, Weiteste hinausfliegen, gewiss! irgendwo werden sie nicht mehr weiter können und sich auf einen Mast oder eine kärgliche Klippe niederhocken und noch dazu so dankbar für -

-

-

mir 8

blutig schlug,

ebd.)

denn dies

war

ein Beweis der

beginnenden Festigung

der Wand ..."

(F. Kafka,

Friedrich Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, KSA, FW, 3, Aphorismus 568. Vgl. zur aktuellen Diskussion dieses Begriffs den Band „Kulturen des Performativen" der Zeitschrift Paragrana, Bd. 7, 1, 1998, hg. von Erika Fischer-Lichte und Doris Kolesch, darin die Aufsätze von Sybille Krämer und Ekkehard König.

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diese erbärmliche Unterkunft! Aber wer dürfte daraus schliessen, daß es vor ihnen keine ungeheuere freie Bahn mehr gebe, daß sie so weit geflogen sind, als man fliegen könnel Alle unsere grossen Lehrmeister und Vorläufer sind endlich stehen geblieben, und es ist nicht die edelste und anmuthigste Gebärde, mit der die Müdigkeit stehen bleibt: auch mir und dir wird es so ergehen! Was geht das aber mich und dich an! Andere Vögel werden weiterfliegen!" Die übliche Auffassung kennzeichnet die Sprache als die symbolische Form, die die Zeichen vom Körper ablöst und sie in ein System geistiger und innersprachlicher Strukturen integriert.11 Nietzsches Sprache hingegen, die gewiss nicht auf eine frühere, primitivere Stufe der Sprachentwicklung zurückstrebt, sondern deren voll entwickelten Formen ausnutzt, entsteht aus der Fähigkeit, Metaphern zum Leben zu erwecken: Diese Fähigkeit ist die leibliche Imagination es ist nicht die Erfindung neuer Metaphern, sondern ein kohärentes Wiederfinden einer leiblichen Wirklichkeit im Medium der Sprache und einer sprachlichen Wirklichkeit im Medium des Leibes: Aufsteigen, Fortfliegen, Vorwärtskommen, Sich total Verausgaben, Niedersetzen, Warten auf andere Vögel alle diese vorgestellten und leiblichen Handlungen bilden einen gemeinsamen Imaginationsraum,12 in dem sich die Einbildungskraft Nietzsches und die seiner Leser treffen. Sie werden zusammengeführt in einem „Wir"; sie werden einem größeren Ganzen einverleibt. Nietzsches Metaphern formen sich zu Leibern, die nicht an den Grenzen der individuellen Körper halt machen. Das Pronomen „Wir" gibt Einstimmigkeit an, im Unterschied zur Vielstimmigkeit: mit einer Stimme sprechen und mit einem Leib fühlen, mit den Kräften und Bewegungen in die gleiche Richtung zielend. Das „Wir" ist darauf angelegt zu wachsen, sich zu verstärken, sich einen immer kräftigeren Leib zu bilden.13 Einstimmigkeit ist konstituierendes Merkmal von Gemeinschaft; das „Wir" bestimmt sich hier im Gegensatz zu einem „Ihr", zu den Anderen, gegen die sich die Gemeinschaft richtet und durchzusetzen hat. Mit dem Gebrauch des „Wir" ist stillschweigend eine Gegnerschaft gesetzt. Nietzsche ist als Bilder-Produzent und Leib-Bildner ein Schöpfer von Gemeinschaft. In seiner Zarathustra-Philosophie nimmt diese die Stelle ein, die zuvor der dionysische Chor ausgefüllt hatte. Aber jetzt geht es nicht mehr um eine Gottesvision; seine Sprache macht keinen Gott präsent; er bewegt sich nicht auf der Bühne der Tragödie er will fliegen wie die Vögel und die Luftgeister. Kein Gott -

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11

Friedrich Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, a. a. O., Aphorismus 575. die Vgl. als exemplarischen Vertreter dieser Auffassung Ernst Cassirer: „Wenn dem Kinde Darstellungsfunktion der Namen, wenn ihm der Sachverhalt des ,Heißens' aufgeht, so hat sich damit für dasselbe seine ganze innere Stellung zur Wirklichkeit verwandelt so ist für es ein prinzipiell-neues Verhältnis von ,Subjekt' und ,Objekt' entstanden. Jetzt erst beginnen die Gegenstände, die vorher den Affekt und den Willen unmittelbar ergriffen, gewissermaßen in die Ferne zu rücken: in eine Ferne, in der sie ,angschaut', in der sie in ihren räumlichen Umrissen und nach ihren selbständigen qualitativen Bestimmungen vergegenwärtigt werden können." (Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, Darmstadt 1982, 132.) Der von Bachelard in der zitierten Schrift verwendete Begriff „imaginaire" trifft die Sache genauer. Es gibt im Deutschen kein entsprechendes Wort. Elias Canetti hat dieses Motiv in Masse und Macht aufgenommen und entfaltet (Elias Canetti, Masse und Macht, 2 Bde., 2. Aufl. München 1976). ...

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soll ihn daran hindern, ihn an die Erde bannen oder wie Prometheus, den anderen Überbringer des Feuers, an einen Felsen ketten. „Gott ist tot", das ist die Botschaft, die die Fähigkeit zum Fliegen gibt; darüber später mehr. Nietzsches Poetik des Imaginären organisiert sich in drei Dimensionen: Die erste Dimension ist die der Gemeinschaft und ihres Gegenstücks, der Abgrenzung gegen die anderen; die zweite ist die vertikale, das Aufsteigen in die Höhe und das Freiwerden, Leichtsein, Luftigsein; auf der dritten entfaltet sich die Bewegungsdynamik mit der Kraft ihrer Bilder. Alle drei Dimensionen werden von der Sprache hervorgebracht. Die Sprache steht im Zentrum von Nietzsches Philosophie und Dichtung; aus ihren Wirkungen sind seine Schöpfungen zu verstehen. Sie ist keine beschreibende oder auf irgendeine Weise darstellende Sprache. Wenn in Nietzsches Texten Ereignisse, Handlungen, Tatsachen oder Verhältnisse erwähnt werden, so gibt seine Sprache nicht vor, dass sie eine poetische Wirklichkeit besitze, sondern sie wirkt auf den Leser und erschließt ihm die Potentiale seiner Imagination. So öffnet das Bild des Vogelflugs den Imaginationsraum des Fliegens, die in Träumen und Wünschen gegenwärtigen Vorstellungen eines Lebens des Aufsteigens („la vie ascensionnelle", wie Gaston Bachelard sagt). Der Sprechende bringt keinen Gott, keinen Dionysos zur Erscheinung er selbst hat ein Dionysisches in sich. Es lebt in seiner Sprache und seiner Traumwelt; es ergreift seinen Leib und durchdringt ihn mit Sensationen und physiologischen Reaktionen: Spannung, Muskeltonus, Gefühle des Abhebens und der Leichtigkeit, der Aufrichtung des Körpers, der Weitung des Blicks. Viel mehr als nur flüchtige Erscheinungen, die mit dem Ende der Lektüre in sich zusammensinken, bildet es eine Teilhabe, methexis, an einer wirklichen Aufwärtsbewegung. Der Sprechende und seine Zuhörer erreichen einen höheren Blickpunkt, sie heben den Kopf und erweitern ihren Leib; sie öffnen die Seele im Fühlen und Denken. Nietzsche stellt sich diese Teilhabe als eine intensive körperliche Beanspruchung vor, wie wir sie nach einer großen Anstrengung beim Laufen oder Bergsteigen spüren, wenn wir durchpulst, geweitet, freier und leichter sind und uns vorkommen, als sei eine Last von uns abgefallen. Dieser Zustand der Erhebung schafft einen besonderen Wert, insofern er das Leibliche erhöht, es „gut" macht. Dieses „Gute" gründet nicht auf Moral, sondern auf einer besonderen Verfassung des Leibes, die einen freien Geist einschließt. Nietzsches Werte sind auf der vertikalen Achse eines sinnlich aufgespannten Raums angeordnet: In der Tiefe lastet Feuchtigkeit und Dunkelheit, die Schwere des Bodens klebt an den Bewegungen; zur Tiefe gehören die Engländer, sie haben „schwere Füsse" Wenn man in die Höhe aufgestiegen ist, befindet man sich in einer Atmosphäre der Klarheit, Kälte, Reinheit und Stille; die Dinge sind abgelöst von ihrer Vergangenheit und ohne Substanz; man ist leicht, voll kalter Leidenschaft, verwandt mit Wolke und Blitz. Leibliche und geistige Haltung bilden ein Ganzes, einen Habitus der Leichtigkeit, Unabhängigkeit, Kraft und Angriffslust, Einigkeit mit sich selbst. Einen solchen Habitus findet Nietzsche in der Selbstdarstellung des von ihm über alles geschätzten französischen Adels des 16. Jahrhunderts. Ob er direkt aus dieser Quelle geschöpft oder sich -

.

So sagt Nietzsche in Ecce homo,

vgl. KSA, EH, 6, 280.

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kongenial einen vergleichbaren eigenen „idéalisme de la force"15 erdacht hat, ist ungewiss; es lassen sich freilich Aufschlüsse über den von ihm imaginierten Habitus gewinnen, wenn man auf diese älteren Vorstellungen zurückgeht. Der französischen Adel gründet sich im 16. Jahrhunderts auf dem Gedanken, dass „sein Ideal das Kriegführen" sei.16 Die Kriegertugend erhebt sich insbesondere über die Arbeit, die als „eine verachtenswerte Fron (labeur)" aufgefasst wird. Sie „schwächt den Körper und belästigt (accapare) zugleich den Geist".1 Das erste und hauptsächliche Merkmal der adligen Tugend ist die Freiheit. „Befreit durch die Arbeit der anderen und vor den gewöhnlichen Belästigungen des menschlichen Lebens geschützt, kann sich der Adlige mit seiner ganzen Statur aufrichten, über Ackerfurchen, Werkbank oder Ladentisch hinwegblicken und sich zweckfrei der Kultivierung seines Körpers oder seines Geistes oder beidem zugleich widmen."18 Drei Eigenschaften bilden gemeinsam den Kern der adligen Qualität: Tugend, Würde und Rasse. „Rasse" wird im Sinne von Abstammung, Zugehörigkeit zu einem alten angesehenen Geschlecht verstanden. Fundiert wird diese Überzeugung in der sogenannten „Theorie der Rassen", die eine Wechselwirkung von Standeszugehörigkeit, Lebensführung und körperlicher sowie geistiger Beschaffenheit des Menschen behauptet. Niedrige Abstammung führt zur Unterwerfung des Körper, weil er (beim Bauern) den staubigen Boden bearbeitet, (beim Handwerker) schmutzige Materialien und Geräte handhabt oder (beim Kaufmann) Geld einnimmt, zählt, aufbewahrt alles Tätigkeiten und Lebensbedingungen, die entsprechend gewöhnliche Mentalitäten, Denkweisen und Lebensstile ausprägen. Arbeit zieht den Menschen notwendigerweise hinunter, während der Adlige hoch zu Roß an der frischen Luft die Waffen schwingt, sich von den Lebensnotwendigkeiten distanziert und sich auf diese Weise fähig zur Tugend macht. Diese durch die Merkmale Höhe, Freiheit und Luftigkeit ausgezeichnete Existenz bildet für Nietzsche das große Modell des freien Lebens, auch wenn die Ideale der alten Aristokratie mit dieser selbst unwiederbringlich verschwunden sind. Mit diesem Vorbild läßt sich ein weiterer Gedanke verknüpfen; es ist eine von Michel Foucault rekonstruierte adlige Ideologie des „Krieges der Rassen":19 Der französi-

sche Adel im 16. Jahrhundert ist ein sozialer Stand, der sich selbst als in einem permanenten Kriegszustand begriffen auffasst. Er führt Krieg sowohl gegen die unter ihm 15 1

17

Gaston Bachelard, a. a. O. 295. Ariette Jouanna, Ordre social. Mythes et hiérarchies dans la France du XVIe siècle, Paris 1977, 61. Der Darstellung von Jouanna folge ich auch in den weiteren Ausführungen. Ariette Jouanna, a. a. 0., 62. In diesem Zusammenhang wird im Adelsdiskurs „das Wort mechanisch' (mécanique) verwendet, um diejenigen zu bezeichnen, die eine Handarbeit verrichten und um ihre Tätigkeiten abzuqualifizieren; es hat hier die zusätzliche Bedeutung: .habgierig, geizig, arm, gemein, grob, gewöhnlich' alle diese Eigenschaften kennzeichnen den Handwerker. Daher besteht eine der wichtigsten Forderungen, die man zu beachten hat, wenn man nicht die adlige Qualität verlieren will, daß man sich keiner mechanischen Arbeit hingibt". (Ariette Jouanna, ebd.). Jouanna, a. a. O., 64. Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1976-77), Frankfurt/M. 1999; ders., Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte, hg. v. Walter Seitter, Berlin 1986. Der zweite Titel ist das Transkript einer Tonbandaufzeichnung von Foucaults Vorlesungen am 21. und 28.1. 1976; der Titel stammt vom Herausgeber. ...

18

19

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stehenden gemeinen (ignobles) Bürger, Handwerker und Bauern als auch gegen den Gott eingesetzten König: Abgrenzung nach unten, Verteidigung ihrer Unabhängigkeit nach oben. In der Wahrnehmung dieser Kriegerkaste lauert unter der Oberfläche von scheinbar friedlichen Zuständen ein nicht zur Ruhe kommender Kampf um die Vorherrschaft im Land. Der innere Frieden trügt; er ist nichts anderes als eine eingefrorene', festgehaltene Stellung in einem Krieg, der an seiner Fortsetzung gehindert wird, weil der erreichte Zustand der gerade mächtigsten Partei die größten Vorteile bringt. Insofern er den Machtinteressen der Stärksten dient, hält er nur so lange, wie diese die Situation zu kontrollieren vermögen. Die normale dauerhafte soziale Beziehung ist nach dieser Auffassung der Krieg zwischen den antagonistischen Gruppen. Tatsächlich aber drückt dieser Diskurs eher den Wunsch der französischen Aristokratie als die wirklichen Verhältnisse aus. Denn diese waren im 16. Jahrhundert mehr oder weniger befriedet: Als Folge der Monopolisierung von Gewalt in den Händen der Zentralmacht verschwand der Krieg nach dem Mittelalter aus den Verhältnissen zwischen den Gruppen. Der staatliche Souverän duldete keine Kriege als Privatsache im Inneren des Staats, sondern verschob diese an die Grenzen seines Territoriums, wo sie als Eroberungs- oder Verteidigungskriege gegen Nachbarstaaten geführt werden konnten.21 Der Diskurs des „Rassenkrieges" ist eine Ideologie, die darauf insistiert, diesen als den „Grund aller Machtverhältnisse"22 anzusehen und ihn unter den nach wie vor virulenten Antagonismen und Machtinteressen aufzuspüren: „Man muß unter dem Frieden den Krieg herauslesen. Der Krieg ist die Chiffre eben dieses Friedens." Im Frankreich des 16. Jahrhunderts richtete sich der „aristokratische Diskurs" vom nicht abgeschlossenen Krieg insbesondere gegen den König.24 Der alte Adel hatte seinen politischen Kampf zwar verloren, aber seinen kriegerischen Habitus, seine Unabhängigkeit und seine leiblich geprägten Tugenden bewahrt. In Nietzsches Denken steht der Kampf um diese Werte im Mittelpunkt: Es geht ihm um die Erhöhung des Leibes, die eine Erhöhung der Sprache und des Denkens einschließt. In vielen Bemerkungen stellt er sich als einen Denker im Krieg dar. „Ich bin meiner Art nach kriegerisch. Angreifen gehört zu meinen Instinkten. Feind sein können, Feind sein das setzt vielleicht eine starke Natur voraus ,.."25 Philosophie fasst er als einen permanenten Kriegszustand auf.26 Es ist ein Krieg, der mitten durch Sprache und Leib geht; er wird mit den Bewevon

,

-

21 22

23 24 25 26

Die Ideologie des „Rassenkrieges" wird von Clausewitz' Diktum umkehrt, indem er den Krieg für den Fall denkt, dass die Mittel der Politik ausgeschöpft worden sind. Dies ist Foucaults These in Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte. Siehe Michel Foucault, Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte, 8ff. Michel Foucault, a. a. O., 10. Ebd., 12. Ebd., 10. Friedrich Nietzsche, Ecce homo, a. a. O., 274. Über denseits von Gut und Böse sagt Nietzsche, die Aufgabe, die er sich dort gestellt habe, sei „der grosse Krieg" {Ecce homo, 350) Kämpferisches Eingreifen und sich als Feind darzustellen, ist für sein Philosophieren ebenso notwendig, wie ihm dies Lust macht. In seinem frühen Manuskript „Homers Wettkampf' hatte er geschrieben, im Kampf suche „der Hellene die Quelle seiner höchsten Macht" (in: KSA, 1, 790). Im Zentrum seiner Kampfrhetorik steht der Zweikampf: „Ein Philosoph, der kriegerisch ist, fordert auch Probleme zum Zweikampf heraus" (Ecce homo, 274).

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gung des Denkens und der Muskeln vollzogen: „Sowenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern. Alle Vorurtheile kommen aus den Eingeweiden. Das Sitzfleisch ich sagte es schon einmal die eigentliche Sünde wider den Heiligen Geist. —" Mit seinen Kriegszielen greift Nietzsche weit über die alten adligen Vorstellungen hinaus. Der Krieg, der sein Ideal ist, hat ein gewaltiges Ereignis zu bewältigen und abzuschließen: den Tod Gottes. Sein aristokratisch klingender Diskurs ist eine an ihn selbst gerichtete Rede: seine Philosophie als Krieg zu begreifen, und eine Aufforderung an seine Gemeinde, Teil des kriegerischen Leibes zu werden. In Ecce homo, wo es um eine Einschätzung seiner schon veröffentlichten Schriften geht, will er sein Werk als eine Folge von Zweikämpfen betrachtet sehen. Er stilisiert sich selbst zu einem noblen Kriegsherren, der den Frieden nicht in Frieden lassen will; denn dieser ist in seinen Augen verderblich. Auch in der Philosophie sind, in Nietzsches Augen, die Friedensschlüsse nichts anderes als Kampfstellungen', die den wirklichen Krieg verdecken. Wenn man ihre Genealogie nachzeichnet, zeigt sich, daß Errungenschaften' wie Moral, asketisches Ideal, die Wahrheit, Gott, nichts anderes als transitorische Zustände eines Kampfes sind. Tatsächlich will sie Nietzsche als falsche Friedensschlüsse entlarven, die von den herrschenden Machtverhältnissen scheinbar dauerhaft erzwungen und teuer bezahlt werden, mit Unterwerfung und dem Verlust von Freiheit. Obwohl er tief in die Kämpfe engagiert ist, geht es ihm nicht um seine Macht. Vielmehr bilanziert er die Verluste, die alle Subjekte erleiden, wenn sie den .Friedensschluß' hinnehmen. In diesem Kampf soll der freie, „edle" Mensch, der Herr über sich selber ist, sich selbst Gesetze gibt und selbst sein Leben führt, wieder gewonnen werden, mit einem von seiner Sprache durchgebildeten Leib und einer ans Leibliche gebundenen Sprache. Ein solcher „höherer Mensch" soll dazu fähig sein, den Krieg definitiv zu beenden: nicht indem er sich selber an die Stelle der alten Machthaber setzt, sondern durch seine Kraft, ohne Gott und ohne alles das auszukommen, was von der Konstruktion Gottes abhängt. Wie kann man die alten Mächte abschaffen? Die Genealogie des Krieges zeigt, dass es den Gegnern gelungen ist, die Macht mit Hilfe ihrer Sprache an sich zu reißen. Der Kampf wird in der Sprache ausgetragen, mit Worten, zwischen Diskursen. Wieder einmal zeigt sich, dass Metaphern Handlungen in sich bergen: Sie zerstören wirklich; die „Genealogie der Moral" reißt die hergebrachte Moral ein; der Aphorismus „Der tolle Mensch" in der Fröhlichen Wissenschaft erklärt nicht nur den Tod Gottes, sondern er will Gott tatsächlich töten. In seinem frühen sprachtheoretischen Aufsatz28 entzieht er der Wahrheit den Boden. Um die bekämpften Machtstellungen aufzubrechen, setzt Nietzsche das von ihm entworfene und in seinen Texten praktizierte Bündnis von Sprache und Leib ein. Die „Wahrheit" ist „ein bewegliches Heer erstarrter Metaphern".29 Die alten Metaphern haben ihre Kraft verloren, aber selbst erstarrt wirken sie noch nach. -

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Nietzsche, Ecce homo, a. a. O., 281. Friedrich Nietzsche, Lieber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, a. a. O. Ebd., 880.

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Metapher stirbt nicht, wenn sie tot ist sie lügt. Man hat „die Wahrheit" erfunden; man hat „eine ,Seele', einen ,Geist' erlogen, um den Leib zuschanden zu machen". Erstarrte Metaphern sind die letzte Stufe des Entwicklungsprozesses der Sprache. Man überwältigt sie allein durch neue, ungewöhnliche, ,kampfstarke' Metaphern. Aber wie können sie gewonnen und wie zu einem Instrument des Kampfes gemacht werden? Wir finden eine Antwort in Nietzsche Vorstellung über das frühe Stadium der Sprachentwicklung, dort, wo die Sprache noch flüssig ist. Sie wird hervorgebracht von einer Eine

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Urvermögen menschlicher Phantasie hervorströmenden Bildermasse". „Bilder" sind solche Metaphern, die beweglich, noch nicht-flxiert sind (wobei Nietzsche terminologisch nicht ganz eindeutig ist). Sie werden von den Ereignissen der Welt kausal hervorgerufen, aber nicht als Abbilder oder Eindrücke, sondern als „Nervenreize": Wir empfangen Reize, die „gleichsam ein tastendes Spiel auf dem Rücken der Dinge" auslösen.32 Der unbildliche Nervenreiz wird „zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einen Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue."33 In der Übertragung eines Nervenreizes in ein Bild liegt die Leistung des Subjekts. Sie ist keine Verstandesproduktion: Bilder werden vom Sprecher in einem dichterischen Prozeß leiblich und sprachlich geschaffen. In seiner späten Schrift Ecce homo rückt Nietzsche diese Hervorbringung in die Nähe der Inspiration und Offenbarung, die er als einen Vorgang kennzeichnet, in dem die Imagination die Welt nacherzeugt, „als ob die Dinge selber herankämen und sich zum Gleichnisse anböten ..." An der Bildproduktion, die in einem Zustand der mania geschieht, ist er ganze Leib beteiligt, „mit dem distinktesten Bewusstsein einer Unzahl feiner Schauder und Überrieselungen bis in die Fusszehen ..." „Der Leib ist begeistert: lassen wir die ,Seele' aus dem Spiele ..." Um fähig zu sein, das bewußtlose Wirken der Phantasie (oder Inspiration) hervorzubringen, muss der Leib sowohl stark als auch für die Reize der Umwelt empfänglich sein: „Feinere Sinne und einen feineren Geschmack haben, an das Ausgesuchteste und Allerbeste wie an rechte und natürliche Kost gewöhnt sein, eines starken und kühnen Körpers genießen, der zum Wächter und Erhalter und noch mehr zum Werkzeug eines noch stärkeren, kühneren, wagehalsigeren, gefahrsuchenden Geistes bestimmt ist: wer möchte nicht, daß dies Alles gerade sein Besitz, sein Zustand wäre!" „aus dem

Friedrich Nietzsche, Ecce homo, a. a. O., 372. Weiter unten im Text steigert sich Nietzsches rhetorischer Angriff noch: „Alles, was bisher ,Wahrheit' hiess, ist als die schädlichste, tückischste, unterirdischste Form der Lüge erkannt; der heilige Vorwand, die Menschheit zu verbessern' als die List, das Leben auszusaugen, blutarm zu machen" ( Nietzsche, a. a. O., 373). Friedrich Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, a. a. O., 883.

Ebd., 876. Ebd., 879. Friedrich Nietzsche, Ecce homo, a. a. O., 340. Ebd., 339f. Ebd., 341. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente. 1880-1882, KSA, NF, 9, 640f; die Bemerkung ist aus

dem Herbst 1881.

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Ein solcher aufhahmebereiter Leib ist freilich von delikater Beschaffenheit; „mit diesem Besitz und diesem Zustand ist man das leidensfähigste Geschöpf unter der Sonne, und nur um diesen Preis kauft man die Auszeichnung, auch das glücksfähigste Geschöpfunter der Sonne zu sein!"38 Nicht Krankheit oder Dekadenz wird hier gefeiert, sondern die poietische Chance des nach einer Krankheit wieder hergestellten Leibes, der sich schon verloren gegeben hatte und nun, im Prozeß der Genesung, mit den gesteigerten Sinnesleistungen der ungeschützten Haut, die wieder frisch und neu wird, ins Leben zurückkehrt. Die empfindsame Haut des Neugeborenen ist im Unterschied zur Hornhaut, die aus der Routine wächst für die Dingqualitäten empfindlich, so dass ihr die Gegenstände der Welt „entgegenkommen" und sie von den Verlässlichkeiten der -

-

Dinge ,weiß'. Ein dergestalt sensibler Leib spürt den falschen „Friedensschluß", der „wenigstens das allergröbste bellum omnium contra omnes" beenden soll.39 Dieser Friedensschluss ist der Ursprung der Lüge: „Jetzt wird nämlich das fixiert, was von nun an ,Wahrheit' sein soll d. h. es wird eine gleichmässig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden und die Gesetzgebung der Sprache giebt auch die ersten Gesetze der Wahrheit: denn es entsteht hier zum ersten Male der Contrast von Wahrheit und Lüge: der Lügner gebraucht die gültigen Bezeichnungen, die Worte, um das Unwirkliche als wirklich erscheinen zu machen ..."40 Der Leib ist genau die Instanz, die mit den Sinnen merkt, dass die „Wahrheit" erschlichen und erlogen ist. Wie ist er aber fähig, einen Standpunkt jenseits von Wahr und Falsch einzunehmen, so dass er die Lüge erkennen

kann? Sehen wir uns Nietzsches Konstruktion genau an. Die Welt ist in ihrer Beschaffenheit für uns unerkennbar; sie besitzt eine „unfaßbare, flüssige Proteus-Natur" (KSA, NF, 11, 654). Mit den Lauten und Zeichen der Sprache können wir sie nicht festhalten. Zwischen Sprache und Welt situiert Nietzsche ein formenschaffendes Vermögen „die Phantasie" (oder „Intuition"), die den „Schein" erzeugt. In seiner Sprachphilosophie ist der „Schein" etwas Positives; er ist „die Realität, welche sich der Verwandlung in eine imaginative ,Wahrheits-Welt' widersetzt".41 Die Phantasie ist ein subjektives Vermögen des Leibes, keines des Geistes. Wenn man sie der Vernunft zurechnen würde, dann setzte man die Spaltung von Leib und Seele voraus. Ein solcher Dualismus hat in Nietzsches Sicht die Auslieferung des ganzen Menschen an ein höheres Prinzip, an eine erfundene höhere Welt, die Gott an die höchste Stelle setzt, zur Folge. „Gott" ist eine Funktion in einem Gedankengebäude, ein erfinderischer Kulminationspunkt, dem nichts Wirkliches entspricht. In dieser Konstruktion verliert der Mensch genau das, was ihn ausmacht, was ihn in der gegebenen Welt verankert und die ihn fähig macht, im Einklang mit dieser eine symbolische Welt hervorzubringen. Das genuin leibliche Vermögen, Schein zu erzeugen, bildet die Brücke zwischen der unerkennbaren gegebenen -

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Friedrich Nietzsche, Lieber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, a. a. O., 877. Ebd. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente. 1884-1885, KSA, NF, 11, 654. Nietzsche fährt in der zitierten Passage fort: „Von innen her" kann man „diese Realität" als „,der Wille zur Macht'" bezeichnen (Nietzsche, ebd.)

Der Leib des Menschen nach dem Tode Gottes

AI

Welt und der aus Symbolen gemachten Welt. Mit Hilfe des Leibes formt das Subjekt seine Welt, mit „einer bestimmenden Kraft abweisend, auswählend, zurechtforist mend, in seine Schemata einreihend. Es etwas Aktives daran, daß wir einen Reiz überhaupt annehmen und daß wir ihn als solchen Reiz annehmen. So entsteht unsre Welt, unsre ganze Welt: und dieser ganzen uns allein zugehörigen, von uns erst geschaffenen Welt entspricht keine vermeinte eigentliche Wirklichkeit', kein ,An sich der Dinge': sondern sie selber ist unsre einzige Wirklichkeit, und ,Erkenntniß' erweist sich, dergestalt betrachtet, nur als ein Mittel der Ernährung." Der Leib, der Erzeuger von Schein befindet sich selbst diesseits des Scheins: „NB. Die Glaubwürdigkeit des Leibes ist erst die Basis, nach der der Werth alles Denkens abgeschätzt werden kann. Der Leib erweist sich immer weniger als Schein!" Er ist fähig, das Falsche in der Welt zu brechen und seine Werte zu etablieren; ihm muss nur Gelegenheit gegeben werden, uns mit seiner Sicherheit des Handelns und Gewissheit des ,Wissens' zu führen und unsere symbolische Welt zu erfinden. Unter seiner Anleitung bleibt diese an die gegebene Welt rückgebunden sie wird daran gehindert, sich loszureißen und unter einen fremden Willen zur Macht zu geraten. Er geht in die Sprache ein und macht das Subjekt dazu fähig, alles das zu beseitigen, was sein Leben behindert: das Niedergedrückte, Verhockte, Moralisierende, die Schuldgefühle, Gewissensbisse, die Unterwerfung unter den Geist und die Religion. Wirklicher Frieden wird erreicht, wenn man das höhere Prinzip Gott, Moral, Ideen, Essentialismus abschafft und das Verhältnis des Subjekts zur Welt, zu seiner Welt, auf den Leib gründet. Wir können dann unsere Welt vom Leib her aufbauen und diesem die Chance geben, die Reize der Umwelt zu rezipieren und mit seiner Gestaltungsfähigkeit die Bilder zu formen, die unsere Welt ausmachen. Unser Leib muss über keine außergewöhnlichen Körperkräfte verfügen, sondern es kommt darauf an, ihn in aus der unterwürfigen in eine souveräne Haltung zu bringen, dadurch dass wir ihn seine ursprüngliche Sensibilität und seine bildnerische Fähigkeit zurückgewinnen lassen: Wh bilden eine „neue Haut", im Sinn von faire peau neuve im Französischen: sich erneuern und neue Möglichkeiten erschließen, die in einem stecken. Das leibliche Vermögen der Phantasie erzeugt einen solchen Schein, der aus den in uns liegenden Möglichkeiten entsteht und uns diese bildhaft vor Augen stellt. Wir brauchen solche Bilder sie sagen uns, wer wir sind und wie wir sind. „Wir aber wollen Die werden, die wir sind, die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sichselber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden!"44 Wir müssen für eine gute „Ernährung" sorgen, damit die Scheinwelt nicht zaghaft, sondern gekonnt entworfen wird. Und wir müssen die fremden Bildner abwehren und jene falschen und irreführenden Bilder, die uns gefangen halten, aus unserem Leben verjagen. Wenn wir mit Nietzsches Sichtweise auf die Gegenwart blicken, erkennen wir um uns herum eine Art Aufrüstung der Körper. Im Unterschied zum Leib sind Körper nicht von einer formende Sprache durchdrungen. Modische Körper sind trainiert, gepanzert, ...

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unsensibel

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gemacht gegen Schmerz; sie haben keine neue, rezeptive Haut wie jene eines

Ebd.,608f. Ebd., 627. Friedrich Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, a. a. O., Aphorismus 335.

Gunter Gebauer

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Genesenden. Auch die umgekehrte Richtung der von Nietzsche entworfenen Beziehung zwischen Leib und Sprache findet man bei den durchtrainierten Körpern nicht: Die im Leib wirkende und die Sprache ausbildende Phantasie wird nicht zur Geltung gebracht. Man hört viel zu wenig auf sie, um in die Höhe fliegen zu können. Soweit sie überhaupt

eigene Bilder produziert, sieht man diese nicht, sondern läßt sich von fremden Metaphern blenden. Die Brücke zwischen gegebener Welt, leiblicher Bilderproduktion und eigener Welt ist zusammengebrochen. Noch nie hatte das Subjekt so große Machtchanaber noch nie war cen wie in der Gegenwart für die Hervorbringung eigener Bilder

die Produktion von Fremdbildern so überbordend wie heute. Fremdbilder zeigen das Göttliche und seine Derivate: die Wahrheit, das Gute, das Schöne. Auch wenn diese noch so sehr als transzendent behauptet werden, können sie doch nicht ihre menschliche Herkunft verleugnen. Sie sind nichts anderes als gesellschaftlich hervorgebrachte symbolische Schöpfungen. In ihnen konzentriert die Gesellschaft ihre ganze Macht, spaltet sie als Konstrukte von sich ab und macht sie zu fremden Objekten von Verehrung. Menschliche Schwäche und göttliche Erscheinung stehen im Verhältnis einer umgekehrten Proportionalität: je schwächer die Menschen, desto stärker das Göttliche. Aber dies liegt nicht an der Macht der Götter, sondern es verhält sich umgekehrt: Die Menschen schwächen sich selber, sie lassen ihre Kraft abfließen. Sie geben diese freiwillig ab, dadurch dass sie sie auf ein angeblich höheren Wesen projizieren, das sie anbeten, dem sie Kulte errichten und in dessen Dienst sie sich selber immer kleiner vorkommen. Sie sind eine Gemeinde geworden, die sich dem unterwirft, das sie selbst erschaffen hat und dessen genealogische Herkunft sie nicht mehr durchschauen kann. Es ist genau dieser Gedankengang Nietzsches, der die Grundlage der um 1900 entstandenen Religionssoziologie Emile Durkheims bildet.45 Der menschliche Ursprung des divinen Konstrukts ist seit langem eingesehen worden, aber die einmal geschaffene Stelle des Gottes innerhalb einer Struktur des Religiösen kann nicht einfach zum Verschwinden gebracht werden. Wenn der Glauben an ihn zerbröckelt ist, wenn man ihn vergessen hat oder ihn nicht mehr ernst nimmt, setzen sich auf den freigewordenen Platz neue Gottheiten. Gott ist nicht tot; er kann nicht „tot bleiben", wie der „tolle Mensch" in Aphorismus 125 der Fröhlichen Wissenschaft behauptet, weil dem Göttlichen nicht ohne Gewalt die Existenz entzogen werden kann. Nietzsches „Krieg" richtet sich nicht gegen einen spezifischen Gott, nicht gegen jenen des Christentums oder andere Götter, auch nicht gegen die Erfahrung des Numinosen, sondern allgemein gegen die Gott-Funktion, eine sozial konstruierte, zu einem Zeitpunkt eingeführte und historisch wandelbare Funktion, in die man alle möglichen besonderen Erfindungen einsetzen kann.46 Die Gewalt richtet sich nicht gegen einen bestimmten Gott, sondern gegen die Erfinder und Bewahrer der Gott-Funktion: gegen die gotterzeugende Gemeinde. Es ist offensichtlich, dass Nietzsche diesen Krieg nicht al-

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Emile Durkheim, Die elementaren Formen religiösen Lebens, Frankfurt/M. 1981. Ob Durkheim Nietzsches als Ideengeber akzeptiert hätte, erscheint mir allerdings ungewiß. Diese Unklarheit schwächt aber nicht die Verwandtschaft zwischen beiden Entwürfen. Dieses Konzept ist eine analoge Bildung zur Autor-Funktion, die Michel Foucault analysiert hat, in: „Was ist ein Autor?" In: ders., Schriften in vier Bänden, Dits et écrits. Bd. 1. 1954—1969, Frankfurt/M., 1003-1041.

Vg.

Der Leib des Menschen nach dem Tode Gottes

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lein führen kann; er braucht Verbündete, eine Gruppe von Gleichgesinnten, die es ihm gleich tun und die Gott-Funktion in sich selber abtöten. In dieser Konstruktion steckt freilich die Gefahr, dass die Gemeinschaft, die er sucht, für die er wirbt, die er aber in seinem Leben nie erfahren hat, zu einer Gemeinde herabsinkt dass sie sich selbst nach Anbetung sehnt und die alte Gott-Funktion wieder einsetzt, diesmal mit Nietzsche als Objekt der Verehrung. Nietzsches Sprache beschreibt, wie wir gesehen haben, keine Ereignisse, sondern sie entbindet ein in die Sprache eingelassenes Handlungspotential. Die sprachliche Formel „Gott ist tot" konstatiert nicht ein stattgehabtes Geschehen, sondern verwirklicht die gewalttätige Zerstörung der Gott-Funktion. Nicht gegen eine personähnliche Gestalt ist sie gerichtet die Gewalt wird dem Leser ebenso wie dem Sprecher und Nietzsche selbst angetan, denn die Gott-Funktion ist eine Einrichtung unser aller Denken und Fühlen. Sie führt uns, tief im Gewissen verankert, bei unseren Handlungen, sie gibt uns moralische Sicherheit, läßt uns die Gedanken und Hoffnungen über das Leben hinaus auf ein Jenseits richten. Wenn Gott tot ist, müssen wird die Welt, unsere Handlungen und uns selbst neu entwerfen. Wir müssen die Denkmöglichkeit Gottes, als des Höchsten, dem wir unterworfen sind, aus uns herausreißen, sie in unserer Sprache, in unseren Ritualen, unserem Denken und Fühlen abtöten. Der „tolle Mensch" spricht mit seiner Formel „Gott ist tot" die Interpretation aus, die unsere Zeit notwendig braucht, gegen deren Einsicht sich aber alle sträuben. In Nietzsches Kampf werden große Teile unseres Selbst hineingezogen alle jene Teile, die von der Gott-Funktion besetzt sind: unsere Bereitschaft anzubeten, an das Höhere zu glauben, den von uns erzeugten Schein für die absolute Wirklichkeit und die Moral für unerschütterlich begründet zu nehmen. Wir müssen uns von der Abschaffung dieser Funktion überzeugen, und das heißt nichts anderes, als dass wir alle die Überzeugungen, die an der Existenz Gottes hängen, töten müssen. Wir müssen uns zu „Mördern" machen; wir müssen wollen, dass wir das Ende Gottes vollzogen haben. Nietzsche fordert auch sich selbst dazu auf, diese Tat als gewollte auf sich zu nehmen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, und darin die eigene Stärke zu erblicken. Er spricht sich in der Fröhlichen Wissenschaft selbst den Mut und die Kraft zu, diesen Willen -

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-

aufzubringen.47

Gegen Gott, eine erstarrte Metapher, setzt Nietzsche in seinem Krieg das frische, kraftvolle, gewalttätige Bild der „Mörder". Es muss stark genug sein, um den Krieg endgültig zu beenden, sonst kommen die toten Götter aus ihren Gräbern zurück. Der „tolle Mensch" ist noch nicht

so weit; er zweifelt daran, ob er den Einsturz aller Ordund die Einsamkeit wird aushalten können. Er befindet sich in einer tiefen Vernungen hat noch nicht die er Sprache und den Leib ausgebildet, die er für seine Aufwirrung gabe braucht. Offensichtlich weiß er nicht, wie er es anfangen soll, ohne Gott weiterzuleben. Er fällt in die alten Rituale, „Sühnefeiern" und „Heiligenspiele" zurück, -

Im Herbst 1881 notiert Nietzsche: „Wir erwachen als Mörder!" Aber das heißt nichts anderes als: Wir sollen und wollen als „Mörder" aufwachen. Wir „trösten" uns und reinigen uns davon. Wir werden der allmächtigste und heiligste Dichter selber werden" (in: Friedrich Nietzsche, Nachge-



lassene Fragmente. 1880-1882, KSA, NF, 9, 590).

50

Gunter Gebauer

nicht anders als die vermeintlichen Überwinder Gottes nach Nietzsche, die selber zu Göttern werden wollten. Götter sind der Ausfluss der Macht ihrer Gemeinde. So lange die Subjekte bereit sind, anzubeten und sich unterzuordnen, stehen sie im Banne des Höheren und bemühen sich, dessen Licht auf sich selber zu lenken und sich nach dem Bilde Gottes zu schaffen. Wir erleben gegenwärtig eine ungeheure Verbreitung der Gott-Funktion, in Gestalt von Helden des Alltags, als Marathonläufer, Triathleten, Free Climber Sie stellen sich als Heroen in die Nachfolge Gottes; zugleich ordnen sie sich in jene Gemeinden ein, die unendlich bereit sind, höhere Helden, als sie es selbst sind, anzubeten. Die Macht des Vor-Bilds Gottes muss gebrochen werden: Uns „thut nichts so gut als die Schelmenkappe: wir brauchen sie für uns selber". Wir brauchen die Ironie gegen uns selbst; den Schein des Höheren beseitigt man allein durch Narrheit, Spott und Lachen. Ihre Kraft gewinnen die Subjekte erst dann zurück, wenn sie sich nicht mehr zu einem Gott und nicht mehr zur anbetungsbereiten Gemeinde machen und auch sich nicht mehr anbeten lassen wollen. ,ßxcelsior\ ,Du wirst niemals mehr beten, niemals mehr anbeten, niemals mehr im endlosen Vertrauen ausruhen du versagst es dir, vor einer letzten Weisheit, letzten Güte, letzten Macht stehen zu bleiben und deine Gedanken abzuschirren "\49 Dies ist der perfekte Mord: Er bringt das Tote restlos aus der Welt. Die Täter zeichnen sich dadurch aus, dass sie nichts Heroisches besitzen ihnen ist „Heiterkeit, Geduld, Schlichtheit und Verachtung der grossen Eitelkeiten... zu eigen".50 Der Mord an Gott gelingt nur dann, wenn wir der Gottes-Funktion „entsagen", wenn wir Askese üben, eine aufrechte Haltung einnehmen, ohne gebeugte Knie, eine freie Sprache sprechen, mutig auf unserem eigenen Wert bestehen, unserem Leib seine ursprüngliche adlige Form zurückgeben. Eine solche „Entsagung" des Gewohnten, Eingeschliffenen, falsch Friedlichen ist der Kern von Nietzsches Botschaft: „Es giebt einen See, der es sich versagte, abzufliessen, und einen Damm dort aufwarf, wo er bisher abfloss: seitdem steigt dieser See immer höher. Vielleicht wird gerade jene Entsagung uns auch die Kraft verleihen, mit der die Entsagung selber ertragen werden kann; vielleicht wird der Mensch von da an immer höher steigen, wo er nicht mehr in einen Gott ausfliesst" 5X ...

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4K

49 50

51

Friedrich Nietzsche, Fröhliche Ebd., Aphorismus 285. Ebd., Aphorismus 283. Ebd., Aphorismus 285.

Wissenschaft, a. a. O., Aphorismus

107.

Volker Gerhardt

Genom und Übermensch Nietzsche in der biopolitischen Diskussion

1. Eine lange Zeit der Inkubation

Tagung gab es vor wenigen Jahren ich glaube, es war im Herbst Meinungsverschiedenheiten über die Rolle Nietzsches in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Ein Redner versuchte, das noch nicht ans Ende gelangte Jahrhundert als Ganzes in den Blick zu nehmen und sprach von einer erst spät wachsenden publizistischen und akademischen Anerkennung. Ihm wurde von einem anderen die überwältigende Fülle von Publikationen und Kongressen der letzten drei Jahrzehnte mit der These entgegengehalten, Nietzsche sei der dominierende Denker der Epoche. Aus der Sicht der achtziger und neunziger Jahre war das richtig. Aber für Weimar, Naumburg, Halle oder Ost-Berlin galt es frühestens seit 1989. Vorher war dort mehr als vierzig Jahre lang ein anderer Theoretiker dominant gewesen. Und Karl Marx hatte, wie wir uns erinnern, keineswegs nur in der DDR oder in Osteuropa Konjunktur. Gegen Marx aber hat die so genannte bürgerliche Philosophie keineswegs primär Nietzsche ins Feld geführt. Außerdem gab es zahlreiche Schulen und Strömungen wie die Phänomenologie, den Pragmatismus, die Spielarten des Existenzialismus, der Anthropologie und des Positivismus und nicht zuletzt die Varianten wissenschaftstheoretischen und sprachanalytischen Denkens, die, trotz zahlreicher Annäherungen, nicht im Verdacht Auf einer Weimarer

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1999

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stehen, auf der Heerstraße des Nietzscheanismus vorzurücken. Natürlich wissen wir heute, dass Nietzsche zu den großen Anregern des 20. Jahrhunderts zu rechnen ist. Bildende Kunst, Musik und Literatur nach 1890 sind ohne ihn gar nicht zu denken. Das gleiche gilt für die Lifestyle-Bewegungen des Körper-, Freilicht-

und Jugendkults zum Jahrhundertbeginn. Auch die Philosophen haben Nietzsches Schriften ausnahmslos zur Kenntnis genommen. Zwar wurde das von manchen, aus höchst verschiedenen Motiven übrigens, verschwiegen; viele aber haben ihre Lektüre in ihre

eigenen Überlegungen einbezogen. Für James, Simmel, Max Weber, Dewey, Bergson, Heidegger, Valéry, Jaspers, Löwith, Gehlen oder Adorno, um nur einige Namen zu nennen, hat er entscheidende Stichworte gegeben. Aber es gab auch bedeutende Geister, die sich von ihrer Nietzsche-Lektüre wenig haben anmerken lassen. Wh brauchen nur an Husserl, Russell, Whitehead, Wittgenstein, Cassirer, Plessner oder Popper zu denken.

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Volker Gerhardt

Erst nach 1968 wurde es üblich, sich auf Nietzsche wie auf einen Klassiker zu berufen; und von einer historisch-kritischen Nietzsche-Forschung kann frühestens mit der Verbreitung der Kritischen Gesamtausgabe die Rede sein. Wissenschaftliche und publizistische Anerkennung hat Nietzsche somit erst im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts

gefunden.

2. Die Gefahr der allgemeinen Anerkennung Neben der Flut säkularisierter Predigten, schwärmerischer Nachdichtungen und pamphletistischer Rezepturen, die sich in den ersten Jahrzehnten nach Nietzsches Tod ins geistige Leben ergossen hat, fällt um so stärker auf, wie spärlich die wissenschaftliche Beschäftigung mit seinem Werk anfangs tatsächlich war. Die Wissenschaft ist ihm nur zögerlich gefolgt und hegt auch heute noch ihre Vorbehalte. Ich nehme an, dass dies so bleiben wird. Nietzsche mag noch so sehr als einer der Großen der philosophischen Überlieferung gelten. Seine bis in die Grundbegriffe hineinspielende Absicht zu provozieren, wird immer wieder Vorbehalte erzeugen. Dass man diesen Tatbestand aus lauter Begeisterung für Nietzsches Werk am liebsten übersehen möchte, ist verständlich. Doch für echte Nietzscheaner muss in der späten und immer noch gespaltenen Anerkennung auch etwas Tröstliches liegen: Was könnte ihnen denn ihr Autor noch wert sein, wenn ihm unterschiedslos alle anhängen? Muss nicht eine Breitenwirkung Nietzsches den ästhetischen Existentialismus seines Ausgangspunkts in Zweifel ziehen? Gesetzt, alle Denker würden Nietzsches Ansichten folgen: dann müssten seine überzeugten Anhänger so konsequent sein, sich von ihm abzuwenden. Denn als Quelle allgemeiner Wahrheiten wäre er in seinem Anspruch auf Einzigartigkeit, Einsamkeit und vor allem auf Geltung im kleinen Kreis verständiger Freunde widerlegt. Natürlich lässt sich diese Mutmaßung nicht nach den Regeln der Logik belegen. Aber der Leser Nietzsches sieht mit einem Blick, welches Problem sich damit auftut. Deshalb ist es schon ein Missverständnis, Nietzsches Bedeutung durch seine Breitenwirkung unterstreichen zu wollen. Nach wie vor liegt seine Größe darin, dass er existenzielle Fragen wie epochale Sensationen behandelt, und dennoch keinen Zweifel daran lässt, dass sie bestenfalls existenzielle Antworten finden. ' Damit ist freilich nicht gemeint, Nietzsches philosophische Relevanz beschränke sich auf die persönlichen Fragen individueller Lebensführung. Aber wir sollten in den Debatten über die allgemeinen Fragen gesellschaftlicher Orientierung auch nicht zuviel von ihm erwarten. Seine Wirkung ist dort am größten, wo er, nach seinem Verständnis von Philosophie, ein Leben „zu concentriren" vermag.2

2

Siehe dazu des Näheren: Volker Gerhardt, „Sensation und Existenz", in: Nietzsche-Studien 29, 2000, 102-135. Nachlass 1873, 29 [211]; KSA, NF, 7, 714.

Genom und Übermensch

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3. Die Wirklichkeit des Lebens Blickt man auf die Wirksamkeit Nietzsches in den öffentlichen Diskussionen des neuen Jahrhunderts, hat man freilich den Eindruck, dass sich seine Leser ganz ins Private zurückgezogen haben. Von seiner publizistischen Allgegenwart, die das Jubiläumsjahr 2000 bestimmte, war schon 2001 nichts mehr zu spüren. In den Debatten, die seitdem philosophische Aufmerksamkeit erregen, ist von ihm kaum noch die Rede. Von den zahllosen Nietzsche-Deutern, die mehr als zwei Jahrzehnte lang die Druckspalten mit ihren dekonstruktivistischen Hoffnungen füllten und längst dabei waren, die Moderne in die Postmoderne zu überführen, hört man seit Craig Venters gelungenem Medienstreich kein Sterbenswort. Zwar hat die Schreckenstat vom 11. September der sich wesentlich auf Nietzsche berufenden Medientheorie Auftrieb gegeben. Aber dann sickerte die Einsicht durch, dass der Zusammenbruch der Türme, der Tod von Tausenden und die reale Gefahrdung einer ganzen Zivilisation kein Studioereignis war. Ground zero ist ein wirklicher Ort in der Welt, die wir als unsere Realität zu begreifen haben. Leid und Lust gibt es nur unter diesen Bedingungen. Das Schreckliche sind nicht die Bilder an und für sich, sondern die Wirklichkeit, die sie zeigen. Diese schlichte Einsicht wird nur selten deutlich ausgesprochen. Doch an der plötzlichen Faszination durch das alte Thema der Globalisierung, die am Ende zwar auch mit den medialen Netzen, aber vorrangig mit wirtschaftlicher und politischer Macht sowie mit seit langem bestehenden Tendenzen und Tatsachen zu tun hat,3 lässt sich ablesen, dass sich die Karawane des Zeitgeistes zur Abwechslung einmal wieder mit der Wirklichkeit des Lebens beschwert. -

-

4. Die Realität als Kontext Viele hatten bei der Lektüre Nietzsches vergessen, auf den Zusammenhang von realer Existenz und Illusion zu achten. Sie übersahen, dass die Illusionsfähigkeit der frühen Griechen nur deshalb so bemerkenswert ist, weil es die Alten vermochten, sich auf dem tragischen Untergrund des Daseins zu behaupten; sie erlebten und verklärten ihn und schafften es dadurch, ihm (spielerisch, listig und trotzig) produktive Leistungen abzugewinnen. Nietzsche schätzt die Hellenen, weil sie durch Traum und Rausch gleichermaßen imaginations- und realitätstüchtig geworden sind. Wenn aber Illusionen nichts anderes wären als bloße Illusionen, wären sie keiner Erwähnung wert. Sogar das Pathos der Distanz lebt aus dem alles grundierenden Bewusstsein der Realität. Also darf man bei aller Betonung von Sprache und Bild, von Mythos und Metapher, von Naivität und produktiver Phantasie nicht vergessen, dass sie nur von Bedeutung sind, solange sie zur souveränen Bewältigung des Daseins führen. Sie haben ihr Gewicht in der Relation zur Realität, deren uns tragende, uns durchdringende, uns ausmachende Wirksamkeit es verbietet, sie zum bloßen Konstrukt einer Wissenschaft und -

3

Volker Gerhardt,

„Globalisierung", in: Merkur 639, Juli 2002, 566-576.

Volker Gerhardt

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heiße sie auch „Metaphysik" zu erklären. Wäre es anders, hätte Nietzsche niemals den Versuch machen können, die Entladungen des Willens zur Macht als den Kontext der Kräfte zu deuten, aus dem selbst noch die geschriebenen, gesprochenen oder gedachten Kontexte bestehen. -

5. Das Ende der reinen Sinnkritik Vor 1989

war es offenbar leicht, sich in wirklichkeitsfernen Konstruktionen einzurichOsten halfen sie, die schlechte Realität des gesellschaftlichen Daseins zu ertragen, und im Westen erleichterten sie den ins geschichtliche Abseits geratenen Marxisten, allemal Recht zu behalten. Wer in dem Bewusstsein lebt, in der Logik der Systeme, den subjektlosen Strukturen, subtilen Differenzen, den Formen parasitären Überwachens, permanenten Strafens oder reiner Textualität das anti-essenzialistische Wesen des Geschehens zu erkennen, kann sich den Wechselfallen der Politik und des Alltags so lange entziehen, bis die Wirklichkeit mit einer echten Überraschung aufwar-

ten. Im

tet.

Das war 1989 der Fall. Danach hatten wir die Rückzugsgefechte der alten intellektuellen Machthaber zu ertragen. Seit April 2000 sind sie ganz verstummt, oder sie haben unversehens, wie sich an Derridas Politik der Freundschaft zeigen ließe, die Fronten gewechselt. Denn die Biotechnologie, der Terrorismus sowie die mit der Globalisierung unweigerlich einziehende ökonomische Krise sind mit so überwältigender Macht in die sinnkritischen Diskurse eingebrochen, dass sich die unberechenbare Realität des Daseins ebenso wenig leugnen lässt, wie die unverzichtbare Erwartung, sich durch eigenes Handeln neue Chancen zu eröffnen.

6. Nietzsche im Abseits der Debatten Dass Nietzsche in den problembezogenen Diskursen der Gegenwart keine Rolle spielt, ließe sich an der Globalisierungsdebatte zeigen. Hier kann er in der Sache wenig bieten: Zwar hat er, wie alle Aufklärer auf die Tatsache der einen Welt gesetzt, hat die Borniertheit der Nationalismen ironisiert und hat die diätetische Bedeutung der Landschaften und Regionen erkannt. Aber seine Distanz zu den Problemen des Rechts und der Politik, seine ästhetische Allergie gegen die Staatenwelt und seine leichtfertigen Urteile über Gewaltsamkeit und Krieg entwerten manches treffende Wort über den „guten Europäer", die Leistungen der Diplomatie, die Vorzüge der Demokratie, den Vorrang von Pluralität und Individualität, die Generosität von Dank und Mitgefühl, oder die produktive Organisation der Kultur.4 4

es nicht schon aus anderen Zusammenhängen hinreichend deutlich wäre, müssen spätestens Gegensätze in Nietzsches Texten jeden davon überzeugen, dass man aus ihnen nur dann etwas gewinnen kann, wenn man sie selbstbewusst im Licht der eigenen Fragen interpretiert. Das uns in vielen Büchern über ihn gebotene Florilegium pointierter Zitate reicht schon lange nicht mehr. Die Nietzsche-Apologetik, die sich primär gegen die Banausie seiner philosophischen Abwertung profi-

Wenn

die

Genom und Übermensch

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Anders ist es in der seit mehr als zwei Jahren mit größtem Medienaufwand geführten Diskussion über Biopolitik und Bioethik. Hier ließe sich von Nietzsche einiges lernen. Aber die Interpreten schweigen sich aus. Nach Peter Sloterdijks noch ganz unter medialen Obsessionen provoziertem Versuch, Nietzsche und Piaton zu den Gründungsvätern des „Menschenparks" zu erklären, hat es zwar einige Korrekturanmerkungen gegeben; auf einer zweiten Elmauer Tagung im August 2000 wurde von Nietzsche her auch eine ganz andere Perspektive auf die Humanität begründet. Doch das blieb ohne Resonanz. So muss man den Eindruck gewinnen, Nietzsche habe zu den unser Selbstverständnis berührenden Fragen des Umgangs mit dem Leben nichts zu sagen. Man braucht diesen Eindruck aber nur zu artikulieren, um augenblicklich zu erkennen, wie abwegig er ist. Das kann an zwei Beispielen anschaulich werden, bei denen ich davon absehe, dass uns Nietzsche allein durch seine Einsicht in die tragische Verfassung einen unschätzbaren Vorsprung in allen Fragen der Lebenswissenschaften geben kann. Davon soll jetzt keine Rede sein. Die Beispiele sind konkreter angelegt: Das erste bezieht sich auf die Frage nach dem Beginn des individuellen menschlichen Lebens. Das zweite ist, wie bereits im Titel angekündigt, auf Erbe und Zukunft des Menschen

bezogen.

7. Nietzsches Anti-Essenzialismus Es

gehört

den als

gesichert erscheinenden Grundüberzeugungen

des neuzeitlichen bloßen Naturtatsachen keine Normen ableiten lassen. Die von Leibniz getroffene Unterscheidung zwischen den vérités défait und den vérités de raison kehrt in vielfachen Wendungen wieder; eine davon begegnet uns in der These von der kategorialen Differenz zwischen Sein und Sollen. Von dieser These gibt es in meinen Augen allein dort eine Ausnahme, wo es um den Selbstbegriff des Menschen geht, der bereits seine faktische Existenz nur unter normativen Erwartungen erfassen kann. Nietzsche hat sich, wie wir wissen, um solche Unterschiede, die vor allem methodologische Konsequenzen haben, nie gekümmert. Dafür hat er auf die kulturelle Verfassung des Menschen den größten Wert gelegt. Er hat nicht nur die Abgrenzung zwischen gegebener Natur und erbrachter Leistung schärfer konturiert, sondern hat vor allem auch die vom Menschen allererst zu schaffenden Daseinsbedingungen exponiert. In seinem Perspektivismus ist er schließlich so weit gegangen, jede Erkenntnis und jede Bewertung eines Sachverhalts von der praktisch bezogenen Position des Individuums abhängig zu machen. Und wo sich Besonderheiten von Individuen nicht ausmachen zu

Denkens, dass sich

aus

liert, hat ihre Zeit gehabt. Wenn Nietzsche zum Klassiker geworden ist, dann muss man ihn im Licht der eigenen Einsicht deuten. Das schließt vor allem auch die Kritik an ihm nicht aus. Solange aber die Nietzsche-Interpretation auf der Stufe der Texthörigkeit verbleibt, legt sie ihren Autor auf das Niveau seiner historischen Lage fest. Volker Gerhardt, Sensation, Existenz und Humanität. Zur Aktualität Nietzsches nach hundert Jahren, Vortrag auf Schloss Elmau, August 2000; ders.: „Nietzsche, Goethe und die Humanität", in: Renate Reschke (Hrsg.), Zeitenwende Wertewende, Berlin 2001, 19-30. -

Volker Gerhardt

56

lassen, schlagen sich in ihren Urteilen die historisch gewachsenen Präferenzen ihrer

gesellschaftlichen Umgebung nieder. In der Nietzsche-Deutung des ausgehenden 20. Jahrhunderts hat daran insbesondere die Auflösung aller auf den Menschen bezogenen Substanzbegriffe eine Rolle gespielt. Was immer der Mensch von sich selbst behauptet, sei es, dass er ein „Subjekt" sei, dass er über ein „Selbst" verfüge oder wenigstens in seinem „Ich" eine Identität behaupten könne, wurde in immer neuen Wendungen bestritten. Und ungeachtet der bestens belegten Tatsache, dass dies auch schon von Kant oder Hegel nicht anders verstanden wird, wurde Nietzsche vor allem die Destruktion eines fixierten menschlichen Selbstbegriffs gutgeschrieben. Mit der Formel vom „Tod des Subjekts" hat diese Deutung sogar eine gewisse Popularität erlangt. 8. Säkularisierter Kirchenkampf Die Debatte über den Beginn des individuellen menschlichen Lebens wird derzeit so geführt, als habe es die kulturalistische Position des Anti-Essenzialismus nie gegeben. Nach der politisch herrschenden Meinung beginnt das individuelle menschliche Dasein mit einem Akt bloßer Natur, nämlich mit der parallelen Anlagerung der haploiden Chromosomensätze aus Ei- und Samenzelle. Das ist ein biochemischer Vorgang, den man tausendfach in den Labors stimuliert und kontrolliert und der sich bei den menschlichen Geschlechtszellen nicht anders vollzieht als bei tierischen nur dass für das isolierte menschliche Material vorerst noch eine besondere Nährlösung nötig ist, die weitestgehend aus Mäusezellen besteht. Die These, dass der Mensch bereits mit der so genannten Kernverschmelzung von Ei- und Samenzelle als ein personales Wesen zu betrachten ist, das unter dem Würdeund Lebensschutz des Grundgesetzes steht, ist seit dem Verfassungsgerichtsurteil von 1975 die herrschende Rechtsauffassung. Sie ist nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten durch ein weiteres Verfassungsgerichtsurteil bestätigt worden und hat vor allem Eingang in das besonders nachlässig abgefasste Embryonenschutzgesetz von 1990 gefunden. Im Streit um die Embryonenforschung, den Import von Stammzellen und um die Präimplantationsdiagnostik geht es um die Überzeugungskraft dieser singulären Rechtsposition. Sie ist tatsächlich von nicht zu überbietender Einseitigkeit. Denn alle anderen rechtlichen Bestimmungen des BGB oder des StGB gehen in Übereinstimmung mit den praktizierten Normen unserer jüdisch-christlichen Kultur davon aus, dass der Mensch erst durch die Geburt in seine Rechte eingesetzt wird. Schon die leisesten Zweifel an der inneren oder äußeren Konsistenz der 1975 höchstrichterlich verordneten Position werden nach Art konfessioneller Abrechnungen sanktioniert. Mitten im Zeitalter der Säkularisierung erleben wir die Wiederkehr eines Glaubenskampfs, an dem sich viele beteiligen, die selbst Wert darauf legen, nicht gläubig zu sein. Für einen Nietzsche-Leser, der in dessen Religionskritik mehr als bloß die Idiosynkrasie eines Pfarrerssohnes erkennt, müsste schon dies Grund genug sein, sich mit der Debatte zu befassen erst recht für jene, die noch bis ins Jubiläumsjahr hinein für die Dekonstruktion des Subjektbegriffs gestritten haben. -

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Genom und Übermensch

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Doch noch nicht einmal die bislang so beredten Anwälte einer „kulturellen Existenz des Menschen"6 melden sich zu Wort. Ihre Argumente wurden zwar durch einen klugen Biologen in Erinnerung gebracht. Vielleicht aber hat die öffentliche Schelte, die Hubert Markl bis heute bezieht, die Kultur- und Sozialisationstheoretiker davon abgehalten, sich selbst in

Erinnerung zu bringen.

9. Rückfall in den Naturalismus Die Absurdität der Debatte tritt in vollem Umfang erst in ihren philosophischen Anteilen hervor, denn die politischen Motive sind immerhin nachvollziehbar: Das Verfassungsgericht stand in der Abtreibungsdebatte unter massivem kirchlichen Druck und glaubte der damals umstrittenen Fristenlösung mit Rücksicht auf die nationalsozialistischen Verbrechen nicht zustimmen zu dürfen. Zwar sind die 1975 geltend gemachten kirchen- und rechtsgeschichtlichen Bedenken längst widerlegt; doch das Urteil hat einen pragmatischen Umgang mit dem Schwangerschaftsabbruch erlaubt, der defacto auf eine Fristenlösung hinausläuft. Das hat auch das nach dem Beitritt der DDR ergangene zweite Urteil des Verfassungsgerichts im Jahre 1993 bestätigt. Ginge es nur um den Schwangerschaftsabbruch, könnte man die gefundene Lösung, trotz der abwegigen Begründung, akzeptabel finden wäre da nicht die Unterhöhlung des Rechtsbewusstseins durch die rechtsoffizielle Formel von der „Rechtswidrigkeit ohne Strafe". Inzwischen werden Bürger, die vor einer Arztpraxis gegen die anerkannte „Rechtswidrigkeit" demonstrieren, rechtswirksam verurteilt, weil ihr Protest, so das Landgericht Heilbronn, dem allgemeinen sittlichen Urteil widerspreche. So kommt im artikulierten Widerspruch der Gerichte der faktische Widerspruch zwischen herrschender Meinung und herrschender Praxis zum Vorschein. Damit wird dem Ansehen unserer Rechtsordnung ein schwerer Schaden zugefügt. Doch, wie gesagt, im alltäglichen Umgang mit dem Schwangerschaftsabbruch ist längst ein gangbarer Weg gefunden. Zum erneuten Grundsatzstreit über den Status des Embryos kam es erst durch die Übertragung der Ansicht des Verfassungsgerichts auf die Probleme der Stammzellenforschung und der Pränatalen Diagnostik, insbesondere der PID. Hier versucht nun der weitaus größere Teil der Bioethiker, dem politischen Urteil des Gerichts nachträglich ein philosophisches Fundament zu geben: Aus dem Naturvorgang der so genannten Kernverschmelzung leiten sie die personale Auszeichnung der Zygote her. Dies gelingt aber nur mit Argumenten, die spätestens seit Leibniz, Hume und Kant überholt sind. Unter Berufung auf die Potenzialität des Keims, auf die Kontinuität seiner Entwicklung und die Identität seiner Existenz mit dem geborenen Menschen wird nicht nur der -

6

Ich nehme hier die Formel meines

Menschen, Berlin 1996.

Kollegen

Oswald Schwemmer auf: Die kulturelle Existenz des

Neben Hubert Markl ist auch die Nobelpreisträgerin für Medizin Christiane Nüsslein-Vollhard zu erwähnen. Urteil des Landgerichts Heilbronn vom 18. Dezember 2001, veröffentlicht in der Zeitschrift ßr Lebensrecht 1/2002, zitiert nach Norbert Hoerster: „Es ist legal, aber", in: FAZ vom 17. 6. 2002.

Volker Gerhardt

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elementare Unterschied zwischen Embryo und Person bestritten, sondern es werden auch Natur und Kultur, organischer Vorgang und moralischer Anspruch, Faktum und Norm auf ein und dieselbe ontische Stufe gestellt. Mit einem Mal sind die methodologischen Bemühungen der neuzeitlichen Philosophie vergessen; die seit Vico gemachten Anstrengungen zur Unterscheidung zwischen Natur und Geschichte scheinen umsonst gewesen zu sein. Und von Nietzsches Pathos zur Auszeichnung der Kultur als der spezifischen Lebensform des im eigenen Schaffen zu sich selbst kommenden Menschen kann gar keine Rede mehr sein.

10.

Doppelmoral und Regression

Die Philosophie bleibt weit unter ihrem Niveau, wenn sie sich in den Dienst einer politischen Praxis stellt, die zwar mindestens 200 000 Schwangerschaftsabbrüche im Jahr zulässt und die ein Vielfaches an chemischer Embryonenvernichtung durch Nidationshemmer erlaubt,9 sich zugleich aber mit rigoristischer Rhetorik jenen entgegenstellt, die einen Weg zur Heilung bislang unheilbarer Krankheiten suchen. Die Doppelmoral der biopolitischen Meinungsführer in der Bundesrepublik Deutschland ist schwer erträglich. Doch da es viele Widersprüche im öffentlichen Leben gibt, könnte man sie auf sich beruhen lassen, könnte auf ihre sowieso erfolgende praktische Aufhebung setzen und im Übrigen seine philosophische Arbeit tun wenn es sich aus der Perspektive des Fachs nicht verböte, sich amtlich und publizistisch auf einen scholastisch halbierten Aristotelismus reduzieren zu lassen. In der öffentlich forcierten bioethischen Grundlagendebatte werden nicht nur methodologische Standards, sondern auch Aufklärung und Moderne preisgegeben, von der Postmoderne gar nicht zu reden. Das, so meine ich, kann auch der mit einer zeitkritischen Erwartung arbeitenden Nietzsche-Forschung nicht gleichgültig sein. -

11. Die Überwindung der Menschheit Nietzsches Name im Kontext der Biopolitik weckt freilich ganz andere Erwartungen: Man denkt weniger an die scholastischen Potenzialitäts-, Identitäts- und Kontinuitätsargumente, die auch noch das vorgeburtliche Leben unter den Schutz der Verfassung rücken wollen, sondern an die für einige zum Traum, für die Mehrheit aber zum Trauma gewordenen Visionen von einer genetischen Perfektionierung des Menschen. Nietzsche, der seit der Berufung nach Basel die prometheische Erziehung des Menschengeschlechts proklamiert, dem es in allen kulturellen Leistungen um die Intensivierung des Erlebens und um die Potenzierung der produktiven Gestaltung geht und der seinen Zarathustra in allem nach steigernder Überwindung des Erreichten suchen lässt, ergänzen wäre: und von Ärzten die Ausführung von Abtreibungen selbst noch im achten Schwangerschaftsmonat verlangt, weil der Fötus eine Schädigung aufweist, die der künftigen Mutter als Zumutung erscheint. Folgt der Arzt dem Verlangen nicht, hat er für den „Schaden" aufzuZu

kommen, den das behinderte Kind den Eltern bedeutet.

Genom und Übermensch

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ist offen für die geschichtlichen Optionen des Darwinismus. Durch seine Begeisterung für die Idee der Renaissance, durch seine Überzeugung von der Bildsamkeit der individuellen Natur und nicht zuletzt durch seine in kritischer Distanz gewahrte Treue gegenüber der Aufklärung ist er auf den Gedanken der Evolution gut vorbereitet. Aber er geht weiter als alle anderen, die nach Hegel über die Geschichte hinaus zu denken versuchen: Er hält eine Zukunft für möglich, in der auch der Mensch überwunden ist. Sie soll aber gleichwohl die Zukunft des Menschen sein. Deshalb setzt Nietzsche dem Menschen das Ziel, sich in der Selbstüberwindung einer Entwicklungsstufe zu nähern, die nur noch die des „Übermenschen" sein kann. Wir brauchen lediglich an jene Passage zu denken, in der Zarathustra davon spricht, der Mensch werde sich zum Übermenschen verhalten wie der Affe zum Menschen, um augenblicklich die Ängste zu verstehen, die sich nicht nur mit Nietzsches Vision, sondern auch mit den futuristischen Perspektiven der Gentechnologie verbinden. Defacto findet die der Tradition, der Intuition und der alltäglichen Praxis widersprechende Position des Verfassungsgerichts nicht deshalb so viele Anhänger, weil die Mehrheit tatsächlich von der Personalität der befruchteten Eizelle überzeugt ist, sondern weil viele Menschen glauben, nur diese Position sei rigoristisch genug, um der Forschung die Arbeit an der Entwicklung eines Wesens zu verbieten, das die genetische Verfassung des derzeit lebenden Menschen hinter sich lässt. Zwar spricht man heute nicht vom „Übermenschen", sondern nur vom „Designerbaby". Aber das ist nur symptomatisch für den Verfall der Debatte über die Zukunft des Menschen. Immerhin wird beim Laborprodukt mit manipulierter Erbsubstanz an ein Wesen gedacht, dass sich vom genetischen Erbe des homo sapiens löst und eines Tages dazu führen könnte, nur noch die von Nietzsche karikierten „letzten Menschen" übrig zu lassen.

12. Die kulturelle

Sicherung der Gattungskonstanz

Die mit der Forschungslage vertrauten Naturwissenschaftler halten die Konsumentenutopie des „Designerbabys" für unseriös. Sie führen vor Augen, wie komplex der Zusammenhang zwischen dem Genom und dem jeweiligen Phänotyp eines menschlichen Individuums ist. Deshalb verweisen sie die genchirurgische Kosmetik der menschlichen Erbanlagen in das Reich der Phantasie. Es wäre gut, wenn die Vordenker des

deutschen Feuilletons davon Kenntnis nehmen würden. Gleichwohl darf man sich mit der Versicherung der Mediziner und Biologen nicht zufrieden geben. Niemand weiß, wie rasch sich die Forschung entwickelt und zu welchen Experimenten sich einzelne Menschen hingeben. Deshalb sollte man (freilich ohne die gängigen Dammbruch-Demagogien und ohne die widervernünftige „Heuristik der Furcht" ) jeden Eingriff in die Keimbahn unter Aufsicht stellen. Es muss 10 1'

KSA, ZA, 4, 14, Vorrede 3. Es handelt sich hierbei

ja nicht um

eine Erkenntnishilfe

zur

Erschließung der Furcht,

sondern

um

angebliche Erkenntnis durch Furcht. Wie das gehen soll, kann uns vermutlich nur jemand vor Augen führen, der Aufklärung durch Verdunkelung betreibt. eine

Volker Gerhardt

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überdies verboten sein, erbliche

Dispositionen zu schaffen, die nicht schon bei den Eltern gegeben sind. Wenn die hinreichende Bedingung für die Existenz eines Menschen darin liegt, dass er vom Menschen geboren ist, so haben wir die naturhistorische Voraussetzung seiner Individualität darin zu sehen, dass er Kind seiner Eltern ist und nicht über zusätzliche Erbanteile von Dritten verfügt. Sollten zwei Menschen, aus welchen Gründen auch immer, mit sich so wenig einverstanden sein, dass ihnen ihr eigenes Erbpotenzial nicht genügt, dann müssen sie auf Nachkommen verzichten. Nach meinem Urteil liegt darin keine Einschränkung der grundgesetzlich garantierten „Fortpflanzungsfreiheit". Die elterliche Herkunft ist das kulturelle Minimum der Konstanz, die wir in der Generationsfolge zu sichern haben sofern wir daran interessiert sind, dass sich der Mensch auch in Zukunft in seinesgleichen erkennt. Wir brauchen keine „Gattungsethik", was immer das auch sein mag. Wohl aber haben wir dafür zu sorgen, dass die genealogische Identifikation des Menschen mit jenen erhalten bleibt, aus deren kultureller Überlieferung wir stammen. Die Identität und Kontinuität in der Generationenfolge stehen hier bereits unter der Prämisse der Selbsterkenntnis des Menschen. Sie sind, anders als beim Embryo, nicht auf einen bloßen Naturvorgang bezogen und können daher im Interesse der historischen Selbstidentifikation des Menschen auch angesichts der größten kulturellen Unterschiede begründet werden. Sogar die Potenzialität können wir als eine Norm verstehen, die sich der Mensch setzt, um in der Entfaltung seiner Möglichkeiten dennoch bei sich selbst zu bleiben. Aber wird nicht eben damit die Schaffung von Voraussetzungen verhindert, die Nietzsches „Übermensch" den Weg bereiten könnten? -

-

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13. Die übermenschliche Herausforderung des Menschen In der Reihe der großen Programmbegriffe der Umwertung der Werte, des Willens zur Macht, der Vernunft des Leibes, der Physiologie der Kunst oder des Todes Gottes wirft der Begriff des Übermenschen die meisten Probleme auf. Er hat durch seine Nähe zu den antiken Heroen, die halb Götter und halb Menschen sind, einen mythologischen Ursprung. Aber auch die spätantike Tyrannenkritik kennt den Begriff, wenn sie die Überheblichkeit jener Herrscher illustrieren will, die sich wie ein Gott verehren lassen. Die etymologischen Wurzeln des Begriffs weisen auf den Terminus des hyperanthropos zurück, der, nach einer Vorgeschichte in den Psalmen, im Johannes-Evangelium und in den Briefen des Paulus eine bedeutende Rolle in der christlichen Patristik spielt und als super hominem auch in der Scholastik ein Name für den christlichen Erlöser bleibt. Diese Tradition führt über den Pietismus und die Frühromantik bis in jene Kreise, denen Nietzsches Vater nahe stand. Die säkularisierte Rede vom Übermenschen veranlasste aber schon Herder, an der Humanität des Begriffs zu zweifeln. Dass der Terminus dennoch eine Rolle spielt, zeigt das Beispiel von Goethes Faust, der im Text als „Übermensch" bezeichnet wird. In Christian Grabbes Faust wird gefragt: „Wozu übermenschlich, wenn du ein Mensch

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61

bleibst?" Die Antwort erfolgt in der Form einer Gegenfrage: „Wozu Mensch, wenn du nach Übermenschlichem nicht strebst?"12 Damit dürften wir der Bedeutung, die der Begriff in Nietzsches Zarathustra hat, am nächsten stehen: Er dient der Sicherung einer in heiliger Nüchternheit ergriffenen Zukunft des Menschen, nicht aber dessen Preisgabe. Pathos der Menschwerdung und Distanz zu seiner anthropozentrischen Überheblichkeit sind die widerstreitenden Motive in diesem Begriff. Mit größtem Überschwang wird die Fortsetzung der unendlichen Mission des Menschen verlangt, und zugleich wird sein Elend als Gattungswesen entlarvt, das jederzeit an sein natürliches Ende kommen kann. Dabei muss die forcierte Künstlichkeit des Menschen, auf die der Kulturphilosoph alle Hoffnung setzt, den Bankrott seiner mangelhaften Naturanlage beschleunigen. Doch so ambivalent die Prophétie des Übermenschen nach Nietzsches eigenen Entwürfen auch ist: Ihre bloße Tatsache ließe sich nicht erklären, wenn der Übermensch lediglich ein Evolutionsprodukt sein soll, das auf den Menschen folgt.

14. Der Übermensch als Zukunft des Menschen Was hätte die Botschaft des Zarathustra überhaupt zu verkündigen, wenn es nur um die Proklamation einer naturgeschichtlichen Reihenfolge ginge? Selbst wenn es dem Menschen gelänge, das mutagene Bindeglied zwischen den Affen und den Übermenschen zu sein: Was hätte er damit zu tun? Und sollte sich auf das eindeutige „Nichts" der Antwort auch nur ein Schatten der Unsicherheit legen, sollte nur ein Hoffnungsschimmer bestehen, das über ihn hinaus gehende Wesen könne irgendwie „mehr" sein als er, dann wäre augenblicklich klar, dass der Mensch nur eine dominierende Aufgabe haben kann: nämlich die, den Übermenschen zu verhindern. Denn es kann nicht im Interesse des Menschen liegen, über sich hinaus ein Wesen zu schaffen, das ihm durch überlegene Fähigkeiten die Aussicht auf das eigene Dasein nimmt. Warum sollte ein „freier Geist" es auch nur zulassen wollen (geschweige denn sein „höchstes Ziel" darin haben), ein überlegenes Wesen hervorzubringen, das seine Freiheit einschränkt? Es reicht schon aus sich vorzustellen, dass sich der Übermensch für die Freiheit des Geistes nicht mehr interessiert, um alles daran zu setzen, den Übermenschen gar nicht erst möglich werden zu lassen. Da alles dies nicht Nietzsches Absicht sein kann, bleibt nur die Konsequenz, den Begriff des Übermenschen anders zu verstehen. Er meint nicht die nach oder neben dem Menschen historisch auftretende Spezies, die ihn entweder verdrängt, vernichtet oder für sich arbeiten lässt. Der Ausdruck ist vielmehr nur eine Metapher für den in allem über sich hinaus strebenden Menschen. Gelegentlich hat Nietzsche in seinen Texten den Ausdruck „großer Mensch" gestrichen und durch „Übermensch" ersetzt. Hier erbringt der Terminus eine rhetorische 12

Siehe dazu grundlegend: Ernst Benz, „Das Bild des Übermenschen in der europäischen Geistesgeschichte", in: E. Benz (Hg.), Der Übermensch. Eine Diskussion, Zürich 1961, 19-161; vgl. auch: Volker Gerhardt, Art.: „Übermensch", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Basel 2001,46-50.

Volker Gerhardt

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Verschärfung für etwas, das der Mensch für sich selber will. Wir haben hier eine bereits in den Grundbegriff eingehende Provokation, mit der die besten Kräfte des Menschen herausgefordert werden sollen. Wie der heros der antiken Mythologie, wie der aristos, der mégalos oder der megalopsychos in der antiken Ethik, und wie der sich selbst überwindende Heilige in der christlichen Tradition, so verlangt der Übermensch nicht mehr und nicht weniger als die Selbststeigerung des Menschen. Dabei bleibt es eine notwendige Voraussetzung des individuellen wie des kollektiven Wollens, dass der Mensch

nicht nur Mensch, sondern auch menschlich bleibe. Nietzsches Spott auf die Humanitätsseligkeit seiner Zeitgenossen macht es nicht leicht, diesen Sinn des rhetorisch aufgeladenen Grundbegriffs zu verteidigen. Auch sein martialisches Züchtungsvokabular scheint dem entgegenzustehen. Hebt man jedoch in seiner Zeitkritik die Priorität für individuelle Ansprüche hervor, entdeckt man selbst noch in seinen biologistisch erscheinenden Maßlosigkeiten die Emphase des Erziehers, der auf Realitäten verweisen will, um den Selbstanspruch des Einzelnen zu wecken, kann an der kulturellen Präferenz der Vision des Übermenschen kein Zweifel sein. Das aber heißt: Der Prospekt des Übermenschen hat nur solange einen Sinn, als er in der Perspektive der Humanität verbleibt. Was folgt aus dieser Einsicht für Nietzsches Rolle in der Debatte über die Gentechnologie? -

15. Ein

systematischer Vorsprung

Friedrich Nietzsche hat seine Leser von Anfang an genötigt, an die Zukunft zu denken. Er hat sich vom bleiernen Historismus seines Zeitalters abgesetzt, hat nicht nur geschichtliche Epochen, sondern auch seine eigene Gegenwart als Renaissance zu begreifen versucht, und wollte vor allem den Blick für die Möglichkeiten des Menschen frei bekommen. Damit hat er, wie wir wissen, keine Schule gemacht. Alle Versuche, ihn für den Futurismus der Ideologien zu vereinnahmen, sind im 20. Jahrhundert so gründlich gescheitert wie die damit verbundenen Ideologien selbst. Das hat die Philosophie nach 1945 einmal mehr auf die Reflexion der Geschichtlichkeit zurück geworfen. Und bei dieser Regression wird es bleiben, wenn es nicht gelingt, eine individuelle Perspektivik auf das Kommende gerade auch in ihrer politischen Bedeutung zu eröffnen. Die schon seit Kant und Hegel unabweisbare Aufgabe einer Verknüpfung von Individualität und Universalität ist durch Nietzsche zu einer zentralen kulturellen Aufgabe geworden. Nietzsche hat seine Leser in einer inzwischen mehr als hundertjährigen Interpretationsgeschichte genötigt, die individuelle Perspektivik einzuüben. Er hat ihnen abverlangt, Begriffe zu deuten, die sich nur in der Überschreitung von Geschichte und Gegenwart verstehen lassen: Wie wollten wir die Metaphorik der „Geburt" einer neuen Kunst- und Lebensform verstehen, wenn wir nicht das Kommende einbeziehen? Wie wäre das „Unzeitgemässe" zu fassen, wenn die noch nicht gekommene Zeit ausgeblendet bliebe? Was besagt eine Kritik am „Menschlich, Allzumenschlichen", wenn nicht die damit verbundene Option auf das „Übermenschliche" gedeutet wird? -

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Alle großen Titel Nietzsches, von der Geburt der Tragödie, über die Morgenröthe und die Fröhliche Wissenschaft bis hin zu Jenseits von Gut und Böse, Ecce homo und Anti-Christ, alle seine tragenden Begriffe, von der Dynamik in „Traum" und „Rausch" bis hin zur „Umwertung der Werte", dem „Willen zur Macht" und der „ewigen Wiederkehr", am deutlichsten aber der „Übermensch" enthalten das Programm, die Gegenwart von der möglichen Zukunft her zu denken. Wenn eine Gesellschaft, die es aus verständlichen Gründen der Name Auschwitz mag als Andeutung genügen bislang nicht wagte, aus dem Schatten ihrer Vergangenheit herauszutreten, wenn, sage ich, eine solche Gesellschaft durch die Handlungsdynamik von Wissenschaft und Forschung genötigt wird, sich dennoch auf ihre Zukunft einzulassen, wird man zumindest hoffen dürfen, dass ihr die Nietzsche-Forschung dabei eine Hilfestellung gibt. Nietzsche bietet uns zwar keine Wahrheiten über die Zukunft, wohl aber den fortgesetzten und existenziell beglaubigten Versuch, die Grenzen von Vergangenheit und Gegenwart zu überschreiten. Vielleicht lässt sich von der theoretischen Einübung auf das Kommende auch etwas für das Kommende erwarten. -

-

PlRMIN STEKELER-WEITHOFER

Lebenswelt und Menschenzoo Nietzsches Ethik des Überstiegs vom Bedürfniswesen zur authentischen Person

fragt Heidegger in einem berühmten Text und antworÜbermenschen. Aber wer ist Nietzsches Übermensch? Vieles wird an der vorgeschlagenen Antwort unbefriedigend bleiben. Denn jede Interpretation eines Denkens ist nur die Fortsetzung eines offenen Gesprächs. Sie lässt nicht nur Erweiterung, auch Widerspruch, zu, sondern verlangt sie geradezu. Urteile, Meinungen und Wer ist Nietzsches Zarathustra?

tet: der Lehrer des

Intentionen lassen sich nicht als fertige Fakten wiedergeben. Daher kann auch hier die Grundidee Nietzsches von einer Welt authentischer Personen bestenfalls schärfere Konturen erhalten. Ihr zufolge verweist uns die Frage nach dem Sinn, gestellt an das einzelne menschliche Leben, immer auf einen Übergang der je herrschenden Verhältnisse in eine Richtung, die durch das klassische Ideal der kalokagathia, des vollkommen guten und schönen Lebens auf der Erde gegeben ist.

1.

Aponen des Objektivismus und Altruismus

Ausgangsprobleme prägen Nietzsches Denken. Das eine besteht in der bis heute vielbesprochenen Erschütterung des Selbstbewusstseins des europäischen Menschen erstens durch die kopernikanische Wende in der Kosmologie zweitens durch die Säkularisation der Religion in der Aufklärung und schließlich durch den Siegeszug des evolutionstheoretischen Weltbilds nach Darwin. Es handelt sich um eine mehrphasige Dezentrierung der Ortsbestimmung des Menschen. Die entstehende wissenschaftliche Aufklärung, die sich nach wie vor auf den Erfolg des Erklärungsparadigmas der Mechanik Newtons stützt, kritisiert als dogmatische Metaphysik und als narzisstischen Mythos die religiöse Idee, der Mensch mit seiner besonderen Beziehung zu Gott stehe im Mittelpunkt der Welt. Die Erde und der Mensch rücken im neuen Welt- und Selbstbild an die Peripherie eines großen kosmischen Geschehens. Zwei

,

Heidegger, „Wer ist Nietzsches Zarathustra?", in: ders., Vorträge und Aufsätze 1936-1953, hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt/M. 2000 (HGA I, 7), 97-122. Vgl. dazu Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, 3 Bde, Frankfurt/M. 1981. Martin

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Stekeler-Weithofer

Freilich ist schon Kants kopernikanische Wende der Denkungsart als erkenntniskritische Wende rückwärts zu begreifen.3 Es handelt sich um Argumentationsschritte in Richtung einer Re-Zentrierung des Weltbildes des Menschen im Menschen. Alles Wissen über den Kosmos und über uns selbst ist menschliches Wissen, für Menschen gemacht und von Menschen verantwortet. Was dies im Detail bedeutet, bleibt in der Folge allerdings umstritten. Während die Philosophie und Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts aufgrund ihrer Reflexion auf die Kulturgeschichte insgesamt der Romantik verpflichtet sind4, gewinnt in der breiten Öffentlichkeit das naturwissenschaftliche Welt- und Selbstbild in der Auseinandersetzung mit der religiösen Tradition mehr und mehr die Oberhand.5 Angesichts der Erfolge der Natur- und Technikwissenschaften bei der Erklärung der Genese der Welt, der Evolution der Arten und der rekonstruktiven Modellierung von intelligentem Verhalten erscheinen nicht nur die theologischen, sondern auch die geisteswissenschaftlichen' Aussagen zur Besonderheit der Form, des Status und der Leistung menschlichen Geistes als romantisch und subjektivistisch, kurz, als unwissenschaftliche und daher unzeitgemäße Spekulationen ohne empirische Basis. Das zweite Problem ist strukturell verwandt. Es betrifft die Dezentrierung der Ethik in mindestens zwei Schritten. Nachdem nämlich die antike Idee personaler Vollkommenheit in einer selbstverwalteten Polis ersetzt worden war durch die religiöse Massenbewegung einer Nachfolge Christi, wird die Religion seit dem 17. Jahrhundert mehr und mehr in ihrer friedenssichernden Funktion für die Nation dem Staat untergeordnet (Hobbes) und die Ethik in ihrer Funktion für den Erhalt der Gattung bzw. für die Sicherung gegenseitiger Freiheitsspielräume begriffen. Dabei werden Mensch und Tier primär als Bedürfnis- und Mängelwesen gesehen. Ethik wird zu einem System von Normen, das zunächst der kollektiven Befriedigung von Bedürfhissen und der Lösung von Problemen der Handlungssicherheit und der Koordination im menschlichen Zusammenleben dient, dann aber auch die Sorge für alle leidensfähige Kreatur umfasst. Die entsprechende Ethik der Empfindsamkeit, des moralischen Sentiments im 18. Jahrhundert findet sich bei Hutcheson und Hume ebenso wie bei Voltaire und dann auch noch bei Bentham und Schopenhauer. Die genannte Dezentrierung der Ethik führt von der Eudaimonia der Personen in einer autonomen Polis zunächst zur Unterordnung unter eine religiöse Gemeindeordnung, dann zur Pflicht zum Erhalt von Staat, Nation und Gattung, und schließlich zum empfindsamen Aufruf zum Mitleid mit allem, was lebt und zur Fürsorge für alles Lebendige. Diese Entwicklung liegt als implizite Vorgeschichte dem ethischen UtilitarisDamit bemerkt übrigens Kant lange vor Nietzsche die Bedeutung des perspektivischen Ortes der Betrachtung der Dinge und den performativen Aspekt jedes Denk- und Behauptungsakts wobei er freilich Hume und Leibniz (und damit Berkeley und insbesondere Descartes) mehr verdankt, als er -

4

selbst und viele seiner Leser anerkennen. Zur Denkbewegung der Romantik, wie sie hier begriffen wird, gehören weit mehr Dichter und Denker, als die üblichen literaturhistorischen Feinklassifikationen festlegen, nämlich Goethe und Schiller ebenso wie etwa Carlyle, Tolstoi oder Dostojewski, Fichte, Hegel und Schopenhauer ebenso wie Emerson, William James, Nietzsche und am Ende Wittgenstein und Heidegger. Man denke etwa an den Erfolg von Populärwissenschaftlern wie E. Haeckel oder D. Morris oder auch, in der Gegenwart, Wolf Singer.

Lebenswelt und Menschenzoo

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zugrunde. Aber schon im rhetorischen Kampf gegen einen angeblich unbegründeten Anthropozentrismus etwa auch in der kantischen Ethik sehen wir eine merk- und denkwürdige Selbstvergessenheit utilitaristischer Argumente. Denn sie selbst kommen nicht ohne den subjektiven Appell an das Sentiment oder die Mitleidsgefühle der je Angesprochenen aus, abstrahieren aber von eben dieser Tatsache. Nietzsche erkennt dabei den verdeckten Widerspruch zwischen dem universalen Inhalt und der partikularen Perspektive der Sprecher als das tiefe Problem jeder Ethik des ,neutralen' Utilitarismus und Altruismus. Es handelt sich um die eigentlich völlig triviale, aber in ihrer Bedeutung unterschätzte, weil nicht einmal artikulierte, Einsicht, dass die appellative Forderung des universalen Mitleids und der universalen Fürsorge (nur) von Personen erhoben und (nur) an Personen gerichtet ist. Wir sollen gewissermaßen paritätisch mit allem mitfühlen, was lebt und leidet. Wir sollen dessen Bedürfhisse befriedigen und seine Präferenzen wie unsere eigenen zählen. Nicht gestellt wird die Frage, wer oder was ist es, der oder das diese Forderung an mich erhebt. Und auch die Frage, warum mein Altruismus einen diffusen Nutzen fördern soll, wird, wenn sie überhaupt gestellt wird, durch Appell an eine angebliche Intuition beantwortet. Damit werden die genannten Fragen im Utilitarismus ebenso wenig zureichend beantwortet wie im üblichen Vermus

ständnis der christlichen Moral der Nächstenliebe. Während letztere auf ein in seinem Status in der Regel gänzlich unbegriffenes göttliches Gebot verweist und vom Einzelnen Gehorsam einfach fordert, streicht der Utilitarismus, als partielle Säkularisierung christlicher Ethik, im Grunde nur die Rede von Gott, bleibt damit aber nicht weniger ,dogmatisch'. Das göttliche Gebot wird ersetzt durch eine angeblich unmittelbare Einsicht oder Intuition in die ethischen Gebote des ,neminem laede1 und der ,Hilfefür alle bedürftige Kreatur'. Nietzsche sieht, dass die moralische Pflicht zur diffusen Maximierung des konsequentiellen Nutzens bzw. der Summe der Glückswerte für eine möglichst große Menge von Lebewesen unbegrenzt bleibt, wenn sie nicht von uns selbst als anerkennbar einsehbar ist, und jeden Sinn verliert, wenn die Zwecke nicht in gewisser Weise im guten Leben des je einzelnen Wesen zentriert bleiben.6 Das ist nach meiner Deutung auch der Kerninhalt der These Nietzsches, dass Gott an seinem Mitleiden gestorben ist: Das Ideal des Guten und Schönen ist im christlichen ebenso wie im utilitaristischen Altruismus sinnleer geworden. Normative Ethik wird sinnlos, wenn im wesentlichen das Glück der anderen Lebewesen oder einer diffusen Masse oder Gattung unserem sorgenden Tun Sinn und Wert geben sollte. Sinnsetzung und Wertung gibt es immer nur im Leben von Personen. Der angebliche Moralnihilismus Nietzsches besteht in dieser anti-utilitaristischen und eben damit anti-altruistischen, anti-christlichen, anti-sozialistischen, zugleich antinationalistischen Einsicht, dass die reine Beförderung eines diffusen, vielleicht sogar immer bloß zukünftigen, allgemeinen und dezentrierten Nutzens nicht bloß praktisch unmöglich, sondern am Ende vollständig sinnlos ist. Stattdessen muss der Sinn jedes Tuns im Leben der individuellen Personen hier und jetzt auf doppelte Weise zentriert 6

7

Zur Kritik an jeder Objektivierung' durch Entselbstung in theoretischer Hinsicht vgl. KSA 5, 134ff. Vgl. dazu u. a. KSA, ZA, 4, 113ff., 2. Buch: „Von den Mitleidigen" und 4. Buch, Vorrede, 294ff.

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bleiben: als Sorge um sich und als eigene Wertung und Schätzung des Guten und Schönen. Die Anerkennung jeder Verpflichtung jedenfalls muss die Form einer Selbstverpflichtung von mir als Person annehmen. Um ein angemessenes Verständnis von Kants Moral der Autonomie kommt daher kein Utilitarist herum, freilich auch Nietzsche nicht. Aber auch eine kantische Ethik der (Selbst-)Verpflichtung bliebe sinnlos das ist die Kernthese der Ethik Nietzsches gäbe es nicht das Ideal des perfekten Schönen als ästhetische Zielvorstellung vom guten Leben. Authentizität ist damit mehr als Autonomie: Es ist die Haltung, in der die Selbstbestimmung zum ästhetischen Wert wird. Anders als in der Darstellung Kants, dem die Form der Pflicht einseitig zum Wesen der Moral wurde, hat die Ethik bei Nietzsche damit wieder, wie in der Antike, ein Ziel oder telos. Aber dieses Ziel ist nicht das des konsequentialistischen Utilitarismus. Denn diese Säkularisierung christlicher Ethik führt nach Nietzsche zu einem Verhalten, das dem einer Herde ohne Hirten ähnelt. (KSA, ZA, 4, 20) Die ,letzten Menschen', d. h. wir selbst, bilden eine solche Herde, eine Art Menschenzoo, in dem wir gleichzeitig die Rollen von Wärtern spielen und von uns und anderen gewartet werden. Wir selbst sind die Abgerichteten und die Abrichter. In diesem Denkkontext steht Nietzsches radikale Kritik an allen bloßen Konventionen, den realen und ideellen Zäunen um unser kleines Eigentum zur gegenseitigen Absicherung unserer Handlungsspiehäume und den Verhaltensschranken zu unserer Bequemlichkeit. Überschreitungen werden dabei oft genug gnadenlos sanktioniert. Dabei orientieren wir uns weitgehend blind an dem, was man so tut, was man für Recht und Gesetz hält und was man zu wissen glaubt. Man meint zum Beispiel in der liberalen politischen Philosophie der HobbesNachfolge, den friedens- und freiheitssichernden Sinn des staatlichen Schutzes jeder Art und hält damit am Ende unsere ökovon Eigentumsrechten unmittelbar zu begreifen nomische Ordnung, wenn schon angesichts der sich ergebenden Ungleichheiten nicht in allen Belangen für ,gerecht', so doch in ihren Grundzügen für notwendig und damit für richtig, moralisch vertretbar. Oder man meint, das evolutionstheoretische Erklärungsmuster von der Entstehung und der Ausbreitung bzw. dem Aussterben biologischer Arten auf die Entwicklung der Menschen und ihrer Kompetenzen übertragen zu können so dass dies alles in ein Bild physikalisch erklärbarer Welt passt. Und doch entsteht aus einem derartigen ,Wissen', übrigens trotz aller Aufweichung einer deterministisch gedachten Kausalität zur probabilistisch behandelten Statistik in der Quantentheorie, ein partiell selbstwidersprüchlicher Werte-Nihilismus und Werte-Relativismus. Über die Verfolgung der je eigenen Präferenzen, seines eigenen kleinen unmittelbaren Glücks, und über die ebenso unmittelbaren Gefühle des Mitleidens und der Mitsorge hinaus wird dem Menschen in diesem Bild alles Ethische sinnlos10. Das gerade ist die zutiefst ambivalente Haltung der Moderne. Sie schwankt zwischen einer angeblich objektiven und wertfreien wissenschaftlichen Kosmologie und einer angeblich immer nur subjektiv -

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wertenden Ethik. Man unterschlägt die eigenen Appelle, Aufrufe, Sollensurteile und versteckt sich daher nicht anders hinter einem angeblichen Wissen, als der religiöse 8

9 10

Vgl. dazu z. B. KSA, FW, 3, 116, 474. Zur Herde des Man vgl. auch KSA, JGB, 5, 202, 124. Vgl. KSA, ZA, 4, 20.

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Prophet sich hinter einem Gott versteckt. Sie hebt das Individuum verbal in den Himmel und unterwirft sich praktisch den Massenkonventionen traditioneller Moral und politischer Korrektheit. Nietzsche sieht damit zugleich, dass jede Suche nach neutralen Perspektiven und Kriterien scheitern muss. Gerade die Unterstellung von Objektivität führt zu einem besonders nachhaltigen Subjektivismus im Urteil. Gerade der Rückzug auf das rein Private und die Fundierung jeder Wertung in einem rein subjektiven Sinn' (wie später etwa bei Max Weber11 oder auch Richard Hare12), also in je meinen unmittelbaren Begierden und Wünschen, bedeutet am Ende einen Rückfall in das Leben von Schafen, die angepflockt sind an den Augenblick, wie Nietzsche zu Beginn der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (KSA, HL, 1, 248), den Unterschied von Mensch und Tier in bezug auf die verschiedene Form der

Zeitlichkeit des Lebens anschaulich charakterisiert. Nietzsches Zarathustra zeigt uns den modernen Menschen im Typus des letzten Menschen. Er hält uns damit einen Spiegel vor. Der letzte Mensch annulliert den Unterschied zwischen Tier und Mensch auf hohem Niveau. Er tut dies aufgrund seines vermeintlichen kosmologischen Wissens, in das auch die eigene Ethik eingebettet wird. Abgeklärt blinzelt der letzte Mensch, wenn er vom Heroentum der Antike hört, dem Adel der Frühen Neuzeit oder von einer romantischen Sehnsucht im Rückblick auf religiöse Traditionen. Er unterstellt eine Differenz zwischen Wissen und objektiver Wahrheit, ohne diese Unterscheidung in ihrer Immanenz zu begreifen. Auch zwischen einer Erklärung von Vergangenem post hoc und der aktiven Haltung zu einer offenen, zum Teil durch unser Wollen mitbestimmbaren Zukunft kann der letzte Mensch nicht unterscheiden, und zwar weil er im Unterschied zu seinen romantischen Gegnern die dienende Rolle erklärenden Wissens für das Handeln und Leben nicht begreift. Er erkennt das Projekt des Wissens nicht als unsere Tat und als unser Projekt. Die letzten Menschen betrachten sich selbst aus vermeintlich objektiver Perspektive. Sie verstehen sich damit als Bedürfhisbefriedigungs- und Mängelwesen. Sie übersehen dabei, dass sie Teilnehmer an einem Projekt der Selbstbildung mit dem Ziel der Vervollkommnung personalen Lebens sind. Eben das ist nach Nietzsche die Entwicklungstendenz des modernen Selbstbewusstseins nach der Säkularisation, der sich die Romantik mehr oder weniger vergeblich entgegenstemmt. Dabei steht die Romantik freilich dauernd selbst in der Gefahr, wieder fromm (religiös, metaphysisch, hinterweltlerisch) oder zum quietistischen Biedermeier zu werden wie das ja unter anderem bei den Protagonisten Schelling und Schlegel, Novalis, Brentano, Schopenhauer und zum großen Leidwesen Nietzsches am Ende auch bei Wagner zu sehen ist. Nietzsche greift beide Haltungen an, die der Romantik und die der letzten Menschen, aber seine Zeitgenossen noch mehr als die inkonsequenten Romantiker. Denn in der bequemen Einhaltung vorgegebener Konventionen und Normen unserer eigenen Massenmenschhaltung sind wir wie Schafe einer hirtenlosen Herde. In der Unterordnung unter die traditionale Hierarchie einer den Glauben an Gott verwaltenden Kirche oder -

11

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Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Einleitung, Gesamtausgabe 22, 1, hg. Mommsen, Michael Meyer, Tübingen 2001. Richard Hare, The Language of Morals, Oxford 1952. Max

von

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Stekeler-Weithofer

eines neofeudalen Staates gibt es wenigstens noch (selbsternannte, aber nicht selbstbewusste) Hirten mit einem (leider zutiefst verlogenen, weil nicht anerkannten) Willen zur Macht.

2.

Zentrierung in der ersten Person

Höheres menschliches Glück stellt sich nach Nietzsche nur aus einem Überschuss an Kraft und Macht ein. Dieses gibt es nicht in der Herde. Die Herde lebt nur im Augenblick und käut die Vergangenheit unbewusst wieder. Das Glück der Freiheit und Autonomie allein führt zu ,Eigentlichkeit' und ,Authentizität'. Es verlangt die bewusste Übernahme der Perspektive und Rolle der ersten Person, die des Handelnden. Hier entwickelt Nietzsche übrigens Einsichten Fichtes und der Frühromantik weiter, an denen 1% auch ein J. St. Mill nicht vorbeigekommen ist. Die Besonderheit dieser Perspektive der ersten Person im Singular und im Plural, des Ich und des Wh, besteht darin, dass es in ihr immer, und zwar zuvörderst um unser eigenes gutes Leben geht und auch gehen darf. Wenn Nietzsche dabei den Ausgangspunkt von allem Guten und Wahren im Egoismus sieht, spricht er, erstens, aus der Sicht der Tradition und nennt damit, zweitens, eine Aporie. Es ist ebenso diese Aporie, deren Auflösung eine Umwertung der traditionalen Wertungen der Moral verlangt, wie wir noch etwas genauer sehen werden. Wird die Zentriertheit jedes Sinns in der ersten Person nicht anerkannt, dann wird sowohl jede Norm als auch jeder Wissensanspruch ziel- und sinnlos.14 Nicht also das illusorische und zugleich jede Autonomie gefährdende Streben nach einem transzendenten und universalen Guten, nach angeblich allgemein rationalen Urteilsverfahren, nach einem ewigen Wissen und absoluten Wahrheiten, sondern die Idee der Entwicklung des Ideals einer freien Gemeinschaft autonomer und authentischer Personen ist das Leitmotiv kritischer Philosophie, wie sie Nietzsche begreift. Die Rede vom Übermenschen verweist darauf, dass faktische Verhältnisse, gegebene Denkweisen, tradierte Auffassungen von uns selbst und von unserem Wissen auf neue Weisen zu transzendieren, zu überschreiten sind. Der Typus des Übermenschen, von dem Nietzsche seinen Zarathustra sprechen lässt, ist also nicht etwa im Gegensatz zu einer Klasse oder Gruppe von Untermenschen zu begreifen, wie es die biologistischen Ideologien aller Nationalisten des 19. und frühen

14

John Stuart Mill verteidigt ja (sowohl in Utilitarianism als auch in On Liberty) die ,Freiheit' als höheren Geist gegen den reinen Utilitarismus Jeremy Benthams. Dabei ist dann freilich die Abhängigkeit der Autonomie der Personen von ihrer eigenen Geschichtlichkeit angemessen zu berücksichtigen. Dieses ist ein hochkomplexes Problem. Es hat zur Folge,

dass die besondere epochale Begrenztheit der Urteilsmöglichkeiten einer jeden einzelnen Person und dann auch die allgemeine temporale und lokale Zentriertheit jedes Daseins, jedes Lebens, Handelns anzuerkennen ist. Es kann daher keine Person einfach von sich, und das heißt hier: von ihren eigenen impliziten oder expliziten, unbewussten oder bewussten, heteronomen oder dann vielleicht auch authentischen Wertsetzungen und Wertanerkennungen völlig abstrahieren oder absehen. Diese bilden vielmehr die reale Grundlage jeden Sinns und jeden Werts, gerade auch jeder Sinngebung und Wertsetzung.

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20. Jahrhunderts gewollt haben. Das Bild vom Übermenschen steht im Gegensatz zu den Bildern, die man sich von sich selbst macht, aber auch zu dem, wer wir selbst noch immer sind. Es handelt sich um das Idealbild einer selbstständigen Person, die ihre Begrenztheiten, ihre natürliche und kultürliche Weltlichkeit und Geschichtlichkeit bewusst anerkennt. Die Entwicklung des Ideals der Autonomie gerade auch moralischen Urteilens durch freie Disziplin oder Selbst-Zucht und nicht etwa die Abkehr von jeder Moral ist Ziel von Nietzsches Überlegungen. Die üblichen, am Ende sogar faschistischen, Deutungen der Rede vom Übermenschentum etwa im Anschluss an das vermeintlich ungeteilte Lob der ,blonden Bestien', der Arier, sind Missverständnisse, auch wenn bei Nietzsche selbst derartige Missverständnisse seines eigenen Denkens zu finden sein mögen.

3. Das

Subjekt als Kompetenzträger und als Untertan

Autonome Personen haben nach Nietzsche die Besonderheit, dass sie etwas frei versprechen und sich damit selbst verpflichten können und dürfen wobei dieses Können und Dürfen offenbar selbst schon in einer Gemeinschaft stattfindet und damit durch eine Wir-Gruppe der freien und autonomen Personen und nicht einfach durch mich als Einzelwesen bestimmt ist. Wenn die Wir-Gruppe derer, die ethische Selbstverpflichtungen eingehen und anerkennen, mit der Gruppe der Adressaten und Betroffenen zusammenfallt, könnte man die Normen, die durch diese Selbstverpflichtungen definiert sind, „wir-autonom" nennen. Schon Hobbes und Rousseau und mit ihnen auch Kant sahen in der Wir-Autonomie den einzig anerkennbaren Grund rechtlicher bzw. moralischer Verpflichtung. Das Problem ist nun aber, dass die Gruppe der gesetzgebenden Personen zumindest in der jeweiligen Gegenwart nicht mit der Gruppe der Subjekte zusammenfallt, die von diesen Festlegungen betroffen sind, den Untertanen der moralischen oder rechtlichen Regelungen. Andererseits hat Nietzsche ähnlich wie schon Kant erkannt, dass es eine gewisse Tendenz zur Selbstverwandlung der Personen in Untertanen Sie besteht im Verzicht auf die Mühe autonomer Selbstdisziplin zugunsten einer bequemen und nützlichen Unterordnung unter Traditionen und Mächte, unter Herrscher und Führer, unter vorgesetzte Götter oder dann auch unter Durchschnitts- oder Herdenurteile, unter einen Common Sense. Für Nietzsche ist dies ein Mangel an Kultur und Selbstzucht, ein Fehlen autonomer humaner Bildung. Nachdem es die Möglichkeiten der Kultur autonomer Vernunft gibt, ist dies immer auch Verfall und Verlust. Wie Kant fordert daher gerade —

gibt.16

15

16

Insgesamt aber ist das Folgende vollkommen klar: Nietzsche ist weder Antisemit noch Philogermane. Seine idealfypischen Analysen werden abgrundtief missverstanden, wenn man sie so liest, als ginge es um Eigenschaften irgendwelcher realen Menschengruppen, Rassen oder auch um die ganze Menschheit als Gattung. Als .Lesart' Nietzsches sind alle derartigen Deutungen eigentlich gar nicht diskutierbar, sondern bloß Zeichen einer Legasthenie, die ebenso Folge einer Vereinnahmung wie auch einer wichtigtuenden Kritik sein kann, auch wenn sie die faktische Rezeptionsgeschichte Nietzsches stark geprägt haben. Zum faulen und dummen ,Willen

zum

Glauben'

vgl. KSA, JGB, 5, 193,

113.

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auch Nietzsche in Fragen der Moral und des Rechts das ,sapere sich seines eigenen Denkens und Urteilens zu bedienen.

4. Die

aude!', also den Mut,

prekäre Zeitlichkeit des Handelns: Reue und Gewissen

Es gibt freilich ein tiefes Problem, in welches die Rede von einer Selbstbestimmung oder einer Willens- und Handlungsfreiheit gerät, wenn man mit Nietzsche metaphysische Seelenlehren und mythologische Theologien ablehnt und die Immanenz der Erfahrungs- und Lebenswelt als einzige Realität anerkennt. Das Problem entsteht gerade aus der Zeitlichkeit des intentionalen oder planmäßigen Handelns im Allgemeinen, der Selbstformung von kompetenter Handlungsmacht durch Lernen, Selbst-Disziplin und Selbst-Zucht im Besonderen. Als Grundproblem zeigt es sich besonders klar am Phänomen der Reue. Wenn ich bereue, etwas getan zu haben, dann bedauere ich nicht bloß, dass ein gewisses Ergebnis eingetreten ist. Ich bereue vielmehr meine eigene Entscheidung. Die Differenz zwischen Reue und Bedauern korrespondiert in gewisser Weise der zwischen der Verantwortung für etwas und der bloßen Verursachung von etwas. Jemand kann allerlei bedauern, etwa dass seine Geburt zum Tod seiner Mutter geführt hat, dass er nicht in Monaco geboren wurde oder dass es seine Eltern und Voreltern sind, die als Deutsche für schreckliche politische Fehlentscheidungen und für unvorstellbare moralische Greueltaten zumindest mitverantwortlich waren und sind. Aber da er zu all dem nichts konnte, kann er es nicht bereuen. Das Bedauern betrifft, ganz allgemein gesagt, irgendwelche unerfüllten Wünsche. Reue ist nun nicht einfach Bedauern, eingeschränkt auf Folgen unseres eigenen Verhaltens. Sie betrifft vielmehr nur Handlungsoptionen des Subjekts selbst, und zwar solche, die realiter gegeben waren. Reue ist Beurteilung meiner oder unserer früheren Handlungsmöglichkeiten und Handlungsentscheidungen im Rückblick. Das Bild von einem Aufruf zur Reue über den Anruf des Gewissens (Heidegger) drückt dabei folgende Struktur aus:18 Nach einer Tat gibt es immer den impliziten Aufruf zur Reflexion auf das Tun und seine Zielsetzung. Es handelt sich um den Aufruf zur Selbstkontrolle unserer eigenen Handlungspläne und Alternativmöglichkeiten. Denn gerade nach Kenntnis der realen Ergebnisse unseres Tuns ist die Kontrolle der Zielerfüllung notwendig. Wenn das Ziel nicht erfüllt ist, dann ist nämlich möglicherweise immer noch einiges zu tun, 17

unterstellen wir, dass wir nur wünschen, was nicht da ist. D. h. jemand hat einen wenn der Wunsch aus seiner Perspektive (noch) unerfüllt ist, weil sonst die modale Zeitstruktur des Wünschens nicht gegeben wäre: Wir wünschen, dass (in der Zukunft) etwas der Fall sein möge, was unseres Wissens noch nicht der Fall ist. Und wir bedauern etwas, wenn wir, in einer Art Perspektivenwechsel, der uns zum Blick auf die Gegenwart aus einer früheren Zeit führt, heute urteilen, dass wir damals bei entsprechendem Wissen gewünscht hätten, dass das, was dann doch geschehen ist, nicht geschehen möge. Man kann diese Grobcharakterisierungen verfeinem, aber das ist für uns hier nicht weiter wichtig; den meisten Zwecken genügt sie bei ausreichender Urteilskraft in der Anwendung vielleicht ohnehin schon. Vgl. dazu KSA, FW, 3, 335, 560ff. In der

Regel

Wunsch

18

nur

dann,

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entweder um das Ziel selbst doch noch zu erreichen, oder um es im zukünftigen Handeln nicht ähnlich weit zu verfehlen wie bisher. Nietzsche nimmt hier nach meiner Deutung in wesentlichen Punkten begriffliche Analysen der besonderen Zeitlichkeit des menschlichen Daseins und des menschlichen Handelns, der Reue und des Gewissens, des Man und der Masse vorweg, wie sie später in Martin Heideggers bahnbrechendem Werk Sein und Zeit systematisch ausgearbeitet werden. In Vorlesungen, Artikeln und den beiden Bänden zu Nietzsche fühlte sich Heidegger offenbar verpflichtet, seine Ideen bei Nietzsche selbst zu rekonstruieren um zugleich sein eigenes Denken von dem Nietzsches abzuheben. Dabei thematisiert Nietzsche die Reue unter dem nicht leicht zu verstehenden Titel „Geist der Rache". Rache ist bei Nietzsche nicht bloß die spätere Sanktion gegen eine Verletzung oder auch nur gegen eine unerwünschte Tat, die von anderen Personen begangen wurde. Rache wird allgemeiner verstanden als „des Willens Widerwillen gegen die Zeit und ihr ,es war'" (KSA, ZA, 4, 180). Rache ist damit für Nietzsche der Versuch, Getanes oder Geschehenes durch ein neues Tun irgendwie ungeschehen zu machen. Nietzsches Kritik an diesem Geist der Rache richtet sich aber nicht nur gegen Überreaktionen auf entsprechende Geschehnisse post hoc, wie sie in Militärstrafaktionen oder allzu schnellen Gesetzesänderungen ihre fröhlichen Urstände feiern, sondern gegen jede Art von falsch verstandenem Bedauern. Was damit gemeint ist, ergibt sich, wenn wir zwei falsche Weisen betrachten, den Geist der Rache zu bekämpfen.21 Die erste besteht darin, den Anruf des Gewissens als metaphysischen Aberglauben auszugeben oder auf zu einfache Weise zu säkularisieren. Letzteres geschieht im Wesentlichen bei Freud, der das Gewissen als Über-Ich deutet, gewissermaßen als sublimierte Vaterfigur. Der Vater sagt, was ich zu tun habe. Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich nicht tue, was der Vater sagt. Reue ist hier die Anerkennung der Stimme des Über-Ichs, des Übervaters, der Tradition und damit ein Zeichen von Heteronomie. Freuds Psychologie ist defizitär, gerade weil sie keine zureichende Antwort auf die Frage gibt, wie wir der übermächtigen Vaterschaft der Tradition entgehen können, ohne in neue Abhängigkeiten zu geraten etwa in die des Psychoanalytikers und seiner Theorie. Und sie ist defizitär, weil sie den Anruf des Gewissens und die Möglichkeit von Reue nicht als notwendige Bedingung autonomen Handelns erkennt. -

-

-

20

21

Es ist dabei nicht leicht, zwischen illusorischen und realen Möglichkeiten post hoc zu unterscheiden. Daher ist es auch nicht leicht, zwischen Willensschwäche, Unkenntnis und Denkfehlern bei der Wahl der Mittel zu unterscheiden. Noch schwieriger wird es, wenn man zwischen tatsächlichen, möglicherweise inkonsistenten, Präferenzbewertungen praeter hoc und möglicherweise rein tautologischen Zuschreibungen von Präferenzen oder von Änderungen früherer Präferenzen post hoc unterscheiden möchte. Eine allzu große Verengung des Bereiches der Entscheidungen, für die ich Verantwortung übernehme und die ich unter entsprechenden Umständen auch bereuen können muss, kann dazu führen, dass sich das Subjekt selbst über eine Art der selffulfilling prophecy tm einem bloßen Untertan der Umstände seines Verhaltens verwandelt. Wir sind außerdem nicht ohne guten Grund vorsichtig im Umgang mit jemandem, der sich der Reue und damit der Verantwortung nicht fähig erweist oder dies auch nur verbal von sich meint. Vgl. dazu auch Gunter Gebauer, „Warten auf den Übermenschen", in: Udo Tietz (Hg.), Berliner Debatte Initial 12 (2001) 5, 17-28. Zur Erlösung von der Rache vgl. KSA 4, 128.

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Der Geist der Rache kann nun aber auch, zweitens, wie folgt gedeutet werden: Des Willens Widerwillen gegen die Zeit und ihr ,es war' ist fehlgeleitete Sorge. Als Sorge kann sie nur zukunftsgerichtet sein. Wenn man sie auf das Vergangene bezieht, macht man daher einen hoffnungslosen, weil kategorialen, Fehler. Das Vergangene kann nur als Tatsache anerkannt werden. Es kann nicht ungeschehen gemacht werden. In bezug auf die Vergangenheit ist Gelassenheit, nicht der Geist der Rache die richtige Haltung. Wäre aber dies das letzte Wort in Sachen Reue und Gewissen, stünde man mit Nietzsche selbst in der Gefahr, die Übernahme von Verantwortung für sein Handeln post hoc für sinnlos zu erklären und damit den Begriff und die Praxis der Reue auszuhöhlen, in den Papiertiger verbalen Bedauerns zu verwandeln. Wieder würde man nicht bemerken, dass man eben damit den Begriff und die Praxis der Autonomie und Selbstmacht praeter

hoc zerstören würde.

5. Zwölf Uhr Mittags Zwölf Uhr mittags, das ist die Stunde der Entscheidung.22 Dies ist bei Nietzsche so, ähnlich wie in dem bekannten Western. In der Zeit der Entscheidung hier und jetzt steht die Sonne ganz oben. Das Bild sagt: Die Schatten einer diffusen Zukunft und die der Vergangenheit sind kurz. In der Entscheidung selbst kann nicht weiter über Vergangenes nachgedacht werden. Für Spekulationen über Zukünftiges ist ebenfalls nicht die Zeit. Durch mein Tun hier und jetzt wird die Vergangenheit abgeschlossen und die Zukunft gemacht. Allein in der Gegenwart gibt es die Macht der Handlung. Hier allein bewährt sich der Wille zur Selbstmacht mit seiner Sorge für die Zukunft. Hier allein lässt sich der Geist der Rache, des untätigen und daher sinn- bzw. orientierungslosen Bedauerns durch die zukunftsgerichtete Tat besiegen. Wenn daher Begriff und Praxis der Reue nicht leer werden soll, muss sie zu tätiger Reue werden. Den Anruf des Gewissens, wie Nietzsche ihn anerkennt, stellt er in Also sprach Zarathustra dar als den Ruf an einen Hirtenjungen, dem geheißen wird, einer Schlange in seinem Schlund den Kopf abzubeißen. (KSA, ZA, 4, 201 f., 273 et passim) Die Schlange steht hier für ein Geschichtswissen und ein abstraktes Bedauern im bezug auf vergangene Entwicklungen und gegenwärtige Zustände. Wissen würgt, sagt Nietzsche, und meint damit besonders auch ein angeblich kosmologisches Wissen über eine angeblich physikalisch prädeterminierte Welt und eine angebliche Sinnlosigkeit oder Vergeblichkeit jeden Wollens und Handelns. Wenn unser Wissen nicht richtig auf das Handeln und Leben bezogen ist, macht es depressiv, untätig, und führt auf hohem technischen Niveau zu einer Lebensform zurück, die typisch für die Tierheit ist: Alles wird Gegenwart und auch jedes Wissen wird bloß Mittel zum unmittelbaren Zweck. „Auf! sprach er zu sich selbst, du Schläfer! Du Mittagsschläfer! Wohlan, wohlauf, ihr alten Beine! Zeit ist's und Überzeit, manch gut Stück Wegs blieb euch noch zurück -[...]" (KSA, ZA, 4, 344). „Also sprach Zarathustra und erhob sich von seinem Lager am Baume wie aus einer fremden Trunkenheit: und siehe, da stand die Sonne immer noch gerade über seinem Haupte" (KSA, ZA, 4, 345).

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auch in Nietzsches perspektivischem Präsentismus am Ende immer nur real relevant, was es hier und jetzt gibt. Er steht damit im Erbe des Empirismus. Die Vergangenheit ist bestenfalls ein Schatten der Gegenwart. Dasselbe gilt fur die offene Zukunft, auch wenn es sich hier um den Schatten unserer Pläne und Sorgen handelt. Realiter gibt es nur die prozessuale Welt des Werdens. Daher Nietzsches Lob für Heraklit. Eine absolute Wahrheit und eine transzendente Ewigkeit gibt es nicht. Daher Nietzsches Kritik an den Eleaten und an Piaton. Eine akzeptable Deutung der Idee der Ewigkeit ergibt sich für Nietzsche nun allerdings aus folgender Interpretation. Dieser Idee zufolge ist in jedem Augenblick so zu handeln, dass jede Reue überflüssig, unangebracht, vielleicht sogar unsinnig wird, also so, dass jetzt und immer die ewige Wiederkehr des Gleichen gewollt werden kann. Die Befolgung dieser Maxime ist Bedingung dafür, eine autonome Person zu sein. Die mit ihr verbundene ästhetische Haltung zu sich selbst, die Idee, sich zu einem vollkommenen Kunstwerk zu machen, heißt Authentizität. Mit dieser Deutung löst meiner Lesart zufolge Nietzsche auch seiner eigenen Meinung nach das Paradox, nach dem Reue und Rache immer als unsinnig erscheinen, da wir die Vergangenheit nicht ungeschehen machen können. Wäre dem wirklich so, dann gäbe es nichts zu bereuen und zu tadeln, es wäre das ganze Sprachspiel sinnlos, in dem wir von Verantwortung reden und uns oder anderen eine Tat zuschreiben. Es ist aber oft nicht wahr, dass wir in der Vergangenheit nicht anders hätten handeln können. Es ist vielmehr richtig, dass es ohne die Möglichkeit der Reue und ohne die zugehörige Vorhersagbarkeit eines Widerwillens gegen ein ,es war', das jetzt noch gar nicht ist, gar keine Handlungsmacht geben kann. Denn Handlungsmacht gibt es nur in der Möglichkeit der Vermeidung von Reue. Dennoch bleibt richtig, dass Reue und Rache, des Willens Widerwillen gegen die Zeit und ihr ,es war', zu überwinden sind. Sie sind aber nicht dadurch zu überwinden, dass man sie rein verbal und damit selbstillusorisch für überflüssig oder inexistent erklärt, sondern nur dadurch, dass man sich in der Gegenwart zu sich und seinem Leben so verhält, wie es eine Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen vernünftigerweise verlangen würde. Damit erhält die Gegenwart das größte Schwergewicht. Nietzsches Begründung einer ethischen Selbstbeurteilung meines eigenen Tuns ist dieser Lesart zufolge nicht weit entfernt von der Idee, dass ich so handeln soll, dass ich jederzeit in den Spiegel meiner Vergangenheit blicken und dann immer sagen kann: ich würde, und möchte, es wieder so machen. Das ist der Kern von Zarathustras Lehre. Der Übermensch ist der Mensch, der diese Lehre befolgen kann. Zarathustra lehrt uns daher den Übermenschen. Nun ist freilich

gerade

6. Eine Ethik stolzer und verschwenderischer Gelassenheit Der Übermensch heißt Übermensch, weil er ein kontrafaktisches Ideal ist. Der reale Mensch der Gegenwart, dessen Züge in der schematisierten Karikatur der letzten Menschen nur besonders plastisch zum Ausdruck kommt, orientiert sich entweder an den Schemata der Tradition, der Vergangenheit, und zwar gerade dann, wenn er auf seine Intuition und das Sentiment und Ressentiment des eigenen, unmittelbaren Urteils und

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des Common Sense pocht, oder an seinen eigenen Empfindungen und Sorgen im Blick auf eine kleine Zukunft, auf nahe liegende Präferenzerfüllungen und Schmerzvermeidungen. Dabei fällt das Ganze des Lebens gerade dadurch aus dem Blickfeld des realen Normalmenschen heraus, dass er die Gegenwart hier und jetzt in ihrer Bedeutung ebenso wie die fernere Zukunft unterschätzt. Er unterschätzt sie, indem er sie im unmittelbaren Gefühl überschätzt. Das Paradox besagt, dass bewusste Gegenwart mehr ist als bloße Gegenwart. Sie ist eine intrapersonale Haltung zu meiner eigenen Zukunft. Ein Gegengift gegen die Unterschätzung der Gegenwart durch Überschätzung ist die bewusst als Mythos und Analogie entworfene Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Der Mensch, der sich am Ideal des Übermenschen orientiert, lebt jenseits der Abhängigkeit von Vaterfiguren und dem Urteil der Masse, aber auch frei von Larmoyanz oder Lebensangst, um von Todesangst gar nicht zu sprechen. Er hat insbesondere den Geist der Rache oder Reue überwunden. Er erkennt, dass jede sinnvolle Rede von einer fingierten Ewigkeit immer nur eine gewisse Haltung zum Diesseits artikuliert, nämlich eine je gegenwärtige Haltung zur Zeitlichkeit und Endlichkeit des Daseins, die positive Haltung des „ich will dieses Leben so wie es ist, immer wieder da capo ". Dem ewigen Kreislauf der Lüste und Wünsche, der je neuen Präferenzen und Freuden entflieht diese Haltung nicht durch asketische Selbstaufopferung, noch durch bequeme, am Ende animalische, Unterwerfung unter gegebene Konventionen. Die Erde ist ihr auch nicht ein Ort wie jeder andere. Sie ist keine dezentrierte Provinz in einem unendlichen All. Sie ist Zentrum des Daseins und damit Hauptgegenstand der Sorge. „Bleibt mir der Erde treu", ruft daher Zarathustra und erklärt „wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste." Es ist daher durchaus nicht falsch, den Gedanken des Übermenschen so zu lesen, dass Nietzsche schon früh unsere Verantwortung für die gesamte Erde erkannt hat und damit ähnlich wie der Utilitarismus, aber mit anderen Gründen jeden kleinlichen Anthropozentrismus kritisiert. Nietzsches Gründe liegen im ästhetischen Ideal der vollkommenen Person selbst. Dazu müssen wir nach Nietzsche so stolz sein, dass wir nur in einer Welt leben wollen, in der wir auch anderen Menschen und anderen Kreaturen ihren Platz lassen. Da in dieser Ausdrucksform die negativen Konnotationen des Stolzes im Sinn des Überheblichen zu sehr hervorstechen, ist die angesprochene Charaktereigenschaft der Person genauer zu bestimmen. Es handelt sich um das Ideal der Vollkommenheit in bezug auf den personalen und damit ethischen Adel der Autonomie und in bezug auf den künstlerischen und damit ästhetischen Geschmack der Authentizität. Für Nietzsche ist jede Person als solche mehr als ein bloßer Mensch mit seinen Bedürfhissen und unmittelbaren Wünschen. Das Ideal der autonomen und authentischen Person ist der Übermensch. Jede Person ist als solche Gesetzgeberin und Künstlerin. Sie setzt Normen und schafft Schönheit, selbst wenn diese ihre Autonomie nur in der bewussten Anerkennung der

eigenen Lage in der realen Gesellschaft und ihr authentisches Künstlertum nur im ästhetischen Blick auf die Welt und sich selbst besteht. „Was allein kann uns wiederherstellen?" fragt Nietzsche in stillschweigender Unterstellung einer Verfallsgeschichte personaler Authentizität und Autonomie und antwortet: „Der Anblick des Vollkommenen". Dieser Aphorismus artikuliert offenbar eine

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säkularisierte Deutung des eidos, des Blicks auf das Ideal des Vollkommenen, in der sich Nietzsche selbst mit Piaton und der Antike verbindet und zugleich von der Entwicklung des Piatonismus im Christentum abhebt. Nietzsches Ethik zielt nach dieser Lesart also nicht ab auf bloße Verhinderung von

Schmerz und Leid und die Erfüllung von je eigenen kleinen und bequemen Lustbestrebungen, Wünschen oder Präferenzen. Sie gründet auf eine besondere Art des Stolzes die als Streben nach Autonomie und Authentizität zu begreifen ist, in partieller Umwertung traditionaler Werte: Die .universale' Liebe zu den realen Menschen wird zur Teilnahme am gemeinsamen Projekt des Übergangs zu einem ,höheren Menschen', zum trans-humanen ,Über-Menschen'. Das Trans-Humane ist dabei nicht als etwas UnMenschliches zu begreifen, sondern als die Überwindung des Allzu-Menschlichen. Zu überwinden ist dabei gerade der überkommene Begriff des Menschen. Traditionell wird der Mensch als animal rationale, als Wesen mit Empfindung („sentience") und pragmatischer Klugheit („sapience") begriffen wobei insbesonders die Rationalität, das Denken, mystifiziert wird. In Nietzsches metaphorischer Darstellung stehen die Tiere Zarathustras für eine schon partiell entmythologisierte Deutung dieses Selbstbildes: der Adler steht für das Sehen und damit für die zunächst handlungsabgehobene Wahrnehmung und Beobachtung, eben für die Kompetenz der sentience. Die Schlange, die sich um den Hals des Adlers ringelt, steht für enzyklopädisches Wissen (ob unter Einschluss erdverbundener Klugheit oder nicht, muss dabei offen bleiben), also für sapience. Im Bild des Übermenschen kommt die Autonomie und Authentizität hinzu und damit die Einsicht, dass wir selbst alle Wertungen der Ästhetik und Ethik setzen, selbst dann, wenn wir mehr oder minder unbewusst oder gar bewusstlos einer diffusen Meinung, einem ,Man sagt', ,On-dit' oder dem Common Sense einer Masse folgen. Daher verlangt Nietzsche von wirklich aufgeklärten Personen mehr als nur die verbale Abwehr traditionaler Selbstverständnisse. Nietzsche verlangt den Willen zur Macht im Sinn des Willens zum eigenen Willen. ,

-

Nietzsches Bewertungen der leitenden Ideale einer philosophisch reflektierten Ethik benutzen .ästhetisches' Vokabular. Die Ausdrucksweisen wie .guter Geschmack', Vornehmheit' spiegeln eine systematische Einsicht wider. Denn in einer Debatte um Grundkriterien ethischer Wertung oder Schätzung haben die subjektzentrierten Urteile der an der Debatte teilnehmenden Personen in jedem Fall, das heißt unabhängig von der Frage, ob sie zunächst eher als sentimental-konventionelle oder als authentische Urteile auftreten, eine logische Form, die der von Geschmacksurteilen analog ist. Das liegt daran, dass Geschmacksurteile freie Anerkennungsurteile sind. Diese verlangen ein Vermögen, wie wir es in Kants Kritik der Urteilskraft schon ganz gut auf den Begriff expliziter Reflexion gebracht finden. Es handelt sich um das Vermögen, seine eigenen Urteile im freien Diskurs als nachvollziehbare und zu berücksichtigende auszuweisen, nicht um die Erfüllung des illusorischen Anspruchs, sie als absolut richtige zu beweisen.

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Pirmin

7. Der Wille

zur

Stekeler-Weithofer

Macht

im Kontext der hier konstruierten Überlegung mit Recht an Nietzsches Entwurf eines möglichen Werkes vom 17. 3. 1887 mit dem Titel Der Wille zur Macht, auch wenn man sich von dem später herausgegebenen Kompendium des Nachlasses unter diesem Titel25 distanzieren muss. Die vier Teile, die sich Nietzsche für das nie geschriebene Werk vorgestellt hatte, waren so überschrieben: 1. Der europäische Nihilismus. 2. Kritik der bisherigen höchsten Werte. 3. Prinzip einer neuen Wertsetzung. 4. Zucht und Züchtigung. Zum Inhalt des ersten Teiles gehören Erwägungen der Art, dass und warum gerade die kopernikanische Wende der wissenschaftlichen Aufklärung zusammen mit einer säkularisierten Ethik der Empfindsamkeit zum europäischen Nihilismus führt mit seiner These von der Sinnlosigkeit des Daseins sowohl aus der Perspektive eines kosmologischen Blicks auf das Ganze als auch aus der Perspektive der ethischen Überforderung des Einzelnen in seiner vermeintlichen Verantwortung für das Ganze. Zum Inhalt des zweiten Teils gehört die Aufhellung des realen Ursprungs der faktisch tradierten Wertungen in Ethik und Ästhetik und ihrer Dilemmata, wie sie dann wenigstens zum Teil in Jenseits von Gut und Böse und der Genealogie der Moral zu finden sind. Der sicher schwierigste dritte Teil hätte dann wohl bestimmen sollen oder müssen, wie wir sein mussten, wenn wir vollkommen sein wollten. Das Bild des neuen Menschen bleibt bei Nietzsche nicht ohne tieferen Grund blass. Es ist angesichts der Problemlage aber auch kein Wunder, dass in der Figur des Zarathustra nur der letzte Prophet des Übermenschen als eine Art kritisch zürnender Johannes Baptista, nicht jener selbst genauer dargestellt wird. Im vierten Teil wäre es dann wohl um pädagogische Folgerungen gegangen und zwar unter den Leitfragen: Welcher Art von Disziplin, Zucht und Ausbildung wäre nötig, um das Ideal der autonomen und authentischen Person zu fördern? Welcher Art von Selbstzucht und Selbstbildung bedarf es dazu? Und welche Institutionen der Züchtung, d. h. der sanktionsgestützten Formung gemeinsamen Lebens wären von gebildeten autonomen und authentischen Personen anzuerkennen? Diese Rede von Zucht und Züchtung ist nicht als Aufruf zur genbiologischen Auslese zu deuten, wie dies Peter Sloterdijk zumindest nahe legt. Insgesamt geht es Nietzsche dabei immer um die Einsicht, dass wir für uns und die Erde verantwortlich sind, ob wir dies anerkennen oder nicht, und zwar uns selbst gegenüber. Wir sind dies nicht nur dann, wenn wir uns in der Reflexion auf unser Tun faktisch uns selbst gegenüber treten. Wh sind es schon deswegen, weil diese Gegenüberstellung in der Reflexion möglich ist, so wie der Anruf des Gewissens nicht davon abhängt, ob ich zufälligerweise wirklich auf mein Tun reflektiere und Gewissenserforschung betreibe, um zu prüfen, was ich gegebenenfalls zu bereuen habe. Wenn ich eine autonome und authentische Person bin oder auch nur sein will, kenne ich den Anruf des Gewissens schon und muss mein Tun und Leben entsprechend prüfen.

Heidegger erinnert

Der Wille

zur

Macht. Versuch einer

Nietzsche, Stuttgart l21980.

Umwertung aller Werte, hg.

v.

Peter Gast; Elisabeth Förster-

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Daher liegt ja auch das Verachtenswerte der letzten Menschen in der Unterlassung einer ernsthaften Selbstplatzierung und philosophischen Selbstreflexion. Heidegger drückt diese Unterlassung in der berüchtigten Formel aus: „Die Wissenschaft denkt nicht". Sie ist nicht etwa als Kritik an der realen Wissenschaft und Technik aufzufassen. Denn die Arbeitsteilung der Wissenschaft sieht gerade vor, dass die einzelnen Disziplinen im Normalbetrieb nicht weiter über die ihnen vorgegeben Methoden und Ziele nachzudenken, sondern sich auf ihr eigenes Geschäft zu konzentrieren haben. Eben das aber führt zu einem unbedachten Glauben an das wissenschaftliche Weltbild, wenn die Grenzen der Disziplin überschritten werden, etwa wenn aus der Binnenperspektive der Wissenschaften die Beurteilung ihrer Ergebnisse nicht auf die Provinz beschränkt bleiben, in die sie gehören, sondern im Überschwang oder auch nur werbewirksam als allgemeine Wahrheiten ausgegeben werden. Es entstehen so die neuen Mythen der letzten Menschen, etwa dass die formale Logik, die eine Technik der Terminologie und Mathematisierung ist, die Gesetze des Denkens erkenne, oder die Biologie, die eine Technik des (prognostischen) Umgangs mit der lebenden Natur ist, die Gesetze des Lebens oder die Physik die Grundgesetze der unbelebten Natur. Es wird nicht erkannt und bedacht, wie Technik und Wissenschaft zu Mythos und Ideologie werden können ein Thema, das der frühe Habermas von Hegel und dem späteren Husserl, damit aber von Heidegger aufgreift, ohne letzteres klar genug auszuweisen. Dabei sollten wir als authentische Personen die Macht des Wissens und die Macht der Teilhabe am autonomen (moralisch-rechtlichen) und authentischen (ästhetischreligiösen) Urteilen im Rahmen einer geformten gemeinsamen Lebenswelt nicht bloß aus instrumentellen Gründen wollen, sondern deswegen, weil sie zu einer anderen Form des Selbst-Verhältnisses führt. Dazu wird unter anderem die Freude an der autonomen Bestimmung von Formen und das Hochgefühl der Ausübung eines Machtüberflusses gehören, und zwar durchaus in der Form der Überwindung der Reue, die entsteht, wenn faktische Handlungsmacht auf falsche Weise begriffen oder ergriffen wird. Diese Überwindung geschieht dadurch, dass wir uns unserer selbst bewusst werden, nicht dadurch, dass wir selbstgerecht werden. Was daher nach Nietzsche in der menschlichen Person das bloß animalische Leben transzendiert, ist weder bloß instrumentelle Klugheit, noch konventionelle Kooperation, noch eine unsterbliche Seele, sondern die Anerkennung des Willens zur Macht bei gelassener Anerkennung aller Kontingenz und Unsicherheit im Leben. Zur Anerkennung kontingenter Unsicherheit gehört insbesondere der Verzicht auf Gewissheit in bezug auf das Tun anderer Menschen. Mit der Verachtung des Sicherheitsstrebens greift Nietzsche insbesondere die Basis jeder Definition von Rationalität im Rahmen einer so genannten rationalen Entscheidungs- und Spieltheorie an, wie sie den homo oeconomicus definiert. Mit seinem Verzicht auf Sicherheit und mit der Anerkennung der Offenheit der Zukunft transzendiert Nietzsches Ethik bei weitem jede bloß ,kluge' Ethik der -

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Koordination unserer Ziele und Wege bei gleichzeitigem Streben nach Sicherheit, wie sie auch noch in der neo-hobbesianischen Ethik der Morals by Agreement (David Gauthier) oder einer Gerechtigkeit als kluger Fairness (John Rawls) ein kooperationstheoretisch schon ausdifferenziertes Bild des homo oeconomicus prägen.

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Nietzsche verlangt von sich und von uns die in der Moderne vergessene Haupttugenden einer stolzen Selbst-Beurteilung, die sich nicht abhängig macht von den üblichen Kriterien dafür, wann es angeblich unklug sei, freie Versprechen zu geben oder sich auf sie oder bzw. auf die Ehrlichkeit anderer Personen zu verlassen. Er verlangt damit zugleich individuellen Mut und gelassene Generosität. Letztere zeigt sich besonders in überschwänglichen Festen der Völker im Gegensatz zum Kulturverfall in der calvinistischen Moderne mit ihren Sekundärtugenden der Sicherheit, Sparsamkeit und Effizienz. Nietzsche verlangt stattdessen eine Kultur der gemeinsamen, durchaus auch ekstatischen, Feier des Lebens das gerade dort kein gutes Leben ist, wo es in der Sorge um eine möglichst sichere zukünftige Bedürfnisbefriedigung und Präferenzmaximierung sowie in einer leeren ,freien Zeit' aufgeht. Gerade die französische Philosophie verdankt in ihrer oft pathetisch-romantischen Verteidigung des ,wilden Denkens' bzw. der Lebenswelt der ,Primitiven' den Analysen Nietzsches und Heideggers einiges. Es ist freilich nach wie vor schwer zuzugeben, dass am Ende nicht der letzte Mensch, der Mensch der europäischen Zivilisation, also nicht der homo faber et oeconomicus Recht behält, sondern Nietzsche und damit auch der von Nietzsche durch und durch geprägte Heidegger des Humanismusbriefes: Ohne die Gelassenheit im Sinne eines mutigen Verzichts auf Sicherheit, ohne den Überstieg über das Selbstbild des Menschen im so genannten Humanismus als animal rationale bzw. als homo sentimentalis rationalis gibt es weder Ethik noch Ästhetik und erst recht kein gutes Leben autonomer und authentischer Personen. -

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Georg Pfleiderer

Theologische Ethik nach Nietzsche Zum

,Aristokratismus' protestantischer Ethik im 20. Jahrhundert

1. Postmoderne und protestantisches Ethos Als der Verfasser das letzte Mal in Naumburg war, das ist schon lange her, da waren die Straßen noch holpriger und leerer und die Häuser grauer. Er gehörte wie seine damaligen Mitreisenden zur „Friedensbewegung" und traf sich konspirativ mit theologischen Gleichgesinnten aus der Naumburger Studentengemeinde. „Gut" und „böse" war damals noch klar verteilt auf beiden Seiten: An der innerdeutschen Grenze hatte die Gruppe ein grimmiger, aber nicht unwitziger DDR-Zöllner in ein kleines Verhör verwickelt und dabei wissen wollen, wie man denn eigentlich überhaupt Theologie studieim kapitalistischen Westen. ren könne Mit der Grenze zwischen Deutschland und Deutschland ist noch anderes verschwunden als die Minen, die Schießanlagen und eine realpolitische Zwei-Reiche-Lehre. Mit letzterer hat auch eine vierzig Jahre lang weitverbreitete ethische oder ethisch-politische Präkodierung der Gegenwartswahrnehmung stark an Evidenz verloren. Das macht das Leben für evangelische Theologinnen und Theologen, zugegeben, nicht einfacher. Wo sich die Ethik aus der zur ästhetischen Lebenskunst gewordenen individuellen Lebenswelt ebenso verflüchtigt hat wie der Glaube an eine politische (und darin immer auch zumindest rudimentär ethisch-diskursive) Steuerung der Gesellschaft geschwunden ist; wo die Ethik stattdessen operationalisiert und institutionalisiert, nämlich in risikotech-

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Zu dem für die protestantische Theologie signifikanten Streit um die „Evidenz des Ethischen" vgl. exemplarisch die zwischen Gerhard Ebeling und Wolfhart Pannenberg mit Bezug auf Nietzsche geführte Debatte: Gerhard Ebeling, „Die Evidenz des Ethischen und die Theologie" in: Z77¡^ 57 (1960), 318-356 (= Ders., Wort und Glaube, Bd. II, Beiträge zur Fundamentaltheologie und zur Lehre von Gott, Tübingen 969, 1—41 ); Wolfhart Pannenberg, „Die Krise des Ethischen und die Theologie", in: Ethik und Ekklesiologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1977, 41-54; Gerhard Ebeling, „Die Krise des Ethischen und die Theologie", in: Wort und Glaube, Bd. II, 42-55; Ders./Wolfhart Pannenberg, „Ein Briefwechsel", in: Z7M: 70 (1973), 448-473. Zum Begriff des Gesetzes und seiner zeitdiagnostischen und zugleich fundamentalethischen Bedeutung für die protestantische Theologie in der Neuzeit, vgl. Friedrich Wilhelm Graf, (Art.) „Gesetz. VI. Neuzeit", in: TRE Bd. 13, Berlin/New York 1984, 90-126. -

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Georg Pfleiderer

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nologie-kompensatorische Ethikkommissionen und die in ihnen geführten Debatten kasuistischer Güterabwägungen verlagert worden ist, da scheint die protestantische Ethik anders als etwa die von jeher kasuistisch und auch habitualistisch ausgelegte katholische Moralphilosophie eigentümlich unplausibel, funktionslos, ja zum Atavismus geworden zu sein. Erst jetzt, nach dem definitiven Ende der Nachkriegszeit, scheint der Schatten des toten Gottes wirklich zu verblassen, von dessen Illumination, respektive von dessen artiflzieller Nachdunkelung, die protestantische Theologie und Ethik sich während eines gut einhundert- oder gar zweihundertjährigen Leichenschmauses noch so -

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auskömmlich zu nähren vermocht haben mag. Die durch die gegenwärtige Intensivierung der breit geführten bioethischen Diskurse letztlich nicht gestoppte, sondern eher verstärkte Abkoppelung der sozialethischen Zukunftsfragen der Menschheit und der Gesellschaft von der Individualethik ist für die protestantische Theologie schwer zu ertragen. Denn protestantische Ethik, wie sie in der Neuzeit auf reformatorischer Grundlage ausgebildet worden ist, steht und fällt damit, dass die Lebensführung des einzelnen als Dreh- und Angelpunkt auch der Sozialethik konzipierbar ist und als solche nicht einfach jenseits von gut und böse anzusiedeln ist, sondern verallgemeinerungsfähigen ethischen Kriterien unterworfen gedacht werden kann. Erstens: „Gut" ist es, der freie Souverän meiner Lebensführung zu sein; „böse" ist es, dieser Souveränität und damit auch der personalen und individuellen Einheit der Lebensführung zu entraten. Zweitens: Wahre Souveränität drückt sich darin aus, gerade nicht unmittelbar an sich selbst festhalten zu müssen, sondern „sich auf Zeiten verlieren (zu) können" (KSA, FW, 3, 543) : „Gut" ist sich selbst gewinnen zu können, indem ich mich selbst an Andere hingebe. „Böse" ist .Souveränität' als der Zwang oder die Neigung, unmittelbar an sich selbst festhalten zu wollen. Drittens (oder eigentlich nulltens): Ermöglichungsgrund und Voraussetzung jener vermittelten Souveränität ist die Einsicht, dass mir die darauf gerichtete und daran orientierte Lebenskunst gerade nicht unmittelbar als Möglichkeit zur Verfügung steht. Das Selbst, das zum Ziel seiner so strukturierten Selbst-Bestimmung werden soll, nimmt immer schon, zumindest momentan, ein sich auf ,sich' richtendes Selbst in Anspruch, dessen statische Unmittelbarkeit die geforderte Selbst-Alteration de facto korrumpiert und destruiert. Ethische Lebenskunst im Sinne protestantischer Ethik beginnt darum nicht gewissermaßen unbekümmert mit habitualistischen Sequenzialisierungen von Selbst-Entsprechungsakten, sondern sie beginnt mit der Einsicht bzw. der These, dass der Akt vermeintlich ursprünglicher Selbst-Inanspruchnahme tatsächlich eben nicht ursprünglich, sondern voraussetzungshaltig ist: Er setzt die theoretische und zugleich praktische Anerkennung eines Sich-selbst-Gegebenseins voraus, das die neuzeitliche protestantische Theologie auf den absoluten und zugleich kontigent-faktizitären Akt gnädiger Zuwendung Gottes meint zurückführen zu müssen bzw. zu dürfen. Protestantische Ethik der Lebenskunst steht und fällt also mit einer bestimmten Deutung der Lebensführung, genauer: Sie steht und fällt mit dem praktischen Vollzug einer ;

Inwiefern das im folgenden skizzierte protestantische Ethos einer vermittelten Souveränität der von Nietzsche in diesem Aphorismus geübten Kritik an der moralischen Selbstbeherrschung entzogen gedacht werden kann, bedürfte genauerer Überlegungen, die hier nicht angestellt werden können.

Theologische Ethik nach Nietzsche

83

bestimmten Reflexivität von Lebensführung. Deren Pointe besteht freilich wiederum genau darin, dass sie die existentiellen und auch affektiven Voraussetzungen solcher Reflexivität thematisiert und eben darum notorisch praktisch ist. Der praktische Vollzugscharakter protestantischer Reflexivität bedingt ihren gemeinschaftlichen, ihren kommunitären, ihren in diesem Sinne kirchlichen Charakter. So sehr und eben weil die protestantische Ethik auf die Freisetzung individueller Lebensführung, individueller Lebenskunst, zielt, so sehr und eben gerade darum ist ihr ursprünglicher Sitz im Leben der Gottesdienst als genuiner Ort der Darstellung ursprünglicher Vergemeinschaftung der Individuen. Die in diesem Darstellungsvollzug gründende protestantische Kirche ist also primär nicht eine Gemeinschaft der Lebensführung, sondern eine Gemeinschaft der Lebensdeutung; bzw.: sie ist jene nur, insofern aber wiederum auch gerade darin, dass sie diese ist. Das protestantische Ethos ist mithin nicht, jedenfalls nicht unmittelbar, ein bestimmtes Arsenal von Tugenden, sondern es ist jenes Ethos einer bestimmten Reflexivität der Lebensführung. Schädlich oder gar ruinös für die praktisch-kulturellen Chancen einer protestantischen Ethik sind nicht diese oder jene Veränderungen gesellschaftlich envoguer Moralvorschriften, gefährlich ist oder wäre einzig und allein ein Unplausibelwerden dessen, dass die Kunst individueller Lebensführung grundsätzlichere und wie angesichts des genius loci mit Bedacht und Vorsicht zugleich zu sagen ist tiefergehende Fragen aufwirft, als die mit ihr beschäftigte Ratgeberliteratur sie in aller Regel beantworten möchte. Damit bin ich beim Thema. „Nietzsche", das ist meine erste These, ist für die neuzeitliche protestantische Ethik darum und insofern in der Tat gewissermassen ein Schicksalsdatum, weil und wenn sich an ihm die Plausibilitätsvoraussetzungen protestantischer Ethik in der Moderne entscheiden. Ist unsere Gegenwart, so wie sie oben beschrieben wurde, jene Zeit nach dem „Tode Gottes" bzw. seiner Verehrung, die Nietzsche vorausgesagt und herbeigedacht hat? Dies dürfte dann der Fall sein, wenn unsere Gegenwart durch eine Entdiskursivierung (oder auch Neudiskursivierung) der Lebensführung von der Art gekennzeichnet sein sollte, dass das protestantische Ethos schlicht seine Anhaftung, seine Plausibilitätsgrundlagen, verlöre. Um diese Frage direkt zu beantworten, wären zeitdiagnostische und nietzscheinterpretatorische Analysen vorzunehmen und miteinander zu kreuzen. Beides kann hier nicht geleistet werden. Stattdessen sollen dazu nachstehend einige wirkungsgeschichtliche Überlegungen angestellt werden. -

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1

Zum Begriff und seiner Bedeutung für die evangelische Ethik vgl. Trutz Rendtorff, Ethik. Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie, Bd. 1 (Theologische Wissenschaft, Sammelwerk für Studium und Beruf, Bd. 13, 1), 2. Überarb. u. erw. Aufl, Stuttgart/Berlin/Köln 1990, 14f.

Georg Pfleiderer

84

2. Theologische Nietzscherezeption als

Bearbeitung

der Plausibilitätsproblematik des protestantischen Ethos

wirkungsgeschichtliche These, die im folgenden an ausgewählten Beispielen erhärwerden soll, ist diejenige, dass sich in der protestantischen Ethik nach und seit Nietzsche zumindest bei einigen markanten Vertretern ein Problembewusstsein rekonstruieren lässt, das genau jenes Problem der Plausibilitätsvoraussetzungen des protestantischen Ethos in der Moderne oder Spätmoderne zum Gegenstand hat. Die Dramatik, welche dieses Problembewusstsein für die protestantische Ethik haben müsste, gründet eben darin, dass das protestantische Ethos nicht als ein Ethos der Habitualität, sondern als ein Ethos der bestimmten Reflexivität der Lebensführung verstanden werden muss. Darum konnten die protestantischen Theologen die durch Nietzsche ins Grundsätzliche gesteigerte Plausibilitätsproblematik des Ethischen keineswegs als ein lediglich sozialpsychologisches Problem oder als eine Frage der praktischen und pädagogischen Vermittlung der theologischen Ethik betrachten, sondern sie mussten sie als eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung verstehen, in der das Kardinalthema der protestantischen Ethik selbst auf dem Spiel steht. Die Wahrnehmung der Plausibilitätsproblematik des protestantischen Ethos als Grundfrage der theologischen Ethik fordert diese zu neuen Ansätzen heraus. Diese sind durch einen Umbau der Theoriestruktur gekennzeichnet, der darauf zielt, die wissenschaftliche theologische Ethik unmittelbarer als zuvor auf die praktisch-ethische Aufgabe zu beziehen. Die ethische Theorie verlässt den wissenschaftlichen Reflexions- und Beobachtungsposten und sucht selbst zur Akteurin zu werden auf dem religiös-moralischen Feld; auf diese Weise sucht sie aktiv Einfluss zu nehmen auf den Plausibilitätsschwund, dem sie das protestantische Ethos in der Spätmoderne ausgesetzt sieht.4 Ob und inwiefern diese fundamentalethische und zugleich pragmatische Wendung der Plausibilitätsproblematik zu Recht auf Nietzsche bezogen oder nur auf ihn projiziert war, kann im folgenden nicht erörtert werden. Ebensowenig kann hier überprüft werden, ob Nietzsche dabei richtig und in seiner ganzen moralkritischen Radikalität verstanden wurde; desgleichen kann auch nicht im einzelnen recherchiert werden, welche Anteile ihres Problembewusstseins die betreffenden Theologen wirklich ihrer Nietzschelektüre und wieviel sie sonstigen Anregungen oder eigenem Nachdenken verdanken. Auffallend ist aber doch, dass gerade diejenigen Theologen, die für die ins Auge gefasste Fragestellung am fruchtbarsten sind, auch deutliche Spuren einer fundamentalethischen und fundamentaltheologischen Auseinandersetzung mit Nietzsche zeigen. Zu nennen sind diesbezüglich insbesondere Albert Schweitzer (1875-1965), Karl Barth (1886-1968) und Dietrich Bonhoeffer (1906-1945). Die ethischen Ansätze dieser drei Theologen sollen darum im folgenden in der skizzierten Perspektive analysiert werden. Die

tet

-

Diese in ihren

-

Implikationen weitreichende theologiehistorische Interpretationsthese habe ich und vor allem mit Bezug auf Karl Barth ausgearbeitet in meinem Buch: Karl Barths Praktische Theologie. Zu Genese und Kontext eines paradigmatischen Entwurfs systematischer Theologie im 20. Jahrhundert (BHTh 115), Tübingen 2000. grundsätzlicher

Theologische Ethik nach Nietzsche

85

Die Auswahl ist auch darin begründet, dass sich diese drei Theologen als exemplarische Vertreter dreier systematischer Typen und zugleich dreier aufeinander folgender Phasen protestantischer Nietzscherezeption im 20. Jahrhundert und ihrer Implikationen für die theologische Ethik beschreiben lassen. Albert Schweitzers Auseinandersetzung mit Nietzsche lässt sich lesen als diejenige eines kulturkritisch gebrochenen, gleichwohl unverkennbar liberalen Kulturprotestanten. Karl Barths Nietzscherezeption ist die klarste und stärkste Version des Programms einer theologischen Autoreproduktion des Ethischen, wie sie in den zwanziger Jahren weithin anvisiert wurde. Und Dietrich Bonhoeffers Ethik, die wie in der Forschung bereits mehrfach beobachtet, mit Nietzsche im ständigen Gespräch ist, kann als exemplarische Vertreterin von Versuchen gelten, die theologische Autoreproduktion des Ethischen explizit einzuzeichnen in eine verallgemeinerungsfähige, philosophische Theorie des Sittlichen, die ihrerseits einen geschichtsphilosophischen Unterbau hat. Die Exemplarizität dieser drei Positionen hängt unverkennbarer Weise auch mit der Altersstufung der drei Theologen zusammen: Albert Schweitzer war bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der das Kultur- und Wirklichkeitsverhältnis der protestantischen Theologie bekanntlich fundamental verändert hat, neununddreißig Jahre alt, Barth achtundzwanzig und Bonhoeffer acht. Zur ethischen Reflexivität protestantischer Lebensführung und näherhin zur gesteigerten Sensibilität für die Plausibilitätsproblematik des religiösen Ethos gehört, dass sich bei allen Genannten ein hohes Maß an Bewusstheit für den soziohistorischen Ort des eigenen Denkens, mithin für den Zusammenhang von individual-biographischer und kollektiv-kultureller Faktizität, nachweisen lässt, vielleicht (und nicht umsonst) am deutlichsten beim jüngsten von ihnen. In einem noch näher zu besprechenden Vortrag zu den Grundfragen einer christlichen Ethik, den der zweiundzwanzigjährige, gleichwohl bereits promovierte Vikar Dietrich Bonhoeffer 1928 in Barcelona gehalten hat, stellt er fest, die „rasche Folge der Ereignisse [...]" habe in „weniger als 20 Jahren vier geistige Generationen erzeugt [...]", nämlich, „diejenigen, deren Entwicklungs- und Reifezeit vor dem Kriegsbeginn liegt" (A. Schweitzer), „[...] dann die, die der Krieg früher oder später reifte" (K. Barth), „ferner das Geschlecht der Revolutionsjugend, deren Erwachen und Werden in den Jahren von 1918 sagen (wir) 1923 lag [...]" (also Bonhoeffer selbst), „[...] schließlich nicht zu vergessen diejenigen, denen die Zukunft gehören wird, die Krieg und Revolution nur noch vom Hörensagen kennen und jetzt auch schon 18-20 Jahre zählen."6 Das Bewusstsein für die grundlegende Bedeutung kultureller Wandlungsprozesse für die theologische Ethik ist bei den protestantischen Theologen sicherlich eher durch den Krieg -

'

6

insgesamt vergleichsweise noch wenig erforschten protestantisch-theologischen Nietzscherezeption vgl. bislang die Arbeiten von Peter Köster, „Nietzsche-Kritik und Nietzsche-Rezeption in der Theologie des 20. Jahrhunderts", in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82), 615-685; Daniel Mourkojannis, Ethik der Lebenskunst. Zur Nietzscherezeption in der evangelischen Theologie (Studien zur systematischen Theologie und Ethik, hg. v. E. Lessing u. a., Bd. 23), Münster/Hamburg/ Zu der

London 2000. Dietrich Bonhoeffer, „Grundfragen einer christlichen Ethik", in: Barcelona, Berlin, Amerika 19281931, hg. v. Reinhart Staats und Hans Christoph von Hase (Dietrich Bonhoeffer Werke, hg. v. Eberhard Bethge, Ernst Feil u. a. 10. Bd.) München 1991, 323-345, hier: 324.

86

Georg Pfleiderer

und durch den Historismus (E. Troeltsch) geweckt bzw. vertieft worden als durch die Nietzschelektüre; unverkennbar ist aber, dass die Impulse, welche die hier zu untersuchenden Autoren aus ihr für den Aufbau ihrer eigenen ethisch-theologischen Neuansätze beziehen, wesentlich mit dieser Temporalitätsproblematik zusammenhängen.

3. Albert Schweitzer: Protestantische Ethik als kulturhegemonialistische moralischer Gesellschaftssynthese

Strategie

Im Jahr 1900 hielt der fünftindzwanzigjährige, über Kants Religionsphilosophie promovierte Philosoph, Inhaber eines Lizentiats der Theologie, praktizierende Pfarrer, Organist und Musikwissenschaftler Albert Schweitzer in der Pariser „Société des Langues étrangères" Vorträge über Schopenhauer, Gerhart Hauptmann, Goethe und Nietzsche. „Während ich im August 1900 an dem Vortrag über Nietzsche arbeitete [...]", so schreibt Schweitzer in seinen Erinnerungen, „[...] kam die Kunde, dass der Tod ihn endlich von seinem Leiden erlöst habe." Im selben Jahr 1900 beginnt Schweitzer mit den ersten Vorarbeiten zu einer kulturphilosophischen Ethik, die aber zunächst wegen vielfaltiger anderer Projekte liegenbleiben. 1914 bis 1917, „im Urwald Afrikas"8, nimmt er sie wieder auf; 1923 wird Schweitzers daraus entstandenes ethisches Hauptwerk Kultur und Ethik veröffentlicht. Solche biobibliographischen Zusammenhänge, mit ihnen einhergehende inhaltliche Beobachtungen, aber auch die Auswertung des Nachlasses und der Tagebücher haben in der neueren Schweitzerforschung die Einsicht in die tragende Bedeutung Nietzsches (bzw. der Auseinandersetzung mit Nietzsche) für Schweitzers ethisch-kulturphilosophisches Denken wachsen lassen. Wenn man den autobiographischen Aufzeichnungen des beinahe Neunzigjährigen vertrauen will, wogegen im betreffenden Zusammenhang wenig spricht, dann sind die wichtigsten Motive und die Ursprünge von Schweitzers ethischer Kulturphilosophie in der Tat in der um die Jahrhundertwende datierenden direkten Auseinandersetzung mit Nietzsche zu suchen. Nietzsche ist für den jungen Schweitzer das ebenso faszinieren7

8

'

Albert Albert

Schweitzer, Aus meinen Leben und Denken, 101.-150. Tsd. Hamburg 1954, 28. Schweitzer, Kultur und Ethik (1923), 82. Tsd. des 1. bzw. 72. Tsd. des 2. Teils der Gesamtauflage, Nachdr. der Sonderausg. München 1990 (Beck'sche Reihe 1150), München 1996, (Vorrede, 13). Vgl. Hans Lenk, „Schweitzer ein Gegenspieler von Nietzsche? Reflexionen aufgrund von Tagebüchern", in: Albert Schweitzer Ethik als konkrete Humanität (Forum Humanität und Ethik, hg. v. dems., Bd. 1), Münster/Hamburg/London 2000, 61-94; Hartmut Kress, „Religiöse Ethik als Impuls kultureller Erneuerung. Die Auseinandersetzung Albert Schweitzers mit Friedrich Nietzsche und ihr Ertrag für eine heutige Ethik der Kultur", in: Richard Brüllmann/Harald Schützeichel (Hg.): Leben in der Kultur (Beiträge zur Albert-Schweitzer-Forschung Bd. 4), Weinheim 1995, 9-33. Vgl. Albert Schweitzer, „Die Entstehung der Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben und ihre Bedeutung für unsere Kultur", in: Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte ausßnf Jahrzehnten (hg. v. Hans Walter Bahr) (1966), 7. Aufl. München 1997, 13-31. -

-

10

87 Theologische Ethik nach Nietzsche de11 wie alarmierende Menetekel einer so scheint er es erlebt zu haben Entethisierung, Enthumanisierung der Gegenwartskultur gewesen. Nietzsches „Wille zur Macht"Philosophie und die impériale „Realpolitik" des Kaiserreichs interpretieren sich für ihn wechselseitig. -

Beide Phänomene deutet

er

-

als Indizien des Verlusts einer kardinalen ethischen

Selbststeuerung und damit zusammenhängend eines Zentrierungsverlusts der modernen Kultur. Diesen Steuerungs- und Einheitsverlust wiederum deutet Schweitzer als Zeichen einer eklatanten kulturpraktischen Performance-Schwäche der für ihn relevanten ethisch-geistigen Eliten: „Ich hatte erwartet, dass die Religion und die Philosophie miteinander kraftvoll gegen Nietzsche auftreten und ihn widerlegen würden. Dies ereignete sich nicht. Wohl sprachen sie sich gegen ihn aus. Aber meinem Empfinden nach vermochten sie

es

nicht und suchten sie

es

nicht, die ethische Kultur in so tiefer Weise

zu

begründen, wie es der Kampf den Nietzsche gegen sie führte, erforderte."13 Auch wenn man diese Erinnerung des Greises nicht auf die Goldwaage legen will, am Text der Kulturphilosophie belegbare Tatsache ist, dass ein wesentliches Motiv für die Ausarbeitung der Kulturphilosophie auf dieser Ebene der kulturpraktischen, und näherhin durchaus kulturstrategischen Intentionalität zu suchen ist. Der ursprünglich geplante Titel des Werkes war: Wir Epigonen Die „fundamentale Frage [...]", die Schweitzer insbesondere dann in den Kriegsjahren, welche die Vorkriegsempfindungen gewissermassen reiflzieren, mit seiner Kulturphilosophie zu beantworten sucht, lautet: „[...] wie eine Dauer habende, tiefere und lebendigere Kultur aufkommen könne." 5 Diese kulturpraktischen Motive, deren ursprünglicher wissenssoziologischer Kontext die im Kaiserreich um die Jahrhundertwende geführten Kulturhegemonialitätsdebatten sind, sind nun für Schweitzers philosophisch-theologisches Denken von keineswegs ephemerer Bedeutung; sie bilden nicht nur den Entdeckungszusammenhang seiner Kulturphilosophie und ihrer zentralen Lehre von der „Ehrfurcht vor dem Leben", sondern sie stehen auch hinter ihrer systematischen Theoriestruktur, die auf diese Formel kon.

zentriert ist. Mit seiner „Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben" erhebt Schweitzer mithin vor allem gegenüber dem Antipoden Nietzsche erkennbar den Anspruch auf Theorieüberlegenheit im Bereich einer Tiefendiagnostik und Orientierung der Gegenwartskultur. Darum soll die Ehrfurchtslehre eben gerade nicht nur wissenschaftliche Theorie sein, sondern wie Schweitzer noch 1923 in der Sprache der Jahrhundertwende sagt: „Weltanschauung" Das zentrale Qualitätskriterium, dem diese sich selbst unterwirft, ist, ob und in welchem Masse sie die „zur Begründung und Aufrechterhaltung von Kulturidealen notwendigen Energien" hervorbringt. -

-

.

1'

12

Vgl. noch beim alten Schweitzer: „Als das Vollendetste in deutsch sehe ich Luthers Bibelübersetzung und Nietzsches Jenseits von Gut und Böse' an." Albert Schweitzer, Aus meinen Leben und Denken, 80. Vgl. allerdings wiederum in der Rückblicksperspektive Albert Schweitzer, „Die Entstehung der Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben und ihre Bedeutung für unsere Kultur", 16. -

13 14 15 16 17

Ebd., 15. Ebd., 17. Ebd., 19. Albert Schweitzer, Kultur und Ethik, 63. Ebd., 22.

-

Georg Pfleiderer

88 Der

von

Schweitzer mit

geradezu prophetischem

Selbst- und Entdeckerbewusstsein

vorgetragene18 Anspruch, mit der Lehre von der Ehrfurcht vor dem Leben das allen vergleichbaren kulturethischen Entwürfen überlegene Programm zur Lösung aller fundamentalen Kultur- und Lebensfragen gefunden zu haben, soll durch folgende Gedankensequenz Deckung bekommen: 1. Alles metaphysisch-theoretische Letztbegründungsdenken geht ins Leere. An seine Stelle setzt Schweitzer die ihrem Anspruch nach nichtmetaphysische Feststellung eines „universellen Willens zum Leben": „Die letzte Einsicht des Erkennens ist [...], dass die Welt uns eine in jeder Hinsicht rätselhafte Erscheinung des universellen Willens zum Leben ist."19 Damit soll die Kulturphilosophie, und mit ihr die Ethik, auf einen (dem Anspruch nach) empirisch-deskriptiven und (vermeintlich) selbstevidenten Grundgedanken gestellt werden. 2. Dieser universelle Wille zum Leben, den Schweitzer auch „unendlicher Geist"20 -

-

kann, tritt in einer zweifachen Form auf: Er tritt uns „in der Natur [...] als rätselhaft schöpferische Kraft entgegen" (ebd.); und „in unserem Willen zum Leben erlebt er sich in uns als weit- und lebenbejahendes und als ethisches Wollen." Unbeschadet der zumindest kryptoidealistischen Obertöne ist für die Theoriesignatur wichtig, dass dieser Gedanke rein analytisch, als reflexive Selbstbeziehung des als evident-erfahrbar gegeben vorausgesetzten Phänomens des Lebenswillens selbst, gedacht werden kann.21 3. Das begreifende Denken, oder auch „Weltanschauung"22, vollzieht diese letztere, ursprüngliche reflexive Selbstbeziehung des Willens zum Leben nach. Darum und insofern ist alle Weltanschauung „Lebensanschauung"23. „In mir ist der Wille zum Leben wissend von anderm Willen zum Leben geworden. Sehnen, zur Einheit mit sich selbst einzugehen, universal zu werden, ist in ihm."24 4. Da das Denken also zugleich Wollen ist, entspricht es sich selbst, indem es die reflexive Selbstbeziehung des universellen Willens zum Leben als ethischen Imperativ denkt und eodem actu praktiziert: eben als „Gesinnung der Ehrfurcht vor dem Leben"25. 5. Die im metaphysisch-theoretischen Denken nicht zugängliche Sinnerfahrung und Sinnerfüllung wird so durch den praktischen Vollzug des Gedankens der Ehrfurcht vor dem Leben möglich: „Mein Leben trägt seinen Sinn in sich selber. Er liegt darin, daß nennen

-

Vgl.: „Ich glaube der erste im abendländischen Denken zu sein, der dieses niederschmetternde Ergebnis des Erkennens anzuerkennen wagt und in bezug auf unser Wissen von der Welt absolut skeptisch ist, ohne damit zugleich auf Welt- und Lebensbejahung und Ethik zu verzichten." Ebd., 19 20 2

22

23 24

25

86. Ebd.

Ebd., 88. Vgl. den nietzscheanisierenden Aphorismus: „Ein Schiffbrüchiger

über die Welt wissend werden will; ein kühner Seefahrer der Wille wissend wird." Ebd., 301.

Ebd., 88. Ebd., 88f. Ebd., 334. Ebd., 89.

ist der Wille zum Leben, der Leben, der über sich selbst

zum

Theologische Ethik nach Nietzsche

89

ich die höchste Idee lebe, die in meinem Willen zum Leben auftritt [...], die Idee der Ehrfurcht vor dem Leben. Daraufhin gebe ich meinem Leben und allem Willen zum Leben, der mich umgibt, einen Wert, halte mich zum Wirken an und schaffe Werte."26 6. Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben ist eine Gesinnungsethik der Lebensbejahung, die „nur dadurch möglich ist, dass ich mich selber an anderes Leben hingebe"27. Dabei muss das andere Leben, an das ich mich hingebe, notwendig als über das menschliche hinausreichend gedacht werden. Denn: „Zur Absolutheit gehört die Universalität. Gibt es wirklich ein Grundprinzip des Sittlichen, so muss es sich irgendwie auf das Verhalten des Menschen zum Leben als solchem, in allen seinen Erscheinun28 gen, beziehen." 7. Solche denkend-praktische Selbstentsprechung durch Selbsthingabe an alles Leben ist wiederum einer theologischen Deutung zugänglich: „Ich lebe mein Leben in Gott, in der geheimnisvollen ethischen Gottespersönlichkeit, die ich so in der Welt nicht erkenne, sondern nur als geheimnisvollen Willen in mir erlebe. Das voraussetzungslose Vernunftdenken endet also in Mystik."29 Schweitzer war der Auffassung, dass diese solchermaßen begründete Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben voraussetzungslos und darum universalisierbar sei, dass sie darum die Grundanliegen der aufklärerischen Menschenrechtstradition auf einer dem zeitgenössischen Denken und Erleben plausiblen, vernünftigen Basis zu reformulieren erlaube30 und darüber hinaus den entscheidenden ethischen Kulturfortschritt über die traditionelle Moderne hinaus ermögliche, weil sie auch die nichtmenschliche Kreatur miteinbeziehe. Allein diese Ethik der Lebensbejahung sollte sich darum anheischig machen können, jene „Kulturenergien" freizusetzen, derer es bedürfe, um die „Umgestaltung des modernen Staates in den Kulturstaat"32 einzuleiten. Seinem Antipoden Nietzsche, dem er ausdrücklich „einen Platz in der ersten Reihe der Ethiker der Menschheit" zuschrieb, sah sich Schweitzer vor allem in der auch von Kant schon geteilten, gemeinsamen Einsicht verpflichtet, dass „Ethik ihrem eigentlichen Wesen nach Selbstvervollkommnung sei"34. Seine eigene Ethik hielt er derjenigen Nietzsches gegenüber jedoch insofern für entscheidend überlegen, als sie „in höherer Lebensbejahung" bestehe, weil sie diese dialektisch als denkerisch-sittliche Selbstbeziehung des Lebenswillens zu denken vermöge und darum das Ethische „weder in der Lebensverneinung noch in Lebensbejahung, sondern (als) eine rätselhafte Verbindung beider"36 zu bestimmen und zu erkennen erlaube. Sein stärkstes Argument im Weltan26

Ebd.

27

Ebd., 90. Ebd., 199. Ebd., 90. Vgl. ebd., 93. Ebd., 353. Ebd., 365. Ebd., 263.

28 29 30 31

32 33 34

Ebd.

35

Ebd., 264. Ebd., 268.

36

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schauungskampf gegen Nietzsche bzw. gegen die degenerierte Impotenz der ethischen gegenüber und zugleich seine Antwort auf die Plausibilitätsproblematik des protestantischen Ethos ist die bewusste und gewissermaßen autopersuasive Simplizität seines neuen kategorischen Imperativs: ,„Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.'"37 Die Beherzigung dieses Leitspruchs hat Schweitzer konsequent in ein Ethos übersetzt, das ein Leben für andere mit exemplarischem Anspruch sein sollte und darum geführt in der Verschneidungszone menschlich-kultureller Zivilisation und der Sphäre natural-vitaler Selbstbehauptung. Eliten ihm

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4. Karl Barth: Protestantische Ethik als Reflexionsform der theologischen Avantgarde zu schleudern in Sie eingegangen." Der Basler Nationalökonom Edgar Salin hatte Karl Barths Römerbriefkommentar von 1922 vor Augen, als er bei seiner 1962, also vierzig Jahre später, aus Anlass der Emeritierung des grossen Basler Theologen und Kollegen gehaltenen Rektoratsrede an den Ursprungskontext von dessen theologischem Lebenswerk erinnerte. Aber nicht nur Barths Römerbrief, das existenzialistisch-polemische Ad-Arma-Signal des jungen Theologierevolutionärs, sondern auch noch das gewissermaßen in Stein gemeißelte Jahrhundertwerk des reifen und späten Karl Barth, die Kirchliche Dogmatik, stellte der Basler Rektor in das geistige Wirkungsfeld Nietzsches: „Welch reformatorisches Wagnis ist es, welche Nietzsche-Antinietzschesche Vermessenheit brauchte es, um als Einzelner die Wege des Glaubens und des Wissens ab ovo neu umzuschreiben und neu zu begehen!" Was 1962 als Skandahede empfunden, und in der Tonbandaufzeichnung gut hörbar40 zu lautstarken Unmutsäußerungen des Publikums geführt hatte, ist wiederum vierzig Jahre später fast schon zum common sense einer kritischen Barthforschung geworden: Karl Barths Theologie gehört von ihren Ursprungsimpulsen her, aber auch in bezug auf die intellektuelle Signatur ihrer Gesamterscheinung (zumindest auch) in den Umkreis der Wirkungsgeschichte Nietzsches. Und „Nietzsches Fluch auf das Christentum und Overbecks Nein zur Theologie und den Theologen seiner Zeit"41 bildeten nicht nur, wie in frühen Aufsätzen Barths von jeher offen zu Tage sozusagen die Frage, zu der seine Theologie die Antwort sein wollte, sondern diese .Antwort' trug eben darum wie bei Antworten so üblich auch stets noch die Signatur der .Frage'.

„Hier ist Nietzsches Willen, Dynamit in die Welt

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lag,42

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37

38

39 40 41 42

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Ebd., 330.

Edgar Salin, „Laudatio für Karl Barth", hg. von Nikiaus Peter, in: ZNThG/JHMTh, 1. Bd. (1994), 305-312, hier: 308. Vgl. im selben Band: Nikiaus Peter, „Karl Barth als Leser und Interpret Nietzsches", 251-264. Ebd., 309.

Vgl. Nikiaus Peter, „Karl Barth als Leser und Interpret Nietzsches", 253, Anm. 4. Edgar Salin, „Laudatio für Karl Barth", 308. Vgl. insbesondere Karl Barth, „Unerledigte Anfragen an die heutige Theologie", in: Die Theologie und die Kirche. Gesammelte Vorträge, 2. Bd., Zollikon-Zürich 1928, 1-25.

Theologische Ethik nach Nietzsche

91

Weniger, und noch weniger als im Falle Albert Schweitzers, ist Barths Nietzscherezeption freilich eine exegetische Punkt-für-Punkt-Auseinandersetzung mit Nietzsche. Auch der erkenntnistheoretische Grundgedanke seiner spekulativen, theozentrischen Offenbarungs- bzw. Ursprungstheologie ,Gott kann nur durch Gott (will heißen: durch ist nicht in der Auseinandersetzung mit Gottes eigenes Handeln) erkannt werden' Nietzsche gewonnen oder auch nur abgesichert, sondern verdankt sich einer platonisierenden oder auch hegelianisierenden Wendung des Neukantianismus, den Barth in seinen theologischen Jugendjahren in Marburg eingesogen hatte. Anders freilich dürfte es mit dem für Barths eigenständiges theologisches Denken wegweisenden, im Römerbriefkommentar von 1922 erstmals durchexerzierten methodischen Einfall stehen, die neue Ursprungstheologie als eine Art permanentes kritisches Zwiegespräch mit den Leserinnen und Lesern und ihrem religiösen Bewusstsein zu inszenieren, das in einen fortlaufenden Fluss dialektisch-theologischer Selbstkritik hineingezwungen wird, in welchem die jeweils erreichte Position, d. h. die jeweilige, momentane Affirmation der Synthese von Absolutem und Endlichem, im jeweils nächsten Gedankenschritt wieder als ,bloß religiöses' Bewusstsein denunziert und theologischer Aufhebung zugeführt wird. Diese neue Technik, die sich als antihistoristische, ,ursprüngliche' Lektüre des paulinischen Römerbriefs gibt, lässt sich zwar mit Blick auf ihre allerdings verdeckte und erkenntnistheoretische Stringenz und nur durch genaue Rekonstruktion erschließbare auch als eine Art theologischer Re- oder Gegenargumentationslogische Konsequenz lektüre der Hegeischen Phänomenologie des Geistes lesen, die das Ziel verfolgt, den -

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.wahren' Aufbau von individueller und kollektiver, endlicher Freiheit durch- und vorzuAber damit würde dem Gesamtgestus und Gesamtduktus des Textes, seiner Performanz und Persuasivität, noch nicht ausreichend gerecht. Denn diese zielt darauf, im Medium der theologischen Reflexion ein neues kollektives, sich in zahlreichen, theologisch gesteuerten Kulturdiagnosen in seiner Prägnanz und Tragfähigkeit ausweisendes, in permanenter theologischer Selbstkritik ja Selbstdenunziation sich haltendes

führen.44

dann und darin und nur darin aber eben gerade doch ,religiöses', avantgardistisches Kollektivbewusstsein aufzubauen. Barths Römerbriefkommentar von 1919, und mehr noch der von 1922, ist der in hochsublimer, persuasiver theologischer Dialektik aufgebaute Versuch der literarischen Erzeugung einer theologischen Avantgarde, die von einem markanten Ethos geprägt ist: einem Ethos der so Barth wörtlich „Überlegenheit"45. Gegen die .naiven' kirchlichen Gemeinden, gegen die Wissenschaftsgemeinden der .liberalen' Reflektierer, gegen die neureligiösen Zarathustragemeinden welcher Provenienz auch immer, wird hier ein neues Evangelium verkündet, dessen Überlegenheitsanspruch darin gründet, das ganz alte,

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Zur Nietzsche-Lektüre Barths 251-264. 44 45

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vgl. Nikiaus Peter, „Karl Barth als

Leser und

Interpret Nietzsches",

Vgl. dazu Georg Pfleiderer, Karl Barths Praktische Theologie, 337-376. Besonders plastisch wird der Überlegenheitsanspruch formuliert in der Erstauflage: Karl Barth, Der Römerbrief (erste Fassung) 1919. Hg. v. Hermann Schmidt (Karl Barth Gesamtausgabe. Im Auftrag der Karl Barth-Stiftung hg. von Hinrich Stoevesandt, II. Akademische Werke 1919), Zürich 1985,492.

Georg Pfleiderer

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ursprünglich paulinische zu sein. Auf diese Weise wendet Barth neukantianische Ursprungstheologie performativ, handlungstheoretisch und handlungspraktisch zugleich, und sucht damit eine für die theologische Signatur des 20. Jahrhunderts wegweisende Antwort auf die sich mit dem Namen Nietzsche verbindende Infragestellung der Plausibilitätsbedingungen von Theologie, Religion und dann auch von Ethik, theologischer Ethik zumal, zu geben: Diese Plausibilitätsbedingungen können von der Theologie nicht mehr einfach vorausgesetzt, sie müssen von ihr permanent miterzeugt, jedenfalls mitbearbeitet werden. Theologie im Sinne dieses Verständnisses soll sich selbst als produktiver Faktor im lebensweltlichen religiösen Bewusstsein begreifen und betätigen. Neben Albert Schweitzers kulturprotestantisches und tendenziell kryptoidealistisches Weltanschauungsprojekt einer humanistischen Weisheits- und Lebenskunstlehre mit universalen, kultursynthetischen Zielsetzungen tritt also in Gestalt der Theologie Karl Barths ein zweites Projekt mit markanter Performanzstruktur auf den Plan. Dieses verfolgt eine erkennbar andere, engere und vielleicht darum, wenigstens mittelfristig, wohl auch erfolgreichere, kultur- und religionspraktische Programmatik. Sein primäres Zielpublikum, von der sich ihr Autor die Überwindung des von Nietzsche und Overbeck angekündigten finis Christianismi verspricht, sind nicht wie bei Schweitzer kulturkritisch verunsicherte, moralisch hochsensible Bildungsbürgerinnen und Bildungsbürger, sondern es ist jedenfalls de facto die Pfarrerschaft, also die Berufselite des traditionellen, kirchlichen Christentums, die aber in der beschriebenen Weise reflexionsprakdas

-

-

tisch umstrukturiert werden soll. Die Ethik, der Bezug auf die Ethik, hat in beiden Programmen einen sehr unterschiedlichen, ja auf den ersten Blick geradezu gegensätzlichen systematischen Stellenwert. Schweitzers Projekt lässt sich nachgerade als das Programm einer Transformation traditioneller Formen des Christentums in Ethik, nämlich in eine weisheitliche, auf Kreatursensibilität gerichtete Lebensführung verstehen, die zwar als solche individuelle, mystisch-religiöse Züge trägt oder tragen darf, aber hinsichtlich bestimmter religiöstheologischer Wurzeln und traditioneller religiöser Lebensformen sich betont indifferent

gibt. Demgegenüber

löst Barths

Projekt, wenigstens in seiner frühen Form, die Ethik in Reflexionsbewegung einer theologia negati-

erster Instanz nahezu ganz in die kritische va

auf:

Ethik, alle materiale Ethik, „Moral", wird derselben Kritik unterworfen wie die

Religion, das religiöse Bewusstsein: Beide sollen durchsichtig werden als Ausdruck des Versuchs unmittelbarer menschlicher Selbstbegründung. Daneben soll die ethische Reflexion aber auch eine konstruktive Funktion im Vollzug der theologischen Denkbewegung erfüllen. Sie wird nämlich als kritische Steigerungsform der theologischen Reflexion, als Metareflexion verstanden, die als „grosse Störung"47 jedes „Gespräch(s) über Gott" „die Sicherstellung der oft betonten Existentialität der im Laufe dieses Gesprächs verwerteten (sie!) Begriffe"49 zum Thema habe. Die ethische Thematik indiVgl. Karl Barth, 148, vgl. 48, 81. Ebd., 447. Ebd. Ebd.

Der

Römerbrief (Zweite Fassung) 1922,

15.

Aufl., 40.

43. -

Tsd., Zürich 1989,

Theologische Ethik nach Nietzsche

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ziert im Rahmen der kritisch-spekulativen Theologie Karl Barths mithin nichts anderes, als deren argumentatives Gesamtziel, sich als die genuine Reflexionsform je individueller, und je situativ praktisch gelebter, konkreter Subjektivität zu erweisen. Dieses Interesse steht auch hinter dem Grundgedanken von Barths umfangreicher, erst postum veröffentlichter Bonner bzw. Münsteraner Ethikvorlesung von 1928/29 der auch die grossen späteren Ethikteile der Kirchlichen Dogmatik (1932ff) noch systematisch bestimmt.51 Dieser Grundgedanke besteht in der Überlegung, dass Kants kategorischer Imperativ, für sich genommen, die absolute sittliche Verbindlichkeit, auf die er ziele, tatsächlich nicht herzustellen vermöge. Denn sofern der kategorische Imperativ, wie bei Kant der Fall, lediglich als eine Regel des (einzelnen) sittlichen Urteils und der einzelnen moralischen Handlung verstanden werde, bleibe das Selbstverständnis des Subjekts seiner Anspruchsstruktur letztlich entzogen und damit äusserlich. Sowohl der absolute Anspruch der sittlichen Verpflichtung als auch die für das sittliche Handeln notwendige ethische Gewissheit lasse sich, so Barths Grundargument, erst im Rahmen einer theologischen Deutung des kategorischen Imperativs als Gebotes Gottes denken, das mich hie et nunc verbindlich trifft und in Beschlag nimmt und das darum je und je als inhaltlich bestimmte Forderung zu denken sei.52 Die unverkennbare Schwierigkeit dieser Bestimmtheitsforderung besteht darin, dass sie selbst wiederum nur im allgemeinen und insofern rein formal formuliert werden zu können scheint. Den Ausweg aus diesem Dilemma sucht Barth zunehmend in einer solchen Materialisierung des theologisch gedeuteten kategorischen Imperativs, die der geforderten Verallgemeinerungsfahigkeit keinen Eintrag tun soll: in der christologischen Deutung des Gebotes Gottes. Theologische Ethik wird in der Kirchlichen Dogmatik darum als (deskriptive) Lehre von der dankbaren Entsprechung des Menschen zu Jesus Christus konzipiert, der als der wahrhaft endliche, weil exemplarische Mensch für andere bestimmt wird. In diesem systematischen und werkgeschichtlichen Zusammenhang gewinnt die Auseinandersetzung mit Nietzsche, die nunmehr dezidiert kritisch ausfallt, für Barth noch einmal an Bedeutung. In dem betreffenden, 1948 veröffentlichten Teilband der Kirchlichen Dogmatik gilt Nietzsche für Barth als prototypischer Vertreter einer Ethik, die auf die unmittelbare Selbstbestimmung des Individuums ausgerichtet ist, was in theoretische Fundamentalaporien und praktisch in desaströse Konkurrenzverhältnisse führe, und die mit ihrer Lehre vom ,Übermenschen' sich von der Sorge um die conditio ,

51

52

53

Vgl. Karl Barth, Ethik I. Vorlesung Münster Sommersemester 1928, wiederholt in Bonn, Sommersemester 1930, hg. von Dietrich Braun (Karl Barth Gesamtausgabe II. Akademische Werke 1928), Zürich 1973; ders., Ethik II. Vorlesung Münster Wintersemester 1928/29, wiederholt in Bonn, Wintersemester 1930/31 (Karl Barth Gesamtausgabe II. Akademische Werke 1928/29), Zürich 1978. Vgl. besonders: Karl Barth, „Die Lehre von Gott", in: Die Kirchliche Dogmatik, Bd. 1/2 (1942), 6. Aufl. Zürich 1981, hier: Achtes Kapitel: Gottes Gebot, 564-875. Vgl. a. a. O., 724-726. Vgl. dazu Karl Barth, „Das Problem der Ethik in der Gegenwart", in: Vorträge und kleinere Arbeiten 1922-1925. Hg. v. Holger Finze (Karl Barth Gesamtausgabe, im Auftrag der Karl Barth-Stiftung hg. v. Hinrich Stoevesandt, III. Vorträge und kleinere Arbeiten), Zürich 1990, 98-143, vgl. hierbes. 117, 127. Vgl. Karl Barth, „Die Lehre von Gott", 726.

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humana, um die Liebe zur Erde, entgegen ihren eigenen Absichten gerade nicht leiten lasse, sondern in eine Pseudotranszendenz umschlage.

5.Dietrich Bonhoeffer: Protestantische Ethik als kontingenzbewusste Fundamentalhistorik Der intellektuell wie musisch frühreif-hochbegabte und kulturell hochsensible Dietrich Bonhoeffer, der einem großbürgerlichen Milieu bildungsaristokratischer Tradition in Berlin-Dahlem entstammte, hat sein eigenes theologisches Denken aus der Rezeption vieler Quellen gewonnen; die wichtigsten sind: die dialektische Theologie Karl Barths,

damit

zusammenhängend der theologische und philosophische Neukantianismus der

Jahrhundertwende, ein konservatives („modern-positives") Kulturluthertum des 19. und frühen 20. Jahrhundert

(vermittelt insbesondere durch Reinhold Seeberg, aber auch ein eigenes Lutherstudium), eine kritisch rezipierte Philosophie der deutschen Aufklärung (Kant) und des deutschen Idealismus (besonders Hegel und die ihm folgende Religionsphilosophie), verschiedene Lebensphilosophien, die Soziologie der zehner und zwanziger Jahre (weniger Max Weber, dafür Ferdinand Tönnies, Georg Simmel, Hans Freyer), und nicht zuletzt Friedrich Nietzsche. Die Rezeptionsbasis und der Rezeptionsbezug dieser vielfältigen Theorietraditionen ist letztlich ein geschichts- und kulturphilosophisches bzw. -theologisches Problembewusstsein.55 Das Programm von Dietrich Bonhoeffers Fragment gebliebener, um 1940 entstandener Aufzeichnungen und Skizzen zur Ethik56 lässt sich verstehen als der Versuch, den spekulativen theo- bzw. christozentrischen Autokratismus Karl Barths geschichtsphilosophisch und -theologisch so aufzudrehen, dass die in ihm enthaltenen Potenziale einer christlichen Ethik leibhafter, individuell-endlicher, je geschichtlich und kulturell situativer und darin verantwortlich gelebter Subjektivität zu voller Entfaltung gelangen können. Vor diesem Programmhintergrund kommt dem von Peter Köster im Anschluss an Tierno Rainer Peters unternommenen Versuch, Nietzsche als „verborgene(n) Anti-

Vgl. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik. Dritter Band, die Lehre von der Schöpfung, zweiter Teil, (1948), 4. Aufl. Zürich 1978, 276-290. Dies lässt sich exemplarisch etwa an Bonhoeffers Wahrnehmung der neueren Theologiegeschichte erkennen, die folgt man den Vorlesungsskizzen von 1931/32 um die drei kulturphilosophischen Problemkreise konzentriert ist „Erkenntnisproblem, Geschichtsproblem und das ethische Problem." Dietrich Bonhoeffer, „Vorlesung: Die Geschichte der Systematischen Theologie des 20. Jahrhunderts" (Mitschrift), in: Ökumene, Universität, Pfarramt 1931-1932. hg. von Eberhard Amelung und Christoph Strohm (Dietrich Bonhoeffer Werke, hg. von Eberhard Bethge u. a. 11. Bd.), München -

-

1994, 139-213, hier: 192. Dietrich Bonhoeffer, Ethik, hg. v. Ilse Tödt, Heinz Eduard Tödt (f), Ernst Feil und Clifford Green (Dietrich Bonhoeffer Werke, hg. von Eberhard Bethge, Ernst Feil u. a., 6. Bd.), 2. Aufl. Gütersloh 1998. Vgl. Tierno Rainer Peters, Die Präsenz des Politischen in der Theologie Dietrich Bonhoeffers. Eine historische Untersuchung in systematischer Absicht Gesellschaft und Theologie, Systematische Beiträge, Sozialwissenschaftliche Analysen, Praxis der Kirche, hg. v. Klaus von Beyme u. a. (Abteilung: Systematische Beiträge Nr. 18), München 1976, 133-145.

Theologische Ethik nach Nietzsche

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in Bonhoeffers ,Ethik'"58 zu zeichnen, von vornherein einige Plausibilität zu. Dafür spricht schon, dass bereits und gerade die anfängliche Hinwendung von Bonhoeffer zur Ethik von einer besonders expliziten Auseinandersetzung mit Nietzsche begleitet ist. Die Motive zu dieser ethischen Wendung der Theologie scheinen freilich andere gewesen zu sein.59 Sie werden offenbar durch irritierende kulturelle Alterationserfahrungen ausgelöst; konkret, wie es scheint, durch den bereits erwähnten Auslandsaufenthalt des jungen Vikars in Barcelona: „Meine Theologie [...]", so notiert er am 28. März 1928 in sein Tagebuch, „[...] beginnt humanistisch zu werden; was soll das? Ob Barth je im Ausland war?"60 Unbeschadet des (signifikanten) kleinen Lapsus, der Bonhoeffer hier mit der Germanisierung seines Schweizer theologischen Lehrers unterläuft, schärft der Aufenthalt in einem anderen Zimmer des europäischen Kulturraums seine Aufmerksamkeit für kulturelle und geschichtliche Kontextualitäten. Nachfolgende Arbeitsaufenthalte in London und New York intensivieren diese Effekte und machen den noch nicht Dreißigjährigen nicht nur rasch zu einem der führenden deutschen Theologen der Ökumene, sondern sie steigern insbesondere auch seine Sensibilität für kulturelle, politische und sozialethische Besonderheiten der jeweiligen Länder. Der Rassismus in den multikulturellen USA wird für Bonhoeffer darum mit der gleichen wachen Selbstverständlichkeit zum drängenden sozialethischen Problem wie der epidemisch werdende Antisemitismus im Deutschland der frühen Dreißiger Jahre.61 In dem bereits erwähnten Barcelona-Vortrag über Grundfragen einer christlichen Ethik fasst Bonhoeffer seine programmatische Idee einer prinzipiellen geschichtlichkulturellen Kontextualisierung der theologischen Ethik mit bemerkenswerter Klarheit ins Auge. In erkennbarer Aufnahme von Barths Wort-Gottes-theologischer Wendung von Kants kategorischem Imperativ, aber charakteristischerweise unter Benutzung einer allgemein-philosophischen Semantik, erklärt Bonhoeffer kategorisch, „dass es christliche Normen und Prinzipien sittlicher Art nicht gibt und nie geben kann, dass es vielmehr die Begriffe ,gut' und ,böse' nur im Vollzug einer Handlung, d. h. aber in der

poden

Peter Köster, „Nietzsche als verborgener Antipode in Bonhoeffers Ethik", 367^fl8. Bonhoeffers Dissertation Sanctorum Communio (Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche, hg. v. Joachim von Soosten [Dietrich Bonhoeffer Werke, hg. v. Eberhard Bethge, Ernst Feil, Christian Gremmels u. a. 1. Bd.], München 1986) war dogmatisch-kultursoziologisch, seine Habilitationsschrift Akt und Sein (Transzendentalphilosophie und Ontologie in der systematischen Theologie [TB, Systematische Theologie Bd. 5], München 1976) erkenntnistheoretisch-ontologisch

ausgerichtet.

Dietrich Bonhoeffer, „Spanisches Tagebuch. Barcelona, Januar-März 1928", in: Barcelona, Berlin, Amerika 1928-1931, 27; vgl. dazu Nikiaus Peter, „Karl Barth als Leser und Interpret Nietzsches", 136. Vgl. zu dem gegen Schwarze gerichteten Rassismus: Dietrich Bonhoeffer, Barcelona, Berlin, Amerika 1928-1931, 213, 224, 249, 392 u. ö.; zum Antisemitismus in Deutschland vgl. vor allem: Dietrich Bonhoeffer, „Die Kirche vor der Judenfrage", in: Berlin 1932-1933. Hg. v. Carsten Nicolaisen und Ernst-Albert Scharffenorth (Dietrich Bonhoeffer Werke, hg. v. Eberhard Bethge u. a., 12. Bd.), München 1997, 349-358. Dietrich Bonhoeffer, „Grundfragen einer christlichen Ethik", 323.

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Christliche Ethik sei primär keine normative, nämlich keine zeitlos-normative Ethik, sondern sie wende den Blick auf die Voraussetzung und Möglichkeitsbedingung allen je aktuellen, situativen Handelns in der Geschichte. Im Zentrum der theologischen Ethik stehe darum die Frage, „ob Gott gnädig sein will oder nicht."64 Eben darum und insofern stehe die „christliche Botschaft [...] jenseits von Gut und Böse. [...] Die Entdeckung des Jenseits von Gut und Böse gehört also nicht dem Christentumsfeind Fr. Nietzsche [...], sondern sie gehört zum verschütteten Urgut der christlichen Botschaft."65 Die radikale Situationsethik, auf die der junge Bonhoeffer hier zielt, konvergiert, wie angedeutet, in der Sache mit entsprechenden ftindamentalethischen Positionen des dialektisch-theologischen Barth. Unbeschadet dessen ist die Semantik, ist der Denkrahim Unterschied zu Barth explizit gemen, hier schon ein anderer, nämlich ein schichtsphilosophischer bzw. -theologischer: „Der Sinn der gesamten ethischen Gebote ist [...] der, dem Menschen zu sagen: Du stehst vor dem Angesicht Gottes, Gottes Gnade waltet über dir, du stehst aber zum Andern in der Welt, musst handeln und wirken, so sei bei deinem Handeln eingedenk, dass du unter Gottes Augen handelst, dass er seinen Willen hat, den er getan haben will. Welcher Art dieser Wille ist, das wird dir der Augenblick sagen; es gilt nur, sich klar zu sein, dass der eigene Wille jedesmal in den göttlichen Willen hineingezwungen werden muss, dass der eigene Wille aufgegeben werden muss, wenn der göttliche verwirklicht werden soll". Der geschichtsphilosophische Gehalt dieses in einer religiös-theologischen Semantik vorangetragenen Gedankens ist der, dass angesichts der Kontingenz allen geschichtlichen Lebens freies Handeln in der Geschichte nur möglich sei, indem sich das Individuum in seinem wertsetzenden Handeln auf einen transzendenten, normativen Grund bezieht, der als aller geschichtlich-kontingenten Beliebigkeit entzogen präsupponiert wird. Wenn ferner alles solchermaßen geschichtliche Handeln einen so verfassten Bezugsgrund faktisch immer schon in Anspruch nehme, dann sei als Eigenart der religiösen, der christlichen Gottesbeziehung zu bestimmen, dass sie (a) explizit sei und (b) in ihrer Bezugnahme die Kontingenz ethisch-geschichtlicher Normativität gerade nicht auflöse, sondern als bewusst wahrgenommene betätige. Die bewusste und explizite Einstellung der Handlungsverantwortung in die Gottesbeziehung soll mithin den Möglichkeitsgrund selbstgewissen, weil schuldentlasteten Handelns in der offenen Situation

jeweiligen Gegenwart gibt"

.

-

Die Nähe

-

Barth wird auch an der Fortsetzung des Gedankens erkennbar, der mit dem Vogel-imzentrale Metapher aus Barths frühem Tambacher Programmvortrag „Der Christ in der Gesellschaft" aufnimmt. Vgl. Karl Barth, „Der Christ in der Gesellschaft", in: Jürgen Moltmann (Hg.), Anfänge der dialektischen Theologie, Teil I: Karl Barth, Heinrich Barth, Emil Brunner (ThB 17/1), 4. Aufl. München. 1977, 3-37, hier: 9. Dietrich Bonhoeffer, „Grundfragen einer christlichen Ethik", 327. Ebd. Ebd., 329. Vgl. die Fortsetzung: ,,[U]nd sofern also da völlige Anspruchslosigkeit des Menschen erforderlich ist im Handeln vor dem Auge Gottes, kann das ethische Handeln des Christen als Liebe bezeichnet werden. Das aber ist nicht ein neues Prinzip, sondern aus der Stellung des Menschen vor Gott gewonnen. Es gibt für Christen keine ethischen Prinzipien, anhand derer er sich etwa versittlichen könnte." zu

Flug-Bild eine

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kontingenter Geschichtlichkeit legen. Dieser geschichtstheologische und eben zugleich auch geschichtsphilosophische Gedanke ist es, der hinter der häufig zitierten Bezugnahme Bonhoeffers auf das ikonoklastisch-poietische Nietzschediktum steht (das seinerseits ein Lutherwort variiert): „Der Christ schafft neue Tafeln, neue Dekaloge, wie es Nietzsche vom Übermenschen sagte; der Übermensch Nietzsches ist wahrhaftig nicht, wie er meinte, das Gegenbild des Christen, sondern ohne es zu wissen, hat Nietzsche hier viele Züge des freigewordenen Christen, wie ihn Paulus und Luther beschreiben und kennen, hineingetragen." Ethos und geschichtliches Handeln, Ethik und Geschichtsphilosophie sollen somit als ineinander überführbar erkannt werden: „Geschichte entsteht durch Wahrnehmen von Verantwortlichkeiten für eine menschl. Gemeinschaft. ,Der Einzelne handelt nicht für sich, sd. er vereinigt in sich mehrere ,Ich's'„ lautet eine Notiz Bonhoeffers zur Ethik. Der Gedanke impliziert, das ist im Hinblick auf die hier verfolgte Interpretation wichtig, für seinen Urheber (wie auch für seine Rezipienten) zugleich die ethische Anforderung seiner praktischen Selbstanwendung. Denn wenn die Geschichtlichkeit des Denkens und darin die notwendig perspektivische Bestimmtheit des Gottesgedankens für Bonhoeffer: also des christlichen Gottesgedankens ernst genommen wird, dann ist eine so verstandene Ethik genötigt, an die geschichtstheologisch-ethische Prinzipienreflexion konkrete ethisch-kulturdiagnostische Überlegungen anzuschliessen. Dies setzt freilich wiederum die Ausarbeitung von geschichtsphilosophischen bzw. geschichtstheologischen Orientierungskategorien voraus. In seinen Barcelona-Vorträgen versucht Bonhoeffer dieser Aufgabe durch die zumindest semantisch wiederum an Nietzsche angelehnte Aufnahme einer völkisch-geschichtlichen Geschichtstheologie und einer Lehre von der „Rangordnung der göttlichen Ordnungen69 aus den zeitgenössischen Traditionen eines konservativen Kulturluthertums zu entsprechen: „Die Ethik ist Sache des Blutes und Sache der Geschichte, sie ist [...] ein Kind der Erde."70 Von den in jenem Barcelonavortrag von 1928 erstmals skizzierten Grundgedanken her erklärt sich die Phänotypik der auf den ersten Blick so disparaten Ethikfragmente aus der Zeit um und nach 1940. Diese verknüpfen theologisch-dogmatische Begründungsfragen der Ethik und ethische Prinzipienreflexionen mit kulturdiagnostischen Überlegungen zu Ausarbeitungen zu einzelnen materialethischen Fragen von hoher persönlicher und allgemein-politischer Zeitvarianz.72 Systematisch betrachtet entwickelt ,

-

-

-

-

Ebd., 331. Dietrich Bonhoeffer, Zettelnotizen für eine „Ethik". Hg.

v. Ilse Tödt (Dietrich Bonhoeffer Werke, hg. v. Eberhardt Bethge u. a. Ergänzungsband zum Sechsten Band), München 1993 (Nr. 27), 99 (Im Original teilw. hervorgehoben). Vgl. dazu Nietzsches Aphorismus von den „drei Phasen der bisherigen Moralität", als deren höchste diejenige gelte, in welcher der Mensch „lebt und handelt als Collektiv-Individuum". (KSA, MA I, 2, 91). Dietrich Bonhoeffer, „Grundfragen einer christlichen Ethik", 334.

Ebd., 323.

Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Ethik. Konzept des „totalen Krieges" vgl.

Zum

a. a.

O., 99;

zur

Eugenikproblematik vgl. 172, 188-191;

Thematik der für die christlichen Widerstandskämpfer wichtigen moralischen Frage der „Schuldübernahme" vgl. a. a. O., 28lf u. ö.; zur Arbeits- und Wirtschaftsethik vgl. a. a. O., 54-59 u. ö.; zur Ethik der Geschlechter vgl. a. a. O., 201-208 u. ö. zur

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Bonhoeffer in diesen späten Fragmenten seine frühen Grundgedanken vor allem in folgenden (drei) Hinsichten entscheidend weiter. Zum einen tritt an die Stelle der vergleichsweise abstrakt geschichtstheologischen Überlegungen von 1928 nun eine durchgängig christologische Reflexion des Gottesgedankens. Das Verhältnis von geschichtlich-kontingentem, faktizitären Handeln und seinen absoluten Voraussetzungen wird damit an der Stelle des Gottesgedankens selbst thematisiert: Der christliche Gott ist nicht der abstrakt normative, transzendente Handlungsgrund, sondern der Gott, der in Jesus Christus geschichtliche Wirklichkeit, „Gestalt" 3, wie Bonhoeffer nun sagt, angenommen hat. Die theologische Fundamentalnorm des Ethischen, des geschichtlichen Handelns ist Christus als „der wirkliche Mensch"74. Aus dieser konsequent christologischen Fassung der geschichtstheologischen Ethik ergibt sich zweitens eine Radikalisierung des Verständnisses von geschichtlichethischem Handeln: Dieses ist als stellvertretendes Handeln für andere näherhin und in seiner Spitze ein Handeln, das in die Handlungs- und das heisst immer auch in die Schuldverfallenheit des Anderen eintritt. Stellvertretendes und darin „verantwortliches" Handeln, wie es in Christus Gestalt angenommen hat, ist gekennzeichnet durch „die Bereitschaft [...]", so kann Bonhoeffer nun pointiert sagen, „[...] zur Schuldübernah-

me"75.

Drittens: An die Stelle des schlichten völkischen Schemas der ethischen Kulturdia-

gnostik treten nun mannigfache Formen und Versuche einer historischen Gegenwartsanalyse. Diese arbeiten vor allem mit dem Begriffs des Abendlandes.76 Dieser scheinbar wenig trennscharfe, traditionalistisch wirkende Begriff dient bei Bonhoeffer vor allem dazu, die historischen Verbindungen und Differenzen von Christentum und humanistisch-antikem Erbe aufzuspüren. Dadurch kommt es zu einer gezielten Ausleuchtung des „natürliche(n) Leben(s)" als Speichers ethischer Normen.77 Die christologischtheologische Normativität wird mithin geöffnet für eine Suche nach Normen, die in der als nihilistisch-anomistisch erfahrenen Gegenwart zu Grundlagen werden könnten, die Chancen auf allgemeine Zustimmung auch jenseits der Grenzen des Christentums haben könnten. Bonhoeffer wird hier zum Vorläufer und Vordenker der nach dem Zweiten Weltkrieg breiter einsetzenden Rückbesinnung protestantischer Ethik auf westliche Natur- und Menschenrechtstraditionen.78 Die theo- und näherhin christologische Begründung dieser Suche leistet dabei jedenfalls ihrem Selbstverständnis nach mehr als nur die Bereitstellung eines subjektiv-arbiträren Motivationsgrundes: Sie ermöglicht den Bezug auf human-universale Werte im vollen Bewusstsein ihrer geschichtlicher Kontingenz, kulturellen Perspektivität und internen Begründungsproblematik. -

-

Ebd., 69 u. ö. Ebd., 70 u. ö. Ebd., 275. Der ethisch paradoxe Gedanke markiert den äussersten Gegensatz der Ethik Bonhoeffes

Nietzsche. das Manuskript „Erbe und Verfall" in den Ethikfragmenten. Dietrich Bonhoeffer, Ethik, 93124. Vgl. das Manuskript „Das natürliche Leben", a. a. O., 163-217. Vgl. dazu Klaus Tanner, Der lange Schatten des Naturrechts. Eine fundamentalethische Untersuchung, Stuttgart/Berlin/Köln 1993. zu

Vgl.

Theologische Ethik nach Nietzsche

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Vielleicht noch deutlicher als bei Albert Schweitzer und Karl Barth ist bei Bonhoeffer erkennbar, dass und inwiefern protestantische Ethik nachnietzscheanisch sich als individualethische (aber darin zugleich sozialethisch ambitionierte) Theorie geschichtlicher, mithin kontingenzbewusster Freiheit in einer bewusst theologischen Deutungssemantik auszuarbeiten versucht hat. Die spezifisch theologische Deutungssemantik wird bei Bonhoeffer als Signal dafür durchsichtig, dass so verstandene protestantische Ethik nur als derjenige praktische Vollzug reflexiver Lebensführung prozedieren kann, dessen Theorie sie sein möchte. Damit wird bei Bonhoeffer der Versuch der nachnietzscheanischen protestantischen Ethiker, die Plausibilitätsproblematik religiöser Ethik in der ausgereiften Moderne performativ, nämlich in charakteristischer Simultaneität von Theoriearbeit und Kulturpraxis zu bearbeiten, in die Theoriestruktur des Ethischen selbst

aufgehoben.

6. Aristokratische Entdifferenzierung. Nachbemerkung zu Größe und Grenze eines „freien Lebensversuchs"

deutschsprachige protestantische Theologie hatte bekanntlich im 20. Jahrhundert lange und zumindest während der ersten fünf, sechs Dezennien eine international führende Stellung inne. Das dürfte nicht nur mit spezifischen Bildungstraditionen und den Die

in die volkskirchlichen Verhältnisse geretteten Institutionsvorteilen starker Staatskirchen zu tun haben, sondern es könnte auch dem Sachverhalt zuzuschreiben sein, dass die deutsche Geschichte und in ihr so viele einzelne Lebensschicksale in diesem Zeitraum fester aufs Rad der neuzeitlichen Weltgeschichte und näher an ihre krisenhafte Nabe geflochten waren, als das in den meisten anderen Weltgegenden der Fall war. Unter den zahlreichen theologischen Gelehrten ragen, um es ungeschützt und in der Sprache der Nietzsche-Ära zu sagen, einige wenige ,Genies' hervor. Zu ihnen dürfen Albert Schweitzer, Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer gezählt werden. ,Genies' würde ich sie nennen, weil sich bei ihnen die wissenschaftliche Hochbegabung verbunden hat mit einer außerordentlich gesteigerten Sensibilität für die intellektuellen, ethischen, religiösen und (sonstigen) kulturellen Herausforderungen ihrer Zeit und mit der mehr als nur gelehrten Fähigkeit, diese Doppelbegabung zu produktiven intellektuellen und zugleich praktisch gelebten, individuellen Synthesevarianten eines reflexiv gebrochenen Kulturprotestantismus auszuformen. In seinem charakteristischen (reflexiven und zugleich kulturpraktischen) Ethos wurzelt die karitativ-humanistische Synthese des weltmissionarischen Kulturprotestanten extra muros ecclesiae Albert Schweitzer, die theologische Existenz' des Schulhaupts der pastoralen Professionselite Karl Barth und auch die theologisch-politisch-moralische Synthese des Kirchenkampf-Märtyrers Dietrich Bonhoeffer. „Eine unheimliche Lehre raunt mir die wahre Ethik zu. Du bist glücklich, sagt sie. Darum bist du berufen, viel dahinzugehen. Was du an Gesundheit, an Gaben, an Leistungsfähigkeit, an Erfolg, an schöner Kindheit, an harmonischen häuslichen Verhältnissen mehr empfangen hast als andere, darfst du nicht als selbstverständlich hinnehmen. Du mußt einen Preis dafür entrichten. Aussergewöhnliche Hingabe von Leben an

Georg Pfleiderer

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Leben mußt du leisten." Schweitzers Credo aus dem Schlussteil seiner Kulturphilosophie ist in seinem Pathos für heutige Ohren gewiss schwer erträglich; es lädt auch zur psychologischen Dekonstruktion ein. Unbeschadet dessen scheint es mir doch den Schlüssel, und gerade nicht nur den psychologischen, sondern auch den theologischen Schlüssel, zum Lebenswerk aller drei Theologen zu enthalten: Alle drei Theologien sind im markanten Sinne des Wortes hintergründig ,Erwählungstheologien'. Sie basieren auf der charakteristischen Hineinblendung von kulturell-politischen Großkonflikten der Moderne in die eigene individuell-biographische Lebensaufgabe. Sie basieren, anders gesagt, auf einer aristokratischen' und zugleich (Profession und Biographie) bewusst entdifferenzierenden Zuspitzung eines protestantischen Berufsethos. Diese solchermaßen durch aristokratische Entdifferenzierung charakterisierten emphatischen Varianten eines „freien Lebensversuchs"80 haben dem protestantischen Ethos, das sie variieren, zu beträchtlichen Plausibilitätsgewinnen verholfen. Es verdankt diese Gewinne damit indirekt, wie nicht ohne eine gewisse Ironie festzustellen ist, auch Friedrich Nietzsche. Denn unverkennbar scheint mir, dass Nietzsche ob zu Recht oder als einer der wichtigsten Anreger für jene ,genialistische' Wendung der zu Umecht protestantischen Theologie, die hier in drei exemplarischen Fallstudien zu skizzieren versucht wurde, anzusehen ist. Das Zeitalter der wenigen, auf die angeblich „einzig Etwas ankommt, ich meine die Heroischen" (KSA, FW, 3, 533), ist nun aber spätestens seit 1989 wohl definitiv zu Ende gegangen. Die heroischen Performanzüberlastungen der Ethik und des Ethos sind auch in der protestantischen Ethik längst schon wieder auf ein alltagstaugliches Normalmaß zurückgestutzt worden. Öffentliche, sozialethische Verantwortung wird heute, und ja auch aus guten Gründen, in mühsamer Kleinarbeit nicht zuletzt in Ethikkommissionen wahrgenommen. ,Freie Lebensversuche' müssen und können freilich auch jetzt noch unternommen werden. Und es hängt wahrscheinlich nicht wenig davon ab, dass die Mitglieder der Ethikkommissionen, aber beileibe nicht nur sie, ihr Tun als einen solchen begreifen. -

-

Albert Schweitzer, Kultur und Ethik (1923), 344. Vgl. Karl Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, 148, 530.

Hansgeorg Schmidt-Bergmann

Der „stählerne Mensch" Filippo Tommaso Marinettis Programm des italienischen Futurismus -

Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit"^ „

„Das Gründungsereignis der modernen Kunst in Europa war die Herausgabe des futuristischen Manifestes von Marinetti, das am 20. Februar 1909 im ,Figaro' erschien", behauptete der Expressionist Gottfried Benn 1951 rückblickend in seiner Rede „Probleme der Lyrik":

,„Nous allons assister à la naissance du Centaure wir werden der Geburt des Zentauren beiwohnen' .schrieb er und: ,Ein brüllendes Automobil ist schöner als die Nike von Samothra-

ke'. Dies waren die Avantgardisten, sie waren aber im einzelnen auch schon die Vollender."2 -

Der italienische Futurismus war die erste avantgardistische Bewegung, die sich ekstatisch mit der industriellen Dynamik zu verbünden suchte. Damit begann am Anfang des 20. Jahrhundert die Revolte der Künstler gegen das bürgerliche Ordnungssystem. Das heroische Kunst- und Lebensprogramm, als futuristisches „Weltgefühl" propagiert, setzte mit der Aufforderung der Zerstörung jeglicher tradierten Kunst und ihrer ungenügenden ästhetischen Formen ein und mündete in das totalitäre Gesellschaftsmodell einer elektrisch-dynamischen Lebenswelt, das nach 1922 ein kulturpolitisches Element des italienischen Faschismus werden sollte. In den elf Thesen des von Filippo Tommaso Marinetti verfassten „Manifest des Futurismus" wird bereits zu Beginn ein „Weltgefühl" postuliert, in dem die Gefahr, die Geschwindigkeit und der Krieg zu den maßgeblichen Koordinaten eines neuen ästhetischen und politischen Ordnungssystems erklärt werden. „Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit", heißt es in der 4.These. „Schönheit gibt es nur noch im Kampf. Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein Meistwerk

1

F. T. Marinetti, „Manifest des Futurismus", in: Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbek bei Hamburg 1993, 77. Gottfried Benn, „Probleme der Lyrik", in: ders., Das Hauptwerk. Zweiter Band (= Essays. Reden. Vorträge), hg. v. Marguerite Schlüter, Wiesbaden und München 1959, 321.

102

Hansgeorg Schmidt-Bergmann

sein", wird in der 7. These erklärt und provozierend und als Angriff gegen die huma-

nistische Tradition heißt es in der 9.: -

„Wir wollen den Krieg verherrlichen diese einzige Hygiene der Welt den Militärismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes."3 -

-

Nach den Rasereien der totalitären und autoritären Diktaturen im 20. Jahrhundert und den von ihnen entfesselten Kriegen und rassischen Vernichtungszügen partizipieren diese Sätze an einer Umgestaltung der Moderne, die auf die Auslöschung des Subjekts zielt. Dem „passatistischen" Bewußtsein von italienisch „passato" (Vergangenheit), das zielt auf das Rückständige, im Gegensatz zum Zukünftigen hatten die Futuristen ihren Kampf angesagt. Ihr aktionistisches, gegen die erstarrten Verhältnisse in Europa vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges gewendetes Programm, markiert den Anfang einer künstlerischen Bewegung, die sich offen als eine politische verstand. Der Futurismus ist zugleich der Ursprung einer radikalen modernen Kunst, die man rückblickend als „historische Avantgarde" bezeichnet. Dem Futurismus, Kubismus, Dadaismus und Surrealismus ist die Subversion des konventionellen Begriff des „Schönen" gemeinsam. Das Provokante der futuristischen Manifestationen in den Jahren zwischen 1909 und 1914, also bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, liegt nicht allein in der Artikulation eines neuen Lebensgefühls, das in der „Schönheit der Geschwindigkeit" seinen Ausdruck gefunden hatte, und auch nicht in der Erweiterung des tradierten ästhetischen Kanons. Die mechanisierte Welt, das Automobil und der Aeroplan werden zwar zu Elementen einer modernen Mythologie und triumphieren über eine als museal erklärte Kunst: „Wir wollen die Museen, die Bibliotheken und die Akademien jeder Art zerstören", heißt es in der 10. These des „Manifest des Futurismus" ; entscheidend sind jedoch die Konsequenzen, die der Futurismus aus den technologischen Veränderungen und beschleunigten gesellschaftlichen Entwicklungen am Beginn des 20. Jahrhunderts für die Kunst ableitet. Denn die Geschwindigkeit, der Dynamismus, die umfassende Revolutionierung der Nachrichten- und Transportsysteme und die fiebrige Hast des großstädtischen Lebens werden zum alleinigen Gegenstand der Kunst erhoben. In der abschließenden 11. These des „Manifest des Futurismus" wird ein ästhetisches Programm formuliert, das sich offensiv und affirmativ auf die „Massen" bezieht und für sich in Anspruch nimmt, der einzig legitime künstlerische Ausdruck einer industrialisierten und umfassend technisierten Lebensumwelt zu sein: -

-

„Wir werden die großen Menschenmengen besingen, die die Arbeit, das Vergnügen oder der Aufruhr erregt; besingen werden wir die vielfarbige, vielstimmige Flut der Revolutionen in den modernen Hauptstädten; besingen werden wir die nächtliche, vibrierende Glut der Arsenale und Werften, die von grellen elektrischen Monden erleuchtet werden; die gefräßigen Bahnhöfe, die rauchende Schlangen verzehren; die Fabriken, die mit ihren sich hochwindenden Rauchfaden an den Wolken hängen; die Brücken, die wie gigantische Athleten Flüsse überspannen, die in der Sonne wie Messer aufblitzen; die abenteuersuchenden Dampfer, die den Horizont wittern, die breitbrüstigen Lokomotiven, die auf den Schienen wie riesige, mit Roh-

4

Vgl. F. T. Marinetti, „Manifest des Futurismus", a. a. O., 77f. F. T.

Marinetti, „Manifest des Futurismus", a. a. O., 78.

Der stählerne Mensch

"

Marinettis Programm des italienischen Futurismus



103

-

gezäumte Stahlrosse einherstampfen und den gleitenden Flug der Flugzeuge, deren Propeller wie eine Fahne im Winde knattert und Beifall zu klatschen scheint wie eine begeisterte

ren

Menge."5

Der Verfasser des futuristischen Manifestes, Filippo Tommaso Marinetti (1876-1944), war ein junger, wohlhabender und finanziell unabhängiger italienischer Intellektueller. Geboren am 22.12.1876 in Alexandria als Sohn eines Juristen, der als Rechtsanwalt für ausländische Unternehmen erfolgreich tätig war, verlebte er die Jugendjahre in Ägypten. 1893

ging Marinetti nach Paris, um dort die Schulausbildung abzuschließen:

„Allein in Paris. Siebzehn Jahre. Alle grisettess des Quatier Latin. Alle Studentenunruhen. Ein sehr schlechtes Examen in Mathematik, aber ein triumphales in Philosophie über die Theorien Stuart Mills. Als bachelier es lettres kam ich nach Mailand, französisch gebildet, aber unbeugsam italienisch, allem Pariser zum Trotz."6 Seit 1898 veröffentlichte Marinetti erste kleinere literarische Arbeiten, die eindeutig seiner Lektüre der französischen Symbolisten geprägt waren. Mit dem Gedicht „Les vieux marins" gewann er einen von dem ästhetizistischen Schriftsteller Catulle Mendès und dem Vermittler des Symbolismus Gustave Kahn ausgeschriebenen Wettbewerb. Die legendäre Schauspielerin Sarah Bernhard trug anläßlich der Preisverleihung in Paris Verse des Gedichtes vor: von

„Eines Abends, als der Himmel rot war, im seegrünen Hafen voll Moschusduft und Nebelschwaden, schleppte alt und geschlagen der Sonnenuntergang seines Greisesqual hinab zu den Kneipen, und sein Blut verweste tragisch im Herzen erloschene Scheiben. Eines Abends, als der Himmel rot war ."7 ..

-

F. T. Marinetti studierte Jurisprudenz in Pavia und Genua, wo er 1899 mit einer Arbeit über die Stellung der Monarchie in der parlamentarischen Demokratie promoviert wurde. Schnell machte er sich in den literarischen Kreisen durch seine Vermittlung der symbolistischen Literatur einen Namen. Seine Wohnung in Mailand wurde zu einem Mittelpunkt junger Literaten und Künstler. Der Auftakt des „Manifest des Futurismus" ist daher auch biographisch zu lesen:

„Wir haben die ganze Nacht gewacht meine Freunde und ich unter den Moscheeampeln mit ihren durchbrochenen Kupferschalen, sternenübersät wie unsere Seelen und wie diese bestrahlt vom eingefangenen Glanz eines elektrischen Herzens. -

-

[...] Los, sagte ich, los, Freunde! Gehen wir! Endlich ist die Mythologie, ist das mystische Ideal überwunden. Wir werden der Geburt des Kentauren beiwohnen, und bald werden wir die —

ersten

5 6

7

Engel fliegen sehen!"8

Ebd., 78. F. T. Marinetti

e

il Futurismo, Rom/Mailand 1929, 20ff. Zitiert nach Christa Baumgarth, GeschichReinbek bei Hamburg 1966, 9f.

te des Futurismus,

Ebd., 10.

Hansgeorg Schmidt-Bergmann

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Mit diesen Sätzen beginnt die Geschichte des Futurismus. Aus einem als dekadent empfundenen Symbolismus heraustretend, konstituiert sich eine Bewegung, die sich selbst zur Avantgarde der modernen Kunst erklärt. Die Welt des Art Nouveau wird ebenso beiseite geschoben wie der Ästhetizismus Gabriele D'Annunzios. Es erscheint das Bild einer künstlerischen Moderne, die sich lebenshungrig der industriellen und technischen Lebenswirklichkeit bemächtigt. Was sich im epischen Vorspann des „Manifest des Futurismus" vollzieht, ist die Initiation des futuristischen Menschen, der aus der Verschmelzung mit der Maschine entsteht und der Gesellschaft der Jahrhundertwende den Krieg erklärt: „Wir sind eher junge, trunkene Artilleristen ...Und wohl oder übel müßt ihr eure Trommelfelder an den Lärm unserer Kanonen gewöhnen!", heißt es in Marinettis „Zweitem Manifest des Futurismus", das unter Titel „Tod dem Mondenschein" erschien.9 Marinetti konnte für die Ausarbeitung seines futuristischen Kunst- und Lebensprogramms auf ein großes kunsttheoretisches und literarisches Reservoir zurückgreifen. Er war bekannt mit Picasso und den Kubisten, schätzte in Paris den intellektuellen Austausch mit Apollinaire und der internationalen Avantgarde. Seine ersten Veröffentlichungen erschienen auf Französisch, die erste Publikation erschien unter dem Titel „La conquête des étoiles" (1902). Es folgten Gedichte in der Sammlung „Destruction" (1904) und die „satirische Tragödie" „Le Roi Bombance" (1905), die deutlich von den „Ubu"-Dramen des befreundeten Alfred Jarry beeinflußt ist. Seine „prä-futuristische" Lyrik ist hymnisch im Ton, in der Symbolik und Metaphorik aber bleibt sie konventionell. Mit Marinettis Polemik gegen den Ästhetizismus in der Schrift „Les Dieux s'en vont, D'Annunzio reste" (1908) bereitete sich der Übergang zum Futurismus vor.11 Der internationale Durchbruch gelang schließlich 1909 mit der Veröffentlichung des „Manifest des Futurismus" in der Pariser Tageszeitung „Figaro" am 20. Februar. Geschickt nutzte Marinetti das publizistische Organ des französischen konservativen Bürgertums um eine neue Bewegung zu propagieren, die von Beginn an gewillt war, Kunst und Politik ineins zu setzen: „Wir wollen um jeden Preis in das Leben zurückkehren". Das Manifest des italienischen Futurismus fand schnell internationale Beachtung. Damit wurde F. T. Marinetti für kurze Zeit zu einem der einflußreichsten Promoter der avantgardistischen Kunst. Die Kölnische Zeitung beispielsweise berichtete: neues künstlerisches Programm. Mit klingenden Worten verkündet ein junger italienischer Poet, F. T. Marinetti, ein neues künstlerisches Programm, mit dem er den Zwang alter Gesetzestafeln zu brechen hofft: er nennt es den Futurismus, und vielleicht hat er damit ein Schlagwort gefunden, auf das man gut tut, bei Zeiten zu achten."12

„Ein

-

9

10

11

12

Marinetti, „Manifest des Futurismus", a. a. O., 75. Marinetti, „Tod dem Mondenschein!. Zweites Manifest des Futurismus", in: SchmidtBergmann, Futurismus, a. a. O., S.81. Diese Publikationen sind bisher nicht ins Deutsche übersetzt worden. Einige Gedichte wurden in F. T. F. T.

der Übersetzung von Else Hadwiger 1912 unter dem Titel „Futuristische Dichtungen" herausgegeben. Zum Verhältnis zwischen D'Annunzio und den Futuristen vgl. im einzelnen: Schmidt-Bergmann, Futurismus, a. a. O., 37-51. Vgl. Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Die Anfänge der literarischen Avantgarde in Deutschland Über Anverwandlung und Abwehr des italienischen Futurismus, Stuttgart 1991, 52f.

-

Der „stählerne Mensch " -

Marinettis Programm des italienischen Futurismus

105

Es gehört zu den Deutungsmustern der ersten Reaktionen auf das Manifest, daß der italienische Futurismus unmittelbar auf die Philosophie Nietzsches bezogen wird. Wie Zarathustra wurden die Avantgardisten als die Verkünder einer neuen Ordnung gesehen. Tatsächlich hatte das „futuristische Weltgefühl" eindeutige Korrespondenzen zu dem Diktum des „gefährlichen Lebens" „wir freuen uns an Allen, die gleich uns die Gefahr, den Krieg, das Abenteuer lieben" heißt es in Friedrich Nietzsches Fröhlicher WissenschaftP Doch das Lebensprogramm einer „heroischen" Moderne, das seit Charles Baudelaire zu den Topoi der ästhetischen Opposition gegen die bürgerliche Gesellschaft gehört,14 entaimmt zwar der Philosophie Nietzsches wirkungsmächtige Parolen, diese werden jedoch durch Marinetti fortschreitend in ein totalitäres Gesellschaftsmodell integriert, das die Abschaffung des traditionellen Begriffes vom „Menschen" notwendigerweise implizierte. Als Programm eines politischen und künstlerischen Aktionismus wurden die Publikationen der futuristischen Manifeste von Beginn an von politischen Aktionen begleitet. Zu den Parlamentswahlen in Italien am 7. März 1909 veröffentlichte Marinetti ein „Politisches Manifest des Futurismus" und das erste „Manifest der futuristischen Maler", das am 8. März 1910 von Umberto Boccioni von der Bühne des Teatro Chiarella in Turin verlesen wurde, handelt ebenfalls nicht von einer neuen Ästhetik, sondern um die Gleichsetzung von Kunst und Politik: -

„Für die anderen Völker ist Italien noch immer ein Land der Toten, [...]. Aber Italien ersteht zu neuem Leben, und seiner politischen Erneuerung folgt die intellektuelle Wiedergeburt. Im Lande der Analphabeten vermehren sich die Schulen, im Lande des dolce far niente heulen bereits unzählige Fabriken; im Lande der stärksten ästhetischen Traditionen breiten heute völlig neue

Ideen ihre Flügel zum

Fluge aus."15

Die futuristischen Maler Umberto Boccioni, Carlo Carra, Luigi Russolo, Giacomo Baila und Gino Severini bildeten zusammen mit F. T. Marinetti den Kern des „doktrinären Clan", wie Hans Magnus Enzensberger die Futuristen der ersten Stunde bezeichnet hat,16 und diese Gruppe entfaltete bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine rege Tätigkeit. Die Manifeste des Futurismus folgten in immer kürzeren Abständen, allein bis 1917 sind über vierzig Aufrufe dokumentiert. „Avantgarde", noch immer wird dieses Etikett benutzt, wenn es um künstlerische Innovationen geht, welche in der Regel jedoch lediglich auf eine formale Radikalität oder eine kalkulierte Provokation zielen. Der Begriff jedoch, wie er am Beginn des 20. Jahrhunderts verstanden wurde, ist ein militärtechnischer und findet sich erstmals in Carl von Clausewitz' Abhandlung Vom 13

Ebd., siehe 526: „Denn, glaubt es mir! das Geheimniss, um die grösste Fruchtbarkeit und den grössten Genuß vom Dasein einzuernten, heisst: gefährlich leben! Baut eure Städte an den Vesuv! -

Schickt eure Schiffe in unerforschte Meere! Lebt im Kriege mit Euresgleichen und mit euch selber." Vgl. auch 629: „Wir freuen uns an allen, die gleich uns die Gefahr, den Krieg, das Abenteuer

14

15 16

lieben." Vgl. dazu Walter Benjamin, „Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus", in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1974. Band I.2., 570-604. Vgl. Schmidt-Bergmann, Futurismus, a. a. O., 68. Vgl. Hans Magnus Enzensberger, „Die Aporien der Avantgarde", in: ders., Einzelheiten I, Frankfurt/M. 1962,312.

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Hansgeorg Schmidt-Bergmann

Kriege (1816-30): „Mit einem bloßen Korps der Avantgarden kann man sich schneller bewegen". In diesen Sinne wurde der Begriff um 1910 auch auf die Kunst projiziert.17 Die Avantgarden, im künstlerischen wie im politischen Sinne, verstanden sich als „Vorhut" auf dem feindlichen Terrain einer überlebten Gesellschaftsordnung. Die erste, „heroische" Phase des Futurismus bezieht sich auf den Kampf gegen das Italien der Vorkriegszeit. Sie endet mit dem ersten Jahr des Ersten Weltkrieges, in dem zahlreiche futuristische Künstler, unter ihnen der Maler und Plastiker Umberto Boccioni (18821916) und der Architekt Antonio Sant'Elia (1888-1916), ein frühes Ende fanden. Die zweite Phase des Futurismus beginnt nach dem Ende des Krieges mit Marinettis Versuch, die künstlerische Bewegung zu einer politischen zu erklären.1 Dies in bewußter Konkurrenz zu seinem Gegenspieler, dem zukünftigen Duce in Italien. Das von Marinetti propagierte futuristische „Weltgefühl" hatte großen Anteil an der Herausbildung der ideologischen Basis des Faschismus. Seine Sozialrevolutionäre Vision einer unbedingten Modernität wollte er später denn auch in das politische Programm Mussolinis integrieren. Offensiv vertrat er nach der Machtübernahme der Faschisten 1922 seinen politischen Anspruch. In dem 1924 publizierten Sammelband „Futurismo e Fascismo" beansprucht Marinetti für sich, daß es der Futurismus gewesen sei, der den geistigen Raum geschaffen und es dem Faschismus ermöglicht habe, als politische Massenbewegung die Macht zu ergreifen: „Seit vierzehn Jahren lehren wir den italienischen Stolz, den Mut, die Kühnheit, die Liebe zur Gefahr, die Gewöhnung an Energie und Verwegenheit, die Religion des Neuen und der Ge-

schwindigkeit. Die aggressive Bewegung, die fieberhafte Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Fausthieb."

Marinettis technizistisch eingefärbte Utopie entwickelte sich zu dem Programm einer künstlerischen Avantgarde, die eine totale ökonomische und mentale Modernisierung verlangte. 1919 führte er in dem Manifest „Eine künstlerische Bewegung begründet eine politische Partei" aus: „Unsere Partei des politischen Futurismus ist natürlich aus der großen geistigen Strömung des künstlerischen Futurismus hervorgegangen. Einzig dastehend in der Geschichte, ist unsere Partei durch eine Gruppe von Künstlern Autoren, Malern, Musikern usw. erdacht, gewollt und ins Werk gesetzt worden. Nachdem sie voller Genie und längst bewiesenem Mut die italienische Kunst brutal modernisiert und die alten Zöpfe abgeschnitten haben, sind sie folgerichtig -

17

1

-

Vgl. dazu: Hansgeorg Schmidt-Bergmann, „Avantgarde", in: Horst Brunner, Rainer Moritz (Hg.), Literaturwissenschaftliches Lexikon. Grundbegriffe der Germanistik, Berlin 1997, 35f. Vgl. dazu im einzelnen Rudolf Lili, Geschichte Italiens in der Neuzeit, 3. verb, und erw. Aufl., Darmstadt 1986, 256: „Auch die Futuristen haben dem Faschismus vorgearbeitet, der freilich durch

die Rezeption der hier skizzierten Kräfte auch kulturelle Erneuerungstendenzen angenommen hat, wie sie dem auf primitiven Germanenkult fixierten Nationalsozialismus stets fremd geblieben sind." Grundlegend für die Phase bis 1945 ist: Ingo Bartsch, Maurizio Scudiero (Hg.), auch wir Maschinen, auch wir mechanisiert. Die zweite Phase des italienischen Futurismus 1915-1945, Bielefeld 2002 (= Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Museum am Ostwall Dortmund). F. T. Marinetti, „Das italienische Imperium. An Benito Mussolini Oberhaupt des neuen Italien", in: Schmidt-Bergmann, Futurismus, a. a. O., 154. ...

19

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zu einem Politikkonzept vorgedrungen, das absolut unrhetorisch, gewalttätig italienisch und revolutionär, freiheitlich, dynamisch und mit absolut praktischen Methoden gewappnet ist."20

Der

Futurismus, und das gilt für die erste und zweite Phase seiner Geschichte gleicher-

maßen, beschränkte sich nicht auf den künstlerischen Ausdruck von Modernität. Zwar

reagierte er auf die Industrialisierung von Raum und Zeit und schrieb die wichtigsten technologischen Innovationen in die Kunstprogramme mit ein. Dynamismus, die hektische Beschleunigung aller Lebensformen, Simultanität, die Gleichzeitigkeit von Wahrnehmungen und deren künstlerische Umsetzung in Malerei, Bildhauerkunst, Theater, Film und Literatur, Krieg, Kampf und Aktion, waren jedoch keine allein ästhetischen Postulate, sondern konstitutive Elemente eines kulturpolitischen Programms. In den Anfangen bediente man sich der lebensphilosophischen Impulse der Jahrhundertwende, diese wurden schließlich jedoch umfunktioniert. So entsteht der „ahumane"-Typus des „neuen Menschen": „Nur im Kampf ist Schönheit" in der Ästhetisierung des Krieges fand der Futurismus schließlich seine letzte Einlösung, seine letzte große Vision, denn: „Der für eine allgegenwärtige Geschwindigkeit geschaffene a-humane und mechanische Typus wird natürlich grausam, allgegenwärtig und kampfbereit sein".21 Dieses Postulat Marinettis korrespondiert mit der Anverwandlung von Traditionen durch die italienischen Faschisten, zu denen auch das Werk von Friedrich Nietzsche gehört. „Der Übermensch das ist die große Schöpfung Nietzsches", notierte sich Benito Mussolini in seine Tagebücher: -

-

„Und Nietzsche sagt: ,Schaffen! Das ist die große Erlösung aus den Schmerzen, und der Trost des Lebens. -Tot sind alle Götter, jetzt wollen wir, daß der Übermensch lebe!' [...] Um dieses neue Ideal zu erfassen, wird eine neue Art von ,freien Geistern' erstehen, erstarkt im Krieg, in der Einsamkeit, in der großen Gefahr; Geister, die den Wind, die Firne, die Gletscher der hohen Berge kennen werden, und mit heiterm Auge die ganze Tiefe der Abgründe messen, [...] Geister, die begabt sein werden mit einer Art von erhabener Perversität; Geister, die uns von der Nächstenliebe, vom Willen zum Nichts erlösen werden, indem sie der Erde ihren End-

zweck und den Menschen ihre Hoffnungen wiedergeben."22

Mussolinis Interpretation vom „Übermenschen" markiert jedoch eine der Differenz zwischen dem Begründer der faschistischen Bewegung Italiens und dem Kopf der italienischen Futuristen. Denn mit der Liquidierung jeglicher Tradition mußte auch die Philosophie Nietzsches überwunden werden. Die Achse zwischen „Ästhetischer Avantgarde und totalitärer Herrschaft" war bezogen auf die theoretischen Konsequenzen nicht so eindeutig. Das „Reich der Maschine", das aus dem gewaltsamen Umsturz alles Bestehenden erwachsen sollte, läßt sich als ein gesteigertes Modell totaler Herrschaft begreifen. Der „Neue" Mensch, ein moderner „Zentaur", ernährt von „Feuer, Haß, Vgl. ebd., 177. Marinetti, „Der multiplizierte Mensch und das Reich der Maschine", in: Hansgeorg SchmidtBergmann, Futurismus, a. a. O., S.108. Vgl. Margherita G. Sarfatti, Mussolini. Lebensgeschichte. Nach autobiographischen Unterlagen, Leipzig 1926, 115f. Vgl. dazu Eva Hesse, Die Achse Avantgarde-Faschismus. Reflexionen über Filippo Tommaso Marinetti und Ezra Pound, Zürich o. J. [1991]. F. T.

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Schnelligkeit", halb Mensch und halb Maschine, sollte eine neue „dynamische Realität" finden und letztlich auch die den Menschen begrenzende Endlichkeit überwinden: „Nach der Herrschaft der Lebenden beginnt das Reich der Maschinen. Durch die Bekanntschaft und Freundschaft der Materie, von der die Gelehrten nur die physikalisch-chemischen Beziehungen kennen, bereiten wir die Schöpfung des mechanischen Menschen mit Ersatzteilen vor. Wir werden ihn vom Todesgedanken befreien und daher auch vom Tode, dieser höchsten Definition

logischer Intelligenz."24

Diese Postulate wollte Marinetti nicht mehr in die Nähe von Nietzsches Denken gerückt sehen, die unterstellte Abhängigkeit des Futurismus vom Denken des deutschen Philosophen wird brüsk zurückgewiesen. „Was uns von Nietzsche trennt", offenbarte Marinetti unmittelbar nach dem Erscheinen des futuristischen Manifestes:

„Sie brauchen nur den konstruktiven Teil im Werke des großen deutschen Philosophen in Betracht ziehen, um sich zu überzeugen, daß sein Übermensch, der aus dem philosophischen Kult für die griechische Tragödie geboren ist, bei seinem Vater eine leidenschaftliche Rückkehr zum Heidentum und zur Mythologie voraussetzt. Trotz seines Strebens in die Zukunft bleibt Nietzsche doch einer der hartnäckigsten Verteidiger der Größe und Schönheit der Antike. Er ist ein Passatist, der auf den Gipfeln der Berge Thessaliens wandert, dessen Füße aber leider von langen griechischen Texten gefesselt sind. Sein Übermensch ist ein Erzeugnis hellenischer Phantasie, dem die drei großen verwesten Leichname von Apoll, Mars und Bacchus zugrunde liegen. Er ist ein Gemisch aus eleganter Schönheit, kriegerischer Kraft und dionysischer Trunkenheit, wie sie uns die große klassische Kunst offenbart hat. Wir stellen diesem griechischen Übermenschen, der im Staub der Bibliotheken geboren wurde, den durch eigene Kraft vervielfältigten Menschen entgegen, einen Feind der Bücher, einen Freund der persönlichen Erfahrungen, einen Schüler der Maschine, einen hartnäckigen Erzieher des eigenen Willens. [...] Die Kinder der heutigen Generation, die zwischen Kosmopolitismus, der Flut der Gewerkschaften und dem Flug der Flieger aufwachsen, sind die Entwürfe des vervielfältigten Menschen, den wir vorbereiten."25

1910, ein Jahr nach dem „Manifest des Futurismus", erschien Marinettis Roman „Mafarka le futuriste", ein Exempel futuristischer Allmachtsphantasien und eines zynischen Antihumanismus, in dem die virile Überbietung vorangegangener literarischer, männlicher Projektionen zum Programm erhoben wurde. In der „Vorrede", die sich an die futuristischen „Brüder" richtet, mündet der moderne Heroismus in die Panzerung der Körper mit dem Phantasma einer „männlichen" Selbstzeugung von „Giganten": „Männer mit breiten Schläfen und einem Kinn aus Stahl", die sich von der Sklaverei der „Vulva" befreit haben, werden die futuristische Generation allein durch die Kraft ihres „Willens" erzeugen, propagierte Marinetti bitter ernst: „Ich verkünde euch, daß der menschliche Geist ein noch unausgeloteter Eierstock ist [... ]. Und wir werden ihn befruchten!"26 Der Körper des Kriegers erfahrt bei Marinetti noch vor den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges die Metamorphose zu einer modernen Kampfmaschine. Die F. T. Marinetti, „Der multiplizierte Mensch und das Reich der Maschine", a. a. O., 109. F. T. Marinetti, „Was uns von Nietzsche trennt", in: Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Futurismus, a. a. O., 126. F. T. Marinetti, „Mafarka der Futurist", in: Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Futurismus, a. a. O., 117. Übersetzung von Heinz-Georg Ortmanns.

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Apotheose des Krieges als einziger „Hygiene der Welt" wird zum zentralen Thema des ersten

futuristischen Romans:

„Unser Wille muß aus uns heraustreten, um sich der Materie zu bemächtigen und sie nach unserem Belieben zu verändern. Dann können wir alles, was uns umgibt, bildend gestalten und ohne Ende das Gesicht der Welt verändern [...] So habe ich die Liebe getötet und an ihre Stelle die erhabene Wollust des Heroismus gesetzt."27

Dies impliziert eine Umwertung der technischen Moderne, die sich nach der Jahrhundertwende vorbereitete. Mario Marasso hatte in seinem Buch La nuova arma: la machina wie Marinetti den „modernen Kentaur" besungen, der französische Arzt Alexis Carrel entwickelte eine Gefaßmethode, die erstmals Organverpflanzungen bei Tieren ermöglichte, der Gebrauchswert chirurgischer Prothesen wurde immer weiter verfeinert sie hatten im Ersten Weltkrieg eine erste Konjunktur. Der Maschinenmensch sollte den Tod überwinden, er sollte maschinell „multiplizierbar" sein, ein stählerner Krieger aus der Retorte, willenlos und universell einsetzbar. Damit ist der italienische Futurismus eine der ersten Bewegungen im 20. Jahrhundert, die systematisch die Umgestaltung des Menschen, die Absage an die humanistischen und bürgerlichen Ordnungssysteme und die totale Domestikation des Menschen zum Programm erhoben noch vor dem italienischen Faschismus, dem völkischen Nationalsozialismus, noch vor dem Stalinismus und den übrigen totalitären Regimen des letzten Jahrhunderts. Kein Zurück zur Antike, keine Wiederbelebung der humanistisch anverwandelten Vergangenheit, sondern das Neue, der permanente Fortschritt, die Dynamik der Materie sollte entfesselt und gesteigert werden. „Mensch" und „Krieger", dies nahmen die Futuristen als Parolen ihres Partisanenkampfes, später in den Jahren nach dem Marsch der Faschisten auf Rom ab 1922 als Losung für eine totalitär umgestaltete Gesellschaft, in der die humanistischen kulturellen Konzepte der Neuzeit von der Kälte der Maschinenwelt abgelöst sein sollten. Das Programm dieses „zweiten Futurismus" ist in einem Artikel Marinettis für die „Enciclopedia Italiana di Scienze, Lettere ed Arti" enthalten, die 1932 erschien und ein grundlegendes ideologisches Dokument der faschistischen Epoche Italiens darstellt. Der Artikel „Futurismo" beginnt: -

-

„Explosives Kunst-Leben. Erregte Italianität. Anti-Museum. Anti-Kultur [...] Anti-sentimental [...] Religion der Neu-Neuheit, Ästhetik der Maschine [...] Abstrakte Malerei aus Tönen, Geräuschen, Gerüchen, Gewichten, reine Architektur (Eisen-Zement), Nachahmung der Maschine, Aerotanz und

Aerotheater, Kunst der Geräusche, Aeromalerei, Aeropoesie."28

Diese Stichworte markieren den Anspruch der Futuristen in den Jahren des faschistischen Italiens, ihr kulturrevolutionäres Programm weiter zu verfolgen und mit Spannungen gelang dies auch. Denn die Postulate der Futuristen, so bemerkte der italienische Philosoph Benedetto Croce bereits 1924, „boten sich dem Faschismus als anzapfbare -

Quelle" geradezu an.

9

Ebd., 122. F. T. Marinetti, „Futurismus", in: Hansgeorg Schmidt-Bergmann, a. a. O., 327. Vgl. dazu Antoni Saccone, Marinetti e il Futurismo. Materialiper lo studio della letteratura italia-

«a,Napolil984,

134f.

Hansgeorg Schmidt-Bergmann

no

„Das Gründungsereignis der modernen Kunst in Europa war die Herausgabe des futuristischen Manifestes von Marinetti", hatte Gottfried Benn rückblickend behauptet. Über Marinetti hatte sich der Expressionist bereits zuvor schon einmal ausführlich geäußert, und zwar als Funktionsträger der Nationalsozialisten. 1934 begrüßte Benn in Berlin in Vertretung des völkischen Schriftstellers Hanns Johst die „Exzellenz Marinetti" im Namen der Union Nationaler Schriftsteller als den „Führer der Futuristen", „Mitglied der Königlichen Italienischen Akademie" und „Präsidenten des italienischen Schriftstellerverbandes". Der Avantgardist war zum Kulturrepräsentanten des faschistischen Italiens avanciert: „Wir haben von hier aus verfolgt, wie Ihr Futurismus den Faschismus mit erschuf, wie Sie die Roma Futurista gründeten, wie Ihre Arditi, was soviel heißt wie dreimal Soldaten, Ihre Stoßtrupps für die Erneuerung des Vaterlandes kämpften, kämpften und fielen, und wir haben mit äußerster Spannung wahrgenommen, wie aus Ihrem futuristischen Gedankenkreis, seinem Willen, seinen Kampfstaffeln drei grundlegende Werte des Faschismus aufstiegen: das Schwarzhemd in der Farbe des Schreckens und des Todes, der Kampfruf ,a noi' und das Schlachtenlied, die Giovinezza -: wie ein moderner Künstler in den politischen Gesetzen seines Landes geschichtlich unsterblich wurde, [...]. Da Gottfried Benn im letzten Satz

an seinen eigenen Versuch, die „Moderne" und die „nationale Erhebung" zusammen zu denken, erinnerte, trifft seine Rede zielsicher in das

Zentrum der wegung:

gemeinsamen politischen Wurzeln von politischer und künstlerischer Be-

„Mitten in einem Zeitalter stumpfgewordener, feiger und überladener Instinkte verlangten und gründeten Sie eine Kunst, die dem Feuer der Schlachten und dem Angriff der Helden nicht widersprach [...]. Die ganze Zukunft, die wir haben, ist dies: der Staat und die Kunst -, die Geburt des Zentauren hatten sie in Ihrem Manifest verkündet: dies ist sie."31

F. T. Marinetti hatte schließlich den Faschismus als Einlösung der futuristischen Impulse für sich akzeptiert und die Machthaber dankten es ihm. 1929 wurde er zum Mitglied der

neugegründeten Akademie Italiens ernannt, zusammen mit Gabriele D'Annunzio und Luigi Pirandello. Als in den faschistischen Staat integrierte Kunstbewegung hinterließ der „zweite Futurismus" nach 1922 seine Spuren, nicht allein in der architektonischen Symbolik. Die Sozialrevolutionäre Vision einer unbedingten Modernität, die jede Tradition als verbrannte Erde hinter sich zu lassen gedachte, arrangierte sich mit der „cäsarischen Inszenierung" von Geschichte der Faschisten. Zu Recht erinnerte Walter Benjamin 1934 mit dem Blick des verfolgten und ausgebürgerten Exilanten von Paris aus an das politische Potential des Futurismus und die „ästhetischen" Inszenierungsformen der Politik: -

„,Fiat

ars perat mundus' sagt der Faschismus und erwartet die künstlerische Befriedigung der von der Technik veränderten Sinneswahrnehmung, wie Marinetti bekennt, vom Kriege. Das ist offenbar die Vollendung des l'art pour l'art. Die Menschheit, die einst bei Homer ein Schauobjekt für die Olympischen Götter war, ist es nun für sich selbst geworden. Ihre Selbst-

Gottfried Benn, „Rede auf Marinetti", in: Ebd., 194.

Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Futurismus, a. a. O.,

193.

Der stählerne Mensch

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"



111

-

entfremdung hat jenen Grad erreicht, ersten

Ranges

erleben läßt."

der sie ihre

eigene Vernichtung als ästhetischen Genuß

"

Auch hier irrte Walter Benjamin nicht. Marinetti blieb der unerschütterliche Kämpfer bis zuletzt, Parteigänger der Faschisten bis zum Untergang, Propagandist Mussolinis noch zu Zeiten der Republik Salö, dem Marionettenstaat von Hitlers Gnaden. Dorthin begab er sich und starb am 2. Dezember 1944 in Bellagio am Corner See. Dem Avantgardisten und Faschisten hat der amerikanische Dichter, Kritiker und Bewunderer Mussolinis, Ezra Pound, der 1912 erstmals mit Marinetti und den Futuristen 1912 zusammengetroffen war, in seinem Canto 72 unter dem Titel „Presenza" ein literarisches Denkmal gesetzt: -

„Doch nun sing ich In rotzigem Jargon (nicht in gewähltem Thoskanisch), weil

Filippo Tommaso sich nach seinem Tod bei mir gemeldet: Und sprach: ,Na und? Auch als Toter Bin ich nicht aufs Paradiso erpicht, will immer noch kämpfen. Leih mir deinen Körper, in dem kann ich weiter weiterkämpfen.'"33

Walter Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" (Zweite Fassung), in: ders., Gesammelte Schriften, a. a. O., Band 1.2, Frankfurt/M. 1974, 508. Ezra Pound, Die ausgefallenen Cantos LXXII und LXXIII, aus dem Italienischen und mit Anmerkungen von Eva Hesse, Zürich 1991, 23f Vgl. auch Eva Hesse, Die Achse Avantgarde Faschismus. Reflexionen über Filippo Tommaso Marinetti und Ezra Pound, a. a. O. -

III.

Menschliches, Allzumenschliches

-

Hauptthemen und Forschungstendenzen Nietzsche-Werkstatt, Schulpforta (11.-13. September 2002) 10.

Britta M. Glatzeder

Motive und Hintergründe von Nietzsches Metaphysikkritik

Nietzsches erstes Aphorismenbuch, Menschliches, Allzumenschliches, kann aus einer ganzen Reihe von Gründen als Schlüssel zu Nietzsches Philosophie gesehen werden.1 In erster Linie deshalb, weil er hier zum ersten Mal explizit zu jenem Projekt ansetzt, das alle seine Schriften motiviert und seinen Einfluss auf die Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts maßgebend begründet: das Projekt der Kritik und Destruktion der abendländischen Metaphysik. Dass sich Nietzsches Philosophie gegen die traditionelle Metaphysik richtet, ist in der Nietzsche-Forschung unbestritten. Die Fragen aber, was Nietzsche unter Metaphysik versteht und warum er sie kritisiert, sind Gegenstand kontrovers geführter Auseinandersetzungen. Zur Klärung ist kaum ein anderer Text besser geeignet als das erste Hauptstück von Menschliches, Allzumenschliches. Gleich im ersten Textstück stößt man hier auf ein Motiv, das in der Fülle von Reflexionen, kritischen Argumenten und Perspektiven, die zum Thema Metaphysik über Nietzsches Werk verstreut sind, immer wieder auftaucht: die Diagnose, dass die gesamte westliche Denkgeschichte in einem Vorurteil befangen sei, das Nietzsche „Glaube an die Gegensätze der Werthe" (KSA, JGB, 5, 16) nennt. Dieses Vorurteil diagnostiziert er als den Grund dafür, dass das „Problem der Entstehung aus Gegensätzen", das er im ersten Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches als jenes philosophische Problem angibt, durch das die abendländische Philosophie charakterisiert sein soll, nicht anders als durch metaphysische, d. h. nichtempirische, nicht-wissenschaftliche und damit unzulässige Annahmen gelöst werden konnte: „Die philosophischen Probleme nehmen jetzt wieder fast in allen Stücken dieselbe Form der Frage an, wie vor zweitausend Jahren: wie kann Etwas aus seinem Gezum Beispiel Vernünftiges aus Vernunftlosem, Empfindendes aus Todtem, Logik aus Unlogik, interesseloses Anschauen aus begehrlichem Wollen, Leben für Andere aus Egoismus, Wahrheit aus Irrthümern? [...] Die metaphysische Philosophie

gensatz entstehen,

half sich bisher über diese Schwierigkeiten hinweg, insofern sie die Entstehung des Einen aus dem Andern leugnete und für die höher gewertheten Dinge einen WunderDiese These habe ich an anderer Stelle ausführlich entwickelt. Siehe Britta Glatzeder, der Wünschbarkeit. Nietzsches frühe Metaphysikkritik, Berlin 2000.

Perspektiven

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Ursprung annahm, unmittelbar aus dem Kern und Wesen des ,Dinges an sich' heraus." (KSA, MA I, 2, 23) Die Prämisse, dass als wertvoll geschätzte Dinge nicht aus ihren Gegensätzen entstehen können der „Glaube an die Gegensätze der Werthe" wird auf einen „Irrthum der Vernunft" (ebd.) zuriickgeführt. Damit soll der Entwurf der Metaphysik als haltlos verworfen und Nietzsches „historische Philosophie" als eine neue, an den Naturwissenschaften orientierte philosophische Methode etabliert werden. Die historische Philosophie, die „gar nicht mehr getrennt von der Naturwissenschaft zu denken ist", kommt zu dem Ergebnis, dass höher geschätzte Dinge „Sublimierungen" sind, bei denen „das Grundelement fast verflüchtigt erscheint und nur noch für die feinste Beobachtung sich als vorhanden erweist." (KSA, MA I, 2, 23)2 Diese Präsentation der Metaphysik ist für die Frage nach Nietzsches Metaphysikbegriff vielsagend und zugleich rätselhaft. Wie kommt er dazu, die Frage nach der Entstehung aus Gegensätzen als ein philosophisches Problem vorzustellen, das die gesamte westliche Geschichte des Denkens motivieren und insbesondere die metaphysische Philosophie charakterisieren soll? Welche Gegensatz-Konzeptionen sind hier im Spiel? Worin besteht der „Irrtum der Vernunft", den er der Metaphysik unterstellt? Es lohnt sich, Nietzsches philosophiegeschichtlichem Hinweis an dieser Stelle zu folgen und sich seine Version davon anzusehen, wie sich das Problem der Entstehung aus Gegensätzen „vor zweitausend Jahren" gestellt hat. Nietzsche hat ja bis zum Sommer 1875, also fast bis zum Beginn der Arbeit an Menschliches, Allzumenschliches an einem seit Anfang der siebziger Jahre geplanten Buch über die griechische Philosophie gearbeitet. Dieses Werk war als „Seitenstück" zu Die Geburt der Tragödie konzipiert (KSA, NF, 7, 548); die erkenntnistheoretische Abhandlung Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne sollte die Schrift einleiten, was auf den engen Zusammenhang zwischen Nietzsches erkenntniskritischen Überlegungen und seiner Rezeption der vorsokratischen Philosophie hinweist. Nietzsche hat dieses Projekt nie realisiert; erhalten geblieben sind uns von den Vorarbeiten dazu eine Fülle von Notizen, die Aufzeichnungen zu einer Vorlesung über die „vorplatonischen Philosophen", der unvollendet gebliebene Essay Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen sowie ein kurzer Abriss, der in Menschliches, Allzumenschliches veröffentlicht ist unter dem Titel „Die Tyrannen des Geistes" (KSA, MA I, 2, 214ff). In diesen Texten lässt sich rekonstruieren, wie Nietz-

1

4

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Hubert Treiber, „Zur Genealogie einer ,Science Positive des la Morale en Allemagne'. Die Geburt der ,r(é)ealistschen Moralwissenschaft' aus der Idee einer monistischen Naturkonzeption", Nietzsche-Studien 23,1993,195ff. Siehe dazu Karl Schlechta u. Anni Anders, Nietzsche. Von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens, Stuttgart 1962, 62ff. Der Zusammenhang zeigt sich auch darin, dass einige Textpassagen beinahe wortwörtlich sowohl in den erkenntnistheoretischen Texten Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne und Ueber das Pathos der Wahrheit wie in Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen zu finden sind; siehe bes. KSA, PHG, 1, 757ff., 835, 889. Nietzsches Beschäftigung mit den antiken griechischen Philosophen datiert zurück in den Winter 1866, in dem er mit der Arbeit an einem Preisthema der Universität Leipzig über die Quellen des Diogenis Laertius beginnt (KGW, I, 2, 75-167). Im Sommersemester 1872 hält er erstmals seine Vorlesung über Die vorplatonischen Philosophen, die er während seiner Lehrtätigkeit in Basel insgesamt dreimal hält: in den Sommersemestern 1872, 1873 und 1876. Die Aufzeichnungen dieser Vorlesung sind veröffentlicht in KGW II, 4.

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Metaphysikkritik

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sehe dazu kommt, die Frage nach der Entstehung aus Gegensätzen als philosophisches Problem anzusehen, wie das für seinen Metaphysikbegriff zentrale Motiv des Wertedualismus entwickelt wird und wie es mit den in Nietzsches Philosophie systematisch grundlegenden Konzeptionen des Werdens und des Gegensatzes von Sein und Werden zusammenhängt. Die Rekonstruktion der zentralen Elemente von Nietzsches metaphysik-

kritischem Projekt im Kontext seiner Rezeption der frühgriechischen Philosophie ist insofern grundlegend nicht nur für die Interpretation des ersten Hauptstücks von Menschliches, Allzumenschliches, sondern für die Nietzsche-Exegese insgesamt. Einige zentrale Punkte dieser Rekonstruktion möchte ich im Folgenden skizzieren.

Genealogische Rekonstruktion des Problems der Entstehung aus Gegensätzen Nietzsche sieht die frühgriechische Philosophie durch das „Problem des Werdens" bestimmt. „Der frei gewordene Intellekt", so leitet er seine Vorlesung über die „vorplatonischen Philosophen" ein, „schaut die Dinge an: und jetzt zum ersten Male erscheint ihm das Alltägliche beachtenswerth, als ein Problem. Das ist das wahre Kennzeichen des philosophischen Triebs: die Verwunderung über das, was vor allen liegt. Das alltäglichste Phänomen ist das Werden: mit ihm beginnt die ionische Philosophie. Das Problem kehrt in einer unendlichen Steigerung bei den Eleaten wieder: sie beobachten nämlich, dass unser Intellect das Werden gar nicht begreift und erschließen daher eine metaphysische Welt. Alle späteren Philosophen kämpfen gegen den Eleatismus. Der Kampf endet in der Skepsis." (KGW II, 4, 215f.) Das Werden wird hier also eingeführt als Grundphänomen unserer alltäglichen Erfahrung. Der für Nietzsches anti-metaphysisches Projekt so fundamentale Begriff des Werdens ist demnach nicht, wie in der Literatur meist behauptet6, als metaphysische Annahme zu verstehen, sondern er bezeichnet für Nietzsche die Aspekte, durch die der Charakter der empirischen Welt, d. h. die Welt des Commonsense und der Naturwissenschaften bestimmt ist: das Entstehen und Vergehen, die Veränderung, der Prozess.7 Thaies macht den ersten Versuch, das Werden zu erklären. Seinen Satz ,AUes ist Wasser" versteht Nietzsche als eine physikalische These über den Ursprung der Welt des Werdens, die zugleich einen philosophischen Aspekt aufweist. Ihr liege nämlich ein

7

Die folgenden Überlegungen basieren auf Britta Glatzeder, Perspektiven der Wünschbarkeit, 65108. Ich danke Professor Rolf-Peter Horstmann für „intellectual and personal inspiration". Z. B. Johann Figl, Interpretation als philosophisches Prinzip. Friedrich Nietzsches universale Theorie der Auslegung im späten Nachlaß, Berlin 1982, 73ff; Volker Gerhardt, Vom Willen zur Macht. Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches, Berlin 1996, Kap IX; Rüdiger Bittner, „Nietzsches Begriff der Wahrheit", Nietzsche-Studien 16, 1987, 75. Bittner resümiert in seiner Untersuchung der Literatur zu Nietzsches Begriff des Werdens: „Es ist nicht zu erkennen, worauf sich diese metaphysische Annahme gründet". Meine Untersuchung zeigt dagegen, dass es sich nicht um eine metaphysische Annahme handelt; zudem legt sie die Voraussetzungen offen, auf denen die Konzeption des Werdens basiert. Siehe a. KGW II, 4, 267 u. KSA 2, 820, 853, 860f.

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Glaubenssatz" zugrunde, „der seinen Ursprung in einer mystischen Intuition hat, und dem wir in allen Philosophien, sammt den immer erneuten Versuchen ihn besser auszudrücken, begegnen: der Satz ,Alles ist Eins'." (KSA, PHG, 1,813) Sein Nachfolger, Anaximander, denkt das Werden nicht als verschiedene Formen des Einen, sondern als dessen Gegensatz. Damit stellt sich für ihn die Frage, wie aus dem Einen das Viele entstehen könne. Um sie zu beantworten, führt er ein dualistisches Prinzip ein: Warm und Kalt werden als ursprüngliche Qualitäten angenommen, aus denen das Wasser entsteht; mit ihrer „Ausscheidung aus dem Ursein des ,Unbestimmten' beginnt das Werden." (ebd., 828) Anaximander führt zwei folgenreiche Konzeptionen in die Philosophiegeschichte ein: Erstens ein „dualistisches Prinzip der Welterklärung" (KGW II, 4, 289), das Warm und Kalt als „absolute Gegensätze" (KSA, PHG, 1, 829), d. h. als sich widersprechende, einander negierende Qualitäten bestimmt. Zweitens initiiert er mit seinem Begriff des „apeiron" als „das Unbestimmte" die Vorstellung eines metaphysischen Ursprungs und damit einen Dualismus von metaphysischer und empirischer Welt. Aus Anaximanders „Scheidung einer ewigen, für uns nur negativ zu begreifenden Welt des Seins von einer werdenden und vergehenden Welt der Empirie" (KGW II, 4, 242) resultiert jenes Problem, durch das Nietzsche den weiteren Verlauf der frühen griechischen Philosophie bestimmt sieht. Nachdem nämlich Thaies' Einheit des Einen und des Vielen durch Anaximanders dualistische Konzeption entzweit worden war, standen sich nun das Eine und das Viele, das Sein und das Werden, das Unbestimmte und das Bestimmte gegenüber als einander ausschließende, unvereinbare, absolute oder kontradiktorische Gegensatzbegriffe, die sich auf eine „Zweiheit ganz diverser Welten" beziehen. Heraklit und Parmenides, die in Nietzsches Geschichte der griechischen Philosophie als die gegnerischen Protagonisten der Post-Anaximandrischen Ära agieren, wenden sich beide gegen Anaximanders Dualismus. Heraklit löst ihn dadurch auf, dass er die metaphysische Welt des Seins leugnet. Für ihn gibt es „kein Ding, von dem man sagen könnte ,es ist'." (ebd., 270) Es gibt nur das Werden, den Prozess, die ständige Bewegung und Veränderung. Unseren Commonsense-Glauben, dass es feste, bleibende Dinge gibt, verwirft er als Täuschung. Den Prozess des Werdens erklärt er als „Krieg des Entgegengesetzten" (KSA, PHG, 1, 825). Die gegensätzlichen Qualitäten sind bei ihm allerdings nicht absolute, sondern graduelle Gegensätze das Kalte ist „als Grad des Warmen" aufzufassen. Dies ergibt sich aus Heraklits monistischer Konzeption, in der das Feuer als die einzig „weltbildende Kraft" gedacht wird. Wenn alles Feuer sein soll, so lautet Nietzsches Interpretation, dann kann „bei allen Möglichkeiten seiner Umwandlung, es doch nichts geben, was sein absoluter Gegensatz wäre; er wird also das, was man das Kalte nennt, nur als Grad des Warmen gedeutet haben." (ebd., 829) Parmenides sieht anders als Anaximander und Heraklit, die das Kalte „als gleichberechtigt neben das Warme gestellt" hatten (ebd., 829) die einander entgegengesetzten

„metaphysischer

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-

Qualitäten nicht als gleichartig an: „Verglich er zum Beispiel Licht und Dunkel, so war die zweite Qualität ersichtlich nur die Negation der ersten; und so unterschied er positive und negative Qualitäten, ernsthaft bemüht, jenen Grundgegensatz im ganzen Reiche der Natur wiederzufinden [...]" (ebd., 837). Die negativen Eigenschaften drücken dabei -

„eigentlich

nur

den

Mangel,

die Abwesenheit" der

positiven

aus

(ebd. 838).

Die Aus-

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drücke „positiv" und „negativ" ersetzt er durch die Termini „seiend" und „nicht-seiend" und kommt damit zu dem Lehrsatz, dass es, im Widerspruch zu Anaximander, in der empirischen Welt sowohl „Seiendes" als auch „Nichtseiendes" gebe (KGW II, 4, 290). Aus dem „Sichanziehen und Sichabstoßen" der beiden Elemente des „Urgegensatzes" eine Vorstellung, die Nietzsche als „Mystik von „Seiendem" und „Nichtseiendem" von qualitates occultae" (KSA, PHG, 1, 838) verwirft erklärt Parmenides das Werden (ebd., 839). Bei späterer Prüfung seines Begriffs des „Nichtseienden" gerät Parmenides allerdings in Zweifel. Er fühlt plötzlich „eine ungeheuere logische Sünde auf seinem Leben lasten; hatte er doch ohne Bedenken immer angenommen, daß es negative Eigenschaften, überhaupt Nichtseiendes gäbe, daß also, formelhaft ausgedrückt A nicht A sei" (ebd., 842). An der „festen und furchtbaren Hand" der tautologischen Erkenntnis „A A", kommt Parmenides zu seiner Lehre vom Sein: „Das Seiende allein hat ein Sein, das Nichtseiende ist nicht". War der Begriff des Seins bei Anaximander als das Unbestimmte nur negativ gedacht, so bestimmt Parmenides ihn nun positiv und spricht ihm die Prädikate „ungeworden, ewig, unzerstörbar, ohne Zunahme und Abnahme" zu (ebd., 851). Dieser Begriff des Seins, den Nietzsche als das Produkt einer rein „abstraktlogischen Prozedur" charakterisiert, wird für Parmenides zum Maßstab, an dem zu bemessen ist, was wirklich existiert. Unsere Sinneswahrnehmungen ergeben Parmenides zufolge nur Täuschungen, und „ihre Haupttäuschung ist eben, daß sie vorspiegeln, auch das Nichtseiende sei, auch das Werden habe ein Sein." (Ebd., 845) Mit dieser „rohen Scheidung" von Denken und sensorischer Wahrnehmung hat Parmenides in Nietzsches Augen die „erste Kritik des Erkenntnißapparats" (ebd., 843) in der Philosophiegeschichte vollzogen: „Nur was man denken kann, ist", so resümiert Nietzsche das Hauptargument der zweiten Parmenideischen Periode. „Das Werden kann man nicht denken. Also ist es nicht. Somit sind seine Elemente eine Täuschung". Auf dieser Grundlage kommt Parmenides in seiner späteren Lehre vom Sein schließlich seinerseits zu einer Negation des Anaximandrischen Dualismus dadurch, dass er die empirische Welt des Werdens negiert. -

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Auswertung von Nietzsches Rezeption der frühgriechischen Philosophie für die Exegese des ersten Hauptstücks von

Menschliches, Allzumenschliches

1. Das philosophische Problem Die frühe griechische Philosophiegeschichte ist, wie sich gezeigt hat, für Nietzsche charakterisiert durch das Problem des Werdens, das er hier formuliert als die Frage, wie das Viele aus dem Einen, das Werdende aus dem Seienden, das Bestimmte aus dem Unbestimmten, das Zeitliche aus dem Ewigen entstehen könne. Diese Formulierung weist offensichtlich die „Form der Frage" (KSA, MA I, 2, 23) auf, wie etwas aus seinem Gegensatz entstehen kann. Es darf damit davon ausgegangen werden, dass Nietzsche mit diesem im ersten Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches zur Diskussion gestellten

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120 Problem

Bezug nimmt auf das Problem des Werdens, wie

es

sich Anaximander „vor

zweitausend Jahren" gestellt hat.

2. Die Gegensatzkonzeptionen Heraklit und Parmenides stellt Nietzsche vor als die Vertreter von zwei paradigmatischen Lösungsalternativen für das Problem des Werdens. Beide negieren den Anaximandrischen Dualismus von metaphysischer und empirischer Welt, halten aber gleichzeitig an dem Versuch fest, das Werden aus dem Gegensatz der Qualitäten zu erklären. In Nietzsches Geschichte der griechischen Philosophie sind damit drei verschiedene Gegensatz-Konzeptionen im Spiel: Anaximander denkt die beiden gegensätzlichen Qualitäten, mit denen er das Werden erklärt, als absolute, d. h. einander negierende, kontradiktorische Gegensätze. Heraklit sieht zwischen dem Kalten und dem Warmen nur einen graduellen Unterschied. Er fasst die Gegensätze, aus deren „Krieg" er das Werden entstehen lässt, als auseinander entstehend und ineinander übergehend auf. Während Heraklit den Gegensatz von Sein und Nichtsein „spielend gelten läßt und aufhebt", geht es Parmenides darum, ihn „so scharf wie möglich" zu fassen. Seine Version zeichnet sich dadurch aus, dass er entgegengesetzte Qualitäten, wie Nietzsche betont, als „nicht gleichartig" betrachtet, sondern als positiv oder negativ bewertet. In seiner Konzeption der Gegensätze wird eine Seite als Maß genommen, an der gemessen, die andere als negativ, mangelhaft abgewertet wird. In Parmenides' Dualismus sind alle Aspekte der Auffassung von Gegensätzen vorgezeichnet, die für Nietzsches Charakterisierung der metaphysischen Philosophie im ersten Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches relevant sind: Alle Phänomene unserer Wirklichkeit lassen sich nach der dualistisch-binären Struktur von Gegensatzbegriffen kategorisieren (z. B. wahr/falsch, gut/böse, logisch/unlogisch); Die eine Seite der Gegensatzpaare hat jeweils einen positiven, die andere einen negati-

-

-

ven

Wert;

positiv bewertete Begriff kann nicht aus dem negativ bewerteten Begriff abgeleidie beiden Begriffe in einem kontradiktorischen Verhältnis stehen; Der negativ bewertete Begriff gehört zur empirisch erfahrbaren Welt; Für den positiv bewerteten Teil der Gegensatzpaare muss ein eigener metaphysischer Ursprung angenommen werden, der in einer nur durch rein abstrakt-logisches Denken erschließbaren Sphäre des Seins angesiedelt ist. Der

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-

-

tet werden, weil

3. Die Wiederholung Die im ersten Textsstück von Menschliches, Allzumenschliches präsentierte Problemlage und die Lösungsvorschläge der metaphysischen und historischen Philosophie können vor dem Hintergrund der vorangegangenen Rekonstruktion von Nietzsches Version der

frühgriechischen Philosophiegeschichte als Wiederholung der hier geschilderten Kontro-

das Problem des Werdens erkannt werden. Hierauf deutet auch Nietzsches Bemerkung, die Probleme nähmen ,jetzt wieder" (KSA, MA I, 2, 23) dieselbe Form der Frage an wie vor zweitausend Jahren. Zur Diskussion steht in beiden Szenarien das Problem der Entstehung aus Gegensätzen, für das jeweils zwei paradigmatische, einander verse um

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Metaphysikkritik

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diametral entgegengesetzte Lösungsansätze vorgestellt werden. Nietzsches historische Philosophie und ihre Konzeption von Gegensätzen, in der die eine Seite als sublimierte Form der Gegenseite verstanden wird, ist in Heraklits Entwurf gradueller, voneinander abgeleiteter Gegensätze vorgezeichnet. Der Entwurf der metaphysischen Philosophie ist dagegen eindeutig Parmenideisch.

4.

Genealogische Rekonstruktion des Gegensatzes von Sein und Werden

Wie also sind der Gegensatz von Sein und Werden und die damit verbundene Problemlage entstanden, die Nietzsche zufolge für die abendländische Philosophietradition eine so bedeutende Rolle spielen? Der erste Gegensatz, der die frühen griechischen Philosophen beschäftigt hat, war der Gegensatz von Vielheit und Einheit. Während der Begriff der Vielheit aus der empirischen Welt abgeleitet ist, beruht der Begriff der Einheit Nietzsche zufolge auf einem „metaphysischen Glaubenssatz", der auf eine „mystische Intuition" des Thaies zurückgeht. Diese hypostasiert Anaximander zu der Annahme eines metaphysischen Ursprungs, einer letzten Einheit hinter der Welt der Vielheit und des Werdens. Die damit in die Philosophie eingeführte Annahme einer metaphysischen Welt des unbestimmten Seins als Gegensatz zur empirischen Welt des Werdens führt Nietzsche wie auch im ersten Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches auf ein kognitives Problem zurück: Seiner Darstellung zufolge ist Anaximander einfach nicht in der Lage, die Frage, woher das unaufhörliche Entstehen und Vergehen der Dinge kommt, das er in unserer Welt beobachtet, anders zu beantworten als durch die „mystische Möglichkeit" eines Ursprungs im „ewigen Sein" (KSA, PHG, 1, 821). Den Begriff des Unbestimmten gewinnt Anaximander durch eine einfache logische Operation, nämlich durch die Negation der Eigenschaften, durch die der Charakter der Welt des Werdens bestimmt ist. Nietzsche setzt ihn deshalb gleich mit dem Begriff des Seins, den er an dieser Stelle terminologisch als Gegenbegriff zum Begriff des Werdens einführt. Hier also ist der Ursprung jenes Gegensatzes von Sein und Werden zu verorten, der sich als Leitmotiv durch Nietzsches Schriften zieht. Der bei Anaximander rein negativ konstruierte Begriff des Seins wird von Parmenides positiv bestimmt und ontologisch aufgeladen. In der Philosophie des Parmenides, so kommentiert Nietzsche, „präludirt das Thema der Ontologie. Die Erfahrung, bot ihm nirgends ein Sein, wie er es sich dachte, aber daraus, daß er es denken konnte, erschloß er, daß es existiren müsse: ein Schluß, der auf der Voraussetzung beruht, daß wir ein Organ der Erkenntniß haben, das in's Wesen der Dinge reicht und unabhängig von der Erfahrung ist." (ebd., 845) Diese Voraussetzung verwirft Nietzsche als „gänzlich unbeweisbar, ja unwahrscheinlich" (ebd., 849). Die Rekonstruktion zeigt, dass die Gegensätze, um welche die Diskussion der frühen -

-

Philosophen kreist,

aus

Hypostasierungen

von

sprachlich-logischen Gegensatzbegriffen

entstanden sind. Während die auf der jeweils linken Seite angeführten Begriffe der zur Diskussion stehenden Gegensätze wie Bestimmtes/Unbestimmtes, Vielheit/Einheit, Werden/Sein, aus Eigenschaften abgeleitet sind, die an den Dingen in der Erfahrungswelt zu beobachten sind, zeigen sich die jeweils auf der rechten Seite genannten Begriffe in Nietzsches Rezeption der vorsokratischen Philosophie als Produkte von mystischen In-

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tuitionen, Irrglauben und logischen Fehlern. Die Begriffe der Einheit, des Seins und des Unbestimmten sind Konstrukte, Erfindungen, Fiktionen. 5. Der „Irrthum der Vernunft" 5.7. Das erkenntnistheoretische Argument In Menschliches, Allzumenschliches unterstellt Nietzsche der Metaphysik, dass ihre Auffassung von Gegensätzen und damit ihr Lösungsentwurf für das Problem der Entstehung aus Gegensätzen auf einem „Irrthum der Vernunft" (KSA, MA I, 2, 23) basiere. Die Frage, worin der spezifische Irrtum bestehen soll, den Nietzsche der metaphysischen

Auffassung von Gegensätzen zugrunde liegen sieht, wird in Menschliches, Allzumenschliches nicht explizit geklärt. Im ersten Hauptstück werden verschiedene Formen des

Irrtums9 diskutiert, durch die Nietzsche das menschliche Denken charakterisiert sieht. Das gegen die Metaphysik gerichtete Hauptargument ist, dass ihre Annahmen auf einem Kategorienfehler basieren, der in einer Verwechslung von subjektiv-normativer und objektiv-deskriptiver Ebene besteht. Die Analyse dieser Form von Kategorienfehler spielt bereits in Nietzsches erkenntnistheoretischen Überlegungen in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne wie in den Aufzeichnungen der frühen siebziger

Jahre eine zentrale Rolle. Nietzsche entwickelt in dieser Zeit verschiedene erkenntnisskeptizistische Ansätze, die im Wesentlichen darauf ausgerichtet sind, das „Anthropomorphische aller Erkenntnis" (KSA, NF, 7, 476) aufzuzeigen: den Menschen „als Maass an alle Dinge zu halten" und dabei zu glauben, die „Dinge unmittelbar als reine Objekte" diese Formulierung in Ueber Wahrheit und Lüge vor sich zu haben (KSA, WL, 1, 883) im aussermoralischen Sinne stellt die Kurzform von Nietzsches erkenntnisskeptizistischer Analyse des menschlichen Denkens und Erkennens dar, auf der die Irrtums-These in Menschliches, Allzumenschliches basiert. Mit dieser Analyse sieht sich Nietzsche dies ist zu betonen auf der Höhe des naturwissenschaftlich erreichten Wissensstandes, wobei er sich hier vor allem auf die Wahrnehmungstheorien der großen Physiologen des 19. Jahrhunderts Hermann Helmholtz, Wilhelm Wundt, Johannes Müller10 sowie auf die Sprachtheorie Gustav Gerbers und die Erkenntnistheorie Friedrich Albert Langes1 bezieht. Ich habe oben bereits darauf hingewiesen, dass ein enger Zusammenhang besteht zwischen Nietzsches erkenntnistheoretischen Überlegungen und seiner Sicht der Vorso-

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Maudemarie Clark, Nietzsche on Truth and Philosphy, Cambridge 1990; Steven Weiss, „Nietzsche's Denial of Opposites", Journal ofPhilosophical Research 21, 1996, 261-305. Beide Autoren sind der Auffassung, dass es sich bei dem „Irrthum", den Nietzsche der Metaphysik unterstellt, um einen, wie Clark meint: „innocent mistake" (174f.) bzw., wie Weiss sagt: „.simple' mistake in reasoning" (265) handele. Das Ergebnis meiner Untersuchungen ist dagegen, dass Nietzsches Irrtums-These im Kontext seiner erkenntnisskeptizistischen Position zu verstehen ist. In Götzen-Dämmerung stellt Nietzsche diese verschiedenen Formen des Irrtums systematisch zusammen in dem Kapitel „Die vier großen Irrtümer" (KSA, GD, 6, 88ff.). Zu Nietzsches naturwissenschaftlicher Lektüre zu dieser Zeit siehe Karl Schlechta, Anni Anders, Nietzsche. George Stack, Lange and Nietzsche, Berlin 1983.

Motive und Hintergründe

von

Nietzsches Metaphysikkritik

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kratiker. Dies ist vor allem aus den unveröffentlichten Aufzeichnungen zur Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen und zu Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne zu ersehen, aus denen hervorgeht, dass er die frühgriechischen Philosopheme als grandiose Exemplifikationen seiner Anthropomorphismus-These betrachtet. Eine einschlägige Stelle zu diesem Aspekt lautet: „Von Thaies bis Sokrates lauter Übertragungen des Menschen auf die Natur [...] Der Philosoph ist die Fortsetzung des Triebes, mit dem wir fortwährend, durch anthropomorphische Illusionen, mit der Natur verkehren." (KSA, NF, 7, 462) In einer der Dispositionen zu dem geplanten Buch über die griechischen Philosophen heißt es: „Hauptteil: die Systeme als Anthropomorphismen." (ebd., 497) Unter der Rubrik „Ethische Anthropomorphismen" werden „Anaximander", „Heraklit" und „Empedokles" aufgelistet, während die Namen „Parmenides", „Anaxagoras" und „Pythagoras" unter „Logische Anthropomorphismen" genannt sind (ebd., 457). Nietzsche widmet einen ganzen Paragraphen (§ 11) in Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen der Kritik an Parmenides' Schluss vom Begriff des Seins auf die Existenz des Seins, wobei er sich auf Argumente von Aristoteles, Kant und Schopenhauer sowie auf seine eigenen erkenntniskritischen Überlegungen in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne stützt (KSA, PHG, 1, 845ff). Seine Perspektive auf Parmenides' Seinslehre als „logischer Anthropomorphismus" ist dabei unschwer nachvollziehbar: Wenn Parmenides „in der unbelehrten Naivetät der damaligen Kritik des Intellekts, wähnen durfte, aus dem ewig subjektiven Begriff zu einem Ansich-sein zu kommen", so müsse dies nach Kant verworfen werden. Der Begriff des „Seins" verweise nicht auf „irgendeinen fabelhaften Urgrund der Dinge", vielmehr sei sein „ärmlichster empirischer Ursprung" schon etymologisch aufzuzeigen: „Denn esse heißt ja im Grunde nur ,athmen' [...] Nun verwischt sich bald die originale Bedeutung des Wortes: es bleibt aber immer so viel übrig, daß der Mensch sich das Dasein anderer Dinge nach Analogie des eignen Daseins, also anthropomorphisch, und jedenfalls durch eine unlogische Übertragung, vorstellt." (Ebd., 846f.) Aus der Perspektive von Nietzsches Anthropomorphismus-These zeigt sich, dass die Philosopheme der Vorsokratiker auf der Form von Kategorienfehler basieren, die er in Menschliches, Allzumenschliches der Metaphysik unterstellt. Im ersten Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches wird die Metaphysik durch die Auffassung charakterisiert, dass es Dinge wie Wahrheit, altruistische Handlungen oder Vernunft als kontradiktorische Gegensätze von Irrtum, Egoismus, Vernunftlosem in einem ontologischen Sinne gebe. Sie ist damit der Meinung, dass bestimmte Bereiche der Wirklichkeit der Struktur logischer Gegensätze entsprechen. Der „Irrthum der Vernunft" KSA, MA I, 23), den Nietzsche der Metaphysik unterstellt, besteht somit in einer unzulässigen Übertragung logischer Gegensatzbegriffe auf die Wirklichkeit bzw. in einem „logischen Anthropo-

morphismus".12

Diese These vertritt Nietzsche auch in einer ganzen Reihe von Aufzeichnungen der späten achtziger Jahre, in denen er die Gegensatz-Thematik immer wieder aufgreift. In einer dieser Notizen wird der zur Diskussion stehende Punkt besonders pointiert zusammengefasst: „Es giebt keine Gegensätze: nur von denen der Logik her haben wir den Begriff des Gegensatzes und von denen aus falschlich in die Dinge übertragen." (KSA, NF, 12, 383ff). Siehe dazu Wolfgang Müller-Lauter, -

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5.2. Das wahrnehmungstheoretische Argument Eine weitere Perspektive auf die These in Menschliches, Allzumenschliches, der zufolge die metaphysische Auffassung von Gegensätzen auf einem „Irrthum der Vernunft" basiert, eröffnen Nietzsches Ausführungen zu Heraklit. Als „Gegenbild" (KSA, PHG, 1, 836) zu Parmenides repräsentiert Heraklit die Alternative zu der in der Geschichte der abendländischen Philosophie vorherrschend gewordenen Haltung in der Gegensatzproblematik. Sein Lösungsansatz besteht in der Negation des Seins. Diese von Anaximander eingeführte metaphysische Annahme leugnet er ebenso wie deren CommonsenseVersion: den „Glauben an Dinge" (KSA, MA I, 2, 40f.), im Sinne einer Konzeption der Wirklichkeit, der zufolge diese besteht aus individuierten, numerisch und zeitlich identischen, gleichartigen Entitäten, denen bestimmte Qualitäten inhärieren und die in bestimmten Relationen zu anderen Dingen stehen. Die Annahme des Seins wird in beiden Versionen als Täuschung verworfen: „,Ich sehe nichts als Werden. [...] In eurem kurzen Blick liegt es, [...] wenn ihr irgendwo festes Land im Meere des Werdens und Vergehens zu sehen glaubt. Ihr gebraucht Namen der Dinge als ob sie eine starre Dauer hätten: aber selbst der Strom, in den ihr zum zweiten Male steigt, ist nicht derselbe als bei dem ersten Male.'" (KSA, PHG, 1, 823) In Nietzsches Rezeption des Heraklitischen Lehrsatzes13 werden zwei Argumente für die Irrtums-These genannt, die in der Argumentation gegen die Metaphysik in Menschliches, Allzumenschliches eine zentrale Rolle spielen: erstens ein sprachtheoretisches Argument, dem zufolge wir uns irren, wenn wir glauben, es gebe individuierte, gleich bleibende Dinge, auf die sich unsere sprachlichen Ausdrücke beziehen. Wir meinen, es gebe Dinge, so lässt sich dieses Argument kurz rekapitulieren, weil wir voraussetzen, dass die Wirklichkeit der Subjekt-Prädikat-Struktur unserer Sprache entspricht. Die Voraussetzung einer Korrespondenz von Sprache und Wirklichkeit wird durch die Konzeption der Wirklichkeit als Werden, in der es keine konstanten Objekte gibt, auf die sich unsere sprachlichen Ausdrücke beziehen könnten, negiert. Die Passage, die von unserem „kurzen Blick" spricht, verweist auf ein zweites, wahrnehmungstheoretisches Argument. Diesem widmet Nietzsche in den Vorlesungsaufzeichnungen besondere Aufmerksamkeit (KGW II, 4, 267ff.). In diesen Aufzeichnungen finden sich insgesamt sieben Exkurse, in denen er versucht zu zeigen, dass die Grundvorstellungen der modernen Naturwissenschaften von den vorsokratischen Philosophen vorgezeichnet sind. Der umfangreichste Exkurs ist dem Heraklit-Abschnitt beigefügt. Heraklits „panta rei", so stellt Nietzsche hier fest, sei „ein Hauptsatz" der Naturwissenschaften (KGW II, 4, 267). Auch mit der These, dass unser Glaube an konstante Dinge in unserem „kurzen Blick" begründet liege, sieht Nietzsche Heraklit auf der Höhe der Wissenschaft seiner Zeit. Auch nach deren Erkenntnis liege es nur an „unserem kleinlichen Maßstabe", wenn der Mensch „in der lebenden Natur irgend ein Verharren zu erkennen glaubt." (Ebd.) Nietzsche beruft sich hier auf eine Festrede des Zoologen und Physiolo-

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14

Nietzsche: Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin 1971, llff. Günther Wohlfahrt, Also sprach Herakleitos. Heraklits Fragement B 52 und Nietzsches HeraklitRezeption, Freiburg 1991. Karl Schlechta, Anni Anders, Nietzsche, 60ff.

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Nietzsches Metaphysikkritik

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gen Karl Ernst von Baer mit dem Titel „Welche Auffassung der lebenden Natur ist die richtige?", die er 1860 an der Akademie in St. Petersburg gehalten hat. Er geht von der Hypothese aus, dass die Schnelligkeit der Wahrnehmung bei verschiedenen Tieren ungefähr ihrem Pulsschlag proportional ist. Jedes Lebewesen hat von Baer zufolge ein spezifisches, subjektives Zeitmaß. Das Zeitmaß des Menschen ist relativ klein; er erlebt also verhältnismäßig viel in einer Minute. Nur aufgrund dieses relativ kleinen Zeitmaßes, so referiert Nietzsche die Rede von Baers, „erscheint uns ein organisches Individuum, eine Pflanze, ein Thier, an Größe und Gestalt als etwas Bleibendes: denn wir können es in einer Minute hundertmal und öfter sehen, ohne äußerlich eine Veränderung zu bemerken". Denkt man sich den Pulsschlag und damit die Wahrnehmung des Menschen stark verlangsamt oder beschleunigt, so würde sich sein Bild der Wirklichkeit drastisch ändern. Würde er z. B. in einer Minute lOOOmal so viele Sinneseindrücke haben können, so würde er „eine fliegende Flintenkugel sehr gemächlich mit dem Blick verfolgen können". Bei weiterer Reduzierung des Grundmaßes auf ein Tausendstel würde er „Gras und Blumen für ebenso starr und unveränderlich halten, wie uns jetzt die Gebirge erscheinen." Wäre sein Zeitmaß umgekehrt lOOOmal größer, dann „würden wir den Winter in 4 Stunden hinwegschmelzen, die Erde aufthauen, Gras und Blumen emporsprießen, Bäume sich belauben und Frucht tragen und dann die ganze Vegetation wieder welken sehen." Nach weiteren Gedankenexperimenten, in denen das subjektive Zeitmaß des Menschen hypothetisch vergrößert wird, kommt Nietzsche zu dem Schluss: „Genug, alle uns bleibend scheinenden Gestalten würden in der Übereile des Geschehens zerfließen und vom wilden Sturme des Werdens verschlungen sein. Das Bleiben [...] ergibt sich als eine vollkommene Täuschung, als Resultat unserer (beschränkten) menschlichen Intelligenz." Zu demselben Ergebnis will Nietzsche auch in einer Variation des von Baerschen Modells kommen, in der „die menschliche Perception unendlich gesteigert nach der Stärke und Kraft der Organe" vorgestellt wird. Auch in diesem Fall würde sich Nietzsche zufolge alles in Werden auflösen. Dieser Exkurs zeigt zum einen, dass Nietzsche Heraklits Intuition vom Werden von der modernen Naturwissenschaft bestätigt sieht. Er ist der Auffassung, dass aus der Perspektive der fortgeschrittenen wissenschaftlichen Theorien und Erkenntnismethoden erstens sich die Wirklichkeit als Werden, als dynamischer Prozess zeigt und zweitens die unser Commonsense-Weltbild bestimmenden Grundbegriffe wie numerisch und zeitlich identische Dinge und konstante Relationen an unsere sensorisch-kognitive Konstitution gebunden sind. Auf der Grundlage des wahrnehmungstheoretischen Arguments im Heraklit-Exkurs lassen sich zum anderen mehrere Punkte in der Argumentation in Menschliches, Allzumenschliches verdeutlichen: (1) Als Erstes möchte ich auf das im ersten Aphorismus vorgebrachte Argument gegen die metaphysische Auffassung von Gegensätzen zurückkommen. Diese wird hier auf unsere ungenaue Wahrnehmung zurückgeführt: Nur für die „feinste Beobachtung" sei es möglich zu erkennen, dass die Dinge, die wir gewöhnlich als Gegensätze betrachten, keine Gegensätze sind, sondern Sublimierungen. Dieses Argument wird im ersten Hauptstück nicht weiter erläutert. Vor dem Hintergrund des dargestellten naturwissenschaftlichen Exkurses zu Heraklit ist zu sehen, dass Nietzsche hier offenbar meint, dass sich die Gegensätze, die wir mit bloßem Auge wahrnehmen, in einer durch die naturwissenschaftlichen Beobachtungsmethoden, also z. B.

Britta M. Glatzeder

126

Mikroskope oder Teleskope optimierten Wahrnehmungsfähigkeit in fließende, graduelle Übergänge auflösen. In einer der unveröffentlichten Aufzeichnungen zu Menschliches, Allzumenschliches argumentiert Nietzsche auf dieser Linie, wenn er feststellt: „Wir sind jetzt gewöhnt, Bewegtes und Bewegung zu scheiden; aber wir stehen damit unter dem Eindrucke uralter Fehlschlüsse: das bewegte Ding ist erdichtet, hineinphantasirt, da unsere Organe nicht fein genug sind, überall die Bewegung wahrzunehmen" (KSA, NF, 8,459). (2) Damit komme ich zu einem zweiten Punkt, und zwar auf die Weise, in der Nietzsche das wahrnehmungstheoretische Argument für seine Analyse der dualistischen durch

Struktur

unseres

Denkens und Wertens einsetzt. Eine Stelle im zweiten Band

von

Menschliches, Allzumenschliches ist für diesen Aspekt aufschlussreich. Unter dem Titel

es hier: „Die allgemeine ungenaue Beobachtung sieht in der Natur überall Gegensätze (wie z. B. ,warm und kalt'), wo keine Gegensätze, sondern nur Gradverschiedenheiten sind. Diese schlechte Gewohnheit hat uns verleitet, nun auch noch die innere Natur, die geistig-sittliche Welt nach solchen Gegensätzen verstehen und zerlegen zu wollen." (KSA, MA II, 2, 582) Die für unser Begriffsschema konstitutive Gegensatzstruktur lässt sich demnach letztlich auf das wahrnehmungstheoretische Argument zuriickführen. Weil „unsere Organe nicht fein genug sind", nehmen wir graduelle Übergänge fälschlicherweise als Gegensätze wahr. Die dualistische Struktur unserer Wahrnehmung überträgt sich auf unser Denken, unsere Sprache und Wertgefühle. (3) Das wahrnehmungstheoretische Argument hat einen evolutionären Aspekt, auf den ich kurz eingehen möchte: Die Fähigkeit, die ständige Veränderung, die Bewegung, den Wechsel wahrzunehmen, wird in Menschliches, Allzumenschliches in Abhängigkeit zum Entwicklungsgrad der sensorischen Fähigkeiten erklärt: „Immer mehr, je entwickelter der Mensch ist, nimmt er die Bewegung, die Unruhe, das Geschehen wahr. Dem weniger entwickelten scheint das Meiste fest zu sein [...] Das Auge entschließt sich erst allmählich für das Bewegte." (KSA, NF, 8, 413) Aus der „Periode der niederen Organismen" sei dem Menschen „der Glaube vererbt, daß es gleiche Dinge gibt." (KSA, MA I, 2, 39) Wenn wir demnach im Laufe unserer Entwicklungsgeschichte erst allmählich gelernt haben, Bewegung wahrzunehmen, so teilt sich für uns die Welt in ruhende und bewegte Dinge, in gleich Bleibendes und Veränderliches, in Dauer und Wechsel. Die in (2) thematisierte dualistische Struktur unseres Wahrnehmens und Denkens ist also auch aus einer evolutionistischen Perspektive zu erklären. Hieraus ergibt sich ein neuer Aspekt von Nietzsches Auffassung der Metaphysik, auf den ich in einem letzten Punkt hinweisen möchte. (4) Die in (3) vorgestellte These, dass die Fähigkeit, Bewegung wahrzunehmen, von der Entwicklungsstufe eines Lebewesens abhängt, zeigt den Glauben an Dinge, an Stabiles, Gleichbleibendes als Erbe aus den frühen Evolutionsstufen nicht nur menschlichen, sondern organischen Lebens überhaupt. Wenn die Metaphysik den Glauben an feste, unbewegte Dinge festschreibt in ihrer Konzeption des Seins, in der nur das als wahr und wirklich gilt, was ist und nicht wird, so repräsentiert sie ein Weltbild, das, entwicklungsgeschichtlich gesehen, auf einer primitiven Stufe angesiedelt ist. Die Annahmen der Metaphysik zeigen sich aus dieser Perspektive nicht nur als falsch, sondern als atavi-

„Gewohnheit der Gegensätze" heißt

Motive und Hintergründe von Nietzsches Metaphysikkritik

127

stisch. Durch die evolutionistische Perspektive ist zudem auch Nietzsches Terminologie von „höher" und „nieder" in bezug auf Kultur (KSA, MA I, 2, 25), Vernunft (ebd., 13) und Wissenschaft in Menschliches, Allzumenschliches zu erklären. Wie sich die Höhe der Entwicklungsstufe eines Lebewesens in seinen Augen danach bemisst, inwieweit es fähig ist, den Prozesscharakter der Wirklichkeit wahrzunehmen, so auch die der Kultur. Deshalb erklärt Nietzsche die zunehmende Herrschaft des „wissenschaftlichen Geistes" zum „Merkmal einer höheren Cultur" (ebd., 25f). Denn das Ziel der Wissenschaft sieht Nietzsche darin, die Wirklichkeitskonzeptionen zu dynamisieren, alles in Werden, in Bewegung aufzulösen (ebd., 41). In der Evolution des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses ist entsprechend dann die höchste Stufe erreicht, wenn unser aus Urzeiten vererbter „Glaube an Dinge" und damit die Konzeptualisierung der Wirklichkeit als „Sein" fällt (KSA, MA I, 2, 37). Nietzsches Rede von der „höchsten Wissenschaft" (ebd.) bezieht sich auf diese Stufenfolge des Erkenntnisprozesses, die zugleich eine Rangordnung darstellt. Sein Argument für das Primat der historischen gegenüber der metaphysischen Philosophie ist auch im Kontext dieses hierarchischen Modells zu sehen.

Nietzsches historische Philosophie eine „Philosophie des Werdens" -

Vor diesem

Hintergrund kann eine weitere, in Menschliches, Allzumenschliches offen bleibende Frage beantwortet werden: Beansprucht Nietzsches historische Philosophie das Problem der Entstehung aus Gegensätzen gelöst zu haben, oder will sie es als Pseudoproblem auflösen? Die historische Philosophie verfolgt die Strategie, das Problem der Entstehung aus Gegensätzen dadurch aufzulösen, dass sie die Auffassung leugnet, es handele sich bei den Dingen, die an den entgegengesetzten Enden einer Werteskala stehen, selber um Gegensätze. Sie will höher bewertete Dinge, wie Vernünftiges, Logik, Empfindendes als sublimierte Formen von Vernunftlosem, Unlogischem, Totem erklären und damit die Voraussetzung der Problemstellung unterlaufen. Die Sublimierungsthese ist dabei vor dem Hintergrund der zu Nietzsches Zeit hochaktuellen darwinistischen Theorien zu sehen, deren Ansatz ja eben darin besteht, höher entwickelte Lebensformen aus immer einfacheren Organismen zu erklären. Gleichzeitig verfolgt Nietzsche die Strategie, die Annahme vom Gegensatz der hoch und gering geschätzten Dinge dadurch zu widerlegen, dass er sie auf einen Irrtum zurückführt. Dies wird im Rahmen seines Projekts einer „Entstehungsgeschichte des Denkens" (KSA, MA I, 2, 37) geleistet, in der die Geschichte des Denkens der vorsokratischen Philosophen eine zentrale Rolle spielt. Die Rekonstruktion von Nietzsches Rezeption der Geschichte des Denkens in der griechischen Antike zeigt, dass für das Problem der Entstehung aus Gegensätzen zwei paradigmatische, durch Parmenides und Heraklit repräsentierte Lösungsansätze entworfen worden sind. Nietzsche ist der Auffassung, dass die von Heraklit durch eine intuitive Einsicht gewonnene Konzeption der Wirklichkeit als Werden von den fortgeschrittensten naturwissenschaftlichen Theorien seiner Zeit bestätigt wird. Darin kann einer der Gründe dafür gesehen werden, dass er der Meinung ist, der Philosophie seiner Zeit stelle sich erneut jenes Problem, mit dem der philosophische Diskurs vor mehr als zweitausend Jahren begonnen hat. Hatte sich da-

Britta M. Glatzeder

128

mais Parmenides' Lösung durchgesetzt, so sieht Nietzsche nun die Zeit für eine Wende gekommen. Wie er im ersten Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches angibt, sei der von seiner historischen Philosophie vorgestellte Lösungsentwurf „erst bei der gegenwärtigen Höhe der einzelnen Wissenschaften" möglich geworden. Die in diesem Entwurf nachgezeichnete Heraklitische Konzeption kann demnach nach mehr als zweitausend Jahren auf der Basis der zu seiner Zeit aktuellen naturwissenschaftlichen Theorien erstmals gegen die Metaphysik des Seins stark gemacht werden. Die Entwicklungen in den modernen Naturwissenschaften setzt Nietzsche, anders gesagt, gleich mit einem Paradigmenwechsel von einer Parmenideisch-metaphysischen zu einer HeraklitischNietzsche'sehen Weltsicht. In diesem Sinne äußert er sich auch in einem späten Fragment: „Was uns ebenso von Kant, wie von Plato und Leibnitz trennt: wir glauben an das Werden allein auch im Geistigen, wir sind historisch durch und durch. Dies ist der große Umschwung. Lamarck und Hegel Darwin ist nur eine Nachwirkung. Die Denkweise Heraklit's und Empedokles ist wieder erstanden." (KSA, NF, 11, 442) '

-

Matthew H. Meyer

Menschliches, Allzumenschuches und der musiktreibende Sokrates

Im Jahr 1888 charakterisiert Nietzsche Also sprach Zarathustra als jenes Werk, in dem sein Begriff des „Dionysischen" höchste Tat geworden sei (KSA, EH, 6, 343). Dabei schlägt er eine Brücke zwischen dem Erstlingswerk Die Geburt der Tragödie, wo er sich selbst als einen Jünger des griechischen Gottes bezeichnete, und seinem Hauptwerk, dem Zarathustra. Ich habe bereits an anderer Stelle die tragische Natur Zarathustras nachzuweisen versucht, und das Werk als die Erfüllung von Nietzsches Hoffnung auf eine Wiedergeburt der Tragödie dargestellt. In der Folge wird diese Verbindung zwischen der Geburt der Tragödie und Nietzsches späteren Werken weiter entwickelt, wobei ein besonderes Augenmerk auf Menschliches, Allzumenschliches gelegt werden soll. Wenngleich es wie ein Bruch mit Nietzsches eigenen Ansprüchen aus der Geburt der Tragödie anmutet, ist es gerade Menschliches, Allzumenschliches, selbst eine Darstellung der tragischen Philosophie Nietzsches, das die Wiedergeburt der Tragödie im

Zarathustra erst möglich macht. Es scheint jedoch der aktuellen Nietzsche-Forschung zu widersprechen, Menschliches, Allzumenschliches als eine Fortsetzung der Geburt der Tragödie anzusehen. In seinem Buch Nietzsche 's Philosophy of Art vertritt Julian Young diesen Standpunkt in seiner extremsten Ausformung: ,JTuman, All-too-human marks, it is clear, a tremendous departure from the world of The Birth of Tragedy". Auf den ersten Blick scheint Menschliches, Allzumenschliches Youngs Interpretation zu bestätigen. Hat Nietzsche in der Geburt der Tragödie noch behauptet, dass das Dasein und die Welt nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt seien (KSA, GT, 1, 47), will er nun mit der Kunst und dem Künstler Richard Wagner, dem er ja die Erstlingsschrift gewidmet hat, nichts mehr :

Matthew Meyer, „The Tragic Nature of Zarathustra", in: Nietzscheforschung 9, 2001, 209-218. Julian Young, Nietzsche's Philosophy of Art, Cambridge 1992, 59. Ähnlich wie Young trennt Ruth Abbey Menschliches, Allzumenschliches, Morgenröthe und Die fröhliche Wissenschaft von den anderen Werken Nietzsches. Sie sieht diese drei Werke als „the other Nietzsche" an. Ruth Abbey, Nietzsche's Middle Period, Oxford 2000, XI. In der deutschen Forschung ist die Trennung zwischen Menschliches, Allzumenschliches und Die Geburt der Tragödie nicht so radikal. Wenn ein Bruch anerkannt wird, wird er oft auf die Biographie Nietzsches, d. h. den Streit mit Wagner, zurückgeführt. Vgl. Mazzino Montinari, Friedrich Nietzsche: Eine Einführung, Berlin 1991, 63-66.

Matthew H.

130

Meyer

tun haben. In Menschliches, Allzumenschliches bezeichnet er das Künstler-Genie als unreifes Kind (KSA, MA, 2, 142), dessen Schaffensprozess sich nicht „von der Thätigkeit des mechanischen Erfinders, des astronomischen oder historischen Gelehrten, des Meisters der Taktik" unterscheide (KSA, MA, 2, 152). In dem vorletzten Aphorismus des vierten Buches treibt Nietzsche seine Kritik der Kunst auf die Spitze: „Der wissenschaftliche Mensch sei die Weiterentwickelung des künstlerischen" (KSA, MA, 2, 186). Die Schwierigkeit für jene, die hier einen radikalen Bruch zwischen Menschliches, Allzumenschliches und der Geburt der Tragödie orten, besteht nun darin, dass sie sich Nietzsches theoretische und praktische Rückkehr zur Kunst, die zu Beginn der 1880er Jahre erfolgte, nicht ausreichend erklären können. Als Nietzsche im Mai 1881 Heimich Köselitz in Italien begegnete, entdeckte er die Musik wieder. Nach diesem Treffen verfasste er seine eigene lyrische Poesie unter dem Titel Scherz, List und Rache, komponierte Musik wie den Hymnus auf das Leben und schuf eine Tragödie (ZA I—III) und ein Satyrspiel (ZA IV). Diese schöpferische Tätigkeit deutet bereits an, dass Nietzsche selbst der dionysische Künstler der Geburt der Tragödie ist. Im Nachlass taucht die erste positive Beurteilung der Geburt der Tragödie im Herbst 1881 auf (KSA, NF, 9, 615). Im Frühling 1882, während er am Zarathustra schreibt, fasst Nietzsche die Grundsätze der Geburt der Tragödie zusammen (KSA, NF, 10, 237ff), und nur ein Jahr später verkündet er: „Geburt der Tragödie: ,sie rettet die Kunst und durch die Kunst rettet sie sich das Leben'. Grundgedanke. Mein weiteres Leben ist die Consequence" (KSA, NF, 10, 501). In den veröffentlichen Werken kommt er erst allmählich auf die Grundlagen der Geburt der Tragödie zurück. In Die Fröhliche Wissenschaft etwa weist Nietzsche immer wieder auf die Bedeutung der Kunst hin,5 und die Fassung von 1882 endet mit dem Aphorismus Incipit Tragoedia (KSA, FW, 3, 571). Im Zarathustra erwähnt Nietzsche weder die Tragödie noch Dionysos, aber die Reinschrift zeigt eine starke Verbindung zwischen dem Ende von Zarathustra III und dem griechischen Gott. In Jenseits von Gut und Böse taucht Dionysos schließlich wieder auf, und am Ende der Götzen-Dämmerung bezieht Nietzsche fast seine gesamten Werke auf die Geburt der Tragödie: „Die ,Geburt der Tragödie' war meine erste Umwerthung aller Werthe: damit stelle ich mich wieder auf den Boden zurück, aus dem mein Wollen, zu

-

Obwohl Nietzsche dieses Musikstück erstmals 1887 veröffentlichen ließ, komponierte er es bereits 1882. In seinem Brief an Lou Salomé schreibt er: „In Naumburg kam wieder der Dämon der Musik über mich ich habe Ihr Gebet an das Leben componiert" (KSB 6, 247). In Ecce Homo erinnert uns Nietzsche, dass seine Musik in die Zeit zwischen Die fröhliche Wissenschaft und Zarathustra gehört, und er beschreibt seinen Hymnus auf das Leben folgendermaßen: „ein vielleicht nicht unbedeutendes Symptom für den Zustand dieses Jahres, wo das jasagende Pathos par excellence, von mir das tragische Pathos genannt, im höchsten Grade mir innewohnte. Man wird ihn später einmal zu meinem Gedächtniss singen" (KSA, EH, 6, 336). -

4

6

Vgl. Jörg Salaquarda, „Die Grundconception des Zarathustra", in Friedrich Nietzsche, Also Sprach Zarathustra, hg. von Volker Gerhardt, Berlin 2000, 91. U. a.: Kunst und Natur (FW 80), Vom Ursprung der Poesie (FW 84), Unsere letzte Dankbarkeit gegen die Kunst (FW 107), Homo Poeta (FW 153), Vorspiele der Wissenschaft (FW 300). Bemerkenswert ist, dass der reinschriftliche Titel des dritten Abschnitts Die sieben Siegel Dionysos lautet (KSA 14, 325).

Menschliches, Allzumenschliches und der musiktreibende Sokrates

131

mein Können wächst ich, der letzte Jünger des Philosophen Dionysos, ich, der Wiederkunft Lehrer der ewigen [...]" (KSA, GD, 6, 160). Hält man sich das Schwergewicht, das diese Aussagen auf die Kunst legen, vor Augen, wäre die Ablehnung der Kunst in Menschliches, Allzumenschliches am besten als „eine vorübergehende Abweichung Nietzsches" zu bezeichnen. Aber sogar diese Charakterisierung widerspricht dem Versuch Nietzsches, seine ganze philosophische und dichterische Tätigkeit im Denken der Geburt der Tragödie zu verankern. Obwohl Young diese „retrospective self-descriptions" als „deeply unreliable" bezeichnet,7 setzt seine Widerlegung der Selbstauslegung Nietzsches die Gültigkeit des eigenen Interpretationsansatzes voraus. Dabei scheint es, dass sich Young zu sehr auf die Gültigkeit der These vom fragmentarischen Charakter der Werke Nietzsches verlassen hat, und dadurch die Einheit, die Nietzsche selbst im Auge hatte, übersieht. Meines Erachtens fungiert die Geburt der Tragödie als die Grundlage der Spätwerke, und nur wenn man diesen Umstand berücksichtigt, kann man die Legitimität der Aussagen Nietzsches verstehen, und auch die Art und Weise, wie sich Menschliches, Allzumenschliches aus den Einsichten der Geburt der Tragödie entwickelt hat. —



I. Die Geburt der Tragödie Bevor wir uns dem Inhalt der Geburt der Tragödie zuwenden können, sollten wir uns zunächst den Wert, den Nietzsche seinem ersten Werk ursprünglich beigemessen hat, vor Augen führen. Denn viel eher als eine philologische Untersuchung, in der er die

Geburt und schließlich den Tod der Tragödie nachvollzieht, betrachtet er die Geburt der Tragödie in der „Art eines Manifestes" (an Friedrich Ritschi: KSB, 3, 281). In dem Vorwort an Richard Wagner deutet Nietzsche an, dass die Geburt der Tragödie der zweite „Wirbel und Wendepunkt" der Weltgeschichte (Sokrates war der Erste) sei (KSA, GT, 1, 24). Überdies schreibt Nietzsche in einem Brief an Mutter und Schwester: „Ihr sollt es noch erleben, wie es für mich in einem gewissen Sinne Epoche macht. Meine Schrift erscheint nächstens: mit ihr beginne ich das neue Jahr und jetzt wird man wissen, was ich will, wonach ich mit aller Kraft strebe: meine Thätigkeit beginnt"

(KSB, 3, 266).

Das Ziel der Geburt der Tragödie ist die Wiedergeburt der Tragödie (KSA, GT, 1, 103 und 129), und Nietzsches Aufbau des Werkes soll zeigen, dass aktuelle Entwicklungen der deutschen Philosophie eine Erneuerung der griechischen Tragödie in der Form der Opern Richard Wagners ermöglichen. Zu Beginn erläutert er in den Abschnitten 1 bis 10, wie sich die epische Poesie Homers und die tragische Kunst des Äschylus wie zwei alternative lebensbejahende Antworten auf die Weisheit Silens entwickelten. In den Abschnitten 11 bis 15 argumentiert Nietzsche, dass der sokratische

Optimismus,8

1

Julian Young, Nietzsche 's Philosophy ofArt, 29. Obwohl Sokrates eine apollinische Tendenz hat, ist er selbst nicht appolinisch. Wie Barbara von Reibnitz nachweist, vertritt Sokrates weder Dionysos noch Apollo, sondern eine dritte Macht, nämlich den optimistischen Rationalismus der griechischen Aufklärung. Barbara von Reibnitz, Ein

Matthew H.

132

Meyer

d. h. die

Ablehnung der Weisheit Silens, und die Kunst des Euripides den Tod der Tragödie hervorgerufen hätten. Sodann behauptet er (Abschnitte 16 bis 25), dass Kant und Schopenhauer den modernen Optimismus zerstört und die „tragische Erkenntniss" wiederentdeckt hätten (KSA, GT, 1, 101), und auf Grundlage der Ergebnisse ihrer Philosophien sei die Wiedergeburt der Tragödie für beide möglich und erstrebenswert gewesen. Wenn man das Begehren einer „buddhaistischen Verneinung des Willens" überwinden will, braucht man das lebensbejahende Potenzial der Kunst, um sich vor dieser neuen Art der dionysischen Weisheit zu schützen (KSA, GT, 1, 56). Hier müssen wir drei wichtige Thesen innerhalb der Struktur der Geburt der Tragödie hervorheben. Erstens ist die Tragödie in einer allumfassenden Weltanschauung verwurzelt und entwickelte sich als eine Lösung all der existenziellen Probleme, die zu dieser gehören. Wenn diese Weltanschauung verschwindet, ist es das Ende der „echten" Tragödie. Umgekehrt, wenn man eine Wiedergeburt der Tragödie anstrebt, muss die tragische Weltanschauung wieder hergestellt werden. Zweitens wird die Wiedergeburt des tragischen Denkens nicht durch eine Wiederkehr der mythischen Weisheit geschehen, sondern durch die Entdeckungen und Ergebnisse der sokratischen Suche nach Wahrheit. In der Neuzeit werden die Wissenschaftler und Philosophen, nicht die Halbgötter Griechenlands, die tragische Natur des Daseins offenbaren. Drittens interpretiert der junge Nietzsche die Geschichte der westlichen Kultur als eine Art Dialektik zwischen Kunst und Philosophie, indem es diesen beiden möglich ist, ursprünglich unüberwindbar scheinende Gegensätze in der letzten Phase der Geschichte zu vereinen. In Deutschland stellt sich Nietzsche eine Einheit der Philosophie Kants und Schopenhau-

und der deutschen Musik „von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner" vor (KSA, GT, 1, 127). Als ein Symbol für diese Versöhnung zwischen Philosophie und Kunst, welche die dritte Epoche der Geschichte definiert, offeriert Nietzsche sein neues Ideal, „den musiktreibenden Sokrates" (KSA, GT, 1, Weil der musiktreibende Sokrates die größte Hoffnung des jungen Autors verkörpert, scheint es notwendig zu versuchen, dieses Symbol genauer zu definieren. Zuerst muss man anerkennen, dass Nietzsches Verhältnis zu Sokrates äußerst ambivalent ist. Einerseits stellt Sokrates die erste Erscheinung des theoretischen Menschen auf der weltgeschichtlichen Bühne dar; er ist der Wille zur Wahrheit, und Nietzsche, ebenfalls ein leidenschaftlicher Liebhaber der Wahrheit, schätzt ihn aus diesem Grund. Andererseits vertritt Sokrates eine optimistische Weltanschauung, die Antithese der Weisheit Silens, und mit dieser Perspektive überzeugte er Euripides und den zukünftigen tragischen Dichter Piaton davon, dass das Denken das Leben verstehen und letztendlich korrigieren könnte (KSA, GT, 1, 99), und dass der Mensch ein glückliches und tugendhaftes Leben führen könnte (KSA, GT, 1, 94). Daher stellt Nietzsche Sokrates als seinen Gegner vor: Nietzsche kämpft nicht gegen das Denken und die Leidenschaft der Erkenntnis, sondern gegen den sokratischen Optimismus, ein Verständnis des Daseins, das Nietzsche oft verachtet und immer wieder zu widerlegen versucht. ers

102).9

Kommentar zu Friedrich Nietzsche, .Die Geburt der

1992,316.

Tragödie aus dem Geiste der Musik', Stuttgart

Nietzsche setzt den musiktreibenden Sokrates mit dem

224).

tragischen Menschen gleich (KSA, NF, 7,

Menschliches, Allzumenschliches und der musiktreibende Sokrates

133

diese zwei Grundsätze des Sokratismus identifiziert werden, wird Nietzsches kurze, aber einsichtvolle Auslegung der Geschichte der Philosophie verständlich. Er meint, dass Optimismus nicht mit den Anforderungen der Wahrheitssuche zusammengehen kann. Also gibt es eine Spannung innerhalb des sokratischen Denkens, und mit der Zeit wird die Wahrheitssuche den optimistischen Mythos, der ursprünglich das Streben nach der Wahrheit verherrlichte, untergraben. Nach Nietzsche hätte diese entscheidende Wende in der modernen Philosophie schon stattgefunden. Kant hätte „das Rüstzeug der Wissenschaft" benützt, „um die Grenzen und die Bedingtheit des Erkennens überhaupt darzulegen und damit den Anspruch der Wissenschaft auf universale Geltung und universale Zwecke unscheidend zu leugnen" (KSA, GT, 1, 118). Als nächster hätte Schopenhauer den traumgleichen Charakter unseres Lebens nachgewiesen und die tragische Natur der menschlichen Existenz mit dem Spruch, dass „wesentlich alles Leben Leiden ist", geschildert. Als Wissenschaftler verkörpern Kant und Schopenhauer die Prinzipien des theoretischen Menschen. Als Denker, die die „dionysische Weisheit" in „Begriffe" fassten (KSA, GT, 1, 128), markiert ihre Philosophie das immer näher kommende Ende des modernen Optimismus und den Anfang eines tragischen Zeitalters. Nun ist die Frage, ob man die christlich-moralische Lösung der Leidensproblematik, die im Asketismus Schopenhauers kulminiert, oder die ästhetische Lösung der Geburt der Tragödie vorzieht. Nach Nietzsche präsentieren sich die Musik (Dionysos) und auch die Tragödie (ein Doppeleffekt des Dionysos und des apollinischen Helden Theseus) als die überlegene Alternative zum Labyrinth des Leidens (Ariadne). Weil der Mensch erneut mit den tragischen Einsichten der modernen Philosophie konfrontiert ist, wird er aufs Neue der tragischen Kunst als Trost und Rechtfertigung bedürfen. Diese Verwandlung des theoretischen Menschen der Wissenschaft zum tragischen Menschen der Musik und Kunst ist die Bedeutung des musiktreibenden Sokrates und mit diesem Symbol können wir den Zweck und den Inhalt der Werke Nietzsches von Menschliches, Allzumenschliches bis zum Zarathustra besser verstehen. Nur

II.

wenn

Menschliches, Allzumenschliches als tragische Philosophie

In diesem

Abschnitt, in dem die Verbindung zwischen Geburt der Tragödie und

Menschliches, Allzumenschliches nachgewiesen werden soll, muss ich auf eine durchgehende Analyse der Unterschiede zwischen Menschliches, Allzumenschliches und den

11

Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Frankfurt/M. 1986,426.

Vorstellung, Band

I in: Sämtliche

Werke, Stuttgart/

„So haben wir die Wagnersche Wiedergeburt der Tragödie

zu verstehen. Aus sokratischen Menschen sollen wir wieder tragische Menschen werden [...] Deshalb steht das grösste deutsche Kunstfest in Bayreuth einzig da: hier feiern die tragischen Menschen ihr Weihefest, zum Zeichen dass eine neue Kulture beginnt. Ein Zurückstreben zur Gesundheit. Die Stellung des tragischen Menschen zum Wissen: er strebt nach der tiefsten und lässt sich durch keine Erkenntniss Illusion zurückschrecken, auch nicht in der Breite aufhalten denn er hat sein wahres Mittel, das Dasein zu er—

tragen" (KSA, NF, 7, 372f.).



134

Matthew H.

Meyer

Frühwerken Nietzsches verzichten. Deshalb kann ich nur andeuten, dass sich Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches von Wagner und Schopenhauer, als von denjenigen, die für eine Wiedergeburt der Tragödie verantwortlich gewesen wären, abwendet und das kulturelle Projekt selber übernimmt. Damit wird Nietzsche zu dem Menschen, der diese Hoffnung erfüllen soll, und muss daher, so wie er es in der Geburt der Tragödie formuliert hat, die Grundlagen des tragischen Denkens mit philosophischen und wissenschaftlichen Überlegungen fundieren. So wie Kant und Schopenhauer den modernen Optimismus geschwächt haben, will Nietzsche mit seiner wissenschaftlichen InFrage-Stellung jeden „höheren Schwindel", jeden „Idealismus" und jegliches „schöne Gefühl" vernichten (KSA, EH, 6, 327). Nietzsche kennzeichnet den aufklärerischen Charakter seiner Unternehmung, indem er die Erstausgabe von Menschliches, Allzumenschliches Voltaire widmet und die rationalistische Methode Descartes' übernimmt. Er möchte auf diese Weise nicht gegen den Optimismus des 18. Jahrhunderts rebellieren, sondern die Prinzipien dieser Zeit anwenden, um die Aufklärung von innen her zu untergraben. In seiner Einleitung mit dem Titel An Stelle einer Vorrede zitiert Nietzsche Descartes, um die Ethik von Menschliches, Allzumenschliches zu definieren: „Für meinen Theil mir Nichts besser erschien, als wenn ich streng bei meinem Vorhaben verbliebe, das heisst: wenn ich die ganze Frist des Lebens darauf verwendete, meine Vernunft auszubilden und den Spuren der Wahrheit in der Art und Weise, welche ich mir vorgesetzt hatte, nachzugehen"

(KSA, MA, 2, 11).

In Menschliches, Allzumenschliches ist Nietzsche der nüchterne, objektive, ja sokratische Wissenschaftler, und seine aufgeklärte Methode strebt die Vernichtung des Optimismus an. Im sechsten Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches unterscheidet Nietzsche die optimistische Tendenz aller vorhergehenden Philosophie, die sich immer „zu einer Apologie der Erkenntniss" verwandelt habe, von einer echten Wissenschaft, die nur nach „Erkenntniss und Nichts weiter" sucht. Letztere will die Wahrheit ohne Rücksicht auf die Folgen, wohingegen der Philosoph seine „hochfliegende Metaphysik" immer wieder neu erschafft, da „die Bedeutsamkeit der Erkenntniss für das Leben [...] so groß als möglich erscheinen" soll (KSA, MA, 2, 28). In diesem wichtigen Aphorismus skizziert Nietzsche wie bereits in der Geburt der Tragödie, was er für das entscheidende Moment in der Geschichte des westlichen Denkens erachtet: Wenn sich die Suche nach der Wahrheit von dem optimistischen Mythos ablöst, taucht das tragische Denken in der Form der wissenschaftlichen und philosophischen Entdeckungen wieder auf. Liest man Menschliches, Allzumenschliches vor dem Hintergrund dieser Dynamik, wird die darin enthaltene Absicht Nietzsches deutlich. Außer dem fünften Buch, in dem Nietzsche seine wissenschaftlichen Prinzipien wieder zu bestätigen sucht, ist Menschliches, Allzumenschliches ein systematischer Angriff auf den optimistischen Glauben des modernen Menschen. So schreibt er am Ende des ersten Buches: „Jeder Glaube an Werth und Würdigkeit des Lebens beruht auf unreinem Denken" (KSA, MA, 2, 53). Im zweiten Buch behauptet er, dass die völlige Unverantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln und sein Wesen, selbst ein Hauptprinzip des tragischen Denkens, „der bitterste Tropfen, welchen der Erkennende schlucken muss", sei, vor allem dann, „wenn er gewohnt war, in der Verantwortlichkeit und der Pflicht den

Menschliches, Allzumenschliches und der musiktreibende Sokrates

135

Adelsbrief seines Menschenthums zu sehen" (KSA, MA, 2, 103). Im dritten Buch zitiert er Byron, um die tragische Verbindung zwischen Erkenntnis und Leiden auszudrücken: „Sorrow is knowledge: they who know the most / must mourn the deepst o'er the fatal truth: / the tree of knowledge is not that of life" (KSA, MA, 2, 108). Im vierten Buch wird der Künstler als „herrliches Überbleibsel" eines früheren Zeitalters bezeichnet (KSA, MA, 2, 186). Im sechsten Buch leugnet er die Heiligkeit der Freundschaft und zeigt, wie vereinsamt jeder Mensch sei (KSA, MA, 2, 263). Buch sieben enthält eine Zurückweisung von Frauen und Kindern (KSA, MA, 2, 287), und Buch acht weist der Politik das Attribut „pöbelhaft" zu: „Öffentliche Meinungen private Faulheiten" (KSA, MA, 2, 316). Am Ende von Menschliches, Allzumenschliches ist Nietzsche, gleich Ödi„der Wanderer" in der „Wüste" der Erkenntnis (KSA, MA, 2, 363). In Menschliches, Allzumenschliches will Nietzsche nicht nur den Optimismus der modernen Kultur auflösen, sondern auch die tragische Weltanschauung an seine Stelle setzen. Im ersten Aphorismus stellt Nietzsche die Frage: „Wie kann etwas aus seinem Gegensatz entstehen?" (KSA, MA, 2, 23). Mit dieser Frage macht sich Nietzsche die Lehre Heraklits, des Philosophen des tragischen Zeitalters Griechenlands schlechthin,13 zu Eigen und legt damit den Grundstein zu seiner tragischen Philosophie. Implizit findet sich in der Einheit der Gegensätze die Widerlegung des metaphysischen Projekts von Parmenides und Piaton. Es gibt keine Idee, kein Ding an sich, kein Sein, keinen Gott. Es gibt nichts außerhalb des unendlichen Flusses des ewigen Werdens (KSA, 14, 119). Also muss metaphysische Philosophie historische Philosophie werden, und die metaphysischen Gebäude der Kunst, Religion und Moral verwandeln sich in „eine Chemie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen" (KSA, MA, 2, 24). In diesem ersten Aphorismus legt Nietzsche bereits die Struktur des Werkes fest, und das erste Buch, wie er es rückblickend charakterisiert, ist nichts außer einer „Vorbereitung zu einer tragischen Philosophie" (KSA, 14, 125). -

pus,12

III.

Menschliches, Allzumenschliches und der musiktreibende Sokrates

Nietzsche schließt das erste Buch von Menschliches, Allzumenschliches mit der Frage: „Aber wird so unsere Philosophie nicht zur Tragödie?" (KSA, MA, 2, 53). Wenn Zarathustra tatsächlich eine Tragödie ist, dann muss die Antwort auf Nietzsches Frage bejaht werden: Er wird sich letztendlich an die lebensbejahende Fähigkeit der Kunst wenden, um die tragischen Wahrheiten zu verklären. In Menschliches, Allzumenschliches aber ist Nietzsche der aufgeklärte Wissenschaftler, und als solcher darf er nicht die Freude des Schaffens und den Rausch der Zerstörung, die nur dem Künstler vorbehalten sind, genießen. Gebunden an die Grundsätze seiner wissenschaftlichen Ethik muss er zurückhaltend und objektiv bleiben. Was ihm als Rettung vor der „Verzweiflung" und einer „Philosophie der Zerstörung" bleibt, ist das gute „Temperament" des sokratischen Menschen (KSA, MA, 2, 54). 12 13

Nietzsche kennzeichnet Ödipus als der „Symbol der Wissenschaft" (KSA, NF, 7, 141). In Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen stellt Nietzsche Heraklit als den phischen Höhepunkt des tragischen Zeitalter dar. Vgl. KGW II/4, 270ff.

philoso-

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Matthew H.

Meyer

Obwohl ich die Verwandlung des guten Temperaments zur tragischen Kunst Zarathustras hier nicht detailliert darstellen kann, möchte ich dennoch einen sehr wichtigen Punkt, der die tragische Philosophie aus Menschliches, Allzumenschliches mit der tragischen Kunst im Zarathustra verbindet, hervorheben. Menschliches, Allzumenschliches (1878) ist nur die erste Abhandlung in einer ganzen Reihe von Schriften, deren Abschluss Die Fröhliche Wissenschaft (1882) bildet, die Nietzsches Projekt des freien Geistes konstituiert.15 In diesen Werken vollzieht Nietzsche die gleiche Entwicklung, die bereits in der Geburt der Tragödie vorbereitet worden ist: Treibt man die intellektuelle Redlichkeit und die Leidenschaft der Erkenntnis auf die Spitze, beißt sich der Geist der Wissenschaft selbst in den Schwanz und ermöglicht auf diese Weise eine Wiedergeburt der Kunst. Betrachtet man Menschliches, Allzumenschliches als Teil eines größeren Entwurfes zum „freien Geist", dann findet sich an dessen Ende nicht Der Wanderer (KSA, MA, 2, 362), sondern der letzte Aphorismus der ersten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft, Incipit Tragoedia (KSA, FW, 3, 571).16 Hält man sich diese textliche Verbindung vor Augen, könnte man schließen, dass Nietzsches Wende zur Wissenschaft in Menschliches, Allzumenschliches vornehmlich drei Endzwecke hat: die Auflösung des optimistischen Denkens der Aufklärung, ein Vorgang, der mit dem Aphorismus 340 Der sterbende Sokrates seinen Abschluss findet (KSA, FW, 3, 569); der Ersatz des Optimismus durch die tragische Weisheit der ewigen Wiederkehr in Aphorismus 341 (KSA, FW, 3, 570); eine Erneuerung der tragischen Kunst mit dem Erscheinen Zarathustras im Aphorismus 342 (KSA, FW, 3, 571).

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Wie Stephan Günzel in seinem Kommentar zu meinem Vortrag zeigte: Wenn man Menschliches, Allzumenschliches als Vorläufer Zarathustras ansieht, dann müssen Morgenröthe und Die fröhliche Wissenschaft auch als Vorläufer gelten. Zu diesem Punkt kann ich hier nur auf einen Brief Nietzsches an F. Overbeck vom 7. April 1884 hinweisen: „Beim Durchlesen von .Morgenröthe' und .Fröhlicher Wissenschaft' fand ich übrigens, dass darin fast keine Zeile steht, die nicht als Einleitung, Vorbereitung und Commentar zu genanntem Zarathustra dienen kann. Es ist eine Thatsache, dass ich den Commentar vor dem Text gemacht habe" (KSB 6, 496). Vgl. Marco Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntniss: Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenröthe bis Also Sprach Zarathustra, Berlin 1997. Auf der Rückseite des Buchdeckels der Fröhlichen Wissenschaft (1882): „Mit diesem Buche [FW] kommt jene Reihe von Schriften Friedrich Nietzsches zum Abschluss, deren gemeinsames Ziel ist, ein neues Bild und Ideal des Freigeistes aufzustellen. In diese Reihe gehören: Menschliches, Allzumenschliches. Mit Anhang: Vermischte Meinungen und Sprüche. Der Wanderer und sein Schatten. Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile. Die fröhliche Wissenschaft". Vgl.

KSB 6, 213 an L.Salomé. Die erste Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft von 1882 enthielt nur vier Bücher. 1887 fugte Nietzsche ein fünftes Buch hinzu. Obwohl es die deutliche Verbindung zwischen der Fröhlichen Wissenschaft und Zarathustra schwächt, endet der vorletzte Aphorismus des fünften Buches mit „Die Tragödie beginnt" (KSA, FW, 3, 637) und das Gedicht Sils Maria am Ende des Werkes schildert die Geburt Zarathustras (KSA, FW, 3, 649). „Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: ,die ewige Wiederkehr'" (KSA, NF, 12, 213). Vgl Jörg Salaquarda, „Die Grundconception des Zarathustra", 86.

Menschliches, Allzumenschliches und der musiktreibende Sokrates

13 7

Damit verlasse ich aber bereits den Rahmen dieses Aufsatzes, dessen Ziel es war nachzuweisen, dass Nietzsches sogenannte positivistische Phase die Einsichten der Geburt der Tragödie nicht widerlegt, sondern den Kerngedanken seines ersten Buchs weiterentwickelt. In Menschliches, Allzumenschliches fasst Nietzsche sein eigenes Verständnis von dionysischer Weisheit, befreit von der Metaphysik und der Moral seiner Vorgänger, in Begriffe. Wenn es tatsächlich der Fall ist, dass das wissenschaftliche Konzept von Menschliches, Allzumenschliches zu einer Art von tragischer Kunst im Zarathustra führt, dann sei es erlaubt, diesen Aufsatz mit der folgenden These zu beenden: Nietzsches Werke von Menschliches, Allzumenschliches bis zu Zarathustra lassen sich als die Selbsterfüllung des ursprünglichen Ideals der Geburt der Tragödie auffassen, und das ist der musiktreibende Sokrates.18

Vielen Dank an Martin Liebscher für seine Hilfe bei der Übersetzung. Die englische Fassung dieses wurde im April 2003 auf der Tagung der North American Nietzsche Society präsentiert und wird in den International Studies for Philosophy veröffentlicht.

Vortrages

Pawel Pieniazek

Geschichte, Kultur und Lebenskunst in Menschliches, Allzumenschliches

Als das Buch der Übergangsperiode bringt Menschliches, Allzumenschliches den Ausleger in viele Interpretationsverlegenheiten: Nietzsche schildert solche Ideen, die eben in der Früh- und Spätphase ständiges Objekt seiner Kritik waren, und die er unter dem Schild des Aufklärungsdenkens darstellt. Ich versuche, im Artikel die These zu begründen, dass Menschliches, Allzumenschliches wirklich ein Werk der Krise ist, d. h., dass Nietzsche darin keine ihn befriedigende Schlussfolgerung des philosophischen Problems erreicht, das hier als Krise der Geschichte und Kultur erkannt wird. Die Annahme der Frage der Kulturkrise als zentrale Frage in der Philosophie Nietzsches lässt auch die Kontinuität seines Denkens erkennen.

Von Menschliches, Allzumenschliches

bis

Unzeitgemäße Betrachtungen

bekannt, dass Nietzsche in Unzeitgemäße Betrachtungen eine Kulturkrise festdie ihren Ausdruck in der Spaltung in „Innen und Aussen", in „Form und Inhalt" stellt, findet. Einerseits werden der Tätigkeit des Menschen Werte entzogen; sie wird konventionelles Handeln, das auf egoistische Zwecke des Individuums eingestellt ist. Andererseits verwandelt sich die geistige Innenwelt des Individuums in die Vielheit der chaotischen einheitslosen Gehalte, die „ohne Wirkung auf Leben und Handeln" bleiben. Der Ursprung dieses Zustandes liegt, Nietzsches Meinung nach, in der Verbindung des historischen Sinnes mit dem Ideal der wissenschaftlichen Objektivität.1 Die Vergegenständlichung der Geschichte führt infolge der Vielheit ihrer Kulturgehalte und des Mangels an außerhistorischen Kriterien zu deren Bewertung zum Pluralismus, Relativismus und schließlich zur Atrophie jeder kulturbildenden Aktivität, die den bedingungslosen Glauben an die Bedeutung der ihr zugrundeliegenden Ideale verlangt, also die für die Handlung notwendigen Täuschungen braucht. Indem die „HyperEs ist

Herbert Schnädelbach, „Nietzsches Kritik der historischen

(2000),

177.

Bildung",

in:

Études Germaniques,

2

140

Pawel Pieniqzek

trophie des historischen Sinnes" „die Illusionen zerstört", „entwurzelt [siejdie Zukunft" (KSA, HL, 1, 295); sie legt die Menschentätigkeit lahm. Infolge der Spaltung der ursprünglichen Lebenseinheit entsteht nach Nietzsche die eklektische Kultur, die durch epigonenhafte Aneignung der Vielheit von Kulturgehalten bestimmt ist. Es ist bekannt, dass Nietzsche Gegenmittel gegen diese „historische Krankheit" der Kultur in der Anrufung der überhistorischen Kräfte, d. h. der „aeternisierenden Mächte der Kunst und Religion" entdeckt, die „dem Dasein den Charakter des Ewigen und Gleichbedeutenden" geben (KSA, HL, 1, 330). Indem Nietzsche drei Typen des Umgangs mit der Historie unterscheidet, den antiquarischen, monumentalischen und kritischen (vgl. KSA, HL, 1, 258-270), setzt er sich ein für die kritische und pragmatische Historie, die die Vergangenheit in den Dienst der Zukunft einspannt. Zusammen mit der monumentalen Historie, die durch die Lieferung der Vorbilder von großartigen Taten das Leben zu heroisieren hat, soll sie zur Erschaffung dessen anregen, was „Neues, Mächtiges, Lebenverheissendes und Ursprüngliches ist" (KSA, HL, 1, 306).

An dieser idealistischen Kulturform übt Nietzsche eben in Menschliches, Allzumenschliches Kritik. Er unterzieht die überhistorischen Ideale der aufklärerischen Entmythologisierung und macht den historischen Sinn, neben der Wissenschaft, zum Prinzip des dort geschilderten Kulturbilds. Obwohl wir es mit radikal unterschiedlichen Kulturformen zu tun haben, scheint es jedoch, dass die Ursprünge des Bruchs mit dem idealistischen Begreifen der Kultur selbst in dem Entwurf von Unzeitgemäße Betrachtungen liegen. Denn Nietzsche übt dort nur eine immanente Kritik am Historismus2, die die Überwindung der Kulturkrise innerhalb der Geschichte selbst zum Ziel hat. Nietzsche formuliert: Ihr Ursprung „muss selbst wieder historisch erkannt werden, die Historie muss das Problem der Historie selbst auflösen [...]" (KSA, HL, 1, 306). Es stellt sich heraus, dass die Anrufung der historischen Ideale in Unzeitgemäße Betrachtungen nur die geschichtlich bedingte Erwiderung der tatsächlich erkannten Kulturkrise war.3 Im Übergang zu Menschliches, Allzumenschliches lässt sich die Erfüllung dieser Forderung sehen, die jetzt auf eine pessimistischere Diagnose der epochalen Krise verweist. Nietzsche bemerkt eine immer größere Kluft zwischen „Innen und Aussen" und stellt die Unmöglichkeit ihrer Wiedervereinigung auf dem Grund der überhistorischen Ideale fest. Er bemerkt den Prozess der unaufhaltsamen Destruktion der herkömmlichen Ideale unter dem Einfluss der Entwicklung der Wissenschaft und des historischen Sinnes selbst. Zugleich erkennt er, dass sie nicht nur „unter dem Hammerschlag der historischen Erkentniss" zugrunde gehen, sondern durch die Kräfte, denen sie Widerstand leisten sollten, pervers in den Griff genommen werden. Ihrerseits gehen sie und die ihnen zugrundeliegenden Leidenschaften immer mehr aus der neurotischen Struktur des modernen Bewusstseins hervor. So erfüllen sie eher die therapeutische als die kulturschaffende Funktion. Daher werden die Ideale und Leidenschaften von den Menschenmassen mobilisierenden Staaten, vom Nationalismus und den Sozialbewegungen in 2

Herbert Schnädelbach, „Nietzsches Kritik der historischen Bildung", 178. Man sollte S. Günzel zustimmen, wenn er in seinen Untersuchungen der kritischen Historie den Vorzug gibt, es scheint jedoch, dass dieser Vorzug historisch zu relativieren sei; vgl. S. Günzel, Geophilosophie. Nietzsches philosophische Geographie, Berlin 2001, 119-123, 147-153.

Geschichte, Kultur und Lebenskunst in Menschliches, Allzumenschliches

141

genommen. So verwandeln sie sich in ein Instrument brutaler Ideologien, führen zu Fanatismus und Intoleranz. Es scheint, dass eben diese Beobachtung Nietzsche dazu brachte, die Kunst des Verdachts zu entwickeln und die genealogische Kritik zu schaffen. In ihr vereinigt er schließlich die Kritik des idealistischen Kulturbegriffs mit dem positivistisch begründeten Kritizismus, den er auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie entwickelte, schon seitdem er auf den metaphysischen Entwurf von Die Geburt der Tragödie verzichtet hatte.

Anspruch

Kulturform in Menschliches, Allzumenschliches Das Ziel der Kultur sind nach Nietzsche „freiere Menschen", ihre Emanzipation von sie fesselnden Autoritäten. Nietzsches Hauptproblem beruht auf der Bestimmung historischer Umstände, unter welchen dieses Ziel verwirklicht werden kann. Seiner Zeit zuwider, mit der er den Glauben an die Vernunft teilt, glaubt er nicht an den unaufhaltsamen Fortschritt der Kultur. Er lehnt Determinismus und Geschichtsteleologie ab, obwohl er meint, dass die Zeit des barbarischen Dogmatismus eine notwendige und unabwendbare Periode der Menschenentwicklung war: „überdies können wir in's Alte nicht zurück, wir haben die Schiffe verbrannt; es bleibt nur übrig, tapfer zu sein, mag nun dabei diess oder jenes herauskommen" (KSA, MA I, 2, 206). Nietzsche ist sich völlig des einmaligen historischen Augenblicks bewusst, in dem er lebt und in dem er die Entstehung der Moderne als „Übergangszustand", als Zeit des „Chaos" und der „Unsicherheit" spürt, die die ganz und gar unbekannte und unvorhergesehene Zukunft eröffnet. Die Freiheit des Individuums als Kulturzweck erscheint Nietzsche also nur als eine Chance, ihre Nichtinanspruchnahme droht mit „dem Zurücksinken in Barbarei". In diesem Sinne spricht er von einem „desperaten Fortschritt", der nichts gewährleistet. Von jetzt an wird die Menschengeschichte ein Arbeitsgebiet der „bewußten Cultur" und Historie ein Objekt der Forschung und des Experimentierens. Dem Prinzip des radikalisierten historischen Sinnes gemäß sucht Nietzsche die Heilmittel gegen die Kulturkrise in der Geschichte selbst, eben in der kritischen Aneignung ihres Übermaßes. Indem Nietzsche kritische Historie im Hinblick auf die Bildung „des Menschen der Zukunft" entwickelt, postuliert er, um aktiv die Kulturentwicklung zu beeinflussen, dass man im Rahmen „der geistigen Oekonomie" „die Kräfte der Menschen überhaupt einander abwägen und einsetzen" (KSA, MA I, 2, 45), einige Tendenzen abschwächen, andere verstärken sollte. Solche produktiven Kräfte sieht er in den Wissenschaften, in historischer Erkenntnis, in Kunst und vita contemplativa. Nietzsche analysiert die Dynamik ihrer Einwirkungen, die in Menschliches Allzumenschliches schließlich kein eindeutiges, sondern ein Bild der Kultur voller Spannungen bestimmt. Die Wissenschaft vertritt in Menschliches, Allzumenschliches die Aufklärungstendenz in Nietzsches Denken, in dem er die Antriebskraft der Kulturentwicklung sieht. Aber er lehnt ihre rationalistische und positivistisch-szientistische Begründung ab und schreibt ihr den konsequent historischen Sinn zu. In diesem Geiste radikalisiert er den neukantia-

jeglichen

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Pawel Pieniqzek

Langes4,

nischen Kritizismus wodurch er den Idealismus (Kritizismus) mit dem Positivismus zu vereinbaren sucht.5 Auf diesem Grund entwickelt er die eigenartige Lebenshermeneutik, die die Vorgänge der Enstehung von Kulturerscheinungen wiederherstellen läßt.6 Die von Nietzsche dargestellten Triebe als Ursprung der Menschenaktivität und Erkenntnis haben also immer historisch bestimmte Bedeutung und den Status eines hermeneutischen Prinzips. Die destruktive Funktion der so begriffenen Wissenschaft besteht in der genealogischen Entmystifizierung der religiös-metaphysischen Ideale, die sie von „niedrigen, ja verachteten Stoffen" herleitet. Diese „Chemie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen" (KSA, MA I, 2, 24) führt sie auf die historisch gebildeten Grundbedürfhisse zurück: Selbstsucht, Genusssucht und Herrschsucht. In den uneigennützigsten Moralhandlungen entdeckt er also die nach innen und außen gerichteten Strategien der Herrschaft, die zur Vergeistigung der ursprünglich rohen Triebe und Leidenschaften leiten. Religion und Kunst fallen ihr zum Opfer. Nietzsche geht über den naturalistischen Aufklärungshorizont des Verständnisses der Religion als „Verwirrung der Vernunft" und Kompensation dann hinaus, wenn er z. B. in asketischen Praktiken den Mechanismus der Lustgewinnung erblickt, der durch die Selbstbeherrschung, d. h. durch die Beherrschung der ausgedachten „inneren Feinde" „das Gefühl der Macht" mit sich bringt (vgl. KSA, MA I, 2, 130-140). Ähnlich geht es mit der Kunst, in der Nietzsche den symbolischen Ausdruck der historisch gebildeten Kulturerfahrungen sieht. Die historische Erkenntnis ist in diesem Fall für Nietzsche so wichtig, dass sie in dem Wendepunkt der Kultur die durch die Kunst geschmuggelten, tief verborgenen Rückstände der metapysisch-religiösen Welterfahrung ans Licht bringt, die noch das scheinbar entmythologisierte Leben der Individuen steuern (vgl. KSA, MA I, 2, 144). Die positive Funktion der Wissenschaft sieht Nietzsches darin, dass sie die Aufmerksamkeit des Menschen auf die Erscheinungswelt der „kleinen und allernächsten Dinge" lenkt. Sie bringt dem Menschen bei, gemäß wirklicher Bedürfhisse zu handeln, d. h. gemäß der kühlen Berechnung des Nutzens im Geiste des Aufklärungsegoismus („Verständniss für gemeinsamen Nutzen und Nachtheil", KSA, VM, 2, 465). Indem die historische Erkenntnis die „gründliche Ungerechtigkeit jedes Handelns, jedes Urtheilens" (KSA, 8, 319) enthüllt und das Individuum von Dogmen befreit, entfernt sie „das allzuheftige Wollen", beseitigt das, was Gewalt und Fanatismus erweckt, was demnach die Menschen teilt, nicht einigt. Nietzsche unterscheidet jedoch neben der Wissenschaft als Summe dogmatischer Wahrheiten, die Wissenschaft als „wissenschaftliche Methode", in der er das Wesen „des wissenschaftliches Geistes", d. h. des für die Aufklärung typischen Kritizismus 4

6

Vgl. Jörg Salaquarda, „Nietzsches Kritik der Transzendentalphilospohie", in: Mathias LutzBachmann (Hg.), Über Friedrich Nietzsche. Eine Einßhrung in seine Philosophie, Frankfurt/M., 27-61, besonders 27-46. „Nöthig, den ganzen Positivismus in mich aufzunehmen, und doch noch Träger des Idealismus zu sein" (KSA 8,386). Gianni Vattimo, Introduction à Nietzsche, Bruxelles 1991, 50, vgl. 57.

Geschichte, Kultur und Lebenskunst in Menschliches, Allzumenschliches

143

entdeckt. Die Denkweise nach Methoden bildet „Misstrauen und Vorsicht" aus, erschütGlauben, „dass man die Wahrheit habe", lehrt hypothetisches Denken. Nietzsche ist überzeugt, dass „wenn jene Methoden verloren gingen", könnten „alle Resultate der Wissenschaft [...] ein erneutes Ueberhandnehmen des Aberglaubens und des Unsinns nicht verhindern" (KSA, MA I, 2, 360, vgl.357-363). In Menschliches, Allzumenschliches lässt sich zweifellos die Spannung zwischen der als Summe aller Wahrheiten und der als Methode begriffenen Wissenschaft spüren. Es ist zugleich die Spannung zwischen der dogmatischen und skeptischen Tendenz im Denken Nietzsches. Sie weist auf die Grenzen der Aufklärungsapotheose der Wissenschaft hin, die ihren Höhepunkt in der szientistischen Überzeugung findet, dass der Mensch sein Leben nach rationalen Gründen gestalten könnte. Hinter dieser Spannung sind zwei verschiedene Auffassungen der Kultur verborgen: die dogmatischwissenschaftliche und die skeptisch-pluralistische. Für die erste ist die Historie nur „die Erzählung von den Mitteln, den Leitungs- (und) Verkehrswegen zur Einartigwerdung" (KSA, 8, 564), die sich auf wissenschaftliche Prinzipien stützt. Wenn Nietzsche die entscheidende Frage stellt, ob „die Wissenschaft auch [...] Glauben an ihre Resultate erwecken kann", gibt er eine bejahende Antwort. Er sieht den zukünftigen Zustand voraus, in welchem „die Summe der unantastbaren, dass heisst alle Stürme der Skepsis, alle Zersetzungen überdauernden Wahrheiten so gross werden [...], dass man sich daraufhin entschliesst, ,ewige' Werke zu gründen" (KSA, MA I, 2, 43). Es scheint jedoch, dass Nietzsche in seinen Erwägungen diesen Zustand in einer weiter entfernten Zukunft sieht. Warum? Nietzsche teilt den naiven Glauben der Aufklärung und des Szientismus nicht, dass die Wissenschaft automatisch den Menschen und die Gesellschaft verbessern könne. Ihm werden nämlich die Einschränkungen der Wissenschaft klar und vor allem die Unmöglichkeit auf ihr als absoluter Grundlage die menschliche Existenz aufzubauen. Denn die Wissenschaft ist gegen die Werte gleichgültig und daher nicht imstande, auf den Daseinszweck hinzuweisen und damit jegliche Handlung zu begründen: „Auf die reine Erkenntniss der Dinge läßt sich keine Ethik gründen" (KSA, 8, 312). Das bedeutet, dass sie die Religion und Metaphysik in ihren existentiellen Funktionen nicht ersetzen, die Frage nach dem Sinn der Existenz nicht beantworten kann. Wenn die Wissenschaft verabsolutiert wird, führt sie zur Entzauberung der Welt und dadurch zur Trivialiserung des Lebens Nietzsche nimmt hier die These von Weber vorweg. Daraus entsteht nach Nietzsche die Bedrohung für die Kultur. Die radikale Destruktion des Glaubens an überzeitliche Werte kann zur Verminderung des Wertes des Lebens führen und damit Verzweiflung hervorrufen (vgl. KSA, MA I, 2, 52-55). Sie beraubt das Dasein jenes „letzten endgültigen Fundaments [...] auf welchem sich nunmehr alle Zukunft der Menschheit niederzulassen und anzubauen genötigt sei" (KSA, MA I, 2, 43). Indem die dogmatische Wissenschaft die religiös-metaphysischen Ideale zerstört, zerstört sie nicht nur ,jene grösste Quelle der Lust", „welcher die Menschheit fast ihr gesamtes Menschentum verdankt", sondern sie selbst hört auf, eine Quelle der Lust zu sein sie macht „immer weniger Freude durch sich". In der Konsequenz: „die Illusion, der Irrthum, die Phantastik erkämpfen sich Schritt um Schritt, weil

tert den

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144

sie mit Lust verbunden sind, ihren ehemals behaupteten Boden: der Ruin der Wissenschaften, das Zurücksinken in Barbarei ist die nächste Folge" (KSA, MA I, 2,209). Nietzsche weist zugleich auf eine andere, mögliche Bedrohung seitens der Wissenschaft hin, die mit der völligen Verdrängung der höheren Gefühle aus dem menschlichen Leben durch die instrumentalisierte normativ-kraftlose Wissenschaft verbunden ist. Indem Nietzsche spätere apokalyptische Befürchtungen des 19. und 20. Jahrhunderts voraussieht, schildert er so wie Dostojewski zur selben Zeit in Die Brüder Karamasow in der „Rede des Großinquisitors" eine Anti-Utopie des zukünftigen „volkommenen Staates", der die Ideale des allgemeinen Glücks und „Wohllebens" wissenschaftlich verwirklicht und in dem die der metaphysischen Bedürfhisse beraubten Individuen „zuletzt [...] geschwächt, ja aufgelöst" werden. Angesichts dieser düsteren Aussichten wendet sich Nietzsche „den Zeiten des unvollkommenen Staates, der halbbarbarischen Gesellschaft nach unseren Zeiten" zu (KSA, MA I, 2, 196-198). Nietzsche sieht also gut, dass die mit der Wissenschaft verbundenen Bedrohungen der Dialektik der Aufklärung den Weg bahnen und die Verwirklichung eines freien Menschen stören könnten. Dem Dogmatismus der Wissenschaft stellt er daher ihren kritischen und skeptischen Geist gegenüber, diesen macht er jetzt zum Prinzip der Kultur der Übergangsperiode. Die Gründe für die Einführung der Idee der „geistigen Übergangsclimata" sind zweifellos komplex. Nietzsche spricht über die Trägheit der traditionellen Kultur und zugleich über die Unreife der wissenschaftlichen Kultur in dem Zeitalter, das noch unter dem Einfluss der religiös-metaphysischenTradition bleibt, solange „der Kontrast unseres aufgeregten Ephemeren-Daseins gegen die langathmige Ruhe metaphysischer Zeitalter noch zu stark" ist (KSA, MA I, 2, 43). Jedoch scheint es, dass bei Nietzsche eben die Furcht vor den destruktiven, antihumanistischen Folgen der Wissenschaft, vor dem völligen Zerstören des alten Kulturerbes zu dominieren beginnt, auf das Nietzsche zuweilen seinen Blick nostalgisch wirft. Daher entfaltet Nietzsche die Idee der Kultur, die stufenweise die Auffasung der wissenschaftlichen Kultur verdrängt und gleichzeitig zum Ziel der Zukunft wird. Die Kultur verlangt das Gleichgewicht zwischen Wissenschaft und „metaphysischer Philosophie". Daher „muss eine höhere Kultur dem Menschen ein Doppelgehirn, gleischsam zwei Hirnkammern geben, einmal um Wissenschaft, sodann um NichtWissenschaft zu empfinden [...]". In Metaphysik und Kunst bemerkt Nietzsche „die Kraftquelle" der Leidenschaften und Illusionen, und der „erkennenden Wissenschaft" schreibt er die Funktion „des Regulators" zu, der „den bösartigen und gefährlichen Folgen einer Ueberheizung" vorbeugen sollte (KSA, MA I, 2, 209, 54). Der vom unmittelbaren Druck der religiösen Weltbilder befreiten Kunst schreibt Nietzsche die Fähigkeit der Idealisierung des Daseins zu. Kurzum, die Kunst sollte die Folgen der Destruktion von Religion und Metaphysik neutralisieren, d. h. die für das -

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Handeln unentbehrlichen Illusionen in dem Maße erzeugen, damit diese zu den das Leben emporhebenden, kulturbildenden Aktivitäten anregen. Die von Nietzsche entworfene klassische Kunst hat in Einklang mit dem Wissen nur „eine gewählte Wirk-

lichkeit darzustellen", um „an dem schönen Menschenbilde fortzudichten und jene Fällen auszuwittern, wo mitten in unserer moderner Welt und Wirklichkeit [...] die schöne

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145

grosse Seele noch

möglich ist [...]" (KSA, VM, 2, 426, 419). Die Kunst wird also, nebst der Wissenschaft, das zweite Mittel der Gestaltung des Menschen der Zukunft, welches direkt eben gegen die Einseitigkeit der Wissenschaft gerichtet wird. So gilt sie jetzt nicht mehr als „verkappte Form des Religiösen" (KSA, MA I, 2, 230). Jedoch erweitert Nietzsche immerhin den Umfang der Bedrohungen von Seiten der Wissenschaft, die nun die Kunst selbst gefährden. Nietzsche bemerkt die gefährliche Verbindung der dogmatischen Wissenschaft mit dem Zivilisationsprozess der kapitalistischen Modernisierung und Rationalisierung der gesellschaftlichen Welt. Er weist auf die antihumanistische Folge dieses Prozesses hin: utilitaristische Tendenzen des Zeitalters von Arbeit und Gewinn, Bedeutungszunahme der Maschinenarbeit (vgl. KSA, MA II, 2, 653, 677, 682-683), Überarbeitung, Monotonie der Reize alles dies macht stumpfsinnig, zerstört die Fähigkeit des kritischen und selbstständigen Denkens, wie auch ein uninteressiertes Verhältnis zu höheren Werten. Dieser Aspekt macht zweifellos die Quelle der spürbaren Beunruhigung Nietzsches aus, bald redet Nietzsche: „[...] aus Mangel an Ruhe läuft unsere Civilisation in eine neue Barbarei aus" (KSA, MA I, 2, -

232).

Indem Nietzsche über die der industriellen Gesellschaft eigentümliche „ungeheure Beschleunigung des Lebens" spricht, weist er auf zwei unlösbare Aspekte hin, deren Zusammenhang er als „Widerspruch der Roheit im Handeln und der Überzartheit im Empfinden" bezeichnet (KSA, 8, 497). Wenn das seelenlose Handeln die Fähigkeit des kritischen Denkens zerstört und „gedankenlos" macht, verlangt die neurotische, von Überarbeitung und Monotonie verursachte Müdigkeit die immer stärkeren Reize und Anregungen, was zur „modernsten Beseeltheit und Nerven-Verfeinerung" (KSA, VM, 2, 432) führt. Nach Nietzsche wird „die moderne Krankheit" durch „ein Übermaaß von Erfahrungen", die Gefahr, „sich an den Erfahrungen zu verlieren", bestimmt (KSA, 8, 305). Der moderne Mensch ist also „neuropatisch", „nervös überreizt", leidet unter einem „Übermaas der Anregungen". Dieses neurotische Bewusstsein bereitet den dankbaren Boden für religiös-mystische und metaphysische Bestrebungen, kann eben die irrationalen Illusionen beleben, die zum „Zurücksinken in Barbarei" führen: obgleich man die „Dogmen der Religion und Metaphysik nicht glauben kann", sei man andererseits „durch die Entwickelung der Menschheit so zart, reizbar, leidend geworden [...], um Heil- und Trostmittel der höchsten Art nötig zu haben" (KSA, MA I, 2, 108). In diesen irrationalen Bestrebungen der Zeit sieht Nietzsche die Reaktion auf den durch die „Maschine" symbolisierten despotischen Geist der kapitalistischen „Nüchternheit" und auf die „Hoffnungsarmut", die „den Cultus des Excesses, der Leidenschaft, der Exstase, der schwärzesten herbsten Auflösung der Welt" hervorrufen: „die Maschine weckt Reaktiongelüste gegen den Despotismus die Ausschweifung, den Unsinn, den Rausch. Die Maschine ruft Saturnalien hervor" (KSA, 8,496, 578). Die Kunst selbst wird von diesen kompensatorisch-irrationalen Tendenzen der Zeit erfasst. Sie verwandelt sich in die „Kunst der Erholung, der ergötzlichen Zerstreuung", wendet sich also an die Ermüdeten (KSA, MA II, 2, 623-624), um hysterisch die ermüdeten Sinne zu erregen, die flüchtigen Empfindungen und Erfahrungen zu liefern. -

Pawel Pieniqzek

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Beide entgegengesetzten und sich gegenseitig bedingenden Tendenzen der Zeit ihre zivilisatorische „Hitze" und ihre nervöse Verfeinerung versucht Nietzsche zu neutralisieren, indem er den „Genius der Meditation" einführt, um damit die „europäischamerikanische Rastlosigkeit" mit der „asiatischen Beschaulichkeit" zu verbinden (KSA, 8, 306). Die grundlegende Rolle spricht Nietzsche der historischen Kontemplation Jenem freien, furchtlosen Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen" (KSA, MA I, 2, 55) zu, die die verschiedenen Epochen vergleichbar macht, um damit die Relativität der Werte, ihre Ungerechtigkeit zu zeigen, die Distanz zu eigenen Idealen zu lehren. Dadurch dient sie der selektiven und subjektiven Angleichung des Kulturerbes, um damit neue Existenzmöglichkeiten herauszufinden und sie auf den Grund der gegenwärtigen Kultur zu verpflanzen. Nietzsche entfaltet also das Bild der pluralistischen Kultur, die auf einer historischen Kontemplation und auf einer subjektiv-ästhetischen Aneignung der Tradition beruht. Dieses Kulturbild verbindet er mit dem „Zeitalter der Vergleichung", und dieses letztere identifiziert er als Übergangszeit. Die Modernität erscheint Nietzsche als ein zusammengesetzter Komplex der entgegengesetzten und sich neutralisierenden kulturellen Tendenzen und Einflüsse. Wir haben es mit der Spannung zwischen Zukunftskultur und pluralistischer Kultur zu tun. Die erste beruht auf der dogmatisch verfassten Wissenschaft und ist mit jenem jetzt noch so fernen Zustand der Dinge", „wo den guten Europäern ihre grosse Aufgabe in die Hände fällt: die Leitung und Ueberwachung der gesammten Erdcultur" (KSA, MA II, 2, 592) verbunden. Die zweite setzt das Gleichgewicht zwischen den Wissenschaften und dem kritisch-skeptischen Denken, wie auch Kunst und Kontemplation voraus und ist auf individuelle Freiheit orientiert. Das Schaffen des „zukünftigen Menschen" sollte alle diese Tendenzen in Betracht ziehen. Dies ist die Bedeutung der von Nietzsche herbeigerufenen Lebenskunst und des sie einverleibenden „Freien Geistes", dessen Bild eher mit der Idee des Übergangszustands und der pluralistischen Kultur bei Nietzsche verbunden ist. Denn er wird durch eine skeptische, antidogmatische Haltung gekennzeichnet, die gegen jede Wahrheit misstrauisch ist. Daher überwindet der freie Geist die Einseitigkeit der Wissenschaft und zeigt den „wissenschaftlichen und gelehrten Menschen", die „ihn gern in einen einzelnen Winkel der Wissenschaft bannen möchte", „die Wege und Ziele der Cultur" (KSA, MA I, 2, 231). Auf dem Grund des „geistigen Nomadenthums" und seiner „Charakterlosigkeit" gestaltet er sich selbst gemäß dem Prinzip „wolle ein Selbst, so wirst du ein Selbst" (KSA, VM, 2, 524). In dieser individuellen Selbsterfindung und Selbstentdeckung, auf „dem Weg zu [sich] selbst", „erfindet er neue Möglichkeiten" und wägt die alten ab und prüft sich selbst (KSA, 8, 304, vgl. 566), um die Möglichkeiten der „Vermehrung geistiger Freiheit" herauszufinden und seine Lebensautonomie zu begründen. Dies ist der Sinn der von Nietzsche aus der Antike angenommenen Lebenskunst. Deren synthetisches Vermögen sieht Nietzsche nicht in der Vernunft, sondern in der „guten Gesinnung", die die eigentümliche Sorge der freien Geister um sich selbst im Bereich der „nächsten Dinge" verwirklicht. Eine wesentliche Eigenschaft der „guten Gesinnung" sieht Nietzsche in ihrer Affirmativität, welche „nicht vor Tücken und plötzlichen Ausbrüchen auf der Hut zu sein -

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brauchte und in ihren Auesserungen Nichts von dem knurrenden Tone und der Verbissenheit an sich trüge, jenen bekannten lästigen Eigenschaften alter Hunde und Menschen, die lange an der Kette gelegen haben" (KSA, MA I, 2, 55). Dieser Affirmativität stellt Nietzsche die früheren esprits libres gegenüber, die in dem Zeitalter der Herrschaft dogmatischer Werte lebten. Darauf weist die Nachlass-Notiz („Vorrede") hin, die dem 34. Textstück in Menschliches, Allzumenschliches entspricht und in der, nach der oben erwähnten Beurteilung des Freigeistes, folgender Satz steht: „Der moderne Freigeist ist nicht wie seine Vorfahren aus dem Kampfe geboren, vielmehr aus dem Frieden der Auflösung, in welche er alle geistigen Mächte der alten gebundenen Welt eingegangen sieht" (KSA, 8, 484). Wenn Nietzsche diesen Satz in Menschliches, Allzumenschliches außer Acht lässt, will er vermutlich die Kritik der Vorgänger vermeiden. -

Schlussbemerkungen Es ist jetzt nach dem letzten Sinn von Menschliches, Allzumenschliches zu fragen. Bekanntlich sieht ihn Vattimo in Beziehung auf das ganze Denken Nietzsches im pluralistischen Kulturbild, das seinen postmodernen Entwurf antizipierte. Sicherlich konnte Vattimo an die Idee der Auflösung anknüpfen, indem er die These vertritt, dass, im Unterschied zu den Unzeitgemässen Betrachtungen, es Nietzsche nicht um die kritische Überwindung der Moderne mit Hilfe überhistorischer Werte, also des ihr entgegengesetzten Prinzips geht, weil solch ein kritisches Prinzip immer noch einen metaphysischen Entwurf der Moderne bestätigen würde, sondern um das Radikalisieren ihrer eigenen Tendenzen, d. h. um die kritische Aneignung der Vergangenheit und die Pluralisierung der Wirklichkeit.7 Es scheint jedoch, dass Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches die Idee der pluralen Kultur mit dem „Übergangszustand" verbindet. Vor allem aber wird er sich immer mehr über die wachsende Dominanz der nihilistischen Tendenzen in der ihm zeitgenössischen Kultur klar. Nietzsche verliert eben den Glauben an die Aufklärungspotenz der Wissenschaft als Kraft des kritischen Denkens, an die regulierenden Funktionen der Kunst und der historischen Kontemplation. In Menschliches, Allzumenschliches haben wir es im Grunde genommen mit einer Dekadenzkultur zu tun. Eben in ihrem Schatten entfaltet Nietzsche seine Idee der Lebenskunst. Indem er den Freigeist charakterisiert, spricht er über „einen verfeinerten Heroismus" (KSA, MA I, 2, 291), dessen Hauptprinzip nicht, wie es bei den Griechen der Fall war, aktives Erzielen des Vergnügens sei, sondern Vermeiden der Unannehmlichkeiten: „Die Menschen der alten Welt wussten sich besser zu freuen: wir, uns weniger zu betrüben [...], während wir den Ursachen des Leidens zu Leibe gehen und im Ganzen lieber prophylaktisch wirken" (KSA, VM, 2, 462). Nietzsche macht sich klar, dass die kritische Aneignung der Tradition ein Symptom des Nihilismus ist, eher ein Anzeichen der Schwäche als des kulturbildenden Willens, des Setzens neuer Werte. -

G Vattimo, 1990.

„Nihilismus und Postmoderne in Philosophie", in:

-

Das Ende der

Moderne, Stuttgart

Dieser Pessimismus Nietzsches ist gut unter dem Gesichtspunkt seiner weiteren Entwicklung zu erspüren. Indem Nietzsche den Begriff des Nihilismus radikalisiert, ihn auf die ganze Kultur des Abendlandes überträgt und seine Genealogie der ihr zugrundeliegenden Ideale vertieft, findet er damit das Prinzip der Überwindung den Willen zur Macht. Eben im Hinblick darauf unterzieht Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse einen Entwurf von Menschliches, Allzumenschliches der Kritik. Die kulturelle Konsumtion der Werte und der ohnmächtige Kontemplativismus des „objektiven Menschen" in der modernen Kultur setzt er dem „Karneval" und dem „Wechsel der Stil-Maskeraden" gleich. Dem historischen Sinn, den Idealen von der pluralistischen Kultur und von der kritischen Aneignung setzt er die Idee von der vornehmen Kultur und dem „guten Geschmacke" (KSA, JGB, 5, 207-208, 223-225) entgegen. Aber Nietzsche lehnt nicht die Idee der Pluralismus ab, sondern er versucht, sie mit dem Prinzip des Willens zur Macht zu verbinden, um auf diese Weise die Aporie zu überwinden, die er an den Grundlagen der modernen Kultur entdeckt und deren Feststellen eine wirkliche Triebkraft seines Denkens ist. Der Zusammenbruch der absoluten Werte und Dogmen, der Pluralismus und Relativismus der Werte und Überzeugungen ist einerseits eine notwendige Voraussetzung des Entstehens und Sich-Bildens des Individuums in der Kultur, andererseits aber führt das fortschreitende Relativieren der Werte zum nihilistischen Entwerten dieser Werte, zur Atrophie des kulturschaffenden Willens. Auf diese Weise versucht Nietzsche, die Idee des Pluralismus mit der absoluten, wert- und kulturschaffenden Aktivität des Menschen zu vereinbaren und die kritische Aneignung der Tradition dem gesetzgebenden Setzen von Werten unterzuordnen. -

Oliver Immel

„Wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge werden" Nietzsches Hinwendung zur „psychologischen Beobachtung" und deren Bedeutung für einen interkulturellen philosophischen Diskurs

Geht es um Nietzsches Verhältnis zu kulturphilosophischen.Fragestellungen, so scheint sich seine Beschäftigung mit Kultur auf den ersten Blick in einer erbitterten Kulturkritik zu erschöpfen, die mittels einer „psychologischen Beobachtung" (vgl. KSA, MA I, 2, 57) eine genealogische Analyse der abendländischen Kultur auf dem „Secirtisch" der Wissenschaft betreibt. Auch wenn Menschliches, Allzumenschliches, das als Ausgangspunkt meiner Betrachtung dient, wohl als dasjenige Buch gelten kann, das der Kulturkritik Nietzsches methodologisch durch die „psychologische Beobachtung" in Kombination mit dem Postulat des „historischen Philosophirens" (vgl. KSA, MA I, 2, 24) eine neue Wende hin zur Genealogie gegeben hat, fördert seine Form der Beobachtung, die über weite Strecken eine Analyse psychologischer Aspekte der Lebensführung und Denkungsarten darstellt, einige soziokulturelle Mechanismen zutage, die auch für einen interkulturellen philosophischen Diskurs positive Einsichten ermöglichen. Daher sollen im Folgenden einige Positionen, die Nietzsche durch die „psychologische Beobachtung" gewinnt, im Hinblick auf ihre Relevanz für die Herausbildung einer interkulturellen Philosophie diskutiert werden. Wenngleich Nietzsche an zahlreichen Stellen in Menschliches, Allzumenschliches von „Cultur" spricht, kann doch bei ihm von einer definitorisch eindeutigen Kennzeichnung dieses Begriffes nicht die Rede sein. So wird Kultur sowohl als Maßstab individueller Entwicklung im Sinne „höherer und niederer Cultur" verstanden, als auch als Bezeichnung für „verschiedene geistige Klimata" verwendet, „von denen ein jedes diesem oder jenem Organismus vornehmlich schädlich oder heilsam ist" (KSA, WS, 2, 634). Überhaupt scheint es Nietzsche weniger um eine definitorische Klärung des Begriffs der Kultur als vielmehr um die Aufweisung ihrer Funktionsweisen und Erhaltangsmechanismen zu

gehen.

Grundsätzlich geht Nietzsche in seinen Analysen von einem funktionalen Verständnis kulturellen Denkens aus. So bestimmt sich ihm zufolge der Wert, bzw. die Funktion bestimmter kultureller Phänomene und Mechanismen primär durch ihre Nützlichkeit, deren Maßstab auf kultureller Ebene die Sicherung, Erhaltung und Stabilisierung einer Gemeinschaft darstellt (vgl. KSA, MA I, 2, 95). Letztere trägt wiederum dem Grundtrieb des Menschen nach Selbsterhaltung Rechnung. Eine elementare und zugleich provokante

Oliver Immel

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These Nietzsches im Hinblick auf die menschliche Kultur besteht darin, dass Kultur seinem Verständnis nach grundsätzlich auf funktionalen Irrtümern beruht: „Der Irrthum hat den Menschen so tief, zart, erfinderisch gemacht, eine solche Blüthe wie Religionen und Künste, herauszutreiben" (KSA, MA I, 2, 50). Da die menschliche Natur in erster Linie auf der Selbsterhaltung beruht, diese aber wiederum im Sinne eines Machtkampfes als Vorbote des freilich aktivischer verstandenen „Willens zur Macht" verstanden werden kann, wandelt der Mensch durch seine Fähigkeiten zur Abstraktion und Objektivation die physische in psychische Gewalt um. So ist die Moral für Nietzsche letztlich nichts als eine Notlüge im Dienste des Nutzens der „Schlechtweggekommenen", welche ihm zufolge durch die Erfindung des freien Willens zum „Sklavenaufstand der Moral" und damit zur Machtergreifung der „Heerdenmenschen" geführt hat. Interessant ist nun, dass Nietzsche, der die Entwicklung des Menschen vom Naturzum Kulturwesen als einziges Mittel der Zügelung der „Bestie in uns" (vgl. KSA, MA I, 2, 64) ansieht, sich gleichzeitig als erbittertster Gegner der konformistischen, normativen Züge menschlicher Kultur geriet! Allerdings bedeutet das mitnichten, dass Nietzsche aller Moral den Garaus machen möchte. Er tritt vielmehr gegen die Sollensmoral an, um ihr eine neue, eine höhere Moral und Kultur entgegenzusetzen. Diese soll den Menschen von den Ketten des Gemeinschaftsnutzens entbinden und ihn zu seiner eigenen Lebensgestaltung aufrufen: „Man hat bisher als das eigentliche Kennzeichen der moralischen Handlung das Unpersönliche

angesehen; und es

ist

nachgewiesen, dass zu Anfang die Rücksicht auf den allgemeinen Nutman alle unpersönlichen Handlungen lobte und auszeichnete. Sollte nicht eine bedeutende Umwandlung [...] bevorstehen, jetzt wo immer besser eingesehen wird, dass gerade in der möglichst persönlichen Rücksicht auch der Nutzen für das Allgemeine am grössten ist: so dass gerade das streng persönliche Handeln dem jetzlichen Begriff der Moralität (als einer allgemeinen Nützlichkeit) entspricht? Aus sich eine ganze Person machen und in Allem, was man thut, deren höchstes Wohl in's Auge fassen das bringt weiter, als jene mitleidigen Regungen und Handlungen zu Gunsten Anderer." (KSA, MA I, 2, 95) Die Geschichte hat das Abendland demzufolge an einen Punkt geführt, an dem das Herrschaftsverhältnis zwischen Individual- und Gemeinschaftsnutzen umgekehrt werden muss, um die Nützlichkeitsrelation zu erhalten. Der Geist der Aufklärung, dem Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches huldigt, wird durch die als anachronistisch empfundene Sollensmoral unterjocht und behindert. Die Gebote und Verbote der Moral haben für Nietzsche, wie alle kulturellen Wahrheiten, einen zeitlich begrenzten Nützlichkeitszen es

war, derentwillen

-

anspruch, sind nur adäquat für „Zeitalter der unterworfenen Vernunft" (vgl. KSA, MA II, 2, 575). Im Zeitalter der Aufklärung jedoch, so Nietzsche, würden die Verbote, so sie ohne Gründe, also ohne eine „wissenschaftliche Überprüfung", hingestellt werden, „eher eine schädliche als eine nützliche Wirkung haben" (vgl. KSA, MA I, 2, 48). Um jedoch einschätzen zu können, in welcher Weise das Verhältnis zwischen Individuum und Ge-

sellschaft nach Nietzsche neu formuliert werden muss, um die Nützlichkeitsrelation sinnvoll auszubalancieren, ist zunächst ein Blick auf zwei elementare Bestandteile menschlicher Kultur zu richten, welche die geistige Grundlage für die Weltorientierung des „gebundenen Geistes" bilden, nämlich auf Gewohnheit und Wahrheit.



Wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge werden

"

151

Das Gewohnte ist nach Nietzsches Verständnis das „Bewährte", das Lust verschafft, Unlust abwehrt und darüber hinaus kein Nachdenken erfordert (vgl. KSA, MA I, 2, 94). Aus der Existenz nützlicher Gewohnheiten aber wird allzu oft ein Fehlschluss gezogen, der die Gewohnheit zu einer allgemeingültigen Wahrheit hypostasiert, wenn sie nämlich als die einzige Möglichkeit wahrgenommen wird, sich überhaupt wohl zu fühlen. Über diesen Fehlschluss gelangt der menschliche Intellekt nach Nietzsche zum Gedanken absoluter Wahrheiten. Die Rolle der Wahrheit im Gefüge menschlicher Kultur hat Nietzsche wohl am eindrucksvollsten in seinem in Menschliches, Allzumenschliches als „geheimgehaltene Schrift" (vgl. KSA, MA II, 2, 370) erwähnten Aufsatz Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne analysiert. Aufbauend auf der Metaphernbildung, die Nietzsche als „Fundamentaltrieb" des Menschen ansieht, schafft dieser sich mithilfe seines Intellekts ein System von Abstraktionen, mit denen er Wahrheit konstituiert, ohne sich allerdings der Perspektivität dieser Weltinterpretationen bewusst zu werden. „Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wahrheiten ganz und gar nicht entsprechen" (KGW III/2, WL, 373). So schafft sich der Mensch durch die Metaphernbildung eine zweite Welt neben der Natur, eine Symbol- oder Bedeutangswelt, die fortan als Kultur gekennzeichnet werden kann. Zusammengenommen mit dem Trieb des Menschen, „aus Noth und Langeweile", wie Nietzsche sagt, „gesellschaftlich und heerdenweise" existieren zu wollen (KGW III/2, WL, 371), eröffnet das Abstraktionsvermögen die Möglichkeit zu einem sozialen Friedensschluss zwischen den Weltinterpretationen, indem „eine gleichmässig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden [wird]" (ebd.). Somit sind Wahrheiten für Nietzsche aus Nützlichkeitsgesichtspunkten der Weltorientierung und Vergesellschaftung entstandene Gebilde, die letztlich in seinen Augen nichts als „Illusionen" sind, „von denen man vergessen hat, dass sie welche sind" (KGW III/2, WL, 374f). Die durch die Wahrheit erfolgte künstliche Homogenisierung von individuellen Interpretationen ist somit paradigmatisch für die menschliche Kultur. Durch ihren Allgemeingültigkeitsanspruch wird mit dem Konstrukt der Wahrheit ein bestimmter Zugang zum Sein als die einzig adäquate Weise der Erschließung des Seienden deklariert und dadurch ein Reduktionismus in Gang gesetzt, der für Nietzsche sowohl eine Entfremdung des Menschen von seiner eigenen Weltinterpretation als auch eine Entfremdung von der Geltung seines eigenen Lebensvollzugs bedeutet. Sind nun die einstigen Wahrheiten als Lügen entlarvt, hat sich die Moral als verheimlichtes Nützlichkeitskalkül im Dienste der Erhaltung und Stabilisierung der Gesellschaft herausgestellt und sind alle Werte relativ zu Zeit und Kultur, so stehen wir in Bejahung dieser Schlüsse vor dem gähnenden Abgrund des Nihilismus. Allerdings verwendet Nietzsche den Begriff des Nihilismus für zwei einander entgegengesetzte Auffassungen. Er ist für ihn nicht nur das Verlustiggehen allgemeinverbindlicher Werte und Wahrheiten. Vielmehr ist auch das abendländische Denken seit Piaton, ja das metaphysische Denken überhaupt, für Nietzsche wesentlich nihilistisch, freilich in einem anderen Sinne: nihilistisch nämlich insofern, als die Metaphysik die Wahrheit und den Wert der diesseitigen Welt zugunsten einer jenseitigen aufgibt, ja das eigentliche Sein, das für Nietzsche im

152

Oliver Immel

Lebendigen liegt, verleugnet

und als

nichtig erachtet1.

Der Nihilismus wird also

von

Nietzsche einmal aus der Perspektive der Metaphysiker und Moralprediger betrachtet, die im Wegfall der Allgemeinverbindlichkeit ihrer Wahrheiten den Nihilismus sehen, und ein andermal aus der entgegengesetzten, nämlich seiner eigenen Perspektive heraus, die erst in der Destruktion der Metaphysik die Überwindung der Lebensverneinung zu sehen

vermag und den Nihilismus als Wegbrechen tradierter Wertungen und moralischer GänUnd so ist es kaum verwunderlich, dass Nietzsche in seinem gelung als Chance vielleicht extremsten Gedanken der Lebensbejahung, der „ewigen Wiederkehr des Gleichen", den Gipfelpunkt des Nihilismus sieht: „Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das ,Sinnlose') ewig!" (KSA, NF, 12, 213) Die a-teleologische Struktur des Werdens, das Nietzsche als ein Chaos ohne Sinn und Zweck versteht, kann für den Erkennenden in keiner anderen Weise bejaht werden als durch den „amor fati". So schlägt der Nihilismus auf seiner höchsten Gipfellage um in die Konstitution eines neuen Maßstabes eigentlicher Wahrheit, nämlich in die Betonung der individuellen Lebensführung. Auf anthropologischer Ebene ist angesichts des Wegbrechens tradierter Werte durch den Nihilismus ein neuer Menschentypus gefragt, der dem gebundenen Geist des „Zeitalters der unterworfenen Vernunft" als Vertreter der neuen experimentellen und auf das Leben selbst gerichteten „neuen Aufklärung" gegenübersteht. Gegenüber dem „gebundenen Geist", der dem Nihilismus ratlos gegenüber steht, begreift der „freie Geist" ihn als Öffnung des denkerischen Horizonts. Er will nicht in einer Welt der unbefragten Illusionen fortleben, sondern die Augen dafür offen halten, was in der Welt eigentlich vorgeht. So ist der freie Geist für Nietzsche der Mensch der „wahren Wissenschaft", der „psychologischen Beobachtung", der Mensch, der keine feste Heimat in den Häusern der gebrannten Illusionen hat, sondern als Wanderer auf Erden wandelt. Seine Wanderschaft eröffnet ihm dabei „die Wege zu vielen und entgegengesetzten Denkweisen" (KSA, MA I, 2, 18) und gibt ihm das „gefährliche" Vorrecht, auf den Versuch hin zu leben und sich dem Abenteuer anbieten zu dürfen. Dem freien Geist ruft Nietzsche seine eigenen Wahlsprüche zu: „Du sollst Herr über dich werden, Herr auch über die eigenen Tugenden [...] Du sollst das Perspektivische in jeder Werthschätzung begreifen lernen" (KSA, MA I, 2, 20). Er ist der Mensch, der den Nihilismus im Wissen um die „völlige Unverantwortlichkeit und Unschuld Jedermannes" (vgl. KSA, MA II, 2, 588) zu ertragen versteht und lernt, in Übereinstimmung mit der Notwendigkeit das Fatum zu bejahen und so der Unschuld des Werdens Rechnung zu tragen. Somit ist der freie Geist nicht mehr der lebensverneinende Mensch, der metaphysischen Konstrukten hinterherläuft, sondern derjenige, der sich im Bewusstsein der Unschuld des Werdens den „nächsten Dingen" in der Geisteshaltung des „amor fati" zuwendet.3

begreift2.

Vgl. Margot Fleischer, 1993, 10.

"



Entzauberung des Obermenschen,

Darmstadt

dazu: Mihailo Djuric, „Nihilismus als ewige Wiederkehr des Gleichen", in: Mihailo Djuric und Josef Simon (Hg.), Zur Aktualität Nietzsches, Würzburg 1984, Bd. II, 61-86. Freilich ohne dass Nietzsche dabei das Fatum als ausschließlich externe, das Leben von außen bestimmende Macht verstanden hätte. Vgl. dazu Nietzsches Auseinandersetzung mit dem „Türkenfatalismus" in KSA, MA II, 2, 580.

Vgl.

1

Der Sinn der Erde und die



Wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge werden

"

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Demgegenüber steht der gebundene Geist, der überwunden werden soll, für eine „zurückgebliebene Kultur" und zeichnet sich nach Nietzsche vor allem durch seinen Glauben an allgemeinverbindliche Wahrheiten aus. Er reproduziert unreflektiert Sitten und Gewohnheiten und festigt durch seinen Konformismus die jeweiligen kulturellen Strukturen. Seine ganze Lebenskraft speist sich aus Überzeugungen, die für Nietzsche gleichbedeutend sind mit dem Glauben, sich im Besitze unbedingter Wahrheit zu wähnen. Da Nietzsche jedoch absolute Wahrheiten als Lügen empfindet, ist der gebundene Geist für ihn auf dem Holzweg: „Wer nicht durch verschiedene Überzeugungen hindurchgegangen ist, sondern in dem Glauben hängen bleibt, in dessen Netz er sich zuerst verfieng, ist unter allen Umständen eben wegen dieser Unwandelbarkeit ein Vertreter zurückgebliebener Culturen; [...] ein Unbedenklicher, der zu allen Mitteln greift, seine Meinung durchzusetzen, weil er gar nicht begreifen kann, dass es andere Meinungen geben müsse." (KSA, MA I, 2, 358)

maßgeblich der Kampf der Überzeugungen, der, wie Nietzsche konstatiert, die gewaltthätig macht" (vgl. KSA, MA I, 2, 356), so stellt die bornierte Geisteshaltung des gebundenen Geistes, der in Zeiten des Nihilismus seine Überzeugungen mit Zähnen und Klauen als absolute Wahrheiten verteidigt, eine ständige Gefahr für Ist

es

Geschichte „so

das Zusammenleben der Kulturen dar. Nietzsches Verurteilung der Geisteshaltang des gebundenen Geistes schlägt sich auch in seiner Einschätzung der Philosophiegeschichte nieder, die er maßgeblich für dessen primitive und von den Belangen der Lebensführung entfremdete Haltung verantwortlich macht. Insbesondere in Der Wanderer und sein Schatten rechnet Nietzsche mit der Verleugnung der „nächsten Dinge" durch Religion, Philosophie und Wissenschaft zu Gunsten der „ersten und letzten Dinge" ab, welche in seinen Augen durch Piatons Zwei-WeltenTheorie initiiert wurde und durch das Christentum fester Bestandteil abendländischen Geisteslebens geworden ist. Die auf deren Prämissen aufbauende Metaphysik hat nach Nietzsche unter anderem dazu geführt, dass die abendländische Philosophie allzu lange den Irrtümern eines Glaubens an die Lösung der Frage nach den „ersten und letzten Dingen" auf den Leim gegangen ist und sich von den „nächsten Dingen" abgewandt hat. Die beiden in Menschliches, Allzumenschliches beklagten „Erbfehler der Philosophen" (KSA, MA I, 2, 24/MA II, 2, 382) stehen direkt in diesem Kontext. Die Vorwürfe des „Mangels an historischem Sinn" und dem Missverstehen der philosophischen Thesen der Moralisten, die Nietzsche den Philosophen vorhält, zielen beide auf die Tendenz der Philosophen, alle zeitlich gebundenen oder experimentell gemeinten philosophischen Aussagen als „ewige Wahrheiten" auszulegen und deren historische Kontexte auszublenden. Demnach ist eine über ihre eigenen Prämissen, und somit über ihre eigenen Erbfehler aufgeklärte Philosophie nach Nietzsche gefordert, sich der psychologischen Beobachtung zuzuwenden und sich nicht mehr der Erbauung abstrakter, lebensferner Gehäuse aus vermeintlichen Wahrheiten zu widmen. Die Begründung für das Postulat, „wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge zu werden", liefert Nietzsche ebenfalls in Der Wanderer und sein Schatten. Darin konstatiert er, dass es eine „erheuchelte Missachtang aller Dinge gebe, welche tatsächlich die Menschen am wichtigsten nähmen", nämlich der nächsten Dinge. Als Folge ergebe sich daraus ein primitiver und unreflektierter Umgang mit lebenspraktischen Fragen, aus deren Vernach-

154

Oliver Immel

lässigung, so Nietzsche, „sich fast alle leiblichen und seelischen Gebrechen der Einzelnen ableiten: nicht zu wissen, was uns förderlich, was uns schädlich ist, in der Einrichtung der Lebensweise, Vertheilung des Tages, Zeit und Auswahl des Verkehres, in Beruf und Musse, Befehlen und Gehorchen, Natur- und Kunstempfinden, Essen, Schlafen und Nachdenken; im Kleinsten und Alltäglichsten" (KSA, WS, 2, 542). Gerade diese Bereiche fordert Nietzsche wieder als Gegenstände philosophischer Reflexion ein. Angesichts der a-teleologischen Struktur des Weltgeschehens hält er es für sinnlos, sich die Fragen nach den ersten und letzten Dingen, wie etwa die Fragen „Wozu der Mensch?" oder „Welches Loos hat er nach dem Tode?" zu stellen. Einzig der Lebensvollzug selbst kann dem Menschen Sinn vermitteln, kein Glaube an abstrakte Illusionen. So konstatiert Nietzsche:

„Wir haben diese Sicherheiten um die alleräussersten Horizonte gar nicht nöthig, um ein volles und tüchtiges Menschenthum zu leben, ebenso wenig als die Ameise sie nöthig hat, um eine gute Ameise zu sein. [...] Alles Andere muss uns näher stehen, als Das, was man uns bisher als das Wichtigste vorgepredigt hat. [...] Wir müssen wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge werden und nicht

so verächtlich wie bisher über sie den hinblicken." (KSA, WS, 2, 551)

hinweg nach Wolken und Nachtunhol-

Angesichts der schonungslosen Enthüllungen Nietzsches stellt sich die Frage, was dem Menschen an Orientierung übrig bleibt, wenn Wahrheit, Moral, Gott und Metaphysik als Nützlichkeitskalküle zur Behauptung des Willens zur Macht entlarvt und relativiert sind und damit einige der wesentlichsten Charakteristika und Konstitutiva menschlicher Kultur. Lässt sich Nietzsche mit dieser a-kulturellen Position überhaupt kulturphilosophisch fruchtbar machen? Ich meine, ja. Gerade die Forderung, aus den Verabsolutierungen der eigenen kulturellen Deutungsmuster herauszutreten und gegenüber jeder Sollensmoral und jedem absoluten Wahrheitsanspruch auf der Hut zu sein, vermag eine reflektierte Position der Relativität des eigenen kulturellen Geltungsanspruchs zu verschaffen. Dar-

über hinaus scheint mir der Nietzsche'sche Nihilismus als kulturrelativistische Position, zusammen mit seiner Akzentuierung des individuellen Lebensvollzugs zu einer philosophischen Grundeinstellung führen zu können, die den Raum für einen interkulturellen Dialog überhaupt erst zu eröffnen vermag. So müssen sich in einem interkulturellen philosophischen Diskurs, der sich an Nietzsches kulturphilosophischen Gedanken orientiert, die Gesprächspartner zunächst über die funktionalen und durch Gewöhnung kulturell verfestigten Prämissen ihres eigenen Denkens bewusst werden. Folglich gilt es, eine denkerische Flexibilität zu entwickeln, die nicht nur einen Abstand zu den eigenen, durch Sozialisation und Enkulturation verinnerlichten kulturellen Wertesystemen und Wahrheitskriterien fordert, sondern in strenger Anlehnung an Nietzsches Kritik auch die Möglichkeit einer Distanznahme von den Allgemeingültigkeitsansprüchen abstrakter Denkmodelle überhaupt. Insbesondere dieser letzte Schluss stellt für die abendländische Philosophie die vielleicht größte Hürde dar, fordert sie doch ein Abstandnehmen noch von dem, was bisher als ihr einzig unbestrittenes Territorium galt, der Konstruktion logisch kohärenter abstrakter Gedankensysteme. Die geforderte Neuorientierung der Philosophie soll sich nach Nietzsches Dafürhalten vielmehr in einer Hinwendung zu den Fragen des konkreten Lebensvollzugs ausdrücken. So setzt ein an Nietzsches Gedanken orientierter interkultureller philosophischer Diskurs zunächst die oben skizzierte philosophische Geisteshaltung voraus, die an den Typus des freien Geistes angelehnt ist. Als



Wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge werden

"

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inhaltliche Themenbereiche eines interkulturellen philosophischen Diskurses nach Nietzsche können in meinen Augen primär die funktionalen Gesichtspunkte menschlicher Kultur fokussiert werden, was allerdings voraussetzt, dass es dasjenige gibt, was Nietzsche als Prämisse seiner Kulturanalyse setzt, nämlich den Grundtrieb des Willens zur Macht, der sich durch den menschlichen Intellekt in verschiedene kulturelle Tätigkeiten aufspaltet. Auch wenn der Wille zur Macht ein recht einfaches Erklärungsmodell für die Entstehung kultureller Mechanismen darstellt, der sich der Reduktion verdächtig macht, handelt es sich doch in jedem Falle um ein Erklärungsmodell, dem in vielen Fällen eine recht große Plausibilität eignet. Sieht man zudem alle kulturellen Schöpfungen unter dem Aspekt des Willens zur Macht, so kann auch eine Einschätzung der individuellen Kräfte und Anliegen erfolgen, die zu einem intra- und möglicherweise auch zu einem interkulturellen Kräfteausgleich hinführen kann. Obgleich Nietzsches kultarphilosophische Ausführungen die Ableitung einer Grundeinstellung zur Ermöglichung eines interkulturellen philosophischen Diskurses in Gestalt des freien Geistes erlaubten, fehlen ihm, wie auch Volker Gerhardt betont, „die Mittel, das proklamierte postnihilistische Zeitalter mit praktischen Schritten einzuleiten"5. Die beispiellose Destruktion kultureller Fundamente, die Nietzsche leistet, um das Individuum von den Fesseln des Gemeinschaftsnutzens zu befreien, hinterlässt Trümmerhaufen, die es fraglich erscheinen lassen, ob auf ihnen jemals eine neue, „höhere Kultur" aufgebaut werden kann. Gemäß der von Nietzsche geforderten Reformierung des traditionellen Gefüges zwischen Individual- und Gemeinschaftsnutzen, die den Individualnutzen an erste Stelle setzt, um so in einer veränderten Zeit auch den Gemeinnutzen auf ein sicheres Fundament zu stellen, hat Nietzsche mit der Idee einer „höheren Cultur" vor allem eine individualethische Konzeption im Blick. Nietzsches „höhere Kultur" ist aufgrund der Betonung der Lebensführung und Wiederaufnahme antiker Tugenden primär als eine Kultur des Individuums, eine Individualkultar zu verstehen, nicht als eine, die auf die Belange eines Kollektivs zugeschnitten wäre. Gleichwohl hat auch dieses individualethische Postulat der Herausbildung einer „höheren Cultur" kollektivkulturelle Folgen, da diese nach Nietzsche eine Art Kastenwesen zur Voraussetzung hat, das den „grösseren Menschen" auch den größeren Spielraum einräumen soll: „Eine höhere Cultur kann allein dort entstehen, wo es zwei unterschiedliche Kasten der Gesellschaft giebt: die der Arbeitenden und die der Müssigen, zu wahrer Musse Befähigten" (KSA, MA I, 2, 286). Die Sklavenmoral muss daher nach Nietzsche destruiert werden, damit in Rückwendung auf die „nächsten Dinge" neue, lebensbejahende Werte geschaffen werden können. Allerdings bleibt über dem Primat der Individualethik, die eine Lebenskunstphilosophie propagiert, die sozialethische Komponente in Nietzsches Denken weitgehend auf der Strecke. Eine neue Moral der „Schlechtweggekommenen", die auf deren Wertsetzungen basiert, ist für ihn ebenso wenig akzeptabel wie ein Staatswesen, das sich dem Wohl der breiten Masse in Nivellierung und damit in Aufopferung individueller

Größe verschreibt. 4

5

Wenngleich der „Wille zur Macht" in Menschliches, Allzumenschliches noch nicht explizit begrifflich gefasst ist, deutet er sich doch in diesem Werk bereits an, wie die Analyse der funktionalen Aspekte des „Irrthums der Willensfreiheit" zeigt (vgl. KSA, MA I, 2, 62ff). Volker Gerhardt, Friedrich Nietzsche, München 1999, 15.

Oliver Immel

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Abschließend ist die Frage zu stellen, welche Bedeutung den erläuterten kulturphilosophischen Positionen Nietzsches im Kontext des immer stärkeren Zusammenwachsens der Welt bei gleichzeitig steigendem Kulturprovinzialismus zukommt. Nietzsche selbst hat dieses Zusammenwachsen bereits heraufkommen sehen und als Aufgabe begriffen, indem er sein Zeitalter als ein „Zeitalter der Vergleichung" verstand, das seine Bedeutung dadurch erlange, „dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können" (KSA, MA I, 2, 44). Aus dieser neuen geschichtlichen Konstellation und aus dem Umstand des Todes Gottes leitet

Nietzsche ab, dass die Menschen sich nun selber, wie er sagt, „ökumenische, die ganze Erde umspannende Ziele" setzen mussten. Als Grundlage für die Herausarbeitung solcher Ziele sieht Nietzsche dabei „eine alle bisherigen Grade übersteigende Kenntnis der Bedingungen der Kultur als wissenschaftlicher Maassstab für ökumenische Ziele" (KSA, MA I, 2, 46). Darin, so Nietzsche, bestehe die „ungeheure Aufgabe der grossen Geister des nächsten Jahrhunderts" (ebd.). Worin ist nun aber Nietzsches eigener Beitrag zu einer Neuorientierung der Kulturphilosophie zu sehen? Als vielleicht entscheidendster Gedanke eines Neubeginns der abendländischen Philosophie nach der Destruktion des metaphysischen Denkens erscheint mir Nietzsches Postulat, „wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge zu werden". Während die Installation neuer Wahrheitskonstrukte und Abstraktionen, die fortan nicht mehr nur einzelne Kulturen, sondern die Welt als eine Kultur umspannen sollen, sich als frommer Wunsch derjenigen herauskristallisiert, die unterschwellig fremde kulturelle Werte und Gebräuche nicht zu tolerieren vermögen, bietet die Nähe zu den nächsten Dingen durch ihre Reduktion auf die allen Menschen gemeinsamen psychischen und physischen Belange der Lebensführung einen Ansatz, der trotz seiner vermeintlichen Banalität und diese ist meiner Ansicht nach tatsächlich nur eine vermeintliche als Ausgangspunkt einer interkulturellen Philosophie dienen kann, von dem aus auf geistiger Ebene nicht nach letzten Wahrheiten, sondern nach einem fairen Kräfte- und Geltungsausgleich von Denkungsarten und Lebensformen gesucht wird. Allerdings bedeutet die Hinwendung zum Primat des individuellen Lebensvollzugs durch Nietzsche keine völlige Ablehnung von Kultur, geschweige denn der Pluralität der Kulturen. Es sind primär die ungerechtfertigten und gefährlichen Geltungsansprüche des „gebundenen Geistes", an denen sich Nietzsche stößt. Für den freien Geist indes, der sich frei in der Pluralität der Kulturen bewegen kann, stellt die Vielfalt der Kulturen als eine Pluralität „geistiger Klimata" ein Reservón von möglichen Lebensformen dar, das es zu erhalten gilt6. Gibt es darüber hinaus einen Zusammenhang zwischen „Mikrokosmos und Makrokosmos der Cultur" und macht der Mensch tatsächlich, wie Nietzsche behauptet, „die besten Entdeckungen über die Cultur [...] in sich selbst" (KSA, MA I, 2, 227), wenn er ein Regulativ für einander widerstreitende Mächte innerhalb seines Selbst findet, dann ist umgekehrt auch die Erkenntnis der strukturellen und funktionalen Mechanismen menschlicher Kultur letztlich ein Weg, auf dem der Mensch nur dann zu einer „höheren Kollektivkultur" finden kann, wenn er sich der Herausbildung einer Individualkultur widmet und wieder „ein guter Nachbar der nächsten Dinge" wird. -

-

6

Vgl. Margot Fleischer, Der



Sinn der Erde ", 18.

Oliver Kloss

Politische Ökonomie in kosmoästhetischer Absicht Nietzsches

Bedürfnis-Konzept in Menschliches, Allzumenschliches

„Aufklärung in allen Ständen besteht eigentlich in richtigen Begriffen von unsern wesentlichen Bedürfhissen Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) "

1. Voltaire überbietendes historisches

Philosophieren

Menschliches, Allzumenschliches mit dem Untertitel „Ein Buch für freie Geister" ist Voltaire zum 100. Todestag, zum 30. Mai 1878, gewidmet. Wenngleich Nietzsche in der Vorrede der Neuauflage von Menschliches, Allzumenschliches 1886 das Werk als Zeugnis einer „grossen Loslösung" (KSA, MA I, Vorrede, 2, 15) charakterisiert, lassen sich auch Fortführungen bekannter Motive und Posi-

tionen finden. Bereits in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben hatte Nietzsche seine Gegenoption zu Schopenhauer im Titel zweifach zum Ausdruck gebracht. Der Pessimismus Schopenhauers ist ahistorisch gegenwartskritische Bezüge dienen ihm nur zu aktueller Illustration dafür, dass die Welt der Existenz nicht wert sei. Lebensbedingungen zu bessern erübrigte sich angesichts des im Leben schlechthin untilgbaren Leidens ganz. Die der Gnosis verwandte Erlösungslehre motiviert zu individueller Askese, die letztlich auf das Verebben des Lebens der Gattung Mensch zielt. Nietzsche hingegen hat in der II. Unzeitgemäßen Betrachtung eine Dreiheit von Arten der Historie in ihrer jeweiligen Funktion für das Leben herausgearbeitet: Wer ist der Historie bedürftig? Wem erweist sich welche Art Historie lebensdienlich? Der Mensch, der Großes schaffen will, kann „monumentale Historie in voller ikonischer Wahrhaftigkeit" (KSA, HL 2, 1, 261) gebrauchen, „wer dagegen im gewohnten und Altverehrten ,

1

Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, hg. v. Franz H. Mautner, Frankfurt/M. 1984, 370 [J 231]. Vgl. KSA, MA I, 2, 46f. Nietzsche würdigt Schopenhauer als „Reaction" wider die „historische Betrachtungsart, welche die Zeit der Aufklärung mit sich brachte", die dazu verhelfe, „dem Christenthum und seinen asiatischen Verwandten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen", woraus sich der „Fortschritt", Aufklärung „in einem so wesentlichen Puñete" zu korrigieren, gewinnen lässt. -

158

Oliver Kloss

verharren mag, pflegt das Vergangene als antiquarischer Historiker; und nur der, dem eine gegenwärtige Noth die Brust beklemmt und der um jeden Preis die Last von sich abwerfen will, hat ein Bedürfnis zur kritischen, das heisst richtenden und verurtheilenden Historie" (KSA, HL 2, 1, 264). Letzterer bedienen sich „gefährliche und gefährdete Menschen und Zeiten. Denn da wir nun einmal die Resultate früherer Geschlechter sind, sind wir auch die Resultate ihrer Verirrungen, Leidenschaften und Irrthümer, ja Verbrechen; es ist nicht möglich sich ganz von dieser Kette zu lösen." (KSA, HL 3, 1,

270)

Nietzsche spricht sich gegen den Rückzug in tatenlose „Innerlichkeit" aus und gegen historisches „Wissen, das im Uebermaasse ohne Hunger, ja wider das Bedürfnis aufgenommen wird" (KSA 1, 272) und bar des Wirkens bleibt. Die „natürliche Beziehung" zur Historie „- hervorgerufen durch Hunger, reguliert durch den Grad des Bedürfnisses, in Schranken gehalten durch die innewohnende plastische Kraft -" (KSA, HL 4, 1, 271), gilt Nietzsche allein dann hergestellt, wenn Historie in die Zwecke der sich selbst begehrenden Macht des Lebens gespannt bleibt. Der Geschichtsteleologie abhold bekennt er: „das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern nur in ihren höchsten Exemplaren." Der Geschichte kommt mithin die Aufgabe zu, „zur Erzeugung des Grossen Anlass zu geben und Kräfte zu verleihen" (KSA, HL 9, 1,317). Eine neue Form von Philosophie in diesem Sinne hatte Voltaire begründet. Er gab ihr 1764 den Namen, als er forderte: „écrire l'historié en philosophe", worunter zu verstehen war, mit dem Anspruch der Aufklärung möge Vergangenheit betrachtet werden. Galt zuvor die Entwicklung und Ausbreitung des Christentums als Wertungskriterium einer Weltgeschichte, die als Ineinander von Transzendenz und Immanenz verstanden worden war, wählte Voltaire die „nützlichen Wahrheiten", die zivilisatorischen und kulturellen Leistungen, zum Kriterium seiner universalhistorischen Bestandsaufnahme, die auch asiatische Hochkulturen einbezog. Der methodische Skeptiker lieferte keine geschlossene Theorie. Eingedenk des Edikts von Nantes, 1598 von König Heimich IV. unterzeichnet und 1685 von Ludwig XIV. widerrufen, konnte der L'homme aux Calas auch dem Glauben an zielgerichteten geschichtlichen Fortschritt nicht anheimfallen; er sah den „wahren Philosophen" dadurch bestimmt, dass er das Denken zum Zwecke der

Veränderung nutze. „Den Schlüssel

zum Verständnis der Leistung wie der Fehlleistung des Historikers Voltaire liefert ein Satz der Nouvelles considérations sur l'Histoire, die er zuerst 1744, à la suite de Mérope, veröffentlichte. Er fordert dort von der Geschichtsschreibung ,einen fühlbaren und dauernden Nutzen', als ihn das bloße Aufzählen der Ereignisse gewähre; er schlägt Untersuchungen vor über den Zuwachs oder die Minderung der Volkskraft durch einen Krieg, über Steigen und Sinken der Bevölkerungsziffer usw. An solchen Problemen, sagt er, hafte seine Wißbegier: quiconque veut lire l'Histoire en citoyen et en philosophe."1

Wenn Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches die „historische Philosophie [...], welche gar nicht mehr getrennt von der Naturwissenschaft zu denken ist", als die „allerjüngste aller philosophischen Methoden" (KSA, MA I, 1,2, 23) einführt, bringt er „ei3

Victor Klemperer, Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert. Bd. I: Das Jahrhundert Voltaires, Berlin 1954, 77.

Politische

Ökonomie in kosmoästhetischer Absicht

159

der grössten Befreier des Geistes zur rechten Stunde eine persönliche (KSA 2, 10) dar. Doch Nietzsche weist auch auf die Differenz zu ihm hin:

nem

Huldigung"

„Voltaire war für die Erfindung der Ehe und der Kirche von Herzen dem Himmel dankbar: als welcher damit so gut für unsere Aufheiterung gesorgt habe. Aber er und seine Zeit, und vor ihm das sechzehnte Jahrhundert, haben diese Themen zu Ende gespottet; [...]. Jetzt fragt man nach den Ursachen; es ist das Zeitalter des Ernstes. [...] Je gründlicher Jemand das Leben versteht, desto weniger wird er spotten, nur dass er zuletzt vielleicht noch über die ,Gründlichkeit seines Verstehens' spottet." (KSA, MA I, 2, 201f.) In Aphorismus 20 unterscheidet Nietzsche die „Stufe der Befreiung" von abergläubischen und religiösen Begriffen und Ängsten von jener Stufe ihrer Überwindung, die eine „rückläufige Bewegung" erfordere, um „die historische Berechtigung, ebenso die psychologische in solchen Vorstellungen [zu] begreifen" und zu erkennen, „wie die

grösste Förderung der Menschheit von dorther gekommen sei und wie

man sich, ohne eine solche rückläufige Bewegung, der besten Ergebnisse der bisherigen Menschheit berauben würde" (KSA, MA 1,2,4If.). Nietzsche genügt sich nicht mit dem „negativen Ziel", tradierte Überzeugungen und Glaubensinhalte als Irrtümer, Täuschungen oder Illusionen zu entlarven. Die kritische Strategie aus der „Perspektive der Lebensmöglichkeiten und -bedürfhisse erkennender und handelnder Subjekte" zielt auf Überwindung. Diese ist erst vollständig geleistet, wenn die „skeptizistische Dekonstruktion" mittels „genealogischer Rekonstruktion"4 um die Einsicht in das Bedingungsgefüge ergänzt worden ist, aus welchem sich die existentielle Funktion der Gewohnheit, Wertschätzung oder Annahme rechtfertigen lässt. In der Morgenröthe bezeichnet Nietzsche „Die historische Widerlegung als die endgültige" und stellt folgende methodologische Behauptung auf:

„Ehemals suchte man zu beweisen, dass es keinen Gott gebe, heute zeigt man, wie der Glaube, dass es einen Gott gebe, entstehen konnte und wodurch dieser Glaube seine Schwere und -

Wichtigkeit erhalten hat: dadurch wird ein Gegenbeweis, dass es keinen Gott gebe, überflüssig. Wenn man ehemals die vorgebrachten .Beweise vom Dasein Gottes' widerlegt hatte,

blieb immer noch der Zweifel, ob nicht noch bessere Beweise aufzufinden seien, als die eben widerlegten: damals verstanden die Atheisten sich nicht darauf, reinen Tisch zu machen." -

(KSA, M, 3, 86f.)

logisch haben Wahrheit oder Falschheit einer These nichts mit ihrem Entstehen zu stieg Geschichte zur Leitwissenschaft für Theologie, Jurisprudenz und Nationalökonomie auf. Auch die Logik wird von Nietzsche als historisch gewordenes Phänomen, als das vom Werden und der Psyche abstrahierende formale Denken, begriffen. Daher mag der logische Einwand Genealogen nicht schrecken, dennoch ist er argumentationsstrategisch von Belang. Der voraussetzungsärmsten schlüssigen Erklärung kommt im rationalem Wettbewerb der Argumente die größte Akzeptanz zu. Schleichert gibt zu bedenken: Rein

tan. Im 19. Jh.

4

Zu dieser Unterscheidung siehe: Britta Glatzeder, Perspektiven frühe Metaphysikkritik, Berlin 2000, 32f.

der Wünschbarkeit. Nietzsches

Oliver Kloss

160

„Um Nietzsche zu rechtfertigen, müßte man [...] das folgende Prinzip benützen: Eine These, deren Entstehung historisch erklärbar ist, braucht man nicht ernst zu nehmen. Als universales Prin-

zip läßt sich das bestimmt nicht aufrecht erhalten. [...] Das historisch-genetische Argument ist um so gewichtiger, je dubioser die These ist, deren Entstehungsgeschichte es darlegt."5 Gesetzt, Nietzsche spräche dem historisch-genetischen Argument universelle Gültig-

doch nicht der Ableitung, dass alles nicht mehr ernst zu nehmen sei, was genetisch rekonstruiert worden ist. Nicht nur das Denken und die logische Analyse bleiben im Meinungsstreit auch dann relevant, wenn man um die Geschichte des Denkens und der Logik weiß, aber der Glaube erübrigt sich, dass der Logik eine Wirklichkeit entspräche, dass Begriffe Realien sein könnten etc. Die historische Widerlegung ist im Sinne Nietzsches als endgültige nur dann zu verstehen, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: Wenn sich erstens erweisen lässt, dass ein soziales Gebilde (Religion, Dogma, Gewohnheit, Institution, Moral, Kultur etc.) innerhalb eines funktionalen Bedingungsgefüges entstanden ist, worin es für den Überlebenswillen eines Akteurs (Individuen wie Fraktionen von Individuen), für die Gestaltungskraft einer Kultur etc. angesichts einer Not oder eines Mangels funktional gewesen, und sich zweitens zeigen lässt, dass es unter günstigeren Bedingungen (angesichts der Sättigung von Mängeln, veränderter politischer Strukturen, des Zuwachses von Erkenntnis etc.) psychisch dysfiinktional geworden ist, so kann die oder der Einzelne ohne Entbehrung die Abhängigkeit von ihm lösen, gleichsam eine Null aus der psychophysischen Rechnung streichen. Als Paradigma kann die Replik des Naturforschers Laplace auf die Frage Napoleons gelten, welche Bedeutung Gott für seine Theorie besitze. Laplace hatte diese Hypothese nicht mehr nötig. Dergestalt erfolgt Loslösung, Entbindung aus Ruck-Bindung, aus Re-

keit zu,

so

ligio.

Nietzsche teilt die Überzeugung Voltaires: „Nicht die Ungleichheit ist das wirkliche Übel, sondern die Abhängigkeit. Es hat sehr wenig zu bedeuten, daß irgend jemand sich mit ,Seine Hoheit' und ein anderer mit ,Seine Heiligkeit' anreden läßt; aber es ist hart, dem einen oder dem anderen dienen zu müssen." Der „freie Wille" gilt auch Voltaire als eine „sinnlose Wortverbindung": „Wille ist Wollen, und Freiheit ist Können."7 Auf die Frage „Wenn Freiheit nur Handlungsvermögen ist, was ist dann dieses Handlungsvermögen?" antwortet Voltaire: „Es ergibt sich aus der Anlage und dem jeweiligen Zustand unserer Organe." Diese Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit kehren bei Nietzsche verbunden mit dem umstrittenen Begriff „Züchtung" wieder. Doch auch in dieser Hinsicht überbietet er Voltaire. Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass Nietzsche bereits in Menschliches, Allzumenschliches auch die ökonomischen und politischen Bedingungen der Möglichkeit für Unabhängigkeit in den Blick nimmt. Die genealogische Methode scheidet die notwendig-funktionalen von den hemmenden dysfunktionalen Bedürfhissen, dient durch Überwindung von Abhängigkeiten der Hubert Schleichert, Wie

8

man

mit Fundamentalisten

diskutiert, ohne den Verstand

zu

Anleitung zum subversiven Denken, München 1999, 43. Voltaire, Abbé Beichtkind Cartesianer. Philosophisches Wörterbuch, Leipzig 1984, 171. Ebd., 175 (Vgl. z. B. Nietzsche, KSA, MA I, 2, 40 und KSA, WS 9-12, 2, 545-548). Ebd., 176.

verlieren.

161

Politische Ökonomie in kosmoästhetischer Absicht bleibt in die Zwecke der sich selbst die Freiheit zum Experiment. Lebens eröffnet des gespannt,

Gestaltung von Zukunft. Sie

begehrenden

Macht

2. Wertschätzung des Hedonismus „Allem Glauben zu Grunde liegt die Empfindung des Angenehmen oder Schmerzhaften in Be-

zug auf das empfindende Subject. Eine neue dritte Empfindung als Resultat zweier vorangegangenen einzelnen Empfindungen ist das Unheil in seiner niedrigsten Form. Uns organische Wesen interessirt ursprünglich Nichts an jedem Dinge, als sein Verhältnis zu uns in Bezug auf Lust und Schmerz." -

Zwischen diesen bewussten Zuständen, erklärt Nietzsche, blieben die Veränderungen des interesselos Nichtempfundenen unbemerkt, worauf sich der Glaube gründe, „dass es gleiche Dinge giebt (erst die durch höchste Wissenschaft ausgebildete Erfahrung widerspricht diesem Satz)" (KSA, MA I, 2, 39). Nietzsche setzt die Leibhaftigkeit des Menschen als die sicherste Gewissheit voraus. Darin folgt er Schopenhauer: „Leib ist die Bedingung der Erkenntnis meines Willens."9 Die Genealogie der Metaphysik rekonstruiert Nietzsche von der Empfindung her. Er gibt der Hoffnung Ausdruck, wenn die immanente Genealogie von Religion, Kunst und Moral geleistet sei, werde man das Interesse an Metaphysik nicht mehr nötig haben: „Mit voller Ruhe wird man die Frage, wie unser Weltbild so stark sich von dem erschlossenen Wesen der Welt unterscheiden könne, der Physiologie und der Entwickelungsgeschichte der Organismen und Begriffe überlassen." (KSA, MA I, 2, 30)10 Die „höhere Physiologie", welche sich der Natarwahrheiten bediene, werde sagen, „daß mit dem Organischen auch das Künstlerische beginnt" (NF Sommer 1872-Anfang 1873, 19 [50], KSA, NF, 1, 436). Damit deutet sich an, dass Physiologie zum Mittel der Kritik und zum Wahrheitskriterium11 aufsteigt, mithin Philosophie als Metatheorie der Naturwissenschaften zum Zwecke der Lebensgestaltung zu treiben sei.12 Daher verwundert nicht, wenn Nietzsche13 sich in Menschliches, Allzumenschliches mehrfach auf Epikur bezieht und rät, ,gute Nachbarn der nächsten Dinge" (KSA, 10

"

12

Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Zürich 1988, Bd. I, 151. Vgl. KSA 7, 572 sowie KSA 14, 547; Nietzsche kennt Überwegs Rezeption: Thaddaeus Anselm Rixner/Thaddaeus Siber (Hg.), Leben und Lehrmeinung berühmter Physiker am Ende des XVI und am Anfange des XVII. Jahrhunderts, als Beyträge zur Geschichte der Physiologie in engerer und weiterer Bedeutung. III. Heft, Sulzbach o. J. Vgl. Bettina Wahrig-Schmidt, „Irgendwie, jedenfalls physiologisch", in: Nietzsche-Studien, Bd. 17 (1988), New York/Berlin, 434-464; Heinrich Schipperges, Am Leitfaden des Leibes. Zur Anthropologik und Therapeutik Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1975, bes. 200ff. Bereits die II. Unzeitgemäße Betrachtung schloss der „Erstlinge und Vorbilder aller kommenden Cultur", der Griechen, gedenkend mit einem „Gleichnis für jeden Einzelnen von uns: er muss das Chaos in sich organisieren, dadurch dass er sich auf seine ächten Bedürfhisse zurückbesinnt. [...] So entschleiert sich ihm der griechische Begriff der Cultur [...] als einer neuen und verbesserten Physis [...]" (KSA, HL 10, 1, 333). Nietzsche kannte Epicúrea aus Diogenes Laertius, als Philologe wahrscheinlich noch weitere. Useners Fragmentsammlung der antiken Darstellungen und doxographischen Berichte erschien erst -

-

13

Oliver Kloss

162

werden. Epikurs Philosophie ist die ars vitae, der die Aufgabe eignet, Hindernisse vom Pfade zur Eudaimonia zu räumen. Unter Physiologie versteht Epikur allgemein Naturerklärung, die in den Dienst der Philosophie gestellt ist. Sie soll die Furcht vor Naturerscheinungen, vor dem Tode und vor Schmerzen beseitigen sowie die Grenzen der Begierden und der Schmerzen lehren.15 Des Fleisches Lust verlangt nach Ewigkeit, doch nur Denken, das sich der Physiologia bedient und Aufschluss über Ziel und Grenze der Fleischeslust gewinnt, kann in des Lebens Endlichkeit die Furcht im Blick auf die Ewigkeit überwinden, das Luststreben von Dauer auf Qualität lenken und zu ruhiger Heiterkeit16 verhelfen.17 Hêdonê, die höhere Lust, gilt als das der Begründung nicht bedürftige Gute per se. Nietzsches Kritik an der Oberflächlichkeit des Utilitarismus seiner Zeit ist vor dem Hintergrund des hedonistischen Kalküls zu verstehen:

WS, 16, 2, 551)

zu

„[...] von ihr [der Lust] aus beginnen wir mit dem Wählen und Meiden, und auf sie greifen wir zurück, indem wir mit der Empfindung als Maßstab jedes Gut beurteilen. Und eben weil sie das erste und angeborene Gut ist, darum wählen wir auch nicht jede Lust, sondern es kommt vor, daß wir über viele Lustempfindungen hinweggehen, wenn sich für uns aus ihnen ein Übermaß an Lästigem ergibt. Wir ziehen auch viele Schmerzen Lustempfindungen vor, wenn uns auf das lange dauernde Ertragen der Schmerzen eine größere Lust nachfolgt. Jede Lust also, da sie eine uns angemessene Natur hat, ist ein Gut, aber nicht jede ist zu wählen; wie auch jeder Schmerz ein Übel ist, aber nicht jeder muß natürlicherweise immer zu fliehen sein. Durch wechselseitiges Abmessen und durch die Beachtung des Zuträglichen und Abträglichen vermag man dies alles zu beurteilen."18 Das Kalkül muss nicht auf bloßen Summennutzen zielen. Weit eher kommt Hêdonê im Konzept die Stellung dessen zu, was im heutigen Präferenzutilitarismus durch den indischen Nobelpreisträger Amartya Sen als „Metapräferenz" eingeführt worden ist. Dabei gewinnt die abwägende Vernunft große Bedeutung, denn vor der Rangordnung von Präferenzen geraten auch strategische Erwägungen zugunsten der Bedingungen für die Metapräferenz in den Blick. Die Distinktionen des hedonistischen Lust- und des Bedürfniskonzeptes verdienen im Hinblick auf Nietzsche Beachtung. Als „Lust in Bewegung", kinetische Lust, wird die Empfindung bezeichnet, die nachlassenden Schmerz oder die Befriedigung eines Bedürfnisses begleitet, z. B. wenn Hunger gestillt, Durst gelöscht wird. Ist ein Schmerz erloschen, ein Bedürfnis befriedigt, mithin die kinetische Lust gesättigt, tritt der katadem Gnomologium Vaticanum wurden erst danach entdeckt. Einen Überblick der klassischen Philologie zur Zeit Nietzsches" (1-14) sowie der Äußerungen „Epikur-Bild Nietzsches über Epikur unter Berücksichtigung der Philologica bietet: Georg Barkuras, Nietzsche und Epikur, Inaugural-Dissertation, Kiel 1962. Z. B. KSA, WS 7, 2, 543f. Siehe Georgios Manolidis, Die Rolle der Physiologie in der Philosophie Epikurs, Frankfurt/M. 1987, bes. 108ff. Vgl. ebd., 111, Fußnote 2. Vgl. Epikur, Von der Überwindung der Furcht, München 1991, 62. Ebd., 103 bzw. D. L. X 129f, Brief an Menoikeus (Vgl. Georgios Manolidis, Die Rolle der Physio-

1887, die Texte

zum

14 15

16 17 18

logie, 137).

aus

Politische Ökonomie in kosmoästhetischer Absicht

163

stematische Zustand ein. Als statische oder „katastematische" Lust gilt die Freiheit von leiblichem Schmerze und seelischer Unruhe. Dieser katastematische Zustand kann nicht mehr gesteigert, sondern nur variiert werden.19 Epikur lehnt den Überfluss jenseits der Sättigung bei den natürlichen physischen Bedürfhissen ab und schätzt die Genügsamkeit, denn sie sichert Unabhängigkeit. Für die Bedürfhisse des Meinens, die aus dem Prestige- und Geltungsstreben, dem Überlegenheits- oder Machtstreben erwachsen und im zwischenmenschlichen Vergleich den Rang bestimmen, bliebe Sättigung hingegen ausgeschlossen, denn dieser Wettkampf ist potentiell endlos.21 Der epikureische Weise nimmt an ihm vornehmlich teil, um seine Lehre zu verbreiten. Das hedonistische Kalkül schließt die politische Tätigkeit nicht aus, doch im Streben nach heiterer Ruhe bleibt auch sie nur Mittel zum Zweck. Die Analyse der Bedürfhisse unterscheidet natürliche von nichtigen, bei den natürlichen wiederum notwendige von nichtnotwendigen. Notwendige Bedürfhisse werden in solche, die zur Glückseligkeit, die zum störungsfreien Funktionieren des Leibes und die drittens zum schieren Leben unerlässlich sind, geschieden. Epikurs Ethik erhebt die Forderung, der Vernünftige möge nur den natürlichen Bedürfhissen folgen, für deren Befriedigung die Natur alles bereithalte. Nur durch unbefriedigte notwendige natürliche Bedürfhisse werden Schmerz und Unlust erzeugt. Das Leiden an anderen unbefriedigten Bedürfhissen wird als bloße Einbildung und leere Meinung gewertet.22 Dabei bleibt eingestanden, dass Lust und Schmerz der Seele größer sein können als die des Leibes, da mit dem Leibe nur das anwesende Gegenwärtige, mit der Seele hingegen auch Vergangenes und Zukünftiges empfunden wird. Der Weise aber zieht der Vorstellung eines fürchterlichen Übels diejenige einer Lust vor. Alle geistigen Freuden werden als verfeinerte körperliche verstanden.24 Die Bildung wird am Maß des Lustgewinns gemessen und die Tugenden gelten als Mittel zum Zwecke des lustvollen Lebens. Die Epikureer, die laut Voltaire „keine Religion hatten" 5, kannten Götter durchaus, doch als Inbilder der Weisen und über die Welt erhaben. Nietzsches „Übermenschen" ähnlich lässt sich über sie eher sagen, was sie nicht sind als wie sie vorzustellen seien. Nietzsche erklärt dem „Nachleben" des „metaphysischen Bedürfnisses" den Krieg, entlarvt sein Entstehen, seinen fiktionalen Charakter, lehrt es gleichwohl als Atavismus verstehen. Ganz epikureisch wird empfohlen, diesem „angezüchteten", d. h. ins Un1 0

Vgl. Ep de electione bei Diogenes Laertius, X 138: „katastêmatikê hêdonê" Epikur bedient sich des Gleichnisses vom „Überfließen": „Den Menschen nützt der naturwidrige Reichtum ebensowenig wie das Nachfüllen von Wasser in ein schon gefülltes Gefäß. Denn offenbar fließt beides nach außen wieder ab." Epikur, Von der Überwindung a. a. 0., 23. Vgl. Epikur, Von der Überwindung a. a. 0., 61: „Der naturgemäße Reichtum ist begrenzt und leicht zu beschaffen, der durch eitles Meinen erstrebte läuft dagegen ins Grenzenlose aus." Vgl. ebd., 102f, D. L. X 127-128. Vgl. ebd., 151f. Vgl. Georg Barkuras, Nietzsche und Epikur, a. a. 0., 10. ...,

21

-

...,

22 23 24 25 26

Voltaire, Abbé Beichtkind Cartesianer, a. a. 0., 43. Z. B.: KSA, MA I, 26, 2, 47; KSA, MA I, 37, 2, 61; KSA, MA I, 110, 2, 110 und KSA, MA I, 153, 2, 145.

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164

bewusste einverleibten, „Bedürfnis" wenigstens mit „Gleichgültigkeit gegen Glauben und angebliches Wissen" (KSA, WS 16, 2, 550) zu begegnen. Dem Überfluss sei die stolze Unabhängigkeit vorzuziehen: „Seine notwendigen Bedürfhisse soviel wie möglich selber befriedigen, wenn auch unvollkommen, das ist die Richtung auf Freiheit von Geist und Person." Nicht im Sinne der romantisch-konservativen Gesellschaftslehre oder gar des zivilisationsfeindlichen Rousseau entrât Nietzsche der Bedürfhissteigerung, sondern allein, um Abhängigkeit nicht zu steigern: „Viele, auch überflüssige Bedürfnisse sich befriedigen lassen, und so vollkommen als möglich, erzieht zur Unfreiheit." (KSA, WS, 2, 693) Nietzsche bleibt dabei bewusst, dass selbst die Bescheidung auf die notwendigen physischen Bedürfhisse die Vielen im Europa seiner Zeit nicht von der abhängigen Arbeit befreite: -

„Das Bedürfnis zwingt

uns zur Arbeit, mit deren Ertrage das Bedürfnis gestillt wird; das imErwachen der Bedürfhisse gewöhnt uns an die Arbeit. In den Pausen aber, in welchen die Bedürfhisse gestillt sind und gleichsam schlafen, überfallt uns die Langeweile. Was ist diese? Es ist die Gewöhnung an Arbeit überhaupt, welche sich jetzt als neues, hinzukommendes Bedürfnis geltend macht; sie wird um so stärker sein, je stärker Jemand gewöhnt ist zu arbeiten, vielleicht sogar je stärker Jemand an Bedürfhissen gelitten hat. Um der Langeweile zu entgehen, arbeitet der Mensch entweder über das Maß seiner sonstigen Bedürfnisse hinaus oder er erfindet das Spiel, das heißt die Arbeit, welche kein anderes Bedürfnis stillen soll, als das nach Arbeit überhaupt." (KSA, MA I, 2, 346) mer neue

Während

Epikur über den Kepos der Weisen hinaus kein sozialphilosophisches Projekt

kennt, überbietet ihn Nietzsche in dieser Richtung. Er erkennt die Notwendigkeit von Institutionen, damit das Mittelalter bezüglich kollektiver Güter keine „scheinbare Überlegenheit" behalte: Die Kirche als das „universelle Institut entsprach erkünstelten, auf Fictionen beruhenden Bedürfnissen, welche es, wo sie sonst nicht vorhanden waren, erst erzeugen mußte (Bedürfnis der Erlösung); die neuen Institute helfen wirklichen Nothzuständen ab; und die Zeit kommt, wo Institute entstehen, um den gemeinsamen wahren Bedürfhissen aller Menschen zu dienen und das phantastische Urbild, die katholische Kirche, in Schatten und Vergessenheit zu stellen" (KSA, MA I, 2, 311). In den Werken nach Menschliches, Allzumenschliches wandelt sich Nietzsches Ein-

schätzung Epikurs, doch dem Bedürfnis-Konzept bleibt Nietzsche verbunden. Wenn Manfred Frank behauptet, Nietzsches Orientierung an „physiologischen Zwängen" sei „ebenso wenig vernünftig hinterfragbar" wie Heideggers „Schickungen / Lichtungen eines unverfügbaren Seins"27, so bleibt sie unverstanden. Gewiss kann er die „Schickungen" nach Belieben dahingelichtet lassen, doch sich z. B. gegen den „physiologischen Zwang" zum Trinken zu kehren, zeitigte sein Sein binnen weniger Tage mit Gewissheit zum Tode. Auch Kant wertete das Leben als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis und wer hätte ihm Unvernunft nachgesagt? Frank gibt ein philosophisches Rätsel auf: Wie müsste die Frage gestellt sein, die physiologische Zwänge vernünftig hinterfragte? Die „physiologischen Zwänge" sind die biologischen Stoffwechselerfordernisse, die zu unterbinden nicht weniger als das Leben kostet. -

Manfred Frank, „Geschweife und Geschwafel", in: Die Zeit, Nr. 39, 23. 09. 1999, 33.

Politische Ökonomie in kosmoästhetischer Absicht

3. Die

165

subjektive Wertlehre vom Grenznutzen

Im Jahre 1870, da Garibaldis Truppen in Rom den Kirchenstaat auflösten, gelangte in Europa die Grenznutzen-Schule in der Ökonomie zum Durchbruch. Die Wertlehre nicht nur der klassischen englischen, auch der marxistischen Ökonomie, war objektivistisch. Die subjektivistische Wertlehre hingegen verlieh der unvollständig ausgebildeten klassischen konkurrenzwirtschaftlichen Theorie ein Fundament, wurde später zum Ausgangspunkt der Wohlfahrtsökonomie wie im 20. Jh. der Spieltheorie. Zugleich der Günstlinge und Priester einer rentenabhängigen Staatsklasse28 höhnend wie die Existenz von Armut im Kapitalismus als dysfunktional anprangernd, stellte Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches fast ironisch Grenznutzen-Überlegungen an:

ganz Armer richtet sich gewöhnlich durch Vornehmheit der Gesinnung zu Grunde, er kommt nicht vorwärts und erwirbt Nichts [...]- Dabei ist aber zu bedenken, daß der Reichtum fast die gleichen Wirkungen ausübt, wenn Einer dreihundert Thaler oder dreissigtausend jährlich verbrauchen darf: es giebt nachher keine wesentliche Progression der begünstigenden Umstände mehr. Aber weniger zu haben, als Knabe zu betteln und sich zu erniedrigen, ist furchtbar: obwohl für Solche, welche ihr Glück im Glänze der Höfe, in der Unterordnung unter Mächtige und Einflussreiche suchen oder welche Kirchenhäupter werden wollen, es der rechte Ausgangspunct sein mag (- Es lehrt, gebückt sich in die Höhlengänge der Gunst einzuschleichen.)" (KSA, MA I, 2, 313)

„ein

Ausgangspunkt der Grenznutzentheorie ist der Vorgang der individuellen Bedürfnisbefriedigung. Bereits Aristoteles unterschied den subjektiven Wert eines Gutes nach seinem „ihm eigentümlichen Gebrauch"29 vom objektiven Tauschwert gegen Güteräquivalente und er schrieb den griechischen Gesetzgebern zu, sie hätten die Bedeutung der Eigentamsnivellierung für die politische Gesellschaft bereits erkannt30, doch in der Ökonomie blieb die subjektive Wertschätzung lange unberücksichtigt. Die Grenznut-

zentheorie vereint Gebrauchs- mit Tauschwert. Ferdinando Galiani (1728-1787) kommt das Entdeckerrecht zu. Er trat im 18. Jh. bereits mit einer subjektiven Wertlehre und recht ausgereiften Vorstellungen zum sogenannten „Wertparadoxon" auf. Dieses Paradoxon gründet sich auf die im Rahmen des objektivistischen Nutzenkonzeptes schwer zu beantwortende Frage, weshalb das lebensnotwendige Wasser keinen Preis hat, bzw. sein Preis weit unter dem des nicht lebenswichtigen Diamanten liegt. Galiani löst die Frage, indem er dem Konzept des Nutzens ein Konzept der Knappheit oder Seltenheit von Wirtschaftsgütern zur Seite stellt. Bald darauf behandelt Buffon (1707-1788), als Autor einer Naturgeschichte des Menschen auch Vorläufer Darwins, das Thema. Er sagt: daß „der Taler der Armen, der zur Bezahlung eines unbedingt notwendigen Gegenstandes dient, und der Taler, der dem Geldsack der Finanzherrn als letzter zugefügt wird, in den Augen des MathematiSiehe zum Begriff der „Staatsklasse": Hartmut Elsenhans, Abhängiger Kapitalismus oder bürokratische Entwicklungsgesellschaft. Versuch über den Staat in der Dritten Welt, Frankfurt/M./New York 1981. Vgl. Aristoteles, Politik I, 9 sowie Nikomachische Ethik V, 8, 1133 a 19. Siehe Aristoteles, Politik, 2.7.

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166

kers zwei Einheiten gleicher Ordnung sind, aber im moralischen ist der eine ein Goldstück, während der andere nicht einen Pfennig wert ist" Später bemerkt Abbé Condillac: „Der Wert liegt weniger in der Sache selbst als in der Schätzung, die wir ihr entgegenbringen, und diese Schätzung hängt von unserem Bedürfnis ab; er steigt und fällt wie unser Bedürfnis größer und geringer wird." Damit war die Grundlage der psychologischen Theorie des Wertes gefunden, doch sie blieb weithin unbekannt. Erst Hermann Heimich Gossen stellt zwei Gesetze auf, die von verschiedenen Intensitätsgraden von Bedürfhissen ausgehend Grenzen subjektiven Nutzens bestimmen. Als Grenznutzen gilt der Nutzen der letzten zur Verfügung stehenden Gütereinheit, die das am wenigsten dringend empfundene Bedürfnis noch deckt: Das Erste Gossensche Gesetz besagt „Die Größe ein und desselben Genusses nimmt, wenn wir mit Bereitung des Genusses ununterbrochen fortfahren, fortwährend ab, bis zuletzt Sättigung eintritt"33. Der Genuss nimmt im Maße gleichförmiger Befriedigung eines Bedürfnisses ab bis Sättigung eintritt. Dieser Grenznutzen entscheidet über den Wert der übrigen Gütereinheiten. Das Zweite Gossensche Gesetz, das Gesetz des Ausgleichs der Grenznutzen" benennt die für ein Nutzen-Maximum notwendige Bedingung: „Der Mensch erlangt [...] ein Größtes von Lebensgenuß, wenn er sein ganzes erarbeitetes Geld [...] der Art auf die verschiedenen Genüsse vertheilt, [...] daß bei jedem einzelnen Genuß das letzte darauf verwendete Geldatom den gleich großen Genuß gewährt."34 Durch bewusst regulierte Verteilung der Geldmittel wird das Nutzenmaximum erreicht, wenn alle Bedürfnisse so weit befriedigt werden, dass der auf den Güterpreis bezogene Grenznutzen eines jeden Gutes gleich ist. Dieses Gesetz beschreibt ein einheitliches Grenznutzenniveau, wonach Zuwächse nicht zur Fortsetzung der Befriedigung ein und desselben Bedürfnisses, sondern für die Befriedigung weiterer Bedürfhisse verwendet werden. John Maynard Keynes, Philosoph und bedeutendster Ökonom des 20. Jh., gelangte auf Grundlage dieser Theorie mit der Annahme, dass die Haushalte der Ärmeren weniger sparen als reichere, zu einem starken Argument für die Umverteilung der Einkommen zugunsten der Lohnarbeiter und ärmeren Schichten, um über Nachfrage kapitalistisches Wachstum zu stimulieren.35 -



Georges-Louis Leclerc le Comte de Buffon, Oeuvres completes. Avec des extraits de Daubenton et la classification de Cuvier. (9 Bände) Bd. VI: Essai d'arithmétique morale, Paris 1857, zit. n. Charles Gide/Charles Rist, Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen, hg. v. Franz Oppenheimer, Jena 1913, 694, Fußnote 2. Dieses von der „Académie des Sciences Morales et Politiques" preisgekrönte französische Werk behandelt die Grenznutzen-Schule als „psychologische Schule" im Kapitel I des 5. Buches unter dem heute in der Makroökonomie ungebräuchlichen Titel „Die Hedonisten". -

Abbé Condillac, Le Commerce et le Gouvernement considérés relativement l'un á l'autre, 1776, 15, zit. n. Charles Gide/Charles Rist, 55. Hermann Heinrich Gossen, Entwicklung der Gesetze des menschlichen Verkehrs und der daraus fliessenden Regelnßr menschliches Handeln, Braunschweig 1854, 4f. Ebd.; seit Friedrich v. Wieser „Zweites Gossensches Gesetz" geheißen. Zum epikureischen Bedürfhiskonzept von Keynes vgl.: John Maynard Keynes, Economie Possibilities for our Grandchildren [1930], in: ders., Collected Writings, Bd. 9, London-Basingstoke 1972,

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167

Es muss einstweilen dahingestellt bleiben, inwiefern Nietzsche die ökonomische Debatte seiner Zeit rezipiert haben mag, aus welcher Quelle er die subjektive Wertlehre schöpfte. Er würdigt den Witz des Neapolitaners Galiani, der den Menschen „das einzige religiöse Thier" (NF Sommer-Herbst 1884, 26 [242], KSA, NF, 11, 212) genannt

habe, mehrfach36 und schätzt ihn als Aufklärer höher als Voltaire37. Ebenso könnte die Lektüre Eugen Dührings, der die subjektiven Bedürfhisse zur primären Wertschätzungsursache erhob, anregend gewesen sein.38 Die Gossenschen Gesetze ließen sich auch in Verallgemeinerung der Begriffe des Lustkonzeptes Epikurs beschreiben: Ist die kinetische Lust gesättigt, tritt der katastematische Zustand ein, der nicht mehr gesteigert, sondern nur variiert werden kann. Spricht Nietzsche vom Taxieren der Werte und von perspektivischen Schätzungen, so bedient er sich jedenfalls der subjektiven Wertlehre. Nietzsches Spott über den „oberflächlichen Utilitarismus" mag sich angesichts sonstiger Nähe zu Mill auch aus dem überlegenen Wertkonzept gespeist haben. -

-

4. Perfektionierung der Maschinen entbindet weitgehend aus der Sklavenmoral „Arbeit" hatte der Grenznutzen-Theoretiker Gossen angesichts der durch sie verursach„Beschwerde" als „negativen Nutzen" definiert.39 Nicht anders versteht Nietzsche die schändende40 „Sklavenarbeit". Im Sinne der Antike41 unterscheidet er: „SklavenArbeit! Freien-Arbeit! Erstere Arbeit ist alle Arbeit, die nicht um unserer selbst willen gethan wird und die keine Befriedigung in sich hat. Es ist viel Geist noch zu finden, damit ein Jeder seine Arbeit sich befriedigend gestalte." (NF Frühjahr-Herbst 1881, 11 [176], KSA, NF, 9, 508)

ten

-

Nietzsche sah die europäischen Arbeiter im Umfang der Arbeitsleistung zutreffend schlechter gestellt als die antiken Sklaven Da die Arbeiter im Dienste der Regierungen zum Militär ertüchtigt wurden, sei ihre Entrechtung nicht mehr möglich. Wer zu kämpfen gelehrt wurde, lernt für sich zu kämpfen. Angesichts innovativer Technologien des 19. Jh. fand sich sogar der Pessimist Schopenhauer dazu verführt, das nahende Ende der Kriege und der schweren körperlichen Arbeit zu erwägen: .

„Wenn das Maschinenwesen seine Fortschritte in demselben Maaße noch eine Zeit hindurch weiter führt, so kann es dahin kommen, daß die Anstrengung der Menschenkräfte beinahe 321-332, 326; vgl. Karl Georg Zinn, Die Wirtschaftskrise, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 1994, 75ff. 36 37 38

39 40 41 42

Vgl. u. a. KSA, JGB, 288, 5, 233 und KSA, NF Sommer-Herbst 1884, 26 [417], 11, 263. Siehe KSA, JGB, 26, 5, 45 sowie KSA, NF Juni-Juli 1885, 36 [49], 11, 571. 1914.

Vgl. Gerhard Albrecht, Eugen Dührings Wertlehre, Jena

Ebd.,38ff. Siehe KSA, JGB 58, 5, 76. Das Wort „Ponos" bedeutete den Griechen sowohl Arbeit wie Kummer. Siehe KSA, MA I, 457, 2, 296. Vgl. Wolfgang Altendorf, „35-Stunden-Woche. Bereits in der Antike ein alter Hut", in: Das Parlament, Nr. 13, 20. März 1992, 21. -

Oliver Kloss

168

ganz erspart wird; wie die eines großen Theils der Pferdekräfte schon jetzt. Dann freilich ließe sich an eine gewisse Allgemeinheit der Geisteskultur des Menschengeschlechtes denken"43.

Diese Prognose teilend44 fasste Nietzsche die Arbeiter als Übergangsphänomen auf. Gleichwohl sah er die Unmöglichkeit, Sklavenarbeit in einer Kultur restlos zu tilgen. „Die ,Würde der Arbeit' ist eine moderne Wahnvorstellung der dümmsten Art. Sie ist ein Traum von Sklaven" (NF Ende 1870-April 1871, 7 [16], KSA, NF, 7, 140), schreibt Nietzsche und diesem Urteil ist in seiner Zeit nur das Werk des reformistischen französischen Sozialisten Paul Lafargue ebenbürtig zur Seite zu stellen. Dem Schwiegersohn von Karl Marx ging es nicht hegelianisch um die „Emanzipation der Arbeit"47, sondern um die weitgehende Befreiung aller Menschen von der Arbeit. Er warf eine Frage von anhaltender Aktualität auf: „Und zur selben Zeit, wo [...] die Produktivität der Maschine von Tag zu Tag wächst, wollen uns die Ökonomen [...] die Religion der Enthaltsamkeit und das Dogma der Arbeit Im Kampf um ein „Recht auf Arbeit" erkennt Lafargue die Sklavenmoral die auf Rache sinne: „die Parole: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. [...] ist der große Billige Erwerbsarbeit schaffe ÜberproFehler, die Ursache [...] der duktionskrisen. „Um die Kapitalisten zu zwingen, ihre Maschinen von Holz und Eisen zu vervollkommnen, muß man die Löhne der Maschinen von Fleisch und Bein erhöhen und die Arbeitszeit derselben verringern." Arbeitslosigkeit wird, da sie die organisierte Verhandlungsmacht der Arbeiter schwächt, von Lafargue als Verteilungsproblem von Arbeit durchschaut: „man muß, um Arbeit für alle zu haben, sie rationieren wie Wasser auf einem Schiff in Not."5 Gemeinsam ist Nietzsche und Lafargue, dass sie das Otium der Edlen53 als erstrebenswert erachteten, und erkannten, dass eine Arbeitsmoral54,

predigen?"48

,

Bürgerkriege."50

Arthur

Schopenhauer, Parerga

und

Paralipomena:

Kleine

philosophische Schriften, § 125,

in:

Sämtliche Werke in sechs Bänden, hg. v. Eduard Grisebach, Leipzig o. J., 253. Vgl. KSA, NF, 11, 60, Frühjahr 1884, 25 [178]. Vgl. auch Aristoteles, Politik, Deutsch v. Bernays, Bd. I, Berlin 1872, 12f: „Wenn jedes Werkzeug auf Befehl oder diesem zuvorkommend seine Leistung vollzöge [...], wenn so die Webschiffe von selbst webten [...], dann hätten weder die Meister ein Bedürfnis nach Gesellen, noch die Herren nach Sklaven." -

Vgl. z. B. KSA, NF, 11, 73, Frühjahr 1884, 25 [225]. Lafargue fixierte sich nicht auf eine „historische Notwendigkeit"

zur Revolution. Undramatisch zeichnet er den Weg in seine Art kommunistische Gesellschaft": „wenn es geht friedlich, wenn nicht, mit Gewalt!" Paul Lafargue, „Das Recht auf Faulheit. Widerlegung des ,Rechts auf Arbeit' von 1848", in: Das Recht auf Faulheit und andere Satiren, Berlin 1991, 7-53, 8. Vgl. Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: MEW, Bd. 17, 342: „Einmal die Arbeit emanzipiert, so wird jeder Mensch ein Arbeiter, und produktive Arbeit hört auf, eine Klasseneigenschaft zu sein." Paul Lafargue, Das Recht auf Faulheit, a. a. O., 29. -

Vgl. ebd.,

15.

Ebd., 43. Ebd., 40. Ebd., 38. Vgl. KSA, FW 42, 3, 408f; KSA, NF, Sommer-Herbst 1884, 26 [281], 11, 224. Russell galt die Arbeitsmoral gleichfalls ausdrücklich als „Sklavenmoral", die der neuzeitlichen Welt unangemessen sei. Vgl. Bertrand Russell, Lob des Müßiggangs, Wien/Hamburg 1957.

Politische Ökonomie in kosmoästhetischer Absicht

169

welche die Not der Arbeit zur Tugend löge, im Kampfe um die Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter nie mehr als hinderlich sein könne. „Der Fleiß englischer Arbeiter", der nicht aus Bedürftigkeit der anderen entstehe, hebt Nietzsche wohlwollend hervor, „hat hingegen den Erwerbssinn hinter sich: er ist

sich seiner selbst und seiner Ziele bewusst und will mit dem Besitz die Macht, mit der Macht die grösstmögliche Freiheit und individuelle Vornehmheit." (KSA, MA I, 2, 478)

5. Prognose politischer Gefahren und

globaler Möglichkeiten

Nietzsche erkannte die Gefahr, dass die „Thorheit der Ausbeutenden" (KSA, WS, 2, 682) die Arbeiter in die Versuchung des reaktionären sozialistischen Staatsideals treiben könnte. Ebenso bemerkte Nietzsche, „dass die litterarische Unart fast in allen jetzigen Nationen Überhand nimmt und zwar je mehr diese sich wieder national gebärden -, die Juden als Sündenböcke aller möglichen öffentlichen und inneren Uebelstände zur Schlachtbank zu führen" (KSA, MA, I, 2, 310). In den Nationalisten und Rassisten sah Nietzsche die gefährlichen Gegner der Völker- und Rassenvermischung. Wenngleich Nietzsche den Sozialismus, dessen Staatsideal die „förmliche Vernichtung des Individuums anstrebt" (KSA, MA I, 2, 307), illusionslos als reaktionär begriff, so erwog er doch, inwiefern dieser künftig zum Werkzeuge menschheitlicher Absichten werden könne, um die Stellung der Arbeiter zu verbessern, denn „unter Umständen müsste man selbst Alles thun, ihn zu kräftigen." Die Machtfrage der Weimarer Republik antizipierend schrieb Nietzsche: -

„Ein Recht gewinnt sich der Socialismus erst dann, wenn es zwischen den beiden Mächten, den Vertretern des Alten und Neuen, zum Kriege gekommen zu sein scheint, wenn aber dann

kluge Rechnen auf möglichste Erhaltung und Zuträglichkeit auf Seiten beider Parteien das Verlangen nach einem Vertrage entstehen lässt. Ohne Vertrag kein Recht. Bis jetzt giebt es aber auf dem bezeichneten Gebiete weder Krieg, noch Verträge, also auch keine Rechte, kein ,Sollerí" (KSA, MA I, 2, 290) das

jenem Jahre 1878 hatte sich Bismarck die Sozialdemokratie zum inneren Feinde erwählt. Um sie repressiv niederhalten zu können, fand er in sozialstaatlichen Maßnahmen „von oben" reagierend einen Weg, den Obrigkeitsstaat zu bewahren. Angesichts der Beobachtung, dass alle Parteien seiner Zeit „die Angst vor dem Socialismus ausbeuten, um sich zu stärken", prognostizierte Nietzsche, dass sie deshalb dem Volke werden „schmeicheln und ihm Erleichterungen und Freiheiten aller Art geben" müssen, was letztlich der Demokratie zum Siege verhelfen werde: In

„Das Volk ist vom Socialismus, als einer Lehre von der Veränderung des Eigenthumerwerbes, entferntesten: und

wenn es erst einmal die Steuerschraube in den Händen hat, durch die seiner Parlamente, dann wird es mit der Progressivsteuer dem Capitalisten-, Kaufmanns- und Börsenfürstenthum an den Leib gehen und in der That langsam einen Mittelstand schaffen, der den Socialismus wie eine überstandene Krankheit vergessen darf. Das praktische Ergebnis dieser um sich greifenden Demokratisirung wird zunächst ein europäischer Völkerbund sein, [...]." (KSA, WS 2, 684). am

grossen

Majoritäten

-

Oliver Kloss

170

Egalitarismus im Sinne eines politischen Willens zur Überwindung der Not und zur Angleichung der physisch notwendigen Lebensbedingungen aller mittels marktförmiger Wirtschaft ist die Bedingung der Möglichkeit höherer Moral. Physische Schwächung, körperliche Anstrengung Mangel, Ausbeutung oder allgemein Not erzeugen Anähnlichung der Einzelnen, führen zu geistiger Gleichschaltung, zwingen zur Sorge um die Erhaltung der Art, während deren „Varietäten" ausgeschlossen werden. Letztlich zielen Nietzsches ökonomische Überlegungen auf Anthropodiversität, auf die Vielfalt menschlicher Typen, auf optimale physische Bedingungen für die MöglichEin

,

keit des Auftretens „freier Geister", „an denen das geistige Fortschreiten" (KSA, MA I, 2, 187f.) hängt und die notwendig sind, um der liberalen Demokratie Dauer zu verleihen. Die Betonung der Ungleichheit steht nicht im Kontext eines rechten Politikkonzepts, wie zum Beispiel die Rezeption des italienischen Politikwissenschaftlers Norberto Bobbio56 unterstellt. In Menschliches, Allzumenschliches bietet Nietzsche durchaus keine konservative politische Philosophie. Nietzsche weiß sich im „Zeitalter der Vergleichung" (KSA, MA I, 2, 44), in einer „Uebergangszeit, wo so Vieles aufhört zu zwingen" (KSA, FW 3, 595). Die Überwindung jener Gleichheit, die sich der Not schuldete, schüfe optimale Bedingungen für die höhere Moral. Die Überwindung des ökonomischen Mangels befreite zur Kultur, zur Ästhetik der Individuen. Während die „Lebens-Fürsorge" noch Rollen der Berufe aufzwinge, werde es dann nicht nur „in Europa immer ,künstlerischer' zugehn" (KSA, FW en

3, 595):

„die Menschen können mit Bewusstsein beschließen, sich zu einer neuen Cultur fortzuentwik-

keln, während sie sich früher unbewusst und zufällig entwickelten: sie können jetzt bessere Bedingungen für die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung, Erziehung, Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes ökonomisch verwalten, die Kräfte der Menschen überhaupt gegen einander abwägen und einsetzen" (KSA, MA I, 2, 45).

Siehe z. B. KSA, WS 263, 2, 665 und KSA, FW, 41. Stück des Vorspiels, 3, 362. Siehe Norberto Bobbio, Rechts und Links. Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung, Berlin 1994, 79ff. Z. B. charakterisiert Ries das VIII. Hauptstück von Menschliches, Allzumenschliches als „eine tief konservative Kritik an der modernen Demokratie und dem Sozialismus". Wiebrecht Ries, „Von Menschliches, Allzumenschliches bis zur Fröhlichen Wissenschaft (1878-1882)"; in: Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben Werk- Wirkung, Stuttgart 2000, 91-111, 101. -

-

Carolin von Roth

Die Wanderung im Gebirge Die Rezeption eines zentralen Motivs bei Nietzsche in künstlerischen Konzepten von Olaf Metzel, Wladimir Kuprijanow und Gerhard Richter

man einen Blick in die Ausstellungskataloge der letzten Jahre wirft, deren Theim Bereich der Nietzsche-Rezeption in der Kunst der Nachmoderne angesiedelt sind, so wird man auf diverse Kunstwerke stoßen, die ihren Zugang zu Nietzsches Ikonographie über dessen Bild des Wanderers finden. Dies ist Zeichen für ein Interesse an Nietzsches Schriften, das, im Gegenteil zu einer Fokussierung auf seine Person, in der neueren Kunstgeschichte immer mehr in den Vordergrund rückt.1 Mit der Betrachtung dreier zeitgenössischer künstlerischer Konzepte, die sich in ihrem Bezug auf Nietzsche durch eine Rezeption seiner Ikonographie auseinandersetzen, soll sich dieser weitgehend vernachlässigten Tendenz kritisch angenähert werden.

Wenn

men

1.

Zum Motiv des Wanderers bei Friedrich Nietzsche

Das Bild des vorwärtsstrebenden, jede Geborgenheit hinter sich lassenden Wanderers wird in den Schriften Nietzsches vornehmlich durch Bilder des Gebirges charakterisiert.2 Eine derartige Verknüpfung lässt sich auf die metaphorische Funktion der Naturbeschreibung zurückführen und allgemein mit der Bedeutung der Metapher in Nietzsches Werk begründen.3 Im Mittelpunkt des sich ergebenden gleichnishaften Flechtwerkes

Vgl. hierzu Stiftung Weimarer Klassik (Hg.), Für F. N. Nietzsche in der Kunst der letzten 30 Jahre, [Schwanenhaus der Orangerie Belvedere, Weimar], Weimar 1994; 11 f. Zur frühen Rezeption Nietzsches in der bildenden Kunst vgl. Jürgen Krause, „,Märtyrer' und ,Prophet'. Studien zum Nietzsche-Kult in der bildenden Kunst der Jahrhundertwende", hg. v. Ernst Behler, Mazzino Mon-

tinari, Wolfgang Müller-Lauter und Heinz Wenzel in der Reihe Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd.14, Berlin/New York 1984. Vgl. hierzu Manfred Riedel, Freilichtgedanken. Nietzsches dichterische Welterfahrung, Stuttgart 1998, 102ff. Zudem Theo Meyer, Nietzsche. Kunstauffassung und Lebensbegriff, Tübingen 1991, 3

407ff. Vgl. hierzu Claus Zittel, „Die Aufhebung der Anschauung im Spiel der relationale Semantik", in Nietzscheforschung, Bd. 7 (2000), 273-285.

Metapher. Nietzsches

Carolin von Roth

172

steht der Wanderer als Bestandteil des metaphorischen Netzes wird dieses Motiv zugleich durch dasselbe charakterisiert. Auslösendes Moment einer „Wanderschaft" ist ein „plötzlicher Schrecken und Argwohn gegen Das, was sie [sc: die Seele] liebte; ein Blitz von Verachtung gegen Das, was ihr ,Pflicht' hiess", und ein „aufrührerisches, willkürliches, vulkanisch stossendes Verlangen", alles bisher Geliebte hinter sich zu lassen und der „gefährlichefn] Neugierde nach einer unentdeckten Welt" nachzugeben (KSA, MA I, 2, 16). In seiner Vorrede zum ersten Teil von Menschliches, Allzumenschliches beschreibt Nietzsche die plötzliche Sehnsucht nach Wanderschaft als ersten Schritt der „grossen Loslösung" (ebd.). Derjenige, der sich auf eine Wanderschaft begibt, zielt mit dem Abschied von traditionellen Werten und Maßstäben auf Ungebundenheit und Freiheit des Willens. Während in erwähnter Passage der Augenblick der Sehnsucht nach Wanderschaft im Mittelpunkt steht, stößt man schließlich am Ende des ersten Teils von Menschliches, Allzumenschliches im Aphorismus Der Wanderer auf die Charakterisierung desjenigen, der diesen Schritt zur „Freiheit der Vernunft" bereits vollzogen hat und sich daher nicht anders fühlen kann denn als Wanderer (KSA, MA I, 2, 362). Ebenda wird der Wanderer mit dem Philosophen identifiziert, stellt er doch das Ideal der vollzogenen Infragestellung und damit der Distanzierung von metaphysischer, respektive religiöser Festlegung dar. Die unabhängige Reflexion findet in der Souveränität eines Wanderers als Philosophen ihren Höhepunkt, der im Angesicht des Verlustes der Heimat, respektive der normativen Denkmuster auf sich allein gestellt existieren kann. In diesem Sinne führt die Wanderung als Akt des ziellosen „Treibens und Schweifens", in dessen Hintergrund immer „das Fragezeichen einer immer gefährlicheren Neugierde" (KSA, MA I, 2, 17) steht, zunächst zum Ausdruck des Zweifels an geltenden Regeln und Wahrheiten, was Voraussetzung der Entfaltung autonomer Denkstruktaren mit dem Gewinn eigenständiger Erkenntnis ist. Entsprechend beschreibt Nietzsche den Weg einer Wanderung im Ecce homo als permanenten Lernprozess und jede Etappe als „Schritt vorwärts in der Erkenntnis" (KSA, EH, 6, 259). Im Zarathustra zeichnet Nietzsche seine zentrale Figur als Wanderer, wodurch die mit der Wanderung assoziierten Ideen zum Gegenstand der unmittelbaren Erfahrung werden. In diesem Sinne steht die in Menschliches, Allzumenschliches geforderte Triebfeder der Wanderschaft am Beginn der zarathustrischen Wanderung. Im Aphorismus Incipit tragoedia der Fröhlichen Wissenschaft (KSA, FW, 3, 571) deutet sich Zarathustra mit dem Hinweis auf den Auszug aus seiner Heimat erstmals an. Diese Passage impliziert den Vollzug der ,,grosse[n] Loslösung" (KSA, MA I, 2, 16), initiiert den Aufbruch aus der „Heimat" (KSA, ZA, 4,11) und den daraus folgenden, zehn Jahre währenden Rückzug in das Gebirge. Damit bricht Zarathustra mit den üblichen Orientierungsmarken der Niederung und qualifiziert die gebirgige Höhe zu einem alternativen Standort. Zunächst bezeichnet das Gebirge einen Ort der Distanz und drückt eine Positionierung fernab des gewohnten gesellschaftlichen Gefüges aus. Somit ist der Aufenthalt im Gebirge durch das Abstreifen konventioneller Grenzen Zeichen der bewussten Distanzierung und der damit verbundenen Eröffnung neuer Erfahrungsräume und Wahrnehmungsperspektiven. Der erhöhte Standort macht eine Betrachtung der Welt aus der Entfernung, gewissermaßen von oben, möglich, bezeichnet eine unge-

Die

Wanderung im Gebirge

173

wohnte Perspektive des Überblicks und ist darin Ausdruck einer neuartigen Sichtweise. Die im weiteren Sinne kritische Betrachtung und Reflexion des Panoramas ist Ausdruck eines reflektierten Umgangs mit der Perzeption. Das Dasein im Gebirge signalisiert die vollzogene Loslösung des Geistes, womit im Wanderer die Vorstellung eines Menschen vermittelt wird, der sich von gewohnten Denkformen zu lösen vermocht hat und schließlich zu alternativen, eigenständigen Denkansätzen kommen wird. Der Illustration der geistigen Unabhängigkeit und Eigenständigkeit des Wanderers

nicht allein die Gegenüberstellung von abgelegenen Gebirgszonen und sondern auch die Beschaffenheit des gebirgigen Geländes. Die kalte HochTalebenen, wird dem gebirgsluft gemäßigten Klima der Niederungen vorgezogen und dementsprechend flüchtet Zarathustra vor den „geheizten Stuben" der Bewohner des „dunstigen Thale[s]" (KSA, MA II, 2, 486) in das „Eis und den Winter auf [den] Gipfeln" (KSA, ZA, 4, 220f). Die eisigen Höhen werden gegen die warme Behaglichkeit gesetzt und verdeutlichen die bewusst gewählte Unbequemlichkeit des Wanderers als Charakteristikum des nicht konformen Daseins und Denkens im übertragenen Sinne. Fasst man den Wanderer, der die Bequemlichkeit geistiger Passivität ablegt, als zunehmend erkennenden „[freien] Geist" auf, der durch ständiges Lernen und Suchen nach der Vervollkommnung seiner Eigenständigkeit strebt (KSA, MA I, 2, 15), muss man die Entwicklung geistiger Unabhängigkeit als Prozess verstehen, der sich in der steigenden Bewegung in immer gefährlichere Regionen widerspiegelt. Dementsprechend wird schließlich die „Freigeisterei" als eine „höchst [gefährliche] Gletscher- und EismeerWanderung" illustriert (KSA, MA II, 2, 387).5 Gemäß der gewonnenen Autonomie des Geistes erfahrt auch die Kälte-Metapher und der damit verbundene Eindruck der Gefährlichkeit ihren Höhepunkt. Die Missbilligung und Abwendung von üblichen Orientierungsmustern ist mit dem Verlust des Gefühls der Sicherheit verbunden. Das Risiko der negativ konnotierten Isolation infolge der Einbuße der bindenden Strukturen ist jedoch für den vorwärtsstrebenden Erkennenden kein Hinderungsgrund, sondern Herausforderung und wird positiv als Emanzipation begriffen. dient

4

jedoch

Helmut Lethen schreibt hierzu treffend: „Das Ablegen der Hüllen, die die moralischen Fiktionen wie einen Wärmepanzer um den Menschen legen, ist für ihn der eigentliche Test, für den er die Kälte-Metapher einsetzt." Die Indienstnahme von Kältemotiven fungiert als Betonung der Abwendung des erkennenden Menschen von gewohnten Denkstrukturen. „Lieber noch ein Wenig Zähneklappern als Götzen anbeten!" (KSA, ZA, 4, 218) in Zarathustras Äußerung ,,[a]uf dem Ölberge" qualifiziert er das Gebirge und das dort herrschende „Eis der Erkenntnis" (KSA, ZA, 4, 221) als idealen Aufenthaltsort, wo der Denker nicht von den gewohnten Denkstrukturen erfasst werden kann. Vgl. hierzu Helmut Lethen, „Lob der Kälte. Ein Motiv der historischen Avantgarden", in: Dietmar Kamper und Willem van Reijen (Hg.), Die unvollendete Vernunft. Moderne versus Postmoderne, Frankfurt/M. 1987, 300f. Die „freien Geister" (KSA, MA I, 2, 363) werden bezeichnenderweise in dem Aphorismus Der Wanderer aus Menschliches, Allzumenschliches I als Philosophen identifiziert Daher verwundert es in diesem Zusammenhang nicht, wenn Nietzsche im Ecce homo die Philosophie als „das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge" (KSA, EH, 6, 258) auffasst. Vgl. hierzu Claus Zittel, „Abschied von der Romantik im Gedicht. Friedrich Nietzsches ,Es geht ein Wanderer durch die Nacht'", in: Nietzscheforschung, Bd. 3 (1996), 203. -

Carolin von Roth

174

2.

Der Wanderer im Gebirge in

Beispielen

aktueller künstlerischer Konzepte

2. 1 Die Vielschichtigkeit des Wanderermotivs bei Olaf Metzel und Wladimir Kuprijanow Olaf Metzel wählt für seine Auseinandersetzung mit Nietzsche zwar einen biographischen Zugang, wenn er sich auf die Spuren Nietzsches in Nizza begibt, wo dieser in den 1880er Jahren oft die Wintermonate verbringt.6 Doch verknüpft er die biographischen Elemente mit der Ausschöpfung des assoziativen Potentials des Wanderermotivs: In Gedanken an den unter freiem Himmel, in südlichem Klima philosophierenden Nietzsche geht Metzel vor Ort die Wege des Denkers nach und hält einzelne Stationen seiner Wanderung dokumentarisch, fotografisch fest. Ergebnis ist eine 12-teilige Fotoserie mit dem Titel „Chemin Frédéric Nietzsche 7, deren Elemente Momentaufnahmen einer Wanderung durch das moderne Nizza zeigen, die darüber hinaus inhaltlich konkret oder assoziativ mit Nietzsches eigenen Streifzügen an diesen Orten ein Jahrhundert zuvor verknüpft sind. Die Farbabzüge Metzeis zeigen Stationen einer Wanderung über weitgehend betonierte Wege, an Straßenschildern entlang, deren Aufschriften vereinzelt an das frühere Flanieren und Wirken Nietzsches an jenen Orten erinnern. Nietzsche beschreibt Nizza 1884 als einen Ort, dessen klimatische Verhältnisse und Beschaffenheit ihm als ideale Grundlage dafür erscheinen, sein Werk entscheidend voran zu bringen. Der vor diesem Hintergrund stehende biographische Bezug der Arbeit wird verknüpft mit der fotografisch nüchternen Dokumentation des modernen Nizza, dessen mondäne, idyllische Verhältnisse vom modernen Zeitgeist erfasst worden sind: Technischer Fortschritt und zivilisatorische Ausdehnung machen die Wanderung des Künstlers zu einem Stadtspaziergang. Sieht man die Fotoserie Metzeis als Dokumentationsmaterial dieser „Wanderung" durch das Stadtgebiet und weitet man die Bezugnahme Metzeis auf die Wanderungen Nietzsches insofern aus, dass man sich seine Schilderungen des Wanderermotivs vor Augen führt, gewinnt die Differenz zwischen den Wanderern Nietzsche und Metzel eklatante Deutlichkeit: Eingedenk der illustrativen Beschreibungen der Berglandschaften, wie sie den Wanderer in den Texten Nietzsches umgeben, scheint der Wanderer Metzel die nötige Distanzgewinnung, die die Wanderung als Rückzug in das Gebirge im Sinne Nietzsches impliziert, nicht zu vollziehen. Während Nietzsches Wanderer den bewussten Abstand zu Zivilisation und Gesellschaft sucht, wandelt der moderne Wanderer inmitten derselben. Betonierte Wege und Verkehrsschilder machen die Wanderung Metzeis zu einer Erfahrung der städtischen Zivilisation und die dabei entstandenen Fotos werden mitunter zu ernüchternden Zeugnissen städtebaulicher Eingrif6

;

Barbara Straka, „Die Spur des Wanderers. Zu Nietzsches Ikonographie und ihrer Rezeption in der Kunst der Nachmoderne", in: Barbara Straka und Gudrun Gorka-Reimus, (Hg.), Artistenmetaphysik. Friedrich Nietzsche in der Kunst der Nachmoderne, [Haus am Waldsee, Berlin], Berlin 2001, 153. Olaf Metzel, Chemin Frédéric Nietzsche, 2000, Fotoarbeit 12-teilig, je 31 x 41 cm. Edition von 3 Exemplaren, Sammlung von Annemarie und Henner Graeff, München. Friedrich Nietzsche in einem Brief an Malwida von Meysenbug, Nizza, März 1884; KSB 6, 489f.

Vgl.

Die

Wanderung im Gebirge

175

fe: Sie dienen als Momentaufnahmen einer Wanderung, die sich ihren Weg über befestigte Straßen, vorbei an Baustellen bahnt, deren Ergebnis neue belastbare Wege sein werden im Kern entpuppen sich die städtebaulichen, technischen Entwicklungen als Momente der gewaltsamen Zerstörung, wenn der Beton Besitz von Gegenden nimmt, wo einst Wanderungen im Nietzsche'schen Sinne möglich gewesen sein sollen. In der Dokumentation städtebaulicher Errungenschaften während einer Wanderung durch das moderne Nizza bricht die assoziative Kraft dieser künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Nietzsche'schen Wanderermotiv eine Dimension auf, die demselben einen ungeahnt aktuellen Bezug verleiht: Ausgehend von dem Nietzsche'schen Wanderermotiv, zeigt sich der Fotograf Metzel als ein die zivilisierte moderne Gesellschaft kommentierender Wanderer. Während Metzel durch Nietzsches eigene Aufenthalte in Nizza zu seiner Darstellung der im übertragenen Sinne modernen Wandererfahrung inspiriert wird, findet der russische Künstler Wladimir Kuprijanow über dessen Schriften Zugang zu dessen Wanderermotivik. Während Metzeis Arbeit von der assoziativen Kraft dieses Motivs profitiert, rückt der Wanderer bei Kuprijanow direkt in den Mittelpunkt der fotografischen Arbeit Meine Hinter dem Titel verbergen sich vier Fotomontagen alter SchwarzWeiß-Fotografien, die durchweg männliche Gestalten vor rauhen Gebirgszügen zeigen. Die Bilder zeigen Männer in Kniebundhosen und Bergstiefeln vor imposanten Bergkulissen: Man kann die abgebildeten Personen eindeutig als Wanderer identifizieren, woraus zu schließen ist, dass der Künstler über das Wanderermotiv Zugang zum Gedankengut Nietzsches findet. Entgegen dem bewusst aktuellen Bezug Metzeis wählt Kuprijanow hier eine stimmungsvolle, romantische Form der Beschäftigung mit dem Wanderer Nietzsches, mit dem er sich seit 1993 künstlerisch auseinandersetzt." Während Metzel das Medium der -

Berge}0

9

10

1'

Unter dem Aspekt der Zerstörung lässt sich die Fotoserie Chemin Frédéric Nietzsche schlüssig in das Werk Metzeis einordnen, das gewöhnlich im engen Zusammenhang mit Aggression steht, gar selbst von Spuren der Destruktion gekennzeichnet ist. Konkret hält Uwe M. Schneede diesbezüglich fest, dass Metzel in seinem Werk die Gewalt und die Rolle, die diese in der modernen Gesellschaft spiele, visualisiere, ohne dabei als Moralist aufzutreten. So kann man auch in der betrachteten Fotoserie die Formen zivilisierter Gewalt verdeutlicht sehen, die sich hier hinter der Umweltzerstörung durch Straßenbaumaßnahmen verbergen. Vgl. hierzu Uwe M. Schneede, „Gewalt und Eingriff, in: Hamburger Kunsthalle (Hg.), Olaf Metzel, [Hamburger Kunsthalle], Ostfildern 1992, 12f. Wladimir Kuprijanow, Meine Berge, 4 Fotomontagen, 68 x 86 cm / 90 x 114 cm / 70 x 131 cm / 101 x 59 cm, im Besitz des Künstlers. Diese Arbeit entsteht anlässlich der Ausstellung Artistenmetaphysik. Friedrich Nietzsche in der Kunst der Nachmoderne und ist daher direkt mit Themen Nietzsches in Verbindung zu bringen. Die Ausstellung wurde von Barbara Straka und Gudrun Gorka-Reimus konzipiert und kuratiert und fand von Dezember 2000 bis Februar 2001 im Berliner Haus am Waldsee statt. Es erschien ein die Ausstellung begleitender, reich bebilderter Katalog: Barbara Straka und Gudrun Gorka-Reimus (Hg.), Artistenmetaphysik. Friedrich Nietzsche in der Kunst der Nachmoderne, [Haus am Waldsee, Berlin], Berlin 2001. Vgl. hierzu Barbara Straka, „Eros und Agape. Das Pathos des Alltäglichen und die Profanität des Erhabenen im Werk Wladimir Kuprijanows", in: Haus am Waldsee (Hg.), Wladimir Kuprijanow. Photoarbeiten 1981-1995, [Haus am Waldsee, Berlin; Staatliches Russisches Museum St. Petersburg, Marmorpalast], Berlin 1995, XLDÍ.

176

Carolin

von

Roth

Fotografie nutzt, um einen Bezug zu Nietzsches Biographie herzustellen und dabei seinen Weg durch das moderne Nizza zu dokumentieren, verarbeitet Kuprijanow fotografische Dokumente zu ausdrucksvollen Montagen, um sich mit der Bildwelt Nietz-

sches auseinanderzusetzen. Hierfür nutzt er altes triviales Fotomaterial aus dem Fundus verflossener Generationen seiner Familie, um diese zu ausdrucksstarken Bildgefügen zu Offenbar in der Mitte des letzten Jahrhunderts aufgenommene Fotos von Berglandschaften und darin wandernden Zeitgenossen werden von Kuprijanow zu spannungsreichen, oft pathetisch wirkenden Montagen verarbeitet. Ergebnis ist die Darstellung von Wandererfiguren als Einzelpersonen oder in Gruppen angesiedelt vor Kulissen rauher Gebirgslandschaften, die sich aus den Bergansichten verschiedener Ursprungsfotografien zusammensetzen. Sowohl die formale Komposition als auch die pathetische Wirkung der einzelnen Arbeiten wecken im Betrachter Assoziationen mit Darstellungen der Wanderermotivik in der deutschen Romantik. Beispielhaft gibt Kuprijanow mit der Abbildung eines stehenden, in eine Schlucht hinab blickenden Wanderers einer möglichen Assoziation dieser Gestalt mit der Wandererfigur im romantischen Sinne Raum. Die stimmungsvolle Komposition erinnert in ihrer formalen Struktur und in ihrer dramatischen Wirkung an die Stimmungsbilder Caspar David Friedrichs. Wenn man sich dessen Wanderer über dem Nebelmeer vor Augen führt, ist die Verknüpfung der Kuprijanow'schen Darstellung mit der des deutschen Romantikers in Ansätzen bezüglich dessen Stimmungswert und aufgrund formaler Aspekte sinnvoll: Analog zu Friedrich wählt Kuprijanow für die Darstellung seines zentral positionierten Wanderers eine Rückenfigur, die von der Erhöhung hinab in ein Tal blickt. Die pathetische Aura der Komposition erinnert an die Ausdruckskraft der Stimmungslandschaft Friedrichs, lässt aber vor allem einen Rückschluss auf die poetische Bildsprache Nietzsches vornehmlich im Zarathustra zu.14 Neben der bewussten Bezugnahme auf pathetisch wirkende Kompositionsmittel und Stimmungswerte distanziert sich der Künstler inhaltlich in der Gestaltung des gebirgigen Umfeldes des Wanderers deutlich von dem genannten romantischen Modell. So wird dem Wanderer in der Darstellung Kuprijanows nicht wie dem Wanderer Friedrichs der Blick in die Weite der seichten Niederungen freigegeben; vielmehr wird dieser mit rauhen, beengenden Felswänden und schneebedeckten Gipfeln konfrontiert, so dass weniger eine harmonische Versenkung in die Natur, sondern mitunter eine Bewusstwerdung natürlicher Gefährlichkeit zustande kommen muss. Kuprijanow greift damit wie Nietzsche mit dem Wanderer einerseits ein seit der Romantik populäres Motiv auf und versteht es andererseits, von traditionellen Darstellungsformen abzurücken: Eingedenk des Wanderermotivs bei Nietzsche kann man in Kuprijanows

komponieren.12

12

13

14

Vgl. Barbara Straka, „Die Spur des Wanderers", 153. Caspar David Friedrich, Der Wanderer über dem Nebelmeer, um 1815, Öl auf Leinwand, 95 x 75 cm, Hamburger Kunsthalle. Hier sind sich beispielsweise Passagen wie die folgende ins Gedächtnis zu rufen: „Vor meinem höchsten Berge stehe ich und vor meiner längsten Wanderung: darum muss ich erst tiefer hinab als ich jemals stieg: tiefer hinab in den Schmerz als ich jemals stieg, bis hinein in seine schwärzeste Fluth!" (KSA, ZA, 4, 195). Der Vollständigkeit halber sind hier die Gedichte Nietzsches, wie Der Wanderer (1876) öderem Gletscher (1884) anzuführen, in welchen er den Charakter des Wanderers in einprägsamen Naturlyrismen zum Ausdruck bringt. Vgl. hierzu Manfred Riedel, Freilichtgedanken, 102-115.

Die

111

Wanderung im Gebirge

Fotoarbeiten jene Gebirgslandschaften verbildlicht sehen, die den Wanderer weniger zu meditativer Versenkung verleiten als vielmehr physisch und im übertragenen Sinne mental herausfordern. Mit dem Wanderer illustriert Nietzsche ein Motiv, das sich zwar in der Tradition der romantischen Naturerfahrung bewegt, aber aufgrund weitergehender Assoziation der Bilder wie denen von eisigen Höhen und gebirgigen Gefahmit zunehmender ganzheitlicher Unabhängigkeit des Menschen den Rahrenzonen Wanderermotivs im romantischen Sinne sprengt. Kuprijanows Wandererfides men sich durchweg vor einem spannungsvollen Gefüge von schneebedeckten guren zeigen tiefen und Abgründen, die als bedrohlich wirkende Kulisse jene Bildwelt eines Gipfeln Wanderers widerspiegeln, wie sie in den Texten Nietzsches ausgemacht werden kann. Wenn Kuprijanow einen seiner Wanderer über eine bedrohlich tiefe Schlucht springend darstellt, kommt hier ein Wunsch nach bewusster Konfrontation mit Gefahr zum Ausdruck, wie er auch den Nietzsche'schen Wanderer auszeichnet. Auf den zweiten Blick sieht man, dass der Künstler die Wandererfigur derart im Bild positioniert, dass der Sprung über die tiefe Schlucht augenscheinlich nicht erfolgreich sein wird. Die Selbstüberschätzung des springenden Wanderers zeigt damit die Gefahr des möglichen Ausgangs eines ständigen Strebens in die Höhe, das gerade für den Nietzsche'schen Wanderer charakteristisch ist. -

-

-

-

2. 2 Gerhard Richter in Sils-Maria Im Jahre 1992 zeigt Gerhard Richter im Nietzsche-Haus von Sils-Maria unter anderem eine Serie von 48 Fotoübermalungen und zwei Fotografien, die nicht malerisch bearbeitet sind. Die Fotos besitzen das Format einer Postkarte, zeigen Landschaftsaufhahmen, die Richter bei Urlaubsaufenthalten im Engadin (1990 und 1991) gemacht hat15 und sind sämtlich in einem die Ausstellung begleitenden Katalog abgebildet. Die Fotoarbeiten, wie auch andere Ausstellungsstücke, integriert er bewusst in die ständige Ausstellung des Nietzsche-Hauses, die sich der Dokumentation der Bedeutung dieses Ortes

in der Biographie Friedrich Nietzsches verschrieben hat. Die kleinformatigen, teilweise übermalten Fotografien platziert er in den Tischvitrinen und den verglasten Wand15

16

17

Kunsthalle Bremen (Hg.), Gerhard Richter. Editionen 1965-1993, [Kunsthalle Bremen], München 1993, 163. Hans-Ulrich Obrist, Gerhard Richter. Sils, [Nietzsche-Haus, Sils-Maria], München und Stuttgart 1992, Buchedition 57/1000, mit handschriftlicher Signatur von Gerhard Richter, Privatsammlung. Dieser Katalog enthält neben den im Offsetverfahren reproduzierten Fotoarbeiten auch kommentierende Texte des Herausgebers und Peter-André Blochs in deutscher, englischer und französischer Sprache. Da ein Teil der Auflage von dem Künstler selbst nummeriert, datiert und signiert wird, und ein Exemplar schließlich in dessen Werkverzeichnis der Editionen aufgenommen wird, kann dieser Katalog nicht als Dokumentationsmittel im herkömmlichen Sinne verstanden werden. Es ist ein Künstlerbuch, das den Anspruch erhebt, Teil der Ausstellung zu sein, deren Gegenstände es zugleich in Form von farbigen Abbildungen in sich versammelt. Neben den Fotoarbeiten stellt Richter die mehrteilige Arbeit Umwandlung und eine Edelstahlkugel aus: Gerhard Richter und Sigmar Polke, Umwandlung, 1968, Offsetdruck in Schwarz, auf weißem Halbkarton, 46,6 x 67,2 cm, Privatsammlung Köln und Gerhard Richter, Kugel, 1992, Edelstahl, Durchschnitt 16 cm, Privatsammlung Köln.

Vgl.

178

Carolin

von

Roth

schränken, die der Präsentation der Handschriften Nietzsches, Faksimiles seiner Schrif-

und authentischer Fotografien dienen. Richter arrangiert seine Arbeiten innerhalb der bestehenden Ordnung der Dokumentationskästen, ohne das Arrangement der ständigen Ausstellungsstücke zu stören. So ergibt sich schließlich ein derart harmonisches Gefüge, dass auf den ersten Blick der Eindruck entsteht, die Fotoarbeiten gehörten zum ständigen Interieur des Nietzsche-Hauses. Richter bildet in diesen Fotografien keine kontemplativen Landschaften in romantischer Tradition ab, sondern wählt bewusst eine ausschnitthafte Darstellung, die den Eindruck einer Geschlossenheit und Ausgewogenheit des Bildes unmöglich macht. Mit dieser Ausschnitthaftigkeit erreicht er, dass seinen aufgenommenen Landschaften jegliche Referenzpunkte fehlen, so dass weder die tatsächlichen Größenverhältnisse ersichtlich werden, noch eine harmonische Bildordnung ermöglicht wird. Im Zusammenspiel mit der Motivwahl meint man so, in den Arbeiten eine Nuance der Empfindung jener Offenheit, jener Einsamkeit und Gefährlichkeit wiederzuentdecken, die der Wanderer Nietzsches auf seinem Weg in die gebirgigen Höhen bewusst auswählte. Die Ausschnitthaftigkeit der Landschaftsdarstellungen wird von Richter durch eine partielle Übermalung der Fotografien insofern gesteigert, als mit diesem Eingriff den Ursprungsfotografien jegliche noch verbliebenen Orientierungsmarken genommen werden. Die Landschaften werden mit einem Pinsel teilweise übermalt oder stellenweise mit satten Farbflecken eines Abklatschverfahrens derart bedeckt, dass von der ausschnitthaften Fotografie allein einzelne Segmente sichtbar bleiben. Die farblich abgestimmte, in manchen Arbeiten zudem formal symmetrische Ordnung des Zusammenspiels von Landschaft und informeller Überarbeitung derselben lassen darauf schließen, dass Richter das Ergebnis seiner Fotoüberarbeitung nicht der „informelle[n] Zufälligkeit"18 überlassen hat. Dadurch, dass er in der Überarbeitung farblich und formal bewusst auf die Landschaftsmotivik der Fotografien eingeht, wird der ästhetische Anspruch der darunterliegenden Fotografien nicht etwa zerstört, sondern gesteigert. Richter wählt die Umgebung von Sils für seine Landschaftsaufhahmen und bezieht sich damit explizit auf die für Nietzsche selbst inspirierenden Aufenthalte in dieser Gegend. Hier versucht dieser seine Forderung nach dem „Leben in Eis und Hochgebirge" (KSA, EH, 6, 258) annähernd zu realisieren und entwirft dieses im Bild des Wanderers als ideale Daseinsform. Die Fotografien zeigen Landschaftsansichten, die Richter auf Wanderungen durch die Silser Umgebung festhält: schneebedeckte Bergketten und Fichtenwälder, karge Geröllfelder jenseits der Baumgrenze, sonnenbeschienene Täler und Ansichten des Silser Sees. Richter wird selbst zum Wanderer, dessen fotografisch dokumentierte Eindrücke von gebirgigen Höhen und rauhen Gipfeln es vermögen, Nietzsches bilderreiche Schilderung einer riskanten Wanderung durch die Berglandschaft zu visualisieren. Richters Landschaften können also mit jenen Gegenden in Zusammenhang gebracht werden, die der Wanderer Nietzsches bewusst wählt, um sich bildhaft aus der schützenden Konformität in die Selbstbestimmung zu begeben. In den Landschaftsaufnahmen werden die entlegene Erhabenheit in der Gebirgszone gegenüber den Tälern und ten

Hansdieter Erbsmehl, „Im Schatten Nietzsches. Gerhard Richters ,Sils'-Ausstellung 1992", in: Georges-Bloch-Jahrbuch des Kunstgeschichtlichen Seminars der Universität Zürich 1997, Bd.4, Zürich 1997, 209.

Die

179

Wanderung im Gebirge

die rauhe Kälte als Ausdrucksträger einer ungewohnten, von tradierten Strukturen distanzierten Denk- und Daseinsform anschaulich. Man findet in seinen Aufnahmen jene Bilder im Kontext der Berglandschaft wieder, die in Nietzsches Schriften der metaphorischen Vermittlung der Wanderung im Sinne der Gewinnung von Autonomie dienen.

3. Die Frage nach der Möglichkeit der künstlerischen Umsetzung des Wanderermotivs In den Schriften Nietzsches wird die Relation zwischen der bildlichen Ebene der Metaphern und des durch diese vermittelten Ideengehaltes in dem Motiv des Wanderers deutlich. Die sprachliche Vermittlungsinstanz der Metaphorik stellt die konkrete Realität individueller Abläufe dar, die wiederum auf eine weitere Ebene verweist: Die bildliche Darstellung des Wanderers muss als Motiv für einen Menschen begriffen werden, der mit den üblichen Orientierungsmustern bricht und in einen offenen, unbeschränkten Bereich jenseits der Reglementierung und der gewohnten Haltungen drängt. Diverse Naturbilder aus dem Bereich der Bergwelt dienen der Darstellung der losgelösten, zunehmend autonomen Position des Wanderers und dem ihr innewohnenden Risiko, an der Überschreitung tradierter Grenzen und dem damit verbundenen Verlust an Sicherheit zu Grunde zu gehen. Mit dem Ausbruch aus gewohnten Strukturen sucht der Mensch, wie er sich im Wanderer zeigt, die Abkehr von einem Bereich der tradierten

Begrenzung zugunsten einer eigenständigen persönlichen Fortentwicklung.

ausgewählten Beispiele aus der bildenden Kunst setzen sich explizit oder im übertragenen Sinne mit der Ikonographie des Wanderers auseinander. Der Bezug auf das Motiv des Wanderers und dessen natürliche Umgebung und die Biographie Nietzsches werden als Plattform für die assoziativ geprägte Auseinandersetzung mit seinen Ideen genutzt. Im Hinblick auf die Frage nach der Struktur der Wanderung bei Nietzsche, die der Idee eines Daseins in bewusst gewählter Gefährlichkeit und Offenheit folgt und darin als in sich geschlossenes darstellendes Gefüge in Erscheinung tritt, zielen die künstlerischen Beispiele mit bildnerischen Mitteln allerdings nicht auf eindeutige Lösungsansätze: Bewusst gewählte Ausschnitthaftigkeit, die damit verbundene fehlende Eindeutigkeit der Bilder und die Konzentration auf die assoziative Kraft des Wanderermotivs sind kennzeichnend für die ausgewählten Arbeiten. Nietzsche realisiert die Idee mit einem in sich geschlossenen ikonographischen System, um mit dem Bild des Wanderers auf über der konkreten Bildebene liegende existentielle Zusammenhänge zu verweisen. Die vielschichtige Verschränkung von darstellender und dargestellter Ebene ergibt eine Komplexität, die in den besprochenen Arbeiten nicht exakt formuliert werden kann, so dass hierin der Grund dafür liegt, warum diese der rein assoziativen Die

Ebene verhaftet bleiben müssen. In diesem

Zusammenhang

ist die

Äußerung Erbsmehls zu berücksichtigen, der in seinem Aufsatz

betont, dass sich Richter „mit der Rezeption des Hochgebirges als Metapher für intellektuelle Einsamkeit ausserhalb des Kulturbetriebs [beschäftigt]". Vgl. Hansdieter Erbsmehl, „Im Schatten Nietzsches", 200.

Andreas Hütig

Zwischen Barbarisierung und Vergeistigung Nietzsches Theorie der Moderne und seine These vom Ende der Kunst

1.

Einleitung: Kunst und Wissenschaft

Die Funktion und Rolle der Kunst kann bei Nietzsche bekanntermaßen nicht zu hoch eingeschätzt werden. Dies gilt v. a. für den frühen Nietzsche: Hier wird der dionysische Rausch dem principium individuationis entgegengesetzt, nur die Kunst soll als „Artisten-Metaphysik" (KSA, GT, 1, 13) den Zugang zum „Ur-Einen" (KSA, GT, 1, 25) ermöglichen, und die frühe Position gipfelt in dem Diktam, nur als „ästhetisches Phänomen" sei „die Welt zu rechtfertigen" (KSA, GT, 1, 17). Auch für die späte Phase ist die Wertschätzung der Kunst unübersehbar, wenn auch verschoben: Zarathustra ist eine neue Art von Werk, das in Gehalt und Form den Unterschied zwischen Philosophie und Kunst aufzuheben trachtet. Dabei ist jedoch nicht rauschhafte Versenkung das Ziel, sondern die Perspektivierung geschieht gerade im Bewusstsein der Vermitteltheit allen Weltbezugs. Auch die systematischeren Werke der späten Phase vollziehen diese Perspektivierungen bewusst, bis hin zu der Steigerung der ästhetischen Gestaltung in der das Leben in ein Buch transformierenden Autobiographie Ecce homo. Noch die programmatische Physiologie der Kunst, das Projekt einer leiblich fundierten Analyse der künstlerischen und ästhetischen Wirkungen, zeugt von der Zentralstellung der Kunst in Nietzsches Denken. Dies scheint für die mittlere Phase, also die Zeit von etwa 1876 bis 1882, nur eingeschränkt oder gar nicht zu gelten. Der schöne Schein der Kunst wird als Schein der Lüge entlarvt, die Psychologie des Künstlers seziert, die Kunst als Religionsersatz kritisiert. Die Wissenschaft tritt als neues Ziel, als Perspektive des Freigeistes an die Stelle der Kunst: „Der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwicklung des künstlerischen." (KSA, MA, 2, 186) Neben der deutlichen Abwertung „Die Kunst [...] ist nicht für Physiker und Philosophen da." (KSA, MA, 2, 150) und der Transformation der Philosophie zu einer historischen und wissenschaftlichen finden sich jedoch in die-



Vgl. hierzu Claus Zittel, Das ästhetische Kalkül stra', Würzburg 2000.

von

Friedrich Nietzsches .Also

sprach

Zarathu-

182

Andreas Hütig

Kunstbetrachtung.2

Zeit noch zwei weitere Stränge der Neben die psychologischentlarvende Sicht, die die kompensatorischen Effekte der Kunst nennt und dabei ihre Beiträge zur Menschheitsentwicklung würdigt, tritt zunächst als zweiter Strang eine Analyse der durch die Kunst entstehenden erhöhten Gefühlsintensität. Nietzsche präsentiert sich in vielen Beispielen als sensibler Rezipient mit hohem Differenzierungsvermögen und mit einem präzisen Blick auf Strukturen und Formen ästhetischer Werke in historischer Perspektive. In den historischen Bezügen finden sich diese beiden Stränge oft verwoben, werden die Zugewinne an Gefühlsintensität mit den kulturgeschichtlichen Nebenfolgen kontrastiert. Vor allem in dem zweiten, deskriptiv-analytischen Blickwinkel ist zudem eine elegische Melancholie über das Ableben der Kunst unüberhörbar; Nietzsche weiß um die trügerischen wie um die erhebenden Effekte der Kunst. Die Rekonstruktion dieser beiden Stränge zeigt nicht nur ein Ineinander von Kritik und Affirmation, sondern offenbart darüber hinaus das gemeinsame Fundament dieser Wertungen und Analysen: Beide beruhen auf Nietzsches Einschätzung des Geistes seiner Zeit. Vermittelt über die Strukturen der Kunstwerke seiner Gegenwart, die unter den spiegelbildlichen Aspekten Vergeistigung und Barbarisierung zu beschreiben sind, analysiert Nietzsche die Gründe für die beschriebenen Entwicklungen und diagnostiziert ein Ende der Kunst durch zwei Entwicklungen: Einerseits schlägt der ehedem sich kreativ entäußernde Impuls um in eine strukturierte, nüchterne Konzentration und wandert in die neue, wissenschaftliche Haltung zur Welt aus. Andererseits tendiert die zeitgenössische Kunst als Spiegel dieser Entwicklung zu einer immer grelleren, auf sinnliche Sensationen setzenden Produktionsweise, die in mediokre Launenhaftigkeit und Exotismus umschlägt. Nietzsche treibt keine Geschichtsphilosophie im eigentlichen Sinne. Gleichwohl zeigt die These von der Zeitgebundenheit allen Stils wie zahlreiche andere Argumente, ser

2

3

4

ebenso Theo Meyer, Nietzsche. Kunstauffassung und Lebensbegriff, Tübingen 1991, 178ff, sowie ders., Nietzsche und die Kunst, Tübingen 1993, 72ff. Dieser Gedanke findet sich u. a. auch bei Sigridur Thorgeirsdottir, Vis creativa. Kunst und Wahrheit in der Philosophie Nietzsches, Würzburg 1996, 113ff, wird aber dort nur mit Blick auf die späteren Lehrstücke etwa der Physiologie der Kunst hin ausgelegt, wie Thorgeirsdottir selbst einräumt

Vgl.

(a.a.O., 113).

Bei Hegel ist die These vom Ende der Kunst aus der Entwicklungsgeschichte des zu sich selbst kommenden absoluten Geistes abgeleitet. Einleitend schon als reflexiver Schritt definiert „Denn die Kunstschönheit ist die aus dem Geiste geborene und wiedergeborene Schönheit." (Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Werke in 20 Bd., Bd. 13-15, Frankfurt/M. 1970, hier Bd.13, 14) -, wird die Kunst anschließend für die Gegenwart verabschiedet: „Die eigentümliche Art der Kunstproduktion und ihrer Werke füllt unser höchstes Bedürfnis nicht mehr aus; wir sind darüber hinaus, Werke der Kunst göttlich zu verehren und sie anbeten zu können [...]. Der Gedanke und die Reflexion hat die schöne Kunst überflügelt. [...] In allen diesen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmungen für uns ein Vergangenes." (A. a. O., 25) Zu Hegels Ästhetik allgemein sowie zur umstrittenen These vom Ende der Kunst im speziellen immer noch Dieter Henrich, „Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart (Überlegungen mit Rücksicht auf Hegel)", in: Wolfgang Iser (Hg.), Immanente Ästhetik. Ästhetische Reflexion, München 1966, sowie Annemarie Gethmann-Siefert/Otto Pöggeler (Hg.), Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik, Bonn 1986 (Hegel-Studien, Beiheft 27). Obgleich umstritten ist, ob die Kunst -

Zwischen Barbarisierung und Vergeistigung

183

dass es sehr wohl ein Entwicklungsmodell und eine Zeitdiagnose sind, die seine Analyse fundieren. Die Zwischenstellung der Kunst zeigt sich gerade und nur dem historisch Philosophierenden, die Theorie der Moderne bedingt sowohl die entlarvende Kritik am bisherigen Glauben an die Schönheit, die doch nur Schein ist, wie auch die Melancholie im Rückblick auf die nicht mehr erreichte Gefühlsintensität. Das subjektive Ablehnen und das objektive Ableben der Kunst sind zwei Facetten des Übergangs zur freigeistigeren, wissenschaftlich-historischen, aufgeklärten Haltung zur Welt. Emotionale, intensive Schönheit, die Geschlossenheit des großen Stils gehen verloren, die wissenschaftliche Haltung bedarf ihrer nicht mehr oder nur als zeitweiliges Mittel: „die Kunst [... ist] zu benutzen, um das mit Empfindungen überladene Gemüth zu erleichtern [...]. Von der Kunst aus kann man dann leichter in eine wirklich befreiende philosophische Wissenschaft übergehen." (KSA, MA, 2, 48) Aber nicht nur ist Nietzsche sich auch der Verluste des Übergangs bewusst, vielmehr zeigen die Darstellungen und Analysen eine hochgradige Ambivalenz in seiner Bewertung der Gegenwart und Formen von Kunst und Wissenschaft wie auch in den historischen Rekonstruktionen. Zum einen nämlich übernimmt die Wissenschaft von der Kunst den poietischen Weltbezug und erbt damit gewisse Probleme. Zudem ist fraglich, ob die in Menschliches, Allzumenschliches auch schon angelegte Wiedervereinigung von Kunst und Erkenntnis der späteren Werke systematisch haltbar ist: Schöpferische Kreativität kann nur sinnvoll ästhetische Lust verschaffen, wenn ihr fiktionaler Charakter sich gegen andere Formen des Weltbezugs profilieren kann. Neben diesen systematischen Problemen entsteht aber auch eine zutiefst problematische methodische Ambivalenz: Fällt nämlich das Ende der Kunst mit ihrem Historisch-Werden ineins, so besteht Kunst eigentlich erst dort, wo ihr Ende proklamiert wird, wo sie sich also selbst durch ihre Überschreitung aufhebt. Nietzsche inszeniert mit und in seinen Analysen ein Ende der Kunst, das die Kunst als solche erst entstehen lässt. Die folgenden Ausführungen rekonstruieren, v. a. mit Blick auf Menschliches, Allzumenschliches, diese Inszenierung und den Zusammenhang der These vom Ende der Kunst mit der Theorie der Moderne und diskutieren ihre Ambivalenz.

selbst philosophisch wird oder nur der Aufhebung in der Philosophie bedarf, also die These vom Ende der Kunst bei Hegel schwierig einzuordnen ist, lassen sich Differenz und Konkordanz zu Nietzsche v. a. in Bezug auf den geschichtsphilosophischen Aspekt benennen. Ein Vergleich mit der entsprechenden These von Arthur Danto, 77îe philosophical Disenfranchisement of Art, New York 1988, unterbleibt hier. Vgl. Christof Menke, Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, Frankfurt/M. 1991.

184

Andreas Hütig

2. Zweimal die Kunst:

Psychologische Entlarvung und

elegische Reminiszenz

Nietzsche liefert einerseits die Genealogie des Gefühlvollen in der Kunst, andererseits eine harsche Kritik an ihrer Ersatzfunktion.6 Sie legt „den Flor des umeinen Denkens" (KSA, MA, 2, 144) über das Leben und macht seinen Anblick damit erträglich, ist Kanal für pathetische Energien, die durch die Religionskritik der Aufklärung im religiösen Feld nicht mehr zum Abfluss kommen können. Die Wiederaufnahme der religiösen Gefühle geschieht in kompensatorischer Absicht: Die Dichter sind ,ßrleichterer des Lebens", sie „wenden den Blick entweder von der mühseligen Gegenwart ab oder verhelfen der Gegenwart durch ein Licht, das sie von der Vergangenheit herstrahlen machen, zu neuen Farben." Diese Kompensation ist für Nietzsche durchaus kritikabel: „sie beschwichtigen und heilen nur vorläufig, nur für den Augenblick; sie halten sogar die Menschen ab, an einer wirklichen Verbesserung ihrer Zustände zu arbeiten, indem sie gerade die Leidenschaften der Unbefriedigten, welche zur That drängen, aufheben und palliativisch entladen." (KSA, MA, 2, 143) Was wie eine Mischung aus Piatons Dichterschelte und radikafrevolutionärem Anti-Bürgertum klingt, steht ganz im Dienste des proklamierten Übergangs zur wissenschaftlichen Philosophie: Der Künstler steht „nicht in den vordersten Reihen der Aufklärung und der fortschreitenden Vermännlichung der Menschheit" (KSA, MA, 2, 142), selbst die Griechen, die wussten, „dass einzig durch die Kunst selbst das Elend zum Genüsse werden könne", wurden „zur Strafe [...] von der Lust, zu fabuliren, so geplagt" (KSA, MA, 2, 146), dass ihnen Probleme mit der Unterscheidung von Lüge und Wahrheit entstanden. Um diese gegenaufklärerische Funktion Nietzsche versteht sich zu dieser Zeit als Aufklärer8 zu kaschieren, setzen die Künstler auf Inspiration, gerieren sich als Sprachrohr des Übersinnlichen, verleugnen den handwerklichen Teil ihrer Werke und geben nur vor, „für die höhere Würde und Bedeutung des Menschen" (KSA, MA, 2, 142) zu kämpfen. -

6

'

-

Zur Methode dieser Kulturkritik, von den Arten der Befriedigung auf die Bedürfhisse zu schließen, vgl. Renate Reschke, „Einspruch gegen .abgeirrte Cultur'. Zu einigen Konturen Nietzschescher Kulturkritik", in: Weimarer Beiträge, 37/2, Berlin/Weimar 1991, 165-185, hier v. a. 166ff. „Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen nachlassen. [...] Der zum Strome angewachsene Reichtum des religiösen Gefühls bricht immer wieder aus und will sich neue Reiche erobern: aber die wachsende Aufklärung hat die Dogmen der Religion erschüttert und ein gründliches Misstrauen eingeflösst: so wirft sich das Gefühl, durch die Aufklärung aus der religiösen Sphäre hinausgedrängt, in die Kunst; in einzelnen Fällen auch auf das politische Leben, ja selbst direct auf die Wissenschaft. Ueberall, wo man an menschlichen Bestrebungen eine höhere düstere Färbung wahrnimmt, darf man vermuthen, dass Geistergrauen, Weihrauchduft und Kirchenschatten daran hängen geblieben sind." (KSA, MA, 2, 144). Zum Aufklärungsbegriff bei Nietzsche und seinem Selbstverständnis als Aufklärer siehe u. a. Henning Ottmann, „Nietzsches Stellung zur antiken und zur modernen Aufklärung", in: Josef Simon (Hg.), Nietzsche und die philosophische Tradition, Bd.2, Würzburg 1985, 9-34; Josef Simon, „Aufklärung im Denken Nietzsches", in: Jochen Schmidt (Hg.), Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1989, 459-474; Hans-Martin Gerlach, .Aufklärung und Gegenaufklärung das Beispiel Nietzsche", in: Ryszard Rózanowski (Hg.), Aktualität der Aufklärung, Wroclaw 2000, 195-205. -

Zwischen Barbarisierung und

Vergeistigung

185

Aber mit dieser entlarvenden Perspektive sind nicht nur negative Einschätzungen verbunden. Im zitierten Urteil über die Griechen heißt es ebenso, dass nur durch die homerische Leichtfertigkeit ihr überscharfer Verstand zu beschwichtigen war. Ähnlich verstanden die Griechen ihre natürliche Anlage zu „Nerven-Epidemien" in den „herrlichen Typus der Bacchantin" umzuwandeln und dienten dadurch der „Veredelung der Wirklichkeit" (KSA, MA, 2, 174). Die Kunst ist insofern nicht nur im negativen Sinne „Nachwirkung einer uralten mythologischen Empfindung" (KSA, MA, 2, 143), sondern war wie der Mythos ein wichtiger Schritt in der Ausbildung der Sprache und Bedeutung.9 Die Kunst war ein entscheidendes Mittel zum „Seelenbrechen, Steinebewegen und Thierevermenschlichen" (KSA, MA, 2, 145), notwendig und wirkungsvoll für die Ausbildung des spezifisch Menschlichen. Sie ist eine Entwicklungsstufe, ein Schritt hin zu einem aufgeklärten, freigeistigen, selbstbestimmten Weltbezug. Als eine solche Stufe ist die Kunst dann aber auch etwas, das abzulegen ist eine Jugendphase, ein vergangener Entwicklungsschritt: „Wie man sich im Alter der Jugend erinnert und Gedächtnissfeste feiert, so steht bald die Menschheit zur Kunst im Verhältnis einer rührenden Erinnerung an die Freuden der Jugend [...]." (KSA, MA, 2, 186) Nietzsche spekuliert gar, es sei eben die Blüte der Kunst gewesen, die die Freigeisterei erst habe entstehen lassen, mit der Vermutung, dass die „sehr starke, um sich greifende Freigeisterei Zeugnis dafür sein [möge], dass irgendwo die Gluth der Empfindung ausserordentlich gewachsen ist." (KSA, MA, 2, 194) Die Kunst, einst verantwortlich für die „Intensität und Vielartigkeit der Lebensfreude" (KSA, MA, 2, 186), war ebenso wichtig wie heute nicht mehr nötig. Trotz oder aufgrund dieser Genealogie des künstlerischen Gefühls erinnert sich Nietzsche mit Dankbarkeit und elegischer Melancholie an die hochwertigen Kunstwerke und die durch strenge Bindung erreichte Gefühlsintensität. „Ebenso wie nicht nur das Mannesalter, sondern auch Jugend und Kindheit einen Werth an sich haben und gar nicht nur als Durchgänge und Brücken zu schätzen sind" (KSA, MA, 2, 170), so hat auch die Kunst einen solchen Wert. Die Bändigung durch griechisches Maßhalten erscheint als unwiederbringlich verlorene Kunstfertigkeit, die seit Voltaire nicht mehr beherrscht wird (vgl. z. B. KSA, MA, 2, 180ff. ). Die „rührende Sage" (KSA, MA, 2, 180), dass es Kunst wie diejenige Dantes, Raffaels oder Michelangelos einmal gegeben habe, wird selbst dem Freigeist das Herz schwer machen,11 das „metaphysische Bedürfnis" ist so stark, dass gerade die „höchsten Wirkungen der Kunst leicht ein Miterklingen der lange verstummten, ja zerrissenen metaphysischen Saite hervorbringen" können, und der Denker, Beethovens neunte Symphonie hörend, „seufzt nach dem Menschen, -

-

9

-

dem

„ungeheuren Irrthum" im „Glauben an die Sprache", es sei „[glücklicherweise [...] spät, [...] die Entwickelung der Vernunft, die auf jenem Glauben beruht, wieder rückgängig" (KSA, MA, 2, 31 ) zu machen. Ebenso heißt es in Vermischten Meinungen und Sprüchen: „Sind die jetzigen grossen Künstler

Nietzsche sagt gar

zu

zu

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meistens Entfesseier des Willens und unter Umständen eben dadurch Befreier des Lebens, so waren jene Willens-Bändiger, Thier-Verwandler, Menschen-Schöpfer und überhaupt Bildner, Um- und Fortbildner des Lebens [...]." (KSA, VM, 2, 452). Dieses Bild ist vorgeprägt bei Wilhelm Heinrich Wackenroder, Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, in: ders., Sämtliche Schriften, Hamburg 1968, 7-104, hier 9. -

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Andreas Hütig

186

welcher ihm die verlorene Geliebte, nenne man sie nun Religion oder Metaphysik, zurückführe. In solchen Augenblicken wird sein intellectualer Charakter auf die Probe

gestellt." (KSA, MA, 2, 145) Die elegischen Untertöne korrespondieren mit einer scharfen Kritik an der Kunst der Gegenwart. Nietzsche fordert drakonische Strafen gegen die Schriftsteller, um der Flut der Bücher Einhalt zu gebieten, schilt die Feuilletonisten die „Narren der modernen Cultur", die allenfalls „nicht ganz zurechnungsfähig" (KSA, MA, 2, 165) sind, geißelt das Virtuosentum, die Entwicklung der neueren Musik und die darin zu entdeckende „Abstumpfung" (KSA, MA, 2, 177) und zitiert zustimmend die Kritik Byrons an den innerlich falschen revolutionären Systemen. Darin manifestiert sich historisch wie biographisch eine Abkehr von früheren, eigenen wie fremden poetischen Revolutionstendenzen: Die Kunst und die von ihr inspirierte Gesellschaftskritik soll und kann keinen positiven Beitrag mehr zur Entwicklung der Menschheit leisten.12 3. Das

„Zeitalter der Vergleichung" (KSA, MA, 2, 44)

In der die Melancholie ergänzenden Kritik an der Kunst der Gegenwart wird deutlich, dass im Verfall der Gegenwart mehr als nur ein zufalliges Geschehen zu sehen ist. Nietzsche betont explizit die „Gebundenheit aller künstlerischen Stilarten an Ort und Zeit" (ebd.); er erläutert, dass „für gewisse Lebenszeiten eine Kunst der Ueberspannung, der Erregung, des Widerwillens gegen das Geregelte, Eintönige, Einfache, Logi-

sche ein nothwendiges Bedürfnis ist [...]" (KSA 2, VM, 453), und beschreibt treffend, dass der Dichter nur insofern als vox dei gelten kann, insofern er vox populi ist und die „allgemeinen höheren Meinungen [ausspricht], welche ein Volk hat" (KSA 2, VM, 455), das ihn deswegen schätzt. Die Zeit und der Ort bestimmen die Verfassung der Kunst; eine Gesellschaft, ein Volk haben die Kunst, die sie verdienen Kultur ist geradezu definiert als die „Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen" (KSA 1, HL, 274). Was also ist die Verfassung der Gegenwart, wenn sie eine Kunst wie die beschriebene hat? Es ist das „Zeitalter der Vergleichung", das alle Eindrücke, Werte und Sensationen verrechnet und nebeneinander hält. „Das ist sein Stolz aber billigerweise auch sein Leiden." (KSA, MA, 2, 44) Aus der permanenten Wertrelativierung resultiert die „moderne Unruhe. [...] Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Civilisation in eine neue Barbarei." (KSA, MA, 2, 232) Maschinenherrschaft, Technikwahn, Beschleunigung der Wahrnehmung und Kommunikation sowie eine zunehmende Massen-

-

12

Entsprechend heißt es rückblickend im Vorwort zu Der Fall Wagner: „Wagnern den Rücken zu kehren war für mich ein Schicksal [...]. Niemand war vielleicht gefahrlicher mit der Wagnerei verwachsen, Niemand hat sich härter gegen sie gewehrt, Niemand sich mehr gefreut, von ihr los zu sein. [...] Wenn ich Moralist wäre, wer weiss, wie ich's nennen würde! Vielleicht Selbstüberwindung." (KSA, WA, 6, 11) Nietzsche parallelisiert seine eigene Auseinandersetzung mit dem utopisch-revolutionären Ästhetizismus mit der Überwindung des ästhetischen Zeitalters in der Geschichte der Menschheit, er macht sich zum exemplarischen Menschen, die Menschheit zum Spiegel seiner Selbsteinschätzung.

Zwischen Barbarisierung und herrschaft durch die

wart.13

Vergeistigung

187

Abhängigkeit von Medien und Konsum kennzeichnen die Gegen-

In kunsttheoretischer Hinsicht zeigt sich ein Absterben des religiösen Sediments innerhalb der kulturellen Werke, das nur noch als Erinnerung wirken, wie eine zerrissene Saite klingen kann. Auch die „Wissenschaft der Kunst" (KSA, MA, 2, 141) hat den Tod Gottes noch nicht angemessen realisiert und durch eine Betonung des historischen Charakters der Illusion der Vollkommenheit zu widersprechen. Sowohl das Werden des einzelnen Kunstwerks als auch das Entstehen und Absterben der Kunst gilt es aufzuzeigen. In der Durchführung des Programms deckt Nietzsche zwei Entwicklungen auf. Zum einen regrediert die frühere, konzentrierte Schönheit mitsamt dem „Ernst des Symbolischen" (KSA, MA, 2, 26) in sensationistische Hochschätzung des Exotischen, Maßlosen, Pseudo-Revolutionären, eine „hereinbrechende Fluth von Poesien aller Stile aller Völker" der „moderne Geist mit seiner Unruhe, seinem Hass gegen Maass und

Schranke, [ist] auf allen Gebieten zur Herrschaft gekommen [...]."(KSA, MA, 2, 182)14 Diese Entwicklung korreliert mit einer zweiten, der ,ßntsinnlichung der höheren Kunst" (KSA, MA, 2, 177): zunehmende Vergeistigung, ein Aufladen mit Bedeutung ist -

die Gegenbewegung zum lärmenden Stilpluralismus. Die Entsinnlichung und die „barbarischen Avantagen" (KSA, MA, 2, 182) der Gegenwart sind das Auseinandertreten zweier Momente des Ästhetischen. Hier nähert sich Nietzsche in Zeitdiagnose wie ästhetischer Theorie der klassischen deutschen Philosophie an. Schon Kant betont, dass ästhetische Erfahrung nur gelingt, wenn sinnliche und geistige Erfahrung sich ergänzen und weder durch unreflektierte Lust „den Geist stumpf'16 machen noch durch um sich selbst17 kreisende, launenhafte Genialität in Unsinn und „unvorsatzliche Veränderlichkeit" ohne Ordnung verfallen. Kant empfiehlt deshalb in psychohygienischem Interesse eine wechselseitige Begrenzung. Schiller hat dieses Auseinandertreten als Folie der Gesellschaftskritik genutzt. „In seinen Thaten 13

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zu den kulturkritischen Grundlinien Renate Reschke, „Abgeirrte Cultur", 167-180, sowie für eine generelle Einschätzung Hans-Martin Gerlach, „,...denn aus uns haben wir Modernen gar nichts.' Nietzsche und das Problem der Kritik der modernen Vernunft", in: Volker Caysa/KlausDieter Eichler (Hg.), Praxis Vernunft Gemeinschaft. Auf der Suche nach einer anderen Vernunft, Weinheim 1994, 178-189. Vgl. auch KSA, NF, 8, 814: Die Kunst des Tages soll „die moderne Art zu leben, rechtfertigen, als Abbild ihrer hastigen und überreizten Verweltlichung, als ein immer bereites Zerstreuungs- und Auseinanderstreuungsmittel, unerschöpflich in der Abwechslung des reizenden und Prickelnden, gleichsam der Gewürzladens des ganzen Occidents und Orients [...]." „So giebt es in Deutschland eine doppelte Strömung der musicalischen Entwicklung: hier eine Schaar von Zehntausend mit immer höheren, zarteren Ansprüchen und immer mehr nach dem ,es bedeutet' hinhörend, und dort die ungeheuere Ueberzahl, welche alljährlich immer unfähiger wird, das Bedeutende auch in der Form der sinnlichen Hässlichkeit zu verstehen und desshalb nach dem an sich Hässlichen und Ekelhaften, das heisst dem niedrig Sinnlichen, in der Musik mit immer mehr Behagen greifen lernt." (KSA, MA, 2, 178). Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, A 214, Akademieausgabe Bd. 5, 326. Ders., Reflexionen zur AnthropologieNr. 504, Akademieausgabe Bd.16. Vgl. Andrea Kern, Schöne Lust. Eine Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant, Frankfurt/M. 2000, 123 ff.

Vgl.

Andreas Hütig

188

malt sich der Mensch, und welche Gestalt ist es, die sich in dem Drama der jetzigen Zeit abbildet! Hier Verwilderung, dort Erschlaffung: die zwey Aeussersten des menschlichen Verfalls, und beide in Einem Zeitraum Diese Diagnose lässt bereits den elitären Charakter erkennen, den die Utopie des ästhetischen Staates besitzen wird; im Fortgang wird die Kunst bei Schiller nicht Weg zur Freiheit, sondern selbst utopisches Ziel. Nietzsche ist konsequenter. In Entsinnlichung und Barbarisierung liegt nicht nur ein Verlust, sondern auch eine Aufgabe: das Auseinandertreten zu akzeptieren, nicht den Versuch einer erneuten Synthesis zu unternehmen, sondern den Schritt der Vergeistigung ganz zu vollziehen und nicht mehr auf Gefühlsintensität zu bauen, sondern die Kunst wirklich als Vergangene zu betrachten, statt dessen das „Reich der inneren, geistigen Schönheit" (KSA, MA, 2, 26) zu vertiefen und auszubauen.20 Schillers ursprünglich politischer Impuls mündet darin, im Schein von Freiheit diese zwar vorzuspielen, an den unfreien Verhältnissen aber nicht zu rütteln21 Nietzsche will diese zum Tanzen bringen, aber nicht durch Kunst, nicht einmal mit ihr. An ihre Stelle tritt, als kulturell höher stehende Weiterentwicklung der auseinanderfallenden Kunst, das historische Philosophieren. Der Freigeist soll im Bewusstsein des Projektionscharakters, aber zugleich in strenger Regelbefolgung, also in einem spielerischen Umgang mit den eigenen Weltbezügen, die Bindungen an die Traditionen lösen und Wissen nur noch mit Gründen, nicht aus Glauben anerkennen. Nicht nur mit Blick auf die Frühphasen der Kunst zeigt sich die Zwischenstellung der Kunst, sondern auch und gerade in den Analysen ihrer Spätformen und Stadien des Zugrundegehens. Dem historisch Philosophierenden ist deshalb noch die Geschichte des Vergehens der Kunst eine Lehre und ein Ansporn; Nietzsche entfaltet die Krise der Gegenwart anhand der Kunst, um seine Strategie der Bewältigung zu propagieren. Die Zeitkritik beruht auf einer Theorie der Moderne, die diese als décadence ansieht; im Hintergrund steht auch hier die Einschätzung der europäischen Geistesentwicklung als Nihilismus. In den Gefahren der Gegenwart, die zur Selbstverkleinerung des Menschen führen können, gilt es Aspekte zu betonen, die Fortschritt ermöglichen, der nicht notwendig, aber möglich ist. Das Absterben der Tier- und Pflanzenkultur ist Bedingung des Weiterlebens der menschlichen Kultur das Fehlen der zentralen Lehrstücke des späten Nietzsche verhindert, dass diese eine Kultur des Übermenschen genannt werden kann.

vereinigt."19

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-

19

20

21

2

Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Nationalausgabe Bd.20: Philosophische Schriften Teil I, mit Helmut Koopmann hg. v. Benno von Wiese, Weimar 1962, 309^112, 5. Brief, 319. So ist es „Merkmal einer hohem Cultur, die kleinen unscheinbaren Wahrheiten, welche mit strenger Methode gefunden wurden, höher zu schätzen, als die beglückenden und blendenden Irrthümer, welchen metaphysischen und künstlerischen Zeitaltern und Menschen entstammen." (KSA, MA, 2, 25). Vgl. hierzu Hartmut Scheible, „Die Vertreibung des Subjekts aus der Ästhetik: Friedrich Schiller", in: ders., Wahrheit und Subjekt. Ästhetik im bürgerlichen Zeitalter, Reinbek 1988, 171-189. „Aber die Menschen können mit Bewusstsein beschliessen, sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln, während sie sich früher unbewusst und zufällig entwickeln [...]. Die neue bewusste Cultur tödtet die alte, welche [...] ein unbewusstes Thier- und Pflanzenleben geführt hat; sie tödtet auch das Misstrauen gegen den Fortschritt, er ist möglich" (KSA, MA, 2, 45). -

Zwischen Barbarisierung und

189

Vergeistigung

4. Das Erbe der Kunst Nietzsche erzählt, bei aller Kritik am schönen Schein der Kunst, an der zerfallenden Kunst der Gegenwart und trotz der Melancholie, eine Erfolgsgeschichte. In den kritischen Untersuchungen wie in den Entlarvungen von Inspiration, Genie und zeitloser Vollkommenheit zeigen sich die traditionellen Kategorien und Vorstellungen als lebensnotwendige oder zumindest lebensförderliche Fiktionen. Die neue, wissenschaftliche Haltung, die über den fiktionalen Charakter der Welterschließungsinstrumente informiert ist, verzichtet nicht etwa auf Fiktionen, sondern setzt diese im Gegenteil offensiv und allererst bewusst ein. Die Bindung des Freigeistes beruht auf Gründen, seine Freiheit besteht nicht in der völligen Auflösung jedes Maßes. Der offensiv betonte Fiktionscharakter und die strenge, an die Regeln eines Spiels gemahnende, aber selbstgewählte Bindung sind das Erbe der Kunst in der Freigeisterei. Hierzu differenziert Nietzsche die in der romantischen wie seiner eigenen früheren Kunstauffassung verbundenen Aspekte des Aisthetischen, die Welt Erkennenden, und des Poietischen, sie schöpferisch Umgestaltenden, auseinander. Die Wissenschaft soll den poietischen Aspekt erben, auf den aisthetischen jedoch explizit verzichten ein Projekt mit allerdings fragwürdigem systematischen Erfolg: Die ihrer selbst bewusste Fiktion ist dann und nur dann lebensförderlicher als die abgelehnte, wenn die Welt tatsächlich kategorial unerfassbar ist, weshalb alle unsere Systeme Zurechtmachungen mit größerem oder kleinerem pragmatischen Erfolg sind. Nur wenn die Aussage, dass all unsere Kategorisierungen Fiktionen sind, zutreffend ist, nur dann kann ein gezieltes Modellieren dieser Fiktionen Vorteile bieten. Diese Erkenntnis des wirklichen Charakters der Welt ist uns aber Nietzsche zufolge verwehrt.25 Aber die Freigeisterei ist sowieso nur dann eine Überwindung des Willens zum Ende, wenn die Diagnose der Moderne zutrifft und nicht selbst wieder Produkt einer kunstvollen Inszenierung, die These vom Ende der Kunst nicht selbst Projektion ist. Mit dieser These behauptet Nietzsche ein Doppeltes: Einerseits vergeistigt die Kunst zunehmend, andererseits setzt sie zunehmend auf Massenresonanz durch immer neue, -

Vgl. zum Freigeist v. a. KSA, MA, 2, 187ff. Vgl. hierzu jüngst ebenso Birgit Recki, ,„Artisten-Metaphysik' und ästhetisches Ethos. Friedrich Nietzsche über Ästhetik und Ethik", in: Andrea Kern/Ruth Sonderegger (Hg.), Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik, Frankfurt/M. 2002, 262-285. Zudem lässt sich in Frage stellen, ob eine solche Haltung der bewussten Fiktionalität überhaupt lebbar ist. Nietzsche behandelt diese Frage im Schlussaphorismus des ersten Hauptstücks von Menschliches, Allzumenschliches, zieht als Alternative allerdings nur in Betracht, dass der Einsicht in den Fiktionscharakter die Entscheidung zur Selbsttötung folgt, aus Furcht vor dem tragischen Charakter der menschlichen Existenz in der Welt. Hieran zeigt sich nicht nur, dass er wohl tatsächlich eine derartige tragische Weltsicht vertritt, obwohl seine eigenen epistemologischen Voraussetzungen dies nicht stützen, sondern darüber hinaus ließe sich behaupten, der bewusste Fiktionalismus sei eine so schizophrene und paradoxe Haltung, dass er mitnichten lebensforderlich sein könne. Nietzsche teilt diese Ansicht offenbar nicht; vielleicht beruht die benötigte Fähigkeit aber doch nicht nur auf dem „Temperament eines Menschen" (KSA, MA, 2, 54), sondern es ließen sich Gründe dafür oder dagegen angeben. Die These, es sei das Temperament eines Menschen, das ihn die Einsicht in den Fiktionscharakter aushalten lasse, ist zumindest nicht voraussetzungsffei.

Andreas Hütig

190

exotische Sensationen. Bedeutung und sinnliche Erfahrung treten auseinander, wie sich dieser Prozess modernitätstheoretisch beschreiben ließe. Zunehmend wird die Kunst dabei reflexiv: Sie bezieht sich in der vergeistigenden Variante zunehmend auf reine Bedeutung, auf die Geschichte des Symbolischen, und sie verstärkt das sinnliche Mo-

Rückgriff auf immer neue Stile, Formen und Kostüme. Beiden Varianten, der elitären wie der populären, ist also ein Bezug auf Traditionen, Bestände und Effekte der Kunst zu Eigen. Die Kunst in ihren Endphasen, in ihrem Verenden, in Traditionsabbruch und haltlosem Experimentieren, „streift [...] alle Phasen ihrer Anfange, ihrer Kindheit, ihrer Unvollkommenheit, ihrer einstmaligen Wament in der lärmenden Variante durch den

gnisse und Ausschreitungen: sie interpretirt, im Zu-Grunde-gehen, ihre Entstehung, ihr Werden." (KSA, MA, 2, 183) Erst als zu Ende Gehende gewinnt die Kunst also etwas, was ihr vorher nicht zukam oder zumindest verborgen war: ihr Gewordensein, ihre Geschichte. Dass dies tatsächlich ein Gewinn ist, zeigt sich darin, dass damit ein weiterer Schritt weg von allem vorkünstlerischem „Naturalisieren" (KSA, MA, 2, 181) getan sein soll, dass die Kunst damit einen Schein von Freiheit gewinnt. Das Ende der Kunst bedeutet also allererst die Entstehung einer historisch informierten Kunst, wie sich an Nietzsches Begeisterung für Goethe zeigt, der „das tiefste Verlangen empfand, die Tradition der Kunst wieder zugewinnen und den stehen gebliebenen Trümmern und Säulengängen des Tempels mit der Phantasie des Auges wenigstens wieder die alte Vollkommenheit und Ganzheit anzudichten [...]. So lebte er in der Kunst als in der Erinnerung an die wahre Kunst: sein Dichten war zum Hülfsmittel der Erinnerung, des Verständnisses alter, längst entrückter Kunstzeiten geworden." (KSA, MA, 2, 184)26 Da aber die Erkenntnis des Charakters der Gewordenheit genau das ist, was erst das historische Philosophieren leistet (und nur es allein leisten kann), so besteht im Grunde vor dieser Historisierung gar keine wahre Kunst. Als nicht historisch informierte ist Kunst vielleicht Mythos, vielleicht Religion, vielleicht etwas anderes aber keine Kunst; mit dem Ende der Kunst entsteht Kunst allererst. Nietzsche imaginiert konsequenterweise die „Gedächtnissfeste", die einst für die Kunst gefeiert werden, und die „Wehmut und Tränen" (KSA, MA, 2, 186), die den Genuss derselben erzeugen erst durch und in der „rührenden Sage" (KSA, MA, 2, 180), dass es einst Kunst gegeben habe, entsteht die Kunst als diese Sage. Erst mit dieser Erinnerungskunst entsteht Kunst als Relikt ihrer selbst, als „postartistisches Verhalten".27 Der proklamierte „Abbruch der Tradition" (KSA, MA, 2, 182), der die moderne Kunst mit ihren Verfallstendenzen erst in Gang gebracht haben soll, kann so als die Geburt der Kunst aus dem Geist der Religionskritik bezeichnet werden. Die moderne und im doppelten Sinne historisch gewordene geschichtsbewusste und historisch überholte Kunst ist in dieser Perspektive ein Nebenprodukt der Aufklärung. Sie speist sehnsüchtige Projektionen auch auf voraufklärerische geschichtliche Phasen, so die vorsokratische griechische Antike, ohne dass diese Quelle offengelegt und damit die positive Bewertung des projizierten Zustands als Ausfluss derselben -

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Vgl. zum Verhältnis zu Goethe Eckhard Heftrich, „Nietzsches Goethe", Nietzsche-Studien 16 (1987), 1-20; Volker Gerhardt, „Nietzsche, Goethe und die Humanität", in: Renate Reschke (Hg.), Zeitenwende Wertewende, Nietzscheforschung Sonderband I, Berlin 2001,19-30. Eva Geulen, Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel, Frankfurt/M. 2002, 76. -

Zwischen Barbarisierung und

Vergeistigung

191

relativiert wird. Nietzsches Diktam von der Gebundenheit des Denkers an seine Zeit bestätigt sich auch hier: Er selbst, als Spätling der Tradition der radikalen Aufklärung, kann sich nur der Vergangenheit mit Wehmut erinnern und in sie projizieren, was ihm in der Gegenwart missfallt. Ihm ist zugute zu halten, dass er dieses nicht verschleiert, wenn auch umständlich inszeniert. Wenn aber die Kunst nur durch ihr proklamiertes Ende zu dem wird, was wahre Kunst ist, und die Kritik an dieser erst den Übergang zur Freigeisterei motiviert, so steht mit der Inszenierung des Endes der Kunst auch das vorgeschlagene neue Denken in Frage. Nietzsches Stil, der im Aphorismus strenge Nüchternheit und bildliche Prägnanz auch durch ungewohnte Perspektiven verbindet, ist weiteres Indiz für ein methodisch zutiefst ambivalentes Resultat: Parallel zur „rührenden Sage" vom Ende der Kunst ist wohl auch das Plädoyer für die Freigeisterei eine ermutigende Sage und vielleicht nicht mehr als das -, es doch auch einmal mit der neuen Denkweise zu versuchen, dabei in der Durchführung performativ auf die Faszination dieses neuen Spiels zu verweisen. Es lässt sich mit guten Gründen die These vertreten, dass genau dies als das Spezifikum ästhetischen Verhaltens anzusehen ist. Damit wird auch die Kritik an der Gegenwart und werden die Gegenmodelle zu solchen kunstvollen Sagen, wird das historische Philosophieren zu einer Spielart ästhetischen Verhaltens. Nietzsche demaskiert als das Jenseits in der Kunst die Verklärung falscher Vorstellungen zu himmlischen, die Künstler sind „Verherrlicher der religiösen und philosophischen Irrthümer der Menschheit, und sie hätten diess nicht sein können ohne den Glauben an die absolute Wahrheit derselben." (KSA, MA, 2, 180) Wenn die Analyse der Gegenwart selbst bilderreiche Exotismen und strenge Nüchternheit propositional diagnostiziert und zugleich als neue Art ästhetischen Verhaltens performativ vollzieht, dann sind wohl und dies ist als Kritik auch die relativen Wahrheiten nur solche Verklärungen. Dies gilt dann zu verstehen ebenso für diejenige vom Ende der Kunst. -

-

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So Andrea Kern, Schöne Lust, 244ff.

Marco Brusotti

Sprache und Selbsterkenntnis Zu Nietzsches

Aphorismus Elemente der Rache (WS 33)

Der Aphorismus Elemente der Rache geht von einer allgemeinen sprachphilosophischen These aus. Nietzsche kritisiert die Voraussetzung, daß hinter Worten wie „Rache" und „Wert" unbedingt eine „Einheit", ein „ursprüngliche^] Wurzelbegriff", „Eine Begriffs- und Empfindungswurzel" stecken müsse. „Als ob nicht alle Worte Taschen wären, in welche bald Diess, bald Jenes, bald Mehreres auf einmal gesteckt worden ist! So ist auch ,Rache' bald Diess, bald Jenes, bald etwas sehr Zusammengesetztes." Worte wie „Wert", „Rache" oder „Strafe" weisen eine Mannigfaltigkeit von Bedeutungen auf, die sich auf keinen einheitlichen Begriff zurückführen läßt. Die Genealogie führt diese These viel konsequenter weiter und gelangt zum Gedanken der Undefinierbarkeit alles Geschichtlichen.3 Nietzsche nimmt auf diese Weise Wittgensteins Gedanken der „Familienähnlichkeit" vorweg. So radikal schon im Wanderer der sprachphilosophische Ansatz ist, so bescheiden fällt hier jedoch die Ausführung aus. Der Aphorismus 33 will die komplexe Natur der Rache aufweisen, er beschränkt sich aber auf eine minimale Analyse. Nietzsche beschreibt zuletzt nur zwei „Elemente" der Rache; und offenbar handelt es sich nur beim zweiten Element um Rache im eigentlichen Sinn. Beim ersten ist der Rache-Akt nur ein sogenannter. Die Genealogie wird für dieses Phänomen die Bezeichnung „Rache" nicht zulassen. Der Wanderer nennt es zwar so, aber nur als façon de parier. Nietzsche muß

2 1

Eine frühere Fassung ist erschienen unter dem Titel .„Elemente der Rache'. Sprache und Selbsterkenntnis bei Nietzsche im Aphorismus 33 von Der Wanderer und sein Schatten", in: HyperNietzsche, 13/03/2002. http://www.hypernietzsche.org/mbrusotti-2. WS 33. Vgl. auch die Vorstufe (N IV 4, 26; KGW IV/4, 312). Zur Genealogie siehe ausführlich unten 198ff. Der lange Weg, der Nietzsche von Elemente der Rache zur reiferen Analyse der Genealogie führt, soll in einem anderen Beitrag rekonstruiert werden. Zu einer Interpretation von Nietzsches Genealogie der Moral vgl. meine zwei eng zusammenhängenden Aufsätze: „Die ,Selbstverkleinerung des Menschen' in der Moderne. Studie zu Nietzsches ,Zur Genealogie der Moral'", in: Nietzsche-Studien 21 (1992), 81-136. „Ressentiment, Wille zum

Nichts, Hypnose. ,Aktiv' und ,reaktiv' in Nietzsches Genealogie der Moral", in: Nietzsche-

Studien 30 (2001), 107-132.

Marco Brusotti

194 es

hier

so

bezeichnen, denn

wegfallen. Diese Unterscheidung

sonst würde die

Unterscheidung

der zwei Elemente ganz

wird durch Betrachtungen über die Unzulänglichkeit der Selbsterkenntnis und die Widerstände gegen sie gerechtfertigt. Sie stützen die sprach-

philosophische These. Wer sich rächt, betrügt sich selbst gerne nachträglich über die eigenen Motive, d. h. er vertauscht oft das erste Element der Rache mit dem zweiten, obwohl sie völlig heterogen sind. Diese Tendenz des Handelnden, die beiden Elemente miteinander zu verwechseln und sich dabei etwas vorzumachen, rechtfertigt die Unterscheidung zwischen ihnen und belegt für Nietzsche deren theoretische Relevanz. Es

besteht tatsächlich eine „Begriffsverwirrung", „vermöge deren der Einzelne, der sich rächt, gewöhnlich nicht weiss, was er eigentlich will." Der Aphorismus will dieser „Begriffsverwirrung" ein Ende setzen, indem er die vermengten und verwechselten Begriffe und Empfindungen auseinanderhält. Aber damit ist die allgemeinere sprachphilosophische Hauptthese nicht wirklich untermauert. Diese sprachphilosophische These richtet sich hier insbesondere gegen Eugen Dührings Versuche, Begriffe wie „Wert" und v. a. „Rache" theoretisch zu erschließen. Dühring wird nicht namentlich genannt, der Aphorismus des Wanderers spielt aber gleich am Anfang auf den „Nationalökonomen" an. Bei aller (impliziten) Kritik ist Nietzsche zu diesem Zeitpunkt von ihm viel abhängiger als in der Genealogie. So dürfte ihm dessen Kritik der auf Anselm von Feuerbach zurückgehenden Abschreckungstheorie den Ausgangspunkt für die Unterscheidung zweier „Elemente der Rache" geboten haben. Denn auch Dühring bemerkt kritisch „die Vermischung von zwei völlig ungleichartigen Dingen" und zwar „in der Einerleisetzung der eigentlichen Gerechtigkeitsstrafe und des bloßen Hinderungsmittels"5, d. h., der Strafe als Rache und der Strafe als Abschrekkung. Die „Racheempfindung" ist für Dühring das „Rechtsgefühl selbst" und damit die eigentliche Grundlage des Rechts, und sie zielt nicht auf Abschreckung: „Die Rache bethätigt sich wahrlich nicht, um im Allgemeinen und für künftige Fälle neuen Verletzungen vorzubeugen, ja auch nicht einmal blos, um Schaden und Störung auszugleichen, sondern um den beeinträchtigten Willen und dessen gehörige Geltung wiederherzustellen."6 Nietzsche eignet sich Dührings Idee der „Vermischung" bzw. „Einerleisetzung" von Ungleichartigem eigenwillig an und wendet sie zuletzt gegen Dühring selbst. Wie dieser in der abschreckungstheoretischen Auffassung der Strafe ein -

4

6

Ein weiterer

Ökonom,

dessen Werk Nietzsche damals gelesen hat, ist H. C. Carey {Lehrbuch der und Volkswirtschaft Sozialwissenschaft, übers. V. K. Adler, Wien 1870; BN. Vgl. KSA 8; 41[23]; Juli 1879). Carey ist auch eine Quelle des Aphorismus Princip des Gleichgewichts (WS 22; vgl. KSA 14, 186). Im vorliegenden Beitrag wird jedoch keine umfassende quellengeschichtliche Untersuchung angestrebt. Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit Dühring in Der Wanderer und sein Schatten vgl. insbes. Volker Gerhardt, „Das ,Princip des Gleichgewichts'. Zum Verhältnis von Recht und Macht bei Nietzsche", in: Nietzsche-Studien 12 (1983), 111-133. Vgl. auch Aldo Venturelli, „Asketismus und Wille zur Macht. Nietzsches Auseinandersetzung mit Eugen Dühring", in Nietzsche-Studien 15 (1986), 107-139. Vgl. Eugen Dühring, Cursus der Philosophie als streng wissenschaftlicher Weltanschauung und Lebensgestaltung, Leipzig 1875, BN, 4. Abschnitt, 2. Kapitel „Natürliche Auffassung des Rechts", 227. Ebd.

Sprache und Selbsterkenntnis

195

wesentliches und ein unwesentliches Element miteinander verwechselt und vermischt sieht, so Nietzsche in Dührings Auffassung der Rache. Dieser unterscheidet Abschrekkung und Wiederherstellung als Funktionen der Strafe, Nietzsche dagegen Selbsterhaltang und Wiederherstellung als zwei Elemente der Rache. Der Selbsterhaltang dient allein das erste Element, und bei diesem handelt es sich zuletzt nur um einen sogenannten Rache-Akt. Selbsterhaltang ist also keine Funktion der Rache im eigentlichen Sinn des Wortes. Letztere ist nicht auf den Selbsterhaltungstrieb zurückzuführen. Nach Dühring ist dagegen der „Trieb, sich für die erlittene Verletzung zu rächen", „eine offenbar auch auf Selbsterhaltung hinwirkende Einrichtung der Natur".7 In diesem wesentlichen Punkt widerspricht Nietzsche also Dühring. Die Kritik der Selbsterhaltangsfunktion der Rache wird in der Genealogie einen zentralen Stellenwert haben. Der Aphorismus des Wanderers bleibt jedoch in Dührings Begrifflichkeit auch dort befangen, wo er eine Gegenposition zu dessen Theorie vertritt. Zur Unterscheidung jener zwei Elemente der Rache kommt Nietzsche durch Begriffe, die er im Cursus der Philosophie vorfindet: Erhaltung und Wiederherstellung. Nietzsches kritische Arbeit besteht darin, daß er Erhaltung und Wiederherstellung voneinander abkoppelt und aus ihnen zwei höchst unterschiedliche, ja in einiger Hinsicht gegensätzliche „Elemente" macht. Er unterscheidet die Rache im eigentlichen Sinn bzw. das Ressentiment von einem andersartigen Phänomen, das damit nicht verwechselt werden darf. Er beschreibt dieses erste Element der Rache so: „Man unterscheide einmal jenen abwehrenden Zurückschlag, den man fast unwillkürlich auch

gegen leblose Gegenstände, die uns beschädigt haben (wie gegen bewegte Maschinen), ausführt: der Sinn unserer Gegenbewegung ist, dem Beschädigen Einhalt zu thun, dadurch dass wir die Maschine zum Stillstand bringen [...] will man diesen Act einen Rache-Act nennen, so mag es sein; nun erwäge man, dass hier allein die Selbst-Erhaltung ihr Vernunft-Räderwerk in Bewegung gesetzt hat, und dass man im Grunde nicht an den Schädiger, sondern nur an sich dabei denkt: wir handeln so, ohne wieder schaden zu wollen, sondern nur, um noch mit Leib und Leben davonzukommen."*

Bei diesem ersten Element handelt es sich also nicht eigentlich um Rache, weil man dem Schädiger nicht schaden will; denn weder will man überhaupt etwas (oder mindestens ist die Reaktion „fast unwillkürlich"), noch will man schaden, noch denkt man dabei an den Schädiger; dementsprechend wehrt man auch leblose Maschinen ab, denen man weder Verantwortlichkeit bzw. Absichtlichkeit noch Leidensfähigkeit zuschreibt. Eigentlich hat diese Reaktion lediglich Selbsterhaltangsfunktion.

Eugen Dühring, Cursus der Philosophie, 224. In der oben zitierten Stelle bemerkt Dühring einfach, es sei nicht das Anliegen der Rache, „im Allgemeinen und für künftige Fälle neuen Verletzungen vorzubeugen", d. h. es sei nicht ihr Anliegen, mögliche künftige Angreifer abzuschrecken. Nietzsche wiederum setzt der Wiederherstellung das Anliegen entgegen, im konkreten, gegenwärtigen Fall der Gefahr eines weiteren Beschädigtwerdens durch denselben Angreifer vorzubeugen. Dieses Anliegen bildet das erste Element der Rache, gehört also nicht zur Rache im eigentlichen Sinn. Aus Dührings Absetzung der Rache von der Abschreckung wird so im Wanderer die These, daß Rache als Wiederherstellung keine Selbsterhaltung beabsichtigt.

Marco Brusotti

196

Nietzsches Beschreibung des zweiten Elements folgt anders als die Genealogie und wie üblich stillschweigend noch Dühring. Laut dessen Kritik der Abschreckungstheorie betätigt sich die Rache, „um den beeinträchtigen Willen und dessen gehörige Geltung wiederherzustellen." So auch im Wanderer: Weniger technisch als Dühring führt Nietzsche hier jenes zweite Element der Rache auf die Wiederherstellung der eigenen Ehre zurück. Es ist also nicht dasselbe, was im ersten „Element" erhalten und im zweiten wiederhergestellt werden muß. Im ersten Element geht es um Selbsterhaltung im Sinn des reinen physischen Überlebens, im zweiten um die Wiederherstellung eines ,,Nebenverlust[es]". Es ist nicht der erlittene Schaden, Verlust oder Schmerz, der durch den Racheakt ausgeglichen wird. Dies ist nicht die Funktion der Rache. Der Ausgleich bezieht sich nur auf einen „Nebenverlust", auf den spezifischen Verlust an Geltung und an Selbstwertgefühl. Das Opfer stellt die eigene Ehre wieder her, indem es sich durch den Racheakt als furchtlos erweist. Die Rache im eigentlichen Sinn des Wortes zeigt also „die Abwesenheit der Furcht". Bei dem sogenannten ersten „Element der Rache" ist es dagegen gerade „die Furcht, die den Gegenschlag ausführt". In Nietzsches damaliger Auffassung steht Furchtlosigkeit für eine Form von Machtgefühl, während Furcht mit einem Gefühl der Schwäche gleichgesetzt wird. In dieser Hinsicht besteht also sogar ein Gegensatz zwischen den beiden Elementen. Das zweite „Element", die Rache der Wiederherstellung, ist laut Nietzsche vornehmer' als das erste, der abwehrende Gegenschlag. Die eigentliche Rache hat ihre Wurzeln nicht in der Furcht, sondern will oft um jeden Preis Furchtlosigkeit nachweisen. Sie bezieht sich nicht auf die nackte Selbsterhaltung, sondern auf die Ehre; „dieses Motiv ist ja jedenfalls vornehmer, als das andere."10 Schließlich kennt diese vornehmere Form der Rache anders als die Furcht ein Maß der Wiedervergeltung. Der Aphorismus des Wanderers will Dühring damit gleichsam eine ,vornehmere' Auffassung der Rache -

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-

-

entgegensetzen.

Der Schluß des Aphorismus wendet die Unterscheidung zweier Elemente der Rache auf die Strafe an. Diese Anwendung liegt nahe; denn Dühring kritisiert „die Vermian der abschreckungstheoretischen schung von zwei völlig ungleichartigen Rache berechtigt, nicht als Abschreckung. Die Auffassung der Strafe: Strafe sei als Genealogie wird diese Ableitung der Strafe aus der Rache strikt ablehnen. Der Aphorismus des Wanderers dagegen schließt sich Dühring scheinbar an: „Strafe ist Rache." In der Strafe sind „beide so verschiedene Elemente der Rache verknüpft": einerseits die Wiederherstellung der Ehre und zwar sowohl der „Privatehre" („Rache als private Person") als auch der „Gesellschaftsehre" („Rache der Gesellschaft"), andrerseits die Selbsterhaltung der Gesellschaft, die durch die Strafe „der Nothwehr halber einen Gegenschlag führt. Die Strafe will das weitere Schädigen verhüten, sie will abschrecken." In der Abschreckung zeigt sich das erste Element der Rache. Dühring geht es in seiner

Dingen"11

-

9 10

1 '

Eugen Dühring, Cursus der Philosophie, 227 zit. Zur Zeit des Wanderers beginnt Nietzsche seine

Analysen auf den Gegensatz zwischen „Furcht (negativ) und Wille zur Macht (positiv)" (KSA 8, 23[63]) zu fokussieren: Furcht ist als Gefühl der Ohnmacht der Gegensatz zum Machtgefühl. Der Aphorismus des Wanderers führt die zwei Elemente der Rache nicht explizit auf diesen Gegensatz zurück. Eugen Dühring, Cursus der Philosophie, 227 zit.

Sprache und Selbsterkenntnis

197

Betrachtungsweise darum, daß die Strafe nur durch die Rache mit dem Gerechtigkeitssinn verbunden und also nur als Rache gerechtfertigt ist, nicht als Abschreckung, obwohl sie diese Funktion faktisch auch haben kann. Nietzsche will nicht normativ argumentieren; er bemerkt einfach, daß die Strafe je nachdem beide Funktionen erfüllt. Mit dem Satz „Strafe ist Rache" scheint er zwar Dühring beizupflichten. Aber die These ist im Wanderer gerade, daß die zwei Elemente keine wirkliche Einheit bilden; sie sind zu unterschiedlich, ja gegensätzlich. Nietzsche beobachtet die Neigung, jene zwei Elemente der Rache miteinander zu verwechseln, auch in den Auffassungen der Strafe. Man übersieht gerne die Abschrekkungsfünktion der Strafe zugunsten ihrer ,vornehmeren' Funktion: der Wiederherstellung von Privat- und Gesellschaftsehre. Und dies um so mehr, als nur diese Funktion die Verhältnismäßigkeit von Verbrechen und Strafe beinhaltet, die Abschreckung dagegen nicht; auch aus diesem Grund wird nicht leicht zugegeben, daß die Strafe eine abschreckende Funktion hat. Die „Begriffsverwirrung" bei der Strafe ist zwar nur ein Einzelfall, aber in ihr liegt die eigentliche Ursache und Wurzel der allgemeineren „Begriffsverwirrung" bei der Rache. Die spezifischere „Begriffsverwirrung" bei der Strafe ist auch für die Fehlzuschreibung mitverantwortlich, wenn der Rächer bei sich jene

normativen

zwei Motive verwechselt oder sein Handeln nicht durchschaut. Daß „in der Strafe beide so verschiedene Elemente der Rache verknüpft" sind, „mag vielleicht am meisten dahin wirken, jene erwähnte Begriffsverwirrung zu unterhalten, vermöge deren der Einzelne, der sich rächt, gewöhnlich nicht weiss, was er eigentlich will." Der Aphorismus Elemente der Rache nimmt Zur Genealogie der Moral zumindest in zweierlei Hinsicht Erstens mit der sprachphilosophischen These, auf die erst der Schluß meines Beitrags eingehen wird. Vorerst sei der zweite Aspekt erläutert: Wie der Wanderer die Rache im eigentlichen Sinn so unterscheidet auch die späte Streitschrift das Ressentiment von einem andersartigen Phänomen, das damit nicht verwechselt werden darf. Die Beschreibung dieses ersten „Elements" im Aphorismus Elemente der Rache ist im wesentlichen schon auf der Höhe der späteren Betrachtungen. Die spätere Streitschrift versucht dieses Phänomen jedoch schärfer zu fassen im Rahmen einer neuen, weit differenzierteren Analyse der disparaten Erscheinungsformen von Rache, Ressentiment und Verwandtem. Die zum Teil in physiologischen Begriffen durchgeführte Analyse will Verwechslungen zwischen der Ätiologie des Ressentiments

vorweg.13

13

Nietzsche trifft mit dieser Bemerkung implizit Dührings Kritik der Abschreckungstheorie und ihren normativen Ton. Elemente der Rache ist einer der Aphorismen, auf die Nietzsche in der Vorrede der Genealogie rückblickend hinweist: In ihnen habe er, wenn auch „mit Ungeschick", „zum ersten Male jene Herkunfts-Hypothesen an's Tageslicht" gebracht, denen auch die drei Abhandlungen seiner „Streitschrift" gewidmet seien (vgl. GM, Vorrede 4). Die Vorrede der Genealogie bezieht sich explizit auf die Entwicklung der Ansichten „über die Herkunft der Strafe", „für die der terroristische Zweck weder essentiell noch ursprünglich ist (wie Dr. Rée meint [...])" (ebd. Nietzsche führt neben WS 33 auch WS 22, Princip des Gleichgewichts, an). Die Genealogie möchte die Distanz zwischen den Entstehungshypothesen von Nietzsches mittleren Schriften und Rées Annahmen hervorheben, und zu diesen gehört die auch von Rée vertretene Abschreckungstheorie. Die Analyse der Strafe, die den Aphorismus Elemente der Rache abschließt, weicht allerdings noch stark von der Auffassung der Genealogie ab.

Marco Brusotti

198

und der andersartiger Phänomene oder Funktionen aus der Welt schaffen. So wird die bloße „Schutzmaassregel der Reaktion" mit einer ,„Reflexbewegung' im Falle irgend einer plötzlichen Schädigung und Gefährdung" verglichen „von der Art, wie sie ein Frosch ohne Kopf noch vollzieht, um eine ätzende Säure loszuwerden". Diese Reaktion dient der Selbsterhaltung; sie muß „weiteres Beschädigtwerden hindern" und die Quelle des Schmerzes entfernen. Der Aphorismus des Wanderers bietet eine noch rudimentäre psychologische Analyse der Rache im eigentlichen Sinn des Wortes; denn anders als das erste hat das zweite der zwei „Elemente der Rache" mit dem Ressentiment der Genealogie noch kaum zu tun. Jene Analyse streift das, was in den Augen des späteren Nietzsche die eigentliche Wurzel und physiologische' Grundlage von Rache, Ressentiment und Verwandtem bildet (die Betäubung von Schmerz durch eine Ausschweifung des Gefühls), nicht einmal von fern. Das mag verwundern; denn in einem weiteren Aphorismus des Wanderers, „Unterhaltung der Kranken", geht es um ein dem Ressentiment weitgehend analoges Phänomen: Hier wird gezeigt, wie „man gegen heftige körperliche Schmerzen mitunter eine heftige bittere Empfindung zu Hülfe ,ruft'". Das Ressentiment hat in Nietzsches späteren Analysen im wesentlichen dieselbe Ätiologie und Funktion: Es befreit das Bewußtsein vom Schmerz durch eine plötzliche, gewaltige Affektentladung. Der Wanderer kennt bereits jenes psychologische Phänomen, ist aber noch weit davon entfernt, es als letzte Ursache der Rache anzusehen. Im Aphorismus Elemente der Rache geht es gar nicht darum. Nietzsche folgt hier wie gezeigt noch Dühring. Er scheint im Grunde schon über das nötige begriffliche Arsenal zu verfügen, setzt es aber noch nicht ein. Die Gegenüberstellung zweier Clemente der Rache" in Der Wanderer und sein Schatten hat eine andere Valenz und ein anderes Anliegen als die Gegenüberstellung von Abwehrreaktion und Ressentiment in der Genealogie. In jenem Aphorismus steht ein vornehmeres Element einem weniger vornehmen gegenüber: Die eigentliche Rache hat ein vornehmeres Motiv als Selbsterhaltung. Sie ist kein Ausdruck von Furcht, sondern von Furchtlosigkeit. Bei diesem zweiten „Element" der Rache geht es nämlich im wesentlichen um tatsächlich ausgeübte, unter Umständen um jeden Preis gewagte Rache. Die Aufmerksamkeit der Genealogie gilt dagegen insbesondere dem ohnmächtigen Ressentiment, der Rache in effigie, den imaginären Affektentladungen, dem verinnerlichten und deshalb vergiftenden' Ressentiment, dem eine wirkliche Rache verwehrt ist. Zwar skizziert auch und gerade diese „Streitschrift" ein Bild des vornehmen Umgangs mit Rache und Verwandtem; beim Vornehmen tritt das Ressentiment aber erst gar nicht auf oder entlädt sich in einer nahezu unmittelbaren Reaktion. Aber um Vor-

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Vgl. GM III15, KSA 5, 374. Vgl. dazu sowie zur späten Analyse des Ressentiments Marco Brusotti, „Die ,Selbstverkleinerung des Menschen'". „Unterhaltung der Kranken. Wie man bei seelischem Kummer sich die Haare rauft, sich vor die Stim schlägt, die Wange zerfleischt, oder gar wie Oedipus die Augen ausbohrt: so ruft man gegen heftige körperliche Schmerzen mitunter eine heftige bittere Empfindung zu Hülfe, durch Erinnerung an Verleumder und Verdächtiger, durch Verdüsterung unserer Zukunft, durch Bosheiten und Dolchstiche, welche man im Geiste gegen Abwesende schleudert. Und es ist bisweilen dabei wahr: dass ein Teufel den andern austreibt, aber man hat dann den andern. [...]" (WS 174). -

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Sprache und Selbsterkenntnis

199

nehmheit geht es bei der Gegenüberstellung von Abwehrreaktion und Ressentiment nicht. Es handelt sich einfach um zwei unterschiedliche physiologische Reaktionen bzw. Funktionen. Aus deren Gegenüberstellung folgt hier weiterhin, daß das Ressentiment sich nicht, wie Dühring möchte, aus der Selbsterhaltang ableiten läßt. Letzteres heißt aber im Wanderer, daß die Rache ein vornehmeres Motiv hat, in der Genealogie dagegen, daß das Ressentiment sich durch Selbsterhaltang nicht rechtfertigen läßt. Im Wanderer ist ein Mißverhältnis zwischen erlittenem Schaden und Reaktion nur beim ersten „Element" der Rache gegeben. Wer einen abwehrenden Gegenschlag vollzieht, denkt nicht an den Schaden, den er zufügt. Er denkt nicht an den Schädiger, sondern nur an sich. Er will jenem nicht schaden, sondern nur sich selbst am Leben erhalten, er will nicht wehe tan, und es ist lediglich „die Angst vor dem zweiten Schlage, welche den Gegenschlag so stark wie möglich machtf...]". Hinter dem möglichen Mißverhältnis zwischen Schlag und Gegenschlag steht also nur die Furcht, nur die Selbsterhaltung der wesentliche Antrieb dieser Handlungsweise. Anders als das erste hat das zweite Element die „Rache der Wiederherstellung" einen ausgesprochenen Sinn für Verhältnismäßigkeit; „die Stärke des Gegenschlags wird nur durch Das, was er [der Gegner, M. B.] uns gethan hat, bestimmt", nicht durch das, was er uns mit einem zweiten Schlag tan könnte. Hier geht es eben um Wiederherstellung, um „Ausgleichung", nicht um Selbsterhaltang.1 Auch bei Dühring geht es um die Herstellung eines Zustandes, „der zwar keine Unversehrtheit mehr sein kann, aber doch eine annähernd gleichwerthige Lage durch die entsprechende Herabdrückung des fremden, über seine Schranke hinausgegangenen Willens werden muss." Dabei wohnt dem Rachetrieb ein gewisser Hang zur Überkompensation inne, der laut Dühring jedoch nicht unberechtigt ist und jenen Trieb nicht daran hindert, das Maß der Gerechtigkeit zu sein. Auch der Wanderer stellt derlei Überkompensationen fest, führt sie aber auf das erste „Element" zurück, also nicht eigentlich auf Rache; und die Betrachtung zum zweiten Element schließt explizit aus, daß sie von der Rache im eigentlichen Sinn abzuleiten sind.18 Gerade diese Ableitung wird dagegen die Genealogie vornehmen, die dann aber -

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Der Gegenschlag, bei dem man nur an sich selbst denkt, erfolgt unmittelbar, ohne jegliche Zeitverzögerung. Der Rache der Wiederherstellung dagegen muß ein gewisses „Nachdenken" vorangehen; „denn man braucht Zeit, wenn man von sich mit seinen Gedanken zum Gegner übergeht und sich fragt, aufweiche Weise er am empfindlichsten zu treffen ist. [...]" Die beiden „Elemente der Ra-

che" unterscheiden sich also auch mit Hinblick auf den Zeitfaktor. (Dieser ist mitverantwortlich für die „Unklarheit" des ,,Rache-Uebende[n]" in Hinsicht auf die Motive seiner Handlungsweise.) Der Zeitfaktor unterscheidet in der Genealogie nicht nur die bloße „Schutzmaassregel der Reaktion" und das Ressentiment, sondern auch das rasch abreagierte und das .vergiftende' Ressentiment. Eugen Dühring, Cursus der Philosophie, 227. Auch der Aphorismus Princip des Gleichgewichts (WS 22) bietet eine alternative Erklärung. Bei Schande und Strafe findet die von Dühring bemerkte Überkompensation statt. Durch die „Schande" erfahrt der Schädiger „Nachtheile, die den früheren Vortheil aufheben und überwiegen." Der Strafende gleicht „Durchbrechungen des Princips des Gleichgewichtes" überschüssig aus: Die Strafe „stellt gegen das Uebergewicht, das sich jeder Verbrecher zuspricht, ein viel größeres Gegengewicht auf. Der Grund, weshalb die Strafe „nicht nur Wiedervergeltung" ist, sondern „ein Mehr" hat, „ein Etwas von der Härte des Naturzustandes", ist eben, daß sie an diesen „erinnern" will.

200

Marco Brusotti

der Rache gerade die Funktion, Grundlage und Maß der Gerechtigkeit zu sein, mit aller Entschiedenheit abspricht: Das Ressentiment betäubt den Schmerz durch eine Ausschweifung des Gefühls'; dementsprechend fehlt gerade ihm der Sinn für Verhältnismäßigkeit und gerechten Ausgleich. ,¿Rache sehr complicirt!"20 Elemente der Rache vermittelt diesen Eindruck nur bis zu einem gewissen Punkt. Die eigentliche Leistung des Aphorismus besteht nicht im Nachweis der allgemeineren sprachphilosophischen These, daß Worte „Taschen" sind, „in welche bald Diess, bald Jenes, bald Mehreres auf einmal gesteckt worden ist". Es geht zuletzt weniger um eine These über die Sprache und ihre sprachphilosophische Durchführung als um die präzisere Definition eines Begriffs, wie sie Aufgabe einer wissenschaftlichen Untersuchung ist. Der Text zeigt eine „Begriffsverwirrung", die jener Natur der Sprache entspringt, und beseitigt sie, indem er die zwei verwechselten bzw. vermengten „Elemente" analytisch auseinanderhält. Hier geht es im wesentlichen darum, daß die zwei „Elemente der Rache", die mit demselben Namen genannt und miteinander verwechselt werden, eigentlich Gegensätze sind. Das erste Element ist das Anliegen der Selbsterhaltung, das zweite dagegen besteht in der unbedingten Bereitschaft, gerade die eigene Selbsterhaltung aufs Spiel zu setzen. Das erste Element geht auf Furcht zurück, das zweite ist eine Form von Mut, der Antrieb, Furchtlosigkeit zu beweisen, und zwar so gut wie um jeden Preis. Die sprachphilosophische These ist also, daß unter einem Wort nicht nur Heterogenes, sondern sogar Gegensätzliches zusammengefaßt wird. Die entsprechende psychologische bzw. handlungstheoretische Einsicht ist, daß der Handelnde bei sich selbst geradezu gegensätzliche Motivationen miteinander verwechselt. Die These, daß Handelnder und Beobachter wirkliche Gegensätze übersehen und gleichsetzen, ist das Pendant zur These der Chemie der moralischen Empfindungen, wonach die Metaphysik Unterschiede des Grades als Gattungsunterschiede mißversteht. Erst Zur Genealogie der Moral führt die in Elemente der Rache formulierte sprachphilosophische These konsequent aus, der zufolge Worte wie „Rache" oder „Strafe" eine Mannigfaltigkeit von Bedeutungen aufweisen, die sich auf keinen einheitlichen Begriff zurückführen läßt. Im Aphorismus des Wanderers fördert eine gleichsam chemische Analyse eine höchst überschaubare Anzahl diskreter Elemente der Rache" zu Tage: nur zwei eben. In der Genealogie sind Ansatz und Ergebnis der entsprechenden Analyse ähnlich; die Untersuchung, die den methodischen Unterschied zur mittleren Schrift in aller Deutlichkeit zeigt, ist nicht die Analyse der Rache, sondern die der Strafe. Die Genealogie führt am Beispiel der Strafe die ,Kompliziertheit' der Phänomene weit eindrücklicher vor Augen als der Aphorismus des Wanderers mit seiner spärlichen Begriffsdifferenzierung. Die Rache hat ihre Geschichte und ihre Genealogie, aber erst recht 19

20

sieht in der Rache einen natürlichen Hang zur Überkompensation, unterscheidet aber zwischen Rache und Haß. Nur dieser tendiert zur Maßlosigkeit. Nietzsche neigt im Wanderer dazu, die Rache im eigentlichen Sinn von einem solchen Hang freizusprechen, später dagegen setzt er Rache und Haß oft gleich. Vgl. Eugen Dühring, Cursus der Philosophie, 227f. und dazu Marco Brusotti, „Die ,Selbstverkleinerung des Menschen'", insbes. 98f, Anm. 32. KSA 8; 42 [26]. Dieser Ausruf zieht gleichsam die Bilanz aus Aufzeichnungen, die an der Rache eine Vielzahl von Aspekten unterschieden und aufgezählt haben.

Dühring

201

Sprache und Selbsterkenntnis

gilt das für die Strafe. Nietzsche versucht nun jene sprachphilosophische Grundthese an einer gesellschaftlichen Institution und an ihrem kulturellen und geschichtlichen Wandel nachzuweisen. Er benutzt hier nicht nur ein anderes Beispiel, sondern auch eine andere Methode. Jetzt geht es nicht mehr darum, in der Strafe die Elemente der Rache wiederzu-

finden. Es ist zwar ebenfalls von zwei Elementen die Rede, aber in einem anderen Sinn als im Wanderer. Die Genealogie versteht darunter den Unterschied zwischen der Prozedur und ihrem Sinn: Die Prozeduren sind das relativ dauerhafte „Element" der Strafe, der „Sinn" dagegen das flüssige. Der Begriff .Strafe' stellt „gar nicht mehr einen Sinn vor, sondern eine ganze Synthesis von .Sinnen'". Er entzieht sich der Definition, wie „alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst". Der Strafbegriff ist „eine Art von Einheit, welche schwer löslich, schwer zu analysieren und, was man hervorheben muss, ganz und gar undefinirbar ist" Diese „Synthesis von ,Sinnen'" ist also einer Analyse in diskrete Elemente kaum zugänglich. Nietzsche fügt hier eine seitenlange Auflistung historisch vorkommender Zwecksetzungen, Sinngebungen, „Nützlichkeiten" der Strafe bei, die auf die Unaufzählbarkeit der Elemente schließen läßt.22 Die Genealogie greift so die These von Elemente der Rache auf, daß hinter einem Wort nicht unbedingt ein ursprünglicher, einheitlicher Wurzelbegriff steckt. Sie entwickelt diese sprachphilosophische Grundthese zum Gedanken der Undefinierbarkeit alles Geschichtlichen weiter. .

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GMII13. Zu einem differenzierenden Vergleich zwischen der „Synthesis von .Sinnen'" bei der Strafe und der Bedeutungsvielfalt bei den asketischen Idealen vgl. Marco Brusotti, „Ressentiment, Wille zum Nichts, Hypnose", a. a. O. Zu den verschiedenen Funktionen von Aufzählungen bei Nietzsche vgl. das Kapitel „Aufzählung als philosophische Kunstform: Nietzsche", in: S. Mainberger: Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen, Berlin/New York 2003, 74ff.

IV. Aufsätze

Steffen Dietzsch

Ein Nomade in der Landschaft Zarathustras Oscar Levy und der jüdische Nietzscheanismus

Also, Dantons Wort beherzigt, meine Herren Nietzsche-Kommentatoren aus Deutschland: ,De l'audace, de l'audace et encore de l'audace' Oscar Levy1

Anfang August 1908 erwartete die Villa Silberblick wichtigen Besuch aus England. „Ich reise", so kündigte Oscar Levy seine Visite an, „zu einer Familienfestlichkeit am 5ten August von hier [London] nach Berlin und gehe von dort nach der Schweiz könnte somit auf dem Wege dahin Weimar mit Leichtigkeit berühren." Am Freitag, dem 7. August 1908 begegnet dann Oscar Levy der Herrin des Nietzsche-Archivs zum ersten Male persönlich. Die Förster-Nietzsche hätte eigentlich wissen können, was für ein außerordentlicher Nietzsche-Kenner sich da ankündigt hatte sie doch schon seit Oktober 1904 Levys bedeutenden Essay Das neunzehnte Jahrhundert (Dresden 1904) mit einer Widmung des Verfassers in den Beständen des Archivs. Ein Text immerhin, bei dem man bis zu Heimich Heines Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland zurückgehen müsste, wenn man auf etwas Vergleichbares hinweisen wollte. „Eine französische Revue (Revue universitaire vom 15. Juni 1904) nannte es in einer Rezension un dithyrambe en l'honneur de Nietzsche"

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Doch die Förster-Nietzsche hatte dieses Geschenk seinerzeit wohl kaum eines Blickes

gewürdigt, denn erst anderthalb Jahre später erinnert sie in einem Brief, wie nebenbei, an

:

Oscar Levy, Rez. zu Alfred Baeumler [„Nietzsche in Briefen u. Berichten v. Zeitgenossen"], in: Die Literatur, Okt. 1932. Oscar Levy an Elisabeth Förster-Nietzsche [abgek.: EFN], v. 27. Juli 1908, in: Goethe-SchillerArchiv Weimar [abgek.: GSA], 72/BW 3190. Vgl. insgesamt zu Oscar Levy vor allem auch: Albi Rosenthal, Obiter Scripta. Essays, Lectures, Articles, Interviews, Oxford/Lanham, Maryland 2000, 379-282, 386 u. 399^109. Oscar Levy an EFN, v. 27. Okt. 1904, in: GSA 72/BW 3190. „Eine Russin fügte ferner hinzu, daß in dem Buch sich ein ,nietzschéanisme intransigeant' kundgäbe, ,qu'être répandu en Allemagne en delà d'un cercle d'adeptes fort limité sans doute'." (ebd.). -

3

Steffen Dietzsch

206

jenes Büchlein: „Ueber Ihr deutsches Nietzsche-Buch, dessen correkter Titel mir augenblicklich nicht einfallt, habe ich viel Lob gehört. Herr Peter Gast sagte noch neulich, dass es doch sicherlich eines der besten Bücher sei, die über die Nietzscheschen Anschauungen geschrieben worden wären." Der Gast aus London war jetzt, nach seiner persönlichen Begegnung mit der Archivleiterin, allerdings einigermaßen konsterniert. Einer Freundin zu Hause teilte er seine Eindrücke mit. Er schrieb ihr: „Einen ganzen Tag lang durchstreifte ich die Straßen von Weimar und fragte mich, wie es möglich war, daß ein solcher Mann [Nietzsche] solch eine Schwester hatte. Im Großen und Ganzen habe ich Mitleid mit dieser Frau, die ihren .Ruhm' doch sehr teuer bezahlt."5

I. Oscar Levys erste Kontakte

zum

Nietzsche-Archiv

Er wollte hier in Weimar die Bedingungen kennenlernen, unter denen es möglich wäre, eine englische Nietzsche-Ausgabe zu veranstalten. Levy hatte dabei nicht an diesen oder jenen Einzeltext Nietzsches gedacht, sondern gleich an eine Gesamtausgabe. Das musste natürlich mit dem Nietzsche-Archiv abgesprochen sein, sowohl was die philologischen als auch fiskalischen Sachbestände dabei betrifft. „Nietzsche hat hier in England unendlich an gewissenlosen Übersetzern und geschäftskundigen Verlegern gelitten"6, schreibt Levy einmal diesbezüglich an Peter Gast, und so wäre es eben an der Zeit, eine solche Unternehmung jetzt neu zu beginnen. Gemeint war mit jenen mangelhaften Ausgaben namentlich die von dem Sozialdarwinisten Alexander Tille 1896/97 edierte und kommentierte dreibändige englische Nietzsche-Auswahl. Einem breiteren englischen Publikum7 war Nietzsches Denken damit also zwar bekanntgemacht, aber durchaus nicht authentisch. Zu dieser problematischen, eher abweisenden Nietzsche-Rezeption im England der Jahrhundertwende trug namentlich auch das Pamphlet Degeneration (London 1895)8 des Zionisten Max Nordau ganz entscheidend bei. Diesen sehr negativen Tendenzen galt es zu begegnen. Levy und seine Freunde in England, u. a. Anthony M. Ludovici, der einige Jahre (1904 1906) Mitarbeiter bei Auguste Rodin in Paris war, John Beevers, P. V. Cohn oder John Macfarland Kennedy, begannen gleichzeitig mit der Gesamtausgabe auch Artikel über Nietzsche und sein Denken für die britische Presse zu schreiben. Und so konnte Levy nach einiger Zeit nach Weimar melden: „Und wenn auch die Eiskruste um das englische Herz keines-

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4 '

6

Elisabeth Förster-Nietzsche an Oscar Levy, v. 30. Juni 1906, in: GSA 72/726 b. Oscar Levy an Mrs. Crosland, v. 7. August 1908, in: Ben Macintyre, Forgotten Fatherland: The Search for Elisabeth Förster, London 1992, 168f. Oscar Levy an Peter Gast, v. 12. Juli 1908, in: GSA 102/424. Zur chronologischen Publikationsgeschichte englischer Nietzsche-Übersetzungen vgl. Walter Torsten Rix, Georges Bernard Shaw und Friedrich Nietzsche. Eine Studie zur englisch-deutschen Literaturbeziehung, Diss. Kiel 1974, 22 -31 u. 55 -61. Vgl. Steven E. Aschheim, „Max Nordau, Friedrich Nietzsche and Degeneration", in: Journal of Contemporary History, 28 (1993), 643ff.

207

Ein Nomade in der Landschaft Zarathustras

wegs ganz zum

gebrochen ist, so zeigt sich doch eine gewisse Tendenz zum Schmelzen und

Weichwerden."9

Levy hatte gegenüber allen vorhergehenden Bemühungen, Nietzsche nach England zu bringen, von Anfang an drei Vorzüge: Levy war der vielleicht authentischste Leser Nietzsches seiner Generation, er war Muttersprachler und schließlich war es ihm finanziell möglich, großzügig Mittel für die Edition selber bereitzustellen. „Ich möchte in einer großen Sache nicht kleinlich erscheinen", schreibt er nach Weimar, „ich biete Ihnen daher, erst bei Abschluß des Vertrages zahlbar, Dreitausend Mark, und danach

einmals eintausend Mark, zahlbar am 1. Juni 1911."10 Bald schon war aus London zu vernehmen: „Unsere Nietzsche-Ausgabe schreitet rüstig zunächst: bald nach Weihnachten werden die ersten Bände im Druck erscheinen."11 Im folgenden Jahr (1909) erscheinen dann ein halbes Dutzend Bände, bis 1913 hatten Levy und sein Team dann ihre enorme Aufgabe erfüllt und eine schließlich achtzehnbändige Nietzsche-Gesamtausgabe vorgelegt, „die bis dahin vollständigste und umfassendste Übersetzung der Werke eines ausländischen Philosophen in die englische Sprache". Dieses Editionsunternehmen war sofort ein großer Erfolg, anhaltend auch über den .Großen Krieg' hin [in England bisweilen als ,Euro-nietzschean-War' apostrophiert], während dem diese große kulturelle Leistung Levys als ,Hunnen-Erbschaft' geschmäht wurde. Die Parole „,Read the devil, in order to fight him the better'" machte nach August 1914 kurzzeitig die Runde. Als Oscar Levy davon nach Weimar berichtete, glaubte die EFN irrtümlich, wie sich herausstellte „ihn heftigen Verfolgungen ausgesetzt. Aber nein", schrieb sie verwundert, „meine Sorge war ganz umsonst. Plötzlich schreibt er mir, dass es ihm in seiner Wohnung vortrefflich geht, dass man ihn mit Achtung behandelt und dass er alle diese Annehmlichkeiten allein dem Namen meines Bruders verdanke. Nietzsche würde so viel gekauft und gelesen wie sonst nie ,.."14 Elisabeth Förster-Nietzsche versuchte immer wieder, gelegentlich auftauchende Arbeits-Differenzen ausnutzend, die englischen Nietzsche-Kreise gegeneinander aufzubringen. An Levy avisierte sie einmal Unannehmlichkeiten, die der von Thomas Common zu erwarten habe. „Er hat mir einen langen gegen Sie gerichteten Anklagebrief geschrieben", ließ sie Levy wissen, „in welchem behauptet würde, daß Sie, lieber Herr Doctor, ein ganz falsches Verständnis von Nietzsche hätten." -

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9 10

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Oscar Levy an EFN, v. 15. Okt. 1910, in: GSA 72/BW 3190. Oscar Levy an EFN, v. 8. Nov. 1908, in: GSA 72/BW 3190. Levy erinnert sich später noch: „Money, cash down, helps our negotiation." (Oscar Levy: An Autobiography, unveröffentl. Ms. im Besitz von Maud und Albi Rosenthal, Oxford, 77). Oscar Levy an EFN, v. 14. Dez. 1908, in: GSA 72/BW 3190. Marita Knödgen, Die frühe politische Nietzsche-Rezeption in Großbritannien, 1895 1914. Eine Studie zur deutsch-britischen Kulturgeschichte, Diss. Trier, FB III, 1997, 38. Oscar Levy, Nietzsche im Krieg. „Eine Erinnerung und eine Warnung", in: Die weissen Blätter, 6. Jg. (1919), H. 6, 278. Vgl. auch: Oscar Levy, „Nietzsche and This War", in: The New Age, XV(1914), 393. EFN an Baron Taube, v. 30. Dez. 1914, in: GSA 72/734 d. EFN an Oscar Levy, v. 2. Okt. 1912, in: GSA 72/732 d. -

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Die Archivleiterin wusste natürlich noch, wie Levy einst Thomas Common, der dann ihm auch in den Übersetzerkreis der eigenen Ausgabe aufgenommen wurde, verteidigt hatte. „Ich bin erstaunt und gleichzeitig betrübt darüber, daß Mr. Thomas Common sich in unhöflicher Weise an Sie, gnädige Frau, gewandt hat. [...] Ich kenne Mr. Common, der in Edinburgh wohnt, nicht persönlich ich bin aber nach Allem, was ich von ihm gelesen und gehört habe, fest davon überzeugt, daß er sich nur aus Übereifer und in der Form vergangen haben kann und bitte Sie Darum in meinem Namen um Entschuldigung."16 Thomas Common war gemeinsam mit C. G. Haussmann ja schon seit 1896 mit Nietzsche-Übersetzungen beschäftigt und auch seit dieser Zeit schon mit dem englischen Verlag „Henry & Co.", sowie mit Nietzsches Leipziger Verlag C. G. Naumann in vertraglichen Verbindlichkeiten. Doch blieben diese Bemühungen um eine englische Gesamtausgabe nach den ersten drei Bänden hängen, d. h. der englische Verlag „Henry & Co." stellte schon 1897 die Ausgabe ein, weil der Verlag bald bankrott machte. Ein Jahr später wurden dann auch sämtliche Verträge des Leipziger Naumann-Verlags mit dem Nietzsche-Archiv für ungültig erklärt, „so dass alles aus der vergangenen Zeit damit abgeschlossen war". Common bezog sich später, nach dem Tode Nietzsches, immer wieder auf jene alten Abmachungen zwischen London und Leipzig Aber, so wies ihn einmal die Archivleiterin zurecht: „Es ist Ihnen von unserer Seite, nachdem ich den neuen Vertrag [mit C. G. Naumann] geschlossen hatte, angeboten worden, einen Vertrag mit mir abzuschließen. Sie haben dies aber versäumt und sind nun ärgerlich, daß Dr. Levy das in mustergültiger, korrekter Weise getan hat. Ich wiederhole, der Vertrag zwischen Henry & Co. und C. G. Naumann ist durch Schuld der Firma Henry & Co. ungültig geworden, sodann sind alle Verträge der Firma C. G. Naumann mit den Vertretern der Urheberrechte Friedrich Nietzsches bis zum 1. Dezember 1898 durch Schuld der Firma C. G. Naumann offiziell und feierlich ungültig erklärt worden. Nun geben Sie sich doch keine Mühe, sich auf lauter ungültige Verträge zu beziehen, die niemand mehr anerkennt und nicht den geringsten rechtskräftigen Wert haben."18 Seit 1907 existierte dann ein Vertrag zwischen dem Nietzsche-Archiv und Oscar Levy. Der eben habe es, ganz im Unterschied zu allen anderen englischen Bemühungen um Nietzsche, „sehr geschickt verstanden, Nietzsche in England zu lancieren, weil er sich sehr gute Übersetzer gewählt hat".19 Schließlich wurde sogar auch aus Weimar ein böser Blick auf jene erfolgreiche Ausgabe geworfen und der Vorwurf des (finanziellen) Betrugs erhoben; die Archivleiterin wollte entgegen dem Vertrag, der alle Kosten und Risiken mit dem Vertrieb an Levy delegiert hatte -, nun, bei dem sich abzeichnenden Erfolg auch neuerdings mit Anteilen beteiligt werden. „Ich habe Ihnen doch, wenn ich mich recht erinnere, schon früher geschrieben, daß der Vorstand der Stiftung [Nietzsche-Archiv] nicht mit dem Honorar für

von

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16

Oscar Levy an EFN, v. 27. Juli 1908, in: GSA 72/BW 3190. Denn: „Common, nethertheless, has the merit of having been the first Nietzschean in England." (Oscar Levy, Autobiography, a. a. O., 92). EFN an Adalbert Oehler, v. 6. Febr. 1913, in: GSA 72/733 a. EFN an [Thomas Common], v. 4. Okt. 1912, in: GSA 72/732 d. EFN an Adalbert Oehler, v. 6. Febr. 1913, in: GSA 72/733 a. -

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Ein Nomade in der Landschaft Zarathustras

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die Zukunft gebunden sein möchte", um „in der Lage zu sein, zu bestimmen, was sie zur 20 Zeit für angemessen hält." Die Folge war ein Rechtsstreit, bei dem das Nietzsche-Archiv eklatant unterlag. Das war zugleich der endgültige Bruch Levys mit der Villa Silberblick: Ist das „der Dank vom

Hause

Nietzsche", schrieb Levy 1922 empört nach Weimar, „als berechnender

Nietzsche-Schieber"21 betrachtet zu werden

...

II. Itinerarium wurde 1867 in Stargard (Pommern) geboren, in einem gut situierten jüdischen Elternhaus. Er studiert in Freiburg Medizin, promoviert 1891 Über Knochenabscesse (er weiß also, Schnitte zu setzen ...) und verlässt kurz darauf das wilhelminische Deutschland, u. a., weil er, wie er einmal einem Freund erklärte, „never known a nation so brutally chauvinistic".22 Schon Nietzsche selber hatte für sich und seinesgleichen einen solchen Weggang unter den gegebenen politischen Auspizien dort als nahezu unausweichlich gesehen: „Es scheint mir immer mehr dass Man treibt uns Deutsche aus dem Vaterlande, die wir nicht flach und nicht gutmüthig genug sind um an dieser märkischen Junker-Vaterländerei mitzuhelfen und in ihre Haß schnaubende Verdummungs-Parole ,Deutschland Deutschland über Alles' einzustimmen."23 Levy ging nach England. „In the pantheon of forgotten contributors to British cultural life in the first half of the twentieth century, none is more worthy of being retrieved than Oscar Levy."24 Er hatte mit seinem Weggang nicht einfach die Nationalität wechseln wollen. Vielleicht bloß ein Brite zu werden, das hielt er für irrelevant. Vielmehr kultivierte er eine ganz eigene Mitte zwischen Integration und Abgrenzung. Er betrieb eine kulturelle Symbiose zwischen dem kulturell Besten des Kontinents, das er mitbrachte und wie er hoffte einer aristokratischen Noblesse des Empire. Er setzte darauf, dass dabei vielleicht etwas die national-üblichen kulturellen Werte und national-selbstbezüglichen Standards Übersteigendes entstehen könnte. Was Levy dabei imaginierte, waren Umrisse für eine Neue Renaissance. Dafür versuchte er ein kritisches Ferment, nämlich die Ideen Nietzsches in den britischen Geist zu implantieren. Dass eine solche Operation gerade hier auf der Insel wo man, wie Nietzsche einmal schrieb, mit der .Heilsarmee moralisch grunzen lernt die geistige und geistliche Welt nicht gleichgültig lassen würde, davon war schon der Röckener einigermaßen überzeugt. Als er nämlich den Ecce homo seiner englischen Übersetzerin Helen Zimmern avisierte, verband er damit

Levy

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EFN an Oscar Levy, v. 30. Jan. 1911, in: GSA 72/731 a. Oscar Levy an EFN, v. 5. März 1922, GSA 72/BW 3190. Oscar Levy an Georges Chatterton-Hill, v. 30. Nov. 1913, unveröffentl., Brief im Besitz von Albi und Maud Rosenthal geb. Levy, (Oxford). Friedrich Nietzsche, Notizheft N VII 2, in: KGW, LX. Abt., hg. v. Marie-Luise Haase u. Michael Kohlenbach, Bd.2, Berlin/N.Y. 2001, 61. Dan Stone, „An .Entirely Tactless Nietzschean Jew'", Oscar Levys Critique of Western Civilization", in: Journal of Contemporary History [London], Vol. 36 (2001), 271.

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die sichere Vermutung, dieses „Attentat auf das Christenthum wird in England ein ungeheures Aufsehen machen".25 Er fand hier allerdings auch schon den Boden dafür bereitet, u. a. in den kulturkritischen Versuchen der 1903 in London gegründeten Zeitschrift Notes for Good Europeans und in der von A. R. Orage geleiteten Zeitschrift The New Age, „a journal which has still not received the attention it deserves for its role in

promoting modernism in English literature".

In diesem Medium „he had found the most suitable outlet for airing his views on Nietzsche, and from which base he could gather around him other committed to the Nietzsche case"27 entwickelte sich also das kritische, metaphorische und begriffliche -

Inventar Levys für die eigenen zeit- und zivilisationskritischen Diagnosen. Er wollte selber, ganz wie er einmal Nietzsche referierte, „nicht nur Protestant, nicht nur Revolu-

tionär, nicht nur ewiger Verneiner ,à l'allemande1' der Vorwurf Dostojewskijs!" sein, sondern „Schöpfer neuer Werte, neuer Ideale, neuer Visionen", damit aber vertiefe er eben Nietzsches Verdienst „ein über-deutsches, überprotestantisches, überjüdisch-

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christliches Verdienst". Levy untersuchte und kritisierte vor allem dasjenige, was er als den inneren Zusammenhalt in allen Nationen seiner Zeit bemerkte: ein Überlegenheitsgefühl anderen gegenüber, Missachtang des (rassisch oder religiös) Fremden, Militarismus und vor allem ein quer durch alle Konfessionen bemerkbares religiöses Sonderbewusstsein der je eigenen Gemeinschaft. Levy setzte sich damit natürlich zwischen alle Stühle. Denn der böse Geist des Nationalismus war in allen Nationen virulent. Und auch nach den Schreckenserfahrungen mit dem Großen Krieg der „Nationalen Derwische" war jener schreckliche Geist nirgends besiegt, kaum blamiert. Levy musste sogar erleben, dass „die Moral-Fanatiker der Entente [ausgerechnet!] Nietzsche als den bösen Genius des wilhelminischen Zeitalters bezeichnet und damit weithin Glauben gefunden, der schwer auszurotten sein wird". Das aber war für Levy der exemplarische Fall eines augenscheinlich immer defizienten Zeitgeistes, der nichts begreift, sondern nur Ressentiments generiert. Die musste er auch einmal ganz persön-

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Friedrich Nietzsche an Helen Zimmern, v. 8. Dez. 1888, in: KSB, Bd. 8, 512. Dan Stone, „An .Entirely Tactless Nietzschean Jew'", a. a. O., 273. Vgl. auch: A. R. Orage, Friedrich Nietzsche: The Dionysian Spirit of"the Age, London/Edinburgh 1906. Dan Stone, „An .Entirely Tactless Nietzschean Jew'", a. a. O., 275. Oscar Levy, Rez. zu Alfred Baeumler (Hg.): „Nietzsche in seinen Briefen und Berichten der Zeitgenossen", Leipzig 1932, in: Die Literatur [Stuttgart], Okt. 1932. Oscar Levy, Kriegsaphorismen für Europäer oder solche, die es werden wollen, Bern /Biel/Zürich 1917, 80 (Aph. Nr. 97). Diese Formel verwendet er erstmals im Brief an EFN vom 28. Dez. 1915: „Wir haben uns nie in Chimären ergangen, wie die nationalen Derwische [Hervorh. v. mir St. D.] von heute [...] wir aber, die wir an Politik nicht mehr glauben, müssen vorausdenken und voraussagen, damit uns nicht das passiert, was aller Literatur von Vor-dem-Kriege passieren wird: nämlich mit Hohngelächter von der kommenden Jugend ad acta gelegt zu werden. Das darf uns nicht Nietzsche hoch und von Zeitpassieren und das kann uns nicht passieren, wenn wir Schmutzflecken rein erhalten", und mit einer deutlichen Warnung gerade nach Weimar gesagt -, „wenn wir uns selber von nationaler Neurotik und nationaler Mystik freizumachen verstehen". (GSA, 72/BW 3190). Oscar Levy an Major Oehler, v. 7. Mai 1922, in: GSA 72/1803. -

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Ein Nomade in der Landschaft Zarathustras

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lieh erleben: Am 18. August 1914 fand er des Morgens im Briefkasten seines Londoner Hauses am Russell-Square 54 den The Scotsman mit einen Nietzsche-kritischen Artikel, dass eben „die heidnische, antichristliche Gesinnung Nietzsches, seine Verherrlichung des Übermenschen, den Deutschen den Kopf verdreht und sie zur Aussendung von vier Kriegserklärungen in einer Woche veranlasst habe", und am Rande dieser Zeitung habe dann irgend jemand handschriftlich geschrieben: „You have brought this -

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...

poison to England!"31

Im Nietzsche-Archiv jedenfalls hat

,Viel Feind, viel Ehr'

solche NachrichNietzsches Denken groteske Verdrehung von wahrgenommen, sondern man war stolz darauf, dass, wenn auch widerwillig, anerkannt werde, wie EFN einmal hervorhob, „dass mein Bruder mit seiner Lehre vom ,Willen zur Macht' als einer der Grund-Urheber dieser grandiosen Gesinnungsart Deutschland's bezeichnet wird. Darüber habe ich aus England interessante Dinge gehört." Es sei hier, schreibt sie einmal, ,Jedenfalls in der ,Times', wie man mir sagte, mein Bruder als der Hauptfeind geschildert, der den Deutschen diesen Willen zur Macht eingeprägt hätte". Kurz, die EFN schien mit jener nationalen Umschreibung Nietzsches im jetzt feindlichen Ausland sehr zufrieden zu sein: „Es ist nämlich wunderbar, dass Nietzsche so zu 4 sagen ein Kriegsheld geworden ist." Levy stand jetzt offensichtlich sowohl diesseits wie jenseits des Kanals mit seiner Botschaft, dass eben doch gerade exemplarisch „Nietzsche alle Ideen, die zum grossen Tartuffenkrieg Europas führten vom Nationalismus bis zum Sozialismus scharf bekämpft hat"35, allein da mit ein paar Getreuen (wie J. M. Kennedy, Th. Common, A. R. Orage und Miss Beatrice Marshall) und amtlich allerdings „a good-weather Nietzschean" angefeindet. „Denn Nietzsche lagen nicht die politischen Gegensätze, nicht die Gegensätze zwischen Preußen und Frankreich oder die zwischen Deutschland und Europa am HerGoethe, nur die zwischen Kultur und Barbarei."37 zen, sondern, genau wie seinem Und auch nach dem Krieg müsste er schreiben: „Ich habe immer noch einen schweren Stand", so schreibt er einmal zu dieser Zeit, „sowohl als Deutscher als auch als Nietzschejünger. Selbst mein Hierbleiben ist noch ungewiss. Die ,former alien enemies' dürfen nur mit besonderer Erlaubnis des Ministers des Inneren hier landen und werden an permanenten Aufenthalt verhindert."38 Es war natürlich leicht, Levy, der sich immer als Europäer verstand und der sich gerade auch in England nie um sog. ,ordentliche Papiere' gekümmert hat, jetzt mit ten nicht nur nicht als

man

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33 34 35 36 37

38

Oscar Levy, „Nietzsche im Krieg. Eine Erinnerung und eine Warnung", in: Die weissen Blätter, 6. Jg. (1919), H. 6, 277. EFN an Maria Thiel, v. 4. Dez. 1914, in: GSA 72/734 d. „Offenbar wollen die Engländer das Rezept kennen lernen, wodurch aus den geduldigen, nachsichtigen Deutschen dieses stahlharte nach Macht strebende Volk geworden ist." (EFN an Baron Taube, v. 30. Dez. 1914, a. a. O.). EFN an Baron Bodenhausen, v. 15. Sept. 1914, in: GSA 72/734 c. EFN an Zschortich, v. 17. Dez. 1914, in: GSA 72/734 d. Oscar Levy an Major Oehler, v. 7. Mai 1922, in: GSA 72/1803. Oscar Levy, An Autobiography, a. a. O., 129. Oscar Levy, „Nietzsche im Krieg", a. a. O., 283. Oscar Levy an EFN, v. 9. Okt. 1920, in: GSA 72/BW 3190.

Steffen Dietzsch

212

fremdenpolizeilichen Formalitäten zu blamieren. Und so wurde ein paar Jahre nach dem Krieg im Oktober 1921 Oscar Levy in England (wo er über zwanzig Jahre frei gelebt hat) plötzlich als .feindlicher Ausländer' identifiziert und ausgewiesen. Noch zu Beginn des Weltkrieges hatte Levy nach Deutschland schreiben können: „Trotzdem ich -

-

nicht naturalisierter Deutscher bin, habe ich bisher keinerlei Unannehmlichkeiten erfahren und bin nicht einmal, wie viele andere Deutsche, meiner englischen Freunde verlu„39 stig gegangen. Die englische intellektuelle Welt protestierte natürlich gegen diese unsinnige und unzeitgemäße Abschiebung, u. a. erhoben Schriftsteller wie Herbert G. Wells, Georges B. Shaw, Lord Alfred Douglas (der Freund Oscar Wildes) und John Galsworthy ihre Stimme für Levy; auch wurde eine Neuauflage seiner Nietzsche-Gesamtausgabe veranstaltet. „Was ich ohne meine hiesigen aufopfernden Freunde hier gemacht hätte, ist kaum auszudenken, wahrscheinlich aber ,mich aus dem Staube!!'. Es ist, nebenbei, urkomisch, offiziell so viel Feindschaft und privatim so viel Achtung zu Aber vor allem: Diese Kampagne für Oscar Levy hatte zur Folge, dass er demonstrativ den eben begründeten ersten Nansen-Pass4 ausgestellt bekam. Dieses von dem bekannten Polarforscher Fridtjof Nansen angeregte, völkerrechtlich anerkannte Reisedokument für staatenlose politische Flüchtlinge wurde Anfang Juli 1922 gestiftet. Levy konnte somit seine nomadische Lebensweise weiter fortführen. Auch seiner geistigen Ausstattung nach war Levy von allem Anfang an ein Emigrant. Geradeso wie es Nietzsche von sich und seinesgleichen postuliert hatte: „Wir sind Emigranten. Wir wollen auch das böse Gewissen für die Wissenschaft im Dienste der Klugen sein!"42 Emigranten in diesem Sinne sind also, wie Nietzsche an gleicher Stelle betont, gerade das Gegenteil von denen, den Vielen, „welche durch den Selbstbetrug leben müssen und wollen !"43Denn, und das macht nach Nietzsche den gewissermaßen synthetischen' Sinn bei Emigranten aus: „Das geistige Nomadenthum ist die Gabe der Objektivität oder die Gabe überall Augenweide zu finden." Levy sieht sich durch die Katastrophe des Weltkriegs weiterhin bestätigt, sein Nietzsche-Missionswerk weiter fortzusetzen gerade auch für Deutschland. „Das alte Deutschland ist erledigt", schreibt er 1922 nach Weimar an Max Oehler, „so gründlich erledigt, wie kein Deutscher es auch nur ahnt: der einzige Nicht-Erledigte 5 und Überlebende des Schiffbruchs wird Ihr grosser Verwandter sein." Aber gerade von Weimar her musste Levy seit Kriegsbeginn August 1914 und dann kontinuierlich weiter bis in die zwanziger und dreißiger Jahre erleben, dass die Nietzsche-Gemeinde ausgerechnet in Deutschland „NB unter Führung der nicht zu charakter-

genießen."40

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Oscar Levy an EFN, v. 12. Nov. 1914, in: GSA 72/BW 3190. Oscar Levy an EFN, v. 30. Juni 1920, in: GSA 72/BW 3190. Vgl. Steffen Dietzsch, „Nansenpass One", in: Iablis. Jahrbuch f. berg], 1. Jg. (2002), 130-135. KSA, Bd. 9, 201. Ebd. KSA, Bd. 9, 667. Oscar Levy an Major Oehler, v. 7. Mai 1922, in: GSA 72/1803.

europäische

Prozesse

[Heidel-

Ein Nomade in der Landschaft Zarathustras

213

ihren Heros schwarz-weiß-rot angestrichen hat." Hier festen Nietzsche-Familie wurde etwas fortgesetzt, was die Archivleiterin gleich im ersten Kriegsherbst 1914 mit Nietzsche versuchte, nämlich ihn vaterländisch-national einzureihen. Die EFN wendet sich nämlich in jenen Wochen an die Redaktion des ,Kladderadatsch', um dort nach einem Kriegsgedicht vom August 1870 [!!] von dem ihr nur noch die erste Strophe erinnerlich sei suchen zu lassen, das Nietzsche seinerzeit auf einer Bahnfahrt spontan vertont hätte. Sie fragt an, „ob man dies Lied nicht in unsere jetzigen Kriegslieder einreihen könnte. Dazu gehört aber allerdings, daß ich nicht nur den ersten Vers kenne, wieder aufzufinden in sondern das ganze Lied. Wäre es nun möglich die Nummer welcher das Gedicht stand?" Noch nach dem geschäftlichen Bruch mit Elisabeth Förster-Nietzsche (Anfang der zwanziger Jahre) nahm Oscar Levy Gelegenheit, das völlige Unverständnis jener stadtbekannten Schwester' mit dem philosophischen Grundbestand im Denken ihres welt-

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...

-

bekannten Bruders' offenzulegen. Die Weimarer Archivleiterin neigte zunehmend zu geistigen ,Kurzschlüssen', nämlich z. B. manche ihr neuerdings sympathischen politischen Ereignisse als ,innerlich' mit den Ideen ihres Bruders verknüpft zu sehen, das hieß aber in aller Regel: die Kontingenz jener Ereignisse mit Nietzsche sozusagen zu ,konfirmieren'. Im Alter wurde diese Marotte immer peinlicher. Bei Gelegenheit eines öffentlichen Glückwunsches der Förster-Nietzsche an Mussolini vom Frühjahr 1929 anlässlich von dessen Konkordatsvertrag mit dem Vatikan hat Oscar Levy einmal solche schrägen Blicke aus der Villa Silberblick aufs politische Geschehen auch öffentlich karikiert. Levy hielt dabei dem Nietzsche-Archiv gar nicht zuerst seine Sympathie für Mussolini vor. Damit hätte Levy in jener Zeit keine Probleme gehabt. Er kannte Mussolini selber persönlich ein wenig, hatte er ihn doch schon (im Juli) 1924 einmal im Auftrag einer amerikanischen Zeitung interviewt. Und noch später, „in 1937, I had Mussolini warned against his friendship with Germany". Er, Levy, verstehe also zunächst „die Sympathie, die Sie für Mussolini empfinden, aber diese einleuchtende Sympathie wurde gerade bei mir durch jenes Ereignis getrübt, so schrieb er aus zu dem Sie ihm heute gratulieren: die Aussöhnung mit dem Südfrankreich in einem ,Offenen Brief nach Weimar.

Papste"50,

zu Charles Andler: „Nietzsche, sa vie et sa pensée" (Paris 1931 ), in: Die Literatur 1931. [Stuttgart], Sept. Die ging so: ,Ade, ich muß nun gehn / zum Kampf wohl an den Rhein; / Viel Deutsche Brüder stehn / und harren dort schon mein / Ich weiß auf wen ich zähle, / ich hab sie treu erkannt, / ein Herz und eine Seele / sind wir für's Vaterland'. Dieses Lied konnte dann die Reisegesellschaft, die auf dem Wege von Lindau nach Erlangen gewesen war, „am Ende der Fahrt schon auswendig sinder in unseren Wagen kam, gen, und ein weiterer Freund [d. i. der Maler Mosengel St. D.] sang es auch noch mit. Den Refrain sangen wir alle mit Inbrunst: ,Ein Herz und eine Seele für's deutsche Vaterland". (EFN an Otto Crusius, v. 28. Dez. 1914, in: GSA72/734 d). EFN an die Redaktion des ,Kladderadatsch', o. D. [Okt.-Dez. 1914], in: GSA 72/734 d. Oscar Levy, An Autobiography, a. a. O., 218. Oscar Levy, „Offener Brief an Frau Elisabeth Förster-Nietzsche", v. 11. Mai 1929, in: Das Tagebuch [Berlin], 10. Jg. (1929), H. 21, v. 25. Mai 1929, S.858f

Oscar Levy, Rez.

-

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...

Steffen Dietzsch

214

schätzbar, dass, wie Levy hervorhebt, in jenem Lateran-Vertrag eine Bestimmung eingefügt sei, „nach welchem Israeliten, Protestanten, Orthodoxe in der Ausübung ihrer Kulte nicht nur vom faschistischen Staate toleriert, sondern direkt zu ihm zugelassen werden"51, so könne aber doch, gab Levy der Archivleiterin zu bedenken, „ein echter Jünger Nietzsches gerade Mussolinis Versöhnung mit dem Papst niemals billigen". Levy hatte übrigens schon früher, „bei Gelegenheit der Zentenar-Feier für den heiligen Franziskus, in einem an Mussolini persönlich gerichteten Brief meinen Zweifel an die Heilsamkeit dieses Bündnisses [mit dem Katholizismus] ausgedrückt".53 Zwar sei

es

glaubt tan zu müssen, unsere Sache als Nietzscheaner jedenfalls sei es, so Levy, alle Kompromisse mit Politikern zu vermeiden. Levy erinnert die Förster-Nietzsche an jene Mesalliance mit den Vorkriegs- und Weltkriegspolitikern, „denen einst die deutschen Nietzscheaner durch Stillschweigen oder Beifallklatschen dienstbar waren" ein, wie Levy hervorhebt, „nichtswürdiges Verhalten, das dem Auslande schließlich den wirksamen Propagandaschrei lieferte: ,Nietzsche hat den Weltkrieg gemacht!'"54 Wir Nietzsche-Verehrer sollten, so Levy, jene begreifliche Schwäche des Gerne-Mitmachens ablegen, „denn wir, und nur wir, sind die Träger des das nur durch uns und unsere Werte wieder zur Besinnung Zukunftsgeistes Europas, 5 Nun mag Mussolini tun,

was er

-

kommen kann". Und ganz nebenbei: In Weimar sollte doch nicht ganz vergessen werden, dass sämtliche Werke Friedrich Nietzsches auf dem Index Expurgatorius stehen Und so erlaubt sich gerade Levy diese Kritik an den jüngsten politischen Aspirationen des Nietzsche-Archivs, weil er, Levy, auch schon vor dem Kriege „gegen die Ausmünzung von Nietzsches Lehre zugunsten Bismarcks und seines Reiches, zugunsten Wilhelms und seiner Konsorten protestiert hatte".56 Kurzum „I thus had been right in distrusting the German Weimar Nietzscheans. My way was clear: out ofthat madhouse and into the foreign World."57 ...

-

III.

,Defensor Fidei' CO

Urbanität des Westens" wie der politische Aufbruch Hitler und seinen Deutschen nach 1933 von Alfred Baeumler nietzschefremd wahrvon brutale ehe Baeumler opera nel corpo stesso del pensiero wurde „II taglio genommen Der

„Siegfriedangriff auf die

,

-

51 52 53

Ebd., 859. Ebd., 859. Ebd., 859. „My Damascus. One day when coming out of the ,Vienna' Café, New Oxford Street [in Bloomsbury, hier in der Nähe traf sich auch der Kreis um Virginia Woolf- hatten Levy und seine Freunde ihren jour fixe], I had the sudden illumination that Monotheism was not superior to the Paganism of Greece and Rome." (Oscar Levy, An Autobiography, a. a. O., 65). Ebd., 859. -

54

55 56 57

58

Ebd., 860. Ebd., 860. Oscar Levy, An Autobiography, a. a. O., 211. Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr,

Stuttgart 1956, 211.

Ein Nomade in der Landschaft Zarathustras

215

eröffnete di Nietzsche va di pari passo con la sua strumentalizzazione política" auch für Oscar Levy neue Horizonte des Exils. Anfangs des französischen Exils erinnert sich Heimich Mann einer Begegnung mit Oscar Levy: „Im Hotel Bandol [in Nice] sass gelegentlich an unserem Tisch ein älterer, etwas schwerhöriger Mann, Dr. Oscar Levy; der wohnte im Winter in Cannes und führ immer treu Autobus, damit wir den Abend verbrachten. Der war geduldig und anhänglich, zu schweigen von seinem eigenen Wert." Auch Walter Benjamin suchte in jenen Jahren die Nähe zu Levy: „Lewy [= Oscar Levy] ist leider nicht in Monte Carlo, sondern mit seiner Tochter [Maud] in der Bretagne."61 Levy war ein Exilant avant la lettre; nach wechselnden Aufenthalten in der Schweiz (1916-1919), und danach in England, Frankreich und Deutschland geht er nach 1933 schließlich wieder in den Süden, hauptsächlich nach „Frankreich, wo ihm ein Ausweis als ,omme de Lettres'ausgestellt wird".62 Hier traf er gelegentlich auch der Naziherrschaft entkommene Schriftstellerkollegen. Die kamen alle aus einem seltsamen Land, das sie ,Bei-uns-zu-Hause' nannten. Diesen neuen Schicksalsgenossen zeigte Levy, der schon ein halbes Leben lang Emigrant war, wie man sich dennoch selbst erhalten kann, sozusagen .übernational'(wenn auch zunächst erzwungenermaßen), in der Einübung einer vorerst geistigen europäischen Existenz. Levy betont dabei, dass es in den geistigen Kämpfen der Gegenwart für uns Deutsche u. a. darum gehen wird, zu begreifen, „dass es sich in Europa nicht um den alten Nationalismus oder den alten Inter-Nationalismus handeln könne, sondern um einen neuen sur-nationalisme". Gerade das aber war auch das politische Kernproblem bei der Verteidigung Nietzsches gegen seine Volksdeutsche Vereinnahmung in diesen ,

-

-

-

Dreißigerjahren. Das publizistische

Zentrum

zur

-

Verteidigung Nietzsches war jetzt Leopold Tage-Buch [abgek.: NTB]. Alle seine

Schwarzschilds Pariser Exilzeitschrift Das Neue

Carlo Gentili, Nietzsche, Bologna 2001, 372 (Dem groben Einschnitt, den Baeumler selbst in den Körper des Denkens Nietzsches setzt, entspricht genau die politische Instrumentalisierung dieses

Denkens).

Heinrich Mann an Thomas Mann, 13. Mai 1934, in: Thomas Mann/Heinrich Mann, Briefwechsel, hg. v. Ulrich Dietzel, Berlin/Weimar 1977, 170f. Levy sah aber die Manns auch durchaus kritisch: „Heinrich Mann wrote a stupid introduction to a Selection from my Nietzsche-Translation in the Living Thought Library, and Thomas Mann's latest book Order of the Day [1942] calls Nietzsche's teaching a power, drunk with Romanticism, in the creation of which he never gave thought to the way his ideas would turn out in practical politics and his great and tragic work has, alas, contributed not a little to the downfall of freedom in Germany! ,Das waren Deine Götter, Deine Mannen"' (Oscar Levy, An Autobiography, a. a. O., 235). Walter Benjamin an Stephan Lackner, v. 9. Juli 1937, in: Walter Benjamin, Gesammelte Briefe, hg. v. Christoph Gödde u. Henri Lonitz, Frankfurt/M. 1999, Bd. 5, 548. Levy und Tochter Maud waren in Ètretat, ihr Refügium seit 1911. Uschi Nussbaumer-Benz, „Oscar Levys nietzscheanische Visionen", in: Jüdischer Nietzscheanismus, hg. v. Werner Stegmaier u. Daniel Krochmalnik, Berlin/N. Y. 1997 [Monogr. u. Texte z. Nietzsche-Forschung, 36], 199. -

-

Defensor Fidei, „Nietzsche-Feier in Nizza", in: NTB,

5(1937), H. 11, v.

13. März, 263.

Steffen Dietzsch

216

Beiträge schrieb Levy

unter

dem

lange Zeit

FideV.

nicht

aufgelösten Pseudonym ,Defensor

,Defensor Fidei' rezensiert (NTB, 20. Sept. 1935) eine amerikanische Anthologie mit Nietzsche-Aphorismen ,Germans, Jews and France. By Nietzsche', die Benjamin de Casseres herausgegeben hatte. Levy würdigt diese Sammlung als nötiges Pendant „gegen jenes Deutschland, das schließlich in dem Monstrositäten-Jahrmarkt des Dritten Reiches seine Erfüllung fand".64 Sie zeige eindringlich, dass Nietzsche zwar hellsichtig, aber eben auch schon vergeblich gegen diesen Massen-Irrwahn geklagt habe. Die Deutschen, so Nietzsches Botschaft, die an „intellektueller Unsauberkeit" litten, sollten sich die schmutzigen Köpfe gerade von Juden waschen lassen. Oscar Levy empfiehlt dem amerikanischen Kollegen und Mitstreiter gegen die nationalsozialistische Vereinnahmung des Rökkeners als Motto für künftige Arbeiten dazu: Fools rush in, where angelsfear to tread. Aus Anlass ihres Todes (am 8. Nov. 1935) hatte ,Defensor Fidei' auch Nietzsches Schwester mit einem Nachruf bedacht (NTB, v. 16. Nov. 1935). Der Lebenseinfall jener Frau, nachdem sie mit der Idee der Kolonisierung gescheitert war, es nun mit der Kolonisierung einer Idee zu versuchen, führe zum Tod der Philosophie Nietzsches in Weimar. Die Schwester nämlich „hatte mit ihrem Genie à rebours auf Houston Stewart Chamberlain gesetzt, der Deutschland eine neue Religion verheißen hatte, und nicht auf '

,

ihren Bruder, der alle Welt einst vor dem Reiche gewarnt und den Deutschen prophezeit hatte: Ihr habt keine Zukunfitl" Das ,Lama', wie Nietzsche die Schwester nannte, habe einen untrüglichen Instinkt fürs Falsche und für die falschen Männer von Bernhard Förster über Hindenburg6 bis Adolf Hitler. Ihr Lebensverhängnis: Sie hat im Weimarer Archiv Nietzsche ins Deutsche übersetzen wollen. „So hat ihr die Gleichschaltung der Lehre Nietzsches mit den Ansichten der jeweiligen Machthaber niemals irgendwelche intellektuellen Beschwerden verursacht."67 Schon im Ersten Weltkrieg hat sie Nietzsche ganz rigoros in den Dienst des Krieges gestellt. Sie wollte damals eine speziell für Soldaten gedachte ,tornistergerechte' Zarathustra-Ausgabe (,Kriegs-Zarathustra') bei Kröner durchsetzen und dafür alle kommentierenden Erklärungen weglassen, denn „diese philosophischen Auseinandersetzungen (sind) im Schützengraben nicht am Platze; das macht das Bändchen ein wenig leichter", und „nach dem Kriege verschwindet diese Ausgabe wieder aus dem Handel". Noch im Herbst 1933 hatte das NTB gewarnt (am 25. Nov. 1933): „Aber die Herrin Aus des Nietzsche-Archivs verwechselt geflissentlich ihren Bruder mit ihrem Mann. dem Nietzsche-Archiv ist längst ein Förster-Archiv geworden, ebenso beharrlich sucht sie den Förster-Geist als Nietzsche-Geist vorzustellen."69 -

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...

Das Neue Tage-Buch, v. 20. Sept. 1935, 910. Ebd.,v. 16. Nov. 1935, 1105. „Der einzige Lichtblick ist Hindenburg!" (EFN an Max Oehler, v. 1. Sept. 1916, in: GSA 72/736 c). Das Neue Tage-Buch, v. 16. Nov. 1935, 1105. EFN an Max Brahn, v. 10. Februar 1916, in: GSA 72/ 736 a. Das Neue Tage-Buch, v. 25. Nov. 1933, 514. Auch Levy musste bei einigen Freunden jetzt die Erfahrung machen „us to Ludovici, he even became an Antisémite and spoke in meetings against the Jews". (Oscar Levy, An Autobiography, a. a. O., 83). -

-

Ein Nomade in der Landschaft Zarathustras

217

Hier ist übrigens gewiss eine Rezeption dieser deutschen Exil-Zeitschrift in Paris durch z. B. Georges Bataille zu vermuten, der kurze Zeit danach in seiner Zeitschrift 70 Acéphale ebenfalls in diesem Sinne über Nietzsches Schwester schreibt. Anfang Februar 1936 veröffentlicht ,Defensor Fidei' eine Bücherübersicht unter dem Titel „Von Nietzsche zu Nazi" (NTB, v. 8. Febr. 1936). Hier werden drei deutschsprachige Neuerscheinungen zu Nietzsche vorgestellt. Der Philosoph geriet offensichtlich mehr und mehr „in den Mittelpunkt der geistigen Schlacht"71. Zunächst wird ein Buch von Dimitri Gawronsky7 : Friedrich Nietzsche und das DritReich te (Bern 1935) besprochen. Das vordergründige Rätsel, dass sich sowohl Humanisten als auch Nationalsozialisten auf jenen Denker mit einigem Recht berufen zu können glaubten, löse sich nach Gawronsky dann, wenn man Nietzsche als typischen (deutschen) Romantiker auffassen würde. Kurz, so referiert Levy, „seine Widersprüche erklärten sich aus dieser seiner Herkunft, aus seiner Verwandtschaft mit der deutschen Volksseele, die immer zwischen Menschlichkeit und Titanenwahn einhertaumle und schließlich das Dritte Reich hervorgebracht habe"73. Dieser Topos vom widersprüchlichen' Nietzsche-Deutschen wird von Oscar Levy aufgegriffen und kritisiert. Es sei ein geläufiger hermeneutischer Laienfehler, dem Gawronsky aufsitze, nämlich: ,,[E]r nimmt jedes Wort Nietzsches ,au pied de la lettre', er versteht keine ,innuendos' und ,sous-entendus'; er weiß nicht zwischen den Zeilen zu lesen [...], dass Nietzsches Lehre nicht nur alle Werte, sondern damit auch alle Worte umgemünzt hat."7 Wer so mit seinem alten schulphilosophischen dictionnaire' an Nietzsches neue Sprache geht wie Gawronsky, wird die vielen nietzscheschen ,Reizworte' nur als womöglich ,immoralistische' Verrücktheiten zu deuten wissen. „Man hat vielleicht, den besten Willen zu lernen", konzediert Oscar Levy, „aber aller guter Wille führt nur zu Mißverständnissen. Denn hier muß es einmal gesagt werden, dass Nietzsche nicht wie Chemie, Mechanik und Bakteriologie erlernt werden kann und dass Schule, Fleiss, Gewissenhaftigkeit hier nicht zu sicherem Erfolge führen." Ein anderer Tage-Buch-Autor, Klaus Mann, erinnerte sich diesbezüglich einmal eines Gesprächs mit einem holländischen Freund und Nietzsche-Leser, Menno ter Braak der ihm sagte: „Man muss zu lesen (und zu denken) verstehen, um sich von ,

Vgl. Georges Bataille, „Elisabeth Judas-Foerster", in: Acéphale [Paris], Jan.-Heft 1937 [Nietzsche et les Fascistes]. Neuerdings ins Deutsche übersetzt, in: Georges Bataille, Wiedergutmachung an Nietzsche, hg. v. Gerd Bergfleth, München 1999, 141-143. Das Neue Tage-Buch, v. 8. Febr. 1936, 135. Zu dieser Zeit Privatdozent für Philosophie an der Universität Bern. Er war seit den frühen Zwanzigern mit Ernst Cassirer befreundet (vgl. Toni Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, Hildesheim 1981). Das Neue Tage-Buch, v. 8. Febr. 1936, 135. Ebd. Ebd. Vgl. den Aufsatz: „Menno ter Braak [1902-1940], Nietzsche, der Nationalsozialismus und die deutsche Exilliteratur" in: Nachbarn, Heft 42 (Niederländer und Weimar), hg. v. d. Kgl. Niederländischen Botschaft, Bonn 1999, 103-127. Und auch: Thomas Mann, „In Memoriam Menno ter Braak" [1947], in: Thomas Mann, Altes und Neues, Berlin/Weimar 1965, 260-262.

Steffen Dietzsch

218 ihm

[Nietzsche]

nicht verwirren

zu

lassen. Nichts ist peinlicher, als ein naiver Nietz-

sche-Enthusiasmus, der ,wörtlich nimmt'." Oscar Levy identifizierte hier ein mittelfristiges Problem für das Verstehen Nietzsches und sein ,Erbteil' für eine lebendige Philosophie der Zukunft: Not täte nämlich eine gelehrte Vorurteilskritik, die diese Kritik auch immer auf sich selbst anzuwenden verstünde. Und solange das ausstehe, bliebe für die Gegenwart nur zu konstatieren: ,,[M]angels der Leitung echter Nietzsche-Forscher haben sich forsche NietzscheFälscher dieser Philosophie bemächtigt." Hoffnungsvoller blickte da der ,Defensor Fidei' auf das neue Buch von Alfred Rosenthal: Nietzsches .Europäisches Rasse-Problem' (Leiden 1935). Das Buch sei „ein einziger, tiefgefühlter Schmerzensschrei nach einem Europa, das endlich einmal einig

werden und sich nach Nietzsches Wunsch zur Herrin der Erde machen möchte".79 Dazu seien nach Nietzsche alle Völker des alten Kontinents gefordert und nicht nur eine privilegierte Herrenrasse (aus womöglich Deutschen!); Nietzsche orientiere in dieser Frage gerade gegen den Nationalsozialismus für ,Rassenmischung' statt ,Rasse-Reinheit'. Die Deutschen hätten, allerdings ganz anders als die Nationalsozialisten sich dies dächten, wohl eine besondere Veranlagung zu solch einem europäischen ,Synkretismus' nämlich gerade wegen, wie Klaus Mann einmal Nietzsche zitiert, ihrer „Juden, dem europäischen Element unter den Deutschen". Dem Buch Rosenthals ist ein Geleitwort des großen holländischen Historikers Johan Huizinga beigegeben, in dem es heißt: „Aus der tobenden Ideen-Verwirrung von heute emporgehoben zu werden zu der Sphäre, in der Nietzsche seine Gedanken über Europäertam, Judentum und deutsche Art niederschrieb, ist eine Wohltat, für welche man dem Verfasser dieses Buches aufrichtig danken muß. Hier spricht ein Geist und eine Gesinnung, welche Deutschland nicht entbehren kann."81 Der Emigrant Rosenthal wagte sich mit seinen Vorschlägen weit hinein in das Problematischste des hassgeliebten Deutschland. Aber er hat keine Furcht, etwa von dort verwechselt zu werden mit dem gewissermaßen naturalistisch und proto-medizinisch (praktisch,laboristisch'!) enggeführten Rassendiskurs, so wie er nationalsozialistisch seit langem dominiert war. Sogar einem Freund des Nietzsche-Archivs, Borries Frh. v. Münchhausen, wurde schon in den Zwanzigerjahren eine Zeitungsveröffentlichung verwehrt, weil sich darin anzudeuten schien, „dass es nicht nur keine deutsche Rasse gebe, sondern dass ,Rasse' überhaupt ein unmöglicher und jedenfalls unwissenschaftlicher Begriff sei".82 -

-

Klaus Mann, Tagebücher 1936-1937 [Tagebuch-Eintrag, Amsterdam, 15. Apr. 1936], hg. v. Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle u. Wilfried F. Schoeller, München 1990, 39. Das Neue Tage-Buch, v. 8. Febr. 1936, 136. Ebd. Klaus Mann, Tagebücher 1938-1939, a. a. O., 75 [Tagebuch-Eintrag v. 8. Dez. 1938]. Vgl. auch seinen Tagebuch-Eintrag v. 6. Febr. 1937 über ein Gespräch mit Walter Landauer (Lektor im Verlag Allert de Lange, Amsterdam), in: Klaus Mann, Tagebücher 1936-1937, a. a. O., 105. Johan Huizinga, Geleitwort zu: Alfred Rosenthal, Nietzsches .Europäisches Rasse-Problem', Leiden 1935, unpag. Chefredakteur Maushagen [v. Chemnitzer Tageblatt] an Börnes Frh. v. Münchhausen, v. 27. Okt. 1927, in: GSA 69/5998.

Ein Nomade in der Landschaft Zarathustras

219

Rosenthal ließ selbstverständlich auch keinen Zweifel daran aufkommen, dass der damit verbundene sog. anthropologische Untergrund der völkischen Bewegung in Deutschland auch einzelwissenschaftlich unlegitimiert ist. Rosenthal, der wie viele deutsche Emigranten vor und mit ihm von Deutschland natürlich nicht loskommen kann, vertritt geistig souverän ein „edleres Deutschland, das nie das Knie vor dem finsteren Staats-Baal beugte [...] ein sehr kleines, sehr stilles, sehr gefährdetes, oft in Exil, Wahnsinn und Verzweiflung getriebenes Deutschland". Ganz anders dagegen die dritte Neuerscheinung zu Nietzsche, die Oscar Levy vorstellte, nämlich Richard Oehler: Friedrich Nietzsche und die deutsche Zukunft (Leipzig 1935). Der Verfasser, einer der Vettern Nietzsches, Bibliothekar in Weimar, bedient hier all die Vorurteile über Nietzsche und Deutschland in jener bipolaren Welt der Dreißiger, die in „Hitler das Schwert (oder Richtbeil?) des Zarathustra-Gedankens" sehen wollten. Ein knappes Jahr später stellt ,Defensor Fidei' unter dem Titel „De Nietzsche à Hitler" (NTB, v. 9. Jan. 1937) das in der Édition Fasquelle in Paris erschienene gleichnamige Werk des französischen christlichen Philosophen Marius Paul Nicolas vor. Die Frage, wie es wohl kommen konnte, dass die europäische Zivilisation von Nietzsche auf den Hitler heruntergekommen sei, werde hierzulande sehr französisch' beantwortet: durch La trahison des clercs Das aber scheint Oscar Levy zu kurz gegriffen, zumal jener Ankläger [Julien Benda] „in einem Punkt selbst mitschuldig ist. Er selbst hat nämlich Friedrich Nietzsche verraten." Genau dies zu zeigen sei unstrittig der Wert des vorliegenden Buches von Marius Paul Nicolas. Der nämlich argumentiere schon gewissermaßen ,europäisch', d. h., er widerstreitet denjenigen französischen Anklägern Nietzsches (und der Deutschen), denen Wahrheit gleich Vaterland' ist, wie im zeitgenössischen Frankreich etwa Charles Maurras, Léon Daudet oder André Suarez. Oscar Levy bekundet der Scharfsicht von Marius Paul Nicolas seine Reverenz, wenn er bei ihm liest, dass man in Deutschland selbst kaum begriff, wer Friedrich Nietzsche eigentlich gewesen sei natürlich kein ,Präfaschist', auch kein bloßer Skeptiker, kein Anarchist, kein illuminierter Heiland'. Der französische Denker Nicolas dagegen sehe in Nietzsche „einen Sur-Chrétien (das Wort stammt vom Autor)", in dem „das Christentum selber hier seine letzte Konsequenz gegen sich selber zieht"87. Aber er sei deswegen natürlich kein Zerstörer abendländischer Denkformen, auch wenn er sie grundsätzlich problematisierte und auf ihre Grenzen aufmerksam machte. -

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,

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Das Neue Tage-Buch, v. 8. Febr. 1936, 138. Ebd., 138. Auch aus dem Nietzsche-Archiv war zu hören: „Sie werden danach gewiß selbst bei Nietzsche viel finden, was Ihnen die Verwandtschaft vieler seiner Gedanken und Maximen mit Grundanschauungen und Strebungen des Faschismus und Nationalsozialismus deutlicher machen wird." (Max Oehler an Sollberger, v. 12. April 1934, in: GSA 72/1803). So das gleichnamige Buch von Julien Benda [Paris 1927]. Es ist in deutscher Sprache 1978 im Carl Hanser Verlag München erschienen. Das Neue Tage-Buch, v. 9. Jan. 1937, 37. Ebd., 38.

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220

Dagegen sind die wirklich Abtrünnigen aller großen intellektuellen Traditionen Europas im heutigen Deutschland zu finden, eben gerade die Nazis, sie zerbrechen und negieren die Traditionen und das europäische Herkommen der deutschen Kultur. Nietzsche ginge es mit den Nazis gerade so wie Chamfort mit den Sansculotten als der sah, dass die auch Voltaire zitierten und dabei Kirchen demolierten, rief er aus: Diese Halunken werden mich noch in die Messe zurückjagen. Das Buch von Marius Paul Nicolas wurde übrigens im ,Dritten Reich' sofort verbo-

ten.

Von einem bemerkenswerten kulturellen Ereignis in Frankreich konnte Defensor Fidei' in seinem Beitrag „Nietzsche-Feier in Nizza" (NTB, v. 13. März 1937) berichten. Zur Fünfjahresfeier des hier von Paul Valéry geleiteten ,Centre Universitaire Méditerranéen' (am 1. März 1937) wurde von Edouard Spenglé, seinerzeit Rektor der Universität Dijon, eine große Hommage für Friedrich Nietzsche, speziell den „Inspirations méditeranéennes dans l'œuvre de Nietzsche"88 zelebriert, „dem modernen Troubadour der Provence und des Mittelmeers"89. In der Halle des ,Palais du Centre' (in der Promenade des Anglais Nr. 65) wurde ein Relief-Bild Friedrich Nietzsches, das der Bildhauer Tarnowsky geschaffen hatte, angebracht. Offizielle Deutsche waren bei dieser Ehrung eines großen deutschen Philosophen nicht anwesend. „Nur einige Emigranten repräsentierten in Nizza das Volk, dem der große und freiwillige Emigrant, der Flüchtling aus dem ,Flachland Europas' (wie er Deutschland nannte) ebenfalls entstammte ..."90 In seinem Beitrag „Ein Nazi contra Nietzsche" (NTB, v. 3. Juli 1937) stellt ,Defensor Fidei' der Emigration ein Buch des nationalsozialistischen Autors Curt v. Westernhagen vor: Nietzsche, Juden, Antijuden (Weimar 1936). Hier habe endlich auch ein Volksdeutscher Leser Nietzsches erkannt, „dass man ihn zu Unrecht als Vorkämpfer der NaziIdeen hinstelle" Und noch mehr habe Westernhagen Recht, so Levy, „wenn er Nietzsche geradezu als den Saboteur ,avant la lettre' dieser Nazi-Theorie hinstellt".92 Bei Westernhagen lesen wir so bedauernd wie unmissverständlich: „In diesem Waffengang ,

.

Jean-Edouard Spenglé, Nietzsche et le Problème européen, Paris 1943, 65-95. Das Neue Tage-Buch, v. 13. März 1937, 262. Seit der Gründung des Centre Univ. Médit. 1933 bis zu seiner Absetzung im Sommer 1941 war Paul Valéry Leiter des CUM; vgl. Brief v. Paul Valéry an André Gide v. Febr. 1940 und Brief v. André Gide an Paul Valéry, 21. Aug. 1941. In: André Gide/Paul Valéry, Briefwechsel 1890-1942, hg. v. R. Mallet, Frankfurt/M. 1987, 601 u. 606. Nachfolger Valérys wurde Marcel Lucain. In Deutschland war namentlich Gottfried Benn von dieser Académie méditerranéenne fasziniert: „Aber die Einladungen nach Deutschland verfielen der Geheimen Staatspolizei. Die Kunst wurde geschlossen. .Messieurs, à la dernière for ever!'" (Gottfried Benn, „Kunst und Drittes Reich", in: ders., Das Hauptwerk, a. a. O., Bd. 2, 192). Das Neue Tage-Buch, a. a. O., 263. Und: „Frankreich, auf das Nietzsche immer gehofft, zeigt Europa den Weg zu den neuen Werten, die Deutschland nach Kräften verschüttet und verfälscht" -

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(263). Das Neue Tage-Buch, v. 3. Juli 1937, 641. Ebd., 641. Und an gleicher Stelle: „Besonders für Deutsche hielt Nietzsche den Zuschuss jüdischen Blutes für dringend geboten und jede ängstliche Abschnürung für ein Zeichen der Schwäche und

Minderwertigkeit."

Ein Nomade in der Landschaft Zarathustras

221

zwischen Judentum und Deutschtum stand Nietzsche in den Reihen des Judentums, aus Neigung und Berechnung, mit Herz und Kopf." Damit machte Westernhagen deutlich, dass für zentrale Bereiche der NS-Ideologie, namentlich eben der Rasse- bzw. Judenproblematik, das Werk Friedrich Nietzsches nicht nur nicht in Anspruch genommen werden konnte, sondern dass dort explizite Gegenpositionen dazu bezogen werden. Dort fanden sich Ansichten, so Levy, für die Nietzsche heute „im Konzentrations-Lager oder in der Emigrations-Misere" wäre. Um auf diese Distanz Nietzsches zum Nationalismus und Rassenschwindel weiter bekräftigend aufmerksam zu machen, veröffentlichte ,Defensor Fidei' Drei Briefe aus Nietzsches Nachlass (NTB, v. 19. Sept. 1936). Diese undatierte Korrespondenz war in der englischen Zeitschrift Time and Tide erschienen und wurde von Levy ins Deutsche rückübersetzt. Diese Briefe Nietzsches an seine englische Übersetzerin Helen Zimmern [v. 8. Dez. 1888], an den Chefredakteur des Journal des Débats, Jean Bourdeau, [v. 17. Dez. 1888] und an seinen italienischen Übersetzer Ruggiero Bonghi [v. Ende Dez. 1888] sind heute philologisch korrekt verfügbar 5. Die Aktualität der Warnungen Nietzsches in diesen Briefen vor einem übermächtigen deutschen Nationalismus schien Oscar Levy augenfällig: „Europa aber, an das sich der in Deutschland unverstandene Philosoph in der Not seiner letzten lichten Momente gewandt hatte, liess den warnenden Ekkehard in der Wüste predigen. [...] Jetzt haben sich die Nazis, als echte Vertreter der von Nietzsche gebrandmarkten schädlichen, lügnerischen, unglücklichen Rasse', seiner Lehre bemächtigt und verbergen ihre schmutzig-braune Uniform unter dem blütenweiss-sauberen Philosophen-Mantel des grossen Dichter-Propheten. Wird Europa endlich erwachen und protestieren gegen den Einbruch Unberufener in Zarathustras Garten? Oder wird es wieder, wie vor der ersten Katastrophe, den grossen, den tiefblickenden Kenner des Deutschtums überhören?"96 Eine andere Polemik zwischen den Exil-Autoren des Neuen Tage-Buchs betraf die geistigen Beziehungen zwischen Friedrich Nietzsche und Heinrich Heine. Es war dies in den Dreißigern eine noch ganz unbekannte und natürlich im Nationalsozialismus tabuisierte Genealogie zweier geistesverwandter Denker. Stephan Lackner holt sie in seinem Aufsatz „Der gelbe Fleck in Nietzsches Philosophie" (NTB, v. 5. Dez. 1936) ans Licht. Er konnte dabei auf einige Vorarbeiten in der deutschsprachigen Nietzsche-Forschung (Carl A. Bernoulli und Erich F. Podach) zurückgreifen sowie besonders auf französische Recherchen von Charles Andler9 und -

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Curt v. Westernhagen, Nietzsche, Juden, Antijuden, Weimar 1936, 73. Denn, so stellte schon der junge Levy fest, seit alters her werden die „grossen Fragen von jüdischen Denkern menschlicher, natürlicher, westlicher, heidnischer beantwortet". (Oscar Levy, Das neunzehnte Jahrhundert, Dres-

den 1904, 143). Das Neue Tage-Buch, v. 3. Juli 1937, 642. KSB, Bd. 8, 511ff.; 532; 569. Das Neue Tage-Buch, v. 19. Sept. 1936, 907. Vgl. Charles Andler, Nietzsche, sa vie et sa pensée, Paris 1920-1931, 6 Bde.

Steffen Dietzsch

222

Geneviève Bianquis denen „die Schwaden der Tradition, die unsereiner aus der deutschen Atmosphäre mitgebracht hat... erst gar nicht den Blick getrübt" haben. Diese kleine kleine Pariser trouvaille Lackners jedenfalls würdigt zunächst auch Oscar Levy in seiner Replik „Nochmals Heine und Nietzsche" (NTB, v. 26. Dez. 1936). Es sei von Lackner sehr richtig erkannt worden, dass der Emigrant Heine den Nietzsche gewissermaßen ,vorempfunden' habe. Levy verstärkt indessen noch die Parallelität beider, namentlich in ihrer Position als Außenseiter (jener ist dem Jüdischen entfremdet, dieser dem Deutschen) und in ihrer beider Ablehnung der deutschen Schulphilosophie. Gerade vor dem Deutschen Idealismus glaubte Oscar Levy en passant am nachdrücklichsten warnen zu müssen. Dessen verkapptes Christentum und diese, wie Levy es 00 nennt, „Luftschiffer unter den Philosophen" hätten insbesondere für die Gegenwart zwei auf den ersten Blick ganz unterschiedliche, aber doch verschwisterte politische Phänomene zu verantworten: via Hegel den deutschen Obrigkeitsstaat (der in der Hitlerei gipfelt) und via Marx die modernen Befreiungsphantasien (des Bolschewismus). Hier würde nun Lackner im Blick auf Heine und Nietzsche nicht mehr radikal genug urteilen, d. h., er würde das hochproblematische Herauswachsen aus diesen religiösen bzw. philosophischen Traditionen für seine beiden Helden ziemlich unterschätzen, es gar für Selbsttäuschungen halten. Er glaubte ihnen gerade dadurch besser gerecht werden zu können, wenn er nicht nur betonte, beide seien die besseren Denker, sondern auch, sie seien prototypisch gerade deutsche Denker gewesen. Hier käme, so diagnostiziert Oscar Levy, sogar bei Stephan Lackner noch ein besonders bei Deutschen zu beobachtendes Exilanten-Syndrom zum Tragen, nämlich nicht ,loslassen zu können'. Eine Mentalität, womit sie sich „bei den witzigen Franzosen die Etikette ,les chez-nous' zugezogen hätten". Für den Blick auf Heine und Nietzsche bedeutete dies: Deren Herkommen aus ,dem Deutschen' würde zu Ungunsten ihrer Emanzipation davon nostalgisch verstärkt. Damit aber, so befürchtete Oscar Levy, hätte man im zeitgenössischen Ideenkampf um beide, Heine und Nietzsche, überflüssigerweise Positionen an die Nazis preisgegeben und ausgerechnet den „[namenlos gemachten] Heine, dem sie am Lorbeer nagen, oder den [unglücklichen] Nietzsche, den sie mit ihrer Liebe plagen!" ,

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V.

Levys Publizistik aus seinem letzten Exil betraf fortan Untersuchungen zu den geistesgeschichtlichen Zusammenhängen jener dunklen ideologischen Kräfte, wie Antisemitismus, Nationalsozialismus und Bolschewismus, an denen das Europa seiner Werte zu zerbrechen drohte.

Vgl. Geneviève Bianquis, Nietzsche, Paris, Les Éditions Rieder 1933, 78 S. Das Neue Tage-Buch, v. 5. Dez. 1936, 1172. 0 Ebd., v. 26. Dez. 1936, 1242. 1 Ebd., v. 26. Dez. 1936,1243. 2 Ebd. Und Nietzsche selbst dazu: „Heute macht man Heine in Deutschland ein Verbrechen daraus, Geschmack gehabt zu haben gelacht zu haben" (KSA, Bd. 13, 533).

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Ein Nomade in der Landschaft Zarathustras

223

Er begreift die beiden zeitgenössischen politischen Erlösungsphantasien (in NaziDeutschland und Sowjet-Russland) als verquere Aufnahme biblischer Quellen: die ,Rassenerlösung' der Nazis sei eine säkulare Abirrung mit Versatzstücken des Alten Testaments, ebenso wie die ,Klassenerlösung' in Russland eine entsprechende Groteske im Horizont des Neuen Testaments. Levy will mit diesen Analogien wohl vor allem eines klar machen: jene letztlich nationalistischen Abirrungen, die beide Angriffe auf den Kosmopolitismus des Subjekts darstellen, sind wohl doch viel mehr als nur eine vorübergehende „VerrücktheitsEpisode". Gerade so aber hatte ein ebenfalls deutscher Emigrant, Thomas Mann nämlich, in einem Gespräch mit Oscar Levy am 28. Mai 1933 die jüngsten Ereignisse in Deutschland verstehen wollen. So ist dann Levys letztes, 1940 in London veröffentlichtes Werk The Idiocy of Idealism der Versuch einer ,Naturgeschichte' von Diktatoren und Erlösern. George Bernard Shaw, „who had come to Levys defence during the deportation débâcle in 1921" empfahl dieses Buch, das zu einer im Sinne Nietzsches umfassenden genealogischen Selbstbesinnung und Selbstkritik des christlich-idealistischen Europas aufrief, um zu erkennen, dass das ,Böse' nicht von ,draußen' zu uns kam, sondern aus den Tiefen unseres Ureigensten. In Levys These schon im Herbst des Jahres der nationalsozialistischen Machtergreifung' aufgestellt die ganze Hitlerei wäre geistesgeschichtlich auch sophisticated als jüdische Häresie lesbar, schwingt eben gerade die Wahrnehmung mit, „im Nationalsozialismus auch die Evidenz für das Scheitern der europäischen Kulturtradition zu erleben". Levys zivilisationskritische Arbeiten zwischen 1904 und 1940 suchen generell nach Antinomien, verdeckten Brüchen und verschwiegenen Voraussetzungen in den Urteilen desjenigen zeitgenössischen Denkens, das seine Modernität gerade erst darin glaubt finden zu können, wenn es denn in eine praktische, politische Konstellation ,überführt' worden sei: für die Nation, für die Klassenlose Gesellschaft, für den ,Neuen Bund', die ,Reine Rasse', etc. Darin folgt Levy einer methodischen Vorgabe Nietzsches. „Es zeigt sich, dass der Begriff der Realisierung Nietzsches eigentlicher Gegner Termini wie .ressentiment', ,décadence' oder ,Gesamtist, ihn vor allem wollen 5 Entartung' treffen." Levy erkennt in diesem speziellen Wollen zur Transformation ,aufs Praktische hin' eine Logik am Werk, die man mit Nietzsche eine Logik des Ressentiments nennen könnte. In diesen Unternehmungen wird dann allerdings so oder so das natürliche Subjekt beschädigt. Dies vor allem deshalb, weil es in allen solchen Prozessen .Ideologien' darum geht, den Menschen geistig zu fixieren, d. h., ihn zu formieren, zu moralisieren, zu domestizieren, zu isolieren und zu kontrollieren. In seiner Kritik schont Levy dann auch keines jener marktgängigen Meinungssysteme mit ihren ihnen jeweils lieb-

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Dan Stone, „An ,Entirely Tactless Nietzschean Jew'", a. a. O., 291. Hans Ulrich Gumbrecht, Vom Leben und Sterben der großen Romanisten, München 2002, 67. Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, München 1963, 533. Schon wegen dieser Wahrnehmung war Levy gerade Nietzsche verbunden, denn: „In Nietzsche machte sich die zweitausendjährige Unterdrückung des natürlichen Menschen mit explosiver Gewalt Luft." (Oscar Levy, Das neunzehnte Jahrhundert, a. a. O., 79).

224

Steffen Dietzsch

gewordenen felsenfesten Überzeugungen, weder die völkischen Rassenlehren, noch den Zionismus, natürlich nicht den Bolschewismus oder das Christentum, aber auch nicht

den politischen Liberalismus mit seinen parlamentarischen Illusionen. Dem allen will Levy entgehen, er will sich nicht festlegen lassen auf deren eine (natürlich immer die gute, verständige) Perspektive. So optiert Levy von allem Anfang an für die nomadische Vernunft. Levy verließ 1939 Frankreich, er ging zurück nach England. In Oxford starb er am 13. August 1946.

VI. Kurzum: Zur geistigen Bilanz dieses Lebens für Nietzsche gehört es, dass sich bei Levy die Intensität seines gewissermaßen ,britischen' schwarzen Humors, je länger er lebte, immer mehr verstärkte. Auch das ein Zeichen seiner Nähe zum Meister, der einmal schrieb: „Daß der tiefste Geist auch der frivolste sein muß, das ist beinahe die Formel für meine Als Denker verkörpert Levy selbst innerhalb der Fronde bedingungsloser Nietzscheaner eine jedenfalls von heute her gesehen bisweilen erschreckende Unangepasstheit, ja Fremdheit, von der unlängst auch hier in Weimar gesagt worden ist, sie sei das, was „die Fremdheit des Nomadismus für die sitzende Vernunft bedeutet, genau dieselbe Bewegung, in der sich die sitzende Vernunft als aufsässige Vernunft selbst fremd wird. Vernunft, die sesshaft zu sein versucht, ist eine Vernunft, die einen Standpunkt einnehmen muß, Standpunkte, von denen sie meint, sie wären die wahren und von ihnen aus ließe sich jedem Ding seine ihm gehörige Stelle zuweisen".108 Von hier aus gesehen, vom nomadischen Bewusstsein, werden auch Levys dezidierte geistige Infragestellungen mancher Formen der zeitgenössischen politischen Kultur, namentlich der Parteiendemokratie und des Parlamentarismus, verständlich. Das hier obwaltende Gesetz ,der grossen Zahl' wirke, so befürchtet Levy, gerade dem Heraufkommen von differenzierter Lebensart und -kunst entgegen. Nicht nur, dass (organisierten) Mehrheiten erlaubt wäre, Lebensformen als lebenswertZ-unwert zu bestimmen, hinzu kommt, dass es nach deren Regeln zudem möglich wäre, dass sogar mental randständige Minderheiten (wenn mit ihnen ,Mehrheiten' generierbar wären) ermutigt würden, ihr wenn auch augenfällig abstruses Wünschenswertes dann jedem als ,Gesetz' zuzumuten. So aber entsteht und verbreitet sich ein vielleicht ,Gut-Gemeintes', das sich aber in aller Regel bald als „das Böse aus Schwäche"110 erweist. -

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Philosophie."107 -

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107

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Friedrich Nietzsche an Ferdinand Avenarius, v. 10. Dez. 1888, in: KSB, Bd. 8, 516f. „Die moralische Kultur der Bourgeoisie ist es nicht wert, daß man sie mit ernsten Leidenschaften angreift. Man muß sie zu Tode lachen." (Kurt Liebmann, Nietzsches Kampf und Untergang in Turin, Leipzig -

108

109 110

1934, 50).

Kurt Röttgers, „Nomadismus außerhalb und innerhalb des Weimarer Klassik, München 2001, 177. Vgl. Oscar Levy, Das neunzehnte Jahrhundert, a. a. O., 42. Oscar Levy, Das neunzehnte Jahrhundert, a. a. O., 61.

Archivs", in: Jahrbuch der Stiftung

allerdings heißt, wie Friedrich Kittler neulich hervorhob, nach Nietzsches „das Gegenteil von Demokratie nicht wie gehabt Barbarei, sondern Nomadentum".111 Hieraus aber entspringt die Mentalität des Ausgreifens nach Neuem, denn bei jenem existentiellen Unterwegssein relativiert sich der Wert des ,hic et nunc', und die neue Längerade die, die sich aus der (ruhenden) ,Mitte' herauswagten „waren es, 112 der entdeckten: Schiffbrüchige, Halbzerstörte waren von je die Eroberer". So blieb eben für Oscar Levy das Exil die eigentliche Verkehrsform seines Denkens gerade so, wie uns ein Gebot des Röckeners mahnt: „Du sollst, um die Wahrheit saNun

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Einsicht

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gen

1'' "2 113

zu

können, das Exil vorziehen."

Friedrich Kittler, „Von Städtern und Nomaden", unveröff. Vortrag 2002. KSA, Bd. 10,566. KSA, Bd. 8, 348. „True Exile", schrieb Levy einmal, „such as Goethe experienced in Weimar." (Oscar Levy, An Autobiography, a. a. O., 78).

Mirko Wischke

Hat die Wissenschaft ihren Lebensnerv verloren? Friedrich Nietzsche über die Frage nach dem Wissenswerten

„Es ist nicht wahr, daß die Wissenschaften immer der Menschheit zum Schaden ausschlugen; wenn dies wirklich einmal der Fall war, so war es ein für die Menschen unvermeidliches Übel. Cesare Beccaria "

Welchen Zweck erfüllen die Forschungsergebnisse der modernen Wissenschaft? Welchen Wert haben die Innovationen der Wissenschaft? Solche Fragen zu stellen, scheint angesichts des dynamischen, naturwissenschaftlichtechnischen Fortschritts nicht nur naiv, wenn nicht gar überflüssig zu sein; es scheint auch, daß solche Fragen völlig deplaziert sind, da sie hartnäckig die Tatsache zu ignorieren scheinen, daß sich der Aufmerksamkeit der modernen Wissenschaft auf Dauer nichts entziehen kann. Sind die sachlichen Argumente der Tradition der Wissenschaftskritik gegenstandslos geworden? Gehört die Tradition der Wissenschaftskritik der Vergangenheit an? Auf diese Fragen will ich im folgenden nach Antworten suchen. Meine These ist, daß sich in den Kontexten, in denen Nietzsche, Weber und Habermas jeweils das Verhältnis von Wissen und Werten thematisieren, sachliche Argumente rekonstruieren lassen, die auf zwei Formen schließen lassen, in denen die Philosophie kritisch zum Fortschritt der Wissenschaft Stellung nimmt: eine, in der die Umsetzung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse in die Lebenswelt (ethisch) kommentiert und (rechtsphilosophisch) diskutiert wird; und eine, die die Wissenschaft über ihre destruktiven Potenzen aufklären will, um auf die Grenzen kultureller Integrationsmöglichkeiten aufmerksam zu machen. Für die Diskussion um die Bio- und Genwissenschaften sind sowohl die sachlichen Argumente der Wissenschaftskritik von Nietzsche und Habermas aktuell, als auch der alternative Ansatz, den Weber noch kennt, aber verwirft, und Habermas bereits übersieht, weil er sie im Kontext einer Rekonstruktion des Bildungsgedankens für unzeitgemäß hält. Im folgenden will ich im I. Teil Nietzsches These, daß die Philosophie das Problem des Wachstums der Wissenschaft zu bedenken hat, im Hinblick auf zwei Thesen diffe-

228

Mirko Wischke

renzieren: (I. 1.) das unstillbare Verlangen der Wissenschaft nach Einsicht und (I. 2.) das Verhältnis der Philosophie zur Bildung. Im II. Teil meiner Ausführungen widme ich mich Max Webers Neuakzentuierung von Nietzsches These von der Wertblindheit der Wissenschaft und ihrer Erkenntnisse für den praktischen Lebensvollzug. Den Schwerpunkt meiner Darlegungen im III. Teil bildet der Versuch von Jürgen Habermas, Ende der 60er Jahre einen Mittelweg zu finden zwischen der Tradition der Wissenschaftskritik, die auf ihn zeitweilig eine große Anziehungskraft ausübt, und der Einsicht, daß die wissenschaftliche Forschung völlig anderen Kriterien unterworfen ist, als denen des praktischen Lebens. Abschließend soll IV. dargelegt werden, welche sachlichen Probleme Nietzsches Wissenschaftskritik aus meiner Sicht beinhaltet, die im Kontext aktueller Diskussionen neu zu überdenken sind.

I.

Das

Wertproblem bei Friedrich Nietzsche

/. 1 Der kalte Dämon der Erkenntnis

"



An der Leidenschaft der Wissenschaft nach Erkenntnis kritisiert Nietzsche ihre unersättliche Gier, ständig mehr wissen zu wollen, ohne daß ihr die Wissenswürdigkeit ihrer Erkenntnisse in irgendeiner Weise problematisch erscheint. Auf der einen Seite ist

die moderne Wissenschaft schlechthin universal, da es nichts im Bereich des potentiell Erforschbaren gibt, was sich ihr auf Dauer entziehen kann. Auf der anderen Seite macht die ungeheure, unermüdliche Anhäufung des Wissens die Wissenschaft blind gegen den Wert ihrer Erkenntnisse. Ihre Aufmerksamkeit richtet die Wissenschaft unterschiedslos auf alles, was zu erkennen möglich ist, selbst auf die unscheinbarsten Wahrheiten, auf das „Wahre in jeder Gestalt, erscheine diese auch noch so schlicht" nicht jedoch auf „die [...] tiefsinnigen Deutungen des Lebens". Diese Tendenz birgt die Gefahr, daß der wissenschaftliche Fortschritt vor lauter immanenter Effizienz sinnlos zu werden droht. Die Prämisse des Aristoteles, daß das Wissenwollen eine ursprüngliche Leidenschaft des Menschen sei, die keinem anderen Zweck als dem der Einsicht diene2, nimmt bereits Rousseau ihre Unverfänglichkeit, wenn er im Discours über die Ungleichheit auf die kulturellen Auswirkungen der Wissenschaften aufmerksam macht. Wenn die Wissenschaften sich dem den Menschen scheinbar Wissenswürdigsten widmen, so unterliegt diese Bevorzugung, laut Rousseau, dem verhängnisvollen Trugschluß, daß die wissenschaftliche Erkenntnis und das praktisch-moralische Wissen notwendigerweise auseinander Bei Nietzsche verdichtet sich Rousseaus Verdacht zu der These, daß der für die Wissenschaft eigentümliche „Wissenstrieb" nicht mit einer besonderen Kultur etwa der Wissensgesellschaft zu verwechseln ist. Blühende Wissenschaften seien auch in einer -

hervorgehen.3

-

-

2

Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches (KSA, MA I, 2, 142). Vgl. Aristoteles, Metaphysik, 982 b 20f. Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, Leipzig 1970, a. a. O., 46; Ders., Emile oder über die Erziehung des Menschen, Leipzig 1910, a. a. O. 8.

Hat die

Wissenschaft ihren Lebensnerv verloren?

229

barbarisierten Kultur möglich; was davon zeuge, daß die wissenschaftliche Erkenntnis kein Ersatz der Kultur sei.4 Der Glaube an die Allmacht des Wissens gründet sich auf die „Überwältigung der Natur in Begriffen und Zahlen", scheitert aber an der Vertiefung des Lebensinhalts und seiner Ausgestaltung, da der Erkenntnis-

stagnierenden, ja

trieb auf Erkenntnis als solche zielt, um der Erkenntnis willen.5 Bloßes Wissen hinterläßt eine „große Leere"; das wußte auch Kant.6 Das Verlangen der Wissenschaft nach Erkenntnis schreckt vor keinem Opfer zurück, so die düstere Prognose Nietzsches, es fürchtet im Grunde nichts. Der Nutzen der Wissenschaft besteht in der Steigerung der Verfügungsgewalt des Menschen über die Natur, in der Aufklärung über religiöse Weltanschauungen und in der Destruktion traditionaler Weltbilder an deren Stelle die Wissenschaft selbst weder tritt noch neue Weltbilder erschafft. Solche Äußerungen Nietzsches als Ablehnung der Wissenschaft zu interpretieren, wäre ein Mißverständnis. Nietzsche macht nicht nur darauf aufmerksam, daß die Wissenschaft weder auf der Ebene der ursprünglichen Welt- und Sinn-Erzeugung, noch auf der Ebene der Praxis-Orientierung eine Aufgabe wahrnimmt; er will auch auf die nihilistischen Konsequenzen aufmerksam machen, die die Wissenschaft nicht überwinden kann, weil sie kein Fundament für ein post-nihilistisches Weltverständnis ist.7 Was bedeutet das für unsere Ausgangsfrage? Nietzsche behauptet, daß es bei dem Problem der Wissenschaft um die Frage geht, wie wir erreichen können, was wir wollen. Die Erkenntnisse der Wissenschaften seien ursprünglich Mittel für etwas gewesen, was wir für erstrebenswert hielten. Ihr Wert als Mittel beginnt zweifelhaft zu werden, wenn sich die Frage stellt, wozu die Erkenntnisse der Wissenschaften ein Mittel sein sollen. Welchen Zweck erfüllen Erkenntnisse? Wozu sollten sie uns dienen? Laut Nietzsche vermag die Wissenschaft auf diese Fragen keine Antwort zu geben und zwar aus zwei Gründen. Zum einen entfallt die Frage nach dem Wert menschlichen Daseins in der Wissenschaft. Daß ihr Erkenntnisstreben diese Frage nicht zur Kenntnis nimmt, empfindet Nietzsche als erstaunlich, entscheidet die Antwort auf die Wertfrage doch letztlich darüber, ob dem menschlichen Dasein ein Sinn zugesprochen werden kann oder nicht. Aber die Wissenschaft ist blind für die Bedeutung der Wertfrage, da sie nicht nach dem Wozu, Wohin und Woher menschlichen Daseins fragt, sondern dieses Dasein voraus-

setzt.

Zum anderen hat wissenschaftliches Erkennen keinen anderen Zweck als den, die Grundlage für weitere Einsichten zu sein. Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Um dieses Ziel zu erreichen, ist die Wissenschaft gezwungen, ihre Erkenntnisse immer wieder neu zu überdenken, bei Bedarf zu korrigieren und weiterzuentwickeln. Die einzelne Erkenntnis hat den Zweck, Grundlage für weitere Ein4

5

6

8

Vgl. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente (KSA, NF, 7, 472). Ders., Morgenröthe (KSA, M, 3, 264). Immanuel Kant, Vorlesung über Encyclopädie und Logik, Berlin 1961, a. a. O., 39. Vgl. Günter Abel, „Wissenschaft und Kunst", in: Mihailo Djuric und Josef Simon (Hg.), Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche, Würzburg 1986, a. a. O., 9-25, hier: 1 lf. Vgl. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente (KSA, NF, 9, 466).

Mirko Wischke

230

sichten zu sein. Deshalb folgt die Wissenschaft der Logik ihrer eigenen Methode und theoretischen Zielsetzungen, ohne nach dem Sinn ihres Tuns im Ganzen der Kultur zu fragen. Dies wäre nicht weiter problematisch, sofern nicht die Leidenschaft des Wissenwollens die Wissenschaft dazu triebe, ständig mehr wissen zu wollen, ohne daß ihr die Wissenswürdigkeit ihrer Erkennmisse in irgendeiner Weise problematisch erschiene. Charakteristisch für die moderne Wissenschaft sei eine blindlings nach Erkenntnis strebende und ewig wissensdurstige Forschung; es triumphiere die blinde „Begierde, alles ohne die dramatische Konsequenz zu bedenken. um jeden Preis erkennen zu wollen" Dramatisch ist diese Konsequenz, weil eine fatale Verkehrung eintritt, die dazu führt, daß der „[ujeberstolze Europäer des neunzehnten Jahrhunderts" um die Beschaffenheit der Welt weiß, in der zu leben es ihm an praktischem Wissen fehlt.10 Daraus schließt Nietzsche, daß es keine klare Vorstellung vom Erstrebenswerten und Wissenswerten mehr gibt. Nur wenn keine genauen Auffassungen über das existieren, was erstrebenswert und wissenswert für uns sein sollte, stürzt sich die ewig wissensdurstige Forschung hemmungslos auf alles potentiell Wißbare. Die Instanz, der Nietzsche die Kraft zutraut, über das Wissenswerte legitimerweise urteilen zu können, ist die Philosophie. Mit der Frage, in welcher Weise die Philosophie ein solches Urteil vollzieht, scheint Nietzsche allerdings Schwierigkeiten zu haben. Am Ende seiner Basler Antrittsvorlesung über „Homer und die klassische Philologie" vom 28. Mai 1869 unterbreitet er seinen Hörern den Vorschlag, die Tätigkeit des (philologischen) Wissenschaftlers mit einer philosophischen Weltanschauung einzuhegen. Da der Wissenschaft die Kraft fehle, ihren Einsichten eine allgemeine Form zu geben, sei es die Aufgabe der Philosophie, das mannigfaltige Wissen zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzuschließen." Daß die Wissenschaft keine Weltanschauung sein kann, ist für Nietzsche darin begründet, daß der Wissenschaft alles als gleich wissenswert erscheint. Im Umfeld der Tragödienschrift denkt Nietzsche über eine andere Möglichkeit nach: die Herausbildung einer Lebensform, die das Verlangen nach Wissen insofern sublimiert, als durch die Umsetzung des Erlernten in die Praxis das Wissen in Schranken gehalten und nach dem Wert für diese Lebensform beurteilt wird. Nietzsche knüpft an die Unterscheidung von philosophischer Lebensform und philosophischer Erörterung an, mit der Piaton die gelebte Praxis der Philosophie von der theoretischen Unterrichtung in Philosophie absondert. Auch wenn philosophische Lebensform und philosophischer Diskurs weder aufeinander reduzierbar noch voneinander trennbar sind, so macht Piaton deutlich, auf was es ihm bei dieser Unterscheidung ankommt, wenn er Sokrates die Sophisten nicht deswegen kritisieren läßt, weil ihre Lebensform ihrem philosophi-

9 10 11

Ders., Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (KSA, PHG, 1,816). Ders., Vom Nutzen und Nachtheil der Historie ßr das Leben (KSA, HL, 1,313). Vgl. ders.: „Homer und die klassische Philologie". Antrittsrede an der Universität Basel, gehalten

28. Mai 1869. In: KGW (Philologische Schriften 1867-1873), 268. An diesem Programm orientiert sich die Philosophie, die weder reine Erkenntnislehre noch Psychologie sein will, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vgl. Paul Menzer, „Persönlichkeit und Philosophie". Rede gehalten beim Antritt des Rektorats der Vereinigten Friedrichs-Universität Halle Wittenberg am 12. Juli 1920, Halle/S. 1920,5. am

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Hat die

Wissenschaft ihren Lebensnerv verloren?

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sehen Diskurs widerspricht, sondern wegen ihres Glaubens, der philosophische Diskurs könne sich selbst genügen. Nietzsche bringt dieses Verständnis von Philosophie auf die Kurzformel: „Ich mache mir aus einem Philosophen gerade so viel als er im Stande ist ein Beispiel zu geben." Beispielhaft sei ein Philosoph, wenn er zunächst Philosoph für sich selbst und erst danach auch Philosoph für die andern sei. Philosoph für sich selbst zu sein, heißt für Nietzsche: im Versuch, Selbsterkenntnis zu gewinnen, die übermächtig erscheinende Leidenschaft des Wissenwollens auf die eigene Lebensform zurückzubeziehen. Und darin besteht die unvergleichliche und nachahmenswerte Leistung des Philosophen: den Erkenntnistrieb dem Willen zur Selbstgestaltang unterzuordnen. Offenkundig hat Nietzsche aber auch diese Möglichkeit als unzureichend empfunden, denkt er doch über eine weitere Möglichkeit in Jenseits von Gut und Böse nach, wo es heißt, daß die Philosophie Werte schaffen müsse. Die Schaffung von Werten läßt sich im Sinne von Nietzsches Perspektivismus als die Aufgabe der Philosophie verstehen, Horizonte zu eröffnen, zu begrenzen oder zu verschieben. In diesem Sinne betont Nietzsche im Ecce homo: „Perspektiven umzustellen: erster Grund, weshalb für mich vielleicht allein eine Umwertung der Werte überhaupt möglich ist."1 Unterstellt man Nietzsche die Annahme, daß die Wissenschaften die Welt erschlossener Strukturen nach quantifizierten Regelmäßigkeiten erforschen, so sind es die von der Philosophie geschaffenen Horizonte, d. h. perspektivischen Wertschätzungen, in deren Rahmen sich die Wissenschaften entfalten. Das Universum von Gegenständen, dessen gesetzmäßigen Zusammenhang die Wissenschaft zu erforschen sich anschickt, konstituiert sich vorgängig in den Perspektiven der von der Philosophie geschaffenen Wertschätzungen. 5 Nach diesem kurzen Überblick stellt sich die Frage: Welche Möglichkeit favorisiert Nietzsche? Hat er einer der von ihm diskutierten Möglichkeiten den Vorzug gegeben? Die Antwort lautet: keiner. Nur auf den ersten Blick sind Nietzsches Überlegungen gänzlich verschieden voneinander, stützen sich doch alle drei Möglichkeiten auf die Identität der Philosophie mit einer schöpferisch-gestaltenden Kraft, die Nietzsche mit 12 13

Friedrich Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher (KSA, SE, 1, 350). Vgl. ders., Jenseits von Gut und Böse (KSA, JGB, 5, 144f. Der Versuch, ein adäquates Verständnis von dieser Auffassung zu gewinnen, sieht sich mit der Schwierigkeit unterschiedlicher Interpretationen konfrontiert. Neben der von mir vorgeschlagenen Interpretation bietet Nietzsches Verständnis vom Sein als einem permanenten Werden einen weiteren Interpretationsansatz. Aus diesem Ansatz ergibt sich die Schwierigkeit, wie etwas zu erkennen möglich sein soll, wenn es nur ein Werden gibt. Das Problem ist, dass das Werden selbst nicht denkbar ist. Erkenntnis ist nicht die -

14 15

Erkenntnis des Werdens, sondern die Erkenntnis des Seienden. Aus der Undenkbarkeit des Werdens zieht Nietzsche den Schluß, daß dem Wissenwollen das Vertrauen auf ein erkennbares Sein vorausgehen muß, damit menschliche Erkenntnis überhaupt möglich ist. Die Grundlagen für ein solches Vertrauen bilden die Wertschätzungen, die im Werden eine seiende Welt, ein Dauerndes und „Regulär-Wiederkehrendes" projizieren. Ders., Nachgelassene Fragmente (KSA, NF, 12, 385). Ders., Ecce homo (KSA, EH, 6, 266). Diesem Verständnis scheint Nietzsche entgegenzukommen, indem er das Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie im Sinne eines „Regulators" und einer „Kraftquelle" bestimmt, wobei die Philosophie mit Illusionen gleichsam „anheizt", während die Wissenschaft den „bösartigen und gefährlichen Folgen einer Überheizung" vorbeugt (KSA, MA I, 2, 208f).

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Begriffen wie Form, Maß und Schaffen zum Ausdruck bringt. Ihn interessieren weniger die Werte selbst, die das ganze Leben durchdringende Wirkung des Erkannten oder die Integration der Erkenntnisse zum Ganzen einer Lebensanschauung. Vielmehr ist sein Hauptaugenmerk darauf gerichtet, daß Werte, Lebensform und Weltanschauung etwas sind, worin sich die Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und praktischem Lebensvollzug manifestieren soll. In Nietzsches Worten: „Es ist nicht in erster Linie Pflicht, der Wissenschaft zu nützen, in zweiter sich selbst, sondern völlig umgekehrt." Es ist die Philosophie, der die Aufgabe zufallt, nach Wegen zu suchen, wie Wissenschaft und Leben gegenseitig aufeinander einwirken können und das Erkenntnismaterial zu Zwecken des praktischen Lebens umzuformen. Damit ist weder die Stellung der Philosophie im Verhältnis von Wissenschaft und Leben geklärt, noch wie die Philosophie das Erkenntnismaterial zu Zwecken des praktischen Lebens umformen kann. Der Klärung dieser Probleme dient der Rekurs auf die ideengeschichtlichen Vorläufer, auf die Nietzsche sich in seiner skizzenhaften Darstellung bezieht. solchen

Wissenschaft und Bildung In seiner Begründung der Bedeutungsgleichheit von Philosophie und höherer wissenschaftlicher Bildung argumentiert Fichte 1807, daß jede „besondere Wissenschaft"

/. 2

nicht nur in beschränkter Weise forscht, sondern auch beschränkend auf die sie Lehrenden und Studierenden wirkt, hingegen die Philosophie „die gesamte geistige Tätigkeit, mithin auch alle besonderen und weiter bestimmten Äußerungen derselben wissenschaftlich erfaßt"17, besser gesagt: zusammenfaßt. Die Eigentümlichkeit der „höheren wissenschaftlichen Anstalten", die „Wissenschaft immer als ein noch nicht ganz aufgelöstes Problem" zu behandeln und daher ständig im Forschen zu verbleiben so sieht Wilhelm von Humboldt das Problem des Zusammenhangs von Wissenschaft und Bildung, zwingt zu einem „unaufhörlichen Studium"19, demgegenüber die Frage nach dem Bezug zur Praxis menschlicher Lebensvollzüge zweitrangig, wenn auch nicht völlig unwichtig ist. Die eigentliche Herausforderung des Studiums ist der immanente Fortschritt der Wissenschaft, nicht die praktischen Anforderungen der Lebenswelt. Dennoch soll die Ausbildung in der reinen Wissenschaft zu selbsttätigem, produktivem Denken und zu sittlichem Handeln erziehen. Das Ziel des Studiums ist letztlich nicht allein nur die intime Vertrautheit mit einem unendlichen Fortgang im Prozeß wissenschaftlichen Erkennens, sondern auch das Geschick im Umgang mit lebensweltlichen Problemen. Wo aber liegt der Bezug auf die Ganzheit der Person und den praktischen Lebensvollzug, den die Allianz von „objektiver Wissenschaft" und „subjektiver Bildung" zu garantieren hat, wenn das „reine Wissen" der Wissenschaft selbst zweckfrei ist und um ,

16

17

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19

Zit. nach Ernst Howald, Friedrich Nietzsche und die klassische Philologie, Gotha 1920, 9. Johann Gottlieb Fichte, Deduzierter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt (1807), Fichtes Werke, hg. Von Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1971, 97-204, hier: 122 § 16. Wilhelm von Humboldt, Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin (1810), Werke 4, Berlin 1961, 255-266, hier: 256. Ders., Über das Studium des Altertums, (1793), Werke 2, Berlin 1961, 1-24, hier: 7.

Hat die

Wissenschaft ihren Lebensnerv verloren?

233

seiner selbst willen erworben werden soll? Wie kann Fichte behaupten, der letzte Zweck des akademischen Stadiums sei keineswegs das Wissen, sondern die Kunst, das Wissen zu wo er doch die Wissenschaft und ihren praktischen Gebrauch als zwei separate Bereiche kennzeichnet, von denen nur ersterer an der Universität zu lehren ist? Die Lösung dieses Widerspruchs liegt in der Überzeugung, daß die Bedingung des praktisch-kunstvollen Gebrauchs der Wissenschaft das Stadium der reinen, d. h. zweckfreien Wissenschaft ist. Was dem Begriff der Bildung zugrunde liegt, ist die Überzeugung, daß die Ausbildung für bestimmte, wissenschaftsexterne Zwecke genau das verhindert, was die Wissenschaft bewirken soll: Prägung und Gestaltung zu einem sittlichen Individuum, das sittlich ist, weil es seine erworbenen Kenntnisse in der Wissenschaft den eigenen Bedürfhissen angepaßt, d. h. umgeformt hat. Erst in dieser Umformung offenbart das Stadium der Wissenschaft seinen eigentlichen Sinn: die Herausbildung der Fähigkeit, auf die immer wiederkehrende Frage, was zu tan ist, selbständig eine Antwort zu finden und für die bedrängenden Probleme praktischer Lebensvollzüge nach eigenen Lösungsstrategien zu suchen. Wo immer dies stattfindet, erfolgt ein Prüfen und Selektieren des Erlernten, wodurch „gegenständliche" Wissensgehalte zu „Bildungswissen" umgesetzt werden: zu einem Wissen, das in Form einer Rangordnung dessen, was wissenswert ist,' gleichsam neu zusammenwächst, ohne dabei neue Wissensgebiete zu erschließen. Diesem Transformationsprozeß wohnt kein Automatismus inne. Wie wir erfahren konnten, lehrt die Philosophie, nicht jedoch die Wissenschaft selbst, die Kunst des wissenschaftlichen Verstandesgebrauches. Um „reines", wertfreies Wissen in Wissenswertes umformen zu können, bedarf es eines besonderen Vermögens, das allein die Philosophie freizusetzen vermag. Für Nietzsche ist dieser Anspruch bereits zu einem historischen Gedankengut geworden. In seinen Vorträgen Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten von 1872 lesen wir, daß die Universität längst nicht mehr das ist, wofür sie sich gern ausgeben möchte eine Bildungsanstalt. In seinem Vorwurf, die moderne Wissenschaft bringe keine Gebildeten hervor, sondern gelehrte Experten, mißt Nietzsche die Tendenz zur Spezialisierung und Verwissenschaftlichung am Bildungsgedanken und Universitätsideal von Humboldt und Fichte, um den Verlust herauszustreichen, den diese Entwicklung für ihn bedeutet. Daraus ergeben sich zwei Folgerungen: Im Gegensatz zu Humboldt und Fichte vermag Nietzsche nicht mehr in der Philosophie schlechthin jene Kraft am Werke zu sehen, die das Wissen strukturiert und nach seinem Wert beurteilt, und erst recht nicht die Universität als diejenige gesellschaftliche Institution anzuerkennen, die eine Bildung zu leisten vermag. Die kritische Wendung, die Fichtes Idee von der exklusiven Aufgabe der Philosophie und Humboldts Bildungsgedanke bei Nietzsche nimmt, kommt darin zum Ausdruck, daß er der akademischen Philosophie generell die Fähigkeit abspricht, das angehäufte

gebrauchen20,

-

Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Deduzierter Plan, a. a. O., 100, § 5. Vgl. Max Scheler, Die Formen des Wissens und der Bildung, Bonn 1925, 26. Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Deduzierter Plan, a. a. O., 102, § 5. Vgl. Friedrich Nietzsche, Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten V (KSA, BA, 1, 744).

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Wissen der Wissenschaften in einen pädagogisch unintendierbaren intellektuellen Wachstumsvorgang der Person zu transformieren. Eine Liebe zur Weisheit, die die Philosophie mit ihrem Abwägen des Wissenswerten auszeichnet und gegenüber den Wissenschaften abgrenzt, vermag Nietzsche in den Bemühungen der akademischen Philosophie um eine Erkenntnistheorie der Wissenschaften nicht zu entdecken. Gleichwohl hält er daran fest, daß allein die Philosophie das Stimulans zu jener „plastischen Kraft" ist, durch die die gigantische Menge an Wissen als ein umgestaltendes, d. h. nach außen treibendes Motiv zur Wirkung kommt. Nietzsche sieht mit klarem Blick, daß aus dem Wissenscharakter der modernen Wissenschaften kein verbindlicher Bildungsgehalt ableitbar ist. Gleichwohl hindert ihn seine scharfsinnige Analyse nicht daran zu glauben, dieser Schwierigkeit dadurch begegnen zu können, daß er die wissenschaftliche Bildung allein an den Wissensgehalt einer Disziplin bindet, die die moderne Funktionalisierung und Technisierung der Wissenschaft nicht im gleichen Maße wie die anderen Fächer mitzumachen scheint: nämlich an die Philosophie, ist sie es doch allein, die „die Frage nach dem Nutzen der Erkenntnis überhaupt" aufwirft. Laut Nietzsche hat jede Philosophie „unbewußt die Absicht", der Erkenntnis einen „höchsten Nutzen" zu konzedieren, um die „Bedeutsamkeit der Erkenntnis für das Leben" so groß wie nur möglich erscheinen zu lassen. Was Nietzsche nicht in Betracht zieht: Die Philosophie kann sich nicht dem Prozeß der Ausdifferenzierung durch Spezialisierung entziehen, auch wenn sie diesem Prozeß nicht in gleicher Weise wie andere Wissenschaften unterworfen ist. Die technische Dimension des Wunsches nach immer mehr Wissen macht auch vor der Philosophie nicht halt und treibt sie zur Flucht in jene Art der Historie, die Nietzsche als Verlockung der antiquarischen Geschichtsbetrachtung so energisch verdammt: nämlich in egalitärer Weise alles Vergangene als völlig gleichwertig und wissenswert anzusehen. Es ist nur folgerichtig, daß Max Weber die Idee einer universitären Sonderstellung der Philosophie als gleichermaßen hinfällig einschätzt wie den klassischen Bildungsgedanken, wenn er 1919 unmißverständlich klarstellt, daß der akademische Lehrer keinen legitimen Anspruch mehr darauf haben sollte, was Fichte, Humboldt und Nietzsche in unterschiedlicher Weise von ihm forderten: dem Menschen zu einer sittlichen Selbstbil-

dung zu verhelfen.25 II. Die

Wertproblematik bei Max Weber

Vortrag „Wissenschaft als Beruf, um den es im folgenden hauptsächlich gehen soll, umgibt eine besondere Aura. Karl Löwith hat den erschütternden Eindruck festgehalten, den Weber dadurch hervorgerufen habe, daß er alle praktischen Erwartungen

Webers

Ders., Menschliches, Allzumenschliches (KSA, MA I, 2, 27). „Die akademischen Hörsäle" hätten sich auf eine „fachmäßige Schulung seitens fachmäßig Qualifizierter" zu beschränken, und die „intellektuelle Rechtschaffenheit" sei die einzig spezifische Tugend, zu der sie zu erziehen haben. Max Weber, „Der Sinn der Wertfreiheit der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften" (1917). In: Schriften Michael Sukale, Stuttgart 1991, 176-236, hier: 178.

zur

Wissenschaftslehre, hg.

und

eingel.

von

Hat die

Wissenschaft ihren Lebensnerv verloren?

235

reine Illusionen bezeichnete. In einer Zeit politischer Wissenschaft wie ein Fels in der Brandung allen Verwerfungen in der allein die Wirren, und Umbrüchen zu trotzen schien, habe Weber seine Hörer mit der These, daß der einzige Zweck der Wissenschaft die technische Machbarkeit ist, ebenso geschockt wie irritiert. Was den meisten verborgen bleibt: Friedrich Nietzsche ist der große Verborgene in Max Webers Vortrag. Laut Weber kann die Wissenschaft, nachdem sie dazu beigetragen hat, religiösen Wertungen ihre verbindliche Kraft zu nehmen, nicht in die Lücke springen, die sie selbst geschaffen hat. Wie für Nietzsche, so bedeutet auch für Weber der wissenschaftliche Fortschritt weder eine Zunahme an allgemeinen Kenntnissen der Lebensbedingungen, noch hat die Wissenschaft in irgendeiner Weise etwas mit dem Bedürfnis nach Lebensorientierung und Hilfe in der Bewältigung von praktischen Problemen zu tun. Weber leugnet nicht die tiefe, unüberwindliche Kluft zwischen Wissenschaft und praktischem Leben; und er wiegt sich nicht in dem Glauben, daß diese Kluft eine Fehlentwicklung der Wissenschaft ist. Für ihn ist diese Kluft kein tragisches Ereignis, das reparabel ist, sondern ein allgemeiner, notwendiger Grundzug der Wissenschaft. Wie schon Nietzsche nüchtern zur Kenntnis nimmt, daß die Wissenschaft allein der Logik ihrer Forschungspraxis folgt, ist auch Weber sich bewußt, daß die wissenschaftliche Forschung Antworten auf Fragen gibt, die ihrerseits neue Fragen aufwerfen und neuartige Probleme schaffen. Jedes Forschungsergebnis ist dazu verdammt, von anderen Resultaten überboten zu werden und somit zu veralten. Auf die Frage, was „der Sinn der Wissenschaft als Beruf ist, gibt es laut Weber nur eine Antwort: „Sie ist sinnlos, weil sie auf die allein für uns wichtige Frage(n): Was sollen wir tun? Wie sollen wir leben? keine 7 Antwort(en) gibt." Man betreibt Wissenschaft zu rein „technischen Zwecken: um unser

gegenüber der Wissenschaft als

Wie Weber den Kern der Lehre Nietzsches versteht, darüber besitzen wir aus seiner Hand nur ein Zeugnis, und zwar den Brief an Edgar Jaffé vom 13. September 1907. Dieser hatte Weber um ein Gutachten über den Aufsatz von einem Autor namens Otto Gross gebeten. Weber sollte entscheiden, ob der Aufsatz im Archiv für Sozialforschung veröffentlicht werden kann. Weber rät von einer Publikation ab. Es muß sich um einen Aufsatz über Nietzsche handeln. Denn Weber bemängelt nicht nur die staubige Fachsprache des Autors, sondern noch etwas anderes: nämlich ein „Nachtreter Nietzsches" zu sein, so sein Vorwurf an den Autor, der nicht das Dauernde in Nietzsche erkenne, sondern die schwächsten Partien Nietzsches, der „biologischen Verbrämungen, die er um den Kern seiner durch und durch moralistischen Lehre häuft". Das Dauernde, der Kern der Lehre Nietzsches ist für Weber Nietzsches „Moral der Vornehmheit". Nun sieht Weber in Nietzsche nicht nur den Moralphilosophen; in Nietzsche entdeckt er auch den Kulturphilosophen, als den ihn auch der im Brief vom Juli 1894 genannte Georg Simmel und Webers Freiburger Kollege Alois Riehl verstanden. Georg Stauth, „Kulturkritik und affirmative Kultursoziologie. Friedrich Nietzsche, Max Weber und die Wissenschaft von der menschlichen Kultur", in: Gerhard Wagner und Heinz Zipprian (Hg.), Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik, Frankfurt/M. 1994, 167-198, hier: 181. Denn „alle Naturwissenschaften geben uns die Antwort auf die Frage: Was sollen wir tun, wenn wir das Leben technisch beherrschen sollen? Ob wir es aber technisch beherrschen sollen und wollen, und ob das letztlich eigentlich Sinn hat: das lassen sie ganz dahingestellt oder setzten es für ihre Zwecke voraus." Max Weber, „Wissenschaft als Beruf (1919). In: Schriften zur Wissenschaftslehre, a. a. O., a. a. O., 237-273, hier: 256f. -

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236

Handeln an den Erwartungen orientieren zu können, welche die wissenschaftliche Erfahrung uns (in) die Hand gibt".28 Den Zwiespalt, daß die Wissenschaften einerseits ein Interesse zur Teilhabe an ihren Forschungsergebnissen voraussetzen und andererseits die praktisch-elementaren Lebensfragen der Menschen ignorieren, erklärt Weber damit, daß die Wissenschaft ein fachlich betriebener Beruf im Dienste der „Erkenntnis tatsächlicher Zusammenhänge (ist) und nicht eine Heilsgüter und Offenbarungen spendende Gnadengabe von Sehern, Propheten oder ein Bestandteil des Nachdenkens von Weisen und Philosophen über den Sinn der Welt". Auf die Frage, was wir tun sollen, kann, laut Weber, nur ein Prophet oder ein Heiland antworten. Weber ist überzeugt, daß die internen sachgesetzlichen Zusammenhänge, nicht aber externe Probleme des praktischen Lebens die Eigendynamik der Wissenschaft steuern. Jegliche Bemühungen, diesen Prozeß durch Wertmaßstäbe zu regulieren, erscheinen Weber suspekt, wissenschaftlich kontraproduktiv und vor allem: als eine politischweltanschauliche Strangulierung der Wissenschaft. Weber will die Wissenschaft vom Ballast überzogener Erwartungen und Hoffnungen befreien, verkennt aber die kulturphilosophische Dimension von Nietzsches Wissenschaftskritik. Damit legt Weber den Grundstein für ein folgenschweres Mißverständnis: Er muß die sachlichen Argumente von Nietzsches Wissenschaftskritik von seiner Kulturkritik selektieren, um die Gefahren herausstreichen zu können, die eine Ignoranz der Grenzen der Wissenschaft nach sich ziehen würde. Mit anderen Worten: Weber warnt eindringlich vor naivem Fortschrittsglauben. Der Erkenntnisfortschritt der Wissenschaften und das, was als soziale, kulturelle Entwicklung gilt, sind separate Sphären. Habermas knüpft an diese Prämisse Webers an, ohne sie auf ihre Voraussetzungen zu prüfen. Die kontextuelle Einbindung von Nietzsches Frage nach dem Wissenswerten ist ihm zu fremd (und konservatismusverdächtig), um sie noch ernsthaft reformulieren zu können. Dennoch gibt Habermas zu erkennen, daß ihm die sachlichen Probleme der Wissenschaftskritik zu schwerwiegend sind, um sie dem Bereich des rein Philosophiegeschichtlichen überantworten zu können. Was sind die Gründe für dieses Zögern?

praktisches

III. Die Wertproblematik bei

Jürgen Habermas

Bei Habermas verselbständigt sich die Frage nach dem Wissenswürdigen in zwei thematische Aspekte: die Frage, wie sich die Position der Philosophie an der Universität unter den Bedingungen einer ausdifferenzierten Forschungspraxis bestimmen läßt; und in das Problem von der Eigengesetzlichkeit des wissenschaftlichen Fortschritts. Letzteres besagt, daß der immanenten Gesetzen gehorchende Prozeß unvorhergesehene neue Forschungseinsichten hervorbringt, für die es zunächst keine unmittelbaren Verwendungszwecke gibt. Habermas: „Die gesellschaftliche Potenz der Wissenschaften wird auf die Gewalt technischer Verfügung reduziert als eine Potenz aufgeklärten -

Ebd., 249. Ebd., 268f.

Hat die

Wissenschaft ihren Lebensnerv verloren?

237

Handelns kommen sie nicht in Betracht." Da die empirisch-analytischen Wissenschafauf praktische Fragen geben, von denen die „verwissenschaftlichte Zivilisation" ebensowenig entbunden sei wie frühere Kulturen, „entsteht eine eigentümliche Gefahr, wenn der Prozeß der Verwissenschaftlichung die Grenze technischer Fragen überschreitet, ohne sie doch von der Reflexionsstafe einer technologisch beschränkten Rationalität zu lösen". Die Frage, wie sich die Position der Philosophie an der Universität unter den Bedingungen einer ausdifferenzierten Forschungspraxis bestimmen läßt, entsteht zwar zunächst im Kontext von Habermas' wissenschaftskritischen Erörterungen, deren Rahmen sie jedoch sprengt. Bereits in Technik und Wissenschaft als Ideologie verweist Habermas darauf, daß er das Problem einer „Übersetzung des technisch verwertbaren Wissens in das praktische Bewußtsein einer sozialen Lebenswelt" als ein generelles „Lebensproblem der verwissenschaftlichten Zivilisation" betrachtet: „wie nämlich die heute noch naturwüchsige Beziehung zwischen technischem Fortschritt und sozialer Lebenswelt reflektiert und unter die Kontrolle einer rationalen Auseinandersetzung gebracht werden kann".32 Von einer aktualisierenden Bedeutung ist dieses Problem für Habermas, weil er sich erstens dagegen wehrt, daß sozial belangvolle Fragen unter dem einseitigen Blickwinkel von wissenschaftlich zu handhabenden Problemen erscheinen und weil er zweitens die Übersetzung von Erkenntnissen in praktisches Tun als keine Angelegenheit einer rein privaten Bildung betrachtet. Die Fiktion des deutschen Hochschulsystems sei es, daß „die Wissenschaften ihre handlungsorientierende Kraft durch Bildungsprozesse innerhalb der Lebensgeschichte des einzelnen Studenten entfalten".33 Habermas: „Einst konnte Theorie durch Bildung zur praktischen Gewalt werden; heute haben wir es mit Theorien zu tun, die sich unpraktisch, nämlich ohne auf das Handeln zusammenlebender Menschen untereinander ausdrücklich bezogen zu sein, zur technischen Gewalt entfalten können. Gewiß vermitteln die Wissenschaften jetzt ein spezifisches Können: aber das Verfügenkönnen, das sie lehren, ist nicht das gleiche Lebenund Handelnkönnen, das man vom wissenschaftlich Gebildeten damals erwartete."34 Aus diesem Grund falle die „Umwandlung des Wissens in Werke" (Fichte) nicht mehr in die Privatsphäre der Bildung, sondern müsse nunmehr auf der politischen „Ebene einer Übersetzung des technisch verwertbaren Wissens in dem Kontext unserer Lebenswelt" eingelöst werden.35 Die wissenschaftskritische Reflexion kann nicht die lebensweltlichen Bezüge der Forschungsprozesse transparent machen: weder die Bezüge zu den Verwertungsprozessen wissenschaftlicher Forschung noch die Bezüge zur Kultur im „Ganzen". ten keine Antwort

Jürgen Habermas, Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Frankfurt/M. 308.

Ebd., 309. Ders., Technik und Wissenschaft als .Ideologie', Frankfurt/M. 1969, 107. Ebd., 109. Ebd., 111. Ebd., 109. Vgl. ders., Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt/M. 1987, 90.

1988

(5. Aufl.),

238

Mirko Wischke

Der radikale Bruch mit der nietzscheanischen Tradition der Wissenschaftskritik darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß Habermas wie Weber (und Nietzsche) eine alternativlose Unterwerfung unter die Zwänge des technischen Selbstlaufs rigoros ablehnt. Habermas plädiert für eine öffentliche Diskussion über die wünschenswerten Anwendungsbereiche, die an der Stelle der anonymen Sachgesetzlichkeiten der Wissenschaft zu stehen hat. 1986 konstatiert Habermas einen immer größer werdenden Abstand zu Humboldts Vorstellungen und eine wachsende Ernüchterung über seine Idee der Universität: Die „Naturwissenschaften büßen ihre Weltbildfunktion zugunsten der Erzeugung technisch verwertbaren Wissens ein. Die Arbeitsbedingungen der institutsförmig organisierten Forschung (sind immer) weniger auf Funktionen allgemeiner Bildung als auf die funktionalen Imperative von Wirtschaft und Verwaltung zugeschnitten."3 Die Institutionalisierung der Forschung, die Verschulung der akademischen Ausbildung, der Verlust der bildenden und aufklärenden Funktionen der Wissenschaft sind die Kehrseite einer veränderten Stellung der Philosophie zu den Wissenschaften, die Hans-Georg Gadamer 1943 völlig verkennt, wenn er es als das „vornehmste Amt der Philosophie im akademischen Leben" ansieht, die „Probleme der Wissenschaften auf die ursprünglichen Fragen des Menschen zurückzuführen". Während Gadamer noch an eine traditionelle Funktionsbestimmung der Philosophie gegenüber der Wissenschaft anknüpft, ist für Habermas zur Gewißheit geworden, daß die Philosophie nicht mehr „das Zentrum einer ausdifferenzierten Fachwissenschaft" ist. Die Frage ist: „Wer soll den vakanten Platz einnehmen?"39 Ist damit der theoretische Lebensnerv der Frage nach dem

Wissenswürdigen abgeschnitten? IV. Ausblick

Nach dem bisher Gesagten drängt sich unweigerlich die Frage auf, wie ernsthaft behauptet werden kann, daß in Nietzsches Gedanken noch Anregungspotential für heutige Diskussionsstränge verborgen ist. Oder hat es einen guten Grund, daß in der Bioethik die kultur- und wertphilosophischen Aspekte von Friedrich Nietzsches Wissenschaftskritik bis heute ohne Resonanz und Einfluß geblieben sind? Lassen Sie mich zu diesen Fragen abschließend einige Überlegungen vortragen. Die Eloquenz und Wucht von Nietzsches Wissenschaftskritik beruht darauf, daß sie auf unterschiedlichen Argumentationsebenen eine systematische Funktion hat. Ausgehend von den Fragen, inwiefern wissenschaftliches Erkenntnisstreben überhaupt sinnvoll ist und welche Konsequenzen seine Dynamisierung nach sich zieht, bildet die Wissenschaftskritik das Vorspiel zur Metaphysik der Kunst, von der sie überleitet zur

Kulturphilosophie. Ebd., 85f

Hans-Georg Gadamer, „Wissenschaft als Beruf. Über den Ruf und Beruf der Wissenschaft in unserer Zeit", in: Leipziger Neueste Nachrichten, Nr. 270, 27. Septemberl943, 3. Jürgen Habermas, Eine Art Schadensabwicklung, a. a. O., 88.

Hat die

Wissenschaft ihren Lebensnerv verloren:

239

Auf der Ebene der Kulturphilosophie beruht die Überzeugungskraft von Nietzsches Wissenschaftskritik auf einem Bildungs- und Erziehungsideal, an das sich angesichts der Entwicklung der Universität im letzten Jahrhundert heute kaum noch ernsthaft anknüpfen läßt. Es sind vor allem die auf Humboldt und Fichte zurückweisende systematische Begründung der herausgehobenen Position der Philosophie an der Universität und sein heute fremd anmutender Gräzismus (auf den ich hier nicht eingehen kann), die die theoretischen Schwachpunkte von Nietzsches Bildungsgedanken freilegen. Das wirft die Frage auf, ob uns Nietzsches Wissenschaftskritik heute überhaupt noch anspricht. Ich denke, man kann diese Frage bejahen, sofern man sich eingesteht, daß von Nietzsches Wissenschaftskritik weniger die Überlegungen zum Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft als die sachlichen Probleme, die er in der Morgendämmerung der Wissensgesellschaft heraufziehen sieht, von Interesse sein dürften. Diese sachlichen Probleme will ich abschließend zusammenfassen. Auf der Ebene des Perspektivismus macht Nietzsche mit dem Begriff der Wertschätzung nicht allein nur auf die Vielzahl von möglichen Wertungen aufmerksam, sondern auch auf ein genuin erkenntnistheoretisches Problem: nämlich auf die Konstitution möglicher Gegenstände der Erkenntnis durch die Beziehung auf Werte. Der lebensphilosophische Ansatz von Nietzsches Überlegungen besagt, daß der menschliche Intellekt angewiesen ist auf das perspektivische Sehen, d. h. auf das auslegende Schaffen seiner Welt. Da der menschliche Intellekt diesen Perspektivismus zu durchschauen vermag, muß er an die Realität glauben und diesen Glauben als eine perspektivische Beschränktheit begreifen. Auf der Ebene der Erkenntnistheorie setzt Nietzsche mit dem Perspektivismus seiner Lebensphilosophie voraus, daß es für die Erkenntnis eine Vielzahl von Möglichkeiten der Gegenstandskonstitution gibt. Von Interesse für das Erkennen ist dasjenige, dem wir selbst Wert verliehen haben. Von der rein erkenntnistheoretischen Problematik unterscheidet Nietzsche ein spezifisch kulturelles Wertproblem. Auf dieser Ebene ist unter einer Wertbeziehung die Fähigkeit zu verstehen, die Wirklichkeit nach bestimmten Prinzipien zu ordnen, die Nietzsche als Wertschätzungen bezeichnet. Die Wertschätzungen sind das Maß der Dinge. Auf beiden Ebenen liegen die transzendentalen Voraussetzungen der Wissenschaft als einer Wertbeziehung im ästhetisch-produktiven Vermögen zur Schaffung ordnender Formen in der unübersehbaren Mannigfaltigkeit der Akte des Verarbeitens des Erkenntnismaterials. Solche Formen sind die Werte. Was bedeutet das im Hinblick auf meine Ausgangsfrage? Die Frage, was wissenswürdig ist, ist letztlich nicht beantwortbar, und zwar aus zwei Gründen: zum einen, weil sie eine festgefügte Rangordnung der Werte unterstellt, um deren Begründung sich die neukantianische Wertphilosophie vergebens bemüht; zum anderen, weil das „Rätsel der Wertsetzung" (Georg Simmel) nicht auflösbar ist.40 Der Wissenschaft wachsen immer wieder neue Erkenntnisaufgaben zu, ohne daß ihr die Wissenswürdigkeit ihrer Erkenntnisse zum Problem wird. Das dem wissenschaftlichen Fortschritt eigene Gesetz kennt die Frage nach der Wissenswürdigkeit nur insofern, als

Georg Simmel, 1989, 396.

Probleme der

Geschichtsphilosophie (1892), Gesamtausgabe,

Bd. 2, Frankfurt/M.

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das wissenschaftliche Erkenntnisstreben eigenverantwortlich eine Auswahl trifft, was ihm als wissenswürdig oder wissensunwürdig, wissenswert oder wissensunwert gilt, ohne dies begründen zu können. Allgemein gilt: Die wissenschaftliche Forschung untersucht nur das, was von ihr als wertvoll empfunden wird. Die Forschung trifft eine klare Auswahl dessen, was ihr wissenswürdig ist, indem ihr einiges wertvoll erscheint, anderes nicht. Damit ist die Frage nach dem Wissenswerten selbst nicht entwertet. Nietzsche selbst geht davon aus, daß eine Antwort auf die Frage nach dem Wissenswerten prinzipiell ebenso unmöglich ist wie die Frage nach dem Wert des Daseins. Daß diese Frage dennoch gestellt wird, nimmt er zum Anlaß, den Wert dieser Frage zu erörtern. Ist die Frage nach dem Wissenswerten es wert, gestellt zu werden? Notwendig scheint mir Nietzsches Frage nach dem Wissenswerten insofern zu sein, als es naiv wäre, heute noch ernsthaft behaupten zu wollen, daß für unsere lebensweltlichen Belange die Vermehrung wissenschaftlicher Erkenntnisse nur von Fall zu Fall von Bedeutung ist. In dem Maße, wie die Genforschung uns zwingt, über Kriterien für den Schutz menschlichen Lebens nachzudenken; in dem Maße, wie die BSE-Krise und das Ozonloch uns lehren, daß es immer häufiger unabsehbare, teilweise katastrophale Nebenfolgen der Forschung und Entwicklung gibt die niemand wollte, unter denen aber alle leiden42 ; und in dem Maße, wie der Mensch nach dem Maß der Gene zu einer neuen normativen Kraft des Fiktiven heranwächst,4 drängt sich die Befürchtung auf, daß die moderne Wissensgesellschaft mehr weiß als sie verantworten kann. Nach einem Ausweg aus dieser schwierigen Situation zu suchen, fällt der gegenwärtigen Diskussion über die wünschbaren und unerwünschten Verwendungszwecke der biotechnischen Forschungsresultate offenbar nicht schwer. In ihr treffen wirtschaftspolitische Erwägungen auf ethische Bedenken, die oft ungehört bleiben. Der Sinn für das Neuartige an der Frage, die die Biotechnik aufwirft, fehlt. Das zeigt sich an der Dominanz der Politischen Philosophie in den Diskussionen um die Zulässigkeit von „verbrauchender Embryonenforschung". Da die Reichweite biotechnischer Eingriffe äußerst schwierige Fragen aufwirft, neigen einige Autoren dazu, die Bioethik in eine Rechtsethik zu transformieren. Der Anspruch der Bioethik auf Allgemeinheit und rechtspolitische Relevanz, so wird argumentiert, läßt sich allein im Rahmen einer Rechtsethik erfolgversprechend einlösen. Mit dieser Überlegung zieht man die inhaltliche Konsequenz aus der Annahme, daß in -

-

Die „Tatsache, daß etwas... als Wert empfunden wird, ist das letzte und selbst nicht weiter begründbare Fundament alles praktischen Lebens und aller ethischen Beurteilung. Auch wenn der wirtschaftliche Wert eines Gegenstandes durch Brauchbarkeit, Seltenheit, Arbeitsquantum, Widerstand usw. festgelegt wird, so sind dies einerseits nur äußere Vorbedingungen, die bis an die Schwelle des Wertes fuhren...Andererseits sind dieselben nur Mittel der Quantitätsbestimmung des Wertes, während die qualitative Tatsache, daß der Gegenstand überhaupt Wert besitzt, unabhängig von ihm gegeben sein muß." Ebd., 387f. Das gibt Wilhelm Vossenkuhl zu bedenken, „Der Mensch ist des Menschen Zelle. Eine Antwort auf Julian Nida- Rümelins Klon-Thesen", in: Der Tagesspiegel vom 16. Januar 2001, 26. Dazu äußert sich Dietmar Mieth, „Grundkonflikte der Bioethik", in: Berliner Zeitung vom 28729. April 2001.

Hat die

Wissenschaft ihren Lebensnerv verloren?

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Gesellschaften mit religiös-weltanschaulichem und moralischem Pluralismus bioethische Probleme allein auf der Ebene rechtlicher Regelungen eine Chance haben, gelöst zu werden. Aber werfen biotechnische Eingriffe nur rechtspolitische Probleme und Fragen der Politischen Philosophie auf? Habermas verweist zu Recht darauf, daß das Argument, der Embryo besitze von Anfang an Menschenwürde und genieße demnach absoluten Lebensschutz, die eigentliche Diskussion abschneidet, an der wir nicht vorbeikommen, wenn wir uns über diese fundamentale Frage verständigen wollen. Wenn die Behauptung stimmt, daß die neuen Technologien den Zündstoff zu einer Diskussion über das Verständnis unserer „kulturellen Lebensform als solcher" bilden reicht es nicht aus, die fundamentalen Fragen in den Begriffen der Politischen Philosophie und der Rechtsphilosophie zu formulieren. In diesem Punkt ist Habermas zuzustimmen. Er verkennt jedoch, daß für die Klärung unseres Verständnisses von einer „kulturellen Lebensform überhaupt" eine Diskussion über die Frage nach sinnvollen Verwendungszwecken für biotechnische Erkenntnisse nicht ausreicht. Dafür bedarf es meines Erachtens einer ganz anderen Frage. Ich will diese Frage in Form einer Alternative formulieren: Ist es überhaupt sinnvoll zu diskutieren, welche ethischen Prinzipien mit modernen wissenschaftlichen, beispielsweise gentechnischen Einsichten in Einklang gebracht werden können und welche nicht? Oder ist es sinnvoller zu fragen, welchen Zweck die Wissenschaft erfüllt, zu dem sie das Mittel sein soll? Die erste Frage ist eine Folgerung aus der Entwicklung der Wissenschaft. Ihr wachsen aus der menschlichen Lebenspraxis neue Problemstellungen zu, die jedoch nicht entscheidend für die Entwicklung der Wissenschaft sind. Es sind nicht die von außen an sie herangetragenen Probleme, die ihre Entwicklung bestimmen, sondern sachgesetzliche Zusammenhänge, die aus dem jeweiligen Stand der Forschung resultieren. Die Theorie zieht die Praxis nach sich. Die Folge ist eine Ablösung von konkreten „Lebenszwecken", wodurch in der Forschung ein Prozeß der Spezialisierung und Perfektion einzelner Teilgebiete freigesetzt wird, die gegenüber den praktischen „Lebenszwecken" autonom werden. Innerhalb dieser „Sachsysteme" sind die Erträge wissenschaftlicher Forschung meßbar. Wie brisant Nietzsche diese Entwicklung einschätzt, ist daran zu erkennen, daß er die Charakterisierung der Wissenschaft als der Schaffung von (technischen) Mitteln zur Erreichung von Zwecken des praktischen Lebensvollzugs verwirft. Charakteristisch für die moderne Wissenschaft ist nicht, daß sie sich um effiziente Mittel für einen Zweck bemüht, sondern daß sie von verfügbar gewordenen Mitteln ausgeht und nach möglichen Zwecken sucht. Der Sinn der Wissenschaft ist nicht der potentielle Nutzen, sondern eine Fähigkeit und ein Vermögen, über deren Einsatz nachgedacht werden muß, da sie keinen unmittelbaren Zweck erfüllen. Mit Habermas ist daran festzuhalten, daß für die moderne Wissenschaft die Frage entfallt, welche Mittel für einen vorgegebenen ,

Zweck am brauchbarsten sind, und es stellt sich die ganz andere, neuartige Frage nach den Verwendungszwecken. Während einst der Wissenschaft die Zwecke vorgegeben

Vgl., Jürgen Habermas, Die Zukunft der Eugenik? Frankfurt/M. 2001, 55. Ebd., 33.

menschlichen Natur. Auf dem

Weg

zu

einer liberalen

Mirko Wischke

242

so muß für die Forschungsergebnisse der modernen Wissenschaft nach einem sinnvollen Zweck gesucht werden. Welchen Verwendungszweck die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung haben könnten, stellt sich erst nachträglich heraus. Max Weber hat das klar erkannt, wenn er mit großem Nachdruck hervorhebt, daß unser

waren,

Handeln sich an den Erwartungen zu orientieren hat, die uns die Wissenschaft mit ihren Innovationen vorgibt.46 Eigentümlich ist dabei, daß es nie ein einziger Verwendungszweck, sondern größtenteils mehrere, unvorhergesehene Verwendungszwecke sind, die in dem Maße zunehmen (können), wie einzelne Ergebnisse auf ihre Möglichkeiten und Ziele getestet werden, die sie möglicherweise enthalten bzw. unterstützen könnten.47 Um das im wissenschaftlichen Fortschritt produzierte abstrakte Können für konkrete Ziele ausschöpfen und sinnvolle Verwendungszwecke finden zu können, bedarf es einer gesonderten, nicht mehr in den Bereich der Wissenschaft fallenden Anstrengung. Die erste Frage eröffnet einen Problemhorizont, in dessen Rahmen auf die zweite Frage keine unmittelbare Antwort gegeben werden kann. Ist die moderne Wissenschaft nicht mehr von der Suche nach Mitteln für genau definierte Zwecke beseelt, sondern von der Suche nach Verwendungszwecken für abstrakte Möglichkeiten, stellt sich das Problem, ob die Wissenschaft überhaupt einen Zweck erfüllt, der nicht in ihr selbst

praktisches

liegt.

Laut Nietzsche liegt dem den Sachgesetzen unterworfenen Fortschrittsprozeß der Wissenschaft ein verborgener Impuls zugrunde, den die Wissenschaft weder ausbildet noch fortbildet. Die Suche nach Wahrheit und Erkenntnis entspringt dem Bedürfnis nach einer Welt der Beständigkeit, des Geordnetseins und Bleibenden. Der Mühsal der Erkenntnis geht die Sehnsucht nach einer Welt voraus, die dem Werden und der Vergänglichkeit entzogen ist. Daraus folgt für Nietzsche, daß das Streben nach Erkenntnis auf einer Voraussetzung beruht, die geglaubt werden muß, aber nicht verifiziert werden kann: Was erkannt werden soll, ist das Resultat der bildenden und gestaltenden Kraft des Menschen. Was ist unter dieser Kraft zu verstehen? Sprache ist Rhetorik das ist Nietzsches Erklärung, warum er meint, die Philosophie habe die Kraft zu „bilden", obwohl sie ihre universitäre Sonderstellung verlor. Wie ist das zu verstehen? „Alles Leben beruht auf Schein"48 dieser Satz aus der Geburt der Tragödie erhält nach 1872 eine neue Bedeutung. Nietzsche versteht unter Schein eine konstitutionelle Verlegenheit der Menschen, zum Wesen der Dinge keinen Zugang zu haben. Ursache sei die Sprache: Sie ist Rhetorik, denn sie will „eine doxa, keine episteme" übertragen.49 Doxa ist für Nietzsche nicht nur Meinung eines Subjekts oder einer sozialen Gruppe; sie meint auch die allgemeine Meinung der Menschen über die Welt eine Meinung, die in -

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Vgl. Max Weber, „Wissenschaft als Beruf, a. a. O., 249. Diesen Vorgang kann man am Beispiel der Entdeckung der Röntgenstrahlen und des Entstehens der Kernphysik illustrieren. Vgl. Hans Freyer, „Über das Dominantwerden technischer Kategorien in der Lebenswelt der industriellen Gesellschaft" (1960). In: Herrschaft, Planung und Technik. Aufsätze zur politischen Soziologie, hg. von Elfriede Üner, Weinheim 1987, 117-130, hier: 124. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (KSA, GT, 1, 18). Ders., Nachgelassene Fragmente (KSA, NF, 13, 140).

Hat die

243

Wissenschaft ihren Lebensnerv verloren?

Sprache implizit ratifiziert ist, insofern Menschen als Sprechende innerhalb eines sprachlich erschlossenen Horizonts sich auf die Welt beziehen. Nietzsche: „Nicht die Dinge treten ins Bewußtsein, sondern die Art, wie wir zu ihnen stehen." Mit seiner Sprache macht sich der Mensch die Welt gemäß seiner lebensweltlichen Interessen verfügbar. Allein dieses Interesse und nicht irgendein Wissen über die Dinge ist es, was darüber entscheidet, welche .Merkmale' an den Dingen wir als für uns wichtig selektieren, welche Eigenschaften wir den Dingen aufgrund unseres ,Urteils' beifügen und über welche Deutungen wir uns die Dinge vertraut machen. In den Dingen begegnen wir allein den Produkten unserer eigenen Projektionsleistung: Was wir .Wahrheit' nennen, sind „Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und der

als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen". In Jenseits von Gut und Sprache und Wertschätzung Synonyme. Die Sprache ist Ausdruck unserer Beziehung zu den Dingen. Wertschätzung heißt für Nietzsche, daß wir die Dinge nach ihrem Wert für uns abschätzen. Die Art, wie wir zu den „Dingen" stehen, ist jedoch längst nicht mehr durch praktische Lebensfragen geregelt laut Nietzsche eine Folge davon, daß jener Zusammenhang zwischen der Wissenschaft und einem wirksamen Bildungsideal auseinandergebrochen ist, den bereits Fichte und Humboldt als erklärungsbedürftig empfanden. Durch Bildung sollte Wissenschaft eine praktische Gestaltung werden. Ist Bildung einst ein Umschlagen wissenschaftlicher Forschungsergebnisse in das Handeln der Menschen gewesen, so ist sie nach Nietzsche, Weber und Habermas immer mehr zur Privatsache verkürzt worden. Aber die wissenschaftlich gelösten Probleme entbinden nicht vom Handeln darin stimmen Nietzsche, Weber und Habermas überein. Ein später Neukantianer konnte 1949 noch behaupten, daß es für uns „kaum oder nur in den seltensten Fällen" von Bedeutung ist, wenn die Wissenschaft „die Zahl der bisher bekannten chemischen Elemente um eins vermehrt zu den zu einer Gattung gehörieine oder der Wissenschaft neue hinzu(fügt)" wenn es „gelingt, durch eine gen Arten neu aufgefundene literarische Quelle die Zeit der ersten Niederschrift einer Dichtung genauer zu bestimmen". Solch eine Betrachtungsweise erscheint uns heute naiv. Die von Nietzsche kritisierte Isolierung der Wissenschaft vom „Leben" läßt sich nicht als nebensächlich herunterspielen oder als eine hochspezialisierte Forschungspraxis verharmlosen. Mit großem Pathos spricht Max Scheler 1925 vor der Lessing-Gesellschaft in Berlin von der Gefahr einer neuen Barbarei, die von dem Zurücksinken des „Bildungswissens" in die Sphäre des Privaten und vom Übergewicht des „Arbeitswissen" ausgehe. Scheler klagt die Wissenschaft an, vergessen zu haben, daß ihr Wissen um die praktische Beherrschung und Umbildung der Welt für unsere Ziele und Zwecke letztlich dem Bilnun

Böse sind

-

-

...,

Vgl. Josef Kopperschmidt, „Nietzsches Entdeckung der Rhetorik. Rhetorik im Dienste der unreinen Vernunft", in: Josef Kopperschmidt u. a. (Hg.), Nietzsche oder .die Sprache ist Rhetorik', München

1994, 39-62, hier: 48. Friedrich Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (KSA, WL, 1, 879). Ebd., 881. Paul Menzer, Einleitung in die Philosophie, Tübingen 1949 (5. Aufl.), 11.

Mirko Wischke

244

dungswesen zu dienen hat: Die Umgestaltung der Natur ist dem Werden des Menschen unterzuordnen, statt daß das „Arbeitswissen" über das „Bildungswissen" herrscht. Sollte das „Bildungswissen" im Schutt einer reinen Arbeits- und Leistungszivilisation begraben werden, so wäre das laut Scheler die „furchtbarste aller nur denkbaren Barbareien".54 Diese tiefe Ergriffenheit befremdet uns heute mehr, als daß sie uns nachdenklich stimmt. Die Eigendynamik der Wissenschaft scheint die Frage nach dem Wissenswerten überflüssig werden, ja absurd erscheinen lassen, glaubt man dem derzeit in Politik und Wissenschaft so gern verwendeten Argument von den Sachzwängen des internationalen Wettbewerbs, der Konkurrenz und des Gewinns. Gerade dieses Argument zeigt aber in voller Klarheit, daß die Wissenschaft und ihre Forschungsergebnisse selbst keinen

Wert

darstellen, sondern einen Zweck, zu dem sie das Mittel sein sollen.

Richtig an diesem Argument ist, daß die Wissenschaft nicht um des Wissens willen betrieben wird. Mit Nietzsche ist daran festzuhalten, daß die Wissenschaft für uns kei-

nen Wert hat, wenn das, wozu ihr Wissen da ist, selber wieder ein Wissen sein soll. Nach Wissen nur um des Wissens willen streben zu wollen, das ist das Kennzeichen des von Nietzsche kritisierten Typus des wissenschaftlichen Gelehrten, der den Sinn seiner eigenen Tätigkeit verkennt. Dem Wissen muß ein Wert oder wie Scheler sagt ein „finaler Sinn" zukommen. Für das Streben nach Wissen und Erkenntnis muß ein „Wozu" angegeben werden können. Ein Mittel soll die Wissenschaft sein. Aber die Frage ist, zu welchem Zweck. Die Geschichtsphilosophie suchte nach Antworten, die uns heute nicht mehr überzeugen. Aber das Problem bleibt. Und es wächst in dem Maße, wie eine neue Fortschrittsgläubigkeit uns die Gewißheit vermitteln will, daß Wissenschaft allein bereits Fortschritt bewirkt. -

Scheler, Die Formen des Wissens und die Bildung, a. a. O., 39. Ebd., 32. Max

-

SÖREN REUTER

Logik, Metaphysik, Täuschung Zur Motivikonstellation der frühen Nietzsche-Rezeption in Afrikan Spirs Denken und Wirklichkeit

I. Die Gegensätzlichkeit zwischen Nietzsche und Spir könnte nicht entschiedener fokussiert werden durch die Stellung, die sie der Philosophie im Rahmen ihres Kulturwerts zuschreiben. Während der frühe Nietzsche die Aufgabe von Philosophie dahingehend bestimmt, der Kulturaufgabe des Menschen dienlich zu sein, hängt Spir einem asketischen Ideal von Philosophie an, das Nietzsche, betrachtet man seine späte Schrift über die Genealogie der Moral, eher aus einem zynischem Blickwinkel analysiert. Für Afrikan Spir ist Philosophie allein der Wahrheit als einem Absoluten verpflichtet. Die eigene Person tritt hinter dem Streben, dieses unerreichbare Ideal doch als erreichbar darzustellen und einzuholen, vollständig zurück. Anders Nietzsche, der die Selbstinszenierung geliebt hat und sich stets um die Reproduktion des eigenen Namens zu bemühen wusste. Tatsächlich jedoch ist dieser Gegensatz im Hinblick auf philosophisches Selbstverständnis, ästhetische Grundhaltung, Temperament und Charakter für Nietzsches Deutung von Spir nicht so relevant wie man womöglich erwarten könnte. Denken und Wirklichkeit, erschienen 1873, ist zwar nicht die erste Veröffentlichung Spirs, aber doch die erste grundlegende systematische Entwicklung einer philosophischen Grundüberzeugung. Nietzsche nimmt das Buch unmittelbar nach seinem Erscheinen zur Kenntnis und interessiert sich zunehmend für Werk und Autor. Dass Nietzsche Spir, der von 1867-70 in Leipzig als Privatdozent gelebt hat, nicht persönlich gekannt hat, kann daraus geschlossen werden, dass er sich nach ihm bei Eucken in Basel erkundigte. So jedenfalls merkt es die Tochter Helen Saparède-Spir in ihrem Vorwort an, das sie für die vierte Auflage von Denken und Wirklichkeit verfasst hat, die im Rahmen der Gesammelten Werke 1908 in Leipzig erscheint.

Afrikan Spir, „Denken und Wirklichkeit, Versuch einer Erneuerung der kritischen Philosophie", Gesammelte Werke, Bd. 1, 4. Auflage, Leipzig 1908. Spir, in Russland geboren, studierte zunächst Religion, bevor er dann, durch die kritische Philosophie Kants beeindruckt, nach Deutschland übersiedelte. Rudolf Christoph Eucken, nur zwei Jahre jünger als Nietzsche, war von 1871-74 Professor

246

Sören Reuter

Nietzsche schätzt an Spir dessen Scharfsinn, die logisch konsequente und systematische Argumentation sowie dessen beachtliche Kenntnis der zeitgenössischen angelsächsischen Literatur, die ihm wertvolle Einblicke in den Psychologismus J. St. Mills erlaubt.2 Die Sympathie, die Nietzsche Spir entgegenbringt, hängt sicherlich damit zusammen, dass das asketische Ideal Spir zu einem Unzeitgemäßen werden lässt, der, unverstanden von den Zeitgenossen, seine philosophische Lehre als heraklitisch3 bezeichnet und zugleich eine Nähe zu der Anaximanderleseart erkennen lässt, die Nietzsche mit Schopenhauer verbindet, jedoch in zunehmendem Maße kritisch beurteilt.4 Der eigentliche Grund jedoch, der Nietzsche dazu bewogen hat, sich das Werk von Spir mehrmals auszuleihen und auch noch in den späteren Jahren darauf zurückzukommen ist der, dass Spir einer der entscheidenden Zulieferer für Nietzsches Auffassung der metaphysischen Implikation der Logik darstellt, welche die paradoxe oder tragisch zu nennende Erkenntaissitaation bedingt, die das unterschwellig zentrale Thema von Ueber Wahrheit und Lüge ausmacht. Die immense Bedeutung Spirs für Nietzsche besteht darin, dass für diese erkenntnisphilosophische Grundposition eine argumentative Herleitung entwickelt wird, die Nietzsche für so überzeugend hält, dass er sie zum Ausgangspunkt eigener, weiterführender, vor allem kritischer Überlegungen wählt. Im Horizont dieser philosophischen Bedeutung Spirs für die Entstehung von Ueber Wahrheit und Lüge ließe sich auch die Differenz ermessen, die zwischen dem Werk von Spir und demjenigen von Gustav Gerber6 hinsichtlich ihrer tatsächlichen Relevanz für Nietzsches Text besteht. Das Werk von Gerber liefert eindrucksvolle Konkordanzen7, evoziert auf der Sprach,

für Philosophie in Basel. Über

2

1

4

6

Spirs Persönlichkeit, beruflichen Werdegang und Enttäuschung aufgrund rigoroser Nichtbeachtung berichtet die Tochter in besagtem Vorwort ausführlich. „Lob des Spir. Und der Engländer." Nietzsche, KSA, NF, 7, 29 [200]. Was Nietzsche diesbezüglich aus der Lektüre von Spir herauszieht, sind die Ansätze zu einer Assoziationspsychologie, die wiederum zu Grundbegriffen der Aristotelischen Mimesistheorie „Imitation", „Nachahmung", „Vergleich", „Analogie" usw. in Verbindung gebracht werden. Vgl. die Fragmente ebd., 19 [225-228], 19 [75], 19 [78, 79], 19 [107], 19 [147], 19 [215-217]. „Wahr ist also, was der alte Heraclit gelehrt hat, daß die Welt der Erfahrung einem Strome zu vergleichen ist, in dem immer neue Wellen die früheren verdrängen und der sich keine zwei einander folgende Augenblicke vollkommen gleichbleibt [...]Wahres Sein kommt somit in der Welt des Bedingten nicht vor; nichts in dem Bereiche der Erfahrung ist im wahren Sinne des Wortes, sondern alles geschieht." Spir, a. a. O. 216. Nietzsche, KSA, NF, 7, 26 [1] „Anaximander. [...] Das apeiron Ursache der Welt des Werdens? (Emanationstheorie, Spir)." (das kursiv gesetzte apeiron im Orig. griechisch.) Nietzsche bezieht sich wahrscheinlich auf die folgende Passage bei Spir: „Denn in der Tat tragen Übel und Unvollkommenheit in sich selbst unmittelbar das Zeugnis, daß sie nicht zu dem ursprünglichen, wahrhaft eigenen Wesen der Dinge gehören, eine Anomalie ausmachen, etwas sind, das nicht sein sollte, das sich selbst verleugnet und verurteilt". Spir, a. a. O. 307. Vgl. die Hinweise hierzu im Registerband der Studienausgabe, Bd. 15, 355. Nietzsche hat sich Mitte 1885 ausführlich mit dem Logikbegriff Spirs befasst, nachdem er sich 1877 die zweite Auflage von Denken und Wirklichkeit angeschafft hatte. Gustav Gerber, Die Sprache als Kunst, 2. Bde., Bromberg 1871. Vgl. Anthonie Meijers und Martin Stingelin, „Konkordanz zu den wörtlichen Abschriften und Übernahmen von Beispielen und Zitaten aus Gustav Gerber: Die Sprache als Kunst (Bromberg

247

Logik, Metaphysik, Täuschung

und Textoberfläche die Entdeckung von Parallelen, Anknüpfungen und wörtlichen Adaptionen, auf der semantischen Ebene den wichtigen Querverweis zu Nietzsches zeitgleichen Rhetorikvorlesungen, die, wie Lacoue-Labarthe mit Nachdruck herausgestellt hat, den eigentlichen Umbruch im Denken Nietzsches markieren. Mag dies auf der Beschreibungsebene wertvolle Hinweise zu Tage fördern, so wird in der Regel die Tiefenstruktur des Nietzscheschen Textes nicht in der Weise auseinandergelegt, dass Nietzsches Auffassung einer Erkenntnis- bzw. Wahrheitsrhetorik tatsächlich nachvollziehbar wäre. Ist es erlaubt, von einer Tiefenstruktur in Ueber Wahrheit und Lüge zu sprechen, dann bestünde diese in einer Mehrfachkodierung des Zusammenhanges zwischen Sprache und Erkennen. Die Analyse dieser hätte es dann, genauer formuliert, vornehmlich mit der Verhältnisbestimmung zwischen der Sprache als Kunst und der Sprache als Medium der Erkenntnis zu tun. Es ist dieser innere Verweisungszusammenhang zwischen einer ästhetischen und einer kognitiven Deutung der Sprachfahigkeit des Menschen, welche dem Verständnis von Nietzsches fundamentaler Wahrheitskritik erhebliche Schwierigkeiten bereitet und der Klärung bedarf. Wenn Nietzsche in Ueber Wahrheit und Lüge davon spricht, dass es zwischen Subjekt und Objekt „keine Causalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck" gibt, liegt auf der Hand, dass dieser These eine prinzipielle Deutung des Subjekt-Objektbezugs in philosophisch-logischer Hinsicht eingeschrieben ist, wobei unklar bleibt, ob diese der Sprachanalyse logisch vorausgeht oder die Konstitution der Sprache selbst bezeichnet. Spirs philosophische Konzeption bietet zur Klärung dieser Fragestellung einen hervorragenden Ausgangspunkt, weil sie diesen Begründungszusammenhang in den Blickpunkt stellt und ihn aus einer kantischidealistischen Perspektive thematisiert, die für Nietzsche gleichermaßen denkerischer Bezugspunkt ist. Hierin liegt die Besonderheit für ihre Beziehung zur Schrift Ueber Wahrheit und Lüge. Anders als Lange der einen materialistischen Standpunkt einnimmt, und Hartmann, der sich im Anschluss an Schelling und Schopenhauer mit Problemen des Unbewussten befasst, argumentiert Spir aus einer rein idealistischspekulativen Denktradition heraus, in der Überlegungen zur Logik den Kern eines systematischen Philosophierens bilden. Spir entfaltet einen Begriff absoluter Logik im Anschluss an Kants Begriff der Substanz, in den allerdings eine ontologisierende Deutung der Grundsätze der Wissenschaftslehre Fichtes eingezeichnet ist. Er stellt selbst keinen Zusammenhang zur Ästhetik her, wohl aber lässt sich die Nahtstelle beschreiben, die für Nietzsches ästhetisch motivierten Blickwinkel relevant geworden ist. Von einer dezidierten Spir-Rezeption Nietzsches kann im Horizont der beiden frühen Essays über Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen und Ueber Wahrheit und Lüge freilich nicht die Rede sein. Wie gründlich Nietzsche Denken und Wirklich,

1871) 8

9 10

in Nietzsches

Rhetorik-Vorlesung

und in

,Über

Wahrheit und

Lüge

im außermoralischen

Sinne'", in Nietzsche-Studien 17 (1988), 350-368. Philipp Lacoue-Labarthe, „Le détour (Nietzsche et la rhétorique)", in: Poétique 5 (1971) dt. Übersetzung: „Der Umweg", in: Nietzsche aus Frankreich, Hg. Werner Hamacher, Berlin 1986. KSA, WL, 1, 884. Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus, 2 Bde. Frankfurt/M. 1974. Vgl. Jörg Salaquarda, „Nietzsche und Lange", in: Nietzsche-Studien 7 (1987), 236-260. Claudia Crawford, The

Beginnings ofNietzsche's Theory ofLanguage, Berlin

1988.

248

Sören Reuter

und vor allem welche Passagen dieser doch umfangreichen Abhandlung über fünfhundert Seiten er tatsächlich rezipiert hat, lässt sich aus den spärlichen Texten und Notizen zu Spir nur andeutungsweise rekapitulieren. Im publizierten Werk fällt der Name Spirs allein in der Schrift über die vorplatonischen Philosophen, und zwar im Rahmen der Parmenidescharakterisierung, in die Nietzsche eine Passage aus Denken und Wirklichkeit einfließen lässt, welche die innere Erfahrung von Zeit zum Thema hat.11 Diese Passage steht im unmittelbaren Kontext mit einem längeren und sehr interessanten Nachlassfragment. Nietzsche skizziert darin relativ ausführlich eine Theorie der Zeit, bei der es um das Verhältnis zwischen Zeit (als Chronologie) und dem Prinzip ihrer Verräumlichung durch die projektive Kraft der Vorstellung geht. Dieser Reflexion auf die Konstitution von Zeit geht ein Fragment vorweg, das die erkenntnisphilosophischen Gründzüge Spirs zusammenzufassen und die Konsequenzen gerade im Hinblick auf die Deutung von Zeit auszuloten versucht. Der erste Satz dieses Notais, der die Gestalt eines methodischen Grundsatzes einnimmt, lautet: „Ich habe nichts als Empfindung und Vorstellung"1 Von diesem Grundsatz aus skizziert Nietzsche eine Zeitatomistik, die von der Grundthese getragen ist, dass Zeit weder eine absolut objektive noch eine absolut subjektive Eigenschaft ist, sondern ihren Ausgang von „Empfindungspunkten" nimmt, die in den Raum projiziert werden. Aber diese Skizze zur Zeit, in der Nietzsche nicht nur die theoretischen Grundlagen zur Widerlegung von Parmenides, sondern auch Ansätze einer eigenen Zeittheorie 4 durchspielt, kann nur als Konsequenz einer bereits kritischen Adaption der Grundauffassung Spirs begriffen werden. keit

gelesen,

von

-

-

.

II.

Spirs erkenntnisphilosophische Grundthese, derzufolge jedes Erfahrungswissen auf einer Illusion basiert, resultiert aus der Überlegung, dass das Täuschungsprinzip in der Konstitution des Denkapparates selbst verankert ist, weshalb es nicht aufgehoben, sondern lediglich im Zuge philosophischer Reflexion transparent gemacht werden kann. Damit ist in der Selbstbeschreibung von Wissen eine Antinomie eingeschrieben, die vergleichbar der Sinnestäuschung ist, die man am Paradebeispiel des gebrochenen Stabs im Wasser nur zu Genüge kennt. Wenn Wissen bereits in der einfachen sinnlichen -

11

12 13

14

KSA, PHG, 1,857.

Vgl. das Fragment 26 [12], KSA, NF, 7. Ebd., 26 [11]. Auf die Bedeutung Spirs für Nietzsche hat als erstes Anni Anders aufmerksam gemacht, ohne jedoch die eigentlichen philosophischen Schnittstellen herauszuarbeiten. Karl Schlechta/Anni Anders, Friedrich Nietzsche, Von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens, Stutt-

gart/Bad Cannstatt 1962. So weit mir bekannt, gibt es noch keine Deutung dieses sehr kryptischen Fragments. Weder bei Joan Stambaugh, die sich ausführlich mit der Vorstellung von Zeit im Hinblick auf ihre erkenntnisphilosophische Bedeutung bei Nietzsche auseinandergesetzt hat, noch bei den neueren Veröffentlichungen zum Thema Zeit bei Nietzsche. Vgl. Joan Stambaugh, Untersuchungen zum Problem der Zeit bei Nietzsche, Den Haag 1959. Vgl. dies., Nietzsche's thought of eternal return, Baltimore 1972.

Logik, Metaphysik, Täuschung

249

Wahrnehmung als Täuschung erscheint, bedeutet dies nichts anderes, als dass sinnliche Evidenz Wahrheit vortäuscht, also zur Wahrheit verführt, obgleich man durch die anschließende Reflexion erkennen muss, dass es sich um einen Schein handelt, den man jedoch auch dann nicht beseitigen kann, wenn man seinen Scheincharakter durchschaut -

hat. Diese Paradoxie in der Grundkonstellation von Erkenntnis basiert auf einer Verhältnisbestimmung des Absoluten zur Endlichkeit jeder nur möglichen konkreten Einzelerfahrung. Im Hinblick auf das Absolute ist jedes Wissen relativ und in dieser Hinsicht ist es „nicht unbedingt wahr".15 Entscheidend ist somit, dass die Selbsttäuschung der Vernunft hinsichtlich ihres Wahrheitsanspruchs nicht empirisch, durch Einsicht in irrtümliche Annahmen über die Wirklichkeit, sondern bereits im Prinzip des Urteilens selbst begründet ist. Die Idee des Absoluten, welche das empirische Urteil bedingt, ist diejenige der „Substanz". Spir ist der Auffassung, dass die begriffliche Konstituierung von Gegenständlichkeit die Annahme voraussetzt, dass der Gegenstand als Substanz gedacht werden muss. So zeigt es sich bereits, dass die Gewissheit jeder einfachen sinnlichen Wahrnehmung den Substanzbegriff voraussetzt und durch diese Voraussetzung eines Absoluten die Gewissheit zu einer Täuschung deklariert. Dies wird durch die Hypothese bestätigt, dass räumliches Vorstellen von Gegenständen eine Projektion von Sinneseindrücken darstellt, die dem Subjekt lediglich als zeitliche Sukzession von Empfindungszuständen vorliegen. Relativität von Wissen ist für Spir somit einerseits dadurch begründet, dass die Welt in ihrem Ansichsein nicht erkannt wird, andererseits dadurch, dass die empirische konkrete Erfahrung unter dem Anspruch des Absoluten interpretiert wird, der jedoch nicht wirklich, sondern nur als Schein eingelöst wird. Dadurch, dass die Welt dem Subjekt so erscheint, als ob sie das Absolute bereits immer schon realisiert hat, lässt sich dieser Zwiespalt zwischen dem als erreicht vorgegebenen Absoluten und tatsächlicher, das Absolute nie erreichender Endlichkeit nicht aufheben. Dieser Zwiespalt drückt eine Antinomie in der Vernunft aus, die Spir in Gestalt zweier Grundsätze formuliert: „1. Wir tragen in unserem Denken eine Norm (deren Ausdruck der Satz der Identität ist), mit welcher die Beschaffenheit sämtlicher Objekte der Erfahrung nicht übereinstimmt. 2. Die sämtlichen Objekte sowohl der inneren wie der äußeren Erfahrung sind von Natur aus derart organisiert, um dieser Norm scheinbar zu entIm Hinblick auf die konstitutiven Erkenntnisbedingungen verbindet Spir mit dem Begriff der „Norm des Denkens" den Inbegriff der Vorstellungswelt, während der Naturbegriff (en physei) im weitesten Sinne mit den „Empfindungen" zusammenfällt. Vorstellung und Empfindung konstituieren einen dualistischen Denkansatz, was die folgende Definition eindrucksvoll bestätigt: „Unter einer Empfindung versteht man einen im Bewußtsein vorhandenen Inhalt, welcher keine innere Beziehung auf Dinge außerhalb des Bewußtseins, keine Affirmation über dergleichen Dinge enthält. Solcherart ist die pure Empfindung einer Farbe, eines Tons, eines Geschmacks, eines Geruchs u. dgl. Unter einer Vorstellung dagegen versteht man einen im Bewußtsein vorhandenen Inhalt, welcher die Affirmation von Dingen außer sich, nämlich den Glauben an das objektive Dasein oder Gewesensein des in ihm Vorgestellten enthält."17

sprechen."16

15 16 17

Spir, a. a. O. 3.

Ebd., 6. Ebd., 38.

Sören Reuter

250

Die „Norm des Denkens" bezeichnet einen Grundakt des Vorstellungsvermögens, der mit dem Glauben in eins fällt, dass ein Sachverhalt besteht oder wie man auch sagen könnte als ein solcher gewusst wird. Er wird von Spir als Grundprinzip der „Affirmation" angesehen und synonym verwendet mit „Glauben" oder „Für-wahr-halten" und realisiert eine Funktion, die dem Wesen der Vorstellung immanent ist. „Der Glaube aber, die der Vorstellung innewohnende Affirmation des Gegenstandes ist nicht etwas neben der Vorstellung Bestehendes oder ihr von außen Mitgeteiltes, sondern gerade das ursprüngliche Vorhandensein dieser Affirmation in ihr macht sie eben erst zu einer Vorstellung."18 Gehört es zum Wesen des Subjekts, Inhalte des Bewusstseins auf Gegenstände zu beziehen und über diese Existenz- und Wahrheitsurteile zu fallen, so wird ersichtlich, „daß die Gesetze des erkennenden Subjekts selbst eine notwendige Beziehung auf die Gegenstände und deren Auffassung implizieren, daß dieselben eben nichts anderes sein können, als allgemeine Prinzipien von Affirmation über Gegenstände, d. h. eine innere Notwendigkeit, etwas von Gegenständen zu glauben. Solcher Art Gesetze nennt man logische Gesetze [...]." Es ist dieser Akt der Affirmation allein, der für Spir das Grundprinzip des logischen Gesetzes ausmacht und eine logisch-kategorielle Differenz zwischen synthetisierenden Leistungen des erkennenden Subjekts und dem Prinzip der „Affirmation" konstituiert. Die dem Dualismus zwischen Empfindung und Vorstellung inhärierende These, dass das Prinzip der Affirmation dem Bewusstsein a priori zugrunde liegt und demzufolge aus physiologischen Vorgängen nicht abgeleitet werden kann, führt innerhalb des Vorstellungsapparates zu der weiteren Unterscheidung zwischen einer „ideellen" und einer „realen" Seite der Vorstellung. „Die Gesetze der Vorstellung ihrer realen Seite nach sind physischer Natur, nämlich° Kausalgesetze des Bewirktseins durch Objekte und der Assoziation untereinander." Diese Differenzierung entspricht dem Anliegen Spirs, das Wesen der Vorstellung auf zwei Grundrunktionen zu beschränken: Dem Prinzip formaler Logik als Funktion des richtigen Schließens sowie dem Prinzip der Affirmation als einer Wesenshandlung, die in der formalen Logik nicht enthalten ist, sondern eine ausschließlich wirklichkeitsbezogene Grundtanktion zum Ausdruck bringt und den Wahrheitsbegriff konstituiert. Grundlage für das synthetische Wahrheitsurteil bildet die Ontologisierung des formalen Identitätsprinzips, das im Sinne eines analytischen, tautologischen Urteils A gleich A gedacht wird. Dass eine solche Wahrheitskonzeption prinzipiell nicht erfüllbar ist, aber doch als erfüllt erscheinen kann, erläutert Spir am Beispiel des sinnlichen Wahrnehmungsurteils, das unmittelbare Gewissheit suggeriert, welche aber doch als Projektion einer inneren Emp' findung auf einen äußeren Gegenstand erkannt werden kann. Die Wahrheit des sinnlichen Urteils vollzieht sich im Lichte des Identitätsprinzips, ist aber tatsächlich durch etwas anderes bedingt, das den Eindruck zu evozieren vermag, als würde eine absolute Identitätssetzung stattfinden. Wie Spir zu dieser paradoxen wie aporetischen Erkennt-

18 19

20 21

Ebd., 29. Ebd., 47. Vgl. „Ein logisches Gesetz dagegen ist die innere Disposition, zu glauben." Ebd., 49. Vgl. ebd., 494f. Vgl. ebd., 20.

etwas von

Gegenständen

251

Logik, Metaphysik, Täuschung nissituation kommt, lässt sich

vor

dem

Hintergrund

seiner Kant- und Fichtekritik zei-

gen.

III.

Spirs Logikbegriff umfasst zwei unterschiedliche Konzeptionen von Identität, die auf Bezug nehmen. Identität im Rahmen formaler Logik meint das allgemeine Identitätsprinzip und gehört als axiomatischer Bestandteil für Kant in die „Elementarlogik", weil es die Widerspruchsfreiheit einer logischen Argumentation gewährleistet. Von der „allgemeinen Logik" im ersten Sinne unterscheidet Kant eine „transzendentale Logik", welche die Möglichkeit von Erfahrung auf ihre allgemeinen und a priori gültigen Voraussetzungen befragt. „Transzendental" bezeichnet für Kant ein methodisches Verfahren, das die Allgemeingültigkeit von Erfahrungsaussagen an die subjektiven Erkenntnisbedingungen knüpft Geltung durch Genese. Spirs Rezeption des kantischen Logikbegriffs lässt sich in nuce am Substanzbegriff der „ersten Analogie der Erfahrung" sowie am Substanzbegriff der Seele in der „transzendentalen Dialektik" festmaKant

-

chen.

In der „ersten Analogie der Erfahrung"22 behauptet Kant, dass gegenständliche Erfahrung die Vorstellung von der Substantialität der Dinge voraussetzt. Denn die Vorstellung, dass sich Dinge verändern, impliziert, dass sich die Dinge in ihren Zustandsweisen verändern. Zustandsformen verweisen jedoch auf Zeitverhältnisse, die dem „inneren Sinn" als Sukzession von Wahrnehmungseindrücken unterliegen und in ein Schema übersetzt werden müssen, das der Deutung dieser Wahrnehmungseindrücke im Hinblick auf ihren gegenständlichen Erscheinungskontext zugrunde liegt. Die möglichen Schemata dieser Verknüpfung können dann aber nur in der „Einheit der Apperzeption" begründet seien, wodurch „alle empirische[n] Zeitbestimmungen unter Regeln der allgemeinen Zeitbestimmung stehen müssen [...]." Repräsentieren „Beharrlichkeit, Folge und Zugleichsein", als Modi der Zeit, die drei möglichen „Analogien der Erfahrung", die nicht auf die Erscheinungen bezogen sind, „sondern bloß das Dasein, und ihr Verhältnis untereinander in Ansehung dieses ihres Daseins, erwägen"23, so bezieht sich demzufolge die „erste Analogie" nicht auf die Erscheinung selbst, sondern auf die Vorstellung eines Verhältnisses zwischen Erscheinung und ihrem Grund. Da dieses nur gedacht, aber hypothetisch angenommen werden muss, stellt die „Analogie" kein konstitutives, sondern lediglich ein regulatives Prinzip dar. Es bringt die Abfolge der Wahrnehmungseindrücke hinsichtlich der Veränderung von Dingen in eine gedankliche Einheit, die mit den Wahrnehmungen in Einklang steht. Wenn jedoch „transzendentale Logik" als „Organon" auftritt und aus sich selbst heraus

Erkenntnisse über die Wirklichkeit

tes- oder Unsterblichkeitsbeweisen

erschließen versucht, wie sie es in den Gotunternimmt, missbraucht sie sich selbst und gerät zu

Ebd., 220-225. Der Grundsatz lautet: „Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharret die Substanz, und das Quantum derselben wird in der Natur weder vermehret noch vermindert." 220. Ebd., 217.

252

Sören Reuter

dadurch zu einer „Logik des Scheins". Die Vorstellung einer Substantialität der Seele lässt sich nicht beweisen.25 Der Beweisversuch muss misslingen, da es für die Erkenntnis eines Absoluten im Subjekt keine Anschauung geben kann. Der Grund hierfür liegt darin, dass das Denken immer schon durch die Einheit des „transzendentalen Ich" bestimmt ist, die Einheit, Identität, Dauer wie Beharrlichkeit gewährleistet, ohne dass dadurch auf eine Substanz hinter dieser logischen Einheit des Selbstbewusstseins geschlossen werden könnte. Zeigt Kant, dass es sich bei den Absolutheitsannahmen um 26 „Illusionen" handelt, so geht es ihm doch nicht um deren Überwindung oder Negierung. Die Rede vom „transzendentalen Schein" besagt vielmehr, dass es sich um natürliche und unvermeidliche Illusionen handelt, die im Bedürfnis der Vernunft selbst angelegt sind und auch dann nicht verschwinden, wenn man ihre „Nichtigkeit durch transzendentale Kritik deutlich eingesehen hat."27 Die „transzendentale Dialektik" verbindet demzufolge die Widerlegung der Substanzvorstellungen zugleich mit ihrer Bewahrung, die jedoch nur im Einklang mit der tranzendental-kritischen Methode erzielt werden darf. Greift Spir einerseits im Begriff der „Norm des Denkens" das kantische Postulat einer die Vernunft leitenden „regulativen Idee" in praktischer Hinsicht auf, so verändert er andererseits in grundlegender Weise den Status dieses Prinzips, indem er es dem Substanzbegriff der „ersten Analogie der Erfahrung" als eine notwendige ontologischmetaphysische Voraussetzung unterstellt. Nur im Zuge dieses Denkschritts lässt sich die „Denknorm" als Inbegriff absoluter Identität behaupten und ihr eine regulative Funktion bereits für das einfache empirische Wahrnehmungsurteil zuweisen. Dass diese Gleichsetzung zwischen dem Substanzbegriff der „ersten Analogie" und der Vorstellung einer immateriellen Seele trügerisch und keineswegs gerechtfertigt ist, wird von Kant selbst herausstellt. Gravierende Differenzen ergeben sich aus dem Umstand, dass in der „ersten Analogie der Erfahrung" der Substanzbegriff durch Anschauungen immer schon bestätigt wird, während der Substanzbegriff im Hinblick auf die Seele am „logischen Subjekt" kleben bleibt oder auf empirische Anschauungen zurückgreift, die aber letztlich immer auf das logische Subjekt zurückverweisen. Erweckt der kantische Sprachmodus in den „Analogien der Erfahrung" und in der „transzendentalen Dialektik" Parallelen, so sind die Kontexte der „Als-ob"-Formel doch grundweg verschieden. Spir verklammert mit der „Norm des Denkens" die Vorstellung absoluter Identität, welche nicht, wie bei Kant, auf allgemeine, sinnstiftende Kontexte, sondern bereits auf das synthetische Urteil als solches Anwendung findet. Indem die theoretische Philosophie in Abhängigkeit zur praktischen gebracht und deren Absolutheitsanspruch unterstellt wird, verändert sich das philosophische Selbstverständnis in grundlegender Weise. Die Verschiebung findet auch sprachlich in der Umdeutung der „Als-ob"-Formulierung ihren Niederschlag, mit der die „regulative Idee" als Prinzip allgemeiner Sinnstiftung zusammenfallt. Durch die Substantialisierung der „Norm des Denkens" auf dem Feld synthetischer Urteile schließt Spir die Möglichkeit eines Sichverhaltenkönnens zum Ebd., 104.

Vgl. „Von den Paralogismen", ebd., 341 f.

Ebd., 308f. Ebd., 310.

Logik, Metaphysik, Täuschung

253

Schema möglicher Selbstbestimmung aus, da der vorauszusetzende Freiheitsgrund dem Subjekt nicht mehr zur Verfügung steht, wenn die Reflexion nur in nachträglicher Hinsicht auf das Urteil zugreifen kann, aber auf dessen Bedingungen selbst keinen Einfluss

Positionsveränderung, die Spir gegenüber Kant vornimmt, ist überpointiert folgende: Im Horizont der „regulativen Ideen" wahrt Kant die Möglichkeit, dass der Mensch sich und die Welt nicht nur als relativ und bedingt, sondern auch als ein Absolutes deuten kann, was im Hinblick auf sein Selbst- und Weltverhältnis die Fähigkeit zu divergenten Standorten und perspektivischen Blickwinkeln voraussetzt. Bei Spir hingehat. Die

gen erscheint die sinnliche Welt bereits so, als ob sie Ausdruck einer substanziellen Entität sei. Die Behauptung eines „transzendentalen Scheins" wird somit auf die Bedingungen des Erkennens schlechthin erweitert. Die terminologisch aufschlussreiche Formulierung Spirs im Hinblick auf diese erkenntnisphilosophische Radikalisierung lautet, dass die Empfindungen als (ansichseiende) Körper erscheinen, wodurch die sinnliche Phänomenalität bereits an die Bedingung des Absoluten geknüpft wird. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass diese radikalisierende Umdeutung der „regulativen Idee" auf zwei Annahmen basiert. Spir geht einerseits davon aus, dass der materiale Grund einer Wahrnehmung die Empfindung darstellt. „Dies beweist augenscheinlich, daß das, Andererseits unwas wir als Körper erkennen, unsere eigenen Empfindungen sind." terstellt Spir, dass der Begriff eines Körpers die Annahme eines Unbedingten in logisch notwendiger Hinsicht voraussetzt. „Es steht also außer Zweifel, daß die Körper ihrem Begriffe nach unbedingt sind, daß wir einem Gegenstand, den wir als Körper erkennen, eben dadurch unbedingtes Dasein und unbedingte Wesenheit zuschreiben."29 In diesen Prämissen vollzieht sich ein entscheidender Schritt zur Umwertung und Neuakzentuierung transzendentalphilosophischer Methodenlehre im Bereich einer „transzendentalen Analytik". Was bei Kant in den Dienst eines konstruktiven Verfahrens stand, arbeitet nun unterschwellig an der Dekonstruktion der Wahrheitsbedingungen des synthetischen

Erfahrungsurteils. IV.

Ein entscheidendes Indiz für diesen Umwertungsprozess lässt sich der Kritik der unmittelbaren Gewissheit entnehmen, die Spir im Zuge seiner Fichtekritik vornimmt. Täuschung offenbart sich, so die Grundthese, bereits in der unmittelbaren Gewissheit eines schlichten sinnlichen Erfahrungsurteils, was Spir am Topos der sinnlichen Wahrnehmung erläutert. Im Einklang mit der Bewusstseinsphilosophie seit Descartes stellt er zunächst heraus, dass alles Wissen auf unmittelbarer Evidenz beruht. „Das unmittelbare Gewisse ist also die Quelle aller Gewißheit überhaupt."30 Die Forderung nach unmittelbarer Evidenz verbürgt alle unmittelbare wie auch mittelbare Erkenntnis. Gegen die rationalistische Tendenz des cartesianischen Cogito ist allerdings die Feststellung gerichtet, dass unmittelbare Gewissheit allein die Faktizität eines Inhalts im Bewusstsein

Spir, a. a. O. 77. Ebd., 87.

Spir, a. a. O.

12.

Sören Reuter

254

betreffen kann und das synthetische Erfahrungsurteil keineswegs einschließt, wie Descartes angenommen hatte. „Alles, was ich in meinem Bewußtsein vorfinde, ist als bloße Tatsache des Bewußtseins unmittelbar Spir spricht demzufolge von einer Gewißheit und bezieht diese auf die Faktizität von Natur" „unmittelbaren faktischer im Unterschied den intentionalen zu Erfahrungsurteilen. FolgeWahrnehmungsinhalten richtig erscheint die Herausstellung einer logischen Differenz zwischen „unmittelbar gewiss" und „affirmativ". Unmittelbar gewiss ist, dass ich einen bestimmten Ton höre; affirmativ ist jedoch mein Urteil, dass diesem Ton etwas in der Wirklichkeit zukommt, das ihn verursacht hat. Die Unterscheidung entspricht noch ganz der Position, die Kant

gewiß."31

in seiner „Logik" einnimmt, wenn er im Hinblick auf ein sinnliches Wahrnehmungsurteil gerade diese Differenz thematisiert: „Ich, der ich einen Turm wahrnehme, nehme an ihm die rote Farbe wahr. Ich kann aber nicht sagen: er ist rot. Denn dieses wäre nicht bloß ein empirisches, sondern auch ein Erfahrungsurteil, d. i. ein empirisches Urteil, dadurch ich einen Begriff vom Objekt bekomme."33 Die Schwierigkeit, die Kant mit seiner Zurückhaltung implizit zum Ausdruck bringen will, ist die, dass es zwar eine Definition von Wahrheit als Übereinstimmung, aber keine Definition von Übereinstimmung selbst geben kann. Denn jedes Erfahrungsurteil ist empirisch. Sowohl der Versuch, das Wahrheitskriterium empirisch als auch a priori zu formulieren, würde aber in einen infiniten Regress münden. Dass Spir gegenüber Kant die problematische Ausgangssitaation übernimmt, jedoch diese von einem anderen Standpunkt aus bewertet, wird deutlich in der folgenden Schlüsselpassage: „Der Punkt, aufweichen ich die Aufmerksamkeit des Lesers besonders lenken möchte, ist der Umstand, daß auch bei der unmittelbaren Gewißheit, ja bei der unmittelbaren Wahrnehmung selbst kein Zusammenfallen der Vorstellungen mit ihrem Gegenstande stattfindet. Dies erhellt zu allererst daraus, daß die Gewißheit in allen Fällen gleichen Wesens ist, einerlei ob es die Gewißheit des unmittelbar Wahrgenommenen oder des bloß Erschlossenen ist."34 Besonderes Augenmerk ist auf die Begründung zu legen. Besteht das kantische Problem darin, dass im Zuge des analytischen Vorgehens nicht erklärt zu werden vermag, wie eine objektive Wahrnehmung vor dem Hintergrund ihrer Subjektivität logisch abgeleitet werden kann, so sieht Spir den tatsächlichen Grund für die Inkongruenz zwischen Vorstellung und Gegenstand darin, dass in der Evidenzerfahrung sinnlicher Wahrnehmungen ein universales Wahrheitsprinzip immer schon vollzogen, „Gewissheit in allen Fällen gleichen Wesens ist." Es ist nicht die Undefinierbarkeit eines allgemeinen Wahrheitskriteriums, das Spir für philosophisch bedenkenswert hält, sondern die Tatsache, dass dieses Kriterium im synthetischen Wahrnehmungsurteil immer schon erfüllt ist bzw. erfüllt zu sein scheint. Auf das Beispiel Kants bezogen: In der sinnlichen Wahrnehmung findet die Trennung zwischen Empfindungszustand und Urteil ja nicht wirklich statt, weil das Wahrnehmungsurteil in der Wahrnehmung schon implizit begründet ist. Sie ergibt sich lediglich aus der Reflexion auf die möglichen subjektiv-materialen 31 32 3

34

Ebd., 13. Ebd., 14. Immanuel Kant, „Logik", in: Schriften zur Metaphysik und (Hg. Wilhelm Weischedel), Frankfurt/M. 1977, A 8, 544. Spir, a. a. O. 28.

Logik,

2.

Teil, Werkausgabe Bd.

VI

Logik, Metaphysik, Täuschung

255

einer Wahrnehmung, nicht aus dem Vollzug der Wahrnehmung selbst. sehe einen roten Turm, dann weiß ich zugleich, dass ich einen Turm sehe, der ich Denn, rot ist. Mit der sinnlichen Wahrnehmung fällt die unmittelbare Gewissheit zusammen, die das Urteil ermöglicht und es begründet. Wahrheit liegt dem Urteil voraus nicht umgekehrt. Die Undefinierbarkeit eines allgemeinen Wahrheitskriteriums, die Kant für ein philosophisches Kardinalproblem hielt, verweist vielmehr auf den voraussetzungslosen und performativ immer schon eingeholten Grund von Evidenz. Umso bemerkenswerter ist, dass Spir diese Einsicht nicht im Sinne einer Fundierung des Wahrheitsbegriffs, sondern gerade zum Zweck seiner Dekonstruktion interpretiert. Diese Deutung geschieht im Horizont der eingangs vorgestellten Definition von Wahrheit, derzufolge sie mit dem Prinzip absoluter Identität zusammenfallt. Im Phänomen der unmittelbaren Gewissheit erscheint nicht Wahrheit, sondern lediglich ein als absolut gesetzter Geltungsanspruch von Wahrheit, der in das synthetische Urteil als „Affirmation" eingeht und über einen Vorgang ganz anderer Qualität hinwegtäuscht. Im Verhältnis zwischen Wahrheit (als absoluter Identität sowie absoluter Gewissheit) und Wahrheit (als Affirmation) spiegelt sich die Problematik des ersten Grundsatzes der Wissenschaftslehre Fichtes von 1794/95. Aus dem Argumentationshorizont, den Spir entfaltet, lässt sich eindeutig entnehmen, dass er auf diese Problematik Bezug nimmt und sie ausdeutet. Im ersten, dem obersten und absoluten Grundsatz, der die Möglichkeit von Wissen begründen soll, vereint Fichte zwei unterschiedliche und nicht miteinander vereinbare Konzeptionen von Identität. Sofern in der „Tathandlung" des „Ich bin Ich" das „Ich" in transzendentaler Hinsicht verstanden wird, das nur dadurch ein Ich sein kann, weil es sich dieses Ich-Seins und seiner Identität bewusst ist, kann Identität nur in einem relativen Sinne als absolut verstanden werden. Relativ in dem Sinne, als die Identitätssetzung einen voraussetzungslosen, durch Reflexion nicht einholbaren Akt darstellt, damit absolut ist. Gleichzeitig verbindet Fichte jedoch mit der „Tathandlung" ein absolutes Ich, das das Absolute selbst repräsentiert. Die Deduktion (im Sinne der drei Grundsätze) soll nun zeigen, wie das relative, das „transzendentale Ich" aus dem Absoluten, dem Relationslosen und Unbestimmten, abgeleitet werden kann. 37 Spirs berechtigte Kritik an dieser Konzeption stellt deutlich heraus, dass aus dem Absoluten keine Deduktion vorgenommen werden kann. Aufschlussreich ist jedoch, wie Spir die Konstellation einer Antinomie in den beiden logisch nicht kompatiblen Identitätskonzeptionen aufzulösen versucht. Weder verzichtet Spir auf den Begriff des Absoluten noch geht er den Weg des späten Fichte, der Transzendentalphilosophie als Rückgang vom relativ absoluten Ich in das Absolute versteht. Er deutet vielmehr das absolute Ich als ein Tatbestand ontologischer Faktizität, der als absoluter und notwendiger Grund im Bewusstsein behauptet werden muss, aber weder abgeleitet noch bewiesen werden

Bedingungen

-

Siehe Anm. 23. Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre als Handschrift ßr seine Zuhörer (1794), 4. Auflage, Hamburg 1988. Über das Problem der drei Grundsätze handelt sehr ausführlich, Franz Bader, „Die Mehrdeutigkeit der drei Grundsätze in Fichtes .Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre' von 1794/95", in: Erneuerung der Transzendentalphilosophie im Anschluß an Kant und Fichte, Reinhard Lauth zum 60. Geburtstag, Hg. Klaus Hammacher und Albert Mues, Stuttgart/Bad Cannstatt 1979, 11-41.

256

Sören Reuter

kann. Die Ontologisierung und Substantialisierung des Absoluten im Bewusstsein hat zwei entscheidende Konsequenzen: Die methodische Abhängigkeit des relativen Bewusstseins vom Absoluten. Und das Koexistieren zweier nebeneinander bestehender, aber nicht miteinander vereinbarer Handlungen des Bewusstseins. Während die „Norm des Denkens" das Substanzprinzip und absolute Identitätsprinzip vertritt, ist das relative Ich im weitesten Sinne durch Vorgänge repräsentiert, die der Natur und ihrer internen Ordnungshaftigkeit zugeordnet werden. Wie kann nun der „transzendentale Schein" entstehen, dass die Wahrnehmungen für wahr gehalten werden, obwohl sie der „Denknorm" nach nicht wahr sein können? Dies ist möglich, weil der logischen Inkongruenz in der sinnlichen Wahrnehmung eine faktische Kongruenz entspricht, die auf dem Glauben beruht, es nicht mit Empfindungen, sondern mit wirklichen Gegenständen zu tan zu haben. „Denn obgleich die gegebenen Objekte (die Sinnesempfindungen) mit unserem Denkgesetze logisch nicht übereinstimmen, d. h. eben keine mit sich selbst wahrhaft identischen Dinge, keine wahren Substanzen sind, so sind sie doch faktisch demselben angepaßt und konform." Stellt sich für Spir das absolute Identitätsprinzip als unhintergehbare logische „Norm des Denkens" dar, dann ist folgerichtig, dass die Gewissheit sinnlicher Wahrnehmung dem Identitätsaxiom in logischer Hinsicht widersprechen muss: „Der unlogische Charakter ist von unserer Körpererkenntnis gar nicht zu trennen. Denn dieselbe besteht ja darin, daß wir unsere Sinnesempfindungen als etwas erkennen, das sie in Wahrheit gar nicht sind, nämlich als eine Welt von Substanzen im Räume." Der „unlogische Charakter" verweist auf den Zwiespalt zwischen der Wahrheitsnorm als absoluter Identität und der faktisch erzielten Wahrheit in der SinIQ

neswahrnehmung, die aber das Resultat von Naturgesetzen darstellt und damit dem Prinzip der werdenden Natur unterstellt ist. Der eigentliche Grund der Entsprechung liegt somit in einer Verwechslung, in einer „Metonymie", wie Nietzsche später sagen wird. Die Natur zeigt sich derart organisiert, dass sie selbst den Schein oder den Anschein der Entsprechung evoziert. Verwechselt wird somit Kausalität, als Prinzip logischer Ableitung, mit der Hypostase absoluter und relationsloser Identität. Auf die Frage, warum eine solche Verwechslung überhaupt möglich sein kann, gibt Spir eine metaphysische Antwort. Das Absolute muss aus sich herausgegangen sein, sonst könnte es nicht im Angesicht seiner Verwechslung erscheinen. Absolute Ordnung ist für die Entäußerung des Absoluten die ihm angemessenste Vorstellung. Zwischen der Substanz im Denken und der Natur als Inbegriff dieser Ordnung gibt es somit einen „einheitlichen Natargrund" den Spir, der Tradition gemäß, mit Gott identifiziert. ,

V.

Spir aus dem Sommer 1885 lässt sich entnehmen, dass Nietzsche die Problematisierung der Logik vornehmlich auf zwei Gesichtspunkte konzentriert. Die Reflexionen zur identitätstheoretischen Annahme, dass „es gleiche Dinge, gleiche Fälle Den Notizen

zu

Spir, a.a.O. 371.

Ebd., 370. Ebd., 352.

Logik, Metaphysik, Täuschung

257

giebt", von der Nietzsche behauptet, dass es sich hierbei um eine „Grundfiktion schon Urtheil"41 handelt, werden durch die radikale Hinterfragung einer philosophischen Wahrheitskonzeption der unmittelbaren Gewissheit flankiert. Auf Descartes zielend, stellt Nietzsche lapidar fest: „Der Glaube an die unmittelbare Gewißheit des Denkens ist ein Glaube mehr, und keine Gewißheit!"42 Sie gründen beide im Wesen der Logik als einem Glaubensakt, der Nietzsche in seiner Auffassung bestärkt, dass man der „Wahrheit entbehren" kann, wenn man den Glauben an sie besitzt.43 Es vermag demzufolge kaum zu erstaunen, dass Nietzsche sich Spirs Definition herausschreibt, die „logische Gesetze" bestimmt als „allgemeine Principien von Affirmation über Gegenstände, d. h. eine innere Nothwendigkeit, etwas von Gegenständen zu glauben". Er kommentiert diese allerdings mit einer kritischen und selbstbewussten Anmerkung: „Meine Grundvorstellungen: ,das Unbedingte' ist eine regulative Fiction [Herv. S. R.] der keine Existenz zugeschrieben werden darf, die Existenz gehört nicht zu den nothwendigen Eigenschaften des Unbedingten. Ebenso ,das Sein', die ,Substanz' alles Dinge, die nicht aus der Erfahrung geschöpft sein sollten, aber thatsächlich durch eine irrthümliche Auslegung der Erfahrung aus ihr gewonnen sind." ,,[D]as Unbedingte" wird als „Fiction" verabschiedet, insofern es auf einem unberechtigten Schluss von der Essenz auf die Existenz beruht, und es wird als „regulative Fiction" entlarvt, insofern über dessen Entstehung „aus der Erfahrung" ein Selbstmissverständnis nachgewiesen wird, das zur notwendigen Voraussetzung des „Unbedingten" zu gehören scheint. Allerdings ist der Formel auch zu entnehmen, dass allem Anschein nach auf die „regulative" Funktion der „Fiction" nicht verzichtet werden kann. Umrisse dieser „Grundvorstellungen" sind bereits in Ueber Wahrheit und Lüge vorgezeichnet, jedoch nicht mit der Konsequenz und Entschiedenheit ausformuliert, wie es Nietzsche jetzt auf dem Höhepunkt seines Philosophierens gelingt. Am Topos der sinnlichen Gewissheit demonstriert Spir, dass der Täuschungscharakter von Wissen auf dem Geltungsanspruch absoluter Identität basiert, der jedoch nicht durch sich selbst, sondern lediglich durch Gesetzmäßigkeiten der Sinnesorgane, und beim

-

somit nur zum Schein erfüllt wird. Dieser Schein der Gewissheit ist es, der zu der Annahme verführt, die Dinge seien tatsächlich so, wie sie dem Subjekt erscheinen. Mit der Auffassung, dass der Ursprung der Erkenntnis in einem logisch-metaphysischen Akt liege, greift Nietzsche diesen Grundgedanken Spirs auf und verschränkt ihn mit der von Gerber adaptierten Theorie einer metaphorischen Konstitution der Sprachgenese. Erst durch diese gegenseitige Verschränkung von Sprachmetaphorik und Erkenntnislogik erwächst Nietzsches Grundthema, dass im Wahrheitsbegriff ein ästhetisches Insignium eingeschrieben sei, das als rhetorisches gedeutet wird. Im Rahmen der Vorarbeiten zu Ueber Wahrheit und Lüge entwickelt Nietzsche Ansätze einer solchen ErkenntnisrhetoKSA, NF, 11, 35 [57]. Vgl. ebd., 40 [13]. „Die Logik ist geknüpft an die Bedingung: gesetzt, es giebt identische Fälle." Ebd., 40 [25]. Vgl. ebd., 40 [24]: „Man soll die Naivität des C[artesius] nicht verschönern und zurechtrücken, wie es z. B. Spir thut." Und 40 [22,23]. Siehe KSA. NF, 7, 21 [13]. Vgl. ebd., 19 [175], 19 [244], 19 [253/254], 29 [17]. KSA, NF, 11, 40 [12], vgl. Anm. 20. Ebd.

258

Sören Reuter

rik. Ein Notât der nachgelassenen Aufzeichnungen gibt hierüber erkennbaren Aufschluss: „Das Wesen der Definition: der Bleistift ist ein länglicher usw. Körper. A ist B. Das was länglich ist, ist hier zugleich bunt. Die Eigenschaften enthalten nur Relationen. Ein bestimmter Körper ist gleich so und so viel Relationen. Relationen können nie das Wesen sein, sondern nur Folgen des Wesens. Das synthetische Urtheil beschreibt ein Ding nach seinen Folgen, d. h. Wesen und Folgen werden identificirt, d. h. eine Metonymie. Also im Wesen des synthetischen Urtheils liegt eine Metonymie; d. h. es ist eine falsche Gleichung. D. h. die synthetischen Schlüsse sind unlogisch. Wenn wir sie anwenden, setzen wir die populäre Metaphysik voraus, d. h. die, welche Wirkungen als Ursachen betrachtet. Der Begriff ,Bleistift' wird verwechselt mit dem ,Ding' Bleistift. Das ,ist' im synthetischen Urtheil ist falsch, es enthält eine Übertragung, zwei verschiedene Sphären werden neben einander gestellt, zwischen denen nie eine Gleichung stattfinden kann. Wir leben und denken unter lauter Wirkungen des Unlogischen, in Nichtwissen und Falschwissen." Die Begriffe Identität, Metaphysik und Falschheit durchkreuzen sich wechselseitig und bilden ein semantisches Feld, das die Nähe zur philosophischen Überzeugung Spirs augenfällig werden lässt. Nietzsches Analyse der Begriffsdefinition arbeitet den Urmechanismus der „Metonymie" heraus, welcher der Entstehung des Begriffs vorausliegen soll. „Metonymie", wörtlich übersetzt, heißt ,Umbenennung', ,Vertauschung'. Was in der Definition eines Begriffs umbenannt, dadurch vertauscht, verwechselt und infolgedessen zum Inbegriff einer rhetorischen Konstitution der Begriffsbildung wird, ist das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung bzw. Wesen und Folge. Das philosophische Argument setzt mit der Feststellung an, dass die Dinge nicht als sie selbst, sondern lediglich in Form ihrer Wirkungen bekannt sind, insofern sie als Reize, Empfindungen oder Gefühle dem Subjekt vorliegen und entspricht dem im 19. Jahrhundert allgemein akzeptierten Empfindungsanthropomorphismus. Der logische Fehlschluss in der Begriffsdefinition besteht darin, dass nicht nur im Hinblick auf die Ab- bzw. Reihenfolge der einzelnen begriffsbildenden Schritte, sondern darüber hinaus auch in logischer Hinsicht eine folgenreiche Verkehrung vorgenommen wird, indem das, was als „Wirkung" erscheint, ins „Wesen" des Dings zurückgestellt wird. Das „synthetische Urteil", das Dingen Eigenschaften zuweist, setzt eine Wesensbestimmung des Dings voraus, auf die hin Eigenschaften festgestellt werden können. Erst durch die Verkehrung zwischen dem, was erscheint, und dem, was notwendig für die Erscheinung gehalten wird, wird das synthetische Urteil zu einem synthetischen Urteil. Nur so ist es zu verstehen, dass die „falsche Gleichung" im synthetischen Urteil selbst angelegt ist und der Urteilsakt eine „populäre Metaphysik" anwendet, sofern eben ein „synthetisches Urteil" gefallt wird. „Populäre Metaphysik" nicht anzuwenden, kann demzufolge nur bedeuten, kein „synthetisches Urteil" zu fallen. Die Besonderheit der Begriffsanalyse liegt darin, dass Nietzsche zwei Theorieansätze miteinander verklammert. Er setzt die

Frage

nach der

Entstehung

und

Bedeutung

von

KSA, NF, 7, 19 [243], vgl. auch das Notât 19 [204]. Er hat zur Grundannahme, dass sich das gesamte Wissen auf Empfindungen reduzieren lasse, und dass Empfindungen Zeichen bzw. Zeichensysteme darstellen, die in Wirklichkeitserfahrungen ü-

bersetzt werden.

Logik, Metaphysik, Täuschung

259

Begriffen gleich mit der Frage nach Entstehung und Bedeutung von Metaphysik. Diese Gleichsetzung ist jedoch nicht unproblematisch. Wenn Nietzsche konstatiert, dass das ,„ist' im synthetischen Urteil falsch [ist]", weil es eine unzulässige Hypostasierung impliziert, dann lässt sich dieses „ist" aber nur unter der Voraussetzung als „falsch" denken, wenn es zuvor in einem ontologischen und substantiellen Sinne interpretiert wurde. Die Anweisung, das synthetische Urteil als ein rhetorisches zu deuten, steht in unmittelbarer Abhängigkeit zu der Auffassung, dass der Vollzug eines synthetischen Urteils nur unter der Voraussetzung einer ontologischen Setzung denkbar ist. Der Widerspruch, der sich daraus ergibt und darin liegt, dass man nun einerseits das synthetische Urteil als ein rhetorisches, andererseits jedoch als ein metaphysisches auslegen soll, lässt sich für Nietzsche

nur

selbst

dadurch beheben, dass die Antinomie im Urteilsakt

begründet ist: Wenn immer ein synthetisches Urteil gefallt wird, „setzen wir die populäre Metaphysik voraus". Dies zeigt, dass Nietzsche im Anschluss an Spir die transzendentalphilosophische Genese des Geltungsanspruchs eines Erfahrungsurteils unter dem Vorzeichen einer Ontogenese versteht und deren Widersprüchlichkeit nicht als Problem einer methodischen Vorabentscheidung, sondern aus der Sache selbst heraus deutet. In dieser Selbstfesselung der Analyse liegt eine Tragik, die Nietzsche als Resultat der kantischen Transzendentalphilosophie deutet.48 Insofern Nietzsche denkt, dass die metaphysische Implikation im Erfahrungsurteil selbst angelegt ist, teilt er die philosophische Überzeugung Spirs. Von diesem Standpunkt aus ließe sich sehr gut erklären, inwiefern die Bildung der Begriffe mit der Herkunft der Metaphysik zusammenfallt, aber sie hat gleichwohl Konsequenzen, die Nietzsche nicht zu teilen bereit ist. Das Widerstreben, sich gänzlich der Position Spirs anzuschließen, ergibt sich aus dem Verhältnis zum „Ding an sich". Repräsentiert das „Ding an sich" etwas, das jenseits aller Erfahrung liegt, weil es lediglich die Grenze von Erfahrbarkeit festsetzt, dann ist zwar jedes Wissen vom „Ding an sich" prinzipiell unterschieden, weil es dieses nicht berührt. Aber mit der Annahme eines „Ding an sich" ist keineswegs die Behauptung verbunden, dass es einfache Erfahrungsurteile, wie z. B. das sinnliche Wahrnehmungsurteil reguliert. Hat das „Ding an sich", wie bei Spir, jedoch eine den gesamten immanenten Erfahrungsbegriff regulierende Funktion, dann kann diese absolut gesetzte Funktion nur als eine ontologisch gesetzte Entität des Bewusstseins verstanden werden, auch wenn Erfahrung den absoluten Geltungsanspruch nicht zu erfüllen vermag, wie es Spir konsequent ausführt. Wir werden Gott nicht los, weil wir, so Spir, die Erscheinungs- und Erkenntnisform der Welt nicht anders als göttlich, d. h. absolut denken können. Akzeptiert Nietzsche diese bereits von Spir vorgedachte Formulierung, dann teilt er implizit die Priorität des absolut gesetzten Geistes vor der Materie. Diese Implikation widerstreitet jedoch seiner Grundüberzeugung, dass Bewusstsein ein materiell-organisches Folgeprodukt der Evolution darstellt und nicht als ein Absolutes gesetzt werden darf. „Einen künstlerischen Vorgang ohne Gehirn zu denken ist eine „Das Tragische, ja Resignirte der Erkenntniß nach Kant.". KSA, NF, 7, 19 [248], vgl. ebd., 19 [319] „Veränderte Stellung der Philosophie seit Kant. Metaphysik unmöglich. Selbstcastration. Die tragische Resignation, das Ende der Philosophie. Nur die Kunst vermag uns zu retten." Und ebd., 19

[321] „Philosophie seit Kant todt."

260

Sören Reuter

starke Anthropopathie [...]." Als pathologisch stellt sich diese Annahme dar, weil sie Bewusstsein ohne sein Bedingtsein durch das Gehirn und ohne sein evolutionäres Gewordensein denkt. Aber gerade auf dieser Überzeugung beruht der Denkansatz Spirs. Teilt Nietzsche wiederum den materialistisch-evolutionistischen Denkansatz, hätte dies

unmittelbar Konsequenzen für die Deutung einer metaphysischen Implikation des Denkens. Es wäre verständlich zu machen, dass Metaphysik ein geschichtlich gewordenes Phänomen darstellt, aber es wäre nicht zu erklären, inwiefern die Bildung von Begriffen zusammenfallen soll mit der Konstituierung eines Absoluten, das der Begriffsbildung vorausliegt. Wohl ließe sich mit Popper feststellen, dass jeder Begriff Erfahrung transzendiert, insofern er eine Abstraktions- wie Verallgemeinerungsleistung darstellt °, aber es bliebe vollkommen ungeklärt, warum das synthetische Urteil als synthetisches Urteil auf einer substanziellen Verwechslung zwischen Wesen und Folge basieren soll. Diese lässt sich nur behaupten, wenn die metaphysische Implikation des Urteils als ahistorisch und ontologisch gedacht wird. Nietzsche versucht diese verzwickte Situation zu lösen, indem er beide Denkansätze synthetisiert, was ihm aber nur dadurch gelingt, dass er sie als tragische Faktizität behauptet. In der Verhältnisbestimmung zwischen der ästhetischen und der kognitiven Funktion der Sprache lässt sich dieses nicht aufgelöste Dilemma anschaulich demonstrieren. Sprache ist für Nietzsche in zweierlei grundlegender Hinsicht metaphorisch. Sie figuriert als universales Medium einer „Übertragung" zwischen Subjekt und Objekt, insofern sie etwas, das dem Subjekt zugehörig ist, als etwas anderes, was einem Objekt zugeordnet wird, bezeichnet. Nietzsche nennt diese Form der Übertragung das grundlegende „ästhetische Verhalten"51 zwischen Subjekt und Objekt. Metaphorisch ist diese „Übertragung", weil sich eine bruchlose Beziehung zwischen „zwei vollkommen verschieden Sphären" nicht denken lässt. Von dieser eher als methodisch zu bezeichnenden Fundamentalbedeutang der Metapher, die lediglich anzeigt, was als nicht sein-könnend gedacht werden soll, ist eine zweite elementare Funktion des Metaphorischen im Horizont der ersten eingefaltet. Sie betrifft das Verhältnis zwischen künstlerischen und begrifflich-erkennenden Formen von Übertragungen, das einerseits durch den kontinuierlichen Grundzug des Metaphorischen, andererseits durch eine nicht aufhebbare Differenz, durch einen als radikal zu bezeichnenden Bruch gekennzeichnet ist. Stellvertretend für diese doppelte Relation zwischen Kunst und Wissen steht in Ueber Wahrheit und Lüge das Verhältnis zwischen „Name" und „Begriff. Unter „Namen" versteht Nietzsche künstlerische Sprachformen, die metaphorisch sind, weil sie intentional auf Dinge bezogen sind und ihnen einen Namen verleihen, aber weder eine Erkenntnisfünktion noch eine Erkenntaisintention besitzen. Das unterscheidet sie von spezifischen Begriffsleistungen, denen durch das synthetische Urteil ein Erkenntniswert zukommt: „Denken wir besonders noch an die Bildung der Begriffe: jedes Wort wird sofort daKSA, NF, 7, 19 [79], Vgl.: „Den ,Geist', das Gehirnerzeugniß als übernatürlich zu betrachten! gar vergöttern, welche Tollheit." Ebd., 19 [127]. Diesbezüglich wäre auf Nietzsches Lektüre von

zu 50

51

Friedrich Albert Lange zu verweisen. Vgl. Anm. 10. Karl Popper, Logik der Forschung, zehnte, verbesserte und vermehrte Auflage, Tübingen 1994, siehe v. a. Anhang X, „Universalien, Dispositionen und Naturnotwendigkeit", 374f.

KSA, WL, 1,884.

Logik, Metaphysik, Täuschung

261

Begriff, dass es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisirte Urerlebnis, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, d. h. streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle, passen muss. Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen. So gewiss nie ein Blatt einem anderen ganz gleich ist, so gewiss ist der Begriff Blatt durch beliebiges Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet und erweckt nun die Vorstellung, als ob es in der Natur ausser den Blättern etwas gäbe, das ,Blatt' wäre, etwa eine Urform, nach der alle Blätter gewebt, gezeichnet, abgezirkelt, gefärbt, gekräuselt, bemalt wären, aber von ungeschickten Händen, so dass kein Exemplar correkt und zuverlässig als treues Abbild der Urform ausgefallen wäre."5 Während der Name ein Objekt, ein „individualisiertes Urerlebnis" bezeichnet, um sich womöglich an dieses Einzelding später erinnern zu können, ist der Begriff durch sein vergleichsbildendes Moment gekennzeichnet. Er dient weniger dazu, ein Ding zu bezeichnen, als verschiedene Dinge unter ein gemeinsames Merkmal zu subsumieren. Mit der Begriffsbildung, im Unterschied zur Namensgebung, verbindet Nietzsche die Überzeugung, dass der Begriff die Identität des Verschiedenen suggeriert, die den singulären Erlebnissen jedoch widerspricht. Der Verweis auf die „individuellen Urlebnisse", die Einzigartigkeit wie Unvergleichbarkeit implizieren, macht deutlich, dass der Verhältnisbestimmung zwischen Name und Begriff die logische Differenz zugrunde liegt, die Spir zwischen „Empfindung und Vorstellung" für wesentlich hält. Spirs logisch-metaphysische Unterscheidung zwischen „Empfindung und Vorstellung" wiederholt sich bei Nietzsche auf der Sprachebene im Verhältnis zwischen Name und Begriff. In dem Sinne, als der Name ein singulares Erlebnis bezeichnet, liegt die Form von ästhetisch-expressiver, aber auch absoluter Selbstbezüglichkeit vor, die Spir mit dem Begriff der absoluten Identität verbindet. Der Bruch zwischen Name und Begriff wird durch das Prinzip der Affirmation vollzogen, welches das synthetische Urteil kennzeichnet. In diesem Bruch innerhalb des Metaphorischen unterteilt sich Sprache in ihre ästhetische und kognitive Funktion. Wenn Begriffen in dieser Hinsicht von Nietzsche „Unwahrheit" unterstellt wird, dann bedient er sich desselben Arguments wie Spir. Die „Unwahrheit" resultiert aus einer für notwendig erachteten Annahme von absoluter Identität, die jedoch durch die tatsächliche Bildung des Begriffs in einen Widerspruch zu sich selbst gerät. Weil Begriffe Substantialität voraussetzen, aber nicht zu erfüllen vermögen, können sie als fiktional gedeutet werden.53 Was demzufolge Begriffe von Namen in logischer Hinsicht trennt, ist nicht ihr beiden zukommender metaphorischer Charakter, sondern die Tatsache der von Nietzsche ästhetisch gedeuteten Selbstbezüglichkeit der Namen im Gegensatz zur metaphysisch gedeuteten Erkenntnisfunktion der Begriffe. Der Unterschied ist ein logischer und keiner in Hinsicht auf ihren Stellenwert als Metapher. Erst vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, wie Ästhetik und Logik ineinandergreifen können und den Zusammenhang zwischen Sprache als Kunst und Sprache als Medium der Erkenntnis fundieren. durch

Ebd., 879f. Jeder Begriff stellt eine

Metonymie dar. Vgl.

19

[204] und

19

[249]. KSA, NF, 7, a. a.

O.

Sören Reuter

262

Dass sich durch die Sprache ein Riss zieht, der sie in zwei von eineinander getrennte und nicht ineinander überführbare Sphären aufspaltet, wird von Nietzsche somit dadurch begründet, dass der Begriff in seiner Funktion, ein Urteil zu realisieren eine metaphysische (platonische) Idee enthält, die sie immer schon als realisiert erscheinen lässt. Sofern mit der Sprache lediglich ein expressiver namensgebender Akt verbunden wird, verharrt sie in einem ästhetischen Solipsismus und verzichtet auf jegliche Erkenntnisintention. Dieser nicht aufhebbare Gegensatz zwischen „Name" und „Begriff spiegelt sich im zweiten Teil von Ueber Wahrheit und Lüge im antipodischen Verhältnis zwischen dem „intuitiven" Menschen, dem Künstler, und dem „stoischen" Menschen, dem Wissenschaftler. Dass in der „logisch-unlogischen" Interpretation der Begriffsbildung eine geschichtsphilosophische Deutangsperspektive eingewoben ist, die den Bruch zwischen künstlerischer und erkenntnismotivierter Sprachmodellierung herauszustellen helfen soll, wird am Begriff der „Konvention" ersichtlich. Durch die Begriffsbildung zieht sich in zweierlei Hinsicht die Loslösung von einem als urkünstlerisch gedachten Zustand. Im Gegensatz zu Spir deutet Nietzsche die Begriffsbildung nicht allein aus der Logik, sondern parallel hierzu aus einer sozial-gesellschaftlichen Perspektive heraus, womit beide Interpretationsansätze wiederum in eine Konkurrenzsituation zueinander treten. Der Bruch zwischen Namensgebung und Begriffsbildung wird aus dieser Perspektive durch einen gesellschaftlichen Zwang vollzogen. Begriffe werden in einer allgemein anerkannten und verbindlichen Form festgesetzt. Der Lügner erscheint für Nietzsche demzufolge als derjenige, der einer verbindlichen Konvention widerspricht, insofern er Dinge anders benennt, indem er z. B. sagt „ich bin reich, während für diesen Zustand gerade ,arm' die richtige Bezeichnung wäre."54 Im Rahmen dieser Deutungsperspektive entsteht für Nietzsche das Wahrheitsbedürfnis aus zwei gegensätzlichen Motiven: „Zwei zu verschiedenen Zwecken nöthige Eigenschaften die Wahrhaftigkeit und die Metapher haben den Hang zur Wahrheit erzeugt. Also ein moralisches Phänomen, aesthetisch verallgemeinert, erzeugt den intellektuellen Trieb."55 Das moralische Phänomen verweist auf das Konventionsbedürfnis des Menschen, der sein soziales Verlangen nach Gesellschaft mit einem impliziten Zwangsmechanismus ausstattet, indem er fordert, der andere möge sich den Regeln unterwerfen, die er für sich selbst cum grano salis anerkennt. Im Hinblick auf die „Unwahrheit" und „Fiktionalität" jeglicher Erkenntnis bietet Nietzsche somit zwei ineinander verschachtelte Erklärungsansätze an. Wahrheit ist einerseits gleichbedeutend mit Konvention und menschlicher Willkür, wodurch sie sich als Spielball menschlicher Interessen darstellt, andererseits wird die Unwahrheit der Wahrheit dadurch aufgewiesen, dass Begriffe eine ontologisch-metaphysische Implikation besitzen. Wenn man die Konventionsthese als die Außenseite einer Theorie der Wahrheit ansieht, weil sie lediglich die Fixierung von verbindlichen Bezeichnungen problematisiert, ohne die Semantik des Wahrheitsbegriffs selbst zu untersuchen, so stellt sich die metaphysische Deutung als deren Innenseite dar, die jedoch der menschlichen Willkür entzogen zu sein scheint. Denn die metaphysische Implikation des Wahrheitsbegriffs ist nicht durch das Konven-

-

-

-

-

-

KSA.WL, 1,877. Nietzsche, KSA, NF, 7, 19 [178]. Vgl. 19 [179] ,f)er Mensch

geworden,

durch die unabsichtliche Paarung zweier Qualitäten."

ist

zufällig ein

erkennendes Wesen

Logik, Metaphysik, Täuschung

263

tionsbedürfhis, sondern durch die Erkenntnisintention begründet. Damit zeigt sich, dass die

Konventionshypothese auf der metaphysischen Begriffsanalyse aufruht und nicht umgekehrt. Dass Metaphysik sich als (geschichtlich gewordene) Konvention zu äußern vermag, lässt sich nur dadurch begreifbar machen, dass sie die Fortsetzung wie Steigerung der „Metonymie" auf ihrer höchst möglichen Stufe darstellt, die bereits im Wesen des begrifflichen Denkens angelegt ist. Im Denkhorizont von Ueber Wahrheit und Lüge ist demzufolge die Intention einer „Überwindung von Metaphysik" nur im Rahmen einer Gegensatzbestimmung zum Erkennen, d. h. zur Erkenntnisfunktion der Sprache

denkbar. Die Kritik einer philosophischen Theorie der unmittelbaren Evidenz, die Nietzsche in den Notizen von 1885 in erster Linie auf Descartes' Cogito richtet, muss in der frühen Rezeption Spirs auf den Willensbegriff Schopenhauers bezogen werden. Für Nietzsche dürfte die Lektüre von Denken und Wirklichkeit auch deshalb aufschlussreich gewesen sein, weil Spir der Schopenhauerischen Willensphilosophie sehr skeptisch gegenüber stand. Im Hinblick auf diese stellt Spir vornehmlich zwei ihrer Grundvoraussetzungen radikal in Frage: Er bezweifelt den Begriff eines reinen, triebhaften und blinden Begehrens, auf den hin erst Lust- und Unlustzustände folgen. Vielmehr zeigt es sich, dass das Begehren durch Lust und Unlust bedingt ist, der Wille die Folge, nicht der Grund des Begehrens darstellt. „In der Tat, ist es nicht eine unzweifelhafte und unverkennbare Tatsache, daß alles Wollen aus Nichtbefriedigung entsteht und Befriedigung zum Endziel hat?"56 Mit dieser Auffassung ist der Wille als metaphysisches Grundprinzip bestritten. Der zweite prinzipielle Angriffspunkt gegen Schopenhauer zielt auf dessen Annahme, dass der Wille (als Körper) unmittelbar gewiss sei und dass aus dieser unmittelbaren Gewissheit auf die Unbedingtheit des Willens geschlossen werden könne. Diese für Schopenhauer elementare Überlegung bestreitet Spir mit dem Argument, dass jede Körperwahrnehmung, d. h. somit auch jede Körpergewissheit auf einer Empfindung beruht, die lediglich als Körper erscheint und aus dem Grunde allein im Modus der Vorstellung gedacht zu werden vermag. Die Gewissheit des eigenen Körpers beruht somit auf demselben Charakter der Scheinhaftigkeit wie die Erfahrung äußerer Wirklichkeit. Die Gewissheit des eigenen Körpers ist damit durch eine metaphysische Implikation bedingt. Eine etwas längere Passage verdeutlicht diesen Gesichtspunkt: „Unser Ich beruht auf dem Selbstbewußtsein, wir sind nur dadurch, daß wir uns selbst erkennen. Daraus folgt dieses: Nur dasjenige bildet einen Teil unserer selbst oder unseres Ich, was einen Teil unseres Selbstbewußtseins bildet, was wir unmittelbar, intuitiv als uns eigen erkennen. Nun können wir unsere Gliedmaßen, wie Hände, Arme, Beine usw., unmöglich in unserem Selbstbewußtsein ursprünglich angetroffen, als einen Teil unserer selbst erkannt haben. Denn die Wahrnehmung dieser Gliedmaßen ist, wie die Physiologie konstatiert hat, durch die Nerven und das Gehirn vermittelt. In uns selbst, in unserem Selbstbewußtsein finden wir unsere Hände und Füße nicht, sondern nur die Folgen der Nervenerregungen, welche in diesen ihren Anfang nehmen. Die körperliche Beschaffenheit unserer Hände, Füße und anderer Glieder können wir auf keine andere Weise erkennen als auch die Beschaffenheit anderer, außer unserem Leib liegender Spir, a. a. O. 484.

264

Sören Reuter

Körper, nämlich durch Sehen und Betasten." Dieses Argument Spirs trifft sich mit Nietzsches eigenen Reflexionen, die bereits in den Nachlassfragmenten zur Geburt der Tragödie das zunehmend kritische Verhältnis zu Schopenhauer dokumentieren. Was Nietzsche zunehmend in Zwiefel zieht, ist die Möglichkeit, sich des Absoluten in der unmittelbaren Gewissheit bewusst werden zu können, sei dies nun im Willen, im performativen Kunsterlebnis oder im Begriff des Subjekts. Mit dieser Ausrichtung der Kritik steht Nietzsche im Bann eines Denkmotivs, das Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft mit dem Stichwort der „intellektuellen Anschauung" belegt hat.59 Darunter verstand Kant die Möglichkeit einer unmittelbaren Anschauung eines Nichtsinnlichen, also Intelligiblen, im Bewusstsein, die Kant grundlegend bestreitet, weil der Glaube einer solchen unmittelbaren Einsicht in das Absolute auf einem „transzendentalen Schein" beruht, indem die „subjektive Bedingung des Denkens vor die Erkenntnis des Objekts gehalten wird."60 Herauszustellen ist jedoch weniger, dass Nietzsche dieses Denkmotiv Kants in legitimer Weise aufgreift und radikalisiert, sondern die Tatsache, dass in dessen Aneignung zugleich ein folgenreiches Missverständnis kolportiert wird. Dieses betrifft weniger die kantische Definition von „intellektueller Anschauung", als Kants Deutung dieser Formel im Zusammenhang mit der Wissenschaftslehre Fichtes. Bei Fichte hat die „intellektuelle Anschauung" zunächst eine transzendentale Bedeutangsfunktion, indem sie auf die Nichthintergehbarkeit wie Unbegründbarkeit des sich seiner selbst gewissen Ich verweist. Transzendentalphilosophie ist für Fichte gleichbedeutend mit dem Rückgang des Ich in seine selbst gesetzten Bedingungen. Es kann von diesen nicht abstrahieren und einen Begriff von sich entwerfen, von dem es keine Anschauung hat. So schreibt Fichte im Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797/98) über die „Tathandlung" des Ich: „Er kann den angegebenen Akt des Ich nur in sich selbst anschauen, und um ihn anschauen zu können, muß er ihn vollziehen [...] Jenes Handeln ist eben der Begriff des Ich, und der Begriff des Ich ist der Begriff jenes Handelns, beides ist ganz dasselbe [...] Es ist so, weil ich es so mache."61 Kant hat die Pointe dieses Fichteschen Gedankens missverstanden, indem er der Meinung war, Fichte hätte mit dem Begriff „intellektuelle Anschauung" gerade die philosophische Intention verfolgt, die er in der „transzendentalen Dialektik" selbst als absurd und undenkbar aufgezeigt hatte. Das kantische Missverständnis bestimmt weite Teile der Fichte-Rezeption, es 57

58

59 60 61

62

Ebd., 335. Siehe KSA, NF, 7,

a. a. O. das Fragment 5 [80], welches das Verhältnis zwischen Gefühl und Vorstellung thematisiert. Vgl. ebd., 7 [167] „Alles was lebt, lebt am Scheine. Der Wille gehört zum

Schein." KrV. a. a. O. 39. Ebd., 393. Joh. Gottlieb Fichte, Versuch einer neuen verbesserte Auflage, Hamburg 1984, 40.

Darstellung der Wissenschaftslehre (1797/98), zweite,

Vgl. Wolfgang Janke, „Intellektuelle Anschauung und Gewissen, Aufriss eines Begründungsproblems", in: Fichte-Studien, Bd. 5 (1993), 21-55. Vgl. auch Jürgen Stolzenberg, Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung, Die Entwicklung in den Wissenschaftslehren 1793/94 bis 1801/02, Stuttgart

1986.

Logik, Metaphysik, Täuschung

265

prägt nicht nur das Fichte-Bild Schopenhauers, sondern auch, was für diesen Kontext relevant ist, die Fichte-Deutung Spirs. Auch Spir verkennt grundlegend die Bedeutung der „intellektuellen Anschauung" bei Fichte, insofern er die für Fichte elementar wich-

tige methodische Unterscheidung zwischen dem relativen Absoluten und dem Absoluten einebnet. Die Auswirkungen dieses Missverständnisses der von Kant geprägten Kritik der „intellektuellen Anschauung" erweisen sich jedoch als beträchtlich, wenn man sie auf eine Theorie des Selbstverhältnisses bezieht, die der gesamten Philosophie des 19. Jahrhunderts implizit zugrunde liegt. Auf der einen Seite beschränkt sich die Hinterfragung des Absoluten im Denken auf eine Intention, die sich selbst im Kreise zu

drehen scheint, da sich der kantischen Kritik des „transzendentalen Scheins" in dieser Hinsicht nichts mehr hinzufügen lässt. Auf der anderen Seite ist auffallend, dass durch die ausschließliche Konzentration der kritischen Methode auf das Absolute im Sinne eines „Ding an sich" der Blick auf das transzendentale Ich in seiner wissensbegründenden Funktion verstellt wird. Es geht im Kern darum, mit den Konsequenzen einer widersprüchlich erscheinenden Theorie zurechtzukommen; inwiefern die transzendental aufweisbare Wissensstruktur jedoch, wie Fichte herausarbeitet, selbst absolut, d. h. nicht durch ein anderes begründbar ist, eine konstruktive Funktion übernimmt, gerät außerhalb des Blickfeldes. Überschattet von der Selbstauflösung des Absoluten, spielt sie in methodischer Hinsicht keine relevante Rolle mehr. Auch bei Nietzsche zeigt sich die Neigung, das Denken in Gegensätze auseinanderzuziehen, dem Absoluten den Begriff eines ausschließlich Immanenten entgegenzusetzen, um das Absolute ad absurdum führen zu können. Der absolute Einheitsgrund des Willens wird in eine unendliche Vielheit des Willens, in „Empfindungskomplexe" aufgelöst, die zunehmend in immer weitere Elementarfünktionen zerlegt werden. Das anfangs zitierte Fragment über Nietzsches Skizze einer „Zeitatomistik" scheint mir für diesen Umkehrschluss ein deutlicher -

-

-64

Beleg zu sein. Nimmt

Standpunkt einer materialistischen, an den Naturwissenschaften Perspektive ein, der es um die Bildung erfolgversprechender Erklärungsgeht, mag dieser Umkehrschluss Nietzsches legitim erscheinen. Weniger jeman

den

orientierten modelle

doch, wenn man ihn in den Kontext einer Kritik des Selbstbewusstseins stellt, aus der Nietzsches Wahrheitskritik hervorgeht. Denn die Auffassung, dass „unmittelbare Gewissheit" nicht das Absolute selbst realisieren kann, erlaubt keineswegs den Schluss, dass Gewissheit eine Fiktion darstellt, die sich Gewohnheiten zusammensetzt, wie es Nietzsche nahelegt. Diesem Schluss widersetzt sich Fichtes Einsicht in das Ich hinsichtlich seiner relativen Absolutheit, die besagt, dass Gewissheit nur aus sich selbst heraus erklärbar ist. Gegenteiliges zu unternehmen, kann nur bedeuten, entweder einem Zirkelschluss oder einem performativen Selbstwiderspruch zu erliegen. Dass diese Einsicht vor allem methodische Konsequenzen hat, lässt sich an Nietzsches Spir-Konzentrat „Ich Vgl. Schopenhauers Dissertation, wo er gegen das Ich Fichtes polemisiert und unterstellt, Fichte habe mit dem Ich einen leeren Begriff, d. h. einen Begriff ohne Anschauung erzeugt. Schopenhauer, Über die vierfache Wurzel des Satzes vom Grund. Eine philosophische Abhandlung, Rudolstadt 1813,68.

Vgl. Anm.

13.

266

Sören Reuter

habe nichts als Empfindung und Vorstellung" präzisieren. Unklar bleibt, welche methodische Funktion das „Ich" in der Konstatierung dieses Sachverhalts hat, da die eigentlichen Konstitaenten „Empfindung und Vorstellung" das Subjekt nicht enthalten. So heißt es zwar: „Das Vorstellende kann sich nicht ,nicht vorstellen', wegvorstellen. Das Vorstellende kann sich nicht als geworden denken, noch als vergehend."66 Aber das Prinzip des Vorstellens, von dem, laut Text, nicht abstrahiert werden kann, ist keineswegs mit einem Ich-Bewusstsein identisch, das im Vorstellen sich als Vorstellendes weiß. Der Begriff des Vorstellens, so wie Nietzsche ihn gebraucht, erfordert eine elementare Form von Bewusstsein, aber kein Selbstbewusstsein. Er geht vom Prinzip des Organischen, nicht vom menschlichen Bewusstsein aus. Sofern jedoch ein Vorstellendes von sich als einem Vorstellenden weiß, dann ist es nicht nur das Vorstellen, sondern in erster Linie die Selbstbezüglichkeit des Vorstellens, wovon nicht abstrahiert werden kann. Die Selbstbezüglichkeit des Vorstellens ist jedoch, wie Fichte zeigt, an eine nicht hintergehbare Form des Wissens und damit der Wahrheit geknüpft. Der Satz „Ich habe nichts als Empfindung und Vorstellung" verweist auf ein methodisches Problem, das die Konstitution des Ich betrifft. Nietzsche scheint der Auffassung gewesen zu sein, dass das transzendentale Subjekt als Bedingung von Bewusstsein im Prinzip der Vorstellung nicht als notwendige Voraussetzung enthalten ist, aber aus „Empfindung und Vorstellung" abgeleitet werden könne. So stellt er in einem nachgelassenen Fragment fest: „Es ist möglich, die Empfindung materiell zusammenzusetzen: wenn man den organischen Stoff erst materiell erklärt hat [...] Wenn man im Stande wäre ein empfindendes Wesen aus Materie aufzubauen wäre dann nicht die eine Hälfte der Natur enthüllt?"67 Diese Hypothese korrespondiert mit der Aussage: „Unsere Sinne aber sind das Produkt der Materie und der Dinge, ebenso unser Geist. Ich meine: man muß von den Naturwissenschaften aus zu einem Ding an sich kommen." Mit der ,,eine[n] Hälfte der Natur", von der Nietzsche hypothetisch annimmt, sie könne womöglich durch die Naturwissenschaften „enthüllt" werden, ist der gesamte Bereich des Materiell-Organischen abgedeckt; mit der anderen Hälfte ist weniger der Inbegriff von Intelligenz, als die Tatsache des Bewusstseins gemeint, da Nietzsche die intellektuellen Fähigkeiten des Organischen in den gesamten Empfindungskomplex hineinzieht.69 Dass diese Deutung richtig ist, bestätigt die folgende Notiz: „Nicht das Erwachen der Empfindung, sondern das des Bewußtseins in der Welt, ist das Schwere. Aber doch noch erklärbar, wenn alles -

Empfindung hat."70

KSA., NF, 7, 26 [12], vgl. Anm. 14. Ebd.

Ebd., 21 [17]. Ebd., 21 [16]. Im Notât 19 [149] reflektiert Nietzsche darauf, ob die „Empfindung eine Urthatsache der Materie" in Form von „Anziehung und Abstoßung" sei. Das Notât 19 [165] stellt den internen Urzusammenhang zwischen Empfindung und Intellektualität heraus. „Wenn Gedächtniß und Empfindung das Material der Dinge wären!" Beide Nótate, KSA, NF, 7, a. a. O. Vgl. ebd., das Notât 19 [161], das „Lust Unlust Empfindung Gedächtniß Reflexbewegung" dem „Wesen der Materie" zuordnet. Ebd., 19 [159].

Die Problemfrage ist, was Nietzsche unter der möglichen Erklärbarkeit des Bewusstseins aus Empfindungen verstanden wissen will. Nimmt er in einem hypothetischen Sinne an, dass es im Zuge naturwissenschaftlicher Erklärbarkeit der Dinge möglich sei, die Tatsache des Bewusstseins aus der Konstitution von Empfindungen abzuleiten oder aber will er lediglich darauf hinweisen, dass im Horizont eines darwinistischevolutionären Weltbildes das Phänomen Bewusstsein lediglich als ein Folgeprodukt der Evolution begreifbar sein kann, damit grundsätzlich in Abhängigkeit zum Gehirn als seinem materiellen Träger bleibt? Der Unterschied zwischen beiden Positionen liegt im Erklärungsanspruch, der sich methodisch in divergierender Weise bemerkbar macht. Im ersten Fall lautet die These, dass Bewusstsein im elementaren Komplex „Empfindung und Vorstellung" nicht enthalten ist, die Entstehung von Bewusstsein jedoch nicht nur aus ihm hervorgehe, sondern auch nachgewiesen werden könne, wie sich Bewusstsein aus „Empfindung und Vorstellung" synthetisch vereinigen ließe. Die methodische Grundannahme kann demzufolge nicht lauten: „Ich habe nur Empfindung und Vorstellung", sondern „Es gibt nur Empfindung und Vorstellung". Dann musste gezeigt werden können, wie das Bewusstsein aus etwas entsteht, das nicht Bewusstsein hat. Da ein solches Beweisverfahren nur unter der Voraussetzung geführt werden kann, dass man bereits über Bewusstsein verfügt, liegt eine zirkuläre Argumentation vor. In dieser Hinsicht wäre von einer Entstehungstheorie des Bewusstseins zu fordern, dass sie eine Klärung dieser Voraussetzungen in methodischer Hinsicht vornimmt. Die zweite Erklärungshypothese besagt lediglich, dass das Bewusstsein durch das Gehirn bedingt ist und wie John R. Searle vermutet eine „Eigenschaft"71 des Gehirns darstellt, aber sie schließt keineswegs den Erklärungsanspruch der ersten These ein, wenn hinreichend Klarheit über die methodischen Schwierigkeiten einer evolutionären Erkenntnistheorie72 bestehen. Die Zwickmühle, in der Nietzsche sich offenkundig befindet, ist darin zu sehen, dass er den performativen Wissensvollzug des Bewusstseins mit einem metaphysischen Geltangsanspruch ausstattet und diesen zugleich als rein evolutionäres Produkt deuten will. Hierin zeigt sich der Unterschied gegenüber der Position, die Nietzsche noch in der Geburt der Tragödie eingenommen hatte. Ließ sich dort der performative und symbolisch ausgedeutete Kunstprozess als ein Mitgehen mit einem als „Urkünstler" gedachten Gott verstehen, so kehrt sich jetzt, vor dem Hintergrund einer erkenntnisphilosophisch motivierten Wahrheitskritik, die Einstellung zum Charakter des Performativen. Die Dekonstruktion des Wahrheitsbegriffs, die Nietzsche in Ueber Wahrheit und Lüge vornimmt, setzt im Grunde nur scheinbar an der metaphorischen Konstitution der Sprache an. Ihr geht die Überzeugung voraus, dass jede Form von Wissen als „transzendentaler Schein" entlarvt werden kann, weil in diesem eine metaphysische Annahme eingelassen ist. Spir überzeugt Nietzsche in der Richtigkeit dieser Annahme und stärkt dessen Tendenz, in absoluten Gegensätzen zu denken. Was bedeutet dies nun für die Konstruk71

n

John Richard Searle, Geist, Hirn und

Wissenschaft, Die Reith Lectures 84, Frankfurt/M. 1986, vgl. I. Das Körper-Geist-Problem, 12-26, 19f. Zur Problematik vgl. Wilhelm Lütterfelds, „Hat die idealistische Erfahrung eine naturalistische Basis? Fichtes frühe Transzendentalphilosophie und die evolutionäre Erkenntnistheorie", in: Fichte-Studien Bd. 4 (1992), 86-118.

268

Sören Reuter

„Ding an sich" in Ueber Wahrheit und Lügel In Gestalt einer Metaphysik der Logik erzeugt und perpetaiert sie den „transzendentalen Schein", der mittels des „Metapherntriebs" einerseits erklärt und andererseits zum Verschwinden gebracht werden soll. Die Widersinnigkeit des Wahrheitsbegriffs, die sich bei Nietzsche als Tragik des (metaphysischen) Denkens zuspitzt, erweist sich letztlich als Widersinnigkeit der transzendentalen Methode, die sich in einer extrem radikalisierten Version den Spiegel ihrer tion des

ambivalenten und zirkulären Grundverfasstheit vorhält.

Renate Reschke

Die verlorene Geliebte und ihr neues Domizil Friedrich Nietzsche über Religion und Kunst in der Moderne

Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen nachlassen. Sie übernimmt eine Menge durch die Religion erzeugter Geßhle und Stimmungen (Menschliches, Allzumenschliches I) "

I.

Philosophie liest sich wie eine dramatische und zugleich inszenierte Ortsbeschreibung der geistigen Befindlichkeiten der Moderne. Im Herbst 1887 notiert der Philosoph, er wolle sich einen „Gesamtüberblick" über das 19. Jahrhundert, „über die ganze Modernität, über die erreichte Zivilisation'" (KSA, NF, 12, 440) verschaffen. Das Resultat soll eine historische Begründung der Notwendigkeit der Umwertung aller Werte

Nietzsches

darstellen. Dabei treibt ihn das Thema der Modernität um. An und mit ihm ließe sich, so ist er überzeugt, das neuzeitliche (Kultur)Phänomen als Charakteristikum eines sich selbst zugleich anekelnden und sich darin genießenden Zeitalters erfassen, das unter dem offiziellen Stichwort des Fortschritts in der Optik seiner Kritiker unter dem des Nihilismus spätestens seit dem 18. Jahrhundert auf dem Wege ist, sich mit ambivalenter Souveränität von allen tradierten Werten, d. h. vom Wertehorizont eines abendländischchristlich geprägten Kulturverständnisses zu lösen und doch über den bloßen Ansatz dazu entweder nicht hinauskommt oder sich seiner perennierenden Gültigkeit mit dem Gestus verachtender Akzeptanz zu ergeben scheint. Er sieht sich in guter Gesellschaft dabei: Charles Baudelaire, Gustave Flaubert, Fjodor M. Dostojewski, Georg Brandes.1 Mit dem Thema der Modernität verbindet sich für Nietzsche das ganze System kultureller Werte in einer bis dato nicht zu formulieren gewagten Fragwürdigkeit. Fragwürdigkeit im Sinne des Wortes, für eine kulturelle Situation, in der das Fragen sich nicht nur -

-

Georg Brandes fühlt er sich verpflichtet durch dessen Äußerungen zur Modernität: „Sie haben mich auf das Angenehmste mit Ihrem Beitrag zum Begriff .Modernität' verpflichtet; denn gerade diesen Winter ziehe ich in weiten Kreisen um diese Werthfrage ersten Ranges herum, sehr oberhalb, sehr vogelmäßig und mit dem besten Willen, so unmodern wie möglich aufs Moderne herunterzublikken." (Brief vom 19.2.1888, KGB VIII 258).

270

Renate Reschke

als

würdig, sondern vor allem die Infragestellung sich als ebenso notwendig wie als ein Moment ihres fragil gewordenen Selbstverständnisses herausgestellt hat. Nietzsche will bis an die Wurzeln dieser Infragestellung gehen, er will ihre schein-, geist- und wertgewordenen Sicherheiten aufstören und als bloße perspektivische Gewohnheiten ad absurdum führen. Mit dem Blick des Kulturkritikers, den weniger Gesellschaftsfragen allgemein interessieren, als vielmehr der „Cultur-Complex [...] (gleichsam als Ganzes, bezüglich in seinen Teilen)" (ebd., 470), geht sein Hauptverdacht gegen das System der Moral, gegen die moralischen Werte, die ihrerseits Ausdruck einer religiös-christlich fundierten, und damit einer grundlegend anachronistisch gewordenen Weltsicht sind. Anachronistisch, weil sie historisch aufge(verbraucht, abgegolten, erschöpft und nur noch als lebenszerstörende Schimäre eine erbärmliche, aber keineswegs machtlose Existenz fristet. Dem Christentum, als der „ausschweifendste[n] Durchfigurirung des moralischen Thema's" und als dezidierter Wille, „nur moralische Werthe gelten zu lassen" (KSA, GT, 1, 18), ist darum nicht nur jeder Anspruch als Wertegebungsinstanz ab-, sondern auch die (Mit)Verantwortung zuzusprechen, die ungeheure Wertekrise neuzeitlicher Kultur, wenn nicht hervorgerufen, so doch wesentlich provoziert und geprägt zu haben. Nietzsche sieht in ihm die „gefährlichste und unheimlichste Form aller möglichen Formen eines ,Willens zum Untergang', zum Mindesten ein Zeichen tiefster Erkrankung" (ebd.) und will der Kultur- und Wertekrise der Moderne auf die Spur und auf den Grund kommen: Dazu muss er das weite Feld der Religion ins Auge der Kritik fassen, fragen, worin ihre Gründe, Bedeutungen und Gefährdungen für die Kultur bestehen, warum der Mensch sie zu Zeiten braucht und von welchem Punkt an er sich von ihr zu trennen hat, um weiter leben zu können. Und vor allem, was wird aus der Religion, wenn ihre Glaubenssätze wie in der Moderne nicht mehr zu den kulturellen Selbstverständlichkeiten gehören. Wird sie einfach aufgegeben, wandelt sie ihre Gestalt, stirbt sie den Tod ihrer Hauptakteure oder besetzt sie neue und andere oder erneuerte alte Territorien des Geistes und der Kultur? Der moderne Mensch unterwirft sich nicht länger, da ist Nietzsche sicher, dem Herrschaftsanspruch der Religion, er sucht die Chance zur Aufhebung seiner selbstverschuldeten Selbstentfremdung, seiner Unterwerfung unter eine Weltbegründung, der ihr Grund (im Sinne des Wortes) abhanden gekommen ist.3 Der Philosoph weiß aber um die Resistenz ihrer Erklärungsmuster und Sinngebungen, dass sie nicht einfach außer Kraft -

-

Elisabeth Kuhn hat

diesbezüglich auf Nietzsches Exzerpte aus Ferdinand Brunetières Études criti(E. Kuhn, „Cultur, Civilisation,

ques sur l'histoire de la littérature française, Paris 1887 verwiesen

Die

3

Zweideutigkeit des .Modernen'", in : Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für Nietzsche-Forschung, hg. von E. Behler, W. Müller-Lauter, H. Wenzel, Bd. 18 (1989).

die

Martin Heidegger hat es so formuliert: „Was vormals in der Weise von Ziel und Maß das Menschenwesen bedingte und bestimmte, hat seine unbedingte und unmittelbare und vor allem überallhin unfehlbar wirksame Wirkungsmacht eingebüßt. Jene übersinnliche Welt der Ziele und Maße erweckt und trägt das Leben nicht mehr. [...] der übersinnliche Grund der übersinnlichen Welt ist, als die wirksame Wirklichkeit alles Wirklichen gedacht, unwirklich geworden. Das ist der metaphysische Sinn des metaphysisch gedachten Wortes ,Gott ist tot'", M. Heidegger, Holzwege, 34.

Die verlorene Geliebte und ihr neues Domizil

271

sind. Die moderne Wissenschaft kann ihrerseits nur andere Irrtümer anbieten, die Wahrheit nicht und nicht „die Trostmittel der höchsten Art", die der moderne Mensch nötig hat, weil er bereits zu sehr ein Produkt und Opfer der Zivilisation geworden ist, verzärtelt, reizbar, elend und leidend (KSA, MA, 2, 108). Den Verdacht, die Religion5 werde nicht ohne Widerstand ihre Position(en) in der modernen Kultur aufgeben, hegt Nietzsche schon frühzeitig. Sie werde noch in ihren Niedergangsformen die Welt tyrannisieren, weil sich ihr Gott bis in die letzten, tiefsten Strukturen und Mentalitäten der Kultur (Sprache, Denken, Grammatik, Metaphysik) eingelassen habe, und es sei fraglich, ob sie sich je wirklich und absolut überwinden lasse. Religiöse Deutungs- und Sinngebungsmuster könnten, so Nietzsche, andere mentale und kulturelle Beziehungen eingehen und sich in neuen, unangreifbareren geistigen Topographien ansiedeln, denen sie sich anverwandeln und die sie zugleich infizieren mit ihrer Logik und ihren Vorstellungen von den ersten und letzten Dingen, die trügerisch ihre Unverzichtbarkeit formulieren und ins kulturelle Bewusstsein und Gedächtnis festsetzen sollen. Eine Art Endlosgeschichte der Wirksamkeit, genauer der Nachwirkungen des geistigen Machtfaktors Religion in der Kultur der Moderne. Nicht zufällig stammt die Passage, die paraphrasiert hinter dem Titel dieses Vortrages steht, aus Menschliches, Allzumenschliches I, aus dem Kapitel „Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller". Im Aphorismus 153 geht es um den freien Geist, der sich zwar von allem Metaphysischen entfernt hat und gelöst zu haben glaubt, der aber, überlässt er sich der Kunst (hier der Musik), „wohl einen tiefen Stich im Herzen" fühlt und „nach dem Menschen [seufzt], welcher ihm die verlorene Geliebte, nenne man sie nun Religion oder Metaphysik, zurückführe" (ebd., 145).6 Darin liegt Wertschätzung und Kritik in einem. Dies ist radikales Verlustbewusstsein und legt doch zugleich nahe, dass auch der moderne Mensch Nietzsches noch als religiös definierter zu verstehen ist. Daraus erwächst das Dilemma der Moderne. In einer Art besonderer Trauerarbeit nämlich sucht der moderne Mensch wiederzufinden, was er verloren hat. Und dieses Verlorene ist als ein ehemals Geliebtes, sein (vielleicht) Wesentlichstes und Wichtigstes bestimmt. In dem Nietzsche den freien Geist, sein intensivstes Bild vom Menschen auf dem Wege zum Übermenschen, mit dem Sehnsuchtspotential nach dem Verlorenen ausstattet, befreit er den modernen Menschen vom Zwang einer einseitig-eindeutigen Verabschiedung religiöser Haltungen und setzt ihn aber ebenso in eine neue, ambivalente Art der Beziehung zum nicht mehr Anerkannten der Religion und ihrer Werte. Er setzt ihn in eine zweifache Differenz: Der moderne Mensch kann nicht mehr unbeschadet an den alten Werten festhalten und sie fortschreiben, aber er kann sie ebenso wenig unbeschadet aufgeben, ohne an sich selbst Schaden oder der Kultur ein Moment ihres Selbstverständnisses zu nehmen. zu setzen

4

6

Nietzsches Satz, dass Gott sich fast unausrottbar in die Grammatik der Sprache eingenistet habe, gehört ebenso in diesen Kontext wie die Beobachtung, dass die Menschen ihn noch lange anbeten werden (KSA, GD, 6, 78). Wenn im folgenden von Religion gesprochen wird, ist, wenn nicht anders attributiert, stets die christliche Religion im Sinne Nietzsches gemeint. Dass in „solchen Augenblicken [...] sein intellectualer Charakter auf die Probe gestellt [wird]", daraufweist Nietzsche ausdrücklich hin (KSA, MA I, 2, 145).

Renate Reschke

272

Nietzsche weiß, er wird die Geliebte, um im Bild zu bleiben, nicht so und nicht an dem Ort wiederfinden, wie und wo er sie verloren hat; er wird eine andere an anderem Ort wiederentdecken und wird von ihr genauso fasziniert und enttäuscht, an sie verfallen und sie als fremde Macht erlebend sein, wie ehedem. Zwischen Begehren und Verzicht, zwischen Leidenschaft und Distanz wird die Moderne zu einem Projekt des Weiterlebens der Religion nach dem Tode Gottes. Als ihr neues Domizil hat sie sich die Kunst gewählt. Nicht ohne Grund und Raffinesse. Ein Blick auf die Kunstsitaation des 19. Jahrhunderts, auf die literarische und musikalische, die nach Nietzsche zählt und die paradigmatisch ist, auf die französische Moderne á la Baudelaire, Flaubert, Gautier, Hugo, Balzac und auf die russische à la Tolstoi, Turgenjew oder Dostojewski und natürlich auf Richard Wagner, lässt ihm keine Wahl als die Beobachtung, die er zum Kulturmerkmal der Moderne formuliert: Die Religion habe sich in der modernen Kunst eingenistet und sich in ihr eingerichtet, ihre Konturen verzeichnet, sie krankgemacht, bleichsüchtig und auf eine unerträgliche Art spirituell. Gerade dadurch habe sie der Kunst ihre eigenartige und unverwechselbare Modernität gegeben. Modernität als Krankheitssymptom und als Selbstreflexion, als Selbstreferentialität, die, indem sie sich zum Gegenstand wird, die anhaltende Affäre des Religiösen mit der Kunst und umgekehrt zum fortgesetzten Scandalon der Kultur in der Moderne macht. Die darin liegende interne Spannung setzt divergente Energien frei, in denen sich die Moderne bewegt: Der Pessimismus aus Schwäche und der aus Stärke werden immer verwechselbarer (KSA, NF, 12, 467), der Nihilismus ist immer noch auf dem Wege zu seiner aktiven Version, gehindert daran, durch seinen passiven Zwillingsbruder, dem an der Festschreibung des status quo zwischen Religion und Kunst, Moral und Ästhetik gelegen ist. Richard Wagner ist diesbezüglich der Glücksfall für Nietzsche, die Moderne und ihre Modernität tragen sichtlich und wesentlich seine Züge. Er ist der „Cagliostro der Modernität" (KSA, WA, 6, 23) und Nietzsche versteht jeden Philosophen, der erklärt: Wagner resümirt die Modernität'" (ebd., 12). An seiner Künstlerpersönlichkeit und an seinem Werk buchstabiert sich die Moderne in ihrer doppelten Verfallenheit ans Künstlerische und ans Religiöse. Wagners Kniefall vor dem Christentum ist für Nietzsche nur der äußerste und symptomatischste Ausdruck dieser Realität. An ihm zeigt sich, dass die Moderne, im Sinne Nietzsches, exemplarisch an einer grundlegenden kulturellen Krankheit leidet: Ihre impotentia hat den Mangel an Kraft zu verantworten, der den Nihilismus bestimmt und der den décadent glauben lässt, in seiner Schwäche sei er eine kongeniale Kulturfigur nach dem Tode Gottes. Eine Wahrheit und ein weitreichender Irrtum zugleich, wie Nietzsche durch die Destruktion seiner bedeutendsten Maske, der Kunst, klarstellt. ,„

II. in der Moderne, dies ist ebenso Realität wie Phantasma für Nietzsche. Ein Schmerz und eine fortgesetzte Provokation für sein Denken, ein Anlass für eine genaue Phänomenologie ihres Einnistens in die Seelenlandschaften der modernen Kultur und für die Bilanz kultureller Prägungen und Einflüsse, die von der Religion ausgegangen sind. Die maßlose Endlichkeit des Religiösen beleidigt dabei die intellektuelle Redlich-

Religion

Die verlorene Geliebte und ihr neues Domizil

273

keit des Philosophen, aber er zollt ihr seine denkerische Reverenz durch die historische Optik seiner Kritik. Peter Pütz hat Recht, wenn er davon spricht, Nietzsche behandele das Christentum nicht mehr als Gegner, sondern als Patienten, der psychologischer Analyse zu unterziehen ist, um sich am Ende nicht einmal mehr für das Resultat der Analyse zu interessieren, sondern nur noch den Geruch der Verwesung zu registrieren. Mit der traurigen Trope der Endlichkeit, in der sich sein kulturkritischer Blick fängt und die er zugleich in den zu beobachtenden Prozess hineinsieht, (re)konstruiert Nietzsche die moderne Kultur als einen leeren Raum, der von denen verlassen worden ist, die bislang für seine Wertigkeit garantiert haben: „Niemals war die Welt mehr Welt, nie ärmer an Liebe und Güte. Die gelehrten Stände sind nicht mehr Leuchtthürme oder Asyle inmitten dieser Unruhe der Verweltlichung [...] Es liegt ein Wintertag auf uns, und am hohen Gebirge wohnen wir, gefährlich und in Dürftigkeit" (KSA, SE, 1 366). Emotionale Armut und Dürftigkeit sind die Stichworte für die Verweltlichung, die auf entscheidende Wertevakanzen verweisen. Dies sieht er als die eine Farbe „am Bilde des modernen Lebens" (ebd., 367). Die andere notiert er nüchterner als „Periode der Atome", als ,,atomistische[s] Chaos" (ebd.), als internen Kampf gegensätzlicher Kräfte. Beide Farben sind sichtbare und kulturell zu spürende Konsequenzen aus einer, seit dem Ende des Mittelalters sich vollziehenden Veränderung kirchlicher und theologischer Positionen in der neuzeitlichen Gesellschaft: „Die feindseligen Kräfte wurden im Mittelalter durch die Kirche ungefähr zusammengehalten und durch den starken Druck, welchen sie ausübte, einigermaassen einander assimilirt. Als das Band zerreisst, der Druck nachlässt, empört sich eines wider das andere" (ebd.). Seit die Reformation ganze Teilgebiete der Kultur zu den adiaphora, d. h. zu nicht von religiösen Gedanken bestimmte zu zählen begann und die Aufklärung im 18. Jahrhundert weitere Terrains dem Religiösen abringt, um dadurch ihre Legitimität zu behaupten, weitet sich der Prozess im 19. Jahrhundert bis zu dem Punkt der Moderne auf, wo er bestimmt wird „durch die gröbsten und bösesten Kräfte"8 (ebd., 368). Nietzsches Frage, was in solchen Zeiten aus der Menschlichkeit wird und wer das Bild des Menschen aufrichten werde9, während der größere Teil der Menschen „nur den selbstsüchtigen Wurm und die hündische Angst in sich fühl[t]" (ebd.), berührt zugleich die Frage nach dem Ort und den Möglichkeiten von Kunst und Religion in diesem Prozess. Drei Jahre später in Menschliches, Allzumenschliches I heißt es, man müsse ein Übel entweder an seiner Ursache bekämpfen oder seine Wirkungen auf das Empfinden durch Umdeuten in ein Gut, an dem sein zukünftiger Nutzen noch nicht ersichtlich sei (KSA, MA, 2, 107) beeinflussen. Der Religion und der Kunst werden darum dementsprechend jeweils ihre Parts an dieser Umwertung mit Nachdruck zugesprochen. Vor allem aus historischer Perspektive: „Religion und Kunst [...] bemühen sich, auf die Aenderung der Empfindung zu wirken, theils durch Aenderung unseres Urtheils über die Erlebnisse

1

P. Pütz, Nachwort chen 1984, 226.

zu:

Friedrich Nietzsche: Antichrist, Ecce homo,

Dionysos-Dithyramben,

Mün-

Als diese Kräfte bestimmt Nietzsche „den Egoismus der Erwerbenden und die militärischen Gewaltherrscher" (ebd., 368). Die Frage ist im Text für Nietzsche der Auftakt, das Rousseau'sehe, das Goethe'sche und Schopenhauers Menschenbild zu skizzieren und zu imaginieren.

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Renate Reschke

[...], theils durch Erweckung einer Lust am Schmerz, an der Emotion überhaupt" (ebd.) diagnostiziert Nietzsche, mit Blick auf die Priester, ein Abnehmen der Herrschaft der Religion und ihrer Kunst der Narkose. Ihre Strategien der Verführung(en) wirken nicht mehr. Das wissenschaftliche Zeitalter der Rationalität hat neue Verführungsstrategien entwickelt. Die folgenreichste dabei ist die zur Entdeckung der eigenen Macht über das Wirkliche im Wechselspiel von Begehren und Tat, Erkenntnis und selbsterkennender Reflexion. Die Herrschaft der Wissenschaft und die der Religion sind nicht (mehr) kompatibel. Jede „Familien-Aehnlichkeit" (ebd., 111) wird bestritten. Eine Philosophie, die einen Kometenschweif an Religiösem nach sich zieht, mache sich hinsichtlich ihres wissenschaftlichen Anspruches insgesamt verdächtig, und Nietzsche bescheinigt ihr, Religion unter dem Aufputz des Wissenschaftlichen (ebd.) zu sein. Die scheinbare Klarheit einer solchen Metaphysik spiegele die Lichtseiten eines Denkens, das verneint, sich auf die letzten Dinge verlassen zu können, in dem es deren Transzendenz behauptet. Vor allem christliche Religion habe sich hierin besonders hervorgetan durch eine umgekehrte Aufwertung: Sie habe „irgend eine philosophische Lehre in ihr System hineingelogen" (ebd., 110). Aber die von ihr besetzten geistigen Räume haben die Dimension des Unanfechtbaren verloren und ihre Sinngefüge zerbrechen lassen. Der Wahrsager im Zarathustra spricht denn auch von der großen Leere, der Müdigkeit und vom aschehaften Traurigsein (KSA, ZA, 4, 173) als den Lebensfiguren des modernen Nihilismus, denen, wenn überhaupt, nur mit verlachenden Traumgesichten zu widerstehen ist. Die Destruktion der Vorstellung Gottes treibt zur Desillusionierung über die mit ihr verbundenen Wertesysteme. Zu einer solchen Erkenntnis braucht es Stärke, starken Willen. Das Europa am Ende des 19. Jahrhunderts hat das Christentum noch nötig, seine Kultur ist zu schwach, um ohne den Glauben bestehen zu können (KSA, FW, 3, 581). Dies erkennen, ist die ganze Historie der Religion notwendig (ebd., 538f.). Der darin liegende Substanzverlust ist in den Konnotationen des „Gott ist tot" mit allen seinen Ursachen und Konsequenzen eingelagert. An ihnen entwirft Nietzsche eine ganze Psychologie und Kritik des modernen Kulturverhaltens. In Differenz zur griechischen Mythologie, in der sich der Mensch ein Ideal seines eigenen Wesens imaginiert hat, ist das Christentum von Anfang an darauf aus gewesen, die Menschen verächtlich zu machen, zu verkleinern und in sich das „Gefühl völliger Verworfenheit" (ebd., 118) zu erzeugen, um ihnen dann durch Gnade zu betäuben und sie den Schrei des Entzückens ausstoßen zu lassen für einen Moment des Gefühls, „den ganzen Himmel in sich [zu] tragen" (ebd.). Für Nietzsche eine „Kopf- und HerzCorruption" (ebd.), die historisch tief sitzt und die Moderne bestimmt. Was davon in der Psyche des Menschen präsent ist, geht bis auf archaische Zeiten zurück." Er seziert die religiösen Gefühle bis an die Grenze der äußersten Ernüchterung, wo nur noch zu Für die Moderne

11

Dazu: R. Reschke, „Der Lärm der großen Stadt, der Tod Gottes und die Misere vom Ende des Menschen. Nietzsches Kulturkritik der Moderne", in: dies., Denkumbrüche mit Nietzsche. Zur anspornenden Verachtung der Zeit, Berlin 2000. ,,[D]ie Resultate von dem Allen sind trotzdem nicht verloren: die innere Welt der erhabenen, gerührten, ahnungsvollen, tiefzerknirschten, hoffhungsseligen Stimmung ist den Menschen vornehmlich durch den Cultus eingeboren worden; was jetzt davon in der Seele existirt, wurde damals, als er keimte, wuchs und blühte, gross gezüchtet" (KSA, MA, 2, 123).

Die verlorene Geliebte und ihr neues Domizil

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entdecken ist, dass sie anachronistisch und lebensgefährdend geworden sind. Der moderne Mensch muss nach Nietzsche schmerzlich registrieren, wie weit entfernt er von tatsächlich neuen Lebensstrategien ist, wie sehr er nur vorgegebene Psychomuster erinnert und, ohne es explizit zu wollen, noch immer oder immer wieder ihrer Wirksamkeit erliegt. Solche Menschen spielen ein gefährliches Spiel: „Wer jetzt der religiösen Empfindung wieder in sich Raum giebt, der muss sie dann auch wachsen lassen, er kann nicht anders. Da verändert sich allmählich sein Wesen, es bevorzugt das dem religiösen Element Anhängende, Benachbarte, der ganze Umkreis des Urtheilens und Empfindens wird umwölkt, mit religiösen Schatten überflogen. Die Empfindung kann nicht still stehen; man nehme sich also in Acht" (ebd., 120). Dies sind Prozessmarkierungen, die Nietzsche vorrangig bei den modernen Künstlern entdeckt und daher für ihre Charakterisierung reklamiert. Umgekehrt kann man sich des Eindruckes nicht erwehren, er habe diese Warnung als Resultat seiner Künstlerbeobachtungen formuliert. Wie dem auch sei, sie zielen auf die Tatsache, dass es eine Art ,,[r]eligiöse[r] Nachwehen" (ebd., 124) in der Moderne gibt, von denen vor allem die Künste und ihre Wirkungen infiziert sind: „Glaubt man sich noch so sehr der Religion entwöhnt zu haben, so ist es doch nicht in dem Grade geschehen, dass man nicht Freude

hätte, religiösen Empfindungen und Stimmungen ohne begrifflichen Inhalt

zu

begeg-

Beispiel in der Musik" (ebd.). Von diesem Zauber religiöser Empfindungen will man zuletzt oder gar nicht lassen.12 Am Resonanzkörper der Kunst klingt auf und nach, was in der und durch die Religion nicht mehr unbeschadet möglich ist: Den Ton der Seele zu treffen, dem Menschen das Gefühl seines Lebens zu geben. Religion und Kunst kennen die Innenwelt(en) des Menschen und sind, jeweils auf ihre Weise, Seelenbewahrer und Seelendiebe, ohne dass der Diebstahl als solcher kenntlich wird. In den späten achtziger Jahren erhalten solche Überlegungen eine andere Dimension und Begründung: Sie werden dem Spektrum des Willens zur Macht und der Affekt-Philosophie zugeordnet, als Beispiel dafür, dass der Mensch seinem Gefühl von Macht misstraut, es als fremd erfahrt und sich in der Annahme einer höheren Macht selbst auseinanderlegt: „Die Religion ist ein Fall der ,altération de la personnalité'. Eine Art Furchtund Schreckgefühl vor sich selbst [...] Aber ebenso ein außerordentliches Glücks- und Höhengefühl" (KSA, NF, 8, 306). Die Ungleichgewichtigkeit zwischen beiden ruft Saturnalien des Leidens hervor. Das Stichwort vom Leiden, vom Leidensweg zum Seelenheil, genauer vom machtund genussvollen Leiden, ruft den Asketen als Kulturtyp in den Diskurs, an dem Nietzsche historisch wie kulturkritisch das Szenario von Ohnmacht und Macht, Unterwerfung und Herrschaft, Verführung und Verfallenheit, von Rausch, Ekstase und Religiosität, von Angst, Sinnlichkeit und Wollust exemplifizieren kann: „Die Asketen wissen allein, was Wollüste sind" (ebd., 274). Zunächst am historischen Fall des (vor allem christlichen) Priesters, um dann kulturkritisch dessen erstaunliche Affinität zum Künstler in der Moderne zu entdecken und nachzuweisen. Dass die „homines religiosi [...] unter die Künstnen,

zum

Im Zeitraum der Arbeiten

an Menschliches, Allzumenschliches I hält Nietzsche es für einen Irrtum, für eine Verirrung der Vernunft, sich die Motive des Handelns, der Erlebnisse, der Deutung der Bedürfnisse und Gefühle als auf Gott bezogen vorzustellen und zu erklären: „Mit der Einsicht in diese Verirrung der Vernunft und Phantasie hört man auf, Christ zu sein" (KSA, MA, 2. 129).

Renate Reschke

276

1er [zu] rechnen" (KSA; JGB, 5, 78) sind, steht dabei außer Zweifel. Ihre Bestimmung ist wechselseitig und fast synonym. Nietzsches Wertschätzung des Asketen und Priesters gehört zu den tiefgehendsten historischen Analysen. Hier denkt und analysiert der Kulturhistoriker, dem an einer Psychologie der Religion gelegen ist, um diese in ihrer historischen Bedeutung für die Kultur und, vom Standpunkt der Aktualität, in ihrer anachronistischen Existenz zu begründen, gemäß seiner Einsicht in Aphorismus 20 aus Menschliches, Allzumenschliches I: „Die eine, gewiss sehr hohe Stufe der Bildung ist erreicht, wenn der Mensch über abergläubische und religiöse Begriffe und Aengste hinauskommt [...]: ist er auf dieser Stufe der Befreiung, so hat er auch noch mit höchster Anspannung seiner Besonnenheit die Metaphysik zu überwinden. Dann aber ist eine rückläufige Bewegung nöthig: er muss die historische Berechtigung, ebenso die psychologische in solchen Vorstellungen begreifen, er muss erkennen, wie die grösste Förderung der Menschheit von dorther gekommen sei und wie man sich, ohne eine solche rückläufige Bewegung, der besten Ergebnisse der bisherigen Menschheit berauben würde [...] Die Aufgeklärtesten bringen es nur so weit, sich von der Metaphysik zu befreien und mit Ueberlegenheit auf sie zurückzusehen: während es doch auch hier, wie im Hippodrom, noth thut, um das Ende der Bahn herumzubiegen" (KSA, MA, 2, 42). Wem begegnet man, wenn man, dem methodischen Gleichnis folgt, um diese Bahn biegt? Man begegnet Menschen mit einem hohen Bedürfnis, „ihre Gewalt und Herrschsucht auszuüben, dass sie, in Ermangelung anderer Objecte, oder, weil es ihnen sonst immer misslungen ist, endlich darauf verfallen, gewisse Theile ihres eigenen Wesens, gleichsam Ausschnitte oder Stufen ihrer selbst, zu tyrannisiren", Menschen, die sich selbst zerbrechen und eine Wollust daran haben, „sich durch übertriebene Ansprüche zu vergewaltigen und dieses tyrannisch fordernde Etwas in [ihrer] Seele nachher zu vergöttern" (ebd., 131). Man begegnet Priestern und Künstlern. Der Mensch allgemein, der

Asket insbesondere, lebt und erlebt in der Nachbarschaft alles Großen in hohen emotionalen Spannungen, er benötigt den Ausgleich, die Entladung des Spannungsüberschusses, um leben zu können. Im Moment des mutwilligen Verkleinerns, der gewollten Selbstverleugnung liegt, so dechiffriert Nietzsche, ein Moment von Größe. Jedenfalls ist es der Menschheit in langer Gewöhnung fälschlich anerzogen worden. Es ist die „Lust an der Emotion an sich" (ebd., 133), die in der Selbstaufgabe und Selbstverachtung liegt. Es ist viel Wille, durch Unterordnung über sich Herr zu werden, aber auch viel Aufgabe von Verantwortung für sich und sein Handeln: Es ist leichter, „einer Begierde ganz zu entsagen, als in ihr Maass zu halten" (ebd.). Nietzsches Psychologie des Asketen, die in dessen Maßlosigkeit, besser: in seiner Unfähigkeit, Maß zu halten (im antiken Sinne), seine Definition findet, buchstabiert sich am historischen Modellfall als aktuell in Bezug auf das moderne Künstlerdasein, auf den modernen Künstler. Sein aufgezeichnetes Schlachtenbild im Inneren des Asketen liest sich wie die interne Au13

14

15

So ist bei Danto ein

1998, 198-236).

Kapitel

überschrieben

(Arthur

C. Danto, Nietzsche als

Philosoph,

München

Daß viel Eitelkeit in einer solchen Moral steckt, versteht sich für Nietzsche ebenso von selbst wie er dazu als Beweis die Moral der Bergpredigt anführt (KSA, MA, 2, 131). „Die Phantasie vieler christlichen Heiligen war in ungewöhnlichem Maasse schmutzig; vermöge jener Theorie, dass diese Begierden wirkliche Dämonen seien, die in ihnen wütheten, fühlten sie

Die verlorene Geliebte und ihr neues Domizil

277

tobiographie eines modernen Literaten. Beide sehen ihre sinnlichen Begierden und ihre Geschlechtlichkeit als Quelle einer fortgesetzten Schlacht gegen ihre Übermacht, die durch ihre negative Wertigkeit noch an Potenz gewinnt. In ihren sinnlichen, sexuellen Phantasien prallen Begierde und Entsagung, Geißelung und Wollust, Grausamkeit und Macht schmerzhaft-lustvoll aufeinander und kämpfen um Sieg und Niederlage und sind sich ihrer Anerkennung im Schwanken zwischen Hochmut und Demut gewiss. Sinn-

lichkeit muss dazu dämonisiert werden, um das christliche Damoklesschwert der Sünde über allen Köpfen schwingen zu lassen und zugleich dem Asketen mit seiner vermeintlichen Seelen-Stärke den Glanz des Außerordentlichen zu geben, um seine Macht über die, die zur Entsagung nicht imstande sind, zu legitimieren. Es ist der Kunstgriff der Religion, den Menschen in seiner Natur zu verdächtigen und ihm dadurch die Mittel der eigenen Erniedrigung und zu behauptenden Erhöhung an die Hand zu geben. Nicht moralisch soll er sein, sondern sich sündhaft fühlen, das ist nach Nietzsche der vergewaltigendste Zugriff auf den Menschen durch die christliche Religion. Asketen und Heilige sind ihm darin unvergleichliche Beispiele und unerreichte Vorbilder. Sie behandeln das Leben als Irrweg oder Irrtum, der zu widerlegen oder dem zu widerhandeln ist und fordern, dass man es ihnen gleichtue. Dass deren Seelenzustände und Lebensentwürfe falsch ausgelegt werden, darin begründet sich ihre Fremdartigkeit und ihre Macht. Asketen und Priester deuten auf etwas hin16, das über das Menschliche hinausreicht: „Das Verschrobene und Kranke in seiner Natur, mit ihrer Zusammenkoppelung von geistiger Armuth, schlechtem Wissen, verdorbener Gesundheit, überreizten Nerven blieb seinem Blick ebenso wie dem seiner Beschauer verborgen" (ebd., 139). Der Asket als ein Selbstwiderspruch in sich, dessen ungesättigter Machtwille Herr werden will über das Leben selbst, der dem Leben die Wurzel nehmen und zugleich die Herrschaft über es ausüben will. Der unmögliche Asket17 rächt sich an der Sinnlichkeit und am Leben und vergiftet sie durch die Phantasmagoric eines anderen, besseren Lebens (KSA, GD, 6, 78) mit den Prunkworten asketischer Ideale: Armut, Demut, Keuschheit (ebd., 352). Sein lebensverleumderischer Sinn verkehrt alle Wertigkeiten, entnatürlicht sie und übersetzt alle Realität in Sentenzen von Sünde und Sühne1 Schuld und Unterwerfung. Schmerzfähigkeit und Sensibilität, gepaart mit Verachtung, lassen ihn die großen Affekte sublimieren und geben auf eine spezifische Weise Antwort auf die Frage: „,wozu Mensch überhaupt?'" (ebd., 411). Destruktiv whd dem Leiden ein Sinn konstruiert. Was ihn vom modernen Künstler trotz aller Ähnlichkeit unterscheidet, liegt in der Differenz der Reflexion. Der Künstler der Moderne besitzt weder die Naivität noch die Unschuld des christlichen Asketen: Ihm wird die permanente Selbstreflexion ,

sich nicht allzusehr verantwortlich dabei; diesem Gefühle verdanken wir die

17

18

tigkeit ihrer Selbstzeignisse" (MA-1 II 134). „Nicht Das, was der Heilige ist, sondern Das, was er in den Augen giebt ihm seinen welthistorischen Werth" (KSA, MA, 2, 139). Der es nötig hat, Asket zu sein (KSA, GD, 6, 83).

belehrende Aufrich-

Nicht-Heiligen bedeutet,

So sind Priester für Nietzsche im Antichrist in radikaler Rhetorik „Verneiner, Verleumder, Vergifdes Lebens von Beruf (AC VI 175), Falschmünzer vor sich selbst" und „Mundstücke jenseitiger Imperative" (ebd. 178). „Der Priester herrscht durch die Erfindung der Sünde" (KSA, AC, 6, 229).

ter 19

der

so

278

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zweiten Natur, die ihn nicht ruhen lässt, der Armut seiner Kultur und der Verquältheit seiner Emotionen künstlerische Gestalt zu geben. Der hohe Grad an Reflektiertheit verhindert die Distanzlosigkeit zu sich selbst und zu den Erfahrungen der Welt, aus der der christliche Asket seine Macht und Identität gesichert wusste. Der moderne Künstler weiß um das Exhibitionistische seines Tuns und daher um die Wirkungslosigkeit seiner Anbiederungen an seine vermeintlichen Bewunderer und deren Voyeurismus. zur

III. In der Kultursitaation der Moderne kulminiert die Affäre der Religion mit der Kunst in einer Art doppelter Exilrealität, der beide ihre neuen Konturen und Identitäten verdanken. Die Religion findet sie verändernde Refugien in den Künsten und die Kunst muss sich ihrerseits jenseits der tradierten sozialen Sicherheiten neue Gegenstände, Lebensorte und Wirkungsräume erschließen. Für Nietzsche ist dies der Beobachtung und Kritik wert. Der moderne Mensch will und kann an Gott als Gott nicht mehr glauben und ver-

weigert auch seinen Priestern die Gefolgschaft.

Seit dem Beginn der Neuzeit mit ihrem wissenschaftlich werdenden Weltbild hat der christliche Gott erheblich und irreversibel an kulturellem Terrain verloren. Das Beklagen der mit diesem Verlust verbundenen Werte-Vakanz hat von Blaise Pascal bis Arthur Schopenhauer erhebliche intellektuelle Energien gekostet. Trotzdem folgt er den Spuren der Metamorphosen des Religiösen ins und seiner Anverwandlungen ans Künstlerische und formuliert eine Kulturkritik der Moderne quasi im Rhythmus ihrer wechselseitigen Verwerfungen und osmotischen Einklammerungen. Sie sind ihm Kultarbewegungen, an denen sich existentielle Probleme der Moderne profilieren und diese zugleich in ihrer ambivalenten Allgemeinheit und als Scandalon bewusst und transparent zu machen sind. Er entlarvt den Griff der Religion auf und in den Raum Kunst als Antwort auf den Hunger der Moderne nach Werte- und Bild-Sicherheiten, in denen sie sich selbst erkennen, negieren und paradox überleben kann. Sie zeigt sich als religions- und kunstfressender Minotaurus, der beide braucht, um leben zu können. Und umgekehrt: Für die Kunst und die Religion wird die Moderne zu einem Fluchtort, an dem sie ihrer verlorenen Souveränität den trügerischen Schein ihrer Teilhabe geben können. So wie beide sich aneinander spiegeln, so kann auch die Moderne sich anmaßen, in ihnen ihr Spiegelbild zu finden. In ihrer dreifach wechselseitigen Verfallenheit (der Religion an die Kunst, der Kunst an die Religion, der Moderne an beide) sieht Nietzsche den Prozess des modernen Nihilismus sich vollenden, dessen ins Bewusstsein getriebene Unmöglichkeit alle Kulturkritik verstört und zu Spekulationen reizt. Nietzsche dagegen sucht die Vorgeschichte dieses Prozesses zu formulieren, um aus ihr auf die Perspektive zu schließen. Im Aphorismus 150 in Menschliches, Allzumenschliches I heißt es: „Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen nachlassen. Sie übernimmt eine Menge durch die Religion erzeugter Gefühle und Stimmungen, legt sie an ihr Herz und wird jetzt selber tiefer, seelenvoller, so dass sie Erhebung und Begeisterung mitzutheilen vermag, was sie vordem noch nicht konnte. Der zum Strome anwachsende Reichthum des religiösen Gefühls bricht immer wieder aus und will sich neue Reiche erobern: aber die wachsen-

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Aufklärung hat die Dogmen der Religion erschüttert und ein gründliches Misstrauen eingeflösst: so wirft sich das Gefühl, durch die Aufklärung aus der religiösen Sphäre hinausgedrängt,20 in die Kunst; [...] Ueberall, wo man an menschlichen Bestrebungen eine höhere düstere Färbung wahrnimmt, darf man vermuthen, dass Geistergrauen, Weihrauchduft und Kirchenschatten daran hängen geblieben sind" (KSA, MA, 2, 144). Nietzsche beschreibt einen Prozess, der nicht allein für die Moderne gilt, der aber in der Moderne seinen vielleicht gültigsten Ausdruck erfahrt. Dass ein Transfer des Religiösen ins Künstlerische überhaupt möglich ist, liegt an beider Affinität zum Emotionalen und an einer, seit den historischen kultischen Ursprüngen, angenommenen Bindung des Religiösen ans Artistische und umgekehrt. Die Latenz dieser Bezüglichkeit wird in der Moderne mehr als nur offensichtlich: Sie schlägt der Kunst positiv zu Buche. Diese kann intensiver als bislang die Bereiche des Sinnlichen, der Begeisterung und des Gefühls zum Thema und Gegenstand ihrer Gestaltung und Wirkung machen. So weit, so gut für die Kunst. Das Moment der Bereicherung allerdings birgt den Kern seines Gegenteils. Die Wahrnehmung düsterer Färbungen und Geistergrauen, Weihrauchduft und Kirchenschatten signalisieren das Moment und die Realität negativer Folgen für die Kunst. Denn in der Bereicherung liegt eine unredliche Vereinnahmung. Die Wucht, mit der Religiöses in die Kunst drängt, schreibt dieser ihre, d. h. kunstfremde Konturen ein de

und sich selbst in ihnen fort. Dadurch verzerrt sie sich und die Kunst zu einer neuen an der beider Verzweiflung und Glück in einem über diese Verbindung sichtbar wird. Die Kunst muss sich eine „Vermoralisirung" (KSA, NF, 12, 469) gefallen lassen und hat sich fortgesetzt dagegen zur Wehr zur setzen. Dies ist ihre moderne crux. Dem Kulturkritiker erwächst das Problem, daran zu sehen, dass sie verblichene Ideale aufweckt, aber als prachtvolle Ungeheuer, dass sie den Genuss an der psychologischen Einsicht in die Schauspielerei und Sinuosität weckt und befriedigt, aber gegen das Wissen der Künstler. Kurz, er zieht ihre ,„idealisirenden Grundmächte' (Sinnlichkeit, Rausch, überreiche Animalität) ans Licht" (ebd.), um diese als sie bestimmende zu charakterisieren und durch sie die Kultur der Moderne. Was der späte Nietzsche Pessimismus der Stärke" (ebd., 467) nennt, gehört hierher. Seine Vertreter nämlich zeichnet aus, das ihnen das Übel Religion entbehrlich wird, es keine Rechtfertigung mehr braucht, dass sie „das Übel pur, cru" (ebd.) genießen, je zweideutiger, furchtbarer, verführerischer, desto besser dass ihnen Animalität kein Grausen mehr einflößt und sie, wenn sie Tugenden für sich anerkennen, dies wegen ihrer „Feinheit, Schlauheit, Gewinnsuchts-, Machtsuchtsform" (ebd.) tun und es sich erlauben, „von neuem den advocatus diaboli [zu] spielen" (ebd.). Die Kunst (in) der Moderne bedient genau diese Bedürfhisse und Erwartungen. Sie instrumentalisiert sich selbst zu solcherart Bedürfnisbefriedigung und lässt in ihrem Erleben die Illusion des Wirklichen als erträglichmachendes Bild erscheinen. Sie löst auf moderne Weise ein, dass sie sei, was in der Geburt der

Kenntlichkeit,

,

Ob tatsächlich, wie Nietzsche behauptet, die Emotionalität durch die Aufklärung aus dem Bereich und dem Begriff der Religion gedrängt worden ist, sei hier nicht weiter verfolgt. Auch die umgekehrte Behauptung besitzt historische Relevanz. „In einem solchen Zustande bedarf gerade das Gute einer .Rechtfertigung', d. h. es muß einen bösen und gefahrlichen Untergrund haben oder eine große Dummheit in sich schließen: dann gefällt es noch" (KSA, NF, 12, 467).

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Tragödie als der Traum, der das Leben selbst bedeutet (KSA, GT, 1, 38), in der Dialektik von Trunkenheit und Traum, Ekstase und Phantasie, Rausch, Lust und Tod, bezeichnet ist. Damit ist das Feld abgesteckt, auf dem sich Religion und Kunst in der Moderne begegnen. In Fortsetzung und Überschreitung einer Grenze, die ohnehin seit Anbeginn problematisch ist und als deren immer vorläufig letztes Resultat doch nur die Überschreitung der Religion zur Religion und die der Kunst zur Kunst steht. In der Amalgamierung noch bleibt ihre Differenz erhalten und ein jenseits davon ist nichts als nur

ein aparter Gedanke.

Religion wie Kunst sind für Nietzsche gleichermaßen Kunstgriffe zum Leben hin. Erstere gilt ihm zeitweilig als Vorspiel, als Voraussetzung für alles Erkennen und Erleben (KSA, FW, 3, 538f). Eine ästhetische Selbsterzeugung der Religion kann dem parallel gehen. Die Kunst ihrerseits kann die Form des Religiösen annehmen, wenn sie die Leidenschaft der Erkenntnis zugleich ausdrückt und verklärt.23 Ihrer beider Nähe zu Rauschzuständen und Ekstasen ist historisch zu begründen. Für die Moderne buchstabiert sich die Nähe unter den Stichworten von Begehren, Sinnlichkeit und Lust, für Nietzsche Begriffe mit hoher Repräsentations- und Kritikkraft. Sie sprengen ihre klassische Tradiertheit auf und lagern in sich den von der Moderne infizierten und an sie erkrankten Inhalten ein. Weil die kranke Kultur nach der Kunst greift, macht sie diese und die Künstler krank: „Merkt ihr nicht, dass, wenn ihr als Kranke nach der Kunst verlangt, ihr die Künstler krank macht?" (KSA, M, 3, 211). An ihren Themen und Inhalten zeigt sich, wie die Moderne in der Abwesenheit Gottes lebt, ohne souverän über seinen Verlust geworden zu sein. Das ist der Stoff, aus dem die Religiosität der modernen Kunst sich bildet, resp. die kulturellen Neurosen der Gesellschaft in Szene zu setzen sind, um sie in ästhetischer Verausgabung als einzig noch zu Gestaltendes zu etablieren. Auf diese Weise avanciert die Kunst der Moderne bereits im 19. Jahrhundert (jedenfalls die ihrer Avantgarde), in existentieller Ohnmacht gegenüber den sie figurierenden Kulturzuständen, zur Affirmation ihrer selbst. Sie ist an sich und ihre Parasiten, ans Religiöse verfallen und bietet alle Form auf, dies bewusst zu machen und zugleich zu dementieren. Das Vermögen einer neuen Sinngebung opfert sie, um sich nicht selbst als Maskerade, als doppelte Parodie entlarven zu müssen. So sichern sich beide wechselseitig ihre Existenz und die ihrer Bilder von der Kultur, die sie zeichnen. Ihr Akteur, der moderne Künstler, wird zu dem, der seine ureigenste Bestimmung und die seines Metiers verrät, Lügner zu sein und der Macht dieser Lüge kongeniale Gestalt zu geben. Man erwartet von ihm Wahrheit, und er hat sie zu liefern wie ein ihm fremdes Produkt.

Ein Gedanke, den Danto an Nietzsches Bild der Griechen knüpft, um dann zu verallgemeinern: „Dieses Konzept ist für Nietzsches Denken durchaus zentral, es trifft für Kultur im allgemeinen zu, nicht nur für die der Griechen. Kunst, Religion, Philosophie, Moral und was sonst noch die bloße Erfahrung organisieren kann, sind letztendlich eine Reaktion auf das Leiden; man muß sie als Mittel begreifen, mit dem das Leben möglich und erträglich gemacht werden soll" (Arthur C. Danto, a. a.

O., 68f.).

Dazu: M. Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von „Morgenröthe" bis „Also sprach Zarathustra", Berlin/New York 1997, 265ff.

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Vom Asketen sagt Nietzsche, er stehe auf der höchsten Stufe der Leiter, sich durch subtile Gewalt gegen andere auszuzeichnen: „Der Triumph des Asketen über sich selber, sein dabei nach Innen gewendetes Auge, welches den Menschen zu einem Leidenden und zu einem Zuschauenden zerspaltet sieht und fürderhin in die Aussenwelt nur hineinblickt, um aus ihr gleichsam Holz zum eigenen Scheiterhaufen zu sammeln, diese letzte Tragödie des Triebes nach Auszeichnung, bei der es nur noch Eine Person giebt, welche in sich selber verkohlt" (ebd., 102f), dieses Bild des Asketen trifft sich mit dem des modernen Künstlers. Auch ihn kennzeichnet eine überreizte Selbstsucht (Wagner ist exemplarisch dafür), auch er will um jeden Preis den Exhibitionismus seines infiniten Begehrens, auch ihm geht es um die Inszenierung, besser: das Zelebrieren einer Sinnlichkeit, die in bloßer Gier und missverstandener Erotik sich erschöpft und der man sich lüstern ergiebt, um sie dann künstlerisch zu diffamieren. Die dabei zur Schau gestellte Naivität ist nur die Maske einer hochkultivierten Raffinesse, die Zerknirschtheit nur die eines krankhaften Genießens. Wie beim religiösen Asketen, der sich vergleichbar wollüstig in seine Begierden verstrickt, um sie dann um so rigoroser in sich bekämpfen zu können, ist der emotionale Spannungsbogen der gleiche: ,,[B]ald springt seine angeschwellte Empfindung aus dem Verlangen, seine Leidenschaften dahinschiessen zu lassen, über das Verlangen, sie wie wilde Rosse zusammenstürzen zu machen, [...] er geisselt seine Selbstvergötterung mit Selbstverachtung und Grausamkeit, er freut sich an dem wilden Aufrühre seiner Begierden, an dem scharfen Schmerz der Sünde, ja an der Vorstellung des Verlorenseins, er versteht es, seinem Affect, zum Beispiel dem der äussersten Herrschsucht, einen Fallstrick zu legen, so dass er in den der äussersten Erniedrigung übergeht und seine aufgehetzte Seele durch diesen Contrast aus allen Fugen gerissen wird; und zuletzt: wenn es ihn gar nach Visionen, Gesprächen mit Todten oder göttlichen Wesen gelüstet, so ist es im Grunde eine seltene Art von Wollust, welche er begehrt, aber vielleicht jene Wollust, in der alle anderen in einen Knoten zusammengeschlungen sind" (KSA, MA, 2, 138).24 Eine solche Psychologie geht fast nahtlos über in die des modernen Künstlers. An Richard Wagner findet Nietzsche zunächst seine Beobachtung bestätigt, um dann die gleichen Symptome an den Literaten, Malern und Musikern der französischen Moderne zu entdecken und sie als décadence zu definieren. Hysterisch-erotisch ist Wagner und seine Musik sieht der Philosoph als „zur Herrschaft gebrachte Sinnlichkeit" (KSA, NF, 13, 490).25 Dies ist von Nietzsche formuliert im Doppelzungenschlag von Kritik und Faszination, historischer Wertung und kulturellem Unbehagen und mit Blick auf die Ambivalenz bezüglich des unterlegten religiösen Fundaments. In der Art, wie mit der Sinnlichkeit umgegangen wird, zeigt sich der Eingang des Religiösen in die Kunst. Schon einmal, allerdings unter anderem historischen Vorzeichen, hat die Kunst (Musik) aus ihrer Verbindung mit dem Religiösen ihre Modernität profiliert: ,,[D]er Geist der Gegenreformation ist der Geist der modernen Musik [...] So tief sind wir dem religiösen Leben verschuldet" (KSA, MA, 2, 179). Die Lust zu erhöhen, der Vorrang des Affektiven, der Wechsel der Empfindungen, die „Reliefwirkung in Nicht

zufällig ruft Nietzsche an dieser Stelle den Romantiker Novalis zum Zeugen, dem er exemplarische Erfahrung in Sachen Religiosität und Wollust zugesteht (KSA, MA, 2, 138). „Habe ich noch zu sagen, daß Wagner seiner Sinnlichkeit auch seinen Erfolg verdankt? Daß seine Musik die untersten Instinkte zu sich, zu Wagner überredet?" (KSA, NF, 13, 601).

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Licht und Schatten, die Nebeneinanderstellung der Ekstase und des Naiven" (ebd., 180), sind undenkbar ohne den Nachklang und die Rückbindung an eine Religiosität, die genau diese Emotions- und Gestaltungsmuster hervorbringt und bedient. Wie sehr viel radikaler liest sich die Moderne des 19. Jahrhunderts und ist doch als Fortsetzung aus diesen Tendenzen zu verstehen: Musik als eine „verkappte Befriedigung der religiosi" (KSA, NF, 9, 581). Richard Wagners Musik ist die vielleicht letzte Stufe, sie markiert den endgültigen (Nieder)Untergang: „Wie viel uneingeständliche und selbst unverstandene Befriedigung aller religiösen Bedürfnisse ist noch in der Wagnerschen Musik! Wie viel Gebet, Tugend, Salbung, Jungfräulichkeit' ,Erlösung' redet da noch mit! [...] oh wie sie daraus ihren Vortheil zieht, diese arglistige Heilige, die zu allem zurückführt, zurückverführt, was einst geglaubt wurde [...] Heimtückische Christlichkeit: Typus der Musik des .letzten Wagner'" (KSA, NF, 13, 239). Die nervöse Erregbarkeit, die sich in Sinnlichkeit und Rausch stürzt, um sich zu betäuben: Wagners Musik gibt den Nährstoff für die Krankheit der Seele, für die Krankheit der Kultur, sie ist Heilmittel und Palliativ, Sedativ und Droge in einem. Krank ist die Seele an ihrer Unerlöstheit vom Religiösen. In der modernen Musik findet Nietzsche „eine tönende Einheit von Religion und Sinnlichkeit" (KSA, NF, 10, 96), die sich wechselseitig bedingt und in Szene setzt. In eine, an der ihre Erbärmlichkeit und Notwendigkeit transparent werden, weil sie sich klischeehaft in der Negativität des Begehrens und der Begierde(n) erschöpfen: „Die Nähe von krankhaften Begierden, die Brunst rasend gewordener Sinne, über welche der Blick durch Dünste und Schleier des Übersinnlichen auf gefährliche Weise getäuscht wird" (KSA, NF, 11, 591), charakterisiert für Nietzsche ihre unerquickliche und unerträgliche Romantik. Romantik: Nietzsches Wort für die auf den Punkt gebrachte Verbindung von Religion und Kunst. Ein Wort und eine Haltung, die sich am Ende selbst übertreffen. Wagner hat es mit seinem Parzifal und dem eigenen Durst nach dem Blute des Erlösers demonstriert: „Denn es gehört bei alt gewordenen Romantikern zur leidigen Regel, daß sie am Schlüsse ihres Lebens sich selber .verleugnen' und verkennen und ihr Leben durchstreichen^." seiner Modernität ist ihm der deutsche In Musiker eher (ebd., 592). französisch, er gehört nach Paris: „Die Pariser mögen sich gegen Richard Wagner noch so sehr sperren und sträuben: zuletzt gehört er nach Paris, und jedenfalls mehr dorthin als in irgendeine andere Hauptstadt Europas" (ebd., 590). Paris ist die Hauptstadt der kulturellen Moderne, ihre Künstler sind die Protagonisten einer Lebenshaltung, die der Urbanität und ihrer Bindungslosigkeit, einer neuen kulturellen und existentiellen Unbehaustheit ebenso ausgeliefert wie ihr widersprüchlich ergeben sind und ihr in ihrer Literatur Wort und Spiegel und Reflexion geben. Der moderne Mensch, der moderne Künstler vor allem, glaubt sich befreit von den Zwängen der Religion, von der Übermacht und Überheblichkeit religiöser Ideale. Er bedient sich der Vernunft, als ob oder weil er das Unvernünftige der Religion nicht -

mehr ertragen kann: ,,[D]ieser Art Mensch eignet der antireligiöse Haß, die Bosheit und das sardonische Lachen, ebenso aber, in gut verheimlichten Augenblicken eine sehnsuchtsvolle Scham, eine innere Unterwürfigkeit unter die Werthschätzungen des verleugneten Ideals. Der Kirche durch Sinnlichkeit entfremdet, verehren sie, wenn sie wieder zu ihr zurückkehren, das Ideal der Entsinnlichung, als das religiöse ,Ideal an -

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sich'" (KSA, NF, 12, 53). Dies mag Nietzsche an sich selbst, in erster Linie allerdings bei der Lektüre französischer Literatur erfahren haben. Bezeichnenderweise ist ihm Charles Baudelaire der „erste intelligente Anhänger Wagner's überhaupt" (KSA, EH, 6, 289): „Es ist viel Wagner in Baudelaire" (KSA, NF, 11, 601).26 Beiden Künstlern eignet eine folgenreiche Verquickung von Sinnlichkeit, Erotik und Katholizität. Unsichere Windhunde seien sie darin allemal (KSA, NF, 12, 46). Bei Wagner gehen eine krankhafte Sexualität, als „der Fluch seines Lebens" (KSA, NF, 13, 600f), den er erkennt und von dem er weiß, was er durch ihn an Freiheit verliert, und ein „DreiAchtel-Katholicismus" (ebd., 601) eine folgenreiche Liaison ein, die in seiner Musik verführerisch und unschuldig christlich daherkommt. Flucht durch Betäubung der Sinne ist nötig, Selbstvergessen und Selbstverachtung ebenso. Die Ekstase, das buchstäbliche Außer-sich-Sein, der körperliche Exzess bis zur Selbstauflösung, die sexuelle Besessenheit bis zum Tod brechen sich an den internalisierten religiös-christlichen kulturellen Normen, die als Ausschweifung stigmatisieren, was sie zugleich als psychologische Entlastungsstrategien tolerieren. Unfreiheit ist das Kennwort für die daraus resultierende Kunst; ihr Ideal entbehrt nicht einer gewissen Katholizität, die ihrerseits der Aufweis der Nähe zum Sumpf ist (ebd.).27 Für Nietzsche diskreditiert nichts so sehr, und macht sie zum Modellfall der Moderne, wie der Weihrauchduft der modernen Literatur, „daß die corrupten Pariser romanciers jetzt nach Weihrauch duften, macht sie meiner Nase nicht wohlriechender: Mystik und katholisch-heilige Falten im Gesicht sind nur eine Form der Sinnlichkeit mehr" (ebd., 451). Und zwar der „Hündin Sinnlichkeit" (KSA, ZA, 4, 69). Sumpf kennzeichnet auch die Befangenheit und Verfangenheit der Kunst gegenüber dem Erotischen und Sexuellen, die nie ohne ihre Partizipation ans Religiöse auftreten. Arthur Rimbauds Vers aus Sonne und Fleisch: „O Glanz des Fleisches! O du ideales Glänzen!"28 und Baudeiahe, mit seiner ,,hyper-erotische[n] Ankränkelung" (KSA, NF, 9, 428) und seinem dadurch bedingten zynischen „Fluch auf die Wollust" (ebd., 61), „[njervös-krankhaft-gequält, ohne Sonne" (ebd., 476), der typische décadent (KSA, EH, 6, 289) mit einer psychologischen Morbidität und dem Vermögen zu ihrer sublimen und zugleich kalten29 Entfaltung, sind nicht denkbar ohne jenen Untergrund an Religion und Religiosität, der ihre verkehrte Expressivität, d. h. ihren kultivierten und zur Kunstfigur stilisierten Ekel ausmacht. Drei Zeilen aus Baudelaires Gedicht Blutbrunnen geben die Probe aufs Exempel: „Ich sucht im Liebesrausch Schlaf und Vergessenheit./ Doch Liebe heißt für mich: auf Nadelbetten liegen,/ Damit die rohen Dirnen Blut zu saufen krie-

„Was den pessimistischen Baudelaire betrifft, so gehört er zu jenen kaum glaublichen Amphibien, welche ebensosehr deutsch als pariserisch sind" (KSA, NF, 11, 601). Man denke an die .Sw/w/^Metapher in Also sprach Zarathustra, wo mit antikischem Grundton, der, der zu lange am Sumpfe lebt, selbst zur Kröte wird. In den Notizen von 1884 besetzt er den Sumpf extrem kulturkritisch pejorativ: „Sehen Sie, das ist ein Sumpf: Anmaaßung, Unklarheit, Unwissenheit und Geschmacklosigkeit durcheinander" (KSA, NF, 11, 254). A. Rimbaud, Sämtliche Werke, Leipzig 1976, 27 (O splendeur de la chair! ô splendeur idéale!, 26). Die Kälte ist für Nietzsche Kennzeichen einer falsch verstandenen Objektivität der französischen Moderne insgesamt (KSA, GD, 6, 114).

Renate Reschke

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von Sinnlichkeit, Erotik und Religiosität ist augenscheinlich. Allegorie potenziert sich dieses unauflösliche Ineinander: „Sie ist ein schönes Weib mit reichgeschwelltem Mieder,/ Sie hängt in ihrem Wein das volle Haar hernieder./ Der Liebe Kralle, der Kaschemmen giftger Sprit/ Verschäumen, gleiten ab an dieses Leibs Granit./ [...] Sie glaubt, sie weiß, die Jungfrau mit dem tauben Leibe,/ [...] Daß Körperschönheit eine Hoheit in sich birgt,/ Die das Verzeihn für jede Niedertracht erwirkt"31. Die religiös tradierten Blut- und Weinmetaphern tragen ihre Konnationen aus christlichem Erbe ebenso wie die aus sexueller, asozialer Erfahrung und binden sie an

gen!"

; die Verwobenheit

In der

eine

Kenntlichkeit, mit der die Moderne künstlerisch ihre Wurzeln als die des Religiösen suggeriert. Baudelaires großartiger Hymnus An eine Madonna bezeugt wie kaum neue

ein zweites Gedicht der französischen Literatur die Präzision Nietzschescher Interpretation des Zusammenhanges von Erotik, Sinnlichkeit und Religiosität. Und diese Religiosität nimmt die Züge des Artifiziellen an, wie umgekehrt das Künstlerische durch das Religiöse prägende Konturen erhält, weil sonst keine Inhaltlichkeit mehr wäre : „Ich will für dich, Madonna, erste aller Frauen,/ In meines Jammers Gruft tief einen Altar dir bauen/ Und, in dem allerfernsten Herzensfach versteckt,/ Das kein Gelüst der Welt, kein Spötterblick entdeckt,/ Die Nische höhlen, wo, von Blau und Gold umgeben,/ Du hocherstaunte Statue dich sollst erheben./ [...] Dein Kleid ist meine zitternd wogende Begier,/ Meine Begier, die auf- und abwärts schweift an dir,/ Die von den Spitzen schaukelnd in die Täler nieder/ Mit einem Kuß umhüllt die rosig weißen Glieder./ [...] Zuletzt, um die Marienrolle zu vollenden/ Und um die Liebe ins Barbarische zu wenden,/ O schwarze Wollust! mach ich reuiger Henkersknecht/ Aus allen sieben Sünden Messer mir zurecht,/ Haarscharf geschliffen, und in rohem Gauklerspiele/ Wähl ich das Tiefste deiner Liebe mir zum Ziele" Baudelaires Blumen des Bösen, der Titel der Gedichtsammlung ist bezeichnend Programm, aus denen die Beispiele entnommen sind, thematisieren offensichtlich und untergründig ihre artifizelle Religiosität und zeigen an, wie sehr sich die .

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Ch. Baudelaire, Die Blumen des Bösen (Les fleurs du mal), Leipzig 1973, 205 (J'ai cherché dans l'amour un sommeil oublieux;/ Mais l'amour n'est pour moi qu'un matéelas d'aiguilles/ Fait pour donner à boire à ces cruelles filles!, 204). Ebd., 205 (C'est une femme belle et de riche encolure,/ Qui laisse dans son vin traîner sa chevelure./ Les griffes de l'amour, les poisons du tripot,/ Tout glisse et tout s'émousse au granit de sa peau./ [...] Elle croit, elle sait, cette vierge inféconde [...] Que la beauté du corps est un sublime don/ Qui de toute infamie arrache le pardon., 204). Dazu: R. Reschke, „Künstler sind Advokaten der Leidenschaft. Zum Bild des Künstlers bei Friedrich Nietzsche", in: dies., Denkumbrüche mit Nietzsche. Zur anspornenden Verachtung der Zeit, a. a. O., 243f. Ch. Baudelaire, Die Blumen des Bösen, a. a. O., lOlff. (Je veux bâtir pour toi, Madone, ma maîtresse,/ Un autel souterrain au fond de ma détresse,/ Et creuser dans le coin le plus noir de mon cœur,/ Loin du désir mondain et du regard moqueur,/ Une niche, d'azur et d'or tout émaillée,/ Où tu te dresseras, Statue émerveillée./ [...] Ta Robe, ce sera mon Désir, frémissant,/ Onduleux, mon Désir, qui monte et qui descend,/ Aux pointes se balance, aux vallons se repose,/ Et revêt d'un baiser tout ton corps blanc et rose./ [...] Enfin, pour compléter ton rôle de Marie,/ Et pour mêler l'amour avec la barbarie,/ Volupté noire! Des sept Péchés capitaux,/ Bourreau plein de remords, je ferai sept Couteaux/ Bien affilés, et comme un jongleur insensible,/ Prenant le plus profond de ton amour pour cible, lOOf.).

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christliche Moralität eingenistet hat in die tiefsten Berührungen mit dem Leben und in die Gegenständlichkeit der Literatur, in ihre Sprache und Affektgeladenheit: Süße, Trauer und Tod, Reue, Züchtigung des Hochmuts, schlechtes Gewissen und Keuschheit, Sühne, Sünde und Gott, die Litanei des Satans34, Totentanz, Madonnenbilder und Hurenporträts geben ein verräterisches Spektrum. Ihre Idealität fällt dabei unter die Rubrik nicht der Lüge, sondern des Hinzu-Lügens und des verzerrenden Blicks: ,jDas lauert gleichsam der Wirklichkeit auf, das bringt jeden Abend eine Handvoll Curiositäten mit nach Hause [...] Aber man sehe nur, was zuletzt herauskommt ein Haufen von Klecksen, ein Mosaik besten Falls, in jedem Falle etwas Zusammen-Addirtes, Unruhiges, Farbenscheiendes" (KSA, GD, 6, 115). Neben Baudeiahe sind es vor allem die Brüder Goncourt, in deren Arbeiten Nietzsche den Beweis seiner Kritik sieht. Was im Rausch entsteht, der für alle Kunst Voraussetzung ist, für die moderne allerdings der Rausch in seiner krankhaften, d. h. selbstzerstörenden Potenz, ist das Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle, aus der heraus man an die Dinge abgibt: ,,[M]an zwingt sie von uns zu nehmen, man vergewaltigt sie, man heisst diesen Vorgang Idealisiren" (ebd., 116). Die Moderne idealisiert ihren eigenen endlosen Niedergang, überlistet ihre Unfähigkeit zum Leben, die sich in einer verquälten Erotik und nervösen Sinnlichkeit35 darstellt, so dass alle und alles etwas Flimmerndes, Zitterndes, Wirbelndes erhalten. Heroische Taten traut man sich und seinen Helden nicht (mehr) zu, höchstens „prahlerische Unthaten" (KSA, MA, 2, 427). Das Elend gründet in den Realitäten und Begierdeobjekten ihrer sinnlichen Obsessionen und schreibt sich, gräbt sich ein in die poetischen Landschaften der imaginierten Bordelle, Boudoirs und schäbigen Straßenecken, der Spelunken und Beichtstühle, mit dem Geruch von Verwesung und Heiligkeit, und der Alchimie des Leids den verdammten Frauen und den guten Schwestern, in denen sich eine eigenwillige Dynamik zwischen Gier und Askese vollzieht. Ein Prozess, der bis in die Spätmoderne reicht. Georg Batailles Obszönes Werk bringt auf den Punkt, was seine Landsleute in den Möglichkeiten des 19. Jahrhunderts artikuliert haben. Im beständigen Hunger nach Leben reibt sich der moderne Künstler auf und transzendiert die Sehnsucht und glühende Trauer durch eine rabiate Entblößung und Verkehrung (KSA, NF, 13, 79) in ihre ästhetische Vollendung. Sie alle, Baudelaire, Balzac, Hugo sind auf diese Weise Entdecker des Erhabenen, des Hässlichen und Grässlichen, des Grauens, der Effekte, sie sind Virtuosen „in der Kunst der Schauläden" (KSA, JGB, 5, 202), „mit unheimlichen Zugängen zu Allem, was ver-

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,

führt, lockt, zwingt, umwirft, geborene Feinde der Logik und der geraden Linien, begehrlich nach dem Fremden, dem Exotischen, dem Ungeheuren, dem Krummen, dem Sich-Widersprechenden" (ebd., 203). Was aber diese „letzten grossen Suchenden" (ebd., 202) mit aller ihrer Sprachgewalt nicht deutlich auszudrücken vermögen und es

Titel zweier Gedichte von Charles Baudelaire aus Die Blumen des Bösen (Les fleurs du mal), a. a. 0.,33f. u. 218f. ,,[A]uf diese verstehen sich ja die Kinder dieses Jahrhunderts" (KSA, MA, 2, 427). Titel eines Gedichts von Baudelaire aus den Blumen des Bösen {Les fleurs du mal), a. a. O., 133. Dazu K. Ebeling, Die Falle. Zwei Lektüren zu Georges Batailles Madame Edwarda ", Wien 2000. „

Renate Reschke

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vielleicht nicht wollen, auch Nietzsche lässt es als Frage im Raum darin sieht er sie als Künstler von europäischem Rang. Das ist ihre innere Not und das Bewusstsein einer gefühlsmäßigen Leere, für die kein neuer und anderer oder besserer Inhalt in Sicht schien. Zwischen den Extremen des Hochfliegend-Befreienden und des ZuKreuze-Kriechens vollzieht sich eine artistische décadence, die sich dem Nihilismus anverwandelt und feinnervig die Lust an eben diesen Extremen in Kunst übersetzt. So gebiert die innere Not die Lust an ihr und begierdevoll macht sie der moderne Künstler zu seinem künstlerischen Gegenstand. Wo Gott nicht mehr Inhalt sein kann, er weder Akzeptanz noch Signifikanz besitzt, können wenigstens die Angst vor der Leere und die Surrogate ihrer Bändigung, als Lust maskiert, an seine Stelle treten, um der Vereinsamung selbstbetrügerisch zu entgehen. Die Heftigkeit, mit der dies geschieht, verrät die uneingestandene Angst, die dahinter steht. Doch Angst ist nicht mehr in Glauben zu verwandeln, eher oder nur noch in Aggression, gegen andere und vor allem gegen sich selbst. Das Begehren, das seit Hegel die philosophischen Diskurse bis in die Spätmoderne bestimmt, stürzt sich in vorauseilender Verzweiflung auf die Kontrastbereiche, die Gott negieren, auf die Sinne und in die Sinnlichkeit, um darin eine trügerische Geborgenheit zu finden, die nur noch als Illusion zu (er)leben ist und nur noch Wort, Sprache, Zeichen, Literatur werden kann. Existentielle Verunsicherungen und Leidensfähigkeit, deren Metier ehedem die Religion war, finden in der Kunst eine ambivalente Heimstatt: Sie höhlen sie aus. Ihre nicht mehr zu negierende Sinnlichkeit eskaliert zur Unmöglichkeit auch ihrer künstlerischen Unmittelbarkeit. Ihre Exaltation ist nicht mehr skandalös, sie gehört zu ihrem Wesen. Und gerade deshalb kann sie nicht mehr unmittelbar, sondern nur als und in subtil-geistiger Reflexion ins ästhetische Leben treten. Die intendierte Vulgarität liegt in genau dieser Abhängigkeit. Ihre bloße Apotheose wäre nichtig. Für Nietzsche das untrüglichste Zeichen einer Verbindung von Religion und Kunst nur auf Zeit. Auch wenn Arthur Rimbaud sagt: „Ich warte auf Gott wie ein Vielfraß auf Speise". Eine bemerkenswerte poetische Formulierung für die Sehnsucht nach der verlorenen Geliebten. Nicht sie selbst mehr, sondern die Sehnsucht nach ihr ist das eigentliche Thema der Kunst (in) der Moderne. Als Sehnsucht bewohnt sie ihr neues Domizil. Die Säkularisation (in) der Moderne allerdings ist für Nietzsche davon unberührt und kulturell irreversibel, die Umwertung der Werte bleibt Programm. Aber dies ist ein anderes Thema. ,

„Aber wer vermöchte genau auszusprechen, was alle diese Meister neuer Sprachmittel nicht deutlich auszusprechen wussten?" (KSA, JGB, 5, 202). Georges Bataille wird Mitte des 20. Jahrhunderts dazu auffordern, die Angst bewusst zu bejahen und sie als Voraussetzung kultureller Transgression anzuerkennen und zu verstehen (G. Bataille, Das obszöne Werk, Reinbekbei Hamburg 1997, 229). A. Rimbaud, a. a. O., 309 (J'attends Dieu avec gourmandise, 308).

Annemarie Pieper

Das stille Auge der Ewigkeit Nietzsches

dionysische Rechtfertigung der Kunst

die Sinne an. Sie bringen insbesondere Auge und Gesicht und zu Gehör, das mehr ist als ein Konglomerat von Farben und Geräuschen, nämlich etwas Ausersehenes und Unerhörtes, etwas im Wortsinn Sensationelles. Obwohl wir daran gewöhnt sind, uns mittels der Sinne in der Welt zu orientieren, nimmt die ästhetische Wahrnehmung eine besondere Stellung ein, insofern Kunstobjekte uns die Welt anders sehen, hören, fühlen lassen. Zwar ist auch unsere gewöhnliche Sicht der Dinge keine eins-zu-eins-Abbildung von Wirklichkeit, sondern eine von Vorstellungen geleitete Interpretation optischer, akustischer, olfaktorischer und taktiler Reize nach Maßgabe bestimmter Entwürfe des Verstandes, der die Welt in begrifflichen Konstrukten einzufangen sucht. Dabei filtert er aus dem sinnlichen Material selektiv das heraus, was seine Entwürfe von Welt bestätigt. Alles übrige lässt er außer Betracht. Aber gerade dieser Überschuss, den die Reflexion zur Gegenstandserkenntnis nicht benötigt, ist für die ästhetische Wahrnehmung und die Kunst das Interessante, denn von diesem Überfluss leben ihre Gebilde, während er für den Verstand etder irrationale Rest, der im Abstraktionsprozess was ganz und gar Überflüssiges ist durch den kategorialen Raster fällt und aus der Konstruktion des Wesens der Dinge ausgeschieden wird. Nietzsche hat sich zeit seines Lebens mit diesem Konkurrenzverhältnis zwischen ästhetischer Wahrnehmung und Reflexion, zwischen Kunst und Wissenschaft beschäftigt. Als Dichter und Philosoph war ihm daran gelegen, der durch die traditionelle Philosophie vorgenommenen Abwertung des Sinnlichen insgesamt, des Ästhetischen im besonderen seine Auffassung entgegenzusetzen, die den Verstand in seine Schranken weist und dem Ästhetischen ein eigenes Feld eröffnet, auf welchem der Verstand nur Mitspieler, aber nicht Hauptdarsteller und erst recht nicht der Regisseur ist. Die ästhetische Inszenierung von Wirklichkeit geschieht durch die Einbildungskraft. Einbildungskraft ist ebenso sehr Phantasie wie Geschmack im Sinne von Urteilskraft. Nietzsche war ein Philosoph, der in Gegensätzen dachte, ohne das Entgegengesetzte vermitteln oder versöhnen zu wollen. Beide Seiten des Gegensatzes haben ihre Berechtigung, da sie sich wechselseitig bedingen, und stehen daher gleichwertig nebeneinander. Gegensätze waren der traditionellen Metaphysik, die nur an Einheit interessiert war

Kunstgebilde (Artefakta) sprechen Ohr etwas

zu

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Annemarie Pieper

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und entsprechend auf identitätsbildende Konzepte setzte, ein Dorn im Auge. Alles Différente müsste aufgehoben, das Zuviele beseitigt werden, sei es durch Hierarchisierung, sei es durch Eliminierung einer der beiden Seiten. Die Strategie der Hierarchisierung bestimmt einen der beiden Pole als den höherrangigen und ordnet diesem den anderen unter: den Sklaven dem Herrn, den Menschen dem Gott, das Sinnliche dem Verstand. Die Strategie der Eliminierung schließt mittels Unterdrückung den als minderwertig deklarierten Pol des Gegensatzes aus: das Böse aus dem Guten, den Affekt aus der Selbstbeherrschung, das Glück aus der Moral, den freien Willen aus der Religion. Nietzsche wollte das so nicht gelten lassen. Gestützt auf die Beobachtung der Naturprozesse ging er davon aus, dass Gegensätze sich weder hierarchisieren noch eliminieren lassen: Ohne Sonnenuntergang kein Sonnenaufgang und umgekehrt, ohne Kathode keine Anode und entsprechend kein Strom. Nietzsches Philosophieren in Gegensätzen auf dem Gebiet der Reflexion verdankte sich einer Ein-Sicht auf dem Gebiet des Sinnlichen: dass wir in Ermangelung eines absoluten Standpunktes die Dinge immer nur perspektivisch wahrnehmen. Zwar wollen wir stets das Ganze in den Blick bekommen, aber aufgrund des Fehlens einer Superperspektive, die uns dieses Ganze gleichsam mit einem Blick sehen lässt, können wir uns dem Ganzen nur durch Perspektivenwechsel annähern, indem wir uns so viele Aspekte wie möglich in den Blick rücken und dabei

jeden Aspekt gleich gewichten.

Der Verstand, von seiner Natur her ökonomisch eingestellt, reduziert auf seinem Gebiet der Reflexion die Perspektivenvielfalt der sinnlichen Wahrnehmung, um den Überblick nicht zu verlieren. In der traditionellen Philosophie geschah dies wie gesagt mit Hilfe eines rigide gehandhabten Einheitsprinzips. Nietzsche hingegen favorisierte das Gegensatzprinzip, das immerhin zwei unterschiedliche Denkperspektiven fordert und den Verstand zum dialektischen Wechsel von der Position zur Gegenposition nötigt. So bleibt er flexibel und skeptisch, was ihn vor dem Erstarren in Dogmatismus und Ideologie bewahrt. Titel und Untertitel meines Vortrags bilden ebenfalls einen nicht hierarchisch zu verstehenden Gegensatz: Das stille Auge der Ewigkeit und das Dionysische verhalten sich zueinander wie Sein und Werden, wie Unveränderliches und Geschichtliches. Der Ausdruck „stilles Auge der Ewigkeit" findet sich in Aphorismus 506 von Nietzsches Schrift Morgenröthe (KSA, M, 3, 296):

„Wie! Man müsse ein Werk gerade so auffassen, wie die Zeit, die es hervorbrachte? Aber man hat mehr Freude, mehr Erstaunen und auch mehr zu lernen daran, wenn man es gerade nicht so auffasst! Habt ihr nicht gemerkt, dass jedes neue gute Werk, so lange es in der feuchten Luft seiner Zeit liegt, seinen mindesten Werth besitzt, gerade weil es so sehr noch den Geruch des

Marktes und der Gegnerschaft und der neuesten Meinungen und alles Vergänglichen zwischen heut und morgen an sich trägt? Später trocknet es aus, seine ,Zeitlichkeit' stirbt ab und dann erst bekommt es seinen tiefen Glanz und Wohlgeruch, ja, wenn es darnach ist, sein stilles Auge der Ewigkeit." -

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Ein Kunstwerk, das noch feucht ist, ist nach Nietzsche seiner Zeit verhaftet. Ihm kommt bestenfalls dokumentarischer Wert zu: Verstrickt in das Zeitgeschehen hat es den Stellenwert von Ereignissen, denen eine bloß temporäre Bedeutung zukommt. Erst wenn das Kunstwerk getrocknet ist, wird sich zeigen, ob ihm eine Qualität innewohnt, die

Das stille Auge der Ewigkeit

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ihm überzeitliche Bedeutung verleiht unangesehen seiner Verhaftetheit in der Zeit, in der es entstanden ist und die sich in ihm spiegelt. Ein Kunstwerk wird unsterblich, wenn aus ihm das stille Auge der Ewigkeit blickt. Was Nietzsche damit meinen könnte, möchte ich in einem ersten Anlauf zu klären versuchen, indem ich den Ausdruck einmal aus der Perspektive des Kunstwerks und zum anderen aus der Optik des Betrachters analysiere. Nietzsche erläutert ja in der Regel seine in aphoristischer Kürze aufgezeichneten Einfälle nicht, so dass man sie selbst weiter- und ausspinnen muss. Was also hat es mit einem Kunstwerk auf sich, aus dem das stille Auge der Ewigkeit den Betrachter anblickt? Dieses Auge ist still, d. h. es ist stillgestellt: Es bewegt sich nicht mehr. Sein Blick ist erstarrt. Dieser starre, vielleicht sogar starrende Blick fixiert den Betrachter, dessen lebendige Augen sich über das Kunstwerk bewegen und es in seinen Einzelheiten zu erfassen trachten. Mit zunehmender Konzentration werden die Augenbewegungen ruhiger. Wie man einem Pferd Scheuklappen anlegt, damit durch die seitliche Begrenzung des Blicks die Augen nicht abgelenkt und dadurch nach vorn ausgerichtet werden, so blendet der Betrachter eines Kunstwerks alles Nebensächliche aus, bis sein auf das Kunstwerk gerichteter Blick in ein stilles Schauen übergeht. In diesem Schauen fallen der Blick des Betrachters und das stille Auge der Ewigkeit im Kunstwerk zusammen. Der nach außen auf das Kunstwerk gerichtete Blick des Betrachters wendet sich auf den Betrachter zurück und durchdringt als stilles Auge der Ewigkeit sein Inneres. Er sieht sich gleichsam im Kunstwerk als von diesem gesehen. Man könnte diese Erfahrung auch akustisch wenden und auf ein musikalisches Kunstwerk bezogen sagen: Der Hörende erfahrt sich als von der Musik Erhörter. Ob Schauen oder Hören oder Berühren: Gemeint ist ein ganzheitliches Erlebnis, in welchem Betrachter und Kunstwerk einander so begegnen, dass sie eine Einheit bilden, ohne dass das Bewusstsein der Verschiedenheit gelöscht würde, denn dies würde einen Selbstverlust bedeuten. Einen solchen, von Nietzsche abgelehnten Vorgang beschreiben etwa die Mystiker in der religiösen Kontemplation: In der Schau Gottes gibt der Mensch sich völlig auf, verschwindet als er selbst mitsamt seiner Identität in der göttlichen Fülle, die ihn unterschiedslos in sich aufsaugt. Damit nähern wir uns Nietzsches Kritik der traditionellen Metaphysik, denn Kunstwerke sub specie aeternitatis zu betrachten, ist nicht unproblematisch. Dies möchte ich an Piatons Höhlengleichnis veranschaulichen. Sie erinnern sich: Piaton schildert den Aufenthaltsort der Menschen als eine Höhle. Sie sitzen dort am Hals gefesselt und starren gebannt auf eine Felswand. Sie sind also in einer doppelten Weise „gefesselt". Was sie dort wie auf einem überdimensionalen Bildschirm zu sehen bekommen, sind Schwarz-Weiss-Bilder, von denen sie nicht wissen, dass es sich um Schatten handelt. Hinter ihrem Rücken brennt nämlich ein Feuer, vor dem miteinander redende und gestikulierende Personen auf und abgehen und Gegenstände hin und her tragen. Deren Schatten sind es, die die gefesselten Menschen wahrnehmen in der Meinung, wirkliche -

Dinge in ihrer Totalität zu erfassen, die Welt also als ganze so zu erkennen, wie sie tatsächlich ist. Diese Menschen haben nur eine einzige Perspektive, die sie verabsolutieren. Dass sie manipuliert werden, merken sie erst, nachdem ein Aufklärer wie Sokrates ihnen den Kopf gewaltsam nach hinten gedreht und sie auf diese Weise zu einem Perspektiven-

Annemarie Pieper

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Wechsel gezwungen hat. Nachdem sich ihre Augen an das Licht des Feuers gewöhnt haben, entdecken sie plötzlich, dass es noch mehr und anderes zu sehen gibt als die Gebilde auf der Felswand. Sie sehen nun eine farbige, hell erleuchtete Szenerie, die ihnen bisher verborgen war, da sie sich ihrem Blickfeld entzog. Doch das eigentlich

Neue, das der Perspektivenwechsel mit sich bringt, ist die Geburt des Verstandes. Die Sinne konstatieren neben Welt 1 noch eine Welt 2, aber dass zwischen diesen beiden

Welten ein Zusammenhang besteht, nämlich eine Kausalbeziehung, der zufolge Welt 2 die Ursache von Welt 1 ist und das Feuer wiederum Ursache der Sichtbarkeit beider Welten für des Sehens mächtige Augen mit dieser Einsicht bringt sich der Verstand ins Spiel. Er stellt logische und als solche nicht sichtbare, unsinnliche Beziehungen zwischen den Dingen her. Ursache-Wirkungsverhältnisse kann man nicht mit den Augen wahrnehmen. Dieses Beziehungsnetz kategorialer Begriffe, mit denen das Denken die Vielfalt heterogener Dinge überzieht, sorgt dafür, dass die Welt nicht in unterschiedliche Teilwelten zerfallt, sondern dem Menschen als ein einziges, in sich strukturiertes Ordnungsgebilde erscheint, wobei das Ordnungsgefüge eben die Zutat des Verstandes ist. So weit war Nietzsche, denke ich, mit Piaton und den im Fahrwasser Piatons philosophierenden Metaphysikern einig. Was jedoch die Bewertung der Verstandesleistungen betrifft, war Nietzsche völlig anderer Meinung. Kehren wir noch einmal zum Höhlengleichnis zurück. 1. Perspektive: die Phänomene auf der Felswand. 2. Perspektive: die Gegenstände hinter den Höhlenbewohnern. 3. Perspektive: die kausale Beziehung zwischen den Originalgegenständen und ihren Schatten sowie zwischen dem Licht und den sichtbaren Dingen überhaupt. Damit ist für Piaton aber der Weg der Erkenntnis noch nicht zu Ende. Man muss zur vollständigen Selbstaufklärung noch aus der Höhle herausgehen, wo anstelle der künstlichen Höhlenwelt die wahre und eigentliche Welt des Lebendigen, der Natur und der Organismen sich auftut, deren Lebensprinzip die Sonne ist. Piatons Charakterisierung dieser Welt als der einzig wahren Welt stößt bei Nietzsche auf heftige Kritik. Denn eigentlich gibt es diese Welt ja nicht, jedenfalls nicht so, wie es Menschen und Dinge gibt. Die Welt außerhalb der Höhle, die für die Welt der Begriffe und Ideen steht, ist ein reines Gedankenkonstrukt, für welches sein Urheber, der Verstand, eine empirisch unbedingte, zeilunabhängige Gültigkeit beansprucht. Der Verstand, so hatten wir gesehen, hat sich nach dem Perspektivenwechsel als Vermittler zwischen Welt 1 und Welt 2 betätigt. Dabei machte er die weitergehende Entdeckung, dass er auch ohne Bezugnahme auf sinnliche Wahrnehmungsgehalte zu denken und abstrakte Zusammenhänge herzustellen vermag. Ohne das Zeugnis der Sinne zu benötigen, konnte er Mathematik und Logik betreiben. Und die Vernunft schließlich hatte es mit ihren eigenen, durch und durch geistigen Produkten zu tun, die Piaton als Ideen bezeichnete, reine Gedankendinge, deren höchstes die Idee des Guten ist. Nietzsches Vorwurf gegen das Platonische Modell richtet sich gegen die Verabsolutierung der durch den theoretischen Verstand und die praktische Vernunft generierten Welt der Begriffe und Ideen, die aus Nietzsches Sicht ungerechtfertigt ist, weil auch die Verstandes- und Vernunftperspektive eben nichts anderes als dies ist: eine Perspektive, deren vorgebliche Höherrangigkeit eine Anmaßung von Verstand und Vernunft ist. Die Seele -

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Das stille Auge der Ewigkeit

Piatons Anamnesislehre hatte einst am Uranos die Ideen geschaut (mit ihrem geistigen Auge) und erinnert sich wieder an das Geschaute. Aber sie soll nach Nietzsche nicht in der Schau verharren, nicht die Schau um des Schauens willen betreiben, sondern das Geschaute als ihren Beitrag in die Sicht der Dinge mit einbringen. Dass die Verabsolutierung der Verstandesperspektive verheerende Folgen für die Kunst hat, liegt auf der Hand. Die Herabstufung und Verächtlichmachung des Sinnlichen hat schon Piaton selbst dazu bewogen, keine Künstler in seinem Idealstaat zuzulassen. Mit Ausnahme der Musik, deren klare Töne noch am wenigsten materiell verunreinigt sind, will Piaton alle Künste aus der Polis verbannt wissen, weil der Umgang mit Materie den Geist von der Beschäftigung mit den Ideen ablenkt. Was den Sinnen gefällt, ist aus der Verstandesperspektive von minderwertiger Qualität und muss daher rigoros ausgemerzt werden, damit der Reinheit des Gedankens kein Abbruch geschieht. Die Platonische Kunstfeindlichkeit wurde nach Nietzsche im Christentum noch intensiviert. Er spürte darin „das Lebensfeindliche, den ingrimmigen rachsüchtigen Widerwillen gegen das Leben selbst: denn alles Leben ruht auf Schein, Kunst, Täuschung, Optik, Nothwendigkeit des Perspektivischen und des Irrthums. Christentum war von Anfang an, wesentlich und gründlich, Ekel und Ueberdruss des Lebens am Leben, welcher sich unter dem Glauben an ein .anderes' oder ,besseres' Leben nur verkleidete, nur versteckte, nur aufputzte. Der Hass auf die ,Welt', der Fluch auf die Affekte, die Furcht vor der Schönheit und Sinnlichkeit, ein Jenseits, erfunden, um das Diesseits besser zu verleumden" (KSA, GT, 1, 18) dies alles deutete Nietzsche als „ein Zeichen tiefster Erkrankung [...], Erschöpfung, Verarmung an Leben" (ebd., 18f), dem er seine „Artistenmetaphysik" entgegensetzte, die das Leben aus dem Blickwinkel der Kunst ins Visier nimmt. Kehren wir nach unserem Exkurs über Piatons Höhlengleichnis wieder zu Nietzsches Ausdruck „das stille Auge der Ewigkeit" zurück, dessen Ambivalenz nun deutlicher hervorsticht. In positiver Hinsicht blickt dem Betrachter aus dem Kunstwerk ein Auge entgegen, das sich gleichsam satt gesehen hat. Sein Verlangen, zu sehen, ist gestillt. In Bezug auf das, was sich im Bild zeigt, hat es alles gesehen, ist alles zur Darstellung gebracht. Dieser Blick überträgt sich auf den Betrachter, der über das im Kunstwerk Sichtbare hinaus nichts mehr zu sehen begehrt, weil Wahrnehmung und Wahrgenommenes zusammenfallen. Dem Betrachter gehen im Anblick des Kunstwerks die Augen auf und über: Er sieht sich als sehend und gesehen. „Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden [...] der edelste Thon, der kostbarste Marmor wird hier geknetet und behauen, der Mensch [...]." (ebd., 30) Entscheidend bei diesem Vorgang des Schauens ist für Nietzsche, dass seine sinnliche Komponente nicht verleugnet wird, sondern als Materialisierung des Geistigen die Idee zur Erscheinung bringt. Piaton hatte diese Schau intellektaalisiert und moralisiert, indem er die Ideen von der empirischen Welt abkoppelte und für sich setzte. Die Idee so

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des Guten wurde bei ihm zu einem entsinnlichten Auge der Ewigkeit, einem blicklosen Auge, das im Starren der Seele auf das Gute erstarrt ist. Nietzsche hingegen möchte die Lebendigkeit des Auges, seine Beweglichkeit gewährleistet wissen. Es soll nicht passiv in der Schau des Ewigen versinken, sondern aktiv das Ewige in die Zeit hinein sehen und ihm eine sinnliche Gestalt verleihen, um aus der Welt ein Kunstwerk zu machen.

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Allen metaphysischen Versuchen, das Leben durch Flucht in eine transzendente Ideenwelt mittels der theoretischen Vernunft zu intellektualisieren oder mittels der praktischen Vernunft zu moralisieren, setzt Nietzsche sein Projekt einer Ästhetisierung dieser unserer hiesigen, empirischen Welt entgegen. Kunst so seine These macht das Leben erträglich. In seiner frühen Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik notiert Nietzsche, „dass nur als ein ästhetisches Phänomen das Dasein und die Welt gerechtfertigt erscheint" (KSA, GT, 1, 152). Noch unter dem Eindruck der Schopenhauerschen Willensmetaphysik stehend, sieht der junge Nietzsche den Menschen als Spielball eines blindwütig und ziellos tobenden kosmischen Willens. Dieses eruptive Chaos, das der Mensch nicht zu bändigen vermag, verhindert ein sinnvolles Dasein. Den Menschen ekelt es, irgendetwas zu tun, denn seine „Handlung kann nichts am ewigen Wesen der Dinge ändern [...]- die wahre Erkenntniss, der Einblick in die grauenhafte Wahrheit überwiegt jedes zum Handeln antreibende Motiv [...]. In der Bewusstheit der einmal geschauten Wahrheit sieht jetzt der Mensch überall nur das Entsetzliche oder Absurde des Seins [...]. Hier, in dieser höchsten Gefahr des Willens, naht sich, als -

rettende, heilkundige Zauberin, die Kunst; sie allein

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vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben läßt." (ebd., 57) Der Mensch leidet an der ihm unerträglichen Welt, in deren Gewaltpotential er unentrinnbar verstrickt ist. Das einzige, was er ihr entgegen setzen kann, ist die Kunst. In seinen Kunstprodukten gestaltet er eine andere Welt, eine Welt, in der er nicht mehr versprengtes Teil einer explosionsartig vonstatten gehenden Evolution ist, sondern Schöpfer eines Sinnzusammenhangs. In Kunstwerken wird exemplarisch sichtbar, wie eine durch und durch menschliche Welt aussähe, in welcher der Wille domestiziert und seine Kraft zur Erreichung eines ihm vorgegebenen Sinnzieles kreativ eingesetzt würde. In einer solchen Welt spielen Sinnlichkeit und Geist miteinander. Sie kommunizieren in Farben und Tönen, malen und musizieren mit Wörtern, Sprachrhythmen und Reimen. Nietzsche spricht in der Geburt der Tragödie von zwei künstlerischen Urtrieben im Menschen, dem dionysischen und dem apollinischen Trieb. Diese anthropologische Grundausstattung weist daraufhin, dass für Nietzsche jeder Mensch als Künstler, nämlich als Lebenskünstler angelegt ist, der aus seinem Leben ein Kunstwerk machen kann, etwas von ihm selbst Geschaffenes ein Sinngebilde. Zwar galt es auch für Piaton und seine idealistischen Nachfolger als ausgemacht, dass der Mensch sein Leben selber gestalten muss, aber sie plädierten gerade nicht für eine Ästhetisierung, sondern für deren Gegenteil: eine Anästhetisierung des Lebens. Die sokratische These etwa, man solle sich bereits im hiesigen Leben in das Sterben einüben, um nach dem Tod umso besser als reiner Geist existieren zu können, diese These vom Sterbenlernen im Leben fordert die Ausschaltung der Sinne und den Verzicht auf die Befriedigung der Triebe, soweit dies möglich ist für Wesen, die zwar im Besitz von Vernunft sind, aber auch einen Körper haben. Die körperlichen Bedürfhisse sollen ignoriert werden, damit die geistigen Fähigkeiten Verstand und Vernunft nicht abgelenkt werden. Nietzsche bezeichnet Sokrates und Piaton wie überhaupt den Idealisten als Typus des theoretischen Menschen, der die Absurdität des Daseins dadurch zu überwinden sucht, dass er sich dem Chaos der Welt entzieht und sich in den Gesetzen des Denkens zu beruhigen -

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trachtet. Für Nietzsche ist dies eine „Wahnvorstellung": Jener unerschütterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei." (ebd., 99) Weder der wahre Erkenntnis generierende Verstand noch die das Gute wollende praktische Vernunft vermögen nach Nietzsche das „Unheil im Wesen der Dinge" (ebd., 69), „die ewige Wunde des Daseins [zu] heilen" (ebd., 115). Die Natur und zwar sowohl die außermenschliche als auch die menschliche Natur bleibt, was sie ist, ein wüstes Chaos, das an sich selber keine Ordnungsstruktaren besitzt und sich auch nicht durch Bezugnahme auf die Idee des Guten verbessern lässt. Kein Wunder, dass der Idealist sich mit Grausen abwendet und sich schließlich der Beschäftigung mit den geistigen Konstrukten von Verstand und Vernunft widmet. Eine solche Intellektaalisierung und Moralisierung lässt nach Nietzsche jedoch nicht nur den Menschen verkümmern, sondern übersieht auch geflissentlich, dass das Chaos der Welt durch Konzentration auf das rein Geistige keineswegs zum Verschwinden gebracht wird. Es wird lediglich aus dem Blick gerückt. Nietzsches Konzept einer Ästhetisierung des Lebens hingegen bezieht jene Komponente, die Piaton ausgeschaltet wissen wollte, die Komponente des Sinnlichen, nachdrücklich mit ein und setzt der schieren Kontemplation des Ewigen, der Schau um des Schauens willen, eine „ästhetische Lust" (ebd., 152), eine „künstlerische Urfreude" (ebd., 141) entgegen, einen sinnlichen Genuss des Lebens, in dem nicht nur der Geist, sondern auch der Körper auf seine Kosten kommt. Ästhetisierung ist daher in einer doppelten Bedeutung zu verstehen: zum einen im Sinn des griech. Wortes aisthesis sinnliche Wahrnehmung; zum anderen im Sinn des Künstlerisch-Handwerklichen. Der dionysische Trieb im Menschen ist ein Ausläufer des kosmischen Urwillens, der in seinem rauschhaften Begehren zur „orgiastischen Selbstvernichtang" (ebd., 137) führen würde. Der apollinische Trieb hingegen setzt seine formende und bildnerische Kraft ein, um den dionysischen Trieb zu mäßigen und zu kanalisieren. Dem blinden Willen werden gewissermaßen Augen eingesetzt, die ihn sehend machen und ihn dazu befähigen, seine zerstörerische Kraft kreativ umzunutzen. Das Apollinische, das für sich selbst betrachtet nichts als Auge ist- eben jene Vernunft, die Piaton als in die Schau der Ideen versunken charakterisiert hat das Apollinische also, wenn es sein stilles Auge der Ewigkeit aus seiner Fixierung auf die Idee löst und auf das dionysische Chaos richtet, muss in dieses Chaos etwas hinein sehen, um ihm Form und eine Struktur zu geben. Dieses Hineingeschaute bezeichnet Nietzsche als Mythus. Mythus ist gleichsam die in die Zeit projizierte Idee oder wie Nietzsche sagt „das zusammengezogene Weltbild [...] als Abbreviatur der Erscheinung" (ebd., 145). Aus der Perspektive des Apollinischen beinhaltet der Mythus die kulturellen Leistungen eines Volkes in Kurzform und deutet sie im Kontrast mit dem Chaos, das der Urwille produziert hat, als ein kollektives Kunstwerk, in welchem das menschliche Individuum nicht mehr zufälliger Auswurf der Evolution ist, sondern schöpferischer Gestalter seiner Lebenswelt. Nietzsche sagt ausdrücklich, das Apollinische sei eine Täuschung, eine Illusion (ebd., 137), denn der Mythus als Ausgeburt apollinischer Sehnsüchte, Träume und Phantasien -

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Annemarie Pieper

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verändert de facto ebenfalls nichts am kosmischen Chaos. Sehr wohl aber trägt er als sinnstiftendes Element dazu bei, dass der Mensch in dem Bereich, in welchem er sich vorfindet, in seinem individuellen und in seinem gesellschaftlichen „Leib", einen von ihm selbst hervorgebrachten und kultivierten Sinnkosmos hat, der ihm Durchblick verschafft und damit die Orientierung erleichtert. Das apollinische Auge ist, wie Nietzsche in Anspielung auf das Höhlengleichnis sagt, „sonnenhaft" (ebd., 28). Es durchdringt die an sich wirre Welt und erleuchtet sie mit seinem Blick gleichsam wie ein Scheinwerfer von innen, (ebd., 138) Es ist, so Nietzsche, „als ob jetzt die Sehkraft [der] Augen nicht nur eine Flächenkraft sei, sondern in's Innere zu dringen vermöge" (ebd., 140). Fasziniert blickt der aufgeklärte, zum Bewusstsein seiner selbst und der Welt gelangte Mensch auf das Chaos in ihm und außer ihm, das eigentlich seine Unlust erregt, da dieses barbarische Durcheinander nicht beherrschbar ist, in seiner ,,durchleuchtete[n] Allsichtbarkeit" (ebd., 150) jedoch zu einem Kunstgebilde umgeformt wird, an dessen einzigartiger Individualität und Schönheit er als Betrachter, der zugleich Künstler ist, Freude empfindet. Nietzsche spricht der Kunst eine „metaphysische Verklärungsabsicht" zu (ebd., 151). Kunst ist fiktional, aber die Realität, die durch sie erzeugt wird, hat nicht den abgehobenen Seinsstatus des Platonischen Ideenhimmels, sondern verfügt über Bodenhaftung, insofern sie das Material, das sie verklärt, den Sinnen entnimmt. Ich möchte versuchen, die Eigentümlichkeit der ästhetischen Wahrnehmung, die ein Akt künstlerischer Gestaltung ist und nicht bloße Rezeption, anhand eines Beispiels zu erläutern. Stellen Sie sich die ästhetische Wahrnehmung einmal nach Analogie eines Kaleidoskops vor. Wenn Sie ein Kaleidoskop betrachten, sehen Sie am Ende des Rohrs nur einen Haufen formloser, unscheinbarer bunter Glasscherben, die für das kosmische Chaos stehen mögen. Dieser Anblick löst mit Sicherheit kein Wohlgefallen aus. Um ihn zu vermeiden, stehen mehrere Strategien zur Verfügung. Man kann sich von dem Scherbenhaufen abwenden und in Gedanken eine vollkommene Welt entwerfen, in der alle beim Denken verfertigten Bestandteile ein wohl geformtes, geordnetes Ganzes bilden. Das wäre die Platonische Lösung. Man kann aber auch und das ist Nietzsches Vorschlag die Einbildungskraft bemühen, etwas zu erfinden, das es ermöglicht, die chaotische Welt den Scherbenhaufen so zu transformieren, dass er den Anblick eines wohl geformten Ganzen bietet. So konstruiert die Einbildungskraft, indem sie zwischen dem Chaos und den Ideen hin und her blickt, ein System von Spiegeln, welches eben jene ästhetische Verklärung der Dinge herbeiführt, die uns einen Haufen Glasscherben plötzlich als schön erscheinen lässt. Genau dies bedeutet auch das Wort Kaleidoskop, das aus drei griechischen Wörtern zusammengesetzt ist: kalos heißt schön, eidos heißt Idee und skopein heißt schauen. Wer durch ein Kaleidoskop schaut, erblickt demnach etwas Schönes, das in der gelungenen Synthese von sinnlichem Material und geistiger Form aufscheint. Die Phantasie macht etwas (ein phantasma) als etwas Schönes, als ein Kunstwerk sichtbar, indem sie ein geistiges Konstrukt versinnlicht bzw. sinnliches Material vergeistigt. Dieser Vorgang der Ästhetisierung ist deshalb lustvoll, weil er den Menschen als ganzen in Anspruch nimmt: nicht bloß seine Sinne, auch nicht bloß seinen Kopf oder sein Herz und ebensowenig bloß seinen Unterleib. Wie es das deutsche Wort für Phan-

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tasie, Einbildungskraft, zum Ausdruck bringt: Der Künstler legt seine ganze Kraft in das Bemühen, ein Material zu bilden in der doppelten Bedeutung des Wortes bilden. Er setzt etwas ins Bild, indem er ihm eine Form gibt. Die Idee wird hineingebildet in das Chaos und gibt ihm eine schöne Gestalt. Wir deuten uns die Welt aus Bildern, die wir den Dingen einbilden, und der Künstler schafft am Leitfaden dieser Vor-Bilder ein

Kunstwerk. Dabei bildet er zugleich sich selbst. Während der starre Blick des Platonischen Auges der Ewigkeit nur eines sehen lässt, in welchem alle Vielfalt verschwunden ist, vervielfältigt der gebrochene Blick des Kaleidoskops die Vielfalt ins Unendliche, doch so, dass er die Versatzstücke des Chaos durch Spiegelung kunstvoll arrangiert wie auch Nietzsche selbst die Welt in unzähligen Aphorismen einzufangen und zu vervielfältigen suchte, indem er an die Stelle der großen metaphysischen Gesamtsysteme kleine geschliffene Gedankensplitter setzte, die in all seinen Widersprüchaus unterschiedlichen Perspektiven das Leben reflektieren lichkeiten und Ungereimtheiten. Meine Erläuterung der ästhetischen Wahrnehmung am Beispiel des Kaleidoskops ist auch noch in einer anderen Hinsicht hilfreich. Das schöne Bild, das sich vor unseren Augen erzeugt, hat nur einen Augenblick lang Bestand. Es ist eine einmalige Momentaufnahme von etwas, das wieder vergeht und genau so nie wiederkehren wird. Mit jedem Drehen des Kaleidoskops, mit jedem Perspektivenwechsel entsteht eine neue, ganz eigene, individuelle Konstellation, die wir einerseits festhalten und für die Ewigkeit bewahren möchten, andererseits lustvoll wieder zerstören in Erwartung eines noch schöneren, beglückenderen Anblicks. Es ist der dionysische Trieb, der uns drängt, aus dem stets gleichen Spielmaterial immer neue, überraschende, ästhetisch entzückende Kombinationen herzustellen, und der apollinische Trieb schleift immer wieder neue, nicht stille, sondern durch die Empirie gebrochene Augen der Ewigkeit zurecht, die „selbst das Hässliche und Disharmonische" (ebd., 152), das Leiden und den Schmerz verklären, indem sie auch das Negative in ein gelungenes Ganzes integrieren. Nietzsche vergleicht die künstlerische Tätigkeit mit dem Spiel eines Kindes, das „Steine hin und her setzt und Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft" (ebd., 153). Dieses scheinbar absichtslose, „spielerische Aufbauen und Zertrümmern der Individualwelt" (ebd.) kennt keine Gewinner und Verlierer. Dionysischer und apollinischer Trieb wetteifern miteinander in der kunstvollen Inszenierung von Welt, fordern sich gegenseitig heraus in der Ästhetisierung des Universums. Der ständige Perspektivenwechsel kommt dem Bedürfnis der Sinne entgegen: sich satt zu sehen, zu hören und zu fühlen. Zugleich wird aber auch die Sehnsucht der Vernunft befriedigt, allem „den Stempel des Ewigen [auf] zu drücken" (ebd., 148), die Vielfalt ganz und gar durchschaubar zu machen auf einen bleibenden, unveränderlichen Grund hin, der sich allerdings dem begrifflichen Denken immer wieder entzieht. Nietzsche beschreibt diesen „Flügelschlag der Sehnsucht" (ebd., 153) als den Drang, „zugleich schauen zu müssen und zugleich über das Schauen hinaus sich zu sehnen" (ebd., 150), „dass wir hören wollen und über das Hören uns zugleich hinaussehnen" (ebd., 153). Die ästhetische Urlust speist sich aus jenem Schwebezustand, in welchem sich ein „Schönheitsschleier" (ebd., 155) über alles Dissonante legt und das Leben als ein durch und durch erfülltes -

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Annemarie Pieper

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empfunden wird. „Ohne Musik" GD, 6, 64) Das gleiche könnte man auch

so

Nietzsche -

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„wäre das Leben ein Irrthum." (KSA,

für andere Ausdrucksformen von Kunst behaupten: Ohne Literatur, ohne Malerei, ohne Theater wäre das Leben ein Irrtum. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen: Ohne ästhetische Wahrnehmung wäre der Mensch ein Irrtum. Er wäre dann nämlich außerstande, zwischen dem chaotischen Material, das ihm seine Sinne zeigen, und der immateriellen Ideenwelt, die ihm Verstand und Vernunft eröffnen, eine Brücke zu schlagen. Ein in sich zerrissener Mensch, dem es nicht gelänge, Körper und Geist in Einklang miteinander zu bringen, wäre in der Tat eine Fehlkonstruktion. Denn ein dualistisch gespaltenes Wesen reibt sich auf im Kampf zweier gegeneinander wirkender Kraftpotentiale, anstatt diese zusammenzuspannen und schöpferisch werden zu lassen im Medium der Einbildungskraft. Die Brücke kann weder von der Sinnlichkeit her geschlagen werden denn die Sinne erfassen nur eine unstrukturierte Vielfalt; sie kann auch nicht von der Seite des Geistes her geschlagen werden, denn Verstand und Vernunft haben nur Zugang zu ihren eigenen abstrakten Begriffskonstrukten, die wie wir gesehen haben zu einer Intellektualisierung und Moralisierung führen, in deren Gefolge den sinnlichen Qualitäten jeglicher Eigenwert abgesprochen wird. Ohne Einbildungskraft, ohne Phantasie, die Sinnlichkeit und Geist zur ästhetischen Wahrnehmung inspiriert, ginge ein Riss durch den Menschen, und ihm bliebe nur die Wahl zwischen einem kruden Materialismus und einem abgehobenen Idealismus, wobei jedoch jeweils die andere „Hälfte" des Menschen auf der Strecke bliebe. Nietzsche hat letztlich unter ästhetischem Gesichtspunkt die Gestalt des Dionysos als Prototyp des geglückten Menschen aufgefasst. Diese „Synthesis von Gott und Bock im Satyr" (KSA, GT, 1,16) vereinigt die äußersten Extreme in einer Gestalt: das Immateriell-Ideelle (den Gott) und das Triebhaft-Sinnliche (den Bock). In der griechischen Mythologie war Dionysos Zagreus der Sohn von Zeus und Persephone. Hera, die eifersüchtige Gattin des Zeus, ließ das Kind von den Titanen zerreißen und verzehren. Zeus konnte gerade nur das Herz des Dionysos retten und seinem Sohn zum zweiten Mal das Leben schenken. Ähnlich zerrissen ist auch der Mensch in sich selbst. Er muss sein Bocksein ebenso in sein Leben integrieren wie sein Gottsein und beides im ästhetischen Spiel so zusammenfügen, dass die Spannung fruchtbar gemacht wird für eine fortgesetzte kreative Selbsterneuerung. Der Mensch erträgt sich selbst nur als Lebenskünstler und sein Dasein nur als Kunstwerk. Bei Dionysos äußert sich das Ästhetische im Tanz nicht im betrunkenen Herumtorkeln, wie der Weingott Bacchus oft beschrieben wird -, sondern im Tanz als einer Bewegung, die ein Maß hat. Der in wilder Kraft herumspringende Bock hat ja den Gott, das Apollinische verinnerlicht, und dies befähigt ihn dazu, seine Bewegungen zu koordinieren und zu tanzen. Diese gebändigte Kraft hat Nietzsche später „Wille zur Macht" genannt. In Also sprach Zarathustra heißt Dionysos „Übermensch". Übermensch ist derjenige, dem es gelungen ist, über das dualistische Menschenbild der idealistisch-christlichen Tradition hinaus zu gelangen, das den Individuen suggerierte, sie mussten den Bock in sich töten, um sich dem Gott rein anzunähern und ganz Mensch zu werden. Nietzsche hingegen wollte den Bock vergöttlichen und damit ein integratives Menschenbild entwickeln, in -

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welchem der rohe Wille zur Macht in einen Willen zur Selbstmächtigkeit umgebildet wird. Nur wenigen gelingt es, das lebendige Kunstwerk literarisch, musikalisch oder malerisch umzusetzen. Nietzsche macht sich immer lustig über das Genie und die angebliche Inspiration oder Intuition der Künstler, „womit man ihnen eine Art von WunderAugenglas zuschreibt, mit dem sie direct in's ,Wesen' sehen" (KSA, MA I, 2, 152). „Man schreibt ihnen wohl einen unmittelbaren Blick in das Wesen der Welt, gleichsam durch ein Loch im Mantel der Erscheinung zu" (ebd., 154). Nietzsche hält dies für Unsinn, in dem sich wieder der Platonisierende Philosoph zur Geltung bringt, für den Kunst nur dann eine Bedeutung haben kann, wenn sie das Wesen, eben die Idee abbildet. In der Kunst sind Leib und Idee für Nietzsche untrennbar, und es ist gerade die Sensibilität des Künstlers, die ihn dazu befähigt, den Schmerz, das Leiden an der Welt ebenso auszudrücken wie die Freude und das Glück. Er vermag seine ästhetische Wahrnehmung so zu Gesicht und zu Gehör zu bringen, dass dadurch die Sensibilität der Kunstrezipienten erregt wird, die ihrerseits gleichsam durch ihr Kaleidoskop schauend sich selbst erblicken. Für Nietzsche besteht der höchste Kunstgenuss nicht in einem plötzlichen Überwältigtwerden, in einem Hingerissensein beim Sehen oder Hören, sondern in einem Prozess, den Nietzsche als langsam eindringenden Pfeil der Schönheit beschreibt, in dessen Verlauf die Kunst „von uns ganz Besitz nimmt, unser Auge mit Thränen, unser Herz mit Sehnsucht füllt." (ebd., 143f.) In der ästhetischen Wahrnehmung erleben und durchleben wir die dionysische Lust in Verbindung mit dem apollinischen Maß, das uns die Lust vollständig auskosten lässt und uns zu einem Genuss verhilft, der nicht gleich verpufft, sondern lange nachwirkt. „[...] die Sonne ist schon hinuntergegangen, aber der Himmel unseres Lebens glüht und leuchtet noch von ihr her, ob wir sie schon nicht mehr sehen." (ebd., 186) -

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Hans Gerald Hödl

Italienische Städte: Orte in Nietzsches metaphorischer Landschaft Eine Annäherung

Dedicato a mia moglie, la migliore del mondo

1. Denken in Bewegung Man erzählt, Friedrich Wilhelm Nietzsche habe zu verschiedenen Zeiten seines Lebens italienische Städte und solche in der Nähe Italiens, z. B. an der französischen Riviera oder im Engadin, aufgesucht, im letzten Jahrzehnt seines bewussten Lebens, nach der Niederlegung seiner Professur für klassische Philologie hauptsächlich in diesen Städten gelebt. Diese Städte seien also mit dem Text, den man dem Namen „Nietzsche" unterlegt, verbunden, schon dadurch, dass verschiedenste Dokumente erhalten wären und archivarisch sorgfältig verwahrt, klassifiziert und verwaltet würden, in denen die Namen dieser Städte mit den Namen Nietzsches verbunden wären. Diese Namen auf jenen Dokumenten Briefen zumeist unterschieden sich schon nach den Namen derer, an die sie ihre Worte richteten. So schreiben im Dezember 1887 und Jänner 1888 aus Nizza, auf die Rezensionen, die Jenseits von Gut und Böse mit Etikettierungen wie „psychiatrisch", „pathologisch" oder „exzentrisch" erfahren hat: An Heimich Köselitz: „Treulich Ihr N.": „und ich darf es Niemandem verargen, der dabei den Zweifel [...] auftauchen fühlt, ob ich noch ,bei Verstände' bin"; an Paul Deussen: „Von Herzen Dein Nietzsche", dass er zwar aus den genannten Prädikaten, die ihm die deutsche Kritik verleihe, aus der Ferne darauf schließen könne, dass man von den inneren Bewegungen in ihm etwas mitbekommen hätte, dass ,,[d]iese Herren" jedoch „schwerlich einen Blick dafür haben, wo ich bisher außerhalb meines Zentrums gewesen bin", ähnlich wie zuvor „Ihr Freund Nietzsche" an Carl Fuchs geäußert hat: „Aber da man nicht weiß, wo mein Centrum ist, wird man schwerlich darüber die Wahrheit treffen, wo und wann ich bisher ,excentrisch' gewesen bin". Schließlich schreibt „Ihr ergebenster Prof. Dr. Nietzsche" an seinen Verleger Naumann, diese Rezensionen betreffend, dass solche Prädikate „regelmäßig jedem großen Ereigniß in der Geschichte und der Litteratur voraus" laufen. Dazwischen schreiben „In alter Liebe und -

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Hans Gerald Hödl

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Freundschaft Dein Nietzsche" an Gersdorff, „N." an Franz Overbeck und „Dein altes Geschöpf an Franziska Nietzsche (KSB 8, 209-223). In den zitierten Briefen klingt ein ständiges Thema des späten Nietzsche an, das sich aus dem Briefwechsel heraus langsam in die Schriften hineinbohrt bis in seine Selbst(be)schreibung Ecce homo hin, die mit der Forderung, man möge ihn vor allem nicht verwechseln, anhebt und mit dem als Frage nur allzu nachlässig getarnten Ausruf „Hat man mich verstanden" endet: Die Verwechslung, der er ausgesetzt ist, das NichtGehört und Nicht-Gesehen-Werden, das in einem Missverhältnis zu seiner Bedeutung und Aufgabe steht. Im Vorwort zu Ecce homo wird dieser Umstand gar als Nichtexistenz von „Nietzsche" ausgelegt. Fein nuanciert dieser jedenfalls in seinen Unterschriften je nach Adressat seine Identität. Wie viel Distanz allein in der Differenz zwischen „Dein Freund" den alten Schulfreunden Deussen und Gersdorff gegenüber und „Ihr Freund", mit dem Carl Fuchs angesprochen wird, liegen könnte, zeigt sich in einem Brief vom 20. Juli 1888 an Overbeck, in dem der Charakter des schlauen Egoisten Fuchs schonungslos dargestellt wird (KSB 8, 260ff). Man höre, wie Nietzsche die Verwechslungen von Seiten seiner Rezensenten auf die räumliche Metapher des Exzentrischen konzentriert, um festzustellen, dass diese Menschen von seinem Zentrum nichts wissen, weshalb sie auch nicht wissen können, wo, wann und wie er außerhalb desselben ist. Ein Zentrum haben nicht nur diverse geometrische Figuren, Städte und Länder, künstlerische, literarische oder philosophische Werke, einen Mittelpunkt haben auch, so sagt man, die „Lebensinteressen". Nietzsche, der, seitdem er nicht mehr Basler Professor ist dafür „Gott" (auch ein Name, vielleicht auch ein Beruf) -, als fiugitivus errans die Länder durchstreift, stets auf der Suche nach günstigen klimatischen Bedingungen für seine Konstitution als Denker mit Leib, äußert gern, oft und deutlich sein Misstrauen gegenüber denen, die ihr Zentrum in einer Höhle, einem Nest, einer Stadierstabe finden und dementsprechend lesen und schreiben: „Zwischenrede. Ein Buch, wie dieses, ist nicht zum Durchlesen und Vorlesen, sondern zum Aufschlagen, namentlich im Spazierengehen und auf Reisen, man muss den Kopf hinein- und immer wieder hinausstecken können und nichts Gewohntes um sich finden" (KSA, M, 3, 274.) Herrn Flaubert, der meint, man kann nur denken und schreiben, wenn man sitzt, überführt Nietzsche anhand dieses Ausspruches des Nihilismus (KSA, GD, 6, 64). Und wie nicht das Irdische Gleichnis des Ewigen ist, sondern es sich umgekehrt verhält, ist das sich bewegende Denken nicht nur ein Fest der Muskel, sondern auch ein Gleichnis des sich bewegenden Denkers, der nicht nur von Ort zu Ort zieht, sondern an den Orten, die er bewohnt, neben anderem auch die Bewegungsmöglichkeiten schätzt, die er selbst am guten Stil hervorhebt, der ein Tempo des Galopps gehen kann, wenn er auch schwere Gedanken vorträgt, der, wie der Stil des Römers Petronius, durch ein Presto charakterisiert ist, das „Alles laufen macht" ( KSA, JGB, 5, 47). Ein Stil, der den Deutschen ab-

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geht, weil sie nicht tanzen können, weder mit den Füßen, noch mit den Begriffen, noch mit den Worten (KSA, GD, 6, 110). Zu dieser, oft in den Bildern der schnellen Bewegung und des Tanzens ausgeführten Stillehre die, Nietzsches Denken gemäß, nicht die Lehre von der äußerlichen Einkleidung von Gedanken, sondern die Lehre von der Feinheit und den nuances des Denkens -

Italienische Städte: Orte in Nietzsches

metaphorischer Landschaft

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selbst darstellt

gehört auch die im Ecce homo als Nietzsches eigenste Meisterschaft angepriesene Fähigkeit, den Standpunkt zu wechseln, Perspektiven umzustellen (KSA, EH, 6, 266). Wer erstens die Orte wechselt und zweitens in der Landschaft sich bewegt -

und nicht bloß an einem Punkt verharrt, der kommt, indem er seine Stand-Punkte ändert, in den Genuss verschiedener Gesichts-Punkte, er wechselt die Perspektiven. Das nennt Nietzsche, eine alte Metapher für das Leben eine Reise versteckterweise aufnehmend, Perspektiven umstellen. Was er als eine von ihm zur Meisterschaft ausgebildete Fähigkeit insofern anführt, als er verschiedene Persönlichkeiten die damit als verschiedene Standpunkte, aber auch als verschiedene Reiserouten durch das „Leben" eingeführt werden verkörpern müsste, als die eine sterben, als die andere weiterleben und dennoch ganz andere Verwandtschaften im Auge behalten. Ob darin wohl sein Zentrum liegt, wird man sich fragen, ob die angewandte Dezentralisierung wohl den Brennpunkt darstellt, um den herum sich die Organisation von Willensquanta, die wir „Nietzsche" nennen, strukturiert? Jedenfalls kann ihm in manchen Hinsichten der Wille zum Zentrum ein Mangel an Rechtschaffenheit sein, so, wenn er betont, allen Systematikern zu misstrauen und ihnen aus dem Weg zu gehn, weil der Wille zum System einen Mangel an Rechtschaffenheit darstelle (KSA, GD, 6, 63). So auch, wenn er das, was als die Stärke der Systematiker ausgegeben wird, den geschlossenen Aufbau des Ganzen, der sich um ein Zentrum der Herrschaft formiert, als bloße Mimikry der Stärke darstellt, die in „Wahrheit" nur dazu dient, Schwächen zu -

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verbergen.

2. Italien

Vielfältige biographische Bezugspunkte von „Nietzsche" zu „Italien" lassen sich feststellen, schon bevor der Basler Professor 1876/77 erstmals (nach einem kurzen Aufenthalt am Como-See und in Chiavenna 1872) für längere Zeit in Italien verweilt. Der

Knabe wächst auf in einer von der klassischen Antike wie von der deutschen Klassik und Romantik mit ihrem Idealbild der griechisch-römischen Kultur und ihrer Sehnsucht nach dem Süden durchzogenen Atmosphäre. Unter den vielen uns erhaltenen frühen lyrischen Versuchen Nietzsches findet sich auch eine erste idealisierende Schilderung der italienischen Landschaft, vom Dreizehnjährigen, der seine nähere sächsischthüringische Umgebung noch kaum verlassen hat (KGW 1/1, 239f). Der 14jährige entdeckt als einen seiner Lieblingsschriftsteller den Spätromantiker Franz Freiherr von Gaudy, in dessen Werk und Leben Italien eine wichtige Rolle spielt. Der Siebzehnjährige begeistert sich sodann für die Dichtungen eines Nordländers, der nicht nur die Mittelmeerländer bereist, sondern sich auch in Italien niedergelassen hat, Lord Byron, wobei er in einem Vortrag über Byron für den Freundschaftsbund Germania Byrons Aufenthalt in Italien eingehend erörtert und neben dem „Manfred" vor allem das im aristokratischen Venedig handelnde Trauerspiel „die beiden Foskari" bespricht, während er Byrons Engagement für den griechischen Befreiungskampf erstaunlicherweise unerwähnt lässt (KGW 1/2, 344ff). In diesem Schwerpunkt, den der Schüler bei seiner Kommentierung der Byronschen Schriften setzt, scheint sich auch eine der vielfaltigen späteren Metaphorisierungen der Lagunenstadt anzukündigen. Unter den Bedeutungen,

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Hans Gerald Hödl

die der Name „Venedig" für den „reifen" Nietzsche erhalten wird, ist die eines Paradigmas für eine aristokratische Gesellschaft, deren Organisation seinen anthropologi-

schen Überzeugungen entgegenkommt, zu finden: „[...] die aristokratischen Gemeinwesen in der Art von Rom und Venedig verstanden Freiheit genau in dem Sinne, wie ich das Wort Freiheit verstehe: als Etwas, das man hat und nicht hat, das man will, das man erobert..." (KSA, GD, 6, 140). Auch Byron wird in späteren Aufzeichnungen von Nietzsche im Zusammenhang mit Venedig erwähnt, das ihn, den in gewissen Charakterzügen mit Rousseau Verwandten, ins Gleichgewicht gebracht hätte (KSA, NF, 12, 448). Ein anderes der großen Vorbilder Nietzsches, sowohl mit einer Philosophie der Macht als auch mit seiner Begeisterung für die Renaissance als der Epoche der europäischen Kultur verbunden, in der die erneute Umwertung der christlichen Umwertung der aristokratischen Werte bisher am weitesten gediehen war und wäre nicht der deutsche Bauerntölpel Luther auf den Plan getreten (KSA, FW, 3, 602ff.; AC, 6, 250f.; EH, 6, 258f.) vielleicht vollendet durchgeführt worden wäre, hängt bereits mit seinem ersten Bekanntwerden mit dem Italienischen eng zusammen. Der Schüler Nietzsche liest im „italienischen Kränzchen" in der Landesschule Pforta Machiavellis II principe (KSB 1, 195). Und Machiavelli ist es ja schlussendlich, dessen Stil Nietzsche später als Beispiel des „guten Stils", zu dem die deutsche Sprache schon von ihrer Physiologie her ungeeignet erscheint, wählt (KSA, JGB, 5, 47; NF, 11, 454). Welche Bedeutung „Rom" für den klassischen Philologen hatte, welche Bedeutung die Kultur der Renaissance in Italien für den Kollegen von Jakob Burckhardt in Basel gewinnen sollte, wird hier beiseite gelassen. Aus den vielfältigen Bezügen Nietzsches auf italienische Städte in Briefen, Aufzeichnungen und Werken -, werden im folgenden die von Nietzsche selbst vorgenommenen Verbindungen von ihm besuchter Städte mit seinen Werken herangezogen. Es sind also Namen von Städten, die Nietzsche selbst in sein Werk eingeschrieben hat, die deshalb auch zur metaphorischen Landschaft seines Denkens gehören. -

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3. Sorrent „Ein Refrain (Sorrent) wird von uns von einer falschen Folie aus empfunden: so mit aller vergangnen Musik" (KSA, NF, 8, 503)

In Aufzeichnungen biographischer Natur aus dem Jahr 1878 spricht Nietzsche unter anderem davon, dass er „in Sorrent [...] die Moosschicht von 9 Jahren" gehoben habe, und notiert dazu: „Von Todten träumen" (KSA, NF, 8, 508). In Vermischte Meinungen und Sprüche, 360 thematisiert er das Träumen von Toten als ein Anzeichen starker Wandlungen. Sorrent ist ihm mit diesen starken Wandlungen verbunden, ein Refrain von einem dort gehörten Lied klingt nach und tritt in ein Verhältnis ein zu diesen Wandlungen, was durch die Niederschrift dieses Refrains mitten unter den biographi-

dazu Mazzino Montinari, „Nietzsches Kindheitserinnerungen in: ders., Nietzsche lesen, Berlin 1982, 22-31.

Vgl.

aus

den Jahren 1875 bis 1879",

Italienische Städte: Orte in Nietzsches metaphorischer Landschaft

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sehen Aufzeichnungen, die auf diese Wandlungen reflektieren, indiziert scheint. Vergangene Musik. Das wichtigste und einschneidendste Erlebnis des Basler Professors mit Italien, bevor es zur „Gewohnheit" des seiner Stellung entflohenen Wanderdenkers wird, die Winter in Italien und an der französischen Riviera zu verbringen, stets in aufmerksamen Erörterungen der klimatischen Bedingungen für seine Konstitution und sein Denken und Schreiben befangen, ist die Zeit dieser Wandlungen, wohl Nietzsches erste wirkliche Befreiung von der „Schlackermilch des täglichen, eintönigen Berufs" (KSB 2, 373), des Lebens als Basler Professor, der Sorrentiner Aufenthalt 1876/77, als es Nietzsche gelungen war, die Basler Erziehungsbehörde zu überzeugen, dass „eine Reise nach dem Süden zu Zwecken einer freieren wissenschaftlichen Ausbildung" auch angesichts seines „gefährlichen Gesundheitszustandes" (soweit Nietzsches Gesuch) anzuraten sei, deren „Früchte [...] auch wieder unserer studierenden Jugend zu gute kommen" würden (soweit die Erziehungsbehörde).2 1876, ein Jahr der Fluchtbewegungen, lässt Nietzsche von den ersten Bayreuther Festspielen Stichwort: „bereits bereut"3 fliehen und die Vorarbeiten zu Menschliches, Allzumenschliches beginnen, dem Buch, das den Bruch mit Wagner besiegelt. So gehören lt. Ecce homo die „Anfange dieses Buches [...] mitten in die Wochen der ersten Bayreuther Festspiele hinein", ja „eine tiefe Feindschaft gegen Alles", was ihn dort umgeben hatte, rechnet Nietzsche zu den Voraussetzungen dieser Schrift (KSA, EH, 6, 323), der ersten unter mehreren, die er selbst mit italienischen Ortschaften in Verbindung bringt, wodurch „Sorrent" als erster Ort Italiens eine Bedeutung in der Topographie des Lebens- und Denkweges Nietzsches erhält. Malwida beschreibt den Sorrentiner Aufenthalt in ihren Memoiren einer Idealistin als eine Zeit idyllischer Spaziergänge in „der zauberischen Umgebung, zwischen Orangenund Zitronengärten hin, deren Bäume [...] ihre von goldenen Früchten beladenen Äste über die Gartenumzäunung herüber [...] hängen ließen [...] oft an Bauernhöfen vorüber, wo anmutige Mädchen in heiterem Zusammensein die Tarantella tanzten", und abendlicher gemeinsamer Lektüre und Kommentierung des Gelesenen. Das Idyll, zu dem Nietzsche später durchaus Textkritisches anzumerken hat4, wird lt. Malwida anfangs noch „durch die Anwesenheit von Wagner und seiner Familie verschönt"; das letzte Zusammentreffen Nietzsches mit Wagner.5 Dem 1878 erschienenen „Buch für freie Geister", zum hundertsten Todestag Voltaires diesem „Befreier des Geistes" gewidmet, schreibt Nietzsche in der Erstausgabe neben der Charakterisierung als monologisches Buch auch den Namen „Sorrent" als Entstehungsort ein. Es wird von Nietzsche selbst in Ecce homo ausführlich besprochen als ein Dokument einer wichtigen Entscheidung im Gang seines Lebens und Denkens. -

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Vgl. Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie, Band 1, 734f. Laut Nietzsche ein typisches Telegramm aus Bayreuth (KSA, W, 6, 44). „Man wird älter, es ist mir schwer, mich von einer Gegend, und führe sie die berühmtesten Namen, zu überzeugen. Ich habe fehlerhafte Linien bei Sorrent gesehen" (KSA, NF, 9, 366, 7 [236]; vgl. ebd., 252, 6 [207]: „Fehler in der Sorrentiner Landschaft. Oelbäume schöner als die Orangen"). Vgl. Malwida von Meysenbug, Memoiren einer Idealistin, hrsg. v. Renate Wiggershaus. Franfurt a. -

M.

1985, 334ff.

Hans Gerald Hödl

304

Voltaire wird mit dem Bruch mit Wagner, einer durch die Krankheit erst ermöglichten Genesung von der „Gesamtabirrung" von seinem Instinkt, zu der neben „Wagner" auch die „Basler Professur"6 gehört, verbunden (KSA, EH, 6, 322ff). Die Bewegung von Deutschland nach Italien nimmt in diesen Erinnerungen eine wichtige Stellung ein. Nietzsche habe sich von Bayreuth8 zunächst mit seiner „Melancholie und Deutschenverachtung" in den Böhmerwald geflüchtet, wo die ersten Aufzeichnungen zu Menschliches, Allzumenschliches unter dem Titel „die Pflugschar" entstanden sind. Sorrent und damit Italien als Kontrast zu Deutschland erwähnt er als den Ort, an dem dieses „Dokument einer rigorosen Selbstzucht", seiner ersten öffentlichen Abrechnung mit dem Idealismus, „in allen Hauptsachen niedergeschrieben wurde". Ausführlicher und genauer würdigt er „Sorrent" in der Vorrede zur Genealogie der Moral. Dort ist ihm der Sorrentiner Winter ein Ruhe- und Besinnungspunkt auf der Wanderung seines Geistes durch eine „weite und gefährliche" Landschaft (KSA, GD, 5, 248). Nietzsches Rede von den „Hauptsachen" in Ecce homo gewinnt damit klare Konturen. Sorrent wird als dieser Ruhe- und Besinnungspunkt zu dem Ort, an dem sich all die Verbindungen, Erlebnisse und Namen, die Nietzsche in Ecce homo zum Kontext von Menschliches, Allzumenschliches rechnet, zu diesem Werk verdichten. Die Entgegensetzung von Deutschland, wie so oft mit Wagner und Bayreuth identifiziert, und Italien erreicht er noch durch einen weiteren als technische Mitteilung getarnten Hinweis. Er führt Peter Gast als eigentlichen Schriftsteller des Buches ein, dem er als Autor im darauffolgenden Basler Winter die Endfassung diktiert hat. Darin ist noch einmal die Bewegung von Wagner und den Deutschen zum Süden hin thematisiert, nennt er doch Peter Gast im „Intermezzo" seinen „Süden in der Musik" doch dieser Weg führt nach „Venedig". Den Hinweis auf die Richtung seiner Absetzbewegung verstärkt er in Ecce homo jedenfalls noch durch die distanzierende Erwähnung von Paul Rée. Menschliches, Allzumenschliches, das Dokument von Nietzsches Abwendung von Wagner und der Verengung des Blickes auf die deutsche Kultur und seiner Hinwendung zu einer europäischen Perspektive des freien Geistes, geht demnach in seiner moralkritischen Ausrichtung nicht auf das Konto der Freundschaft mit Rée. Nietzsche legt Wert darauf, dass er diesen Schritt nicht unter dessen „äußerem" Einfluss getan hat, wie z. B. Erwin Rohde und Siegfried Lipiner schon bei Erscheinen des Buches vermutet hatten.10 Vielmehr, so

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,

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6

7

„unsinnig Viel über einem Krimskrams verstaubter Gelehrsamkeit" zu sitzen, gebracht (KSA, EH, 6, 325). Vgl. auch den Entwurf einer Widmung für Menschliches, Allzumenschliches, wo es in nicht unbedingt gelungenen Versen u. a. heißt: „Im baierischen Walde fing es an / Basel hat was dazu gethan / In Sorrent erst spann sich's gross und breit / Und Rosenlaui gab ihm Luft und Freiheit [...]"( KSA,

Auf die Formel:

NF, 8, 392). Ein Ortsname, der, mit Ausnahme der Erinnerung

legung" in Nietzsches Gedächtnis Glückseligen". Einem Abschnitt, den 10

an die „unvergleichlichen Tage der Grundsteinin scharfem Kontrast steht zu Tribschen, jener „fernen Insel der

er sowohl für Ecce homo als auch für Nietzsche contra Wagner zur Verwendung vorgesehen vgl. dazu die Ausführungen von Montinari, KSA 14, 475f. Vgl. KSB 5, 346 an Rée über Lipiner und den Brief Nietzsches an Rohde KSB 5, 333, in dem er schreibt: „[...] suche nur immer mich in meinem Buche und nicht Freund Rée. Ich bin stolz darauf,

Italienische Städte: Orte in Nietzsches metaphorischer Landschaft

305

Nietzsche in Ecce homo, hat er den Namen Rée dort nur eingesetzt, um nicht „ich" sagen zu müssen, in Wirklichkeit aber schon in Menschliches, Allzumenschliches gegen Rées Thesen Einspruch erhoben (KSA, EH, 6, 327f). Die geographische Gemeinsamkeit und Nähe der Hauptarbeit an Rées und Nietzsches moralkritischen Werken sagt nichts über die Topographie der Gedankenlandschaft aus, Nietzsches Sorrent ist nicht das Sorrent von Rée, das gemeinsame Leben in Sorrent, in das Nietzsche mit der Erwartung eines „Klosters für freiere Geister" (KSB 5, 188) hineingegangen war, hindert nicht, dass Menschliches, Allzumenschliches, wie schon im Hinweis zur ersten Auflage gesagt, ein „monologisches Buch" war, „eine Gedankenkette" beginnend, die bis zur Fröhlichen Wissenschaft führen sollte, wie er später an Malwida schreibt (KSB 6, 223). Diese wird im weiteren Verlauf von Nietzsches Leben, vor allem natürlich nach Nietzsches „Bruch" mit Rée und Lou Salomé, zur einzigen Person, die für die Erinnerung an „Sorrent" steht, deren Name mit diesem Namen verbunden ist. So gedenkt Nietzsche auch nur ihr gegenüber, sieht man von der Erwähnung in einem Georg Brandes zugesandten Lebenslauf ab (KSB 8, 289), in erhaltenen Briefen nach dem März 1882 noch des Sorrentiner Aufenthaltes."

4. Genua Genua, dieser entfärbte Süden (KSA, NF, 9, 576) Es scheint, dass Nietzsche keinem Ort mit Ausnahme von Sils-Maria eine solch privilegierte Stellung für sein Denken und die Entstehung seiner Werke zuweist, wie Genua, das er auch als seine „Residenz", seinen Herrschaftssitz auszeichnet (KSB 6, 278; 288). So nennt er sich im Winter 1881 in Briefen aus Genua „principe Doria", sich über die Identifikation mit dem berühmten Genueser Dogen zum Repräsentanten der Stadt erhebend (KSB 6, 139), die ihn mit Reichtümern beschenkt, und ihn dadurch zu ihrem Herrscher macht, zu dem, dessen Gefühl von Stärke, Macht und Lebenskraft mit ihr aufs innigste verbunden ist. Diese Verbindung herrschaftlicher Attribute mit der ligurischen Küstenstadt weist weiter auf Nietzsches spätere Ansichten über die wahre Bestimmung großer Philosophen voraus. Die entscheidende Wende in Nietzsches Leben, die die Zugehörigkeit des Namens „Nietzsche" zu den Namen, die großen historischen Ereignissen verbunden sind im Falle Nietzsches einer „Krisis, wie es keine auf Erden gab" (KSA, EH, 6, 365) -, begründet, geschieht zunächst in den Werken, die eng mit dem Namen „Genua" verbunden sind. Nietzsche wird später, in der sogenannten „Umwertungszeit", deren Hauptprojekt sich in den letzten Turiner Wochen zusehends in Vorstellungen von einem „politischen" Programm, in dem Nietzsche seine Herrschaft anbrechen sieht, transformiert, Aufzeichnungen, den königlichen Beruf des Philosophen betreffend, niederschreiben, er wird den wahren Philosophen als Gesetzgeber charakterisieren und er wird seine moralkritische Arbeit, vor allem die von ihm intendierte "



-

-

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1'

dessen herrliche Eigenschaften und Ziele entdeckt zu haben, aber auf die Conception meiner ,Philosophia in nuce' hat er nicht den geringsten Einfluss gehabt [...]". Vgl. auch Nietzsches Widmung von MA an Malwida in KSA, NF, 8, 389: 22 [61].

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Werte" als eine herrschaftliche Tätigkeit auffassen, die ihn in eine Linie stellt mit epochalen Größen vergangener Jahrhunderte und dies in einem durchaus vernünftigen, systematisch interpretierbaren Sinn, für dessen hermeneutische Erkundung man nicht des Rekurses auf den „Wahnsinn" seines letzten Lebensjahrzehntes

„Umwertung aller

-

bedarf.ß

Schon am Beginn von Ecce homo, wo es um seine doppelte Heredität von Dekadenz und Stärke geht, wird der erste Genueser Aufenthalt erwähnt, dem Nietzsche das Buch, mit dem sein „Feldzug gegen die Moral" beginne, verdanke (KSA, EH, 6, 328). Es ist in seiner Selbstinterpretation der nächste Schritt, der auf die als Menschliches, Allzumenschliches zusammengefassten Schriften der „Krisis" (KSA, EH, 6, 323), des Niedergangspunktes seines Lebens, der von Schattenhaftigkeit, Sonnenarmut und Verengung des Horizontes geprägt war, folgt (KSA, EH, 6, 264f). Danach leuchtete ihm in seinem ersten ligurischen Winter eine neue Morgenröte, deren literarischen Niederschlag er als Produkt einer Versüßung und Vergeistigung, die mit seinen schlimmsten Gesundheitszuständen einhergehen kann, beschreibt (KSA, EH, 6, 265). Genua ist Bedingung dieses Buches, das einer weiteren Erwähnung in Ecce homo gemäß, „rund, glücklich, einem Seegethier gleich, das zwischen den Felsen sich sonnt" daliegt, wie sein Autor, der, als M entstand, eidechsenfhaft auf einem „abgeschiedenen Felsen am Meere" in der Sonne zu ruhen pflegte (KSA, EH, 6, Auch der Titel „Morgenröthe" selbst klingt direkt an ein Thema der Lebensumstände des Philosophen in jenem Genueser Winter an, als Nietzsche darauf aus war, in seiner „in einer steilen PallastStraße" (KSB 6, 52) gelegenen Unterkunft „eine idealische Dachstuben-Einsamkeit zu verwirklichen" (KSB 6, 49). In einer Schilderung seiner Existenzweise, dem Freund Overbeck nach Basel gesandt, finden wir seine Überzeugung ausgedrückt, er glaube nicht, „daß irgendwelchen Dachstabenbewohnern die Morgenröthe lieblichere und wünschbarere Dinge beleuchtet hat" (ebd.). Es gibt allerdings eine Spannung in der Schilderung der Atmosphäre dieses Genueser Winters zu konstatieren, wie sich im Vergleich der beiden Stellen von Ecce homo, die sich auf die Morgenröthe beziehen, zeigt: In „Weise 1" berichtet der sein Leben in herbstlichen Farben verklärende Denker von Krankheitssymptomen, die mit diesem südlichen Winter verbunden gewesen sind, im Abschnitt über M ist nur vom Wintermärchen des sich glücklich sonnenden Tieres die Rede: „Zuletzt war ich's selbst, dieses Seegethier: fast jeder Satz des Buchs ist erdacht, erschlüpft in jenem Felsen-Wirrwarr nahe Genua, wo ich allein war und noch mit dem Meere Heimlichkeiten hatte" (KSA, EH, 6, 329). Die Briefe aus dieser Zeit zeigen, dass Nietzsche damals genau in dieser Spannung gelebt hat, seine Einsamkeit gesucht, seine Krankheitszustände ebenso wie sein eidechsengleiches Glück hervorgehoben. Er beschwört die Adressaten seiner Mitteilungen, seinen Aufenthaltsort nicht zu verraten, erwähnt immer wieder seine Krankheitssymptome, um in den Ausruf, wie wohltuend ihm Meeresluft und klarer Himmel seien, überzugehen. In der Zeit, die seinem Bericht zufolge inmitten der harten Zeit von 30

329).'

12

13

Vgl. dazu meine eben fertiggestellte Habilitationsschrift Der letzte Jünger des Philosophen Dionysos. Vgl. dazu KSB 5, 57; zwei Postkarten vom 8. Januar 1881, an Mutter und Schwester und an Overbeck.

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Tagen Winter ohne Ofen liegen müsste, liegt er wie eine Eidechse in der Sonne.'

Das

Buch und sein Autor werden zu dem sich sonnenden „Seegethier", das man den brieflichen Mitteilungen aus jener Zeit entsprechend als „Eidechse" verbildlichen kann, mehr noch, wovon das Buch spricht, das sind die leichten und geräuschlos vorbeihuschenden Dinge, Augenblicke, die „göttliche Eidechsen" genannt werden müssen. Eine Atmosphäre, in der Winterliches und Sommerliches nebeneinander liegt, in der Einsamkeit als Glück der Verborgenheit erscheint, deren erfüllte Augenblicke, leichte, leise, schnelle, kurze und heimliche Momente, schwer wahrnehmbar und zu beschreiben, nichtsdestotrotz durch ein Buch für die Erinnerung festgehalten werden konnten dem gegenüber man allerdings eine bewegliche, entdeckerische, Perspektiven umstellende Haltung einnehmen muss, um dem darin „Eingefangenen" auf die Spur zu kommen, das eben nicht wie totes Getier aufgespießt wurde (KSA, EH, 6, 329f). Alles dies im Rückblick auf das Buch noch einmal zusammengefasst in das Bild der Eidechse und des eidechsenfangenden göttlichen Knaben: Buch, Autor, Augenblick. Das Ganze stellt sich sodann dar als Vorschein eines noch Kommenden, Morgenröte eines neuen Tages und wird darin zutiefst verbunden mit einem Nietzsche von nun an offensichtlich eigenem conquistadorischen Gefühl, das er Erwin Rohde gegenüber in einem Brief von diesem Genueser Aufenthalt wohl erstmals ausspricht: „Schon jetzt giebt es Augenblicke, wo ich auf den Höhen über Genua mit Blicken und Empfindungen herumwandele, wie sie von eben hier aus vielleicht einmal der selige Columbus auf das Meer und auf alle Zukunft hinaus gesandt hat" (KSB 6, 75.). Nietzsche schließt das erste „Genueser Buch" auch mit dem Hinweis auf den großen Genueser Entdecker, der ihm in seinem Werk in der Folge zum Inbegriff dessen werden wird, was er mit der Hoffnung auf die vielen „Morgenröthen, die noch nicht geleuchtet haben" verbindet. Der Aphorismus 575 der Morgenröthe spricht von den „LuftSchifffahrerfn] des Geistes" und thematisiert die begrenzten Möglichkeiten der Überwindung der gegebenen Grenzen mittels der Rede von Vögeln, die zwar um diese Grenzen wissen, aber in der Hoffnung, ja Gewissheit, dass andere Vögel weiter fliegen werden, in die Ferne aufbrechen, wo „alles Meer, Meer, Meer ist!". Nietzsche schließt mit der Frage, wohin angesichts dessen das Streben dieser „Luft-Schifffahrer" denn gehe und bringt Columbus, ohne ihn direkt zu nennen, ins Spiel, einen vielfältigen Verweisungszusammenhang über das Bild der Sonne, deren Untergang in der Richtung des genannten Strebens liegt, etablierend (KSA, M, 3, 331).15 Sonne, Horizont und Meer, insbesondere die Meerfahrt werden zu Symbolen der mit dem „Tod Gottes" verbundenen Ungesichertheit wie auch der daraus entstehenden positiven Möglichkeiten. Den in dieser Situation geforderten Wagemut reflektiert Nietzsche des öfteren im Bild des Genuesen Christoph Kolumbus. So endet die Morgenröthe mit einer Reihe von Fragen und Nietzsche weist in Ecce homo ausdrücklich auf die Offenheit, durch den sich das Ende dieses Buches auszeichnet, hin, sozusagen auf die -

-

14

KSB 6, 62, wo er sagt, daß es vom 31. Januar an sehr angenehm gewesen sei, mit dem Brief Overbeck vom 8. Jänner (KSB 6, 57), wo allerdings auch die Kälte angesprochen wird. Wahrscheinlich mußte er, wie ein kaltblütiges Tier, sich in der Sonne auf Vorrat wärmen. Dem ich hier nicht nachgehen kann; gemeint sind die Paragraphen der Fröhliche Wissenschaft 124,

Vgl. an

15

125,285,343.

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fehlende Kadenz (eine direkte Ansprache scheint darin zu liegen, eine Aufforderung). In diesen Fragen erscheint die „untergegangene Sonne" aus dem Paragraphen 125 der Fröhlichen Wissenschaft ebenso wie das offene Meer, wodurch Kolumbus zur Leitfigur erhoben wird: „Warum doch gerade in dieser Richtung, dorthin, wo bisher alle Sonnen untergegangen sind? Wird man vielleicht uns einmal nachsagen, dass auch wir, nach Westen steuernd, ein Indien zu erreichen hofften, dass aber unser Loos war, an der Unendlichkeit -" zu scheitern? Oder, meine Brüder? Oder? Diese Verbindung des Genueser Seefahrers mit der Thematik des Aufbruches zu neuer Wertsetzung, des experimentellen Philosophierens, der Ungesichertheit und des Entdeckermutes hat Nietzsche auch in einigen poetischen Erzeugnissen gezogen. In den „Liedern des Prinzen Vogelfrei" findet sich dieses Thema unter dem Titel „Nach neuen Meeren".17 In den im Sommer und Herbst 1882 niedergeschriebenen Entwürfen zu den „Liedern"18 stehen 3 Fassungen von „Nach neuen Meeren", in denen Kolumbus im Unterschied zur Druckfassung, in der er nur indirekt in der Wendung „Genueser Schiff angesprochen wird als Vorbild des Gedichtes beim Namen genannt wird, so der folgende, augenscheinlich Lou Salomé zugedachte Entwurf einer Widmung: -

-

-

„Freundin! sprach Columbus Keinem Genueser mehr! Immer starrt er in das Blaue Fernstes lockt ihn allzusehr! -

traue -

Muth! auf offnem Meer bin ich, Hinter mir liegt Genua. Und mit dir im Bund gewinn ich Goldland und Amerika. Stehen fest wir auf den Füßen! Nimmer können wir zurück! Schau hinaus: von fernher grüßen Uns Ein Tod, Ein Ruhm, Ein Glück"!

(KSA, NF, 10, 12; vgl. KSA 14, 661) Nietzsche hat hier also Genua, Kolumbus und sich selbst als Autor der Fröhlichen Wis-

senschaft, die zuerst als Fortsetzung der Morgenröthe konzipiert war19, als Autor zweier 16

In die Nietzsche auch sechs zum Teil überarbeitete Gedichte aus den „Idyllen aus Messina" aufgenommen hat woraus sich seine Auskunft erklärt, daß die „Lieder" „zum besten Theil in Sicilien worden sind (vgl. KSA, EH, 6, 353). gedichtet" Nietzsche hat die ersten Monate des Jahres 1882 in Genua verbracht und sich im April hauptsächlich in Messina aufgehalten. Die Entwürfe zu den Idyllen und zum Abschnitt „Scherz, List und Rache" der Fröhlichen Wissenschaft stammen aus dieser Zeit, sind aber, wie die Briefe aus Genua zu dieser Zeit beweisen, wohl zum Teil dort entstanden. Sowohl Sprüche aus Scherz, List und Rache als auch das Lied von der kleinen Brigg teilt Nietzsche Köselitz in Briefen aus Genua mit (vgl. KSB -

17

18 19

6, 171; 178f.). Vgl. KSA, NF, 10, 12, 1 [15]; 34, 1 [101]; 53, 3 [1] und 108, 3 [4]. Vgl. KSB 6, 159.

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metaphorischer Landschaft

jasagender Bücher zusammengebracht und -gedacht, seine Rolle als Denker mittels einer vielschichtigen Anspielung auf die Geschichte einerseits und die näheren Umstände der Konzeption der darin angesprochenen Gedanken und ihrer Konsequenzen andererseits stilisiert. Genua wird darin genau so wie Kolumbus zu einem verdichteten Bild, das Elemente biographischer, atmosphärischer und historischer Natur aufnimmt, deutet und in Verbindung setzt, das sich sozusagen mit jeder Nennung in einem neuen Kontext, mit jeder kleinen Umstellung am Wortlaut mit neuen „Sinnebenen" auflädt. Hat Nietzsche z. B. in dem „Columbus Novus" betitelten Entwurf, dessen erste Strophe bis auf die nicht unerhebliche Interpunktion mit der Druckfassung Nach neuen Meeren übereinstimmt, in der zweiten Strophe das Element der Zuversicht, des Mutes und der siegreichen Überwindung hervorgehoben so ist in der Endfassung diese Strophe auf den großen Gedanken der „Ewigen Wiederkunft" hin ausgerichtet. Dies geht nicht nur aus der Nennung des „Auges der Unendlichkeit" und aus dem für den Augenblick der Bejahung als „Mitte der Zeit" gebrauchten Bild des Mittäglichen hervor. Dieses selbst liegt hier auf Raum und Zeit wie ein schlafendes Ungeheuer, wenn man das Ungeheure des Auges der Unendlichkeit, wie man wohl kann, als das Ungeheuer „Unendlichkeit" liest, das Nietzsche auch im Meer erblickt, von dem er sich notiert: „Es lacht das Meer, das Ungeheuer" (KSA, NF, 10, 14), mit welchem „schönen Ungeheuer" er auch „einige Heimlichkeiten gemeinsam haben" (KSA, FW, 3, 513) will.21 Dass hier an den Gedanken, der „das grösste Schwergewicht" (KSA, FW, 3, 570) bedeutet, gedacht werden kann, geht auch aus Nietzsches Kompositionstechnik hervor, denn er schließt das Gedicht „Sils-Maria" an, in dem er unmissverständlich den Moment schildert, in dem sich ihm dieser Gedanke der Wiederkehr „offenbart" hat, ein Anklang auch an das Gedicht „Aus Hohen Bergen", das Jenseits von Gut und Böse angefügt ist. Nietzsche hat hier also in den beiden Gedichten die Thematik der Fröhlichen Wissenschaft mit der Grundkonzeption des Zarathustra verschränkt, wie er Genua und Sils Maria miteinander verbunden hat, die beide über diesen Gedanken eng miteinander verbunden sind. Die Fröhliche Wissenschaft ist ihm in Briefen wie in späteren Erinnerungen ein Geschenk, das ihm im „Wunderbarsten Monat Januar", den er ,je erlebt" hat, gegeben wurde, das Buch wird ihm zum Symbol dieser Befreiung nach Neuen Meeren hin, wie sich auch im Widmungsgedicht des Vierten Buches, „Genua im Januar 1882" entstanden, zeigt, das Nietzsche in seinem kurzen Referat der Fröhlichen Wissenschaft in Ecce homo nochmals anführt. In diesem Poem wird wiederum das „neue Meer", als Meer einer höchsten Hoffnung diesmal, thematisiert.22 Genua wird in diesem Vierten Buch der Fröhlichen Wissenschaft noch zum Titel eines eigenen Abschnittes, in dem nicht nur der Kontrast von Norden und Süden angesprochen wird, nicht nur das Thema des Aufbruches nach neuen Meeren oder Ufern, die Abenteuerlust und die mittägliche Stimmung der Vollkommenheit im „Augenblick eines sonnigen Nachmittags", in dem die „unersättliche und melancholische Seele einmal Sattheit fühlt" beschworen, die -

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,

KSA, NF, 10, 34: „Alles wird mir neu und selbst am Steuer, / Lieblichste Victoria!"

neuer

/ Hinter mir

liegt Genua / Muth!

Stehst Du doch

Alles glänzt mir neu und neuer / Mittag schläft auf Raum und Zeit / Nur dein Auge ungeheuer / Blickt mich's an, Unendlichkeit! (KSA, FW, 3, 649). KSA, FW, 3, 521; vgl. EH, 6, 333; zum Titel: NF, 9, 678f:, 19 [12] und NF, 10, 35, 1 [104]. -

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310

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vielen bekannten architektonischen Metaphern aus Nietzsches Werk fortgeführt werden, sondern auch der gegen Ende dieses Buches im Paragraphen 337 der die „Genueser Bilderwelt" von Morgenröte, Sonne, Meer, Horizont und göttlichem Glück nochmals verdichtet aufnimmt angesprochene positiv gewertete historische Sinn als Heldentum angesichts des Gedankens der Wiederkehr ins Spiel gebracht, und zwar im hier zentralen Aspekt der Aneignung durch spielerisch-lustvoll ins Abenteuerliche gewendete phantasievolle Überwältigung, die Unendlichkeiten einer aristokratischen Distanz hervorbringt (KSA, FW, 3, 531 f.). Ernst und Spiel, Wehmut und erfüllte Lust werden in diesem Aphorismus in Hinblick auf die Möglichkeiten des Menschen, sich etwas zu eigen zu machen, auf die Möglichkeit einer selbstsüchtigen so der erklärte Gegner der Moral der Selbstlosigkeit Transzendenz im Kampf mit anderen, ohne dass Gesetze und Ordnungsstrukturen starre Hierarchien bilden, im Augenblick eines sonnigen Nachmittags zum Ausgleich gebracht, in dem eine vollkommene Aneignung des Fremden ohne Übergang in statisches Eigentum oder dialektische Aufhebung in im Andern Bei-sich-Sein geschieht. Ein Moment in der Zeit, in dem der Ernst des menschlichen Lebens erfüllt scheint, ohne dass damit der flüchtige Charakter der Zeit aufgehoben wird. Ein Ereignis wie ein Glockenspiel, das kurze Dauer hat, aber doch, unersättlich an sich selbst, schauerlich, kindisch und wehmutsvoll zugleich die „Weise der Zeit" symbolisieren kann. So hat es Nietzsche wohl in Genua, dem Glockenspiel eines Kirchturmes lauschend, erfahren und dabei gespürt, dass das Menschliche des großen Ernstes nicht wert sei (KSA, MA, 2, 354). Im Zusammenhang mit dieser Aufzeichnung, die sich an ein Erlebnis in Genua anschließt, findet sich in den nachgelassenen Fragmenten ein Gedichtentwurf, der von der Weise der Zeit spricht (KSA, NF, 8, 386), in dessen Nähe wir folgende Notiz Nietzsches über die Zeit lesen können: „Flöte der Zeit vorblasen, dass rascher und wirbelnder ihr Tanz wird später die grosse Ruhe, wo schauernd, wie in später Nachmitternacht, alles gespenstisch scheint. Ich selbst bin in der Zeit, sie in mir Selbsterlebtes, Selbstorgiasmus" (KSA, NF, 8, -

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388).

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Nietzsches Gedanke von der ewigen Wiederkunft, den man, seinen Schilderungen gemäß, mit jenem Augenblick in Sils-Maria, 6000 Fuß nicht über dem Meer, sondern Jenseits von Mensch und Zeit" (KSA, EH, 6, 335), verbindet, ist von Nietzsche auch mit Genua verschränkt worden, so dass Sils und Genua als die beiden geographischen Pole der in den Bildern von Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt dargestellten schöpferischen Arbeit an Zarathustra 1 erscheinen. Achtzehn Monate nach der Konzeption erfolgte, wie Nietzsche will: in einem zehntägigen Rausch der Inspiration, die Niederkunft. Auf seinen Spazierwegen in der Bucht von Rapallo, „unweit Genua" fiel ihm im Winter 1882/83 der „ganze erste Zarathustra ein", vor allem der Typus Zarathustra, und der fiel ihm nicht ein, er überfiel ihn.

Vgl. dazu Sarah Kofrnan, Nietzsche et la métaphore, Paris 1983, die FW 337 dem Abschnitt „archimétaphoriques" ihrer Schrift voranstellt (a. a. O. 87-119).

tectures

Italienische Städte: Orte in Nietzsches

metaphorischer Landschaft

311

5. Rom Dem „Typus Zarathustra" ist ein bedeutender Anteil der ausführlichen Darstellung von Also sprach Zarathustra in Ecce homo gewidmet, und es will mir scheinen, dass dies die einzige Stelle in Nietzsches Werk ist, an der Rom als von Nietzsche besuchte Stadt erwähnt wird. „Rom" ist freilich ein Name, der in Nietzsches Werk vielfältige und widersprüchliche Konnotationen mit sich bringt. Dieser Name steht zunächst für die klassische römische Kultur, wiederum in sich differenziert gesehen, wie die Beispiele der Erwähnung von Juvenals Rom (KSA, VM, 2, 478), „diese Giftkröte mit den Augen der Venus" oder des stoischen Rom (KSA, WS, 2, 651) illustrieren. Das katholische Rom ist Zielpunkt der Angriffe Nietzsches, so wenn er Wagner vorwirft, dass dieser „den Weg nach Rom, wenn nicht zu gehn, so doch zu predigen" angefangen hätte und dessen späte Musik als „Roms Glauben ohne Worte" karikiert (KSA, JGB, 5, 204; NW, 6, 429) oder Auguste Comte angreift, der seine Franzosen auf dem Umweg der Wissenschaft nach Rom führen wollte (KSA GD, 6, 113), wenn er in Ecce homo Rom als den für den Dichter des Zarathustra unanständigsten Ort der Erde bezeichnet (KSA, EH, 6, 340) und im Antichrist im Anschluss an seinen Friedrich den Zweiten (den Staufer) „Krieg mit Rom auf's Messer!"(KSA, EH, 6, 250) fordert, was im Gesetz wider das Christentum zur Aufforderung gerät, Rom dem Erdboden gleich zu machen.24 Rom kann auch, wie aus nachgelassenen Aufzeichnungen hervorgeht, als Zentrum, ja Paradigma der Urbanität aufgefasst werden, wenn Nietzsche etwa notiert: „lieber der letzte in Rom als der erste in der Provinz: auch so ist es noch cäsarisch"(KSA, NF, 12, 536), oder aber des Pilatus Frage „Was ist Wahrheit", als Roms würdige „größte Urbanität aller Zeiten" bezeichnet (KSA, NF, 11, 100). Die in diesen Städtenamen eingetragene Gegensätzlichkeit zeigt sich am klarsten in Nietzsches Verwendung sowohl des antiken als auch des Renaissance-Rom als Beispiel für aristokratische Gemeinwesen nach seinem Geschmack. Es verwundert nun nicht, dass Nietzsche seinen „Zarathustra", Gegenentwurf zur christlichen Verkündigung, in Ecce homo quasi als „Buch der Bücher" vorgestellt, diesem Rom, in dem sich von ihm Bekämpftes und von ihm Gewürdigtes fast unentwirrbar zu verknüpfen scheinen, nicht ganz entziehen will, wenn er es ihm auch nicht „einschreibt". So schildert er in Ecce homo seinen Aufenthalt in Rom als den eines Menschen, der beständig nach dem Rom von Antike und Renaissance sucht und dem christlichen Rom aus dem Wege zu gehen trachtet, beschreibt seine vergebliche „Mühe um eine antichristliche Gegend", die ihn sogar wieder eine Anspielung auf seine kommende Herrschaft, die die Herrschaft des christlichen Rom beenden wird im „pallazzo del Quirinale selbst" nachfragen lässt, „ob man nicht ein stilles Zimmer für einen Philosophen habe" (KSA, EH, 6, 340f.). Und er zeichnet Rom aus, wenn er wie beiläufig erwähnt, dass er auf einer Loggia hoch über der Piazza Barberini das „Nachtlied" gedichtet habe. Dieses lässt er in Ecce homo nochmals abdrucken und hebt es dort in einer Art und Weise hervor, die klar zeigt, dass in Nietzsches Selbstinterpretation -

-

„Die fluchwürdige Stätte, auf der das Christenthum seine Basilisken-Eier gebrütet hat, soll dem Erdboden gleich gemacht werden [...]" (KSA, AC, 6, 254).

Vgl. oben die Ausführungen zu Machiavelli.

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diesem Text eine dermaßen zentrale Bedeutung zukommt, dass es nicht von bloß beiläufigem Interesse sein kann, wo er gedichtet wurde. Er hat den Gedanken, den er als seinen „abgründlichsten" bezeichnet, indem er das Nachtlied in Rom entstehen lässt, mit dieser Stadt verbunden. Allerdings handelt es sich

dabei wohl um eine Stilisierung. Zunächst ist festzustellen, dass schon die Beschreibung, die Nietzsche von seinem Aufenthalt in Rom 1883 gibt, stilisiert ist: er behauptet, dass er von Rom nach dem vom Staufer Friedrich II. gegründeten Aquila wollte, die Stadt in den Abruzzen zum „Gegenbegriff von Rom" stilisierend, dass er aber zurück müsste. Danach hätte er sich mit der Piazza Barberini zufriedengegeben. Nietzsche wohnte aber spätestens vom 6. Mai an Piazza Barberini 56, ultimo piano (KSB 6, 374) und schrieb Anfang Juni aus Terni eine Postkarte an seine Schwester in Rom, auf der er über Aquila schreibt: „Die Gegend nichts für mich!" (KSB 6, 382). Von dort fuhr er in die Schweiz, Rom sah ihn nicht wieder27, er blieb bei seinem Eindruck vom 10. Mai: „Rom ist kein Ort für mich so viel steht fest"(KSB 6, 374). Schenkt man der Datierung der nachgelassenen Fragmente durch Colli und Montinari Glauben, ist zwar die erste Konzeption des „Nachtliedes", nicht aber seine Entstehung in Rom wahrscheinlich. Es verhält sich dabei wohl wie mit den zehn Tagen, die Nietzsche jeweils als Zeitraum für die Niederschrift der einzelnen Teile des Zarathustra angibt. Die vollständige Niederschrift des Nachtliedes in Rom würde ja auch die Entstehung von Zarathustra II im Sommer in Sils-Maria in nur zehn Tagen ausschließen. Vielmehr tätigt Nietzsche durch längere Zeit hindurch Aufzeichnungen, übernimmt aus den Notizheften einzelne davon in neue Sammlungen und schreibt schließlich das Werk nieder28, so dass auf die Zeit in Rom wohl nur ein Entwurf des „Nachtliedes" Man wird also die Piazza Barberini nicht als Kommentar zum Nachtlied oder umgekehrt dieses als Kommentar zu jener ansehen können, vielmehr hat in der Konzeption der Nietzscheschen Werke, handle es sich nun um Genua, Sorrent oder Rom, ein Transformationsprozess und eine Verdichtungsarbeit atmosphärischer, bildlicher und gedanklicher Natur stattgefunden, die die von Nietzsche seit Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne thematisierte metaphorische Struktur der Sprache in einem eminenten Sinn ins Spiel bringt und unsere Interpretationen zu geduldigen Meditationen an dieser Bildlichkeit zwingt, wie Nietzsches Konstitution ihn zu diesen Orten, an denen sich sein Denken entfaltet hat, gezwungen hat. -

zurückgeht.2

Was hier aus Gründen des beschränkten Raumes leider nicht näher erläutert werden kann. Ich verweise wiederum auf meine Habilitationsschrift. Wie Janz, Band II, 194 feststellt, während Montinari in KSA 15, 136 wohl der Darstellung der Schwester folgt; jedenfalls wird Nietzsche, wenn er von Temi in die Schweiz wollte, nicht nach Rom zurückgekehrt sein. Vgl. die Ausführungen Montinaris in KSA 14, 280. „Nacht ist es nun reden / lauter alle springenden Brunnen / und auch du, meine Seele / bist ein springender Brunnen. / Nacht ist es nun erst erwachen / alle Lieder der Liebenden. / Und auch du, meine Seele, bist / das Lied eines Liebenden" (KSA, NF, 10, 363); vgl. aus dem Sommer 1883 in 13 [1], mit dem Titel „Zarathustra's / Heilige Gelächter" die Aufzeichnungen in KSA, NF, 10, 419; 425; 426; 430 (dem Wasserfall gleich ...), 437 (Wahnsinn des Gebenden); und KSA, NF, 10, 458, 13 [9] (Der kürzeste Sommer). -

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Italienische Städte: Orte in Nietzsches metaphorischer Landschaft

6.

Venedig

313

ein Intermezzo -

700 tiefe Einsamkeiten bilden zusammen die Stadt Venedig dies ihr Zauber. Ein Bildfür die Menschen der Zukunft (KSA, NF, 9, 38).

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Venedig ist Musik. „Wenn ich ein anderes Wort für Musik suche, so finde ich immer nur Venedig" (KSA, EH, 6, 291). In Venedig lebt der von Nietzsche zu (s)einem Gegen-Wagner gemachte Maestro Peter Gast. Das führt zu dem Kapitel 7 von „Warum ich so klug bin" in Ecce homo, in dem Venedig als der Süden in der Musik vorgestellt wird. Diese Verengung des Begriffes „Süden in der Musik" ist wohl erst später eingetreten, finden wir doch noch im Jahre 1885 in einer nachgelassenen Aufzeichnung eine Notiz, in der gleichwohl der Süden in der Musik der deutschen Musik entgegengesetzt, aber nicht ausschließlich mit Venedig identifiziert wird: „Die deutsche Musik. Süden Morgenland (zwei Süden: Venedig und die Provence)" (KSA, NF, 11, 668). Venedig und Morgenland, das verbindet Nietzsche schon in einem Brief an Peter Gast vom März 1884: „Außer Capri hat im Süden Nichts mir einen solchen Eindruck gemacht, wie Ihr Venedig. Ich rechne es nicht zu Italien: irgend was vom Orient ist da heruntergefallen." (KSB 6, 484). Venedig ist ein Intermezzo: 1880 lebt Nietzsche hier verhältnismäßig lange, Mitte März bis Ende

Juni, und diktiert Peter Gast eine Sammlung von 262 Aphorismen mit dem Titel L'Ombra di Venezia was neben dem Schatten von Venedig auch ein Glas Wein bedeutet. Diese Sammlung kann als Vorarbeit zur Morgenröthe eingestuft werden, doch Nietzsche selbst erwähnt Venedig in diesem Zusammenhang nicht. In den Jahren 1884-87 besucht er Köselitz jährlich einmal in Venedig, 1884 nach Vollendung des Zarathustra III, 1885 nach Beendigung von Zarathustra IV32, 1886 für eine Woche und 1887 nach Beendigung der Genealogie der Moral, wobei Nietzsche und Gast gemeinsam an der Drucklegung der Abhandlung arbeiten. Eines der berühmtesten Gedichte Nietzsches, das er angeblich auf dem Weg von Turin nach Basel Anfang Jänner 1889 im Zug rezitiert hat, ist mit Venedig verbunden. Ein anderes, aus den „Liedern des Prinzen Vogelfrei", mit dem Titel, „Mein Glück" beschreibt den Platz in Venedig, den Nietzsche in der Genealogie der Moral sein „schönstes Stadirzimmer nennt", die Piazza San Marco (KSA, FW 3, 648; GM, 5, 353). Richard Wagner ist in Venedig gestorben. ,

7. Turin Turin ist die Stadt des Jahres 1888. W trägt den Untertitel „Turiner Brief vom Mai 1888." Die Unterschrift unter dem Vorwort der Götzen-Dämmerung lautet: „Turin, am 30. September 1888, dem Tag, an dem das erste Buch der Umwerthung aller Werthe zu Ende kam. Friedrich Nietzsche." An diesem Tag wurde daselbst auch das „Gesetz wider 30 31 32

Vgl. KSA, NF, 9, 47-102.

Wie Mazzino Montinari berichtet; vgl. KSA 14, 626. Nietzsche ist vom 10. 04 06. 06. in Venedig, am 13. 04. ist die -

gemeinsame Korrektur beendet.

Hans Gerald Hödl

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das Christenthum" erlassen, allerdings ohne Ortsangabe. Nietzsche contra Wagner trägt die Orts- und Zeitangabe „Turin, Weihnachten 1888". Ohne dass Turin dort genannt wird, ist doch ein eigenartiges Textstück von Ecce homo Turin gewidmet, in dem Nietzsche sein ganzes Leben in seine letzte Turiner Zeit aufgehoben sein lässt.33 Dieses Textstück ist schon deshalb merkwürdig, weil es beim flüchtigen Blick auf den Aufbau des Buches bereits aufmerken lässt es ist zwischen Vorwort und erstem Abschnitt, nach dem Inhalt, gestellt, eine Art Motto also, das sich aber, wie es scheinen will, an keinen Leser richtet, sondern eine streng monologische Form hat. Nietzsche erzählt in Bildern von hoher Privatheit, dass er sich sein Leben erzählt. In Ecce homo geht es ihm aber nicht um diese Selbsterzählung als Selbstzweck, sondern darum die Vernunft seines Lebens34 darzustellen als eine Vorbereitung auf sein Projekt der „Umwertung", um eine literarische Spannung zu erzeugen, um der „Umwertung" Gehör zu verschaffen und einer Verwechslung seiner Person vorzubeugen.35 So schreibt er in einem Brief an seinen Verleger Naumann vom 6. November 1888 (KSB 8, 463f), dass vor dem ersten Buch der Umwertung noch eine „vorbereitende Schrift" nötig sei, um eine wirkliche Spannung zu schaffen. Dabei schildert er, das Thema der herbstlichen Erfülltheit seines Lebens aus dem „Motto" zu Ecce homo aufgreifend, die letzten Wochen als von Wohlbefinden, Glück, Inspiration und Dankbarkeit gekennzeichnet, und sagt Ecce homo betreffend, dass er damit eine extrem schwere Aufgabe gelöst habe dadurch, dass er sich selbst, seine Bücher, seine Ansichten und sein Leben, insofern es zur Selbst-, Bücher- und Ansichtenerzählung erfordert war, erzählt. Man sieht sofort, dass er einen Unterschied macht zwischen der Erzählung seiner selbst und der Erzählung seines Lebens. Vielleicht ein Hinweis darauf, wie man die Spannung zwischen der Präsenz von Nietzsches Selbsterzählungen in seinen Schriften und seiner Abwehr, dass man diese mit Rekurs darauf, wer sie geschrieben hat, interpretiere, verstehen und auflösen könnte. Er selbst ist nicht einfach sein Leben. Und wenn er sich sein Leben erzählt, dann geht es ihm um das, was er in den 44 Jahren gerettet, solcherart unsterblich gemacht, transfiguriert hat. Ecce homo ist also zunächst gar nicht als Autobiographie, sondern als Bericht über eine Transfiguration zu lesen. Turin ist mit dieser Transfiguration so eng verbunden wie Genua mit den vielen Morgenröthen, die noch nicht geleuchtet haben. In den vielen Büchern, die über Nietzsche und sein Leben geschrieben worden sind, ist, wie es mir erscheinen will, Turin in der Regel als der Ort von Nietzsches Zusammenbruch gesehen worden, und die Verklärung, die für Nietzsche mit „Turin" verbunden war, in der Hauptsache als Symptom des nahenden Endes, in -

„An diesem vollkommnen Tage,

wo Alles reift und nicht nur die Traube braun wird, fiel mir eben ein Sonnenblick auf mein Leben: ich sah rückwärts, ich sah hinaus, ich sah noch nie so viel und so gute Dinge auf einmal. Nicht umsonst begrub ich heute mein vierundvierzigstes Jahr, ich durfte es begraben, was in ihm Leben war, ist gerettet, ist unsterblich. Die Umwerthung aller Werthe, die Dionysos-Dithyramben und, zur Erholung, die Götzen-Dämmerung Alles Geschenke dieses Jahrs, sogar seines letzten Vierteljahrs! Wie sollte ich nicht meinem ganzen Leben dankbar sein? Und so erzähle ich mir mein Leben" (KSA, EH, 6, 263). Vgl. Werner Stegmaier, „Nietzsches Kritik der Vernunft seines Lebens. Zur Deutung von ,Der Antichrist' und ,Ecce homo'". In: Nietzsche-Studien 20 [1991], 163-183; Vgl. den Brief an Köselitz in KSB 8, 462 und die Vorrede zu Ecce homo, KSA 6, 257. -



Italienische Städte: Orte in Nietzsches metaphorischer Landschaft

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einer nicht ganz ressentimentfreien Adaptierung des Satzes: „Also begann Zarathustras Untergang", interpretiert worden. Für Nietzsche ist nun aber Turin zunächst der Ort, an dem sich, wohin er nur kommt, jedes Gesicht erheitert und vergütigt (KSA, EH, 6, 301), in einem Herbst, der nicht nur in Turin, sondern schon in Sils, die Erfüllung aller Schönheit war: „Ich habe nie einen solchen Herbst erlebt, auch nie etwas der Art auf Erden für möglich gehalten, ein Claude Lorrain ins Unendliche gedacht, jeder Tag von gleicher unbändiger Vollkommenheit." (KSA, EH, 6, 356). Jedenfalls ist ihm, für die kurze Spanne von diesem Herbst an bis zum 6. Jänner 1889, Turin, sein nunmehr „bewiesener" Ort, zur „Residenz" geworden (KSA, EH, 6, 356). Genua, das Residenz zur Zeit der entscheidenden Wende seines Lebens war, wird von Turin darin abgelöst, jetzt, wo dieses Leben an sein Ziel gelangt ist, wo in dieser kurzen Spanne Zeit die „kurze Spanne Zeit" vollkommen in „Nietzsche" ist und „Nietzsche" in einem vollkommenen Selbst-Orgiasmus in ihr. „Singe mir ein neues Lied: die Welt ist verklärt und alle Himmel freuen sich" (KSB -

8, 575).

V. Memorial

Walter Schmithals

Zum Gedenken

an

Wolfgang Müller-Lauter

(31.8. 1924-9.8.2001)

Zum ersten Jahrestag seines Todes

Wir erinnern uns an Wolfgang Müller-Lauter als einen Menschen, der sich am liebsten in sich selbst zurückzog und der aller lauten Geselligkeit abhold war. „In sich selbst" heißt freilich nicht: „in ein Selbstbewußtsein", in ein Kreisen um das eigene Ich, in Selbstentwürfe, Selbstvorwürfe oder Selbstverstrickungen. „In sich selbst" heißt, der Sache zugewandt, die ihn bewegte, auf die wissenschaftliche Aufgabe konzentriert, die er sich selbst gestellt hatte oder zu der er herausgefordert worden war. Zugleich aber hat dieser in sich selbst konzentrierte Mann sich nicht verweigert, wenn er nach außen wirken sollte. Er tat es nicht immer gerne und gar nicht von sich aus, aber ich meine, es hat ihm immer gut getan, wenn er gleichsam nach außen gezogen wurde. Und er war da, wenn er gebraucht wurde. Auch dann ganz der Sache zugewandt, sich der gestellten Aufgabe widmend, ohne jeden Anflug von Eitelkeit, sich selbst ganz zurücknehmend. Er sagte umsichtig und deutlich, was zu sagen war, aber nicht mehr. Er wählte seine Worte sachlich und ohne persönliche Schärfe und behutsam alle Verletzungen vermeidend. Ich weiß nicht, ob er jemals die Worte von Johann Heermann aus dem Jahre 1630 nachgesprochen hat. Hat er es getan, so wurde sein Gebet erhört:

„Hilf, daß ich rede stets, womit ich kann bestehen; laß kein unnützlich Wort aus meinem Munde gehen; und wenn in meinem Amt ich reden soll und muß, so gib den Worten Kraft und Nachdruck ohn' Verdruß."

Wolfgang Siegfried Müller wurde am 31. August 1924 in Weimar geboren. Als er drei Jahre alt war, verlor er seinen Vater. So wuchs er als ihr einziges Kind bei seiner Mutter auf, die das Geschäft ihres Mannes fortführte. Schon emeritiert, schaut er auf diese Jugendzeit zurück: „Als Einzelkind vaterlos aufgewachsen, war ich ein introvertierter Einzelgänger. Der Gemeinschaftsrausch, der viele Gleichaltrige in seinen Bann zog, war mir, gewissermaßen von Haus aus, fremd. Ich habe es deshalb leichter gehabt, Distanz zu gesellschaftlichen Ansprüchen zu wahren, übrigens auch in der Nachkriegs-

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Walter Schmithals

zeit." Der Vater war musikalisch. Er hatte im Zentrum von Weimar ein Geschäft und verkaufte, verlieh und stimmte Klaviere. Seine Mutter stammte aus einer Familie, die sich im Thüringer Wald mit Porzellanmalerei ihr Brot verdient hatte. Beide Eltern haben ihm, wie offenkundig ist, eine ungewöhnlich große Fülle von Begabungen in die Wiege gelegt. Und dass er in Weimar das Gymnasium besuchte und 1942 das Abiturzeugnis erhielt, wo eine gewichtige kulturelle Tradition auch durch die Schatten von Buchenwald nicht aus dem Alltag vertrieben werden konnte, hat die Vielseitigkeit die-

Begabungen gewiss gefordert. Abiturzeugnisses das Mittelfeld nicht überstiegen, lag das nicht zuletzt daran, dass er unter der Schulbank heimlich Schach spielte. Er war schon als Schüler Thüringer Schachmeister geworden. Er hat später um die Deutsche Meisterschaft gespielt und war 1953 Berliner Pokalmeister. Damals studierte er und wurde von konkurrierenden Berliner Schachvereinen umworben, was in jener überhaupt und nicht zuletzt für ihn kargen Zeit auch finanziell von Nutzen war. Auch Schachvorträge in ser

Wenn die Noten seines

Volkshochschulen halfen ihm, das Studium zu finanzieren. Aber auch philosophische Fragen hatten schon den Weimarer Schüler interessiert. Zunächst freilich müsste er von der Schule weg zum Reichsarbeitsdienst vermutlich keine erquickliche Zeit für ihn, denn der Umgang mit den praktischen Dingen des Alltags gehörte nicht zu dem Reichtum seiner Begabungen. Die anschließenden Jahre als Soldat verbrachte er auf dem Balkan bei der Nachrichtentruppe er war Funker -, und hier schloss er Freundschaft mit einem etwas älteren Philologen, der sein Studium bereits abgeschlossen hatte und der seine germanistischen und historischen Interessen weckte bzw. förderte. Bekanntlich sagt das Sprichwort: „Die Hälfte seines Lebens wartet der Soldat vergebens", und im Funkdienst wird es mehr als die Hälfte gewesen sein. Ich weiß aus persönlicher Erfahrung, wie fruchtbar man diese langen Zeiten absichtslos geschenkter Muße nutzen konnte, um sich ungezwungen und ohne irgendeinen Leistungsdruck im umfassenden Sinn dieses Wortes zu bilden. Und deshalb habe ich Verständnis dafür, wenn Wolfgang Müller-Lauter insofern sicherlich nur insofern nicht ohne eine gewisse Dankbarkeit auf seine Soldatenjahre zurückblickte. Ich hätte freilich dem stillen und zurückhaltenden Mann er besaß auch das Verwundetenabzeichen nicht zugetraut, dass er sich in den letzten Kriegswochen durch die gefährlichen Schluchten des Balkans und das mörderische Schlachten des Partisanenkriegs hindurch bis zu den Truppen der Amerikaner durchgeschlagen hat, aus deren Gefangenschaft er schon bald entlassen wurde. Ohne weitere Ausbildung wurde er in Rudolstadt und später in Weimar und in Erfurt Dramaturg und Theaterkritiker, und er hat damals, wie sein Vertrag vorsah, gelegentlich auch selbst als Schauspieler auf der Bühne gestanden. In dieser Zeit schrieb er auch das Drama Verlorene Menschen, das von dem Schicksal einer jüdischen Familie unter der Herrschaft der Nationalsozialisten berichtete und das an mehreren Bühnen aufgeführt wurde und in seinem Nachlass erhalten blieb. Im August 1949 erhielt er eine Anstellung als Referent für Theaterfragen im Ministerium für Volksbildung im Land Thüringen. Das konnte bei einem Menschen, dem jede kollektivistische Vereinnahmung unerträglich war, nicht lange gutgehen. Und als er, der auch keiner Partei beitreten wollte, seine Verhaftung befürchten müsste, wich er Ende 1950 in den Westteil von Berlin aus. -

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Zum Gedenken

an

Wolfgang Müller-Lauter (31.

8. 1924-9. 8.

2001)

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Das Stadium der Theaterwissenschaften an der Freien Universität bei Dovifat gab er schon bald auf, und statt dessen begann er das Stadium der Philosophie. Damit war sein wissenschaftlicher Lebensweg vorgezeichnet. 1953 kam Wilhelm Weischedel an die Freie Universität, der in den 20er Jahren in Marburg bei Heidegger und Bultmann studiert hatte. Mit ihm begegnete er seinem einflussreichsten Lehrer, bei dem er 1959 mit einer Arbeit über Möglichkeit und Wirklichkeit bei Martin Heidegger promovierte, die, als sie 1960 im Verlag de Gruyter erschien, den Grund für die lebenslange fruchtbare Beziehung zwischen ihm und dem renommierten Berliner Verlag legte und die zugleich im Sommersemester 1960 zu einem Lehrauftrag und im folgenden Jahr zu seiner Berufung auf den Lehrstuhl für Philosophie führte, der im Rahmen des Stadiums Universale an der Kirchlichen Hochschule eingerichtet worden war. Nietzsche war er schon als Schüler in Weimar begegnet, freilich, „trotz schon geweckter philosophischer Interessen, überwiegend als Lieferant von allzu zeitgemäßen Aphorismen, die meine Abneigung gegen ihn vergrößerten", zumal „man auch in meinem Alter in Weimar einiges über das erfuhr, was in Buchenwald auf dem Ettersberg vorging, wenn auch nicht das ganze Ausmaß des Schreckens". Und nach dem Krieg bestimmte Thomas Mann mit seinem Stockholmer Vortrag von 1947 Müller-Lauters Nietzsche-Bild, weil „ich damals Nietzsches ,begeistere Protektion des Lebens' gegenüber dem Erkennen, die unbedingte Überordnung des Lebens über den Geist, die ich unter den Nazis verabscheuen gelernt hatte, im Urteil des Dichters bestätigt fand". So hat er denn auch den Philosophen, mit dessen Namen der seine unlösbar verbunden ist, noch während seiner „ganzen Studienjahre hindurch beiseite geschoben". Im Stadium wurde er durch eine Reihe ernsthafter Erkrankungen, von deren Folgen er nie ganz losgekommen ist und die insoweit seinem Naturell entgegenkamen und es befestigten, gestört und zurückgeworfen. Außerdem musste er seinen Unterhalt verdienen, zumal er 1955 geheiratet hat und bald eine Familie mit zwei, später drei Kindern zu ernähren war. Er war unter anderem als freier Mitarbeiter beim RIAS und beim SFB tätig und hat während des Stadiums aus den Bereichen der Philosophie, der Germanistik, des Theaterlebens und der Geschichte die Manuskripte für zahlreiche Sendungen im Bildungsfunk, auch für den Schulfunk geschrieben. Auch hat er entsprechende Vorlesungen an verschiedenen Volkshochschulen gehalten. Diese Tätigkeiten trugen nicht nur zum Lebensunterhalt bei, sondern sie boten auch reichliche Gelegenheit, seine von den Studierenden stets gerühmten, seiner eigenen gedanklichen Disziplin entsprechenden didaktischen Fähigkeiten auszubilden. Erst gegen Ende seiner Studentenzeit wurde er mit der Wahrnehmung der Stelle eines wissenschaftlichen Assistenten beauftragt. Weil noch zwei andere nicht ganz unbekannte Berliner jener Zeit Wolfgang Müller hießen, was zu manchen Verwechslungen führte, wählte er 1954 den Doppelnamen Müller-Lauter, weder weil es im übrigen lauter Müllers gibt noch mit dem Anspruch auf besondere Lauterkeit, sondern im Angedenken an das Flüsschen Lauter, das in seiner Thüringer Heimat fließt. Freilich: Nomen est omen; er war ein lauterer Mensch und litt körperlich, wenn er Unaufrichtigkeit begegnete. Er gehörte zu den Kollegen, auf die man sich unbedingt verlassen konnte. Der zweite Taufhame, Siegfried, passte zu ihm wie die Faust aufs Auge; er hat ihn nie geführt.

Walter Schmithals

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Er war keiner der Professoren, die sich herausnehmen, die Studenten mit den besonderen Fündlein ihrer speziellen Forschungen zu traktieren, und ein eigenes philosophisches System hat er, der Philosophiehistoriker, ihnen auch nicht zugemutet. Seine Qualitäten als Forscher liegen am Tage, aber für seine Studenten war er vor allem der beispielhafte akademische Lehrer, und zwar ein Lehrer, der sich auf seine Hörer, die Studenten der Theologie, einzustellen wusste. Dies nicht, indem er den Unterschied von Theologie und Philosophie verwischte. Ihm waren theologische Fragestellungen zwar durchaus vertraut. Sein später in Wien lehrender Schüler Jörg Salaquarda hat 1969 bei ihm über Das Verhältnis von Theologie und Philosophie in Karl Barths „Kirchliche Dogmatik" promoviert. Und seine 1972 veröffentlichten gutachterlichen Stellungnahmen zu dem missglückten Habilitationsunternehmen von Friedrich-Wilhelm Marquardt (Theologie und Sozialismus Das Beispiel Karl Barths) zeigen, dass er Karl Barth besser gelesen hat als dieser promovierte Theologe. Aber er hat sich im Unterschied etwa von seinem Betheler Kollegen Wilhelm Anz stets bemüht, streng in den weiten Grenzen spezifisch philosophischer Fragestellungen zu bleiben, ob er sich nun in seinen Vorlesungen bestimmten Problemfeldern zuwandte wie der Geschichtsphilosophie, dem Existenzbegriff, der Geschichte der Willensfreiheit, dem Nihilismus, dem Atheismus oder der Problematik von Zeit und Ewigkeit, oder ob er bestimmte Schriften einzelner Philosophen interpretierte, wobei Heidegger deutlich den Vorzug erhielt. Aber von Descartes und Leibniz über Kant, Hegel, Fichte bis hin zu Sartre und Camus vermittelte er den Studierenden die Geschichte der neuzeitlichen Philosophie in ihrer ganzen Breite und damit die Möglichkeit philosophischen Denkens, und 1964 begegnet auch Nietzsche zum erstenmal in seinem Vorlesungsangebot. 1971 setzte er mit seinem Buch Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie einen Schwerpunkt in der langen Reihe seiner Nietzsche-Studien und seiner breit gefächerten Herausgebertätigkeit in Sachen Nietzsche. Er hat großen Anteil daran, dass in der öffentlichen Wahrnehmung aus dem Parteigänger Nietzsche der Denker Nietzsche wurde, und wer immer mit ihm als Herausgeber zu tun hatte, weiß die behutsame Art zu schätzen, mit der er korrigierend und beratend geholfen hat. Aber von dem allen wäre aus berufenerem Munde zu berichten. Er war um Auskunft nie verlegen, wenn man sich mit einer speziellen Frage an ihn wandte, und er gab Antworten immer mit seiner geduldigen Liebenswürdigkeit. Dass er sein Fach nicht in einer philosophischen Fakultät hat vertreten können, hat ihn zwar manchmal bedrückt, doch kam ihm und seiner Arbeitsweise die Atmosphäre der Kirchlichen Hochschule, die fernab des wissenschaftlichen Getöses ihren Weg ging, auch entgegen, und insofern konnte er sich in Zehlendorf durchaus wohlfühlen. Spektakuläres ist von diesem zurückhaltenden Mann nicht zu berichten, der sich mit allem Ernst der Wissenschaft gewidmet hat und allem Wissenschaftsbetrieb aus dem Wege ging. Die Rückfrage bei einem seiner fleißigen Studenten ergab nur das auch von -

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ihm selbst vermerkte Kuriosum, dass er angesichts der bis in die Mitte der 60er Jahre hinein spürbaren räumlichen Enge der Kirchlichen Hochschule mit seiner großen Hörerschar in die benachbarte Kirche „Zur Heimat" ausweichen müsste und ausgerechnet seine Vorlesung über die Geschichte des Nihilismus von deren Kanzel vorgetragen hat.

Zum Gedenken

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Ich selbst erinnere mich einer Situation auf dem Höhepunkt der Stadentenrevolte. Zu Ende des Wintersemesters 1968/69 es war mein erstes Semester in Berlin hatten die Studenten auf einer sogenannten Vollversammlung in Gegenwart von Helmut Gollwitzer einen Alternativ-Vorlesungsplan für das kommende Sommersemester 1970 verabschiedet, mit dem auch der Unterricht an der Kirchlichen Hochschule ganz in den Dienst der sozialistischen Revolution gestellt werden sollte und bei dem die Dozenten nur benötigt wurden, um die erfolgreiche Teilnahme an den von den Studenten selbst „antiautoritär" veranstalteten Übungen zu testieren. Bei einem Gespräch zwischen dem Dozentenkollegium und einer studentischen Delegation stellte deren Sprecher ich verschweige rücksichtsvoll seinen Namen das alternative Konzept vor und fragte dann einen taktisch klug ausgesuchten Professor ich verhalte mich weiterhin rücksichtsvoll -, ob er zugunsten der studentischen Veranstaltungen auf das von ihm angezeigte eigene Lehrangebot verzichten wolle. Ich saß neben Wolfgang Müller-Lauter. Wir hielten den Atem an, und er raunte mir zu: „Nein!" Und als jener Kollege ein gequältes „Ja" zur Antwort gab, fügte er entsetzt hinzu: „Was soll das werden?" Als der studentische Sprecher seine Frage dann einem zweiten Kollegen stellte und dieser gleichfalls mit „Ja" antwortete, wurde dieser von Helmut Gollwitzer angefahren: „Wie können Sie auf Ihr Proseminar verzichten!" Wir waren sprachlos, und die Studenten erst recht. Am nächsten Tag erschien ein Flugblatt, in dem ein „Kollektiv Thomas Müntzer mit dem Hammer" Gollwitzer, der am Abend dieses Tages in seinem Seminar seine unerwartete Intervention völlig vergeblich zu verteidigen suchte, des „hölzernen Sozialdemokratismus" bezichtigte. Ich erinnere an diese in mancher, an diesem Ort indessen nicht zu erörternder Hinsicht aufschlussreiche Szene nur, weil in ihrem Licht sichtbar wird, dass das wissenschaftliche Ethos von Wolfgang Müller-Lauter kompromisslos ausschloss, die Wissenschaft in den Dienst irgendwelcher außerwissenschaftlicher Interessen zu stellen. Wäre er zuerst gefragt worden, wäre sein ruhiges und bestimmtes Nein laut zu hören gewesen. Zu einer späteren Zeit die hohen Wogen des Aufruhrs hatten sich gelegt versuchte eine studentische Gruppe, nicht mehr die Privilegierten, sondern gut marxistisch die Arbeiter in der benachbarten „Spinne", einer kleinen Textilfabrik, von der Notwendigkeit der sozialistischen Revolution zu überzeugen. Als die Studenten von den Arbeitern ausgelacht wurden, kamen sie zu uns in der Überzeugung, dass ihr Scheitern nur in dem Unvermögen begründet sein könne, die unbezweifelbare Wahrheit des kommenden revolutionären Umbruchs angemessen zu vermitteln. Wir sollten ihnen hermeneutisch behilflich sein. Nun, zur Unterstützung solchen hermeneutischen Aberglaubens waren wir natürlich nicht in der Lage, aber wir haben später einmal ein gemeinsames Seminar zum Thema Hermeneutik angeboten und durchgeführt, um Möglichkeiten und Grenzen der hermeneutischen Fragestellung aufzuzeigen, freilich, wie mir rückblickend scheint, nicht durchaus zu unserer und wohl auch der Studenten Zufriedenheit, weil die Zugänge zum Thema einerseits von Schleiermacher und Bultmann, andererseits von Heidegger aus sich nicht problemlos verbinden ließen. Aber seine dabei wie in allen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen bewährte Treue zu den Texten hat uns immer gezeigt, dass er in einer Theologischen Fakultät nicht fehl am Platze war. Als er an der Reihe war, hat er in den beiden Jahren vom Wintersemester 1974/75 bis zum Sommersemester 1976 widerspruchslos das Rektorat übernommen, und wir Kolle-

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gen hatten den Eindruck, dass es ihm auch angesichts seiner physischen Beschwerden nicht schlecht bekommen ist, in diesem Amt aus mancher Zurückhaltung heraustreten zu müssen. Jedenfalls hat er die Aufgaben seines Amtes in einer Zeit, in der die zurücktretenden Konflikte mit den aufsässigen Studierenden manche Spannungen im Kollegenkreis deutlicher hervortreten ließen, in seiner unaufdringlichen Bestimmtheit und seiner bestimmenden Liebenswürdigkeit zu allgemeiner Zufriedenheit wahrgenommen, und nicht zuletzt ihm, dem, wie jedermann am Tage lag, Macht und persönlicher Einfluss nichts bedeuteten, ist es zu verdanken, dass die langen Satzungsverhandlungen in der Kirchlichen Hochschule zu einem guten Abschluss gebracht werden konnten. Die Kirchliche Hochschule hatte alle Rechte einer Evangelisch-theologischen Fakultät im Lande Berlin (West). Sie unterlag aber zum Glück nicht dem Berliner Hochschulgesetz, das zeitweilig Putzfrauen und Studenten über Promotionen und Habilitationen mitentscheiden ließ, sondern bestimmte ihre Ordnung selbst. Ihre Satzung war freilich auch jenseits der Forderungen nach Drittelparität und dergleichen Unfug veraltet. So behielten z. B. alle entpflichteten Professoren ihre vollen Rechte bis ans Lebensende. Diese mussten also auch ihre Zustimmung zu einer zeitgemäßeren Satzung geben, mit der sie selbst auf erworbene Rechte verzichteten. Diese Zustimmung erwirkt zu haben, war das Verdienst des Rektors Müller-Lauter. Mit der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit wurde eine Satzung verabschiedet, die uns vor den Auswüchsen der Gruppenuniversität bewahrte, die der Forschung und der Lehre dienlich war, die das Gremienunwesen radikal beschnitt und die bis zum Ende der Kirchlichen Hochschule gute Dienste getan hat. Aus den Rektoratsberichten, die der Rektor bei jeder Semestereröffnung vortrug, zitiere ich einige Sätze, mit denen Wolfgang Müller-Lauter den Studierenden weitergab, was für ihn selbst lebenslang bestimmend war, die Sachlichkeit: „Sachangemessenheit tritt in unserer Zeit leider allzu oft zurück hinter Interessengebundenheit [...] Nicht alles, was vordergründig mein Interesse auszumachen scheint, liegt in Wahrheit in meinem Interesse. In dieser Hinsicht müssen wir wieder beim platonischen Sokrates in die Lehre gehen. Unser wahres Interesse ist das Interesse der Sache, der wir uns verpflichtet haben. Von dem Eigentümlichen der Sache der Wissenschaft [...] wäre viel zu sagen. Hier sei nur vermerkt, dass es neben anderem von uns in besonderem Maße das fordert, was auch unsere alltägliche Existenz bestimmen sollte: die Bereitschaft, eigene Vorurteile in Frage zu stellen; die Aufgeschlossenheit für die Argumente anderer; die Offenheit für eine Revision eigener Standpunkte; die Fähigkeit zu differenzieren, wo pauschal geurteilt wird; die prüfende Inanspruchnahme von Sachautorität." Wolfgang Müller-Lauter wusste mit Nietzsche darum, dass das Leben der Festmachungen bedarf, dass es eben damit aber auch Irrtümern ausgeliefert ist. Das, so schreibt MüllerLauter im Übergang zu seinem Ruhestand, gehört zu unserer „Lebenssituation", die wir insofern, „wenn auch nicht bis in letzte Abgründe hinein und hinab", durchschauen können. Solche Perspektive lässt uns auf der Hut sein „vor Erstarrungen in unseren Überzeugungen und vor Selbstgerechtigkeit". Aus solcher Weisheit erwuchs, was, wer immer sich seiner erinnert, bei ihm beobachtete: eine Festigkeit im eigenen Urteil und zugleich die verstehende Zuwendung gerade zu denen, die sein Urteil nicht teilten. Soviel zur Erinnerung an Wolfgang Müller-Lauter. Er wird auch jenseits aller persönlichen Erinnerungen in der mit seinem Leben und Wirken verbundenen Sache, der Philo-

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Zum Gedenken an

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sophie, über seinen Tod hinaus Autorität bleiben. Zum Sommersemester 1991 wurde er emeritiert, nachdem er zwei Jahre zuvor zu seinem 65. Geburtstag in kleinstem Kreise

und in äußerster Bescheidenheit

der Hand seines Schülers Abel eine Festschrift entgegengenommen hatte. Wenig später wurde die Kirchliche Hochschule in die HumboldtUniversität überführt, und dieser Überführung fielen das Stadium Universale der Kirchlichen Hochschule und damit auch der philosophische Lehrstuhl, den er innegehabt hatte, definitiv zum Opfer. Er hat das überaus bedauert, aber sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit nicht behindern lassen. 1996 wurde er der erste Träger des vom Land SachsenAnhalt gestifteten Nietzsche-Preises, der ihm im Rathaus von Naumburg feierlich überreicht wurde. Sein Schüler Salaquarda, der noch vor ihm versterben sollte, hielt die Laudatio. Am 9. August 2001 starb er selbst nach langer, mit Bewusstsein durchgestandener Krankheit. Neben seinem Sterbebett lagen die drei Bände seiner Nietzschestadien, die ihm erlaubten, auf einen gelungenen Abschluss seiner wissenschaftlichen Lebensarbeit zurückzublicken, die, wie wir wissen, sich je später desto mehr auf Nietzsche konzentriert hatte. Ob er sich der Philosophie also der „Liebe zur Weisheit" auch deshalb zugewandt hat, um das Rätsel seines eigenen Daseins zu lösen, vermag ich nicht zu sagen, geschweige denn, ob er solche Lösung gefunden hat. In der Ansprache, mit der er sich für die Verleihung des Nietzsche-Preises bedankte, sagte er von Nietzsche, dieser sei „in der Tiefe seines Wesens ein religiöser Mensch" gewesen, und sein Denken sei aus der Not dessen erwachsen, „der erfahrt: es gibt nichts Tragfähiges mehr; wir sind in der Gefahr, gänzlich verloren zu gehen". Darum komme niemand an der Auseinandersetzung mit Nietzsche vorbei, der ernsthaft die Probleme unserer Zeit bedenke. Jene Not war auch ihm selbst nicht unbekannt, und er war keineswegs der Meinung, Nietzsche habe mit den unterschiedlichen Ansätzen seines Denkens aus ihr herausgeführt. MüllerLauters erster, mehrfach nachgedruckter Aufsatz zu Nietzsche erschien 1963 in der Zeitschrift Evangelische Theologie unter dem Titel „Zarathustras Schatten hat lange Beine ...". Ihm ist ein Nietzsche-Wort aus Die fröhliche Wissenschaft als Motto vorangestellt: „Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und Unten?" Er wirft in diesem Aufsatz Nietzsche einen inkonsequenten Nihilismus vor: Denn wer alles negiert, müsse auch diese Negation selbst negieren. Die Konsequenz des konsequenten Nihilismus, wie Dostojewski in seinem Roman Die Dämonen zeige, sei deshalb die „Fraglichkeit", in der Glaube und Unglaube gleichermaßen „aufgehoben" seien. Aber er kritisiert auch seinen Lehrer Weischedel, der zu Unrecht einen Fundierungszusammenhang aufstelle, wenn er konstatiere: Das radikale Fragen wird durch die vorhergehende Erfahrung der Fraglichkeit hervorgerufen, die wiederum ein Vonwoher, einen verborgenen Grund habe, nämlich den Gott der Philosophen. „Wer sagt denn", fragt Müller-Lauter, „daß die Fraglichkeit dem radikalen Fragen vorausgehe und nicht vielmehr das Fragen allererst die Fraglichkeit konstituiere?" Deshalb lautet das Fazit des eindrucksvollen Aufsatzes: „Zwar ist der ,Tod Gottes' in der Negation des ihn Rötenden' Nichts mit diesem selber fraglich geworden, zwar ,lebt' das Philosophieren im Spätnihilismus noch immer von dem zweifach Negierten: aber doch nur so, daß die Fraglichkeit Gottes sein vorläufig letztes Wort ist [...] Ein endgültiges Wort kann dies -

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Walter Schmithals

freilich nicht sein", aber zunächst bleibe nur die Offenheit für Zukünftiges. Dabei ist es dann auch, wenn ich mich nicht täusche, in der Lebensarbeit von Wolfgang MüllerLauter geblieben. Ob die Weisheit der Philosophen überhaupt zu einem endgültig letzten Wort imstande ist, sei dahingestellt. Mein Beitrag zu seiner Festschrift behandelte die Torheit des Kreuzes, die Paulus in einem Schreiben an die Korinther der philosophischen Weisheit der antiken Welt gegenüberstellte. Die Zeilen, mit denen er sich bedankte, waren vieldeutig; er habe viel gelernt, schrieb er mh. Eine Gemeinsamkeit mit Nietzsche hat jeder, der den kannte, dessen wir uns in dieser Stunde erinnern, vor Augen: Beide haben ihre Lebensleistungen einer Physis abgewonnen, auf die sie sich nie als auf einen selbstverständlichen Gewinn verlassen konnten. Dem Apostel Paulus war es bekanntlich nicht anders ergangen. Auf dem Friedhof an der Onkel-Tom-Straße in Zehlendorf haben wir von Wolfgang Müller-Lauter im Lichte des Pauluswortes Abschied genommen: „Wir tragen allezeit das Sterben Jesu an unserem Leibe, damit auch das Leben Jesu an unserem Leibe offenbar werde" (2Kor

4,10).

Wolfgang Müller-Lauter

Über Ökonomie und Kultur bei Nietzsche

1 .Nietzsche und Emanuel Herrmann In Nietzsches letzten beiden Schaffensjahren spielen ökonomische Betrachtungenn' eine große Rolle. Dafür sind Anregungen von erheblicher Bedeutung, die er aus der Lektüre des 1887 erschienenen Buches Cultur und Natur von Emanuel Herrmann gewonnen hat.1 Was ihn hierbei besonders beeindruckte, war der Versuch Herrmanns, einen ökonomischen Zusammenhang zwischen den im Titel des Buches genannten

beiden Gebieten aufzuweisen. In der Bedeutung, die Herrmann der Konkurrenz in allen Lebensprozessen zuspricht, konnte Nietzsche seinen Grundgedanken vom ,Willen zur Macht' wiederfinden. Herrmann beschreibt, wie die Konkurrenz bei „den organischen Individuen", z. B. als „Kampf um Nahrung, Licht, Feuchtigkeit, Wärme, Sicherheit" usw., hervortritt. Sie gewähre dem „Stärkeren Bestand" und bringe „dem Schwächeren Tod", woraus die „höchsten wirthschaftlichen Erfolge" der Natur resultierten. Dabei stellt er als die beiden obersten ökonomischen Gesichtspunkte, zu deren Befolgung der Konkurrenzkampf „alle Naturwesen und deren Bestandtheile" zwinge, „das Princip der größten Gewinne" und das dieses ergänzende ,J?rincip der kleinsten Verluste" heraus. Primitiven Organismen gewähre die Dominanz der strukturellen Einfachheit einen gewissen Schutz, jedoch keine Fortentwicklung.3 Die differenzierter ausgeprägten Wesen hingegen such-

1 3

Emanuel Herrmann, Cultur und Natur. Studien im Gebiete der Wirthschaft, Berlin 1887. Das Buch des Nationalökonomen wird im folgenden nach der im selben Jahr erschienenen, unveränderten 2. Auflage zitiert. Ein Exemplar dieser Auflage befindet sich in Nietzsches nachgelassener Bibliothek. Es weist aufschlußreiche Anstreichungen und Marginalien von seiner Hand auf. In den Heften W II 1 und W II 2, die Nachlaßaufzeichnungen Nietzsches vom Herbst 1887 enthalten, finden sich Exzerpte und kritische Nótate zu Cultur und Natur. Ebd., 265. Herrmanns Ausgangsbeispiel ist die Amöbe, ein Wesen, welches „eigentlich die größten Gewinne bei kleinsten Verlusten aufweist, dessen Daseinsbilanz die allergünstigste" freilich nur zu sein scheint. „Der absolute Gewinn an Daseinsvortheilen" erweist sich als „nur ein geringer", da diese „Vortheile selbst nur ein Minimum darstellen", ebd., 83-85.

Wolfgang Müller-Lauter

328

Maximum an Vorteilen zu erreichen, auch wenn sie dafür hohe Verluste in Kauf nehmen müßten. Nach Herrmann dominiert das Prinzip der Erhaltung die Naturvorgänge;5 nach Nietzsche aber ist es nur ein Sekundärphänomen. Primär gehe es überall um „Aneignung, Herr-werden-, Mehr-werden-[...]" und nicht um „Selbstbewahrung". Für ihn bestimmt sich die Maximal-Ökonomie des Verbrauchs aus dem „Stärker-werden-wollen von jedem Kraftcentrum aus"; es stelle „die einzige Realität" dar. Auch „der Wille zur Accumulation von Kraft", von dem Nietzsche hier spricht, ist „spezifisch" sowohl für die Lebensphänomene, „für Ernährung, Zeugung, Vererbung" als auch „für Gesellschaft, ten ein

Staat, Sitte, Autorität".6

Herrmann gibt den Erhaltungsgesichtspunkt als Grundlage auch nicht auf, wenn er die Vielfalt kultureller Entwicklungen darstellt. Macht steht bei ihm gänzlich im Dienste der Erweiterung menschlichen Wissens und technischen Könnens. Dies gilt nicht, wenn er „stolz" ausruft: ,,[W]ir sind berufen, dereinst die Beherrscher der Erde zu werden".7 In der Entwicklung unserer Kultur sollen wir „dereinst in der Erden-Natur das ökonomische Centrum" bilden können, nachdem wir den „Wahn, das physische Centrum der Welt zu sein, längst vernichtet haben".8 Dafür ist die Herbeiführung einer wirtschaftlichen Gesamtgesellschaft erforderlich: „Die Organisation der Weltwirthschaft soll und muß [...] den Typus der einheitlichen Maschinerie erhalten."9 Das Ziel ist, daß „der Planet Erde", als „eine Maschine [...] dem Drucke des Menschengeschlechts so gehorchen sollte, wie die Lokomotive dem Hebeldrucke ihres Führers".10 Die Wirtschaftsmaschinerie soll irgendwann sogar den Konkurrenzkampf, dem der wirtschaftliche Fortschritt in der Natur und der bisherigen Kultur zu verdanken ist, aufheben. Herrmann hat die Vision einer von Solidarität geprägten Gesellschaft. „Friede und Freude würde in die Welt einziehen, jeder Mensch genösse jenen Theil des Daseins, der ihm vergönnt ist, indem er die eine Hälfte der ungestörten Arbeit im öffentlichen Dienste, die andere Hälfte dem individualisirten Genüsse im Kreise der Familie oder der wohlgeordneten Privatunternehmung widme-

2. Ausbeutung und Kultur

Prognosen Herrmanns aufgenommen. Er findet den Weg „vollkomjetzt überschaubar", der zur „unvermeidlich bevorstehenden Wirthschafts-

Nietzsche hat die men

Gesammtverwaltang der Erde" 4 5

6 7

8 9 10 "

Ebd., 85. Ebd., 265-272, hier: 272. KSA, NF, 13,261. E. Herrmann, Cultur, 41-44.

Ebd.,272f. Ebd., 300. Ebd., 23. Ebd.,330f.

führen wird, welche „die Menschheit als Maschinerie"

Über Ökonomie und Kultur bei Nietzsche

329

in ihren Dienst nimmt. Allerdings enthält das, was sich in Herrmanns Sicht als Aufstieg darbietet, für Nietzsche die Merkmale des Niedergangs der menschlichen Kultur. Herrmann ist davon überzeugt, daß die Wirtschaft den Menschen nicht „in ihrer Maschinerie aufgehen machen" und ihn „im Gegentheile [...] ganz befreien" wird, „so daß er sich ganz den übrigen rein menschlichen Culturzielen widmen kann".1 Nietzsche hingegen sieht einen „immer ökonomischeren Verbrauch von Mensch und Menschheit zu einer immer fester in einander verschlungenen ,Maschinerie' der Interessen und Leistungen" voraus. Auf dem Wege zur Gesamtverwaltung der Erde wachsen „die Anpassung, die Abflachung, das höhere Chinesenthum, die Instinkt-Bescheidenheit, die Zufriedenheit in der Verkleinerung des Menschen eine Art Stillstand im Niveau des Menschen". Dies fordert für Nietzsche eine „Gegenbewegung" heraus. Für ihn stellt die von Herrmann beschriebene „Gesammt-Maschinerie, die Solidarität aller Räder, ein maximum in der Ausbeutung des Menschen dar". Das ist zwar „moralisch geredet" und Nietzsche unterläuft diese Rede auch mit dem Hinweis darauf, es könne Menschen geben, „deretwegen diese Ausbeutung Sinn hat".14 Aus Sicht der Gegenposition ist die arbeitsteilige Solidarität so wenig Ausbeutung, daß diese allein durch das „Wirken Aller für Alle"15 aufgehoben werden kann; dieser Sicht zufolge sucht Nietzsche die Überwindung des Konkurrenzprinzips durch eine neue Ausbeutung rückgängig zu machen. Am Ende des 20. Jahrhunderts blickt man mit Grauen auf ,Experimente' zurück, die sich auch auf Nietzsche beriefen. Aber auch der Optimismus ist verflogen, der den sozialreformerischen Ökonomismus (z. B.) Herrmanns geleitet hat (von Sozialrevolutionären zu schweigen, von denen dieser sich distanzierte). Die Entwicklung von Wirtschaft und Technik eilt voran; die Menschen können dem .Zauberlehrling' kaum folgen. In der Konsum-(Wegwerf-) und Mediengesellschaft wird unendlich viel Neues produziert, das sogleich vertilgt wird, um anderem Platz zu machen, das gleichfalls der Auflösung anheimfällt. Auch die Sphäre, die Herrmann von der ,Maschinerie' freigehalten vorgestellt hatte, die ,Kulturziele' und das ,Privatleben', unterliegen schon fast gänzlich dem Kommerz. Nietzsche konnte von alledem noch nichts wissen, aber er hatte ein Gespür für die sublimen Formen von .Ausbeutung', welche inzwischen in der konsumorientierten Massengesellschaft herangewachsen sind. -

12

13 14 15 16

KSA, NF, 12,462. E. Herrmann, Cultur, 300. KSA, NF, 12,462f. E. Herrmann, Cultur, 115f. Pierre Klossowski hat den ökonomischen Aspekten in den späten Aufzeichnungen Nietzsches bemerkenswerte Betrachtungen gewidmet. Dabei ist er in seinem Vortrag „Circulus vitiosus" (in: Nietzsche aujourd'hui I, Paris 1973, 91-103) zu Recht davon ausgegangen, daß Nietzsche „voit dans la sélection darwinienne et les systèmes anglo-saxons une forme de mentalité grégaire régnante". Er irrt jedoch darin, daß „Nietzsche n'aboutit à des considérations sur l'économie que par le biais de l'utilitarisme de Stuart Mill". Allerdings konnte er nicht wissen, in welchem Maße Nietzsche sich an Herrmanns Cultur und Natur orientierte. In Kenntnis von Nietzsches .Quelle' hätte sich Klossowski sicherlich die Parallelisierung versagt „entre ce que Nietzsche nomme la médiocrisation des individus proportionnellement à l'accumulation des richesses et l'aliénation prolétarisent décrite par Marx" (ebd., 99f). in Nietzsche et le Cercle vicieux, Paris 1969, 2. Aufl. 1975 (ins Deutsche übers, v. R. Vouillé, München 1986, 257) verklammert Klossowski Nietz-

330

Wolfgang Müller-Lauter

Zunächst ist der Mehrdeutigkeit der Rede von Ausbeutung bei Nietzsche nachzugehen. Leben ist als Wille zur Macht „wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung" in vielerlei Gestalt, darunter „mindestens, mildestens, Ausbeutung". Wenn man „jetzt überall, unter wissenschaftlichen Verkleidungen sogar, von kommenden Zuständen der Gesellschaft" schwärme, „denen ,der ausbeuterische Charakter' abgehn soll", so klingt das in Nietzsches Ohren, „als ob man ein Leben zu erfinden verspräche, welches sich aller organischen Funktionen enthielte". Der grundsätzliche Verzicht auf natürliche Ausbeutung würde sich „als Auflösungs- und Verfalls-Princip" jeder Gesellschaft erweisen. Gegenüber den gewachsenen Lebens-Ganzheiten stellt die ,Maschinerie' der Wirtschaftsgesellschaft nur ein künstliches Gebilde dar. Das „ungeheure^..] Räderwerk von immer kleineren, immer feiner ,angepaßten' Rädern" bildet zwar „ein Ganzes von ungeheurer Kraft", in ihm werden aber die Menschen zu „einzelne[n] Faktoren herabgesetzt, welche „Minimal-Kräfte, Minimal-Werthe darstellen". Hier findet Nietzsche jene (unnatürliche) Form von Ausbeutung, die wenn es nicht zu einer ,Gegenbewegung' kommt „ein Rückgangs-Phänomen im größten Stile" bilden wird.1 Den Gegensatz der beiden Weisen von Ausbeutung hat Nietzsche schon früh herausgestellt. So heißt es in einer Aufzeichnung von 1869/70, „Arbeitstheilung" sei „Princip" unseres Barbarentums. Sie setze die „Herrschaft des Mechanismus" voraus. „Im Organismus giebt es keine trennbaren Theile."19 Auf das Mechanische als Sonderung der Teile zielt auch seine Kulturkritik in den Vorträgen Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Sie entzündet sich an einem der „beliebten nationalökonomischen -

-

sches Beschreibung oder Vorhersage der Gesamtverwaltung der Erde und dessen Gegenbewegung zu einem „Komplott" des Philosophen, fur welches er dem konspirativen Phantasma der ewigen Wiederkunft zentrale Bedeutung zuspricht (ebd., 249ff. u. 265ff.). Auf Klossowskis Nietzsche-Deutung (insbes. auf seine scharfsinnige Analyse der Wiederkunftslehre) kann hier nicht eingegangen werden; in den Fußnoten sollen aber einige seiner kritischen Beobachtungen zu den oben erörterten Sachverhalten vermerkt werden (vor allem solche, die Nietzsches Denken -

17

18

aktualisieren).

KSA JGB, 5, 207f. KSA, NF, 12, 462f.

Klossowski sieht in dem zitierten Fragment „so etwas wie eine Beschreibung eigenen Gegenwart". In der Darstellung des „ökonomischen Ausbeutungsmechanismus" zeige sich Nietzsches „unwiderlegbare Vorahnung, daß die völlige Abschaffung aller Differenzen bei der Bedürfnisbefriedigung und die Homogenisierung der Denk- und Fühlgewohnheiten zu einer moralischen und affektiven Erstarrung führt". (Pierre Klossowski, „Nietzsche et ...", 259 (s. Anm. 16) Für ihn ist sowohl die beschriebene Wirtschaftsgesellschaft als auch die ,Gegenbewegung' Nietzsches überholt worden: „Das Industriesystem" ist „heute zu einer Technik geworden", welche „zum Gegenteil seines Postulates" einer Gegenbewegung geführt hat: „nicht das Übermenschliche, sondern das Über-Herdentum wird zum Herren der Erde" (ebd., 265-268). Zutreffend schreibt Klossowski, daß heute „allein die Produktion und der Tausch von Gegenständen die Stelle des Intelligiblen" einnehmen. „Im Namen der Produktivität austauschbarer Güter" werde jeder, der die durch sie etablierten ,Normen' überschreitet, „moralisch entweder als unverständlich verurteilt oder als unproduktiv" stigmatisiert (ebd., 236). -

unserer

-

-

19

KSA, NF, 7,73.

Über Ökonomie und Kultur bei Nietzsche

331

Dogmen der Gegenwart", das die „Erweiterung und Ausbreitung der Bildung" fordert. Hinter und neben ihnen komme, schreibt er, eine andere Tendenz zum Vorschein, welche das wissenschaftliche Spezialistentum unterstütze. „So ein exklusiver Fachgelehrter ist dann dem Fabrikarbeiter ähnlich, der, sein Leben lang, nichts anderes macht als eine bestimmte Schraube oder Handhabe, zu einem bestimmten Werkzeug oder zu einer Maschine, worin er dann freilich eine unglaubliche Virtuosität erlangt". Es ist die Arbeitsteilung, die nicht nur in den Fabriken Einzug gehalten hat, sondern auch „die Ausbeutung eines Menschen zu Gunsten der Wissenschaften"21 hervorruft. Sie führt aber zur „Verringerung der Bildung", ja zu deren „Vernichtung". In den Bildungsfragen „ernsthafter Natur, vor allem in den höchsten philosophischen Problemen" kommt nicht

mehr „der wissenschaftliche Mensch als solcher" zu Wort.22 Weil sich Vermehrung und Ausbreitung des Wissens einer „allgemeinen Bildung" entgegenstellen, schlägt Nietzsche die Suche „nach wahrer tiefer und seltener Bildung" vor, „also nach Verengerung und Concentration der Bildung".23 Der Gegensatz von Arbeitsteilung und ,voller Bildung' verschärft sich, weil es keine Schule gibt, „die deren Aufgaben sich stellte". Nietzsche sucht nach dem „vollen Menschfenj", der nicht „Mittler für alle Kreise" sein soll wie die Journalisten. Die vollen Menschen müßten „als Vorbilder leben: als die eigentlichen Erziehungsbehörden".24 Nietzsche sieht die Bildungseinrichtungen seiner Zeit als Anstalten der Lebensnoth" in Gegensatz zu den von ihm angestrebten Anstalten der Bildung".25 In den ersteren KSA, BA, 1, 667 „[...] möglichst viel Produktion und Bedürfhiß daher möglichst viel Glück:

lautet etwa die Formel. Hier haben wir den Nutzen als Ziel und Zweck der Bildung, noch genauer den Erwerb, den möglichst großen Geldgewinn" (ebd.). KSA, BA, 1, 670 Auf Nietzsches fundamentale Kritik an der „Maschinen-Cultur" in den Schriften seiner mittleren Phase kann hier nur hingewiesen werden: Durch die unpersönliche Maschinenarbeit gehe die Persönlichkeit des Arbeiters verloren; er werde selbst zur „Schraube" {Menschliches, Allzumenschliches, II, KSA, MA, 2, 653 u. 682; Morgenröthe, KSA, M, 3, 183-185). -

-

so

21

-

-

22

3

KSA.BA, 1,670.

So im Nachlaß 1871

zu

den zitierten

Vorträgen (KSA, NF, 7, 298).

Verwiesen sei auf Nietzsches

Überlegungen zu Schulen, Fachschulen, Bildungsschulen etc. (s. dazu insb. Vortrag IV). Der heute 24

:5

„fertig gewordene Mensch" ist „ganz abnorm". „Die Fabrik herrscht, der Mensch wird Schraube:" Auch hierbei verweist er auf die „Arbeitstheilung der Wissenschaft".(KSA, NF, 7, 298).

KSA, NF, 7, 384f. KSA, BA, 1,717- Herrmanns entgegengesetzte Tendenz sieht in der Entwicklung zur Wirtschafts-

Gesamtverwaltung für überkommene Bildungsansprüche keinen Raum mehr. Gegen sie fuhrt er die Erweiterung des technischen Wissens ins Feld. Er rühmt die Entwicklung in den USA, weil dort „der menschliche Geist auf sein ureignes Gebiet, das organisatorische, erfinderische, entdeckende Denken" konzentriert wird. Dort streben alle „das gleiche Ziel an: Arbeit, Erwerb, und ein geordnetes wirthschaftliches Dasein. Aber nicht das größere oder geringere Maß des Wissens, des angehäuften Gedächtnisstoffes entscheidet [...], sondern praktisches Geschick, Willenskraft, Thatendrang beherrschen die Menschen." Der Nordamerikaner belaste sein Gedächtnis nicht mit unbrauchbarem Wissenswust. „Dort weiß man die Vortheile wohl zu schätzen, welche die Kunst des Schreibens unserm Gedächtnisse bietet. Man notiert im Notizbuche, anstatt im Gehirne. Man überläßt der Druckerpresse, der Copirpresse, den anderen Vervielraltigunsapparaten einen großen Theil der Arbeit, die wir in Europa noch eigenhändig verrichten. [...] Was nur irgend mechanisch

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332

wird der Einzelne durch das Prinzip der Arbeitsteilung dem ,,moderne[n] Staat" unterworfen.26 Hier ist für Nietzsche noch der Staat die Maschinerie, die den Einzelnen für einen allgemeinen Nutzen ausbeutet und auf diese Weise sein Menschsein verunstaltet. Positiv spricht Nietzsche von „Arbeitstheilung" nur im nicht-mechanistischen Sinn: bei der Erörterung des Ganzen als Organismus im „Ausgangspunkt vom Leibe", „als Ermöglichung zugleich der Einzelnen und des Ganzen".2 Dafür sind immer Rangordnungsverhältaisse statt bloß maschinenmäßiger Funktionalität konstitativ. Der spätere Nietzsche hat allerdings auch den gesellschaftlichen Nutzen des Maschinenmäßigen herausgestellt und seinem Denken untergeordnet: Für „die Allermeisten" sei es eine Art „Natarbestimmung", es sei auch ihre „Art Glück", „ein Rad, eine Funktion", eine intelligente Maschine' zu sein. Solches Akzeptieren der .Mittelmäßigkeit' hat freilich schon die Ausnahme-Menschen im Blick,28 die der ,Ausbeutang' der Menschheit unter der oben dargestellten Erdverwaltung einen Sinn geben sollen.

3.Nietzsches

,ökonomische Rechnung'

Im Blick (vor allem) auf Herrmanns Buch schreibt Nietzsche: „Was ich bekämpfe, ist der ökonomische Optimismus: wie als ob mit den wachsenden Unkosten Aller auch der Nutzen Aller nothwendig wachsen müßte". Diese Ausführung verblüfft, weil sie Herrmanns These auf den Kopf stellt, die Nietzsche in Exzerpten aus Cultur und Natur, die direkt vor dem zitierten Text stehen, festgehalten hat: die Vorteile, welche die komplizierteren Organismen aus ihrer vollkommneren Arbeit ziehen, seien so groß, „daß °

damit die wesentlich erhöhten Erhaltangs- und Schaffungskosten übertroffen werden". Insofern sich Nietzsche auf Herrmanns Konzept der Wirtschafts-Gesamtverwaltung der Erde bezieht, demzufolge die menschliche Arbeit minimalisiert wird, wäre seine Rede wenn man unter den wachsenden von „den wachsenden Unkosten Aller" unsinnig, Unkosten nicht jenen ,Faktor' ansetzt, der für Nietzsches eigene ,Ökonomie' entscheidend ist.31 Im Rahmen seiner Konzeption aber läßt sich die Kritik an jenem .Optimismus' plausibel machen: Die Unkosten Aller wachsen in der Wirtschaftsverwaltang der -

26

ausgeführt werden kann, wird vereinheitlicht und Maschinen überantwortet." (Emanuel Herrmann, Cultur, 329 u. 327f.). KSA, BA, 1, 709ff. Ein von außen und innen bedrängter Staat wird schließlich dankbar sein, wenn er wie von Hegel, „als absolut vollendete[r] ethische[r] Organismus" bezeichnet wird und wenn es die „Aufgabe für Jeden" ist: „den Ort und die Lage ausfindig zu machen, wo er dem Staate am nützlichsten diene -" (ebd., 711). -

27 !8

KSA, NF, 11,638.

Der Antichrist (KSA, AC, 6, 244 Zur Machinalisation beim puissance et volonté d'organisation, Paris,1998.

späten Nietzsche vgl. Vf., Volonté de

-

29 30 31

KSA, NF, 12,463. KSA, NF, 12, 461 f.

s. Emanuel Herrmann, Cultur, 86f. Er übernimmt Herrmanns ökonomisches Prinzip der Kostenverminderung gemäß dem Prinzip des kleinsten Aufwands in einem anderen Zusammenhang ,korrekt': In ihm geht es um die Ökonomie des Gesamtprozesses als des ewigen Kreislaufs (KSA, NF, 12, 535); die dabei auftauchenden Fragen müssen hier beiseite bleiben. -

Über Ökonomie und Kultur bei Nietzsche

333

die mit ihr gegebene Verkleinerung Aller (und die mit ihr verbundene der Ausbeutung Menschen) in Betracht zieht. So kann er „das Gegentheil" zu Herrmann folgern: „die Unkosten Aller summiren sich zu einem Gesammt-Verlust: der Mensch wird geringer." Für sich selbst betrachtet wäre die Gesamtmaschinerie bei aller ungeheuren Kraft des Ganzen „thatsächlich bloß die Gesammt-Verringerung, WerthVerringerung des Typus Mensch".32 Dagegen will Nietzsche eine „Weltwirthschaft möglich" machen, „die so ferne Perspektiven hat, daß alle ihre einzelnen Forderungen für den Augenblick als ungerecht und willkürlich erscheinen dürften".33 ,Wirtschaftlich' im Sinne Nietzsches wird jenes Ganze nur, wenn man ein ,höheres Wozu' in Rechnung stellt, dem „dieser ungeheure Prozeß" dient. „Ein neues ,Wozu' das ist es, was die Menschheit nöthig hat...". Mit dem ,Wozu?' nimmt Nietzsche die Frage des Nihilismus auf, die er ebenfalls im Herbst 1887 aufgeworfen hat. Sie ist dem Zeitalter aus dem Verlust zunächst des Glaubens an übermenschliche persönliche Autoritäten erwachsen, durch die den Menschen Ziele vorgegeben waren. An ihre Stelle traten die Forderungen der Moral, die Autorität der Vernunft, die Historie „mit einem immanenten Geiste, welche ihr Ziel in sich hat und der man sich überlassen kann". Der „sociale Instinkt" meldete sich an, und auch, „mit einiger Tartufferie, das Glück der Meisten": womit wir wenigstens in die Nähe von Herrmanns Zukunftsvorstellungen geraten (die Nietzsche aber hier nicht im Blick hat). Der verkleinerte und angepaßte Mensch, den Nietzsche mit der WirtschaftsGesamtverwaltung der Erde heraufkommen sieht, wird in ,seiner Instinkt-Bescheidenheit' vielleicht den Fatalismus akzeptieren, für den es keine Antwort auf die Sinnfrage gibt: „aber ,es geht irgend wohin', ,es ist unmöglich ein wozu? zu wollen'". Sinn aber ist nicht zu ,suchen' oder zu ,flnden', der Sinn ist zu ,schaffen'. Dies kann nur die Sache der ,Stärksten' sein. Nietzsche findet das „gerade jetzt, wo der Wille in der höchsten Kraft nöthig wäre", er „am schwächsten und kleinmüthigsten" sei. Er trifft auf ein „absolutes Mißtrauen gegen die organisatorische Kraft des Willens für 's Ganze".

Erde,

wenn man

-

iL

33 34 5

Ebd., 463. Ebd., 532. Ebd., 463. Ebd., 355f. „Im demokratischen Gemeinwesen, wo Jedermann Spezialist ist, fehlt das Wozu? für Wen? der Stand, in dem alle die tausendfältige Verkümmerung aller Einzelnen (zu Funktionen) Sinn bekommt." Nietzsche nennt hier als ,,[d]ie Gefahr der Gefahren: Alles hat keinen Sinn." (ebd., 110); vgl. a. ebd., s. 281 : „Wir sehn das allgemeine Treiben: Jeder Einzelne wird geopfert und dient als ,Werkzeug'. Man gehe durch die Straßen -, ob man nicht lauter ,Sklaven' begegnet. Wohin? Wozu?" -

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334

4. Nietzsches

Gegenbewegung zur

wirtschaftlichen Gesamtmaschinerie

beschrieben,36

Herrmann hatte die „Centraldirection der Weltwirtschaft" so daß, wie Nietzsche schreibt, „alle dominirenden und commandirenden Elemente" überflüssig werden. Im Gegenzug will Nietzsche „die Notwendigkeit" einer ,,höhere[n] Form des Aristokratism" für die Zukunft erweisen. Diesen kennzeichnet er unter anderem als „eine stärkere Art", als .höheren Typus', für den man als sein „Gleichniß [...] das Wort ,Übermensch'" kenne. Des näheren ist die Rede von der „Erzeugung des synthetischen, des summirenden, des rechtfertigenden Menschen". Darin geht es Nietzsche um die Umkehrung jener „Bewegung", die den partikularisierten Menschen und auf FunktioIm Ideal des synthetischen Menschen wirkt der nen reduzierten Typus volle Mensch aus den Bildungsvorträgen weiter. Daß jener ,summiert', besagt nicht, daß er das Besondere nur ,addiert', sondern daß er bilanziert'. Wesentlich aber ist die Synthese, weil in ihr Gegensätze vereinigt werden, die einander steigern sollen. Der Mensch, „welcher den Gegensatz-Charakter des Daseins am stärksten darstellte", würde mit seinem Dasein erst die Gesamtgesellschaft rechtfertigen, indem er ,auf ihr

hervorbringt.37

steht'.38

Das Verhältnis des ,höheren Typus' zur ,Menge' bestimmt Nietzsche in mehrfacher Weise. Er muß „das Distanz-Gefühl" zu den ,„Nivellirten'" ausbilden, er braucht sogar ihre „Gegnerschaft". Aber er braucht die ,machinalisierte Menschheit' auch als seine „Daseins-Vorbedingung", sie bildet „ein Untergestell, auf dem er seine höhere Form zu sein sich erfinden kann". Zugleich stellt er sich eine „Verwandlung" der „Form der Gesellschaft" vor, die dazu führe, daß sie „irgendwann einmal nicht mehr um ihrer selber willen existiren" könne, „sondern nur noch als Mittel in den Händen" der Stärkeren.

Die Frage stellt sich, wie das von Nietzsche mit der Gegenbewegung angestrebte Verhältnis der Ausnahme zur Menge herbeigeführt werden könnte. Ist in der bisherigen Geschichte die ,stärkere Art' teils aus Not, teils aus Zufall entstanden, so kann man jetzt, wie er schreibt, „die Bedingungen schaffen, unter denen eine solche Erhöhung möglich ist". Nietzsches Hinweise darauf bleiben jedoch sehr allgemein. Er muß einen „Reichthum an Kraft" in der Gesellschaft voraussetzen, der so groß ist, daß sich „ein Emanuel Herrmann, Cultur, 30Iff. Er denkt an allgemeine institutionelle „Centraleinrichtungen", die „im Sinne der rationellen Welthwirthschaft" organisatorisch wirken sollen (ebd., 319f.). -

KSA, NF, 12,462f. Ebd., 519f. Ebd., 463 Den hier zugrunde liegenden Gedanken, daß alle „Staats- und Gesellschaftsformen [...] ewig nur Form der Sklaverei sein" werden, hat Nietzsche schon frühzeitig gefaßt. In einer Aufzeichnung von 1881/82 werden die „Selbsteigenen", „Selbstherrlichen" als die Herren von den Sklaven unterschieden, zu denen Nietzsche „Fürsten Kaufleute Beamte Ackerbauer Soldaten" rechnet. Diese alle „rechtfertigen und verhehlen" „ihre Sklavenarbeit vor sich selbst", was er ihnen zugesteht. Wesentlich ist nur, daß die Selbsteigenen „der Sinn und die Apologie des ganzen Treibens sind! So seid denn die Müller und laßt von diesen Bächen euch die Räder umdrehen!" (KSA, NF, 9, 664f.). -

Über Ökonomie und Kultur bei Nietzsche

335

Abzug von Kräften" für die Gegenbewegung denken läßt. Dadurch soll zum Beispiel die Verlagerung der Erziehung vom „Nutzen der gerade bestehenden Gesellschaft" auf „den möglichsten Nutzen der Zukunft" möglich sein. Nietzsche spricht ferner mehrdeutig von Züchtung und sieht in der „zunehmende[n] Verkleinerung des Menschen [...] die treibende Kraft", durch die eine stärkere Rasse zur Herrschaft gelangen könne. Er erwartet einen „Überschuß" an Stärke dort, „worin die verkleinerte species schwach und schwächer würde", wobei er „Wille, Verantwortlichkeit, Selbstgewißheit, Zielesich-setzen-können" nennt.40 Der ,höhere Typus' wird von Nietzsche im Verhältnis zur Menge gelegentlich als Zweiheit präsentiert. So wird ,der Hirt' als ,J\4ittel zur Erhaltung der Heerde" genannt, während „im Gegensatz" zu ihm .der Herr' als der ,^Zweck" gilt, „weshalb die Heerde da ist".41 Nietzsche fordert jedenfalls, „eine Herren-Rasse" für die zukünftige Erdherrschaft „heraufzuzüchten", mit „dem Willen philosophischer Gewaltmenschen und Künstler-Tyrannen", die sich „des demokratischen Europas bedienten [...], um am ,Menschen' selbst als Künstler zu gestalten". Doch ändert sich die Gestaltungsgrundlage für solche Herrschenden, wenn sie nicht mehr, wie hier, unter primär psychologischen' oder ,ästhetischen', sondern unter dem Gesichtspunkte der ,Wirtschaftsmaschinerie' wahrgenommen wird. Über die allgemeine Kennzeichnung hinaus geht Nietzsche ihr jedoch nicht nach. So erörtert er auch die Differenz zwischen der ökonomisch ,bedingten' Verkleinerung des Menschen und der moralgeschichtlichen Bedeutung dieser Bestimmung nicht. Wenn er die „Entartung und Verkleinerung des Menschen zum vollkommenen Heerdenthiere", die er zum Beispiel im sozialistischen Ideal oder auch in der zeitgenössischen englischen Moralphilosophie findet,43 zuletzt nicht gänzlich in das Licht seiner Christentums-Kritik gezogen hätte,44 so hätten sich ihm womöglich andere Aspekte des ,angepaßten' Menschen der Zukunft eröffnet.

5. Die starken Menschen als Wenn Nietzsche

Luxus-Überschuß der Menschheit

„die Erfahrungen der Geschichte" der Menschheit

zum „Problem der sieht sich die ob nicht er so vor „die Steigerung des Frage gestellt, für die der ist. Rückblick Erhaltung Art' Der Typus verhängnisvoll zeigt: Können sich die „starken Rassen" in „Krieg, Machtbegierde, Abenteuer" entfalten, so „dezimiren" sie sich gegenseitig und „reiben sich unter einander auf. In ihren starken Affekten kann „Kraft nicht mehr kapitalisirt" werden. Ökonomisch betrachtet ist „ihre Existenz [...] kostspielig"; mit „Perioden tiefer Abspannung und Schlaffheit" werden „alle großen Zeiten bezahlt'. Die „verschwenderische[n] Rassen" sind „hinterdrein schwächer, wil-

Oekonomie" erhebt,

KSA.NF, 12,424f. Ebd., 245 An anderer Stelle erfolgt eine weitergehende Differenzierung des Typus in „Hirt, Raubthier, Einsiedler und Cäsar" (ebd., 72). Ebd., 87f. Siehe Jenseits von Gut und Böse (KSA, JGB, 5, 127f.) und Zur Genealogie der Moral (KSA, GM, 5, 257f). KSA, NF, 12, 72f. -

Wolfgang Müller-Lauter

336

lenloser, absurder als die durchschnittlich-Schwachen". Allein die „fJèerherrschaft der

Schwachen und Schlechtweggekommenen" scheint zu garantieren, daß der Typus Mensch überhaupt noch existiert. Deshalb sei in der langen Zeit, „wo eine Cultur noch mit Mühe sich aufrecht erhält", der Kampf gegen die Ausnahmen, „ökonomisch betrachtet, vollkommen vernünftig". Stelle da doch Jede Ausnahme eine Art von Vergeudung von Kraft" dar: als „etwas, das ablenkt, verführt, ankränkelt, isolirt". Nicht unter allen Umständen rechtfertigt Nietzsche also die Wirksamkeit starker Ausnahmemenschen; sie könnte ,zur Unzeit' ein entwicklungsfähiges Ganzes und damit die Möglichkeiten künftiger Stärke gefährden oder auch zerstören. Angesichts der „immer fester in einander verschlungenen ,Maschinerie' der Interessen und Leistungen" jedoch, die sich unaufhaltsam zu einem ,Ganzen' „von ungeheurer Kraft" entwickelt, entfallen Nietzsches Vorbehalte gegenüber den Ausnahmen. Nun „bedarf es der umgekehrten Bewegung" zur Erzeugung eines höheren Typus, von welcher Nietzsche auch als Ausscheidung eines Luxus-Überschusses der Menschheit" spricht.4 Da „Kraft genug vorhanden ist", kann „nunmehr selbst die Verschwendung ökonomisch" werden. Deshalb hat jetzt eine „Cultur der Ausnahme, des Versuchs, der Gefahr, der Nuance eine Treibhauscultur ein Recht auf Dasein". -

-

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KSA, NF, 13, 369f. Ebd., 484; vgl. KSA, NF, 12, 414 Im Falle eines ungefestigten Ganzen rechtfertigt Nietzsche sogar die Erziehung als „ein System von Mitteln, um die Ausnahmen zu Gunsten der Regel zu ruiniren", wie die Bildung, welche „den Geschmack gegen die Ausnahmen [...] zu Gunsten der Durchschnittlichen richtet" (ebd.) In solchen Erwägungen ist Nietzsches .haushälterisches' -

Denken alles andere als maßlos oder anarchistisch. Aber sein Verständnis des Ökonomischen, demzufolge erst durch die Einbeziehung eines höheren und neuen Wozu der „GesammtVerlust" (KSA, NF, 12, 463) abgewendet und ,Gewinn erzielt' werden kann, ist zugleich alles andere als konservativ. KSA, NF, 12, 462 Anfang 1888 hat Nietzsche diese Kennzeichnung in seine Planung zu Der Wille zur Macht aufgenommen: KSA, NF, 13, 201. Wo es nur darauf ankommt, „daß ein Typus fortbesteht, wäre Person-Sein eine Vergeudung, ein Luxus, hätte es gar keinen Sinn, nach einer ,Person' zu verlangen"; die Menschen sind hier „Träger, Transmissions-Werkzeuge" (KSA, NF, 12, 492). Wenn Nietzsche in dieser Zeit den Begriff des Luxus in bezug auf kulturelle und gesellschaftliche Erscheinungen mit einem positiven ökonomischen Akzent versieht, so steht vielleicht auch wieder Herrmann im Hintergrund. In Cultur und Natur hatte dieser gefragt, ob die Natur nicht bei der Amöbe hätte stehen bleiben müssen, da diese die (relativ) größten Gewinne bei kleinsten Verlusten erziele: ,,[W]äre die Entwickelung vollkommener Wesen nicht wahrhaftig Luxus?" (Emanuel Herrmann, Cultur, 83; Nietzsche hat die Frage durch Randstrich markiert.) Herrmann schätzt den Luxus keineswegs gering ein (vgl. ebd., 39). Ihm geht es um die Einbeziehung des Überflüssigen in das Wirtschaftsleben (vgl. ebd., 311), für Nietzsche hingegen entspringt der .wesentliche' Luxus dem Reichtum des Überflusses, der schöpferisch wird. Seine Ökonomie der Erzeugung des höheren Typus greift über das hinaus, was Herrmann als ,bloßen Luxus' ansieht. KSA, NF, 13, 484, Im Verständnis der aristokratischen ,Jsolierung einer Gruppe von Menschen" als einem Überschuß der Menschheit liegt, wie Klossowski herausstellt, die ,moralische' ,J)istanz zu der Gesamtheit". Diese sieht aber den ,„Luxus' (aber auch die Kultur) solcher .Überschüssigen' nur als „einen rebellischen, kranken oder degenerierten Teil ihrer selbst an". Er fragt zu Recht, -

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Über Ökonomie und Kultur bei Nietzsche Besonders in seiner Kritik

337

Christentum spricht der spätere Nietzsche den Mittelder stärkeren, böseren, begehrlicheren, trotzigeren, verschwenderischeren und eben darum hundertfach gefährdeteren Art Mensch" ab. Der Gesichtspunkt der Ausnahmen, ,jener Mehr-Menschen", erhält in Hinblick auf die gegenwärtige Kultur endgültig Dominanz; daß die Ausnahmen in ihrem Wachstum „an der Wurzel angegraben" werden, gilt als das Verhängnis. Sie nehmen „um ihrer höheren Ansprüche und Aufgaben willen freiwillig auch ein gefährlicheres Leben" auf sich. „Ökonomisch ausgedrückt" besagt das: „Steigerung der Unternehmer-Kosten ebensosehr wie der Unwahrscheinlichkeit des Gelingens".49 Nietzsche kann aber auch von einer „Ökonomie der Menschen-Entwicklung" als ganzer sprechen. In ihr sind nicht nur die „Mittelmäßigen", „die gewöhnlichen Menschen" wie überhaupt „die ungeheure Mehrzahl bloß Vorspiele und Einübungen", in ihr haben „ganze Zeiten, ganze Völker [...] etwas Bruchstückhaftes". Ein ,ganzer Mensch', welcher „hie und da entsteht", gilt dem späten Nietzsche als „der Meilenstein-Mensch, welcher anzeigt, wie weit bisher die Menschheit vorwärts gekommen" ist.

mäßigen jeden „Vorrang

am

vor

O.Hinweis zum Thema

,Ökonomie und ewige Wiederkunft'

Nietzsches Gedanke der ewigen Wiederkunft rückt die hier erörterten .ökonomischen Überlegungen' in ein neues Licht.51 Bildet in ihm das Bewußtsein, daß der zu überwin„welche ,Gesamtverwaltung' könnte jemals ^Treibhäuser' dieser Art vorsehen", wie Nietzsche sie erhofft. Hat Nietzsche nicht unsere „Konsumgesellschaft" antizipiert, welche „durch die Befriedigung ihrer eigenen Bedürfhisse versklavt wird"? (Pierre Klossowski, Nietzsche..., 246f, 261ff.) Er hat (nach Klossowskis Deutung) die Zukunft geheimen Kräften anvertraut, die unter der „Gesamtverwaltung der Erde" im Verborgenen warten können, bis ihre Zeit gekommen ist (ebd., 250f., 262f). Wahrscheinlich ist, daß zwar jede kleine Komplott-Gemeinschaft in jedem beliebigen Re-

gime Verheerungen

anrichten könnte. Aber sie muß

zugleich fatalerweise ihre Selbstauflösung

betreiben, welche zuletzt dadurch erfolgt, daß sich die Heerde ihres Geheimnisses bemächtigt und es durch Jnstitutionalisierung' seiner Bedeutung und seines Wissens entkleidet (ders., „Circulus...", 94) Durch „die entfesselte Macht der Fortpflanzung" hat sich die Menschheit in einem Maße vermehrt, welche „die Gattung zu einer fortwuchernden Monstrosität" werden läßt, in deren Homogeneität ,jede Differenz annulliert wird" (ders., Nietzsche..., 240ff). Demnach bliebe jede

,Gegenbewegung' im Sinne Nietzsches nur ein Sichkräuseln der Meeresoberfläche.

KSA, NF, 13,27f. KSA, NF, 12, 520.

zur Gegenläufigkeit in der Darstellung des ,höheren Typus' bei Nietzsche als des stärkeren Typus einerseits und als des weitesten Typus andererseits, vgl. v. Vf., Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/New York 1971, -

116-134. Drei Aspekte dieses Themas seien genannt, die in dieser Abhandlung nicht erörtert werden können: Ökonomie des Kraftverbrauchs und .Entwicklung' des Willens zur Macht; energetische Konstanz und .ökonomischer' Auf- und Abstieg der Kraft im ewigen Kreislauf; Gott als ökonomischer Kulminationspunkt des Machtgeschehens. Auch für ihre Erörterung wäre historisch auf Nietzsches Herrmann-Lektüre zurückzugreifen, systematisch nicht zuletzt auf das Kapitel „Vier Fragmente" in -

Klossowskis Nietzsche-Buch {Nietzsche...,

166-187).

Wolfgang Müller-Lauter

338

dende .kleine Mensch' zahllose Male wiederkehrt und auf diese Weise verewigt wird, die Anfechtung für Zarathustra, so ist ,der Preis' der ewigen Wiederkunft des ,kleinen Menschen' für Nietzsche doch nicht zu hoch dafür, daß der höchste Weltzustand unendliche Male erreicht wird, dessen jeweiliger Zeitdauer ungeachtet. Was ,zählt' angesichts der Verewigung der höchsten Möglichkeiten des Menschseins (wie kurz oder lang sie

auch in jeder Zeitreihe sei) die Zeitdauer davor und danach? Die große Ökonomie .des Ganzen' im Sinne Nietzsches weiß dabei „des Übels nicht zu entrathen", von dessen Notwendigkeit (z. B.) weder die Psychologen noch die Utilitaristen etwas wissen, die alle Handlungen „[fjünf Schritte weit vielleicht" verfolgen.53 Mehr noch. In ihr sind ihm zufolge „die Furchtbarkeiten der Realität (in den Affekten, in den Begierden, im Willen zur Macht) in einem unausrechenbaren Maasse nothwendiger als jede Form des kleinen Glücks".54 Dem ursprunghaft-Affektiven will Nietzsche keine Grenze gesetzt sehen. Aus ihm sollen jene Hierarchien erwachsen, die Träger .höherer Kulturen' sein sollen (deren Dauer nicht über ihre .Größe' entscheidet). Nietzsches .große Ökonomie' will dem unablässigen Schaffen auf allen Ebenen der Wirklichkeit Rechnung tragen. Daß solche Aktivität uneingeschränkt möglich und zugleich gefordert ist, setzt voraus, daß sie Gestaltung des Ungestalteten ist. Überall in der Welt ist nur Chaos, wir selbst sind im Grunde nichts als Chaos, das nach Gestaltung verlangt. In der Fröhlichen Wissenschaft gibt Nietzsche das „Gleichniss", daß .jene Denker, in denen alle Sterne sich in kyklischen Bahnen bewegen [...] nicht die tiefsten" sind. „Wer in sich wie in einen ungeheuren Weltraum hineinsieht und Milchstrassen in sich trägt, der weiss auch, wie unregelmässig alle Milchstrassen sind; sie führen bis in's Chaos und Labyrinth des Daseins hinein."56 Die Notwendigkeit mit der alles Geschehen wiederkehrt, nimmt diesem nicht seinen Charakter chaotischer' Ziel-

losigkeit.

Die Einsicht in das unabsehbar

Ungeordnete

erst

gibt

uns

uneingeschränkt

,Schaffen' frei. „Daß im J'rozeß des Ganzen' die Arbeit der Menschheit nicht

für das in Be-

kommt", bildet für Nietzsche keinen Grund zur Verzweiflung. Selbst diese .Einsicht' noch dient der Befreiung zum Tun in seinem Verständnis. Entbindet er uns doch von jeder .Rücksicht' darauf, daß es irgendwo in der Welt Ordnungen oder Zwekke gibt, denen wir unterworfen wären. „Einen Gesammtprozeß", denkt man diesen in tracht

Er wird von dem Gedanken heimgesucht: .„Ewig kehrt er wieder, der Mensch, dess du müde bist, der kleine Mensch' so gähnte meine Traurigkeit [...] Und ewige Wiederkunft auch des Kleinsten! Das war mein Überdruss an allem Dasein!" (KSA, ZA, 4, 274) -

KSA, NF, 13,372.

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Ecce homo (KSA, EH, 6, 368). Klossowski schreibt, Nietzsche führe „auf seine Weise einen Kampf gegen die Kultur und zwar im Namen einer Kultur der Affekte" (ders., Nietzsche..., 36). Es ist zutreffend, daß Nietzsche die abendländische Kultur entgegen ihrem Selbstverständnis auf „Grundtriebe" (letztlich: den Machtwillen) zurückführt (ebd., 23f.). Deren kulturstiftende Bedeutung wird von Klossowski nicht angemessen berücksichtigt. Zuzustimmen ist ihm aber darin, daß bei Nietzsche häufig (nicht immer) die destruktiven Tendenzen des Affektiven gegen ,den Geist' stehen. Die Geist-losigkeit der auf das Affektive reduzierten Konsum-,Kultur' der Gegenwart wäre ihm natürlich ein Greuel gewesen. KSA, FW, 3, 552. -

Über Ökonomie und Kultur bei Nietzsche

339

einer Weise „als System", gibt es nicht: „die Welt" ist eben „kein ,Ganzes"\ sondern „das Chaos". „Alle ,Wünschbarkeit' [...] in Bezug auf den Gesammtcharakter des Seins" bleibt als Selbsttäuschung zurück, allein die Aktivitäten zur „Steigerung von Macht" sind nach Nietzsche die ,Realitäten' des Menschseins.

irgend

KSA, NF, 13,37.

VI. Rezensionen

Thomas Keith: Nietzsche-Rezeption bei Gottfried Benn, Köln (Teiresias) 2001, 130 Seiten (= Literaturwissenschaft Bd. 2) Calderón gesungen." Goethe wusste, über welche Fernen Dichtungen sprechen. Die poetische Form seines Satzes lässt den Leser kaum zu der Frage kommen, wie das Gefüge der Beziehungen, von dem hier die Rede ist, entstanden, ja, wie es eigentlich geartet ist. Die steile Karriere des Begriffs „Rezeption" als Bezeichnung eines solchen Gefüges gründet in einer Not: Es fällt schwer, einen Tatbestand einleuchtend zu benennen, und diese Schwierigkeit lässt sich am leichtesten hinter einem Wort verbergen, dessen Bedeutungsfeld nicht allzu scharfe Konturen hat. Dass der Verfasser des zu besprechenden Buches dies gespürt hat, zeigt die Präposition im Titel. Da von Rezeption gesprochen und Gottfried Benn als der Akteur des Tuns vorgestellt wird, wäre von einer Rezeption durch Benn zu sprechen gewesen. Die gewählte Präposition macht die Beziehung unsicher; „Gottfried Benn" wird zu einer Orts-

„Nur wer Hafls liebt und kennt,/ Weiß,

was

miteinander

angabe.

Der Dichter, Philosoph und Arzt Gottfried Benn hat viele Werke des Dichters und Philosophen Friedrich Nietzsche aufmerksam gelesen. Äußerungen Nietzsches haben Beobachtungen Benns angeregt und beeinflusst, bei Nietzsche konnte der jüngere Dichter Bestätigungen eigener Ansichten finden, und nicht so wenige Meinungen Nietzsches meinte Benn partiell oder ganz verwerfen zu müssen. Damit wären einige Aspekte eines komplizierten Verhältnisses angedeutet, das mancher auch dann nicht unter dem mondänen Begriff der Rezeption zu fassen versuchen wird, wenn ihm ein anderer Begriff fehlt. Einst sprach man in solchen Zusammenhängen von Einflüssen, auch von „Wirkung" war da die Rede. Derartige Wendungen werden heute als unbeholfen empfunden; schließlich mangelt es ihnen am Glanz des Fremdsprachlichen. Benn hat auf durchaus eigene Weise gezeigt, mit welchen Gestalten späteren Den-

kens und Formens Nietzsches Sätze so zusammenstimmen können, dass wir uns Abhängigkeiten vorzustellen vermögen. Wie der von ihm sehr verehrte Bertram hat auch Benn der Verfasser erinnert daran (14) mit geringerem Verständnis für Bertrams Verfahren seinen „Versuch einer Mythologie", seine Nietzsche-„Legende" geschaffen. Das vorliegende Buch macht implizit immer wieder darauf aufmerksam, wenn der Verfasser auf Übereinstimmungen zwischen Äußerungen Benns und Nietzsches hinweist, die dann in der Darstellung ihre Schwierigkeiten offenbaren. Die „lyrisierte" Prosa Benns hier geht es um die Erzählung „Gehirne" trennt sehr viel von der Sprache, die Nietzsche in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne dem „intuitiven Menschen" zuschreibt (33). Gewiss ist bei Benn und bei Nietzsche der Begriff des Mythos positiv besetzt, sieht man aber näher hin, findet man, dass sich seine Bedeutungen bei beiden nur partiell decken. Das führt zu dem anderen Problem solcher Darstellungen: Wenn Benn vom Rausch handelt, darf man natürlich an das „Dionysische" Nietzsches denken, aber so recht verlassen kann man sich auf den Eindruck einer Abhängigkeit seit dem Ende des 18. Jahrhunderts nicht; da wären durchaus andere Anreger zu nennen. Es leuchtet dem, der die Texte liest, auch nicht ein, dass im frühen Ikaros-

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Rezensionen

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Gedicht Benns der Topos des Mittag auf eine Verbindung zum Zarathustra-Dichter weisen soll (29). In seiner Rede Nietzsche nach fönfzig Jahren behauptete Benn, alles was für seine Generation geistig von Belang gewesen sei, habe schon durch Nietzsche seine Formulierung erhalten, „alles Weitere war Exegese". Distanzierter und fast ein wenig selbstkritisch spricht ein Passus im Aufsatz Zur Problematik des Dichterischen, in welchem Benn im Zusammenhang mit Überlegungen zu dem, womit Nietzsche in den „Prozeß des Werdens" „eingegriffen" haben könnte, ironisch fragt: „Mit der kleinen Gruppe der Literaten, die bei ihm Zitate sucht?" Er musste ja wissen, dass jeder Leser auch an ihn denken würde. So ist es bedauerlich, dass der Verfasser sich viel zu wenig auf Textelemente einlässt, die auf Differenzen weisen. Er zitiert ausführlich (44) das Eingangsgedicht der Lieder des Prinzen Vogelfrei, einen der nicht wenigen Texte, in denen Nietzsche gegen die beiden ersten Verse aus dem Chorus mysticus des Faust-Vinales polemisiert, aber er erinnert nicht daran, dass Benn am Schluss des zitierten Aufsatzes über den der Verfasser in einem anderen Zusammenhang eingehend spricht gerade in diesen Versen sein Credo findet. Diese Differenz ist von weitaus größerem Belang, als der im Buch erwähnte (7) Vorwurf, Nietzsche habe zeitweise unter darwinistischem Einfluss gestanden, ein Vorwurf, den nur der nicht komisch finden wird, der nicht weiß, dass der Antidarwinismus eine der dauerhaften Marotten Benns war. Wer so in seiner Sprache heimisch ist wie Benn, kennt sich auch in ihren Niederungen aus. Dem Betrachter, der den Dichter schätzt und der sich sowieso bei der Auswahl des Darzustellenden beschränken muss, liegt es nahe, unglückliche Äußerungen wie die, Thomas Mann habe aus Nietzsches „Krankheit [...] Kapital schlagen zu können" geglaubt (14), still zu übergehen. Wo dies nicht geschieht, weil der Betrachter zustimmt, wäre doch wenigstens eine Begründung zu wünschen. Solche Einwände gegen einzelne Arbeitsergebnisse, welche das Buch vorstellt, wollen nicht seinen Wert in Frage stellen. Es ist ungemein forderlich, weil es Einblicke in wesentliche Probleme gibt, und seine Feststellungen verdienen auch da Wertschätzung, wo man sie nicht übernimmt. Sie fordern Überlegungen, die den Leser weiterbringen. Das geschieht vor allem dadurch, dass sehr ausführlich zitiert wird, wobei nicht einmal jedes Zitat für die Untersuchung wichtig und in sie eingebunden ist (vgl. 97/98). Vom Thema her ist es bestens begründet, wenn die Einleitung auf Benns Nietzsche-Rede von 1950 hinweist, dann aber empfindet man die Attacke auf den „Großschriftsteller" (8) Thomas Mann doch als eine Fehlleistung. Doktor Faustas ist keine Nietzsche-Biographie, sondern ein Musikerroman. Insofern macht die Verständnislosigkeit der zustimmend zitierten Gewährsmänner (ebd.) ratlos; und auch dann, wenn tapfer entschieden wird, dass „der Faschismus höchst rational" war, wirkt die Darstellung nicht einleuchtender. Gewiss sind hier Vorwürfe nicht ganz gerecht, weil en passant eine angemessene Erörterung der Problematik nicht möglich ist; dann allerdings bleibt der Versuch seines Leichtsinns wegen unglücklich. Auch wenn lobend erwähnt wird, dass Benn Nietzsche in der Rede von 1950 „ausdrücklich gegen politischen Mißbrauch in Schutz" (7) nimmt, kann man sich schwer gegen ein ungutes Gefühl wehren; schließlich konnten sich die deutschen Faschisten darauf berufen, dass mit Benn einer der bedeutendsten Dichter der „Systemzeit" Nietzsches Eignung zur -

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Rechtfertigung

der schrecklichsten nationalsozialistischen Lehren demonstriert hatte. Wer das noch nicht wusste, erfahrt es auch aus diesem Buch, aber das ist eben erst nach der Mitte (76ff) möglich. Das hat mit der Darstellungsweise zu tun, die sich nicht so leicht beschreiben lässt. Der Verfasser nennt sie „eher essayistisch" (15), und er stellt sie einer anderen gegenüber, gegen welche er sich entschieden hat und die er mit den Attributen „begrifflichsystematisch subordinierend" kennzeichnet. Für eine solche Entscheidung lassen sich immer gute Gründe nennen; der hier angeführte, das Vorgehen sei „den Gegenstand berücksichtigend", leuchtet eigentlich nicht ein. Es mag zu begründen sein, wenn der Verfasser den Werken „beider Autoren" Eigenschaften zuschreibt, die sie „manchmal schwer verdaulich" machten und unter diesen Eigenschaften „Exaltation und Maßlosigkeit" hervorhebt. Insofern das stimmt, ist eigentlich immer eine Betrachtung im Vorteil, die sich der „Anstrengung des Begriffs" nicht verweigert. Man wird daran erinnert, wenn im unmittelbaren Zusammenhang der zitierten Textstelle gegen die solcherart charakterisierten „Werke" eine Entscheidung für den „Bereich von Texten" gefallt wird, ohne die Differenz der Bedeutungen von „Werk" und „Text" in den überlieferten Arbeiten „beider Autoren" zu erläutern. Das wird dann überflüssig, weil das bekräftigende Nietzsche-Zitat „Werke" offenbar dort benutzt, wo der Autor „Texte"

meint.

Allerdings werden die Prinzipien der Darstellung nicht so rigoros durchgehalten, wie die zitierten Erklärungen erwarten lassen. Man kann das Verfahren insofern schon essayistisch nennen, als die einzelnen Kapitel besser als selbstständige Aufsätze verstanden werden können; das geht so weit, dass der Leser zu Formulierungen, die ihm nicht eingeleuchtet haben, an späteren Stellen Ergänzungen findet, die zu Korrekturen werden. Zudem sind in zwei der sieben Texte die Gegenstände der Betrachtung nur sehr weitläufig mit dem Thema der Arbeit verbunden, welches der Autor so beschreibt: „Diese Arbeit beschränkt sich auf die Erläuterung der Bennschen Ästhetik und der Gedankenwelt, in welche diese eingelassen ist, und versucht, den Einfluss Nietzsches darauf herauszustellen. Dementsprechend liegt der Schwerpunkt der Betrachtung auf den Essays und Reden sowie der Prosa Benns." Benns lyrisches Werk ist offenbar für den Aufriss jener „Gedankenwelt" von geringerem Belang. Die Aversion gegen Begriffe, welche die programmatische Formulierung vermuten lässt, findet der Leser im Text eigentlich nicht wieder. Doch werden Begriffe, die aus der Nietzsche-Lektüre vertraut sind, oft in ungewohnter Weise behandelt. Der „Übermensch" wandelt sich zur „Utopie", die „in wesentlichen Aspekten" hinter die Situation des modernen Menschen „zurück will" (108). Der Autor stellt hier eine „Beschränktes

heit" des Nietzscheschen Denkens fest. Diese Textstelle stimmt nicht sonderlich gut mit einem früheren (43f.) kühnen Versuch überein, eine Definition des Begriffs „Übermensch" zu geben. Drei Zitate aus Ecce homo stützen ihn, von denen allerdings zwei die „große Gesundheit" bzw. den „gentilhomme" betreffen. Es ist bekannt, welche Bedeutung der Begriff der „Form" für Benn hat, der sich hier in einer Tradition weiß; dies spiegelt sich seltsam in der Überschrift „Benns Apotheose der Form" (57). Ähnlich sorglos macht der Autor aus Nietzsches Hinweis, dass „die Convention [....] die Bedingung der großen Kunst" sei, „Nietzsches Konventionalismus" (120). Im schon erwähn-

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Rezensionen

ten Gedicht An Goethe findet der Autor den

„Gedanken der ewigen Wiederkehr" (45); Goethe wird dort „als Aufhänger [....] benutzt". Dergleichen ist nicht nur sachlich recht ungenau; in einem Buch, in dem es um Schriftsteller von hohem Range geht, stören solche Lockerheiten. Das Buch fördert die Arbeit an einem wichtigen Thema der deutschen Literaturgeschichte; es schließt sie nicht ab.

Rüdiger Ziemann

Klaus Gerhard Lickint, Nietzsches Kunst des Psychoanalysierens. Eine Schule für kultur- und geschichtsbewusste Analytiker der Zukunft, Würzburg, Königshausen & Neumann 2000

„Wer Nietzsche eigentlich' nimmt, wörtlich nimmt, wer ihm glaubt, ist verloren", schrieb Thomas Mann 1947. Das ist lange her, so lange, dass man sich dieser Warnung

heute kaum noch erinnern kann. Vielleicht wurde Nietzsche nie wörtlicher genommen, als in diesem Buch von Lickint, das nicht viel mehr als eine endlose Aneinanderreihung von Nietzsche-Zitaten ist, und auch dort, wo er eigene Sätze einfließen lässt, über ein schlichtes Epigonentum nicht hinauskommt. Worum geht es dem Autor? Lickint, das sei vorweg gesagt, ist Psychoanalytiker und seine Profession bestimmt den Blickwinkel, in dessen Zentrum das Interesse an den psychoanalytischen Errungenschaften Nietzsches steht. Diese sind, wie wir schon seit Witteis' Freud-Biographie von 1924 wissen, zahlreich. In den letzten Jahren haben Assoun (Freud et Nietzsche, Paris 1980) und in seinem Gefolge Gasser (Nietzsche und Freud, Berlin 1997) das Thema systematisch wie historisch grundlegend behandelt. Lickints Interesse ist weder systematisch, noch historisch (auch wenn er dies behauptet), sondern vielmehr missionarisch. Sinn seines Buches sei es, „sich auf weitgehend geordnete Weise eine umfassende Kenntnis vom Psychoanalysieren verschaffen zu können, wie Nietzsche es aufgewiesen hat" (541), denn „ohne Kenntnis von Nietzsches Psychoanalysieren dürften nicht wenige Selbstanalysen der Psychoanalytiker in Wesentlichem unvollständig bleiben" (539). Lickint empfiehlt Nietzsches „Psychoanalytik" als Pflichtlektüre für jeden Analytiker, sie sei über Freud hinaus „wahrscheinlich der wirksamste psychohygienische Weg für Psychoanalytiker und letztlich für jeden, so gesund als möglich zu werden und zu bleiben" (15). Angesichts des fast unmenschlichen Leidens, dem Nietzsche zeitlebens ausgesetzt war, mag dies immerhin erstaunen. Aber anders als Lickint war sich Nietzsche ja auch darüber im klaren, dass Selbsterkenntnis und damit Selbstheilung kaum möglich ist: „Der Mensch ist gegen sich selbst, gegen Auskundschaftung und Belagerung durch sich selber, sehr gut vertheidigt, er vermag gewöhnlich nicht mehr von sich, als seine Aussenwerke wahrzunehmen. Die

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Rezensionen

eigentliche Festung ist ihm unzugänglich, selbst unsichtbar, es sei denn, dass Freunde und Feinde die Verräther machen und ihn selber auf geheimem Wege hineinführen." (KSA,MAI, Aph. 491).

Dabei verrät sich Lickint selber im Widerspruch zu dem von ihm im Titel formulierAnspruch als weder kultur- noch geschichtsbewusst. Ihm fehlt jegliche historische Distanz zu seinem Gegenstand, seine Identifikation mit Nietzsche geht stellenweise bis in die Diktion hinein. Lickint ist es in erster Linie um die Zukunft zu tun. Unter Berufung auf Nietzsche als dem Philosophen der Zukunft formuliert er sein angestrebtes Ziel einer ,Kulturrenaissance': Es bedürfe „der .Psychoanalytiker der Zukunft', um unter Führung wachgewordener psychoanalytischer Berufsverbände [...] gemeinsam mit den Volksvertretern und den Regierungen den generationenlangen Versuch einer ,Kulturrenaissance' anzupacken" (554). Eine Aufgabe freilich, die aus dem Munde eines Analytikers seltsam anmutet, setzt sie doch gerade den völligen Verzicht auf analytisches Denken bei diesen Analytikern der Zukunft voraus. Anstelle der Analyse tritt der Geist der Verordnung. Dabei hat gerade Nietzsche seine eigenen frühen, durchaus noch unhistorischen Hoffnungen auf eine Erneuerung der Kultur aus dem Geist des Wagnerschen Musikdramas in den achtziger Jahren, und das heisst in den Jahren seines eigentlichen Philosophierens, gründlich revidiert und schonungsloser Selbstkritik unterzogen. Eine gewisse Kulturfeindlichkeit des Autors tritt in seiner Forderung nach „Psychohygienik" und „Kulturhygienik" zutage. Diese gerät in gefährliche Nähe zur Eugenik, wenn der Autor die Kulturhygiene zur menschheitsentscheidenden Aufgabe der „Psychoanalytiker der Zukunft" erklärt und mit der Ausrottung von Seuchen im 19. Jh. vergleicht. Dieselbe Kulturfeindlichkeit tritt auch in Lickints teilweise barbarischem Sprachgebrauch zutage, so etwa wenn er von Nietzsches „Ringkampf mit Piaton" (542) spricht oder von der „Assanierung der Massenneurotik" (553), eine Wortschöpfung die an Monstrosität kaum zu überbieten ist. Da er Assanierung mit „Austilgung" gleichsetzt ist die Nähe zu den Assassinen mehr als nur eine klangliche. Dabei betont Lickint gerade die Wichtigkeit guten Sprachgebrauchs und die Bedeutung des Stils unter Berufung auf Nietzsches Maxime: „Gut ist jeder Stil, der einen inneren Zustand wirklich mitteilt" (Ecce homo). In Anlehnung daran sei ihm „inmitten der Abfassung des Buches" deutlich geworden, „daß es zugleich mein vorher unausgesprochener Dank an Nietzsche ist und zusammen damit ein weitgespannter Beitrag sein soll, die Psychoanalytik in der außergewöhnlichen Darstellkraft ihrer Muttersprache zu stärken. Das sei auch ein Zugewinn für die notleidende und erkannte Großaufgabe, die mangelhaften teils irreführenden Übersetzungen Freuds (und Nietzsches) in andere Sprachen entscheidend nachzubessern" (17). Ein Satz, der einen eher verworrenen inneren Zustand mitteilt. Zugleich richtet Lickint gerade an die deutschsprachigen Analytiker „die Aufforderung, die eigene Sprache entschlossen und geschmeidig zu pflegen" und „die vielen unscharfen lateinstämmigen Mode- und Fremdwörter" zu meiden (541), was ihn freilich nicht davon abhält, von der „Assanierung der Massenneurotik" zu sprechen, ein Wort wie Introspektion hingegen zu übersetzen (Selbstdurchsicht!). Lickints Buch ist bestenfalls als Steinbruch zu gebrauchen, indem es auf über 500 Seiten Stellen aus Nietzsches Werk und Nachlass aneinanderreiht (Kompendien dieser Art werden sich im Zeitalter von Nietzsche auf CD-ROM schnell vermehren) und unter ten

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verschiedenen Überschriften zusammenfasst: „Das Unbewußte und sein Verhältnis zum Bewußtsein", „Über die Natur der Triebe", „Liebe, Eros, Sexualität", „Die Ärzte, die Neurose und das Irrenhaus unserer Kultur", „Die Macht und das Machtgefühl", „Das Leiden und das Mitleiden" etc., eine Zusammenstellung, die als solche durchaus sinnvoll sein könnte, wäre sie nicht mit dem Anspruch des „Kultarhygienikers" verbunden, der „furchtlosen Auges in die ungeheure Tiefe der offenen Zukunft blickt" um über die „Zukunft der Menschheit" zu befinden (553). Lickint geriert sich bewusst als NachDenker par excellence, wobei das Nach-Denken hier durchaus im Sinne von Nietzsches After-Philologie als After-Denken verstanden werden kann, jedenfalls nicht als Zukunfts-Denken, wie die Hybris des Titels: Eine Schule für geschichtsbewußte Analytiker der Zukunft in Anlehnung an Nietzsches Philosophen der Zukunft nahezulegen sucht, denn diese zeichnen sich im Gegensatz zu Lickint gerade dadurch aus, dass sie Skeptiker sind und freie Geister. Zum Thema selbst fordert die Schrift nichts Neues zutage, bestenfalls der Umfang der Exzerpte mag erstaunen, und so bleibt am Ende nur die bange Frage, wie diese verwirrten Gedanken haben gedruckt werden können, in einem Verlag, an dessen wissenschaftlichem Anspruch zu zweifeln wir bisher keinen Grund gehabt haben. Renate Müller-Buck

Friedrich Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, begründet von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, weitergeführt von Wolfgang MüllerLauter und Karl Pestalozzi, Neunte Abteilung, Der handschriftliche Nachlaß ab Frühjahr 1885 in differenzierter Transkription, hg. v. Marie-Luise Haase und Michael Kohlenbach in Verbindung mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Erster Band (Notizheft N VII 1), Zweiter Band (Notizheft N VII 2), Dritter Band (Notizhefte N VII 3 und N VII 4), bearbeitet von Marie-Luise Haase, Michael Kohlenbach, Johannes Neininger, Wolfert von Rahden, Thomas Riebe und René Stockmar unter Mitarbeit von Dirk Setton, Berlin/New York: de Gruyter 2001, 650 Seiten + CD-ROM Die „Neunte Abteilung" wird ein feststehender Begriff werden. Sie bildet den Abschluss und zugleich den Höhepunkt der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches in der Edition Giorgio Collis und Mazzino Montinaris. Montinari, der massgebliche Motor der Ausgabe, hatte sich zuletzt durch seine interne Unterscheidung innerhalb des Nachlasses in Fragment und Vorstufe sowie durch die externe von Philosophischem und Privatem in eine problematische Situation manövriert. Wenn man sich die anfängliche Intention in Erinnerung ruft, so war diese kei-

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neswegs falsch: Warum sollte man nicht das Material reduzieren, indem Wiederholungen vermieden bzw. auf Abweichungen beschränkt und ,Nullinformationen' getilgt würden? Standen nicht die Nachweise unvermuteter Zitatpassagen und die Zugehörigkeit von Notizen zu späteren Büchern rechtmäßig im Vordergrund? Aber: Es brauchte nicht erst Nietzsches bzw. Derridas zuletzt mehrfach überspannten Regenschirm, um zumindest die Unterscheidung zwischen Philosophie und NichtPhilosophie in Frage zu stellen. Im Schatten von Heideggers Nietzsche und den Epigonen der fünfziger und sechziger Jahre wäre es zunächst undenkbar gewesen, dem Publikum des erst jetzt zum ,echten' Philosophen verdichteten Nietzsche Tabellen, Kinderreime und Wunschzettel unter seinem Namen vorzulegen. Schwer genug wog die Aufgabe, den allgemeinen Fokus von Übermenscheleien, Machtphantasmen und Wiederkehrdelirien auf den viel reicheren Kosmos von Nietzsches sonstigem Denken auszurichten. Die Edition von Colli und Montinari ist allein schon durch ihre lange Publikationsdauer wie kaum eine andere zugleich ein Spiegel der sich verändernden Rezeption, zu deren Transformation sie stets maßgeblich beigetragen hat. Als Stichwort sei nur die Erfüllung der Aufgabe genannt, die seit den Anfängen der postumen Nietzsche-Edition retrospektiv den Prüfstein jeder Ausgabe von Nietzsches Werken bildet, und an dem zuletzt Karl Schlechta scheiterte: die Auflösung von Der Wille zur Macht. Nicht zuletzt also das drohende ,Scheitern' am eigenen Anspruch, sondern auch das gewachsene Bewusstsein für die Notwendigkeit authentischer Textgrundlagen innerhalb wie außerhalb der Forschung an Nietzsche ließen Marie-Luise Haase, Michael Kohlenbach und Wolfram Groddeck die formal-inhaltliche Grenzziehung überdenken und den Entschluss zum Neuanfang innerhalb der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches fassen. (Eine erste öffentliche Präsentation wie Diskussion des Projekts fand auf der Tagung des Kollegs Friedrich Nietzsche der Stiftung Weimarer Klassik, ,„Ich habe meinen Regenschirm vergessen.' Nietzsches Schreiben", vom 10. bis 12. März 2000 in Weimar statt.) Der „späte Nietzsche" sollte nun in „topographischer Anordnung" (KGWLX/1, V) und ultradiplomatischer Umschrift vorgelegt werden und dem Text damit Gerechtigkeit widerfahren. DFG und Schweizerischer Nationalfonds als maßgebliche Träger stimmten dem Plan 1993 zu, der ohne das beherzte Eintreten Wolfgang Müller-Lauters für die Sache wohl wesentlich geringere Chancen auf seine Erfüllung gehabt hätte. Nietzsche, der die Richtung seines Schreibens (nicht nur seines Denkens) gerne entgegengesetzt der konventionellen Vorgabe laufen ließ, hatte die Angewohnheit, oft die Seiten seiner Notizbücher vom Ende her, einseitig zu beschreiben. Dies stellt Editoren vor das Problem der .richtigen' Reihenfolge der Notizen: Es widerstreitet die räumliche Ordnung der Konvention ,von rechts nach links' bzw. ,von vorne nach hinten' der soweit nachvollziehbar zeitlichen Ordnung eines ,früher' und ,später'. Montinari entschied sich zeitgemäß für den Vorrang der Chronologie vor der Topologie, des logischen-inneren vor dem anschaulich-äußeren Sinn. Nicht alle dankten Montinari seine Arbeit: Manch einer zitiert heute noch seinen ,Würzbach', den hübschen aber faulen Kompromiss im Übergang von Gast zu Montinari, oder vermisst Oehlersche und Schlechtasche Indizes, die stets den ökonomischen Zugriff auf Nietzsches Gesamtwerk sicherten. Gedankt aber wurde Montinari seine -

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Arbeit durch eine neue, unaufgeregtere Generation an Nietzsche-Forschern, die sich die Mühe machte, mit dem zwar fragmentierten, aber durch die zeitliche Klammer wie den ausführlichen Kommentar zusammengehaltenen Korpus der neuen Ausgabe zu arbeiten. Die technische Evolution sollte jene Mehrheit belohnen, die zu Montinari gewechselt war. Als 1995 die mit reichlich Fehlern gespickte CD-ROM-Version der MontinariAusgabe unter dem unglücklichen Titel der Mette-Ausgabe, Historisch-kritische Gesamtausgabe, erschien, war mit einem Mal ein ,neutrales' Register vorhanden, dessen Erstellung in Druckversion jeden sinnvollen Rahmen gesprengt hätte. Das Bemerkenswerte der Digitalisierung war nicht die implizite Umorientierung vieler Interpreten auf bislang vernachlässigte Begriffe und Personen bei Nietzsche, sondern die langfristige Durchsetzung des räumlichen Prinzips. In der topologischen Suche war der Gesamttext bereits zur Oberfläche gemacht worden und seine zeitliche Signifikation nur mehr Appendix. Begleitet wurde dieser Wandel wiederum von einem Paradigmenwechsel in der Nietzsche-Rezeption: Im gleichen Maße, in dem die Texte zu einem Text wurden, betonte man entgegen des postmodernen Zeitgeistes nicht etwa die Brüche (diese waren seit Andreas-Salomés Dogma von den drei Stadien Gemeingut), sondern vielmehr die Linien, welche Nietzsches Denken von seinen Anfangen bis zu seiner Auflösung durchzogen. In der Epoche zunehmender Verräumlichung linearer Strukturen wird es restrospektiv einmal wie eine Selbstverständlichkeit wirken, jenen Schritt getan zu haben, dessen Last sich die Abteilungsherausgeber Haase und Kohlenbach aufluden die Topographie Nietzsches lesbar zu machen: „Die willkürlichen Konstruktionen der in der früheren Editionspraxis kreierten Phantom-,Texte' [...] können in direkter Anschauung deutlich werden, wenn die Aufzeichnungen Nietzsches in diplomatischer Umschrift ohne ,heilende' Eingriffe transkribiert und unter Kennzeichnung differenzierbarer Korrekturvorgänge präsentiert werden. Dieser topologische Aspekt ist Voraussetzung für den editorischen Versuch, auch die chronologischen und textgenetischen Aspekte zu erhellen." (Ebd., XII) Zu Recht wird daraufhingewiesen, dass es sich auch hierbei nicht um eine restlose „Abbildung (,mimesis')" handelt, sondern ,noch' -

eine „Übersetzung (,interpretado')" (Ebd., XV). Dabei ist das vorliegende Produkt gar noch eine ,abgespeckte' Version des ursprünglichen Vorhabens, die Transkription im Format des jeweiligen Notizbuchs zu veröffentlichen, sowie ferner, jeder Übertragung die zugehörige Faksimilierung gegenüberzustellen. (Vgl. ebd., VI.) Ästhetische Gründe verhinderten die Realisation des ersten Punktes, finanzielle die des zweiten. Stattdessen zeigt nun eine graue, dem Text unterlegte Schattierung die Ausdehnung des Papiers an, das die Zeichen trägt. (Für die späteren Bände mit Nietzsches Mappen und Schreibheften wird ein abweichendes Format verwendet werden.) Die Seitenzählung setzt mit jedem Notizbuch neu ein. Die Zeilenzählung geht bei identifizierbaren Zeilen von einer Zählung der ursprünglichen Zeilen als gerade Zahlen, der Einschübe als ungerader Zahlen aus. Auch die Seitenorientierung, falls Nietzsche das Buch auf dem Kopf stehend oder seitlich beschrieben hat, wurde beibehalten. Alle Zeichnungen und Durchstreichungen sind stilisiert wiedergegeben und wurden, soweit möglich, dem Urheber (Nietzsche oder Herausgebern) zugeschrieben. Nummerierungen früherer Herausgeber und Anmerkungen wurden aus dem Textfeld ausgelagert, wo nur deren Position markiert ist. Direkte Überschreibungen des um

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Rezensionen

eigenen Textes durch Nietzsche werden am Rand der betreffenden Zeile (ebenfalls grau unterlegt) aufgeführt. Selbst die verschiedenen Schreibmittel, die Nietzsche benutzte, sind anhand farblicher Differenzierung kenntlich gemacht, unterschiedliche Schriftarten durch jeweils andere Typen. Umgekehrt gesprochen: Abgesehen von Tinten- und sonstigen Schmutzflecken wurde alles transkribiert (bis hin zur Wiedergabe der Eselsohren). Angesichts dieser Komplexität wurde die Formatierung der Druckvorlagen in unmittelbarem Austausch mit den Originalen von den Abteilungsherausgebern und

ihrem Team selbst vorgenommen. Dieser Kompromiss erweist sich als die beste aller möglichen Lösungen: Die verbleibenden Ränder des Oktavformats bieten Erklärungen, Textnachweise zu bereits im Rahmen der KGW veröffentlichten Passagen sowie Varianten Platz, die nun nicht mehr umständlich aus dem Kommentarband herausgesucht sein wollen. Auf diese Weise erübrigen sich zuletzt auch gesonderte Nachberichte zum Nachlass ab 1885. (Vgl. ebd., XL) Eine CD-ROM, die jeder Lieferung beigegeben sein wird, kann vom Nutzer herangezogen werden, um parallel zur Transkription die Faksimiles (einschließlich der Deckel und Buchvorsätze) als PDF-Files zu betrachten.1 Die Bildschirmansicht lässt sich in 90°Schritten drehen, um auf dem Kopf stehende oder seitlich verlaufende Schriften lesen zu können. Gemäß dem Standard des Acrobat Readers können die Faksimiles bis zu 16fach vergrößert werden. Der hohen Auflösung der Digitalisierungen ist es zu verdanken, dass das Schriftbild sehr gut lesbar bleibt. Ein Pluspunkt für den direkten Vergleich von Transkription und Faksimile: Die Seiten lassen sich komfortabel auf Färb- und Schwarzweißprintern gleichermaßen drucken. Zur Orientierung kann entweder ein Verzeichnisbaum der Seitenzahlen eingeblendet werden oder Piktogramme der aufgeschlagenen Doppelseiten mit Standortbestimmung im Falle einer vergrößerten Ansicht. Zusätzlich enthält die CD auf einer Strecke von 144 Druckseiten einen vorläufigen Kommentar, der in gewohnter Manier vor allem Personen- und Ortsnennungen erhellt sowie die Nachweise impliziter Zitate gibt, welche wiederum über das Literaturverzeichnis erschlossen werden können; feiner Berichtigungen der Druck- bzw. Entzifferungsfehler und einen Namensindex, der Sach-, Eigen- und Ortsnamen sowie Buchtitel im Stile des KSB-Registers berücksichtigt. Eine Konkordanz der Druckorte stellt die Mit der

Entscheidung, die Vollfaksimilierung nicht als Papierversion zu bringen, geriet der Verlag kurzfristig in die Kritik. Die Entscheidung zur digitalen Faksimilierung, die bereits jeder Lieferung beiliegt, war entsprechend kurzfristig getroffen worden. Ursprünglich war erwogen worden, die digitalen Faksimilierungen erst nach Abschluss der Abteilung komplett zu veröffentlichen. (Vgl. da-

den öffentlichen Brief von Volker Gerhardt, „Nietzsche in fünf Farben im Verlag de Gruyter", in: Berliner Zeitung, Nr. 67, 20. März 2000, 13.) In ihrer Rezension verweist Inga Gericke hinsichtlich des Projekts ,Hypernietzsche' darauf, dass die Publikation an diesem Kompromiss scheitere, da weder die KGW im Sinne der Gründer zu Ende geführt werden (oder sämtliche Notizbücher und Hefte übertragen würden), noch der letzte und konsequente Schritt getan wurde, nämlich die Edition vollständig in den Bereich digitaler Medien (wie etwa die ,Bergen-Edition' des Wittgenstein-Nachlasses) überzuführen, dessen entsprechender Platz das eigene Projekt im WorldWide-Web sein musste. (Vgl. http://www.hypernietzsche.org/nnc/docs/reviews/gerike/nietzsche werke.html) Wie so oft führt der Königsweg auch hier zwischen den Positionen hindurch: als Kombination ,alter', passiver und .neuer', (inter)aktiver Medien. Diese Verbindung wird in allen Bereichen das akademische Arbeiten der näheren Zukunft strukturieren. zu

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352

Rezensionen

Paginierung der Neunten Abteilung den Ausgaben KGW, KGB und KSA sowie der Großoktavausgabe, den beiden Auflagen von Der Wille zur Macht und auch Podachs Blick in die Notizbücher Nietzsches gegenüber. (Gerade dieses Hilfsmittel eignet sich hervorragend zum Einstieg in den Gebrauch der Bände.) Zum Abschluss der Neunten Abteilung, die aus sechs Lieferungen bestehen wird, soll der 13. Band den endgültigen

Kommentar enthalten, welcher neben denen der betreffenden Notizbücher auch den Nachbericht zu den von Nietzsche veröffentlichten Schriften ab Jenseits von Gut und Böse in der KGW enthält. Wie arbeitet man nun sinnvoll mit diesem Angebot? ,Zitieren' im üblichen Sinne ist nicht mehr ohne weiteres möglich bzw. ratsam. Statt dessen wird man in zukünftigen Interpretationen vermehrt zu Beschreibungen übergehen, die sich im Wechsel zwischen der Bildschirmansicht der Faksimiles, der Übertragung in der Neunten Abteilung und den ,alten' Transkriptionen konstituieren. Dies betrifft nicht nur Stellen, an denen eine Entscheidung über den gültigen Wortlaut von den Herausgebern nicht endgültig getroffen werden konnte, sondern auch die zeitliche Abfolge von Veränderungen einzelner Passagen, die besser als jemals zuvor auf einen Blick sichtbar sind. Es ist nun unumgänglich, die Schritte der Überarbeitung mit in die Beurteilung der Notizen und Sätze einfließen zu lassen. Fast alle bisherigen Reaktionen auf die Neunte Abteilung vernachlässigen diesen Effekt der wissenschaftlich unabdingbaren Authentifizierung. Statt dessen beziehen sie sich zumeist negativ auf die erforderliche Umstellung auf Seiten des

Interpreten'2

Beispielsweise werden sich so neue Erkenntnisse ergeben über Nietzsches Verfahren der Titelfindung für seine Bücher bzw. Buchprojekte, mit denen seine Notizen oftmals einsetzen. So sind beispielsweise gleich auf der ersten beschriebenen Seite des Notizbuches vom April bis Juni 1885 zwei Titel- bzw. Buchentwürfe zu lesen, die gemäß Nietzsches Gewohnheit auf der letzten Seite des Buches angesiedelt sind: Hierzu vergleicht man nun Seite 194 der Faksimilierung und die Übertragung in KGW IX/1 mit der entsprechenden Seite der alten Montinari-Transkription, die sich am Anfang der Fragmentgruppe 34 in KGW VII (KSA 11) befindet. In lateinischer Schreibschrift platzierte Nietzsche mit Bleistift in großen Lettern, die sich über fast zwei Drittel der Seite :

Raulff begrüßt die Ausgabe mit einem weinenden Auge: „Wir fühlen uns gleichzeitig beschenkt und um den geliebten Text betrogen." (Ulrich Raulff, „Klickeradoms. Nietzsche liegt in Stücken: Notizbücher eines Zerstreuten", Süddeutsche Zeitung, Nr. 271, 24725. November 2001, 16.) Zwar mutmaßt er, dass „[dies] [vielleicht [...] der Augenblick [ist], das Lesen neu zu lernen" (ebd.), kann aber nicht zeigen, wie dieses Lesen aussieht, geschweige denn, wie es zu lernen sei. Sicher ist, dass es nicht Aufgabe und Leitlinie einer solchen Ausgabe ist, Lesebedürfhisse zu befriedigen. Dass dieser Anspruch durchweg erhoben wird, zeigen auch die Reaktionen einiger Teilnehmer der Podiumsdiskussion zur Präsentation der ersten Lieferung in Berlin, anlässlich derer Rüdiger Safranski und Henning Ritter, aus je anderer Motivation heraus, für einen kompakten, lesbaren Nietzsche plädierten. (Vgl. Michael Angele, „Wo bleibt das Dynamit? Vom Nutzen und Nachtheil der Philologie für die Philosophie: Eine Diskussion über Nietzsches Technik des Schreibens in der Thüringischen Landesvertretung", T^Z, Nr. 47, 25. Februar 2002, BS 3.) Bewertungen aus solcher .Perspektive der Lebenswelt' sorgen letztlich auch für eine verzerrte öffentliche Wahrneh-

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mung. (Vgl. beispielsweise 3. Dezember 2001, 205.)

die

Fortschreibung

der

Bewertung

durch Raulff in Der

Spiegel, Nr. 49,

353

Rezensionen

erstrecken, den Buchtitel „Gai saber. I Selbst-Bekenntnisse I Von / Friedr Nietzsche". Darunter kündigt sich, auf kleinerem Raum geschrieben, ein anderes Buchprojekt mit

Variationen des Unter- wie Haupttitels in schwarzer Tinte an: Den beiden Alternativen ,JTohe Erziehung." und ,J)ie höchste Erziehung." werden zur ,Klangprobe' „Gedanken über die Philosophen der Zukunft" und „Vermuthungen über die Ph. der Zukunft" zugeordnet, wobei erster Untertitel zunächst als „Gedanken über die Entstehung" begann und Nietzsche dann „Entstehung" strich. Das Projekt eines Ecce homo-Vorläufers und Jenseits von Gut und Böse-Varianten werden damit von Nietzsche, notwendig zwar nacheinander aufgezeichnet, aber möglicherweise eben auch in Gegenüberstellung gebracht und gegeneinander abgewogen, bevor schließlich Jenseits von Gut und Böse im Sommer 1886 erscheint. Die Seite 193 birgt sodann den Anfang des projektierten Gai saber-Buches, der anders als es aus tatsächlich einen Montinaris Aufteilung in mehrere „Fragmente" ersichtlich wäre fortlaufenden Text mit Absätzen bildet, der in einer Schrift, mit einem Stift und in einem Zug verfasst wurde. Nietzsche nun .zweifelte' während der Niederschrift am augustinisch-rousseauschen Untertitel und schrieb entsprechend, dass ihm das „Wort [sc. Selbstbekenntnis] zu feierlich" sei, da er „weder an das Bekennen noch an das Selbst [glaube]". Der Text, der eine Art Motto oder den Auftakt des Buches bilden sollte, war aber im Fortgang der ersten Ausführungen geschrieben worden und findet sich erstmals auf Seite 187, wie auch die Bleistiftanmerkung (wohl von Mette), auf Seite 194 mit der falschen Seitenangabe „188" bekundet. Montinari nun zog, entsprechend dieser Verbindung, beide Stellen und den Titel zusammen zum Fragment 34[1], die ferner noch die anderen Titelentwürfe samt Varianten undifferenziert als eine Art unerklärlichen ,Nachtext' enthalten und den Buchanfang in den folgenden Fragmenten vom zugehörigen Titel trennen. Spekulationen über den Sinn des scheinbar in sich geschlossenen Fragmentes 34[1] erübrigen sich damit. Dies ist nur ein Beispiel für die philologisch-formale Herangehensweise. Mit ihr muss eine philosophisch-inhaltliche Interpretation einsetzen, wenn sie sich nicht in die Gefahr begeben will, bald als hinfällig zu gelten. Sicher, die Interpretation wird zeitraubender' werden, aber forderte Nietzsche nicht genau eine solche Langsamkeit von seinem Leser? Für ihre Leistung wurden Haase und Kohlenbach 2002 mit dem Nietzsche-Preis des Landes Sachsen-Anhalt ausgezeichnet. Das Gremium ist für diesen weitsichtigen Entschluss zu beglückwünschen, das Land Sachsen-Anhalt ehrt sich wie bei hohen Preisvergaben üblich auch selbst mit dieser Wahl. Gleiches gilt für den Verlag de Gruyter, dem zu dieser Edition zu gratulieren ist. -

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Stephan Günzel

Personenverzeichnis

Abbey, R.

129

Abel, G. 229, 325 Adams, H. 31 Adler, V. K. 194 Adorno, T.W. 51

Aischylos

131

Barkuras, G. 162,163 Barth, K. 84-85, 90-96, 99, 700 Bartsch, I. 706 Bataille, G. 217,285,256 Baudelaire, C. 24, 105, 269, 272, 283, 284, 285

Albrecht, G. 767 Altendorf, W. 767

Baumgarth,C.

Amelung, E. 94 Anaximander 118-121,124 Anders, A. 776, 722, 124, 248 Andler, C. 273,222 Andreas-Salomé, L. 750, 756, 305 Angele, M. 352 Anz,W. 322 Apollinaire, G. 104 Aristoteles 123,165,168,228,246 Aschheim, S. E. 206 Assoun, P.-L. 346 Avenarius, F. 224

Beevers, J. 206 Behler, E. 777,270 Benda, J. 219 Benjamin, W. 705,110-111,215 Benn, G. 101, 109,220, 343-346 Bentham, J. 66, 70 Benz, E. 67

Bach,J. S. 132 Bachelard, G. 38,40,41,42 Bachmann, I. 15 Bader, F. 255 Bahr, H.W. 86 Baer, K. E.v. 125 Baeumler, A. 205,270,215 Baila, G. 105 Balzac, H. de 272, 285

703

Beethoven, L. van 132,

Bergfleth, G.

185

277 H. 51 Bergson, Berkeley, G. 66 Bernhard, S. 103 Bernoulli, C. A. 221 Bertram, E. 343 Bethge, E. 94,95 Beyme, K. v. 95 Bezzel, C. 38 Bianquis, G. 222 Bismarck, O. v. 169,214 Bittner, R. 777 Bloch, P.-A. 777 Blumenberg, H. 65 Bobbio,N. 170

356

Personenverzeichnis

Boccioni, U. 105, 106 Bodenhausen, Baron 277

Bonghi, R.

221

Bonhoeffer, D. 84-85,94-99 Boscovich, R. J. 24 Bourdeau, J. 221 Brahn.M. 276 Braak, M. ter 218 Brandes, G. 269 Braun, D. 93 Brentano, F. 69 Brüllmann, R. 86 Brunetière, F. 270 Brunner, H. 706 Brusotti, M. 756, 795,198, 200, 201, 280 Büchner, G. 15 Buffon,G.-L. 165 Bultmann, R. K. 321,323 Byron, G. G. 135, 186, 301 Camus, A. 322 Canetti, E. 40 Carey, U.C. 194

Carlyle,T. 66 Carra, C. 105 Carrel, A. 109 Casseres, B. de 216 Cassirer, E. 40,51,277 Cassirer, T. 277

Caysa, V.

187

Chatterton-Hill, G. 209 Celan, P. 15 Chamberlain, H. S. 216 Chamfort,N. 220 Clark, M. 722 Clausewitz, C. v. 43, 105 Cohn,P.V. 206 Colli, G. 312,348-349 Common, T. 207-208,211 Comte, A. 311 Condillac, E. B. de 166 Crawford, C. 247 Croce, B. 109 Crusius, O. 273

D'Annunzio, G. 104,

110 Dante Alighieri 185 Danto, A.C. 183,276,280 Darwin, C. 65, 128, 165

Daudet, L. 219 Deleuze, G. 26 Derrida, J. 54,349 Descartes, R. 66, 134, 253-254, 257, 263, 322

Deussen, P. 299,300

Dewey, J.

51

Dietzsch, S. 272 Dietzel, U. 275

Diogenes Laertius 776, 767, 763 Djuric, M. 152,229 Dostojewski, F. M. 66, 144, 269, 272, 325 Douglas, A. 212 Dovifat,E. 321 Dühring, E. 167, 194-197, 199, 200 Durkheim, E. 48

Ebeling, G. Ebeling, K.

81 285 K.-D. 187

Eichler, Eiser,0. 77,22 Elsenhans, H. 765 Emerson, R. W. 66

Empedokles 128 Enzensberger, H. M. 105 Epikur 161-164, 167 Erbsmehl, H. 178,179 Eucken, R. C. 245

Euripides

132

Feil,E. 94,95 Feuerbach, A. v. 194 Fichte, I. H. 232 Fichte, J. G. 66, 70, 232-234, 237, 239, 243, 247, 251, 253, 255, 264-266, 322 Figl, J. 777 Finze,H. 93 Fischer-Lichte, E. 39 Flaubert, G. 269,272,300 Fleischer, M. 752, 756

Personenverzeichnis Förster, B. 19,216

Förster-Nietzsche, E. 19, 21, 22, 78, 131, 205-208, 209, 210, 211, 212, 213-214, 216-217,306,312 Foucault, M. 42,48 Frank, M. 164 Freud, S. 73,346-348 Freyer, H. 94,242 Friedrich, C. D. 176 Friedrich II 311-312 Fuchs, C. 299,300

Gadamer, H.-G. 238 Galiani, F. 165, 167 Galsworthy, J. 212 Garibaldi, G. 165 Gasser, R. 346 Gast, P. 27, 78, 206, 304, 313, 349 Gaudy, F. v. 301 Gauthier, D. 79 Gautier, T. 272 Gawronsky, D. 217 Gebauer, G. 73 Gehlen, A. 51 Gentili,C. 275 Gerber, G. 122,246 Gerhardt, V. 52, 53, 55, 61, 117, 155, 790, 194, 351 Gericke, I. 357 Gerlach, H.-M. 184,187 Gersdorff, C. v. 300 Gethmann-Siefert, A. 182 Geulen, E. 790 Gide, A. 220 Gide,C. 766 Glatzeder, B. M. 775,759 Gödde, C. 275 Goethe, J. W. v. 60, 66, 86, 190,273, 343 Gollwitzer, H. 323 Goncourt, E. de 285 Goncourt, J. de 285 Gorka-Reimus, G. 174,175 Gossen, H. H. 166-167 Grabbe.C. 60

357

Graeff.A. 174 GraeffH. 174 Graf, F. W. 81 Green, C. 94 Gremmels, C. 95 Grisebach, E. 168 Groddeck,W. 349 Groß,0. 235 Gumbrecht, H. U. 223 Günzel, S. 736,740 Haase, M.-L. 15, 16, 209, 349, 350, 353 Habermas, J. 79, 227-228, 236-238, 241, 243

Hadwiger, E. 104 Haeckel, E. 66 Hamacher, W. 247 Hammacher, K. 255 Hare.R. 69 Hartmann, E. v. 247 Hase, H. C.v. 85 Hauptmann, G. 86 Haussmann, C. G. 208 Heermann, J. 319 Henrich, E. 790 Hegel, G. W. F. 56, 59, 62, 66, 19,91, 94, 128,182-183,222,286, 322, 332 Heidegger, M. 26, 51, 65, 66, 72, 73, 78-80, 164,270,321,322,323,349

Heimannsberg, J.

218

Heine, H. 205,221-222 Heinrich IV 158 Helmholtz,H. 122 Henrich, D. 7S2 Heraklit 118, 120-121, 124, 125, 127-128, 135 Herder, J. G. 60 Hermes, R. 38 Herrmann, E. 327-329, 331-332, 332-334, 336

Herrmann, F.-W. v. 65 Hesse, E. 107,111

Hindenburg, P. v.

216

Hitler, A. 111,216

Personenverzeichnis

358

Hobbes.T. 66,68,71 Hödl, H. G. 306 Hoerster, N. 57 Homer 110, 131 Hortmann, R.-P. 777 Howald,E. 232 Hugo,V. 272,285

Huizinga, J.

218

Humboldt, W. v. 232-234, 238,239,243 Hume,D. 57,66 Husserl, E. 51,79 Hutcheson, F. 66

Jaffé,E. 235 James, W. 51,66 Janke,W. 264 Janz, C. P. 13,305,572 Jarry, A. 104 Jaspers, K. 51 Jean Paul 19

Johst,H. 110 Jouanna, A. 42 Juvenal 311

Kafka, F. 15,38-39 Kahn, G. 103 Kamper.D. 773 Kant, I. 56, 57, 62, 66, 68, 71, 77, 86, 93, 94, 123, 128, 132-134, 164, 187, 229, 247, 251-255, 259, 264-265, 322 Keith, T. 343-346 Kennedy, J. M. 206,211 Kern, A. 187,188,191 166

Kittler,F. 225 Kleist, H. v. 15

Klemperer.V.

188

Köselitz, H. 18, 20, 31, 34, 130, 299, 308, 314

Köster,P. 85, 94, 95 Krämer, S. 39 Krause, J. 7 77 Kress, H. 86 Krochmalnik, D. 275 Kuhn,E. 270

Kuprijanow, W.

175-177

Lackner, S. 275,221-222 Lacoue-Labarthe, P. 247 Laemmle, P. 218

Iser.W. 182

Keynes, J. M.

König, E. 39 Koopmann, H.

75S

Klossowski, P. 329-330, 336, 338 Koftnan, S. 570 Kohlenbach, M. 15, 16, 209, 349, 350, 353 Kolesch, D. 39 Kolumbus, C. 307-309

Lafargue, P.

168 de 128 J. B. Lamarck, W. 218 Landauer, Lange, F. A. 122, 142, 247, 260 Lanzky, P. 19 Laplace, P. S. de 160 Leibniz, G. W. 55, 57, 66, 128, 322 Lenk, H. 86 Lessing, E. 85 Lethen, H. 773 Levy.O. 205-225 Lichtenberg, G. C. 757 Liebmann, K. 224 Liebscher, M. 757 Lill,R. 706 Lipiner, S. 304 Lonitz, H. 275 Löwith, K. 51,275,234 Lucain, M. 220 Ludovici, A. M. 206,277 Ludwig XIV 158 Luther, M. 97,302 Lütterfelds, W. 267 Lutz-Bachmann, M. 142

Machiavelli, N. 302,377

Macintyre, B. 206 Mainberger, S. 207 Mallet, R. 220

Personenverzeichnis Mann, H. 215 Mann,K. 218 Mann, T. 275,27«, 223, 321, 344, 346 Manolidis, G 762 Marasso, M. 109 Marinetti, F. T. 101-111 Markl, H. 57

Marquardt, F.-W. Marshall, B. 211

322

Marx,K. 51,168,222,329 Maurras, C. 219

Maushagen

218 Mautner, F. H. 757 Meijers, A. 246 Mendes.C. 103 Menke.C. 183 Menzer, P. 230,243

Mette, HJ. 350,353

Metzel, O. 174-176

Meyer, M. 729 Meyer, T. 777,7*2 Meysenbug, M. v. 18,174, 303, 305 Michelangelo Buonarroti 185 Mieth,D. 240 Mill. J. S. 70, 103, 167, 246, 329 Moltmann, J. 96 Mommsen, W. J. 69 Montinari, M. 15, 16, 17, 729, 777, 302, 304, 312,373,348-349,352,353 Morris, D. 66 Mosengel, A. 273 Moritz, R. 706 Mourkojannis, D. 85 Mues, A. 255 Müller, J. 122 Müller-Lauter, W. 13, 15, 26, 723, 777, 270, 319-326,337,349 Münchhausen, B. v. 218 Mussolini, B. 106, 107, 213-214

359

Nicolaisen, C. 95 Nicolas, M.P. 219-220 Nietzsche, F. 18, 19, 20, 21, 22, 24, 31, 34, 131,300,306 Nolte,E. 223 Nordau, M. 206 Novalis 69,257 Nussbaumer-Benz, U. 275 Nüsslein-Vollhard, C. 57

Obrist,H.-U. 777 Oehler, A. 208 Oehler, M. 270, 277, 212, 276, 349 Oehler, R. 219 Oppenheimer, F. 766 Orage, A. R. 270,211 Ortmanns, H.-G 70* Ottmann, H. 170,184 Overbeck, F. 18, 24, 31, 92, 736, 300, 306

Pannenberg, W.

81

Parmenides 118-121, 123, 127-128, 135, 248 Pascal, B. 278 Peter, N. 90,91,95 Peters, T. R. 94 Petronius 300 Pfleiderer, G 97

Picasso, P.

104

Pilatus 311

Pirandello, L. 110 Piaton 55, 75, 128, 132, 135, 151, 184, 289292, 294 Plessner, H. 51 Podach,E.F. 221 Pöggeler, O. 182 Polke, S. 777 Popper, K. R. 51,260 Pound, E. 111 Pütz,P. 273

Nansen, F. 212

Napoleon Bonaparte

160

Naumann, CG 299,314 Newton, I. 65

Raffael (Raffaello

Raulff, U. 352 Rawls.J. 79

Santi)

185

360

Personenverzeichnis

Recki, B. 189 Rée, P. 797,304-305 Reibnitz, B. v. 737 Rendtorff,T. 83

Schleiche«, H. 759 Schleiermacher, F. D. E. 323 Schlüter, M. 707

Reschke, R. 55,184,187, 190, 274, 284

Schmidt, H. 97 Schmidt, J. 184

Reijen, W. van

Schmidt-Bergmann,

775

Richter, G. 177-178,779 Riedel, M. 777,776 Riehl,A. 235 Rimbaud, A. 283,286 Ries,W. 770 Rist,C. 766 Ritter, H. 352 Rix,W.T. 206 Rixner,T. A. 767 Rôder-Wiederhold, L. 27,31 Rohde, E. 31,304,307 Rodin,A. 206

Rolphs, W. H.

25

Rosenthal, Albi 205,207,209 Rosenthal, Alfred 218-219 Rosenthal, M. 207,209

H.

707, 104, 105, 106,

107,108,109,110 Schnädelbach, H. 139,140 Schneede, U. M. 775 Schoeller, W. F. 275 Schopenhauer, A. 66, 69, 86, 123, 132-133, 134, 157, 161, 167, 247, 263-265, 273, 278, 292 Schützeichel, H. 56 Schwarzschild, L. 216 Schweitzer, A. 84-92, 99, 100 Schwemmer, O. 57

Schweppenhäuser, H.

705

Schwibs, B. 26 Scudiero, M. 706 Searle, J. R. 267

Seeberg, R.

94

Röttgers, K.

224 Rousseau, J.-J. 71, 164, 228, 273, 302 Rózanowski, R. 184 Russell, B. 51,765 Russolo, L. 105

Seitter, W. 42 Sen, A. 162 Shaw, G. B. 212,223 Siber,T. 767 Simmel, G. 51,94,235,259 Simon, J. 152,184,229

Saccone, A. 709 Safranski, R. 14,352 Salaquarda, J. 730, 736,142, 247, 322, 325 Salin, E. 90 Sant'Elia,A. 106 Saparède-Spir, H. 245,246 Sarfatti, M. G. 707 Sartre, J.-P. 322 Scharffenorth, E.-A. 95 Scheible,H. 188 Scheler, M. 235,243-244

Singer, W. 66 Sloterdijk, P. 55

Schelling, F. W. J. 69, 247 Schiller, F. v. 66, 187-188

Schipperges, H.

767

Schlechta, K. 776, 722, 124, 248, 349 Schlegel, F. 69

Sokrates

123,131-133,137,289,292

Sollberger 279 Sonderegger, R.

759

Soosten, J. v. 95

Spenglé, É. 220 Spirs, A. 245-268 Staats, R. 85 Stack, G. 722

Stambaugh, J. 248 Stauth, G. 235

Stegmaier, W. 215,314 Stingelin, M. 246 Stoevesandt, H. 97, 93

Stolzenberg, J.

264

361

Personenverzeichnis Stone, D. 209,210,223 Straka, B. 174,175,176 Strohm.C. 94 Suarez,A. 219 Sukale,M. 234 Tanner, K. 98 220 Baron 277 Taube, Thaïes 117-118, 123 Thiel, M. 277 Thorgeirsdottir, S. 182 Tiedemann, R. 705 Tietz,U. 73 Tille, A. 206 Tödt, H. E. 94

Tarnowsky

Tödt,I. 94,97 Tolstoi, L. 66,272 Tönnies, F. 94 Treiber, H. 776 Troeltsch, E. 85

Turgenjew, I. S.

272

Überweg, F.

767 242 Usener,H. 767

Vouillé.R. 329

Wackenroder, W. H. 7*5 Wagner, G. 235 Wagner, R. 24, 69, 129, 131, 132, 733, 134, 756, 272, 281, 282, 303-304, 311, 313 Wahrig-Schmidt, B. 767 Weber, M. 51, 69, 94, 143, 227-228, 234236,238,242,243 Weischedel, W. 254,321,325 Weiss, S. 722 Wells, H. G. 212 Wenzel, H. 777,270

Westernhagen, C. v.

220-221

Wiese, B. v. 188 Wieser, F. v. 766 Wilde, O. 212 Wittels.F. 346 Whitehead, A. N.

51 Wilhelm II 214 Wittgenstein, L. 35,51,66 Wohlfahrt, G. 124 Woolf, V 214 Wundt, W. 122

Üner.E.

Valéry, P. 51,220 Vattimo, G 142, 147 Venter, C. 53 Venturelli, A. 194 Vico, G. 58 Voltaire 66, 134, 158-160, 163, 167, 185, 220, 303-304 Vossenkuhl, W. 240

Young, J. 129,131 Zimmern, H. 221 Zinn,KG. 767

Zipprian, H.

235

Zittel.C. 171,173,181 Zschortich 277

Kursiv gesetzte Seitenzahlen beziehen sich auf den Fußnotentext.

Autorenverzeichnis

Stephan Günzel

Marco Brusotti

Hohenfriedbergstraße

6

D-10829 Berlin

Steffen Dietzsch Petersburger Platz 3 D-10249 Berlin

Schröderstraße 1 D-10115 Berlin Marie-Luise Haase

Fregestraße 74a D-12159 Berlin

Matthew Meyer Fleschgasse 15/1/3 A-1130 Wien

Renate Müller-Buck

Rappenberghalde 72 72070 Tübingen

D -

Gunter Gebauer FU Berlin Institut f. Philosophie Schwendener Straße 8 D-14195 Berlin

Gerald Hödl Hoffeldstraße 1 A 2640 Gloggnitz

Volker Gerhardt Institut für Philosophie

Mainz

Humboldt-Universität Berlin Unter den Linden 6 D-10099 Berlin zu

-

Hütig Gutenberg-Universität

Hans-Georg Pfleiderer Jacob Burckhardt-Straße 21 CH-4052 Basel

Andreas

Philosophisches Seminar Saarstraße 21 55099 Mainz

D

-

Oliver Immel

Pawel Pieniazek Ul. Legionów 32 m. 29 PL-90-701 Lodz

Annemarie Pieper Carl-Güntert-Straße 13b CH-4310Rheinfelden

Gutenberg-Universität Britta Glatzeder Human Science Center

Ludwig-MaximilianUniversität München Parmenides Center for the Study of Thinking Goethestraße 31 D 80336 München

Mainz

Philosophisches Seminar Saarstraße 21 55099 Mainz

D

Renate Reschke Schmollerstraße 9 D-12435 Berlin

-

Oliver Kloss Kreuzstraße41 D-04315 Leipzig

Sören Reuter Scheiblerstraße 19 D 12437 Berlin -

-

Autorenverzeichnis

364 Carolin von Roth Kanzowstraßel6 D-10439 Berlin

Hansgeorg SchmidtBergmann Doblerstraße 43 D 76332 Bad Herrenalb -

Walter Schmithals Homburger Straße 16 D- 14197 Berlin

Pirmin Stekeler Weithofer

Rüdiger Ziemann

Universität Leipzig Institut für Philosophie

Dorfstraße 67 D 06571 Langenroda

Augustus-Platz 9 D-04109 Leipzig Mirko Wischke Department of Philosophy

Philosophical Fakulty Palacky University Kfizkovského 12 CZ 771 80 Olomouc

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