Nietzscheforschung: BAND 3 Nietzscheforschung Band 3 9783050047003

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Nietzscheforschung: BAND 3 Nietzscheforschung Band 3
 9783050047003

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Nietzscheforschung Ein Jahrbuch Band 3

Nietzschefor schung Ein Jahrbuch Herausgegeben im Auftrag der Förder- und Forschungsgemeinschaft Friedrich Nietzsche e.V.

Volker Gerhardt und Renate Reschke von

in Zusammenarbeit mit

J0rgen Kjaer Annemarie Pieper Robert B. Pippin Vivetta Vivarelli und Patrick Wotling

Akademie

Verlag

Band 3

Drucklegung erfolgte mit Unterstützung der Lotto-Toto GmbH Sachsen-Anhalt Titelbild: Friedrich Nietzsche, von Schultze, Naumburg 1882. Foto: Sigrid Geske. Stiftung Weimarer Die

Klassik, GSA 101/21.

Redaktion: Ralf Eichberg und

Rüdiger Ziemann

CIP-Einheitsaufnahme

Die Deutsche Bibliothek -

Nietzscheforschung : ein Jahrbuch / hrsg. im Auftr. der Förder- und Forschungsgemeinschaft Friedrich Nietzsche e.V. Berlin : Akad. Verl. Erscheint jährl. Aufnahme nach Bd. 1 (1994)

-

-

Bd. 1 (1994)-

ISBN 3-05-002959-5

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1995 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der

VCH-Verlagsgruppe.

Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z.39.48 schen Norm ISO TC 46.

1984 bzw. der

europäi-

-

Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. All rights reserved (including those of translation into other languages). No part of this book may be reproduced in any form by photoprinting, microfilm, or any other means nor transmitted or translated into a machine language without written permission from the publishers. -

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Satz: Hermenau und Rasenberger, Kassel Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Printed in the Federal

Republic of Germany

-

Langensalza

Inhalt

Vorwort.

Siglenverzeichnis

.

9 11

I. Das Thema Nietzsche in der DDR -

Probleme, Hintergründe, Tendenzen

Renate Reschke (Berlin) Das Gerücht Friedrich N. Zu Innen- und massenmedialen Ansichten der der achtziger Jahre

Nietzsche-Rezeption

in der DDR

.

15

Norbert

Kapferer (Berlin) Entnazifizierung und Rekonstruktion versus Ausbürgerung Friedrich Nietzsche in der philosophischen Kultur und politischen Konstellation

Deutschlands 1945-1960. 37

II. Forum 4. Nietzsche-Werkstatt Gedichte" Renate G. Müller

(Dortmund)

Nietzsches Lyrik Vierte Nietzsche-Werkstatt André Schinkel (Halle) vorläufiges morbidum.

an

u.

Schulpforta „Friedrich Rüdiger Ziemann (Halle)

Schulpforta (30.8.-1.9.1995) nietzsche

Renate G. Müller (Dortmund) Idyllen aus Messina Versuch einer Annäherung .

.

Nietzsches

-

.

.

73 75

77

Inhalt

6 Gerd Franz Triebenecker (Berlin) Über die mimetische Funktion der Lyrik. Klaus Goch (Lübbecke)

Lyrischer Familienkosmos Bemerkungen zu Nietzsches poetischer Kindheitserfahrung Jörgen Kjaer (Àrhus) Zarathustras Nachtlied und der Dionysosdithyrambus Von der Armut

.

87

103

des Reichsten.

127

Jörn Pestlin (Berlin) Massenmedien als Teil von Rezeptions- und Nietzsche-Lyrik im Weimarer Rundfunk

147

Wirkungsgeschichte:

.

Elke Günzel (Kloster Oesede) Die versäumte Begegnung im Engadin Paul Celans Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche

.

175

Claus Zittel (Frankfurt a.M.) Abschied von der Romantik im Gedicht Friedrich Nietzsches Es geht ein Wandrer durch die Nacht.

193

Frank Lisson (Würzburg) Der Einfluß Goethes auf die

207

Lyrik

Nietzsches.

Nietzsche-Kolloquium „Nietzsche Tiefenpsychologe und Tiefenphilosoph"

4. Dortmunder

als

-

Wiebrecht Ries (Hannover) Nietzsches Beiträge zu einer

„Phänomenologie

der Liebe"

.

Christian Niemeyer (Dresden) Die Fabel von der Welt als Fabel oder Nietzsches andere Vernunft Irrtümer um eine Geschichte?.

221

233

Ralf Elm (Dortmund)

Der Wille zur Macht und die Macht der Geschichte bei Nietzsche und Heidegger.

247

Rainer Otte (Kloster Oesede) auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend ..." Körper und Sprache in Nietzsches Netz der Aufklärung.

259

„...

III. Aufsätze Peter Poellner (Coventry) Der frühe Nietzsche und die

Verklärung

Jon Stewart (Kopenhagen) Hegel and Nietzsche and the Death of

Kurt Anglet (Berlin) Friedrich Nietzsches Deus absconditus

der Natur.

Tragedy

.

.

279 293 317

IV. Berichte und Informationen Hans-Joachim Koch (Gladenbach) Herbst-Kolloquium 1995 Schwerpunktthema: „Die fröhliche Wissenschaft"

.

Uschi Nussbaumer-Benz (Uster) Bericht über The Friedrich Nietzsche Society's Fifth Annual Conference „Nietzsche and the future of the human" 16./17. September 1995.

331

335

V. Rezensionen Claus Zittel, Selbstaufhebungsfiguren bei Nietzsche. (Horn) Anne Tebartz-van Eist, Ästhetik der Metapher. (Zittel) Joachim Köhler, Friedrich Nietzsche und Cosima Wagner. (Volz). .

.

VI.

Bibliographie

343 346 352

.

357

Personenverzeichnis.

361

Autorenverzeichnis

368

.

Vorwort

Das Werk Friedrich Nietzsches gehört zu den großen philosophischen und ästhetischen Herausforderungen des modernen Denkens. Als Ausdruck einer mit unerhörter Expressivität erlittenen Existenz hat es weit mehr als bloß literarische Aufmerksamkeit gefunden: Der Autor und sein Werk sind zum Symbol der Moderne geworden. Wer einen Zugang zum Selbstverständnis des gegenwärtigen Denkens sucht, der kann einer Beschäftigung mit Leben und Werk Friedrich Nietzsches schlechterdings nicht aus dem Wege gehen. Bildung, Geist und individuelles Erleben sind hier in kunstvoller Unmittelbarkeit verbunden. In Ansprach und Widersprach bietet es das uns zeitlich immer noch am nächsten stehende Exerzitium der Selbsterkenntnis. Die philosophische Auseinandersetzung mit Nietzsche ist daher auch im Übergang vom zweiten ins dritte Jahrtausend eine Aufgabe ersten Ranges. Nietzsche selbst hat einen Umgang mit seinem Werk im Bewußtsein des „freien Geistes" gefordert. Dadurch sind hohe intellektuelle Erwartungen gestellt, die sich mit dem vom platonischen Sokrates überlieferten philosophischen Ansprach verknüpfen lassen und die Nietzsche selbst mit den Vorsokratikern in Verbindung gebracht hat. So führt bereits eine Interpretation im Bewußtsein des „freien Geistes" auf Nietzsches Verhältnis zur philosophischen Tradition. Der kritische Impuls, der sich von der Freiheit des Geistes nicht trennen läßt, wird dabei die Aufmerksamkeit vor allem auf jene Beziehungen lenken, die Nietzsche vornehmlich polemisch behandelt hat. Eine solche Aufgabe ist aber heute nicht mehr ohne historisch-philologischen Aufwand zu bewältigen. In dieser Ausgangslage bedarf es für ein Jahrbuch der Nietzscheforschung keiner besonderen Begründung, obgleich es mit den Nietzsche-Studien schon ein anderes verdienstvolles Publikationsorgan gibt. Wenn sich die Zielsetzung des Jahrbuchs stärker vom Erkenntnisansprach des „freien Geistes" leiten läßt, ist damit schon ein hinreichend deutlicher programmatischer Unterschied gesetzt. Der Schwerpunkt liegt somit im Bereich der philosophischen Nietzsche-Interpretation. Dadurch soll aber kein Thema und keine Behandlungsart ausgeschlossen sein, wenn nur der Bezug zu einer wissenschaftlichen Debatte erkennbar ist. Doch ganz unabhängig von der inhaltlichen Zielsetzung bietet die breite, weltweit geführte Nietzsche-Diskussion nicht nur genügend Stoff, sondern auch hinreichend Aufmerksamkeit für zwei in produktiver Konkurrenz publizierende Fachzeitschriften. Ein eigenständiger thematischer Akzent des Jahrbuchs der Nietzscheforschung resultiert aus der Einsicht, daß im deutschen Sprachraum eine besondere Verpflichtung zur Aufarbeitung von Nietzsches Lebensgeschichte besteht. Die verweist nun einmal, trotz der unsteten europäischen Wanderschaft des Autors, auf die Stätten seiner Kindheit und Jugend. Nietzsche hat die Beziehung zu seiner Familie im Landstrich zwischen Röcken, Naumburg und Weißenfels niemals abgebrochen. Als entpflichteter Baseler Professor hat er es für möglich -

Vorwort

10

gehalten, an seinen Studienort Leipzig zurückzukehren. Und als Kranker wurde er nach Jena und Naumburg überführt. Die letzten Jahre verbrachte er in Weimar, wo seine Schwester

ihn in Szene setzte und wo heute endlich wieder das Archiv mit seinem Nachzugänglich ist. Die geographische Nähe und die unmittelbare Beziehung zur deutschen Sprache sollten zu einer besonderen Aufmerksamkeit für Herkunft und Lebensumfeld Nietzsches führen freilich ohne daraus eine provinzielle Selbstbehauptung werden zu lassen. Nietzsches Werk hat europäischen Zuschnitt, und es wird ohne Rücksicht auf Ländergrenzen diskutiert. Darin liegt nicht nur eine Chance, sondern auch eine besondere Herausforderung für die Nietzsche-Forschung in Deutschland. Das Jahrbuch der Nietzscheforschung wurde von der 1990 als eine der ersten neuen gesamtdeutschen Vereinigungen entstandenen „Förder- und Forschungsgemeinschaft Friedrich Nietzsche" (FFGFN) begründet. Die ersten beiden Bände wurden vom Vorstand der Gesellschaft unter dem Titel Nietzscheforschung. Eine Jahresschrift herausgegeben. Vom vorliegenden dritten Band an werden Renate Reschke und Volker Gerhardt (beide HumboldtUniversität, Berlin) die Edition im Auftrag der FFGFN übernehmen. Als Mitherausgeber wirken mit: Patrick Wotling (Paris), Annemarie Pieper (Basel), Robert B. Pippin (Chicago), Jörgen Kjaer (Àrhus) und Vivetta Vivarelli (Florenz).

den Kult

um

laß frei

-

Berlin, im September 1996

Renate Reschke Volker Gerhardt

Siglenverzeichnis

Werkausgaben Werkausgaben

nach den Kritischen

Werk-/Briefausgaben

von

Montinari, Berlin/New York 1967 ff. und 1980. KGW KGB KSA KSB

-

-

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Kritische Kritische Kritische Kritische

Giorgio

Gesamtausgabe, Werke Gesamtausgabe, Briefe

Studienausgabe, Studienausgabe,

Werke Briefe

-

Siglen einzelner Werke AC BA CV DD DS

-

-

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-

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DW EH FW GD GG GM GMD GT HL

-

-

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-

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IM

JGB M MA NF NW

-

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Der Antichrist Über die Zukunft

unserer

Fünf Vorlesungen

zu

Bildungsanstalten ungeschriebenen Büchern Dionysos-Dithyramben David

Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller

(Unzeitgemäße Betrachtungen 1) Die dionysische Weltanschauung Ecce homo Die fröhliche Wissenschaft

Götzen-Dämmerung Die Geburt des tragischen Gedankens Zur Genealogie der Moral Das griechische Musikdrama Die Geburt der Tragödie

Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben

(Unzeitgemäße Betrachtungen 2) Idyllen aus Messina

Jenseits

von

Gut und Böse

Morgenröthe Menschliches, Allzumenschliches (I und II) Nachgelassene Fragmente Nietzsche contra Wagner

Colli und Mazzino

12

PHG SE

Siglenverzeichnis

-

SGT ST VM WA WB

-

-

-

-

-

WL WS ZA

Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen Schopenhauer als Erzieher (Unzeitgemäße Betrachtungen 3) Sokrates und die griechische Tragödie Sokrates und die Tragödie Vermischte Meinungen und Sprüche Der Fall Wagner Richard Wagner in Bayreuth (Unzeitgemäße Betrachtungen 4) Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne Die

-

-

-

-

Der Wanderer und sein Schatten Also sprach Zarathustra

I. Das Thema Nietzsche in der DDR: Probleme, Hintergründe, Tendenzen

Renate Reschke

Das Gerücht Friedrich N. Zu Innen- und massenmedialen Ansichten der Nietzsche-Rezeption in der DDR der achtziger

Jahre*

„Jede Gesellschaft hat die Tendenz, ihre Gegner bis

zur

Carikatur

auszuhungern, stellung."

herunterzubringen zum

sam

und gleichMindesten in ihrer Vor-

-

Friedrich Nietzsche

(NF)

„Wenn wir über Jemanden umlernen müssen, so rechnen wir ihm die Unbequemlichkeit hart an, die er uns damit macht." Friedrich Nietzsche (JGB)

Philosophia

non

grata

Das Gerücht Friedrich N.: So heißt ein Nietzsche-Bild (Abb. 1) des (Ost-)Berliner Malers und Philosophen Rolf Xago Schröder. 1982 entstanden, im Umkreis anderer Arbeiten mit beziehungsreichen und aussageintensiven Titeln wie Demaskierter Augenblick, In windstiller

oder Voranschreitender Schatten, ist es im eigentlichen Sinne ein Doppelporträt. Dem das Bild zentrierenden Kopf Nietzsches im Seitenprofil (mit den markanten Erkennungsmerkmalen) in braun-beige Tönen und im eigenartigen Licht, den Blick klar aus dem Bild gerichtet, ist der gleiche Kopf noch einmal, seitlich nach rechts unten versetzt, vorgelagert, in schwarz-grau und düster, die Augen als blicklose Höhlen, mephistophelischdämonisch, unwirklich, bedrohlich, als Fragment nur der oberen Gesichtspartie, ohne Mund und ohne die Ikonographie des Bekannten, verfremdet, sich verflüchtigend und zugleich festgestellt als Menetekel, als immerwährende Fama, als Gerücht, das die Wirklichkeit überlagert, als surreale Traumsequenz und als Trauma aus der Geschichte des deutschen Geistes, ein Gespenst, wie sich gezeigt hat und zeigt, offensichtlich mit Resistenz und '

Konfrontation

-

-

Wiederkehr.

*

auf der Jahreshauptversammlung 1995 der Förder- und Forschungsgemeinschaft Friedrich Nietzsche e.V., Halle/Saale am 15. Oktober 1995. 1 Das Bild befindet sich in Privatbesitz; es ist entstanden anläßlich meiner Arbeit an der Habilitation zum Thema Die anspornende Verachtung der Zeit. Studien zur Kulturkritik und Ästhetik Friedrich Nietzsches. Ein Beitrag zu seiner Rezeption (1978-1982); siehe R. X. Schröder, Malerei. Werkverzeichnis 1964-1987, Berlin 1988.

Vortrag

Renate Reschke

16

Abb. 1 Rolf Xago Schröder, Das Gerücht Friedrich N. (Pastell, 1982: Privatbesitz)

Dieses Bild gibt eigenwillig Auskunft weniger über Nietzsche selbst als über seine historisch lädierte Präsenz im deutschen Land DDR der achtziger Jahre. Es faßt zusammen, wozu der Philosoph (gemacht) geworden ist durch angestrengte und konsequente ideologische Diffamierung. Die metaphorische Intensität, die subtilen Anspielungen assoziieren einen bildgewordenen Mangel, machen, mit einer dem Maler charakteristischen leisen Ironie dem Gegenstand, der Situation und sich selbst gegenüber,2 transparent, wie sehr der unterlassene philosophische Streit um Nietzsche letztlich nur denen geschadet hat, die ihn nicht führen wollten, die geglaubt haben, sich seiner durch Nichtbeachtung und denkerische Arroganz oder durch Verteufelung entledigen zu können. Es treibt aber auch die Einsicht ins Bewußtsein, daß Auseinandersetzung und differenzierende Sicht sich nur über ein Sich-Einlassen auf die Spielregeln des Dialogs, des Ernstnehmens des (geistigen) Gesprächspartners, einstellen. Beides besaß in Sachen Nietzsche in der DDR seitens der Philosophie zu keiner Zeit denkerischen Wert und Methode. Der hermetische Zugriff nach dem Zuschnitt G. Lukäcs' hat alle kritische Potenz im Umgang mit dem Philosophen ausgetrieben, hat ihn zum Popanz werden lassen, an dem man sich in der eigenen historischen Größe ungestraft zu profilieren „Ich will mich nicht total in die Spur dessen setzen, mit dem ich spreche, sondern mache meine Spur parallel dazu. So ist es auch mit der Geschichte. Sonst müßte ich in die Wissenschaft oder die Geschichtsschreibung. Ich brauche die 51 Prozent Mehrheitsbeteiligung meines subjektiven Faktors beim Joint venture mit der Geschichte"; Gespräch mit R. X. Schröder, angebote. organ für ästhetik 3 (Berlin 1990), 78.

Das Gerücht Friedrich N.

17

Jede Ideologie gebiert ihre Ungeheuer, jedes Totschweigen seine Gerüchte. Daß Gerüchte (um im Bild zu bleiben) einmal in die Welt gesetzt ihr eigenes Leben entwikkeln und zählebig sind, daß ihrer Logik und Wahrheit nicht zu entgehen ist, hätten die orthodox-marxistischen Protagonisten des Verschweigens und der Verdammung wissen müssen. Und noch eines hätte ihnen nicht unbekannt sein sollen: Totgesagte leben nicht nur länger, ihre Lebenskraft trifft vor allem ihre Totsager selbst. Wolfgang Harichs, mit Imperatorengeste vorgetragener, Versuch der Auslöschung: „Ins Nichts mit ihm!"3 aus dem Jahre 1987 kann als der extreme Ausruf eines derartigen Ressentiments angesehen werden. Aber man täusche sich nicht! Es hätte zu jedem anderen Zeitpunkt ausgesprochen werden können und auch von anderen. Daß es noch nach der Mitte der achtziger Jahre offizielle Öffentlichkeit beanspruchen konnte und besaß, dies war das eigentlich Schlimme und Betroffenmachende der Situation. Daran hat auch nur bedingt die Tatsache etwas ändern können, daß Harichs böse Empfehlung auf gemäßigten und vor allem wohldosierten und (offiziell genehmigten) gelenkten Widersprach gestoßen ist. Das Stigma einer von der ideologischen Führung gestatteten Kampagne hat der in der Zeitschrift Sinn & Form als Reaktion 1988 geführten Diskussion von vornherein und gewollt jede Radikalität und Souveränität genommen bzw. sie domestiziert. Eine vorsichtige Zurückweisung der schlimmsten Ausfälle Harichs und die Konturen einer differenzierteren NietzscheKritik verblieben wie selbstverständlich im polemischen Grandton gegen den von Harich Kritisierten oder in Wertestereotypen einer grundsätzlichen ideologischen Ablehnung. Nicht die Kriterien des Dissenses wurden reflektiert, sondern ihre ideologie-imageschädigenden Entgleisungen. Ratlosigkeit erwies sich noch als die redlichste Form der Kritik. Doch die diktatorische Selbstherrlichkeit und das Inquisitionsgehabe waren der letzte Nagel am Sarge der Orthodoxie. Harichs Verdikt, eine „Gesellschaft [könne] kulturell kaum tiefer sinken, als wenn sie die Kenntnis seiner Eleborate [Nietzsches] zu den Kriterien ihrer Allgemeinbildung rechnet",4 hat sich gegen die ideologischen Eiferer und Tempelwächter selbst gerichtet. Der Verfall der geistigen Kultur des Marxismus in der DDR ging zu einem guten Teil auf das Konto dieses Verzichts, sich an den bedeutendsten und widersprüchlichsten Gestalten der Geschichte und des Geistes zu messen. Die Unfähigkeit und der Unwillen, unbequemes Denken anzunehmen als Provokation, von der alle profitieren, hat, als Resultat der Permanenz der Jahrzehnte, zu einem philosophischen und intellektuellen Notstand geführt, für den der Umgang mit Nietzsche nur stellvertretend, exemplarisch und die Spitze eines Eisberges war. Ein anderer Kardinalfall ideologischen Ressentiments war paradoxerweise der Umgang mit Georg Lukács.5 So war auch Harichs Forderung von 1988, das Grab Nietzsches an der Röckener Pfarrkirche zu schleifen,6 keineswegs nur die Entgleisung eines extremen Hardliners, sondern das I-Tüpfelchen zu einer gesamten ideologischen

gedachte.

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3 W. Harich, „Revision des marxistischen Nietzsche-Bildes?", Sinn & Form, H. 5 (1987), 1053; der Aufsatz war eine Reaktion auf einen Beitrag von H. Pepperle, „Revision des marxistischen NietzscheBildes?", Sinn & Form, H. 5 (1986). 4 W. Harich, „Revision", 1036. 5 Eine erste umfassende Dissertation zum Thema hat jetzt Mathias Marquardt vorgelegt: Georg Lukács in der DDR. Muster und Entwicklung seiner Rezeption. Der Grundriß eines Paradigmas, Berlin (Humboldt-

Universität) 1996.

Forderung, die in der Nach-Wende-Diskussion unrühmlich Karriere gemacht hat und anderen Philosophen, so Hans-Martin Gerlach, zugeschrieben worden ist, um auf neue, andere Weise ImageDemontage schlagkräftig und wirksam zu betreiben.

6 Eine

Renate Reschke

18

Denk(Schief)lage, der, von den gemäßigteren marxistischen Philosophen, nur mit mehr oder weniger schlechtem Gewissen und nicht konsequent und laut genug widersprochen worden ist. Harich hat diese Forderung peinlich-selbstbewußt auf einer internen Tagung der Akademie der Wissenschaften der DDR vor Philosophen zum Thema „Friedrich Nietzsche und die Folgen" aufgestellt; zugleich hat er es als größten kulturpolitischen Fehler der DDR gewertet, den Nietzsche-Nachlaß in Weimar nicht für Devisen

ans interessierte Ausland verkauft zu haben. Die Tagung sollte ideologische Schadensbegrenzung bewirken, vor allem allerdings erfolglos Einheitlichkeit in den Hauptthesen der Ablehnung beschwören. Und dem schwarzen Fleck auf der weißen Weste der Ideologie sollte durch eine kosmetische Behandlung die unschöne Radikalität genommen werden. Eine institutionalisierte Form denkerischer Nötigung als systemtypisches Ritual und als Beruhigung gegen den Schreck der sie bestimmenden zutagegetretenen Wahrheit. Nietzsche war im marxistischen philosophischen Diskurs ein Un-Denker, eine Un-Person, ein Un-Geist im offiziellen und öffentlichen gesellschaftlichen Bewußtsein. Kritische Würdigung hat letztlich nicht stattgefunden: „Mit Nietzsche umgehen, hieß in der DDR grundsätzlich" so hat es Wolfgang Müller-Lauter als aufmerksamer und kenntnisreicher Beobachter auf den Punkt gebracht, „ihn nach Möglichkeit umgehen, wenn mir das Wortspiel gestattet ist, jedenfalls aber immer kritisch Abstand von ihm halten. Der Philosoph zählte zum schlechten Umgang', vor dem man die Bürger seines Landes zu bewahren hatte".7 Die Stätten seines Lebens und Wirkens blieben im wesentlichen unbeachtet und ohne denkmalschützerische Aufsicht, sein Werk nur in Bibliotheken und lange Zeit allein mit Sondergenehmigungen zugänglich. Seine Wirkungsgeschichte war ein für alle Male festgelegt auf die (geistige) Vorläuferschaft zum Nationalsozialismus und damit zum faschistoiden Gedankengut; ihre scheinphilosophische und massenmediale Realisation lag im Bereich von Kolportage und Legende. Manchmal jedoch fand sich sein Name unreflektiert in unerwarteten trivialen Bereichen: als Trostspender auf Kondolenzkarten des Planet-Verlages, als gesuchter Philosoph in Kreuzworträtseln. Als Sprüchegeber und Zitatenlieferant hatte er quasi eine „freie Mitarbeiterstelle" im allseits beliebten (und nur im Abonnement oder unter dem Ladentisch erhältlichen) Monatsheft Magazin (das mit dem Klemke-Kater als Markenzeichen und immer mit weiblichem Aktphoto) für die Rubriken „Frauen", „Eheberatung" und „Erotik". Hier erwiesen sich des Philosophen Schriften als schier unerschöpfliches Reservoir. Die inhärente Ironie erschloß sich wohl nur den wenigsten Lesern. Seine wenn überhaupt Bedeutung allerdings lag im Ideologisch-Instrumentellen, im großdimensionierten Feindbild. Als eigenständiger Denker kam er in den Diskursen nicht vor. Die kritische Dimension seines Denkens blieb unberücksichtigt. Ihr gegenüber ließ sich keine Frontlinie entwickeln. Denis Sweet als kritischer Kommentator von außen hat es 1984 so resümiert: „The attempt has never been made in the GDR to analyze Nietzsche's works as such. Nietzsche hermeneutics has always been a subordinate part of a larger process: a functional analysis of the part his thought has played and continues to play in the formation of the ideology of the bourgeois state."8 Das Werk spielte immer nur eine unter-

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Müller-Lauter, „Über den Umgang mit Nietzsche", Vortrag auf der Gründungsversammlung der „Förder- und Forschungsgemeinschaft Friedrich Nietzsche e.V." am 15.11.1990 in Halle. 8 D. Sweet, „Friedrich Nietzsche in the GDR: A Problematic Reception", Studies in the GDR Culture and

7 W.

Society, Bd. 4 (Selected Papers from the Ninth New Hampshire Symposium on the Republic), hg. v. M. Gerber u. a.. University Press of America 1984, 227.

German Democratic

Das Gerücht Friedrich N.

19

geordnete Rolle innerhalb eines größeren Prozesses bürgerlicher Ideologieformierung. Nietzsche geisterte durch die Diskurse als der, dessen Denken, gegenüber dem marxistischen, als Lichtjahre entfernt und historisch anachronistisch galt und der sich verantwortlich machen ließ für buchstäblich alles Mißglückte in der Geschichte. Und mehr noch, für alles Mißglückende auch in der Gegenwart. Noch Ende 1989 bereits nach der Wende gab die Süddeutsche Zeitung Harichs Verdacht kommentarlos wieder, der alle jene, die in Sachen Nietzsche jenseits der gestattenden Ideologie standen, als Gedanken-Zulieferer z. B. für mafiose „Fascho"-Geheimbünde denunzierte.9 -

Warum

-

ausgerechnet den?

Jede Philosophie ist in modernen Gesellschaften so präsent, wie sie in die Interessenfelder ihrer medialen Vermittlungen gerät. Und als Un-Denker war Nietzsche widersprüchlich präsent, ideologisch massenwirksam, ein Monstrum an Antihumanismus, Unmoral, Kriegslüsternheit, Antidemokratismus, Antisozialismus und als willkommener Apologet jeder Art von Machtverfallenheit. Ein Glücksfall für die orthodoxe marxistische Ideologie sozusagen. Wie kein anderer schien er sich zu eignen für eine massive historische und perspektivische Image-Demontage bürgerlichen Denkens. Und diese wurde gründlich betrieben. Einige Beispiele aus Tages- und Wochenzeitungen (Neues Deutschland, Wochenpost) und dem Rundfunk (Radio DDR) sollen im folgenden mosaikartig ein Bild der Nietzsche-Rezeption in den Massenmedien der achtziger Jahre entwerfen, in ihrer erstaunlich monotonen Vielfalt an Grautönen, der liebsten Farbe auf der Palette ideologischer Abwehr. Im Dezember 1982 erschien in der renommierten Zeitschrift Wochenpost ein ganzseitiger Artikel von Hans Bergmann mit dem Titel Warum ausgerechnet den?; gemeint war Nietzsche, Gegenstand der Kritik war die beobachtete „Nietzsche-Renaissance in der BRD", der Titel spielte auf einen Beitrag von Hartmut Lange in der Zeitung Die Welt an, den dieser Warum Nietzsche heute so aktuell ist überschrieben hatte.10 Bevor der Leser auch nur eine Textzeile zur Kenntnis genommen hatte, wußte er bereits, worum es geht. Zwei Photos wiesen den unmißverständlichen ideologischen Weg, ein Porträtphoto Nietzsches das berühmte aus dem Jahre 1882/83 und ein Photo jugendlicher Demonstranten in Stuttgart mit Protestplakaten „Geld für Arbeitsplätze statt für Atomraketen!" und „Kindergeld statt Atomraketen!" Der Begleittext dazu lautete: „Die hier mitmarschieren, werden von den Wiederentdeckern Friedrich Nietzsches verunglimpft, da sie angeblich das ,soziale Engagement zur Modeethik verkommen' lassen".11 Im eigentlichen Beitrag erhielt die Frage nach dem Warum des Interesses an Nietzsche eine einfache, ideologisch geradlinige Antwort: „Wohl kein Philosoph zuvor hat den Wunsch der Ausgebeuteten nach sozialem Glück, nach einer Welt ohne Not und Ausbeutung mit derart gehässiger Verächtlichkeit bedacht." Aus der Sicht des Autors wurde Nietzsche zum Steuer-Instrument sozialer und politischer Energien, sein Denken zum Reservoir geistiger Attacken gegen sozialistische Alternativen und zur -

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9 10 11

Süddeutsche Zeitung vom 23.11.1989, 17. H. Bergmann, „Warum ausgerechnet den? Zur Nietzsche-Renaissance in der 50 (1982), 17. Ebd.

BRD", Wochenpost,

Nr.

Renate Reschke

20

Sicherung kapitalistischer Macht: „Es muß [...] darauf verwiesen werden, daß die imperialistische Polemik gegen die ,soziale' Komponente des kapitalistischen Staates, der Ruf nach dem Abbau aller erkämpften sozialen Sicherheiten, in Nietzsche einen ihrer geistigen Vorreiter hat." Mit seinem „reaktionäre[n] Pathos" ließe sich die „Machtballung in den Händen weniger [als] ein .natürliches' Ordnungsprinzip" deklarieren und jeder Versuch einer Änderung als ,,antikulturelle[s] Unterfangen" diffamieren. Die Diskriminierung politischen Widerstandes war für den Autor der folgerichtige Abschluß einer solchen Gedanken- bzw. Interpretationskette. Der Hinweis, die „wissenschaftliche Redlichkeit" (!) verlange es, auch den entlarvendsten Gedanken Nietzsches nicht zu verschweigen, den seiner unbedingten Kriegsverherrlichung, sollte auch die letzten abschrecken, die vielleicht den Kulturkritiker Nietzsche kannten. Sich selbst sprach Bergmann ohne Skrupel wissenschaftliche Redlichkeit zu, die er mit Stolz an seine ideologische Wertung kettete. Alle, die Nietzsche anders gesehen haben und sahen, wurden in zwei gleichermaßen negative Kategorien eingeordnet: „In dieser Philosophie lag eine ungeheure Verführungskraft für diejenigen, die auf Grund ihrer sozialen Privilegien und angemaßten Führerschaft' aus der ,Masse' herausgehoben

sein wollten. Der in aphoristisch-brillanten Stil gekleidete Antidemokratismus Nietzsches begeisterte und begeistert anarchistische Wirrköpfe wie auch Faschisten." Das Zusammendenken dieser beiden Gruppen ist verräterisch und entlarvend zugleich. Kein Wort darüber, daß fast die gesamte europäische und deutsche künstlerisch-kulturelle Avantgarde in diesem Jahrhundert an seinem Denken partizipiert hat, kein Wort darüber, daß immer auch linke Philosophie von Ernst Bloch bis Theodor W. Adorno, von Bertolt Brecht bis Walter Benjamin seinem Denken kritische Aufmerksamkeit bezeugt hat und ihn in die Ahnengalerie großer Aufklärer aufgenommen wissen wollte, daß sie es waren, die die Differenz notorisch gemacht haben zwischen Nietzsche und seiner ideologischen (rechten) Nachfolge und Inanspruchnahme. Wenn Bergmann der sogenannten Nietzsche-Renaissance vorwirft, sie ,,hausier[e] sozusagen mit einem Gerippe", die Wiederentdeckung des Philosophen sei selektiv, so trifft dieser Vorwurf mit verkehrendem Vorzeichen den Autor ebenso massiv. Ideologen buchstabieren den Geist in der Regel falsch. Und sie unterschätzen ihn folgenreich: „In Nietzsches Gedankenwelt einzudringen [sei] weniger aufwendig", als in Welch „die sonst üblichen komplizierten Systeme deutscher bürgerlicher ein Irrtum, der verhängnisvoll ideologisch Karriere gemacht hat. Radio DDR (Studio 80) hatte in seinem Bildungsprogramm seine Hörer bereits 1980 auf die Nietzsche-Welle aufmerksam gemacht und gewarnt, ihrem Sirenen-Gesang zu erliegen. Eberhard Fromm war dazu eigens ins Alltagsbewußtsein seiner Hörer (herab)gestiegen und hatte seinen Vortrag mit einer Frage begonnen, von der er meinte, die Hörer würden sie sich stellen, weil der Name Nietzsche für sie nicht selbstverständlich in dem Zusammenhang stünde, den der Referent herzustellen gedachte und der der offiziellen Ideologie entsprach:

Philosophen".12

„Wenn ich heute im Rahmen der kritischen Betrachtungen zur Politik und Ideologie des

gegenwärtigen Konservatismus über Friedrich Nietzsche spreche, dann ergibt sich für Sie vielleicht die Frage, was denn dieser bürgerliche Philosoph des 19. Jahrhunderts mit dem Konservatismus- und noch dazu dem

gegenwärtigen

zu -

12

H.

Bergmann, „Warum ausgerechnet den?",

17.

tun

hat. Vielleicht erinnert sich

Das Gerücht Friedrich N.

21

der eine oder andere von Ihnen an solche Bezeichnungen für Nietzsche wie ,Dichterphilosoph' oder an seine enge Beziehung zu Richard Wagner. Oder Ihnen fällt das NietzscheWort ein ,Gott ist tot', mit dem ihn manche Interpreten zum führenden Atheisten stempeln wollen. Vielleicht kennen Sie auch nur den berühmt-berüchtigten Aphorismus ,Du gehst zu Frauen? Vergiß die Peitsche nicht'."13 -

Das Aufrufen dieser gängigen Klischees erfolgte keineswegs, um sie aufzubrechen; vielmehr sollten diese als geradezu harmlos sich erweisen und der Hörer, der ihnen anhing, als arglos angesichts der Botschaft, die der Sendung zugrundelag. Zwar nahm Fromm das Bild von der ,,buntschimmernde[n], vielfach ausdeutbare[n] Gestalt der Philosophiegeschichte"auf und bestätigte ihren „nachhaltigen Einfluß auf das geistige Leben der bürgerlichen Gesellschaft", zwar bestimmte er den Philosophen als scharfen Kritiker der Krisenphänomene der modernen bürgerlichen Kultur und dies mit den seit Franz Mehring bekannten Argumenten: „Er wirft der Bourgeoisie Schwäche vor, er weist auf die Gefahren hin, die aus der revolutionären Arbeiterbewegung erwachsen, um daraus dann seine Forderung nach dem Willen zur Macht' und zur Herrschaft der Elite abzuleiten"-, das Symptomatische an Nietzsche waren jedoch für ihn sein lebensphilosophischer Irrationalismus und Mystizismus, „die einen bestimmenden Platz in Nietzsches Philosophie einnehmen", und die sie in Verbindung mit dem besonderen aphoristischen Stil zur (mit Stefan Odujew) „Sammelideologie für die reaktionärsten Bestrebungen" werden lassen; soweit vorgeschritten, ließ sich der Philosoph in das markante Klischee vom ideologischen Gegner par excellence verwandeln, konnte sein Denken zum Aufweis werden für die Machtbesessenheit und Unfähigkeit bürgerlichen Denkens, den geistigen und realen Konflikten des 20. Jahrhunderts Bewegungs- und Lösungsformen zu formulieren: „So wie Nietzsche lehnen die konservativen Ideologen der Gegenwart objektive Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklung ab und wenden sich gegen die Idee von der Gesetzmäßigkeit des gesellschaftlichen Fortschritts." Die interne Militanz Nietzscheschen Denkens biete eine „echte Alternative zu [...] Revolutionshoffnungen" aller Art. So war der Popanz aufgebaut, gegen den sich mit Notwendigkeit vorgehen ließ. Und gegen seine kritischen Sympathisanten. Wer von dieser Argumentation nicht überzeugt war, dem gab der Autor zwei Eintragungen aus den Tagebüchern von Leo Tolstoi mit auf den Weg, von der die aus dem Jahre 1900 die bezeichnendste, weil potentiell und unterschwellig auch den kritischen Hörer diffamierende, war: „Was für eine Gesellschaft muß das sein, die einen solchen Verrückten, und zwar gefährlich Verrückten, als Lehrer anerkennt?"14 1982 und 1984 erschien der Name Nietzsches auch im Zentralorgan der SED Neues Deutschland in Untertiteln zu Generalabrechnungen mit dem modernen Konservatismus. Von Ludwig Elm ein Grundsatzartikel mit der Überschrift Ideologische Weihe für Hochrüstungspolitik: Der Konservatismus zeigt wieder sein wahres Gesicht (Untertitel: Sammelbecken militaristischer und entspannungsfeindlicher Kräfte / Rückgriff auf Nietzsche und und von Eberhard Fromm ein Bericht über den VI. Spengler / Machtstreben Philosophenkongreß der DDR unter dem Thema Konservatismus Absage an Frieden und Menschenwürde. Philosophie der Krise und der Antihumanismus heute (Untertitel: Wieder -

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,

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verherrlicht)15

-

13 14 15

Radio DDR (Studio 80), Manuskript der Sendung (Februar 1980), 1. Ebd., 3. L. Elm, „Ideologische Weihe für Hochrüstungspolitik: Der Konservatismus Gesicht", Neues Deutschland vom 10./11. April 1982, 10.

zeigt wieder sein wahres

Renate Reschke

22

aktuell: Nietzsches .Nein, wir lieben die Menschheit nicht... ').16 Elm attackierte US-amerikanische und westeuropäische„Denkfabriken", in denen rechtskonservativesGedankengut der

Konfrontationspolitik der großen Weltlager zur Verfügung gestellt wurde,

vom

„Hoover-

Institute" bis zur „Konservativen Aktion"; er nahm Polit-Zeitschriften aufs Korn mit offensichtlich rechtskonservativen Leitsätzen vom Deutschland-Magazin über die Nouvelle Ecole bis zu Public Interest und Foreign Policy, und er benannte die exponiertesten Vertreter der neuen Rechten von Daniel Bell und Alain de Benoist bis Armin Mohler und Hans Dietrich Sander. Die gefährliche Grundtendenz sah der Autor in einer dramatischen Abnahme der ideologischen Hemmschwelle gegenüber allen Versuchen politisch-vernünftiger Diskurse zwischen den Weltanschauungen und in der Zunahme aggressiven Denk- und Realpotentials gegenüber dem sozialistischen Weltsystem. Der Text hätte gut ohne Nietzsche auskommen können. Daß er aber gerade in der Mitte der Argumentation kursorisch eingeschaltet wurde, war nicht ohne Bedeutung: „Mit der konservativ-militaristischen Mobilisierung werden reaktionärste geschichtsphilosophische Richtungen und Schulen wieder verstärkt, die bereits im vorigen Jahrhundert konterrevolutionärer Politik die ideologische Weihe gaben." Nietzsches Name verbürgte geradezu die latente Gefährlichkeit in progress; er wurde zum Prediger der „Unentbehrlichkeit des Krieges für die Menschheit" und war dadurch verantwortlich zu machen auch für die Kriegs(Gedanken-)verfallenheit des Neokonservatismus. Den Artikel flankierte eine der ganz wenigen Polit-Karikaturen Nietzsches aus marxistisch-ideologischer Sicht (Abb. 2). Zusammen mit Oswald Spenglers ausgestrecktem Arm (beide halten jeweils ihre Bücher Der Untergang des Abendlandes bzw. Der Wille zur Macht als Erkennungsund Markenzeichen vor) bildet Nietzsche mit seinem Arm eine Art Schaukelhalterung, an der merkwürdig gnomenhafte Wesen auf einer Schaukel im Auftrieb sitzen und ihrerseits mit eindeutigen Erkennungssymbolen ausgestattet sind: Germanenhelm, Schwert und Schild, NATO-Stern auf Zeitungspapiermütze, Zeitschriften um sich werfend bzw. den geöffneten Mündern entströmend mit den einschlägigen Namen; Harald Kretschmar titelte einfallslos, aber ganz auf der Linie offizieller Stoßrichtung: Ein ungeahnter Aufschwung11 Eberhard Fromms Kongreßbericht zwei Jahre später war nach gleichem Muster geschrieben. Auch er wäre, auf den Gegenstand bezogen, ohne Nietzsche nicht aussageärmer. Auch er instrumentalisierte den Namen und die anhängenden Assoziationen, um die Kontinuität konservativen Denkens als Symptom einer tiefgreifenden Krise zu legitimieren und zu attakkieren und Nietzsche zugleich durch diese Kontinuität denkerisch zu diskreditieren: -

„In einer solchen Philosophie finden Fragen des Humanismus immer weniger Platz, ja es

ist ein regelrechtes Aus- und Zurückweichen vor Grundproblemen humanen Denkens und Handelns festzustellen. Dieser Prozeß begann schon frühzeitig [...] Die Attacken, die vom philosophischen Irrationalismus seit Friedrich Nietzsche [1844-1900] gegen die Ideendes Humanismus geführt werden, verschärften sich ständig und wuchsen an."

Nietzsches Umwertung der Werte wird lichen Philosophie:

16

paradigmatischen Ausdruck

einer unmensch-

E. Fromm, „Konservatismus Absage an Frieden und Menschenwürde. Philosophie der Krise und der Antihumanismus heute", Neues Deutschland vom 17./18. November 1984. H. Kretschmar, „Ein ungeahnter Aufschwung", Neues Deutschland vom 10./11. April 1982. -

17

zum

23

Das Gerücht Friedrich N.

Abb. 2 Harald Kretschmar, Ein

ungeahnter Aufschwung (in:

Neues Deutschland

vom

10./11.

April 1982).

„Die Ablehnung von ,Menschheit' als Verpflichtung und Verantwortung, die Umwertung der Menschlichkeit in .schwächliches Mitleid', die Entstellung des Menschen als Krankheit' der Erde all das hat dazu geführt, daß Humanismus, Humanität und humanitär in der bürgerlichen Philosophie vorwiegend eine negative Prägung erhalten haben." -

Nietzsche habe quasi den philosophischen Startschuß gegeben für die Legitimation jeder Absage an die Humanität, er wurde zum Anwalt der Unmenschlichkeit schlechthin gestempelt, ohne zu fragen nach den kritischen Gehalten, nach den historischen Kontexten, ohne Nietzsche selbst zu Wort kommen zu lassen, außer in isolierten und dadurch verzerrenden Zitatkompilationen. Aber es kam auf Nietzsches Wort eigentlich auch nicht an; es ging um Grenzziehungen gegen konservatives und politisch rechts-wirksames Gedankengut, es ging um Frontensicherstellung in der ideologischen und gesellschaftlichen Realität zwischen Kaltem Krieg und der Hoffnung auf eine Koalition der Vernunft. Und es ging vielmehr um jene, die ihn lasen und (möglicherweise) zu anderen Einschätzungen kamen als die offizielle Ideologie. Der erste Satz fragte nicht nur rhetorisch:

„Kann man sich heute irgendwo in der Welt jemanden vorstellen, der so offen, wie es noch Friedrich Nietzsche tat, von sich sagt: Ich bin ein Antihumanist? Oder: ,Nein, wir lieben die Menschheit nicht...'? Kann es eine wirkungsvolle politische Bewegung geben, in der der Antihumanismus so offen verkündet wird? Das scheint heute kaum möglich. Dennoch ist nicht gerade in den achtziger Jahren so manche schöne Maske gefallen?"; -

Renate Reschke

24

die hinter den Masken vorkamen, waren nicht nur, so der untergründige Tenor der Frage, die dann im Text offengelegten Rechtskonservativen. Die Richtung der Kritik, einschließlich die der Frage eingeschriebenen pejorativen Invektiven, ging auch auf die Andersdenkenden im eigenen Land, im marxistischen Weltanschauungsverbund, dessen Reinheit vor Nietzsche ausdrücklich zu schützen war. Gleich einer Wagenburg wurde die Verteidigung aufgebaut als Angriff gegen den vermeintlichen (geistigen) Anstifter, um alle jene zu treffen, die sich, aus welchen unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Gründen auch immer, auf ihn bezogen. Der Name Nietzsche machte in orthodoxer Sicht alle Differenzen zunichte und unwichtig, er machte alle gleich und zu Rebellen gegen das marxistische Weltbild. Und die wurden mit dem Vorwurf und Attribut des Antihumanen als einer Art Kainsmal hinreichend bezeichnet, eingekreist und abgestempelt.18 Die Kontinuität der Abwehr erfolgte im ideologisch abgestimmten tutti unisono der Medien. Vier Jahre (1986) nach ihrem ersten Artikel zur Nietzsche-Welle, erschien in der Wochenpost erneut, dieses Mal ein zweiseitiger Beitrag über die Nietzsche-Renaissance in der Welt des Imperialismus von Heinz Malorny. Der Haupttitel Jenseits von gut und böse?19 sprang dem Leser in großen grünen Lettern ins Auge. Und die Photos. Die publizistisch-wirksame Methode der Text-Bild-Koppelung wurde beibehalten. Fünf Photos waren es. Auf der einen Seite Friedrich Nietzsche (nach einem Holzschnitt von Moritz Klinkicht) und ihm gegenüber Alain de Benoist, der Chefdenker der französischen Neuen Rechten; die Photos waren so plaziert, daß beide Männer sich ihr Profil zuwandten und quasi durch fiktiven Blickkontakt ihren Zusammenhang zur Schau stellten. Auf der anderen Seite waren auf drei Photos französische Fallschirmjäger im Kongo-Einsatz vor einem getöteten Kongolesen zu sehen japanische Kamikaze-Fliegerim Zweiten Weltkrieg und schwerbewaffnete amerikanische „Ledernacken" mit martialisch-schreienden Gesichtern. Sofort wurde ein Doppelbezug hergestellt, der zu N ietzsche und der zu dem Franzosen : Die Bildauswahl folgte der Beispielwahl aus Benoists Buch Blick von rechts, und der Text kolportierte den deutschen Philosophen aufs ärgste: „Auf welcher Seite und wofür gekämpft wird, ist völlig gleichgültig, es gibt ja sowieso nichts, wofür es sich zu kämpfen lohnt alle Wahrheiten sind nur nützliche Lügen, alle Ideale nur Götzen, lehrt Nietzsche." Zitate von Franz Mehring bis Georg Lukács sollten auf den Beitrag einstimmen; das markanteste stammte von Johannes R. Becher aus dem Jahre 1945: „Die Schaffung eines neuen Adels von Gewaltinhabern, die über jedem Gesetze stehen, außerhalb jeder Verantwortung, und deren Pflicht nur in einem besteht: in der rücksichtslosesten Gewaltanwendung." Den Autor des Beitrages trieb die immer gleiche Frage: „Warum spricht Zarathustra schon wieder?", und er wußte die gleiche Antwort wie seine Mitstreiter und Vorgänger der popularisierenden Verdammung: Nietzsches Philosophie sei „ein beliebig zu variierendes Grundmodell für die moralische Rechtfertigung jeder Schändlichkeit der Herrschenden wie für die Diskreditierung jeder emanzipatorischen Bestrebung der Volksmassen". Seine „zynische Herrenmoral", seine biologistische Machtphilosophie bediente nach Auffassung des Autors einzig die Interessen des Monopolkapitals und dessen profitorientierter Politik. Das grundlegende Anliegen Nietzsches meinte Malorny zu entlarven mit der Positionsbestimmung: -

18 19

E. Fromm, „Konservatismus". H. Malorny, „Jenseits von gut und böse? Warum spricht Zarathustra schon wieder? Nietzsche-Renaissance in der Welt des Imperialismus", Wochenpost, Nr. 21 (1986), 16 f.

Das Gerücht Friedrich N.

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„Nietzsche benutzte seine Auffassung des Lebens als Wille zur Macht zur theoretischen Erklärung des Ursprungs und der angeblichen Unabänderlichkeit aller antihumanen Züge der Klassengesellschaft, er rechtfertigte damit Gewalt, Grausamkeit, Verbrechen, Ausbeutung und Unterdrückung, Sklaverei, Kolonialismus, Expansion und Krieg, und zwar ausdrücklich den Angriffs- und Eroberungskrieg."

unbedingtem Bezug auf Nietzsches Aktualität vereinfachte Malorny dessen kulturgeschichtliche und moralkritische Besichtigung moderner Gesellschaft(en) zur bloßen Kompilation und Kolportage einer vermeintlich umfassenden „Apologetik des Krieges". So konnten die „Kreuzzugsideologen" des Kalten Krieges zu direkten und kongenialen Nachfolgern des Philosophen gekürt und ihre antikommunistische Leidenschaft als stillschweigende und ausdrückliche Inanspruchnahme Nietzsches gewertet werden. Wenn man auch einrechnet und bedenkt, daß der Beitrag zeitlich sich im Umfeld der Entspannungsbemühungen bewegt hat und diejenigen namhaft machen wollte, die diese Bemühungen torpedierten, wenn man auch die Sympathie des Autors für die, die sich gegen die enormen Rüstungskampagnen gewehrt haben, anerkennt, so kann ihm gerade deshalb der Vorwurf nicht erspart bleiben, der Kurzschlußlinie zwischen rechtskonservativem Denken und Nietzschescher Philosophie unkritisch nachgegeben zu haben. Mehr noch, Nietzsche auf ein Bild seines Denkens zurückgestutzt zu haben, das ihn dann als Galionsflgur des Konservatismus bestätigen und ablehnen ließ. Anstatt nach den Verdrehungen von Rechts zu fragen und diese zu analysieren, richtete sich der Affront gegen den Philosophen paradoxerweise durch die Anerkennung der Argumente und Interpretationen der rechten Denkvorgaben. Vielleicht war diese Unredlichkeit derartiger Diffamierung dem Autor in einigen Momenten selbst aufgegangen, als er schrieb: Mit

-

-

„Es ist, historisch gesehen, nicht sehr erheblich, was Nietzsche selbst zu derartigen prakti-

schen Nutzanwendungen seiner Lehren zu sagen hätte. Selbst wenn er sich mit Schaudern abwenden würde, er könnte die Verantwortung einer geistigen Vaterschaft für solche Anschauungen nicht von sich weisen."

Abgesehen davon,

daß dies eine grobe Fehleinschätzung ist, die nur aus der ideologischen Absicht verständlich wird, der sich anschließende ausschlaggebende Hinweis: „Es bedarf für unsere Leser keiner Erläuterung, wem solche Anschauungen nützen", nämlich den Gegnern des „Strebens nach Frieden und Sicherheit", ließ den möglichen Selbstzweifel schnell vergessen und auf die Bahn der ideologischen Kampfansage zurückkehren. Spätestens an dieser Stelle bahnte sich die unumstritten praktizierte Ablehnung der ideologischen Instrumentalisierung Nietzsches resp. seiner konservativen Wirkungsgeschichte ihren schon erwarteten Weg:

„Es ist nach den bitteren Erfahrungen mit dem Faschismus und angesichts der heutigen Waffentechnik für jeden normal denkenden und empfindenden Menschen unvorstellbar, daß es Menschen geben kann, die sich auf derartige Anschauungen berufen und sie gutheißen. Und doch ist

es

so."

Das kommt bekannt vor, bedient brauchbare Feindbilder im eigenen marxistischen Umfeld. Der scheinbar einsichtige Satz barg und birgt psychologisches Repressionspotential in wirksamer Dimension; das Attribut des „normal" denkenden und empfindenden Menschen sollte nicht die ausgrenzen, die Nietzsche kolportagehaft auf Schlagworte reduziert haben, sondern

Renate Reschke

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die, die in seinem Denken kritische Impulse gesucht und gelesen haben, die Linken und Alternativen, die kritischen Marxisten ganz besonders. Malorny vermochte in deren Bemühungen um differenzierte und geistige Auseinandersetzung nichts anderes zu sehen, als Versuche, „ihn zu verharmlosen und rein zu waschen und vor allem seine heutige Wirkung in einem ganz neuen Licht erscheinen zu lassen".20 Noch 1989 (!) übernahm der Autor wörtlich die hauptsächlichen Passagen des Artikels in sein Buch Zur Philosophie Friedrich

Nietzsches'}^

es erschien bezeichnenderweise als letzte großangelegte DDR-Publikation zu diesem Thema. Wolfgang Harich hat es als zu gemäßigt kritisiert. Es verging kaum ein Jahr und schon wieder konnte der Leser der Wochenpost etwas über Friedrich Nietzsche erfahren. Wieder waren die Seiten 16/17 dem Disput gegen den ungeliebten Philosophen geöffnet. Dieses Mal sah sich der Leser einer unerwarteten und verwirrenden Überschrift (wiederum im traditionellen Grün) gegenüber: Wie man mit dem Hammer philosophiert; Martin Koch untertitelte: Friedrich Nietzsche und die Naturwissenschaften?2 Von den Photos blickten jetzt Nietzsche, Friedrich Engels, Ludwig Boltzmann (ein österreichischer Physiker) und Charles Darwin; auf einer Reproduktion aus dessen 1859 erschienenen Werk Über die Entstehung der Arten konnte der Leser die Herausbildung des aufrechten Ganges in der menschlichen Stammesgeschichte verfolgen. Die Kolumnen-Kommentare informierten über den Positivismus und Irrationalismus als Philosophie-Varianten des 19. Jahrhunderts und stellten in Zitaten Engels' und Nietzsches Plädoyers für und gegen den modernen Atomismus vor. Als Resümee des Beitrages stellte sich Nietzsche als hoffnungslos unwissenschaftlich dar: „Nietzsches Philosophie war in erster Linie Mythenschöpfung. Seine Methode bestand darin, wissenschaftliche Bewußtseinsformen durch mythologische Bildhaftigkeit zu ersetzen." Seine Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, sein Verwerfen atomistischer Welterklärungsmusterwertete Koch als Unfähigkeit zum naturwissenschaftlichen Diskurs; Nietzsche habe vielmehr in die Naturwissenschaften projiziert, was schlimmer noch deren Erkenntnisse zu „willkürlichen erst zu beweisen sei, er habe Fiktionen im Interesse eines bestimmten philosophischen Systems" herabgebracht. Direkt erleichtert stellte der Autor fest, daß sich „bis heute nur vereinzelte ernstzunehmende Naturforscher"23 der Ideen Nietzsches angenommen haben. Welch ein Irrtum! Welch ein gewolltes Verkennen Nietzschescher Denkangebote. Der gleiche Autor wertete 1991 positiv (pikanterweise unter Berufung auf Heinz Malorny), daß Nietzsche zu den Vorläufern der modernen Chaostheorien zu rechnen sei; er sprach jetzt (nach der Wende) plötzlich vom „viel gescholtenen und mißverstandenen Philosophen" und davon: „Nach Nietzsche ist das Chaos sogar der Normalzustand der Welt. Es verhindere geradezu deren Erkenn- und Berechenbarkeit. Welch geniale Vorahnung zu einer Zeit, als Poincaré am Chaos noch zu verzweifeln drohte."24 Dies ein Appendix zum wundersamen Wandel ideologischer Gewißheiten. Das unsichere Terrain physikalischer Welterklärung verlassend, erwies sich 1987 für die ideologische Abgrenzung die Kontroverse Nietzsche- Darwin als weit ergiebiger. Der soziale Impetus schien offensichtlicher. In Korrespondenz zur Wille-zur-Macht-These geriet die Lebens-

-

-

20 21 22 23 24

H. Malorny, „Jenseits von gut und böse?", 16 f. H. Malorny, Zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Berlin 1989, 27 ff., 245 ff. M. Koch, „Wie man mit dem Hammer philosophiert. Friedrich Nietzsche und die Naturwissenschaften", Wochenpost, Nr.15 (1987), 16 f. Ebd. M. Koch, „Die Normalität des Chaos", Humboldt-Universität, Nr. 35/36 (1990/91), 6.

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auffassung Nietzsches zum Paradigma einer Apologie der Stärke und diese wiederum konnte

als wesentlicher Angriffspunkt anvisiert werden. Zwar räumte der Autor kulturkritisch Anregendes bei Nietzsche ein, dies könne jedoch den antihumanen Kern seines Denkens nicht verdecken:

„Die apologetische Funktion einer solchen philosophischen Sichtweise ist unverkennbar.

Die Ausbeutungsverhältnisse der kapitalistischen Gesellschaftsordnung sind naturgesetzlich und somit unaufhebbar, will man nicht wider die Natur verstoßen [...] So forderte Nietzsche, sich hierin als wahrer Prophet der künftigen imperialistischen Politik erweisend, eine immer weitergehende Verschärfung der Ausbeutung, die letztlich in der Herausbildung einer modernen Form der Sklaverei gipfeln sollte."

Dies sei, wurde der Leser instruiert, „der tiefe soziale Gehalt seiner Philosophie".25 Das geradlinige orthodoxe Nietzsche-Bild blieb unangefochten, das tradierte Feindbild hatte erneute Bestätigung gefunden. Alles blieb beim ideologisch Gewohnten und Alten, als Glasnost schon im Gange war. In Sachen Nietzsche bewahrten die alten Tapeten noch immer ihre intellektuelle Glanzlosigkeit.

(Zu) Später Widerstand Die Wochenpost blieb sich formal treu, als sie 1988 ein letztes Mal auf den Seiten 16/17 einen Artikel zur Wirkungsgeschichte Nietzsches in diesem Jahrhundert präsentierte: Was die Dichter reizte. Zur Nietzsche-Rezeptionvon Literaten26 von Eike Middell. Thema, Bildund Kolumneneinstimmung in den Text ließen aufmerken. Erhebliche Differenzen zu den Vorgänger-Beiträgen waren offensichtlich. Die Photos lenkten keine pejorative Agitation: Das einfühlsame Bild Nietzsches mit seiner Mutter dominierte, daneben Porträts von Robert Musil, Thomas Mann und Hans Günther. Bert Brechts Gedichtfragment Über Friedrich Nietzsches „Zarathustra"', Passagen aus Briefen und Essays von Richard Wagner, Gottfried Keller, Thomas und Heinrich Mann. Der Beitrag sollte aus redaktioneller Sicht offenbar die Leser-Gemüter beruhigen; die Verantwortlichen der Zeitschrift reagierten nach eigener Aussage auf Leserbriefe, „in denen es hieß: Wenn die Faschisten Nietzsches Gedankengut für ihre menschenfeindliche Ideologie vereinnahmen konnten, wie erklärt es sich dann, daß bedeutende humanistische Schriftsteller ebenfalls von Nietzsche fasziniert waren? Schriftsteller, die von den Faschisten ins Exil getrieben wurden?" Ob diese Leserbriefe tatsächlich vorlagen oder ob sie fingiert waren, in jedem Falle artikulierten sie eine geistige Stimmungslage, die nicht (mehr) ignoriert werden konnte. Vom Literaturhistoriker erwartete man Antwort, nicht (mehr) von den ideologischen Eiferern. Was war geschehen, woher der Sinneswandel der Redaktion, warum der auffällige Autorenwechsel? Die kulturelle Situation in der DDR hatte sich dramatisch zu verändern begonnen. Die geistige Krise zeitigte ein Umdenken im Umgang mit der europäischen Moderne. Zu spät und

25 26

M. Koch, „Wie man mit dem Hammer philosophiert". E. Middell, „Was die Dichter reizte. Zur Nietzsche-Rezeption (1988), 16 f.

von

Literaten", Wochenpost,

Nr. 7

Renate Reschke

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nicht radikal genug, oder zu sehr gegen ein verkrustetes Erbe-Verständnis gesprochen, das nicht mehr zu reformieren war. Was die kritischen Köpfe seit Jahren, als vergebliche Rufer in der (geistigen) Wüste, angemahnt hatten, begann sich Bahn zu brechen und erreichte auch die massenmedialen Vermittlungen und das allgemeine öffentliche Bewußtsein: Die Verdammung von Andersdenkenden in der Kultur- und Geistesgeschichte hat sich noch nie ausgezahlt und schlägt früher oder später auf die Fürsprecher der Verdammung zurück, als provinztümelnde Kleingeisterei, als ahistorische Verkleinerung der eigenen Herkunft, als problematische Selbstüberschätzungund als Verlust jeder geistigen Produktivität und Dialogfähigkeit. Middell zeichnete den widersprüchlichen Weg Nietzschescher Ideen wesentlich gesteuert durch die anmaßenden Eingriffe in das Werk ihres Bruders durch Elisabeth FörsterNietzsche und durch die Aktivitäten des Weimarer Archivs in die Köpfe der literarischen Avantgarde der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ohne diesen Rezeptionsweg zu überschätzen, hielt der Autor dem Leser mit Recht vor: „Er wurde zu einem Bildungserlebnis, das auch durch die Künste, aber nicht nur durch sie allein, vermittelt wurde. Dazu kamen die aktuelle Virulenz vieler seiner Fragestellungen und die zielstrebige Arbeit seiner Schwester, ihn zu einer Kultfigur zu etablieren." Zum ersten Male erfuhr der aufmerksame Leser etwas über die kulturellen Kontexte ohne den verurteilenden Ton der früheren Beiträge wurden ihm der Philosoph und die, die sich mit ihm auseinandergesetzthaben, als Intellektuelle von Rang vorgestellt. Das „oft leidenschaftliche Interesse" der Literaten an Person, Sprache und Werk Nietzsches wurde erklärt aus den geistig-kulturellen Befindlichkeiten der Moderne, aus den tiefen Irritationen des Jahrhundertanfangs, aus der Beispielwirkung des Typs eines Intellektuellen, den Nietzsche verkörperte als Alternative eines freien Geistes, eines Philologen mit Sensibilität für die Kunst, die antike und die moderne: „In Nietzsche schien ein antiwilhelminischer, ein antibourgeoiser Anspruch von Literatur oder im weiteren von Geistigkeit symbolisiert. Dieser Anspruch an Literatur war es, der diesen Philosofür phen Literaten so attraktiv machte." Nietzsches kulturkritische Sorge um den modernen Menschen und seine Individualität sah Middell als ausschlaggebend dafür, ihn in der Widersprüchlichkeit zwischen Sozialismuskritik und Individualismus anzusiedeln, denn: -

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,

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„Sein radikaler, sich auf keine ,Idee' verpflichtender Individualismus führte Nietzsche gegen den Sozialismus, der ihm nur eine Umverteilung von Vermögen und damit als die massenhafte Etablierung von Kleinbürgertum erschien, führte ihn zur Utopie einer gesellschaftlichen Hierarchie nach der Leidensfähigkeit, nach der Sensibilität der Menschen. Das entsprach sehr wohl den sozialen Intentionen vieler Künstler, die extensive kapitalistische Ausbeutung selbstverständlich verurteilten und für soziale Gerechtigkeit eintraten, zugleich aber den Anspruch und den jeweiligen Rang des Individuums gewahrt wissen wollten."

So ließe sich seine Bedeutung in der Weltanschauungsdiskussion deutscher Antifaschisten im Exil erklären. Fast beschwörend klang der Autor, wenn er vor der Verwechslung Nietzsches mit seiner linken oder rechten Wirkungsgeschichte warnte und zu bedenken gab: „Beide Seiten müssen bedacht werden."27 Der thematische Wechsel, das Umschlagen der Tonart in wissenschaftliche Diskurssprache signalisierte, daß ganz offensichtlich das Negativprofil Nietzsches keine flächendeckende Wirkung gezeitigt hatte. Die sich öffnenden Wege -

27

E.

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Middell, „Was die Dichter reizte", 16 f.

Das Gerücht Friedrich N.

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allerdings blieben symptomatisch: keine dezidierte Auseinandersetzung mit Nietzsche und seinem Denken, sondern Fragen der Wirkungsgeschichte blieben dominant. Aber, die Perspektivenvergrößerung hierbei bewirkte letztlich das Unumgängliche einer differenzierenden Kenntnis seines Denkens. Sein Denken selbst fand jedoch keinen Eingang mehr in die Zeit-

schriftenlandschaft der DDR, wie auch mit zwei charakteristischen Ausnahmen seine Schriften in der DDR zu spät das Interesse verlegerischen Ehrgeizes gefunden haben: Stefan Hermlin hat in einer Sammlung deutscher Gedichte, Deutsches Lesebuch. Gedichte von Luther bis Liebknecht (1988), Nietzsches An den Mistral aufgenommen und des Philosophen Autobiographie Ecce homo wurde in einer bibliophilen Faksimile-Ausgabe für das DevisenAusland herausgegeben.28 Da der Export-Erfolg angesichts des hohen Preises sich in Grenzen hielt, wurde sie auch im DDR-Buchhandel angeboten. Auch hier verlief der Absatz (ohne jede Werbung) aus gleichem Grunde schleppend und unspektakulär (als Reaktion auf Proteste à la Harich wurde es aus den Auslagen des staatlichen Buchhandels entfernt; kirchliche Konkurrenz beließ das Werk in der Regel im Schaufenster). Es bleibt unerfindlich, was Wolfgang Harich zu der Feststellung veranlaßt haben mag, die politische Führung der DDR habe die Absicht gehabt, „den in Röcken geborenen und in Weimar gestorbenen Nietzsche gleichsam als Klassiker der DDR so aufzuwerten wie zuvor schon Luther, Bismarck oder Friedrich den Großen".29 Abgesehen davon, daß die Genannten keineswegs in die Reihe der DDR-Klassiker aufgenommen worden sind, eher Geduldete am (historischen) Rande blieben, ihr Abstand von Nietzsche war, aus der Sicht ideologischer Wachsamkeit, so groß, daß man Nietzsche bis zuletzt nicht zubilligen wollte, was man den anderen gestattete, daß ihre Werke publiziert werden konnten. Alle diesbezüglichen Vorstöße, Werk- oder Einzelausgaben zu edieren, wurden torpediert, ganz verhindert oder schlichtweg verboten. Sogar solche, die marxistisch kommentieren wollten. 1979 hatte der renommierte Aufbau-Verlag eine Ausgabe der wichtigsten Schriften Nietzsches in drei oder vier Bänden angedacht und in Wolfgang Heise einen möglichen Herausgeber gesehen. Dessen konzeptioneller Vorschlag ging aus von einer Skizze der, von der marxistischen Ideologie beargwöhnten, sogenannten Nietzsche-Renaissance in Westeuropa, vor allem bei französischen und bundesdeutschen Philosophen und vermerkte irritiert auch einen zunehmenden Einfluß aufjüngere marxistische Denker: „In Kreisen unserer jüngeren Intelligenz konnte ich ein ziemlich verbreitetes Greifen nach Nietzsche beobachten und zwar seit geraumer Zeit."30 Enttäuschte Lebenswertung, widerlegter Utopismus seien Gründe für die Hinwendung zu Nietzsche, dessen Sprache als „befreiend, persönlich und persönlich adressiert erfahren, als enthemmte unzensurierte Äußerung genossen"31 werde. Ein im Sinne marxistischer Ideologie kommentierter Zugang zu Nietzsche sei daher dringend anzuraten. Heises grundlegend konzeptionelle Frage vor diesem skizzierten Kontext lautete denn auch: „Wie ist dem zu begegnen?" und sein Angebot: -

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S. Hermlin, Deutsches Lesebuch. Gedichte von Luther bis Liebknecht, Leipzig 1988; F. Nietzsche, Ecce homo, Leipzig 1985. 29 W. Harich, Süddeutsche Zeitung vom 23.11.1989, 12, und noch radikaler heißt es: „Aber bei Nietzsche, diesem Ur-Faschisten, hört es bei mir auf. Da verbindet sich hier die liberal-romantische Mafia um Hermlin mit den Altstalinisten zu einer Geschichte, die neofaschistische Ideologie begünstigt." 28

(Ebd.)

Heise, Vorschlag für eine Ausgabe der wichtigsten Werke Friedrich Nietzsches (1979), Wolfgang Heise-Archiv, Nr. 1-2.171, 2.

30

W.

31

Ebd.

30

Renate Reschke

„Man kann ihn natürlich ungedruckt lassen. Dann wird die theoretische Auseinandersetzung wesentlich mit Fachleuten im Westen, und kaum von diesen gelesen, geführt. Zugleich webt das die Aura des Verbotenen, Besonderen, dessen, wovor man Angst hat. Man

kann so tun, als wäre er erledigt aber er ist es offensichtlich für nicht bedeutungslose Kreise nicht. Faktisch wird er gelesen, und zwar in der Regel in den noch vorhandenen Kröner-Ausgaben [...] oder es werden westdeutsche Ausgaben importiert. Am überzeugendsten scheint mir, wenn wir hier eine Ausgabe neuen Typs versuchen. Man muß hier offensiv vorgehen [...] Unter einer solchen Ausgabe verstehe ich, dass sie 1) die wichtigsten Werke enthält, 2) durch ausführliche sachgerechte Einleitung und Kommentierung ein kritisches marxistisch-leninistisches Verhältnis zu Nietzsche herstellt. Wir füllen damit eine Bildungslücke, weichen nicht mehr diesem Abschnitt deutscher Vergangenheit aus und beziehen offen und kontrollierbar -

Stellung."32

Eine Entscheidung für eine Edition hielt er darum für eine „sehr ernste und kulturpolitisch wirksame Maßnahme".33 Wäre diese Ausgabe, für die Heise sich selbst nicht (!) als Herausgeber sah, je zustandegekommen, ihr Grundgestus wäre nicht eine aus der der notwendigen Wertschätzung Nietzsches für das moderne Denken gewesen, sondern eine eher von außen aufgezwungene Angelegenheit mit dem Ziel ideologischer Schadensbegrenzung. Das produktiv Ambivalente hätte sein können, daß sie die Verfügbarkeit der Texte ebenso ermöglicht hätte wie die öffentlich geführte Diskussion um die Wertkrise des Sozialismus. Dazu allerdings reichte die praktizierte Halbherzigkeit von Verlag und potentiellem Herausgeber nicht aus. Übrigens hatte Wolfgang Harich versucht, Heise ganz davon abzubringen und seinerseits geraten: „Eine unauffällige, undramatische Version des Totschweigens wäre, finde ich, in diesem Fall das beste. Auf keinen Fall sollte bei uns noch etwas von N. gedruckt werden nie, keine Zeile!"34 Mitte der achtziger Jahre verstärkte sich, nach einer scheinbaren Tauwetter-Lage im ideologischen Raum, der Druck auf die Verlage derart, daß alle Projekte auch anderer Verlage, vorab Reclam (Leipzig) bis zur Wende trotz teilweise druckfertiger Manuskripte keine Aussicht auf Realisierung mehr besaßen. Immer wieder geplantes und erwartetes Umdenken marxistischer Philosophiehistoriker in Sachen bürgerlicher Philosophie erwies sich als unrealistisch35 oder als durchschaubare Verzöge-

Überzeugung

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32 33

Heise, Vorschlag für eine Ausgabe der wichtigsten Werke Friedrich Nietzsches, 3. Ebd., 5. Trotzdem ging die Initiative zur Herausgabe Nietzschescher Schriften nicht (!) von Heise aus, wie jüngst in kursorischen Skizzen der Situation zu lesen ist; er hat weder beharrlich um das Projekt geworben, noch hat er ausländische Wissenschaftler zum Meinungsaustausch nach Berlin eingeladen oder seine Mitarbeiter motiviert, sich mit Nietzsche zu beschäftigen (wie etwa Steffen Dietzsch annimmt; vgl. seine Rezension in: Nietzscheforschung. Eine Jahresschrift, Bd. 2, Berlin 1995, 406 f.); W.

hat allerdings auch Projekte einer historisch differenzierenden und von der offiziellen Ideologie abweichenden Position nicht abgeblockt oder verhindert, dies jedoch nicht mit Blick auf Nietzsche, sondern immer aus der begründeten Sorge um die Perspektiven eines kritischen Marxismus. 34 Brief Wolfgang Harichs an Wolfgang Heise vom 23.8.1985, Wolfgang Heise-Archiv, Nr. II-2.1./38. 35 Der Reclam-Verlag Leipzig wollte seine Nietzsche-Publikationen möglichst im Rahmen einer konzertierten Aktion erscheinen lassen, um die Chancen einer Verwirklichung des Projektes zu vergrößern; so sollte 1986 eine geplante Konferenz der Philosophiehistoriker über die „Lücken" in der Rezeptionsgeschichte abgewartet werden, weil man sich davon einen „Kurswechsel" versprach. Die angesehene Lektorin Karin Gurst teilte mir dies seinerzeit fast konspirativ mit: „[wenn] [...] die Edition nicht als Einzelaktion, sondern im Rahmen einer grundsätzlichen Selbstverständigung unserer Philosophiehistoriker über diesen Gegenstand erfolgt, stehen die Chancen nicht schlecht. Bitte mach' keinen Geer

Das Gerücht Friedrich N.

31

Weder die Unzeitgemäßen Betrachtungen noch Die fröhliche Wissenschaft konnten trotz intensiver Bemühungen des Reclam-Verlagesund seiner Lektoren erscheinen. Harichs Telefonterror war dabei gewiß nur ein eher episodisches, aber symptomatisches Mosaiksteinchen in der Palette der Vereitelungen.36 Schwerer wog die erstarrte und erstar-

rungstaktik.

machende Rigorosität ideologischer Beschränktheit(en). Differenzierte kritische Auseinandersetzungen in wissenschaftlichen Publikationen, so sie vereinzelt doch erschienen, wurden teilweise bis zur Lächerlichkeit verfolgt und nur ideologisch handverlesene Elaborate zugelassen,37 Tagungsprojekte durch Themenverschiebungen bis zur Unkenntlichkeit der Absichten der Veranstalter verbogen. Das Beispiel der Hallenser Tagung von 1987, in der es um Nietzsche und die Vielfalt seiner Rezeption gehen sollte, zeigt, wie schwierig es für die marxistische Philosophie war, kritisch sich selbst beim Wort zu nehmen und die Dialektik, die sie von den anderen forderte, auch auf sich anzuwenden. Die Konzeption wurde so lange verändert, bis eine allgemeine Auseinandersetzung mit moderner bürgerlicher Philosophie übriggeblieben war und die Mehrheit der Beiträge sich kaum von den negativen Optionen der offiziellen Ideologie in Sachen Nietzsche unterschieden.38 Aber auch dies war in den Augen der ideologischen Reinheit der Lehre kaum zu dulden. Eine Verhärtung der Fronten stand im Hintergrund, in einer Zeit des gleichzeitigen Aufbruchs versteinerten Denkens. Nur wenige Philosophen der ehemaligen DDR können es für sich verbuchen, daß die Verteufelung Nietzsches nicht lückenlos war. Kultur- und Literaturwissenschaftler, Ästhetiker, Schriftsteller und Künstler waren es vor allem, für die der umstrittene Denker nicht in seiner ideologischen Vereinnahmung aufging. Sie fragten zunehmend nach den Gründen tiefgehender Krisenerscheinungen der kulturellen Moderne, die geistigen Avantgarden des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts fanden ihr Interesse. Ihre Sensibilität für ein Denken, das sich gegen die aufgebrauchten Rationalismen und den Systemzwang idealistischer oder materialistischer Philosophien wehrte, ihre Sympathie für kritische Philosophen wie Bloch und Benjamin, Adorno und Foucault, ließ sie auch Nietzsche als Empörergestalt und Warner mit Weitsicht begreifen und seinem ambivalenten Denken die Impulse abgewinnen, die gegen die Selbstaufgabe des Menschen und gegen jede kulturelle Besinnungslosigkeit aufzurufen sind. Daß sie dabei auch von der sogenannten Nietzsche-Renaissance in Westeuropa profitierten, war verständlich und lag auf der Hand. Es waren jene, die Harich ren

von diesen Hinweisen im Augenblick sind die Weichen so gestellt, daß unser Zug ganz aufs Abstellgleis gerät, wenn wir ihn fahren lassen. Und eine Indiskretion kann mitunter ganze positive Entwicklungen vereiteln." (Brief vom 31.1.1986) Die Hoffnung war, wie sich herausstellte, trügerisch. 36 Harichs wütende Reaktion auf die Absicht des Reclam-Verlages, Schriften von Nietzsche zu publizieren, waren Drohanrufe an die Lektorin, der Verlag solle im Falle einer Realisierung seines Vorhabens konsequent sein und zeitgleich auch Adolf Hitlers Mein Kampf veröffentlichen.

brauch

-

37 Seitens der Philosophie-Institute der Akademie der Wissenschaften der DDR bzw. der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED wurden z. B. die frei verkäuflichen (außerhalb der Abonnements) Exemplare der Zeitschrift Weimarer Beiträge, die einen Artikel von mir über die moderne Nietzsche-Rezeption: „Kritische Aneignung und notwendige Auseinandersetzung. Zu einigen Tendenzen moderner bürgerlicher Nietzsche-Rezeption" (H. 7/1983) veröffentlicht hatte, aufgekauft und in der 38

Redaktion nach noch vorhandenen Exemplaren gefragt, um eine Verbreitung in der Öffentlichkeit zu verhindern. Vgl. Beiträge zur Kritik der bürgerlichen Philosophie und Gesellschaftstheorie (Kongreß- und Tagungsberichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg), hg. v. R. Bauermann, H.-M. Gerlach u. a., Halle 1987.

Renate Reschke

32

mit seinen Haßtiraden und nicht nur verbalen Drohungen verfolgte und die er in einem gefährlichen Brief an den damaligen Ministerpräsidenten der DDR Willi Stoph 1985 als Konterrevolutionäre bösartig denunzierte, mit der anbiedernden Bitte, gegen diese Gefährlichen wirksame Maßnahmen zu ergreifen. Er hat alle namentlich aufgezählt, die er für Staats- und sozialismusgefährdend ansah, weil sie eine Art Verschwörung durch die Nietzsche-Renaissance in der DDR beabsichtigten. Der Brief endete mit der (selbst)entlarvenden Passage:

„Aktueller Anlaß meines Schreibens an Sie ist der Umstand, daß mir heute, beim Besuch einer Buchhandlung in der Friedrichstraße, die erste DDR-Publikation eines Werkes von Nietzsche seit 1945 zu Gesicht gekommen ist ein für mich erschütterndes, nervenaufreibendes Ereignis, geeignet, mir den Schlaf zu rauben. Was das für mich für ein Schlag war, werden Sie nachvollziehen können, wenn Sie sich vorstellen, Sie sähen sich plötzlich bei uns mit, sagen wir, der Zulassung eines SS-Traditionsverbandes konfrontiert. Ihre Worte vom 20. Dezember noch frisch im Gedächtnis, sah ich den einzigen tröstenden Ausweg darin, Sie, verehrter Herr Ministerpräsident, bei der Abwendung eines bösen Unheils für unser Land, für unsere Kultur um Hilfe anzuflehen."40 -

Man könnte diesen Brief sicherlich als das Werk eines Psychopathen zu den (historischen) Akten legen, wäre er nicht Ausdruck einer unerhörten Anbiederung des Geistes an die Macht wie verständlich dies biographisch auch immer sein mochte -, wäre er nicht Aufweis dafür, wie sehr Ideologie und Repression sich gegenseitig die Argumente lieferten und Kultur in die Erstarrung getrieben haben. Im Jahre dieses Briefes wurde Heiner Müller in einem Interview gefragt: „Und wie stehen Sie zu Nietzsche?"41 Müllers Antwort war zunächst eine ihn charakterisierende, zugleich besaß sie Symbol- und Signalwert für die Bewußtseinslage kritischer Intellektueller zu dieser Zeit in der DDR. Mit Blick auf die ideologiekritische Dimension einer Beschäftigung mit Nietzsche hat der Dramatiker nach dem Krieg seine Texte gelesen als „Gegengift gegen Entwicklungen in der damals noch sowjetischen Besatzungszone, dann in der DDR, die auf eine Egalisierung hinausgingen, also auf eine Nivellierung", weil diese „immer die Spitzen infrage" stellt. Und Nietzsches Art zu denken hat ihn fasziniert, weil es „Freiräume" schaffe, ein ,,nomadische[s] Denken" sei, immer unterwegs, immer sich selbst und seine Denkgegenstände verändernd, sich jeder Verkrustung verweigernd. Er sah in Nietzsche ein Scandalon, eine Provokation: „Und eine Gesellschaft braucht die Provokation. Nietzsches Maßstab, wieviel sich eine Gesellschaft an Negativem leisten kann."42 Mit einem solchen Provokateur war eine ganze Kulturlandschaft zu attackieren, ließen sich ihre Schmerzpunkte benennen, vorab die der Literatur. Sie ist ohnehin Seismograph für die kulturellen Befindlichkeiten der ganzen Gesellschaft. Scharf konnte Müller daher mit Nietzsche den Opportunismus der DDR-Literatur angreifen, auch den subtilen, unterschwelligen derjenigen, die sich kritisch gab oder so verstanden wurde:

-

39

Beispielsweise hat Wolfgang Harich in das Universitätsbibliotheksexemplar meiner Habilitationsschrift anspornende Verachtung der Zeit. Studien zur Kulturkritik und Ästhetik Friedrich Nietzsches. Ein Beitrag zu ihrer Rezeption (Berlin 1983) auf der Seite 13 am oberen Rand unübersehbar vermerkt: „Frau Reschke ist der ideologische Gegner!!" (das „ist" hat er dabei vorsorglich dreimal unterstrichen). Brief von W. Harich an W. Stoph vom 22.12.1985, zit. nach Tagesspiegel vom 15.10.1994. U. Dietzel, „Gespräch mit Heiner Müller", Sinn & Form, H. 6 (1985), 1209.

Die

40 41 42

Ebd., 1210.

Das Gerücht Friedrich N.

33

„Es gibt in

unserer Literatur eine Tendenz, die eigenen Verletzungen zu ironisieren. Und das ist dekadent im Sinn von Nietzsche [...]. Und wenn das bejubelt wird, womöglich von einem jungen Publikum, von der anderen Seite noch als zentraler Angriff genommen, dann wird die Literaturgesellschaft zum Krankenhaus."43

Deutlicherund vernichtender konnte Kritik nicht ausfallen. Nietzsche galt Müller als eine Art Sonde in die sozialistische Literatur und Kultur, die unter dem Schein der Oberfläche(n) ihre Selbstverleugnungen transparent machen und die Schmerzpunkte bezeichnen konnte. Wie sehr Müller damit relativ früh einen Nerv der DDR-Literatur, der Kultur insgesamt getroffen hatte, zeigte die erregte Diskussion über die Möglichkeiten der Literatur in der Gesellschaft auf dem X. Schriftsteller-Kongreß der DDR im Herbst 1987. Auch das Thema „Nietzsche" wurde erstmals öffentlich unter Künstlern verhandelt. Stefan Hermlin und Hermann Kant haben in ungewöhnlich scharfen Worten die kulturpolitische Anmaßung Wolfgang Harichs zurückgewiesen. Kant kennzeichnete Harichs Denunziation Nietzsches in seinem berüchtigten Aufsatz in der Zeitschrift Sinn & Form44 als Polpotterie und als einen Versuch, „mühsam erreichte Kulturpositionen in Frage zu stellen", den Umgang mit „Geschichte und kulturellem Erbe und schwieriger Kunst"45 zu torpedieren, zurückzudrehen in vergangen geglaubte, stalinistische Zeiten. Hermlins Wortwahl fiel noch entlarvender aus. Er artikulierte seinen „Widerwillen gegen Demagogie und Erpressung", bezeichnete Harichs Position als Fehldenken und seine Methode als „Ruf nach dem Staatsanwalt oder vielmehr nach dem Scharfrichter". Für Hermlin war Nietzsche, so stellte er sich gegen Harich, einer „der anregendsten Schriftsteller der letzten hundert Jahre, an dem kein Künstler unserer Zeit vorbeikam".46 Eine Einschätzung, mit der er zugleich Harich als „Amokläufer" und „Kulturfeldwebel" in die Schranken wies und sein Plädoyer für die avantgardistische Kunst der Moderne formulieren konnte. Daß es offiziell keine differenzierte kritische Auseinandersetzung mit Nietzsche gab, wertete er ausdrücklich als Negativum: „Nietzsche existiert nicht in der DDR; ich halte das für einen Mangel, weil Sozialisten an keiner wesentlichen Gestalt vorbeigehen können."47 Und er brachte Harichs wüste Attacken auf den gefährlichen kulturpolitischen Punkt; so gehe es eigentlich nicht um Nietzsche oder genauer, sei dieser als das Böse an sich Mittel sondern, da er alle und alles vergifte (aus der Sicht Harichs), was mit ihm in Berührung komme, sollten mit ihm alle jene unters Verdikt fallen, die sich mit ihm beschäftigten, kritisch an seinem Denken partizi,

-

-

pierten:

„Was hier stattfindet und

uns allerdings betrifft, ist eine reaktionäre Rückwärtswendung in Richtung auf erledigte Positionen, die Hunderten von fortschrittlichen Künstlern in vielen Ländern die Beschädigung oder die Auslöschung ihres Werks und selbst den Tod einbrachten und sozialistischen Ländern die Schmach zufügten, mit Faschisten verglichen zu werden."

43 44 45 46 47

U. Dietzel, „Gespräch mit Heiner Müller", 1211. W. Harich, „Revision". H. Kant, Rede, X. SchriftsteUerkongreß der DDR, Plenum, 24.-26. November 1987, 44 f. S. Hermlin, Diskussionsbeitrag, ebd., 73.

Ebd.,

74.

Renate Reschke

34

Darum fragte er öffentlich, mit deutlicher Kritik an der politischen Führung, „was ein solcher anachronistischer Müll im Jahre 1987 in der Zeitschrift unserer Akademie zu suchen und begründete, warum er sich so ausführlich mit diesem „Nonsens" und mit jemanden, der sich den Sozialismus nur als „ein System der Repression" vorstellen könne, beschäftige: „[...] herostratische Naturen sind keine Unikate und nicht zu verachten. Wo eine solche Stimme sich erhebt, warten andere auf ihren Einsatz. Es ist die Stunde der gebrannten Kinder."49 Der Satz hatte keine unmittelbaren Folgen. Wie es schien. Die spätere Geschichte hat an den Tag gebracht, daß die Repression durchaus für ihre lebensbeschädigende Form vorbereitet war und mit Wahrscheinlichkeit wäre davon Gebrauch gemacht worden. Wenn es um Nietzsche ging, ging es stets am allerwenigsten eigentlich um Nietzsche. Dies mag als paradoxes Fazit gelten. Es ging um die Perspektiven der Kultur schlechthin. Und insofern war das Phänomen seiner Nicht-Rezeption in der DDR ausdrücklich eines der Intellektuellen-Situation, genauer der mißglückenden Dialektik von Macht und Geist. So sehr der ideologische Gegner getroffen werden sollte, ein rigider Sprachimperialismus und der impériale Ton ideologischer Verdrängung spielte immer auch die Melodie der Intellektuellen-Schelte mit oder bedrohlich im Hintergrund. Denn: Sie galten als besonders anfällig für eine kritische Sicht auf die Geschichte und für einen selbstkritischen Blick auf die Gegenwart. Ihr Querulantentum galt (spätestens) seit Lenin als notorisch.50 Sie neigen dazu, immer die unerledigten Möglichkeiten einzufordern. Mit einer „geradezu blutigen Unduldsamkeit" (Rolf Schneider) der Intoleranz sollte Nietzsche deshalb quasi durch einen Akt der „Selbstentlarvung" per Text(-Kompilation) aus den Diskursen verschwinden. So als wäre er nie gewesen, oder nur für die, die man zu attackieren gedachte. Alle historisch notwendige Kritik am Nietzscheschen Denken, einschließlich seiner rechts-konservativen Vereinnahmung, wurde an der Eigenart der Unsäglichkeit solchen Diskurses mehr oder weniger diskreditiert und zuschanden. Mit der definitiven Akzeptanz solcher Methode bescheinigte sich marxistisches Denken seinen eigenen ideellen Bankrott. Bis in die Sprachregelungen hinein wirkte der apologetische Gestus, die Verfallenheit an die Ideologie nicht ans kritisch-marxistische Denken und noch die waren nicht (ganz) frei davon, die sich intellektuell zur Wehr gesetzt haben. In den blinden Fleck des Denkens, in die Nietzsche-Legende, in das Nietzsche-Ressentiment, in das Gerücht Friedrich N. waren und sind die Ablagerungen der Ideologie haltbar eingelagert. Die peinlichen Erklärungsversuche der Anti-Nietzsche-Apologetennach der Wende zeigen dies deutlich.51 Daß es Versuche innerhalb marxistischen Denkens selbst gab zur tatsächlichen sachbezogenen und philosophisch-kritischen Auseinandersetzung, zeugt nicht von der doch noch zu entdeckenden Toleranz, sondern vielmehr vom kritischen Potential historischen Denkens und von der ideellen Zuversicht der wenigen, u. a. an den

ha[be]"48

-

-

48 49 50 51

S. Hermlin,

Diskussionsbeitrag,

75.

Ebd., 77. Siehe dazu D. Bering, Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes, Stuttgart 1978. So versuchte z. B. Eberhard Fromm auf einer Diskussionsveranstaltung zum Thema „Zur Aktualität Nietzsches" im Juni 1990 als Grund für das orthodoxe Nietzschebild die fehlenden Möglichkeiten anzugeben, sich ausreichend über Nietzsche und seine moderne Rezeption zu informieren; solche Erklärung ist mehr als unglaubwürdig bei einem der führenden Ideologen auf diesem Gebiet, dessen Institut über die einschlägige Literatur wie kaum ein anderes verfügte.

Das Gerücht Friedrich N.

35

Universitäten, der Akademie, den Kunsthochschulen.52 Wer Marx nicht kanonisiert hat, hat auch Nietzsche nicht verdammt und sich ihm gegenüber nicht in die Siegerpose gestellt, die nur über einen folgenschweren Pyrrhussieg getäuscht hat, denn, sie haben es mit Nietzsche gewußt: „Es giebt im Geistigen keine Vernichtung."53 Und mit Marx, dem unbequemes Denken nicht fremd war und nicht das Geheul seiner Gegner: „Die Philosophie wird in die Welt eingeführt von dem Geschrei ihrer Feinde, welche die innere Ansteckung durch den wilden Notruf gegen die Feuersbrunst der Ideen verraten."54

52

53 54

Im Ausbildungsprogramm des Studienganges Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin standen z. B. regelmäßig Vorlesungen und Seminare zum Denken Nietzsches; seit Beginn der achtziger Jahre wurden Projektveranstaltungen zum Thema Nietzschescher Ästhetik durchgeführt; auf mehreren kulturwissenschaftlichen Kolloquien wurde Nietzsche jenseits orthodoxer Ideologie fachbezogen diskutiert, die Beiträge ohne jede Einschränkung in die Protokollbände aufgenommen (Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung, Nr. 15 u. 22, Berlin 1985 u. 1987); die Musikhochschule „Hanns Eisler" hat Mitte der achtziger Jahre Sondervorlesungen zur Philosophie und Ästhetik des umstrittenen Denkers in ihr Ausbildungsprogramm aufgenommen, ebenfalls ohne ideologische Begrenzung. Republikweit erhöhte sich das kulturelle Interesse in Sachen Nietzsche, die „Clubs der Intelligenz", Jugendclubs (z. B. „Das Haus der Jungen Talente" in Berlin), der „Club der Kultur des Atomforschungszentrums Rossendorf" u.a. veranstalteten Vorträge und Gesprächsrunden, an denen sich (erwartet) viel Publikum (aus sehr unterschiedlichen Motivationen) einfand. Vielleicht nicht zufällig verstärkten auch die Evangelischen Akademien ihre öffentliche Auseinandersetzung mit dem Philosophen (vor allem unter dem Stichwort vom „Antichristen" und in der Atheismus-Debatte; übrigens in merkwürdigem Gleichklang manchmal mit der orthodox-marxistischen Tonlage). KSA 12, Nachgelassene Fragmente, 253. K. Marx, Der leitende Artikel in Nr. 179 der Kölnischen Zeitung, in: K. Marx u. F. Engels, Werke, Bd. 1: 1839-1844, Berlin 1972, 98.

Norbert Kapferer

Entnazifizierung und Rekonstruktion versus Ausbürgerung Friedrich Nietzsche in der philosophischen Kultur und politischen Konstellation Deutschlands 1945-1960

Einleitung Seit der Wiederherstellung einer philosophischen Landschaft in Deutschland durch den Vollzug der politischen Einheit konnte ein aus der ehemaligen DDR schon frühzeitig Verstoßener wieder der philosophischen Kultur seiner angestammten Heimat zurückgegeben werden: Friedrich Nietzsche, geboren in Röcken/Lützen und verstorben in Weimar, war über vier Jahrzehnte von der marxistisch-leninistischen Ideologie als philosophisch-weltanschaulicher Hauptfeind behandelt, als Wegbereiter nazistischen Gedankenguts geschmäht und damit aus der Öffentlichkeit weitgehend verdrängt bzw. aus dem nationalen „Kulturerbe" des „real existierenden Sozialismus" gestrichen worden. Obwohl es seit Beginn der achtziger Jahre immer wieder Versuche einzelner Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Philosophen gab, den anstößigen Denker erneut ins Gespräch zu bringen bzw. das pauschale Verdammungsurteil zugunsten einer differenzierten Sichtweise abzumildern, blieb Nietzsche in diesem Teil Deutschlands ein unter Verschluß gehaltener Autor, von dessen „Gefährlichkeit" die Kaderphilosophen bis zum Schluß ausgingen. Davon zeugt die im letzten Jahr vor dem „Mauerfall" entbrannte Kontroverse um die Wiedereinbürgerung des Verfemten, die immerhin schon ein Novum war und einen Umbruch in der ostdeutschen Diskussionskultur signalisierte. Mehr als fraglich ist hingegen, ob es unter der Bedingung des Fortbestandes der DDR zu einer „Rehabilitierung" Nietzsche als Philosophen, gar zu einer Aufnahme des Zarathuifra-Schöpfers in das „sozialistische Kulturerbe" gekommen wäre. Dies hätte nämlich eine völlige Revision des marxistisch-leninistischen Verständnisses von Philosophie, im Klartext, den Verzicht auf die ideologische Hegemonie des „Diamat" und „Histmat" vorausgesetzt bzw. die Zulassung philosophischer Vielfalt bei Abbau von Feindbildern erforderlich gemacht, mit anderen Worten, die Selbstauflösung dieser parteilichen Weltanschauung verlangt. Eine „friedliche Koexistenz" von Marxismus-Leninismus und Nietzsche unter einem Dach schloß sich jedenfalls kategorisch aus. Mit Nietzsche hatte die Philosophie in Deutschland nach 1945 aber auch ein schweres Erbe anzutreten. Ein Blick auf den Umgang mit dem durch das „Dritte Reich" Belasteten im Westen zeigt, daß es hier immer wieder vereinzelte Tendenzen gab, den „Herold der blonden Bestie", den intellektuellen „Züchter des Übermenschen" in einem kurzen Prozeß abzuurteilen. Daß es in diesem Teil Deutschlands weder zu einer pauschalen Verdammung noch zur Restauration eines völkischen Nietzscheanismus kam, ist einer lebendigen philosophischen Streitkultur und einer sorgfältigen, sachlichen Nietzscheforschung zuzuschreiben.

Norbert

38

Kapferer

im folgenden der Versuch unternommen wird, die Grandzüge der NietzscheRezeption in Ost- und Westdeutschland von 1945 bis 1960 nachzuzeichnen bzw. einander gegenüberzustellen, dann nicht ohne zuvor einen Blick auf die dreißiger und frühen vierziger Jahre zu werfen, als zwei totalitäre Weltanschauungen daran gingen, den „unzeitgemäßen" Philosophen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren: Die nationalsozialistische wie die marxistisch-leninistische Lesart jener Zeit bestätigten einander wechselweise mit ihrem Nietzschebild und prägten über weite Strecken den Umgang bzw. die Art der AuseinanderWenn

nun

setzung.

1. Nietzsche im Zerrspiegel und Alfred Baeumler

von

Georg

Lukács

Der ungarische Marxist und der deutsche Nationalsozialist waren gewiß nicht die ersten, die Glaubenslehre oder ein ästhetisches Nietzsche für oder gegen eine politische Konzept in Ansprach nahmen: Gabriele d'Annunzio (1895), Filippo Tommaso Marinetti (1910), Franz Mehring (1897), Max Adler (1921), Oswald Spengler (1924), katholische und rassische Marxisten, Machisten, Otsowisten, Gottesbildner, protestantische Ultimatisten,2 die französische Rechte3 etc. Der Boden für weitere Vereinnahmungen war sonach gut bestellt. In seiner vormarxistischen Schaffensphase pflegte der junge Lukács noch einen ganz anderen Umgang mit Nietzsche. Schriften wie die Seele und die Formen (1911) weisen positive Bezugnahmen auf, lassen hinsichtlich der „tragischen Weltanschauung" geradezu eine Geistesverwandtschaft ahnen, deren kulturkritische Dimension sogar noch in seinem ersten marxistischen Werk Geschichte und Klassenbewußtsein (1922) spürbar ist. Spätestens seit dem vom Sowjetmarxismus erzwungenen Widerruf von Geschichte und Klassenbewußtsein in den Jahren 1933/34 wandelte sich Lukács' Verhältnis zu Nietzsche radikal. Den Auftakt hierzu gab der 1935 publizierte Aufsatz Nietzsche als Vorläufer der faschistischen Ästhetik, in welchem der Autor feststellte: „Es gibt kein einziges Motiv der faschistischen Ästhetik, das nicht direkt oder indirekt von Nietzsche herstammen würde."4 Ihm folgt der 1943 erschienene Text Der deutsche Faschismus und Nietzsche, der in folgendem Satz gipfelt: „Trotz all dieser gedanklichen, ästhetischen und moralischen Unterschiede hat Rosenberg Nietzsche mit Recht zum Ahnen des deutschen Faschismus

Überzeugung,

Theologen,1

Siehe P. Koster, „Nietzsche-Kritik und Nietzsche-Rezeption in der Theologie des 20. Jahrhunderts", in: E. Behler, M. Montinari, W. Müller-Lauter u. H. Wenzel (Hg.), Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Bd. 10/11, Berlin/New York 1982. 2 Siehe G. L. Kline, „Nietzschean Marxism in Russia", in: F. I. Adelman, Demythologizing Marxism. A Series of Studies on Marxism, Haag 1969, 166 ff. 3 Siehe M. Serra, „Nietzsche und die französischen Rechten 1930-1945", in: E. Behler u. a. (Hg.), Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Bd. 13, Berlin/New York 1984, 617 ff. 4 G. Lukács, Nietzsche als Vorläufer der faschistischen Ästhetik [1934], in: Werke, Bd. 10, Berlin 1969, 307. 1

Entnazifizierung

und Rekonstruktion

versus

Ausbürgerung

39

ernannt" .5 Wenngleich Lukács' Abrechnung mit Nietzsche ganz in der Tradition von Franz Mehring und des Marxismus-Leninismus stand, so dürften beim Zustandekommen seines vernichtenden Urteils die fortgeschrittenen Vereinnahmungsversuche Rosenbergs und Baeumlers auch eine gewisse Rolle gespielt haben. Jedenfalls zog er sie dankbar zum Beweis seiner Argumentation heran. Während der Aufsatz von 1934 noch einen gewissen Mißbrauch Nietzsches durch Rosenberg/Baeumler einräumte, stimmte Lukács 1943 nunmehr unumwunden deren Auslegung zu. Später, in dem umfangreichen Werk Die Zerstörung der Vernunft, das Nietzsche zum Hauptverantwortlichen für den Sieg des Irrationalismus und „Hitlerismus" erklärte, ging er sogar so weit zu behaupten, „Nietzsches gedankliche Nähe zum Hitlertum kann also nicht durch Widerlegung falscher Behauptungen, Fälschungen usw. von Baeumler oder Rosenberg aus der Welt geschafft werden: Sie ist objektiv noch größer, als diese sie sich vorgestellt haben" .6 Wie Lukács das marxistisch-leninistische, so prägte Alfred Baeumler das nationalsozialistische Nietzschebild. Nicht Alfred Rosenberg, dessen Ergüsse (Mythus des 20. Jahrhunderts) eh kaum jemand ernst nahm, sondern er war die treibende Kraft hinter der „Germanisierung" bzw. der „Aufnordung" Nietzsches.7 Der parteilich zunächst noch ungebundene, mit „großdeutsch-nationalkonservativen" Ideen sympathisierende Baeumler hatte sich mit Hegel und Kant befaßt, ehe er sich durch die Herausgabe der Schriften Johann Jacob Bachofens einen Namen machte. 1929 veröffentlichte er eine Arbeit über Bachofen und Nietzsche, die den Beginn seiner Zurechtlegung markiert. Seit 1930 trat Baeumler als Herausgeber der Werke Nietzsches in Erscheinung, wobei er sich als Entdecker des angeblich im Nachlaß verborgenen, eigentlichen Hauptwerkes Der Wille zur Macht aufspielte.8 Die diesem Etikettenschwindel zugrunde liegende Absicht, Nietzsches Philosophie zu „germanisieren" und zu politisieren, brachte der Autor mit seiner Schrift Nietzsche der Philosoph und Politiker (1931) in Anschlag. Hier ist vom „nordischgespannten Wesen Nietzsches" bzw. von der „Lehre vom Willen" als dem „vollkommensten Ausdruck seines Germanismus"9 wie von der „echt germanischen Empfindung", die „aus Zarathustras Verteidigung des Volkes gegen den Staat"10 spricht, die Rede. „Das nordische Heidentum", so Baeumler weiter, „ist der unermeßliche, dunkle Untergrund, aus dem der kühne Kämpfer gegen das christliche Europa hervortaucht".11 Wann sich Baeumler der NS-Bewegung anschloß, ist nicht genau datierbar. So soll er bereits 1930 Rosenbergs „Kampfbund für deutsche Kultur" angehört, im Juli 1932 den NSDAP Wahlaufruf unterzeichnet haben und am 1. Mai 1933 der NSDAP beigetreten sein.12 Aus einer anderen Quelle verlautet, Baeumler habe zunächst große Vorbehalte

G. Lukács, „Der deutsche Faschismus und Nietzsche" [1943], in: J. Schreiter u. L. Sziklai (Hg.), G. Lukács. Beiträge zur Kritik der bürgerlichen Ideologie, Berlin 1986, 107. 6 G. Lukács, „Nietzsche als Begründer des Irrationalismus der imperialistischen Periode" [1955], in: Zerstörung der Vernunft, Bd. II, Darmstadt/Neuwied 1974, 73. 7 M. Montinari, „Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukács", in: Nietzsche lesen, Berlin 1982, 173. 8 Siehe hierzu ebd. 9 A. Baeumler, Nietzsche, der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931, 49. 10 Ebd., 67. 11 Ebd., 103. 12 G. Leaman, Heidegger im Kontext. Gesamtüberblick zum NS-Engagement der Universitätsphilosophen, Hamburg 1993, 29. 5

Norbert

40

Kapferer

gegenüber Hitler gehabt und sei erst 1932 seinem „Charisma" erlegen.13 Wie dem auch sei, der Sprung vom völkischen zum nationalsozialistischen Ideologen kann nicht allzu groß gewesen sein. In den Schriften seit 1933/34 verwies Baeumler auf den Zusammenhang Nietzsches mit der „neuen Bewegung": „Wer aber den großen Krieg zu Gesicht bekommt, der hat zugleich Nietzsche und den Nationalsozialismus gesichtet",14 und machte ihn zum geistigen Ziehvater seines soldatisch-kämpferischen „Männerbundes".15 In seinem Beitrag zu Hitlers 50. Geburtstag stellte Baeumler seinen Nietzsche an die Spitze der (deutschen) Philosophie. Er sei der einzige Denker, der es wagte, „sich dem nach Piaton benannten Idealismus entgegenzustellen und eine von der Überlieferung unabhängige, deutsche (und zugleich vorsokratisch hellenische) Philosophie zu entwerfen [...]. Die geistige und politische Umwälzung von der Nietzsche ein Vorgefühl besaß, ist freilich in anderer Weise, als er ahnte, durch den Nationalsozialismus herbeigeführt worden".16 Schließlich,

am

auch noch für

mißbraucht.17

Vorabend des Endes der NS-Herrschaft, wurde Nietzsche von Baeumler für Aufrufe zu Entschlossenheit, zu Kampfund Tod

Durchhalteparolen und

Die Nazifizierang Nietzsches durch Baeumler stieß unter NS-Philosophen auch auf Ablehnung. So bei Ernst Krieck, dessen Rivalen, der in dem freien Geist und Individualisten Nietzsche keinen germanischen Denker akzeptieren wollte.18 Trotz dieser und anderer Bedenken und Einwände ob des fehlenden „Rassegedankens" setzte sich, mit Unterstützung Rosenbergs und durch die Zuarbeit anderer Philosophen, die Baeumler teilweise noch an Dreistigkeit und germanisierender Schwülstigkeit überboten, diese Lesart Nietzsches im „Dritten Reich" durch. Selbst Denker vom Range eines Heidegger stimmten zeitweise, wenngleich wesentlich verhaltener, in diesen Chor ein.19 Zu guter Letzt mußte Hitlers Besuch bei Elisabeth Förster-Nietzsche 1934 in Weimar den Eindruck verstärken, die Nazis hätten in Nietzsche ihren Philosophen gefunden.

2. Die

Nachkriegsrezeption in den vier Besatzungszonen

In Anbetracht dieser Vorgeschichte kann es wohl kaum verwundern, daß die Auseinandersetzung mit Nietzsche in der Nachkriegszeit sich zunächst um dessen Verhältnis zum Nationalsozialismus drehte. Formell wurde Nietzsche sogar vor das Nürnberger Tribunal zitiert: Der französische Hauptankläger François de Menthon bezeichnete in seiner Ansprache vor dem Internationalen Militärgerichtshof am 17.1.1947 neben Fichte und Hegel

13 14 15 16 17

18 19

E. Niekisch, Gewagtes Leben, Köln/Berlin 1958, 253. A. Baeumler, „Nietzsche und der Nationalsozialismus", NS Monatshefte 5 (1934), H. 49, 290. A. Baeumler, Männerbund und Wissenschaft, Berlin 1934. A. Baeumler, „Philosophie", in: Deutsche Wissenschaft. Arbeit und Aufgabe. Zum 50. Geburtstag Adolf Hitlers, Leipzig 1939, 33. A. Baeumler, „Friedrich Nietzsche. Zum 100. Geburtstag des großen deutschen Denkers", Völkischer Beobachter vom 15.10.1944. E. Krieck, Heil und Kraft. Ein Buch germanischer Weltweisheit, Leipzig 1943. N. Kapferer, „Entschlossener Wille zur Gegen-Macht", in: G. Althaus u. I. Staeuble (Hg), Streitbare Philosophie. Festschrift für Margarethe von Brentano, Berlin/New York 1988.

Entnazifizierung

und Rekonstruktion

auch den Verkünder des

versus

„Übermenschen"

Ausbürgerung

41

als antihumanistischen Ahnen des deutschen

Faschismus.20 Die Gegner und die Befürworter eines Schuldspruchs im Sinne der Anklage rekrutierten sich indessen aus den denkbar unterschiedlichsten disziplinären, weltanschaulichen, konfessionellen und politischen Kreisen. So warf Karl Jaspers als einer der ersten sein 1935 erschienenes Werk Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens in die Waagschale. Im Vorwort zur zweiten Auflage vom Februar 1946 heißt es: „Mein Buch möchte eine Interpretation sein, die unabhängig

vom Augenblick ihrer sachlich ist. Aber in 1934 und 1935 wollte das von gültig jenem Augenblick Entstehung Buch zugleich gegen die Nationalsozialisten die Denkwelt dessen anrufen, den sie zu ihrem Philosophen erklärt hatten [...] Da Nietzsche in der Tat nicht der Philosoph des Nationalsozialismus werden konnte, wurde er von diesen in der Folge stillschweigend

fallengelassen."21

In einem späteren (1950), unterstrich

Aufsatz, Zu Nietzsches Bedeutung in der Geschichte der Philosophie

Jaspers noch einmal,

mit Blick auf die Mißbrauchbarkeit dieses Denkers:

„Nietzsche Philosophieren ist unersetzlich, weil es uns die wirklichen Probleme fühlbar läßt, nicht aber, weil es sie löst. Sein Denken ist ein Versuchen, er nennt es in

werden

Er läßt uns in der Fülle der UmwendunWirbel geraten, in denen der Leser sich in der Tat um die Vernunft bringen kann, wenn er nicht aus ursprünglicher Eigenständigkeit seiner Existenz Nietzsches Denken in sich verwandelt. Wer der Faszination erliegt, für den ist Nietzsche eine unerlaubte Lektüre."22

zweideutigem Wortspiel ,Versuchsphilosophie'. gen in immer

neue

Alfred Weber widmete in seinem Buch Abschied von der bisherigen Geschichte (1946) ein umfangreiches Kapitel dem Thema „Nietzsche und die Katastrophe", in welchem er nach einem Durchgang durch Früh- und Spätwerk bzw. Nachlaß die philosophischen Verdienste wie die verhängnisvollen Entgleisungen und Fehlgänge des „schicksalsgeschwängertsten aller geistigen Schicksalsträger"23 herausarbeitete und einander gegenüberstellte. Die schreckliche Wirkungsgeschichte, die zwischen den Weltkriegen erst einsetzende „tief verhängnisvolle Popularausstrahlung" ist Weber zufolge hauptsächlich der Publikation des „unfertig gebliebenen Nachlaßwerkes ,Wille zur Macht'"24 zuzuschreiben, wenngleich auch manches schon in früheren Schriften gesagt wurde. Da es nach all dem nicht mehr möglich ist, eine „Auswahlrezeption" vorzunehmen, „[...] sich einfach der großen Werke dieses Mannes zu erfreuen, das aus ihrem Reichtum zu entnehmen, was man bejahen kann, -

-

20 Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg 14. November 1945 bis 1. Oktober 1946, Nürnberg 1947, 424 f. 21 K. laspers, „Vorwort", Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens [1946], Berlin 1974, 6. 22 K. Jaspers, „Zu Nietzsches Bedeutung in der Geschichte der Philosophie" [1950], in: Aneignung und Polemik. Gesammelte Reden und Aufsätze zur Geschichte der Philosophie, München 1968, 392 f. 23 A. Weber, „Nietzsche und die Katastrophe", in: Abschied von der bisherigen Geschichte, Bern 1946, 137. 24 Ebd., 163.

Norbert

42

Kapferer

das beiseite zu schieben und nicht zu beachten, was man verneint",25 bleibt nur der Weg der „rücksichtslosen und vollständigen Stellungnahme".26 Sie lautet für Weber mit Blick auf das Nachlaßwerk: Trotz mancher tiefer Einsichten handelt es sich um „Verrat, den Nietzsche an den seelisch-geistigen Grandkräften begangen hat, die das Abendland als neu entdeckt in die Welt gebracht hat [...]."27 Was die Wirkungsgeschichte angeht, so sollte nach Webers Dafürhalten allerdings nicht vergessen werden, was Nietzsche für das geistige Leben in Deutschland zwischen 1890 und 1914 bedeutete: „Ohne Nietzsches Einfluß, den Einfluß des Zarathustra-Nietzsche, ist die Atmosphäre dieser Periode in Deutschland nicht zu denken. Er war der eigentliche Zerbrecher der Schranken, der Befreier, er auch in vielem Wesentlichen der Vertiefer."28 Carl Gustav Jung wartete mit einer tiefenpsychologischen Deutung auf. In Nietzsche diagnostizierte er den typischen Repräsentanten der gefährdeten und daher auch gefährlichen deutschen Seele. Aus seinen Prophetien hätten die Deutschen rettende Schlüsse ziehen können, stattdessen verfielen sie aus psychopathologischer Schwäche seinen hysterischen Phantasien vom „Herrenmenschen".29 Eine erste heftige Kontroverse löste das 1946 erschienene Nietzschebuch Otto Flakes, Rückblick auf eine Philosophie, aus. Der dem reformiert-evangelischen Kreis nahestehende Autor sah in Nietzsche einen wirklichkeitsfremden, geistigen Schreibtischtäter, der es unterlassen hatte zu überlegen,

„[...] wie seine Forderungen sich in der Praxis auswirken würden, und Konsequenzen ziehen; das Versäumnis erledigt sich von selbst. Er wurde nicht gefragt, ob die Syn-

zu

these nach seinem Wunsch sei. Die Verantwortlichkeit verringerte sich darum nicht. Er hatte seinen Teil dazu beigetragen, die Geister nach einer bestimmten Richtung in Bewegung zu setzen; er hatte die deutsche Maßlosigkeit angerufen, und sie folgte ihm [...]. Sein Schicksal ist eine Warnung für den Menschen des Geistes. Lieber keine Wirkung haben als seine [...]. Sein Übermensch ist nur Surrogat, Götze, Schemen. Füllt man ihn mit Blut, so steht der Tyrann auf der Bühne."30

Der Erfolg von Flakes Schrift, die schon 1947 ein zweites Mal aufgelegt wurde, die in den Nordwestdeutschen Heften3^ ausgetragene Debatte seiner Thesen sowie eine Reihe anderer Publikationen aus katholischer,32 christlicher oder humanistischer Sicht33 bezeugen, wie 25 26 27 28 29 30 31

32 33

A. Weber, „Nietzsche und die Katastrophe", 183. Ebd., 184. Ebd., 195. Ebd., 203. C. G. Jung, „Nach der Katastrophe", Schweizer Rundschau, Juni 1945, 85. O. Flake, Nietzsche. Rückblick auf eine Philosophie, Baden-Baden 1946, 180 ff. Nordwestdeutsche Hefte, hg. v. A. Eggebracht u. P. von Zahn, Hamburg; Jg. 1 (1946), H. 4; Jg. 2 (1947), H. 1; Jg. 2(1947), H. 6. W. Künneth, „Friedrich Nietzsche, ein Künder der deutschen Katastrophe", Zeitwende 19 (1948), H. 11; T. Steinbüchel, Friedrich Nietzsche. Eine christliche Besinnung, Stuttgart 1946. A. von Martin, „Geistige Wegbereiter des deutschen Zusammenbruchs: Nietzsche und Spengler", Hochland 39 (München 1946/47). K. Algermissen, Nietzsche und das Dritte Reich, Celle 1946; E. Barthel, Nietzsche als Verführer, Baden-Baden 1947; A. Wenzl, „Nietzsche Versuchung, Verhängnis und Aufgabe", Philosophische Studien 2 (Berlin 1950/51). -

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und Rekonstruktion

versus

Ausbürgerung

43

kontrovers und mit welcher Intensität in der unmittelbaren Nachkriegszeit um Nietzsche gerungen wurde. Ein Unterschied zwischen den vier Besatzungszonen ist für diesen Zeitraum 1945/46 noch kaum festzustellen. Hitler und Rosenberg als Vollstrecker des „Hauptteils des nietzscheanischen, geistigen Erbes" zu bezeichnen, wie es der Kommunist und spätere Kulturfunktionär Alexander Abusch in seinem Buch Irrweg einer Nation tut, war auch eine von Katholiken, Protestanten und anderen Kritikern häufig geäußerte Ansicht. Umgekehrt gab es auch differenzierende Töne: Ernst Niekisch, Kommunist und späterer Hochschullehrer für Geschichte an der Humboldt-Universität, warnte in seinem Essay Im Vorraum des Faschismus davor, Nietzsche auf eine Formel bringen zu wollen:

„[...] sei

gibt es einen aufklärerischen Nietzsche (Morgenröthe), der so freigeistig ist, als Zeitgenosse Voltaires; ein anarchistischer Nietzsche löst ihn ab, der fast Stir,Einzigem' den Rang abläuft und dem totalen Nihilismus zuzustreben scheint [...].

er

ners

so

der

In Jenseits von Gut und Böse' ist er insbesondere bei sich selbst und dieser Nietzsche ist es, der für die Entwicklungsgeschichte der deutschen Intelligenz zum Verhängnis -

geworden ist."35

In den Schriften Jenseits von Gut und Böse und Wille zur Macht, so Niekisch, sind dann schon alle Motive des aufsteigenden „cäsaristisch-faschistischen Imperialismus" enthalten, „[...] sie können als dessen eigentlichste Programmschrift Erste Anzeichen einer sich in Ost/West teilenden Nietzscherezeption in Deutschland lassen sich jedoch bereits im Jahr 1947 dingfest machen. In der vom Kulturbund veranstalteten Diskussionsrunde im Februar 1947 zum Thema „Gibt es eine besondere deutsche geistige Krise?" bemerkte Alexander Abusch mit Blick auf die in den Westzonen betriebene Philosophie: „Es ist heute wieder modern geworden, Nietzsche zu entschuldigen und zu leugnen, daß Nietzsche auf seine Weise ein Wegbereiter der nazistischen Ideologie gewesen ist."37 Bei Nietzsche, dem „ersten unverhüllten Antihumanisten in der deutschen Philosophie", erhebe sich unter den

gelten".36

„dunklen, berauschenden Schönheiten des Stils nackt und grausam die Herrenmoral des

Übermenschen [...]; dazu der Hohn für den ,kleine-Leute-Geruch', die antidemokratische Verachtung für das Volk. Was Nietzsche persönlich glaubte und zu denken meinte, ändert nichts an der objektiven historischen Wirkung seiner Philosophie. Der als ,Kulturrevolutionär' bezaubernde Nietzsche, bei dem man [...] übersah, daß ihm Bismarck noch zu liberal war, wurde einer der philosophischen Wegbereiter des bedenkenlosen Macht- und Eroberungsgeistes des deutschen Großbürgertums, das gerade in jenen Jahrzehnten zum Monopolkapitalismus übergegangen war. Nietzsches Philosophie sprengte die geistigen Schutzwälle, welche die deutsche Klassik in

unserem

Aufkommen des Nationalsozialismus hätte verhindern

34 35 36 37

Abusch, Irrweg einer Nation, Berlin 1945, 155. Niekisch, „Im Vorraum des Faschismus", Aufbau 2 (1946), 128. Ebd., 129. A. Abusch, Diskussionsbeitrag zu „Gibt es eine besondere deutsche, geistige Krise?", Aufbau 4 (1947),

A. E.

308. 38

Volk erbaut hatte und die das

können."38

Ebd., 278 f.

Norbert

44

Kapferer

Der Vorwurf, daß Nietzsche, obwohl als Präfaschist entlarvt, im Westen wieder verteidigt, ja rehabilitiert werde, kam auch im Zuge der 1947 nunmehr einsetzenden Kampagne gegen den Existentialismus zum Tragen. Seit der Kontroverse mit Jaspers in Genf 194639 hatte Georg Lukács, dessen Schriften nun neu aufgelegt wurden, in Vorträgen und Diskussionen in der SBZ begonnen, den Existentialismus pauschal als imperialistische bzw. prä- und postfaschistische Philosophie mit Nietzsche als Ahnherren zu attackieren und aus dem Erfolg dieser Philosophie im Westen entsprechende politische Schlußfolgerungen gezogen. Diese Strategie machte sich nun auch das theoretische Zentralorgan der SED Einheit zu eigen, indem es in einem Artikel im Juni 1947 die im Westen von „Kapitalisten geförderte existentialistische Modephilosophie" als Rehabilitierung Nietzsches und anderer „reaktionärer"

Ideologen

angriff.40

Im Juni 1947 schaltete sich Thomas Mann mit seinem Vortrag „Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung", gehalten vor dem PEN-Club in Zürich, in die Debatte ein. Allem Anschein nach suchte der in Ost und West gleichermaßen angesehene Schriftsteller, eingedenk seiner eigenen Hochschätzung Nietzsches, im Streit zu vermitteln, mehr noch, ihn den Sozialisten näherzubringen:

„Als Denker, der mit seinem ganzen Wesen von Anbeginn aus dem Bürgerlichen heraustrat, hat er die faschistische Komponente der nachbürgerlichen Zeit scheinbar bejaht und die sozialistische verneint, weil diese die moralische war, und weil er Moral überhaupt mit bürgerlicher Moral verwechselte. Aber dem Einfluß des sozialistischen Elements im Kommenden hat seine Empfindlichkeit sich gar nicht entziehen können, und das ist es, was die Sozialisten verkennen, die ihn als Faschisten pur sang verrufen. Es ist so einfach nicht, so viel für diese Vereinfachung vorgebracht werden kann."41 -

Manches was Nietzsche dachte und vortrug, so Mann, konnte wohl in den „Argot des Faschismus" eingehen bzw. war geeignet, in der „Schund-Ideologie des Faschismus" seinen Platz zu finden. Würde man ihn daran allein messen, so stünde es in der Tat schlecht um Nietzsche. Aber, so fährt Mann fort: „Man sollte sich doch nicht täuschen lassen: Der Faschismus als Massenfang, als letzte Pöbelei und elendestes Kulturbanausentum, das je Geschichte gemacht hat, ist dem Geiste dessen, für den sich alles um die Frage ,Was ist vornehm?' drehte, im tiefsten fremd [,..]."42 Nicht Nietzsche habe den Faschismus gemacht, sondern umgekehrt, der Faschismus ihn mißbraucht. Demgegenüber betonte Mann den „sozialistischen Einschlag in seiner Vision des nachbürgerlichen Lebens".43 So habe sein „Kulturbegriff [...] hie und da eine starke sozialistische, jedenfalls nicht mehr bürgerliche Färbung" und von „Arbeiterfeindschaft"44 könne pauschal nicht geredet werden.

N. Kapferer, „Das philosophische Vorspiel zum .Kalten Krieg'. Die Jaspers-Lukács Kontroverse in Genf 1946", in: K. Salamun (Hg.), Jahrbuch der österreichischen Karl Jaspers Gesellschaft, Jg. 6, Wien 1992. 40 Einheit 6 (1947), 565. 41 T. Mann, Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, in: Werke. Schriften und Reden zur Literatur, Kunst und Philosophie, Bd. 3, hg. v. H. Bürgin, Frankfurt a.M./Hamburg 1968, 41. 42 Ebd., 42. 43 Ebd. 44 Ebd., 43. 39

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Ausbürgerung

Solche Interpretationsangebote konnten die Marxisten/Leninisten nicht mehr erreichen, denn deren ideologische Marschroute in Sachen Nietzsche, wie überhaupt hinsichtlich „spätbürgerlicher Philosophie", war längst festgelegt. Auf dem „Weltkongreß der Kulturschaffenden" (1948) wiederholte Lukács noch einmal seine Formel „Wir finden nichts bei Hitler, was nicht schon bei Nietzsche oder Bergson, bei Spengler oder Ortega y Gasset geistig vorbereitet gewesen wäre" .45 Verkündet wurde die Generallinie dann von fast höchster politischer Autorität, von Otto Grotewohl in seiner gleichfalls 1948 erschienenen Broschüre Die geistige Situation der Gegenwart und des Marxismus. Sie lautet: Nietzsche war der „Verteidiger des deutschen Imperialismus", der die „Macht der Demokratie und die wachsende Kraft der Arbeiterklasse" witterte und deshalb der „herrschenden Klasse eine neue Herrenmoral" predigte. Als Verächter von „Vernunft und Dialektik", Verneiner von „Demokratie und Sozialismus" ist er als „Wegbereiter der nazistischen Ideologie" anzusehen und abzulehnen.46 Noch eindringlicher als sein Genosse Abusch ein Jahr zuvor warnte Grotewohl vor einem „Wiedererwachen des Nietzscheanismus im Westen". Damit war deutlich gesagt, daß die Beschäftigung mit Nietzsche und vor allem dessen Bewertung nicht länger als eine bloß akademische Übung von Philosophen, sondern als ein Politikum angesehen werde. In welcher Form man sich künftig mit Nietzscheliteratur auseinanderzusetzen gedachte, davon lieferte schon ein Kommentar des SED-Organs Einheit im Juni 1948 einen Vorgeschmack: „Die sich im Schütze des amerikanischen Monopolkapitals organisierende Reaktion fühlt sich heute unter dieser hohen Protektion anscheinend sicher genug, um Nietzsche unverblümt zu verteidigen. Das beweist ein kürzlich erschienenes Buch von Dr. Erich Schneider ,Auch ein Weg zur Philosophie', das im amerikanisch lizensierten Hammerverlag heraus-

kam."47

Wie weit der Marxismus-Leninismus und seine Kaderphilosophen im Jahre 1948 schon die philosophische Landschaft Ostdeutschlands dominierten, läßt sich neben vielem anderen48 auch an der öffentlichen Auseinandersetzung mit Nietzsche ablesen. Die wenigen nichtkonformen, um kritische Differenzierung bemühten Beiträge kann man an fünf Fingern -

-

abzählen.49

Am Vorabend der politischen Teilung Deutschlands waren also schon die Weichen für die Nietzsche-Rezeption in der künftigen DDR gestellt bzw. die Kontroverse um Nietzsches Mitschuld am Nationalsozialismus qua marxistisch-leninistischem Urteil in letzter Instanz bereits entschieden. Im Westen wogte dagegen der Streit um Nietzsche fort, ja entzündete sich stets von neuem, zumal dann, wenn bestimmte Persönlichkeiten wie Georg Friedrich Jünger,50 Gottfried Benn,51 Carl August Emge52 u. a. das Wort ergriffen.

G. Lukács, „Verantwortlichkeit der Intellektuellen", Forum 2 (1948), zit. nach G. Lukács zum 60. Geburtstag, Berlin 1955, 232. 46 O. Grotewohl, Die geistige Situation der Gegenwart und der Marxismus, Berlin 1948, 6. 47 Einheit 1 (1948), 659. 48 N. Kapferer, Das Feindbild der marxistisch-leninistischen Philosophie der DDR, Darmstadt 1990, 9 ff. 49 E. Siewert, „Nietzsche vor der Spruchkammer", Die Weltbühne 2 (1947), H. 8; zwei kleinere Beiträge in Auflau, H. 11 (1947), 355 u. H. 4 (1948), 360. 50 „Nietzsches Werk ist wohl versiegelt. Es ist mächtig genug, um der Bewunderung wie dem Hasse Widerstand entgegenzusetzen, denn es ist auf Epochen des Denkens hin angelegt und entworfen. Daher ist es für politische Zwecke der Gegenwart nicht zu verbrauchen. In ihm liegt kein Verhältnis von Mitteln und Zwecken, das sich von findigen Köpfen schnell vernutzen ließe. Denken und eine politische 45

Norbert

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Kapferer

3. Diskussionen und Positionen in den Westzonen und der Bundesrepublik bis 1960 Neben dieser Auseinandersetzung um Nietzsches politische und ideologische Bedeutung für die Jahre 1933-1945 spielten in den ersten Nachkriegsjahren im Westen aber auch solche im engeren Sinn philosophische Themen wieder eine Rolle, die schon in den dreißiger Jahren diskutiert wurden, wie etwa „Nietzsche und der Nihilismus"53 bzw. „Nietzsche und die Krise des europäischen Bewußtseins" oder „Nietzsches Ort in der Geschichte der Philosophie". Angeknüpft wurde hierbei an diesbezügliche Vorschläge von Löwith (1933) und Jaspers (1936), Nietzsche mit Sören Kierkegaard zu konfrontieren, deren Gegensatz und Verwandtschaft aufzuzeigen54 oder überhaupt Nietzsches Bedeutung für das Christentum zu bestimmen.55 Positive Aufnahme bei verschiedenen Autoren fand hierbei Jaspers These, „Nietzsches Kampf gegen das Christentum" nicht einem vordergründigen Atheismus, sondern „christlichen Antrieben" zuzuschreiben.56 -

-

Karl

Jaspers

Die Abhandlung Nietzsche und das Christentum hatte Jaspers schon 1938 verfaßt, doch sie konnte erst nach dem Kriege veröffentlicht werden. Jaspers rief hier unter Verweis auf „entgegengesetzte Deutungen und Wertschätzungen"57 Nietzsches äußerst widersprachs-

Situation ausbeuten sind verschiedene Dinge. Es gibt zwar keinen Gedanken, mit dem nicht Mißbrauch getrieben wird, doch fallt dieser Mißbrauch rasch auf den zurück, der ihn übt." (F. G. Jünger, Nietz-

51

sche, Frankfurt a.M. 1949, 169) „Nun kommen einige und sagen, Nietzsche ist politisch gefährlich. Unter diesem Gesichtspunkt muß man sich nun allerdings einmal die Politiker betrachten. Das sind Leute, die, wenn sie rhetorisch werden, sich immer hinter den Thesen von Geistern verstecken, die sie nicht verstehen, von geistigen Menschen. Was kann Nietzsche dafür, daß die Politiker nachträglich bei ihm ihr Bild bestellten?" (G. Benn, „Nietzsche nach fünfzig Jahren", Lot 4 [1950], zit. nach G. Benn, Das Hauptwerk, Bd. 2, Wiesbaden/München 1980, 305) Benn hatte allerdings in den dreißiger Jahren den Nazis lyrische -

Offerten unterbreitet und sich der „Züchtungs"-Poesie Nietzschescher Metaphorik bedient. „Weder Mussolini noch Hitler noch Rosenberg haben das Recht, sich auf Nietzsche zu berufen. Naseweisen und Allwissenden ist jeder Hinweis auf den menschlich-übermenschlichen Problematiker verboten." (C. A. Emge, „Nietzsche als Sündenbock", Berliner Hefte 2 [1947], H. 1, 38) Als Vorsitzender des wissenschaftlichen Ausschusses im Nietzsche-Archiv hatte Emge 1933 allerdings keine Bedenken, Nietzsche in die Nähe von Hitler und Mussolini zu rücken. 53 L. Landgrebe, „Zur Überwindung des europäischen Nihilismus", Hamburger Akademische Rundschau 1 (1946/47); W. Bröcker, „Nietzsche und der europäische Nihilismus", Zeitschriftfür philosophische Forschung, Bd. 3 (1949). 54 W. Weylann-Weihe, Die Entscheidung des Menschen. Nietzsche als geschichtliche Wirklichkeit, Freiburg 1948. 55 K. H. Volkmann-Schluck, „Zur Gottesfrage bei Nietzsche", in: Anteile. Festschriftfür Martin Heidegger, Frankfurt a.M. 1950. 56 B. Weite, Nietzsches Atheismus und das Christentum, Darmstadt 1958; G. G Grau, Christlicher Glaube und intellektuelle Redlichkeit. Eine religionsphilosophische Studie über Nietzsche, Frankfurt a.M. 1958. 57 K. Jaspers, Nietzsche und das Christentum, Hameln 1946, 8.

52

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Christentum in Erinnerung und verwies darauf, daß diese keinesweg einen „Grundzug" in seinem Denken hervortreten lasse: Nietzsches „Feindschaft gegen das Christentum" als „Wirklichkeit" sei untrennbar von seiner „tatsächlichen Bindung an das Christentum als Anspruch": „Sein Kampf gegen das Christentum intendierte nämlich weder Preisgabe noch Rückgängigmachung, sondern Überwindung des Christlichen durch ein Überchristliches."58 Ausgangspunkt von Jaspers „kritischer Analyse" war die Feststellung, daß Nietzsche aus „christlichen Antrieben" das Christentum bekämpfte. Da diese Antriebe von vornherein aber ohne „christliche Gehalte" wirksam wurden, führten sie ihn zunächst zum „Nihilismus", dann zu einer „Gegenbewegung gegen den .Nihilismus'", aus welcher er einen „ganz neuen Ursprung", eine „neue Philosophie" zu gewinnen trachtete.59 Jaspers wollte nun aufzeigen, inwieweit sich Nietzsche dieser „christlichen Antriebe" bewußt war und dabei herausfinden, ob seine „neue Philosophie" noch etwas mit dem „christlichen Ausgang" zu tun habe.60 Wie Jaspers nun im folgenden darlegte, hat Nietzsche die „Ursache des Todes Gottes"61 und das Heraufziehen des „Nihilismus"62 als eine „Konsequenz des Christentums" samt seiner „Verwandlungen"63 und des ihm immanenten Wahrhaftigkeitsstrebens durchschaut, weswegen ihm auch nicht entgehen konnte, daß sein eigener „Wahrheits- und Wissenschaftswille" die Speerspitze seines Angriffs gegen das Christentum, selbst christlicher Herkunft war.64 Wahrheitsantrieb und Moralkritik verstand er „als letztes Ergebnis christlicher Moralität".65 Schließlich tradierte Nietzsche mit der Rede vom „Fundamental-Verfehlten im Menschen" die Idee der „Verlorenheit des Menschen und Möglichkeit seines Heils"66 ein christliches Grundschema, und folgte in seiner „Vision der ,Weltgeschichte'" einem „christlichen Ursprung",67 ohne freilich die für das „Christliche" so entscheidende „Bezogenheit zur Gottheit" mit zu übernehmen. Laut Jaspers wurde Nietzsche also „von christlichen Überlieferungen angetrieben", doch niemals derart, „daß auch nur ein Augenblick ein Weg zur Wiederherstellung des Christentums für ihn offen stünde".68 Gleichwohl gebe Nietzsche in seiner, gegen das Christentum und den Nihilismus gerichteten „neuen Philosophie", die in den Worten „Leben, Stärke, Wille zur Macht, Übermensch, Werden, ewige Wiederkehr, Dionysos"69 beschlossen liege, eine Reihe von Hinweisen, die den zuvor aufgebauten Gegensatz „Jesus und Dionysos" relativieren. So nehme er Jesus „ausdrücklich für seine eigene Position in Anspruch",70 ja „identifizierte" sich mit ihm, so daß eine „wunderliche Zweideutigkeit" von Kampf und Identifikation, von Verneinung und Bejahung zutage trete. Hieran zeige sich,

volles Verhältnis

zum

zufällige Widersprüchlichkeit

,

58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70

K.

Jaspers, Nietzsche

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

13. 14. 15. 16. 17 ff. 42. 66. 53. 67.

Ebd.

Ebd., 70. Ebd., 72.

und das

Christentum, 9.

Norbert

48

Kapferer

wie Nietzsche im Kampfe den Gegner einbezieht, „ihn nicht vernichten will, seine Fortdauer wünscht, auch sogar die Fortdauer des Christentums".71 Was Nietzsche als einen Grandzug der „frohen Botschaft Jesu" vorfand, nämlich die „Verwerfung von Gegensätzen", das machte er sich selbst zum Grundsatz. So finde man bei ihm die „erstaunlichsten Versuche", das zuvor Geschiedene wieder in eine „höhere Einheit" zu bringen, wie zum Beispiel die Synthese des „letzten Gegensatzes in den Herrscher-Tugenden [...], der römische Cäsar mit Christi Seele".72 Wenngleich auch im Vordergrund der Schriften Nietzsches der „Vernichtungswille gegen das Christentum" steht, so verwirkliche der „ganze Nietzsche" zugleich eine Denkungsart, die „diese Tendenz als alleinherrschende aufheben muß".73 Aufgabe einer „kritischen Aneigung" sei daher, „Nietzsches eigentliche Philosophie" nicht in „Vordergründen" versinken zu lassen. In seinem 1950 erschienenen Beitrag Zu Nietzsches Bedeutung in der Geschichte der Philosophie sprach Jaspers von den drei Denkern, die, obwohl dem 19. Jahrhundert entstammend, doch erst im 20. Jahrhundert zur Geltung kamen und unter deren Wirkung das heutige Denken stehe, wobei deren Aneignung noch unvollendet sei: Kierkegaard, Marx und Nietzsche. Alle drei gehören Jaspers' Auffassung nach nicht mehr der überlieferten Philosophie an, auch wenn sie humanistischer Herkunft und voll der Überlieferung waren. Zwar ist ihre Sprache, ihre „Lehre" und ihre Zielsetzung ganz verschieden, doch an Gemeinsamkeiten fehle es nicht. So hatte jeder von ihnen eine „Vision des Zeitalters", eine „erstaunliche Hellsicht" für das, was sonst niemand in ihrer Zeit bemerkte. In der „Erregung eines weltgeschichtlichen Augenblicks" bewußt lebend, haben sie „vorausgesehen und ausgesprochen, was kommen wird, weil sie dessen Keime in ihrer Gegenwart schon sahen".74 Als weitere signifikante Gemeinsamkeiten führte Jaspers deren „ungehemmte Reflexion", deren „Radikalität des undogmatischen ständigen Voranschreitens", deren „Leidenschaft im Erweckenwollen der Anderen" an. Gleichwohl seien sie nicht die „Führer eines neuen Menschseins", „Propheten" zwar durch ihr Opfer, aber nicht „als Stifter einer neuen Welt". In der Rolle von „verhängnisvoll zweideutigen Propheten" forderten und verwirklichten sie „Wahrhaftigkeit", doch sie brachten gleichfalls das „Vernichtende". Dire „Unumgänglichkeit als Erzieher" barg stets „unerhörte Gefahr".75 Während Kierkegaard „zum Ende des Christentums wird, das er radikal gegen die Kirche behauptet", Marx zum „Künder der Wissenschaft [...], die keine mehr ist", so Nietzsche zum Propagandisten einer „Metaphysik des Willens zur Macht", die nach „Führertum und Gesetzgebung des Einen" verlange. Aufgrund eines „totalen Nihilismus" sehe Nietzsche die „Wiedergeburt" nur durch die Männer gewährleistet, „die die Weltgeschichte mit erbarmungsloser Konsequenz, total planend, in die Hand nehmen".76 Alle drei, so Jaspers weiter, erwarteten das „Heil" durch die völlige Zerschlagung dessen, was „überkommen" war, und ernteten das Gegenteil: Durch Kierkegaard wurde eine „neue Orthodoxie" möglich, Marx' wissenschaftlich verkleidete „Eschatologie" erregte den „Glauben an eine neue Magie" und Nietzsches „Übermensch" verkam

71 72 73 74 75 76

K.

Jaspers, Nietzsche und das Christentum, 1A.

Ebd., 75. Ebd., 77. K.

Jaspers,

Ebd., 395. Ebd., 396.

Zu Nietzsches

Bedeutung,

394.

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49

„zum Züchtungsgedanken, zur Apotheose der Macht, zur Verklärung des Lebens als dionysischer Wirklichkeit".77 Dieses Erschreckende darf jedoch, wie Jaspers betonte, nicht dazu führen, das zu verkennen, „was heute noch und was unerschöpft an aufrüttelnder Wahrheit [...] unersetzlich [aus ihnen] zu uns spricht". An Nietzsche meinte Jaspers den Vorzug der „Redlichkeit" eines Denkens in Gegensätzen zu erkennen, das nicht den Extremen verfällt und schon gar keine Gefolgschaft gebietet, wenn es dazu auffordert: „Folge nicht mir nach, sondern dir."78 Wichtig sei die „Bewegung des Selbstüberwindens" in seinem Denken, das „Auflockern" und das zu den eigentlichen Problemen und zu sich selbst Hinfuhren, das den Leser nicht belehrt, sondern erweckt. So korrigierte er oftmals selbst seine Gedanken in neuen Gedanken, ohne es ausdrücklich zu sagen, und entwickelte dabei gegen fixierte Dogmatismen „eine vollendete Offenheit für andere Möglichkeiten".79 Wer Nietzsche wortwörtlich nehme, an seinen Worten kleben bleibe, verfehle ihn: „Uns mit Nietzsche gegen Nietzsche zu verbünden, seinen Kampf mit sich selbst unsererseits zu wiederholen, das erscheint als ein rechter Weg."80 Diese Position, daß Nietzsches eigentliche philosophische Bedeutung weniger in einer Lehre mit Resultaten, sondern in einem ständigen „Auf-dem Weg-sein", einem Überschreiten", einem „Transzendieren" bestehe, vertrat Jaspers bereits in seiner Vorkriegsschrift und in seiner Schrift von 1946, wo er noch einmal unterstrich: -

-

„Wenn Nietzsche das einschneidendste philosophische Ereignis nach dem Ende des philosophischen Idealismus in Deutschland ist, so kann der Gehalt dieses Ereignisses offenbar

nicht wesentlich ein Inhalt, ein Bestand, eine Wahrheit sein, die man in Besitz nehmen könnte, sondern nur die Bewegung selbst, das heißt ein Denken, das ganz und gar nicht abschließt, sondern den Raum frei macht, keinen Boden bereitet, sondern nur ein unbekanntes Zukünftiges ermöglicht."81 Wie schon Jaspers und Löwith, so hatte auch Heidegger sich in den dreißiger Jahren zum Thema Nietzsche und der Nihilismus geäußert, aber nichts hiervon veröffentlicht. Was er zwischen 1936 und 1940 in seinen Nietzsche-Vorlesungen behandelte, erschien in überarbeiteter Fassung erst nach 1945.

Heidegger Im Brief über den Humanismus (1947), seiner ersten Nachkriegspublikation, finden sich nur einige wenige Bezugnahmen auf Nietzsche, die kaum ahnen ließen, welch zentralen Stellenwert der Seinsphilosoph dem Dichter des Zarathustra nunmehr einzuräumen gedachte. Davon legten erst die drei nachfolgenden Abhandlungen, Nietzsches Wort: ,Gott ist tot'

11 78 79 80 81

K.

Jaspers, Zu Nietzsches Bedeutung, 397.

Ebd., 401. Ebd., 391. Ebd., 400. K.

Jaspers, Nietzsche und das Christentum, 78.

Norbert

50

Kapferer

(1950), Was heißt Denken? (1952) und Wer ist Nietzsches Zarathustra? (1953), die die wesentlichen Züge seiner Nietzsche-Auslegung schon beinhalteten, Zeugnis ab. Es ging Heidegger hier darum, Nietzsches Grundstellung innerhalb der Geschichte der

abendländischen Metaphysik seit Piaton und Aristoteles im Lichte seiner seinsphilosophischen Perspektive zu klären. Dabei machte er von vornherein deutlich, daß seine Art der Auslegung „nicht nur dem Text" etwas entnimmt, sondern auch „Eigenes" dazugibt, das, „was der Laie [...] als ein Hineindeuten" bemängelt. Dieses „Eigene" bzw. dieses „anders verstehen [...] als der Verfasser ihn verstand" muß freilich „so sein, daß es das Selbe trifft, dem der erläuterte Text nachdenkt".82 Wie Heidegger ausführte, hat Nietzsche nie „existentiell" philosophiert, sondern metaphysisch gedacht. Die „üblich gewordene, aber deshalb nicht weniger fragwürdige Zusammenstellung Nietzsches mit Kierkegaard" verkenne, daß er als metaphysischer Denker „die Nähe zu Aristoteles wahrt", dem Kierkegaard als „religiöser Schriftsteller" stets fern blieb.83 Für Heidegger ist Nietzsches Denken „metaphysisch", weil es „das Seiende als das Seiende"84 vorstellt. Seiner Auffassung nach beginnt Nietzsches Weg zur „Ausbildung seiner metaphysischen Grundstellung" mit der Schrift Die fröhliche Wissenschaft. Zwischen dieser Schrift und der „vergeblichen Mühsal mit der Gestaltung des geplanten Hauptwerkes" liegt die Veröffentlichung des Zarathustra. Das „geplante Hauptwerk" ist laut Heidegger nie vollendet worden und sollte zeitweilig den Titel Wille zur Macht und den Untertitel Versuch einer Umwertung aller Werte erhalten.85 Im Gegensatz zu Alfred Baeumler, der den Willen zur Macht als das eigentliche Hauptwerk Nietzsches ansah, insistierte Heidegger darauf, daß dieser Titel vielmehr das „Grundwort der endgültigen Philosophie Nietzsches" bezeichnet, das zum ersten Mal, „in dem Zusammenhang, aus dem es begriffen werden muß [,..]",86 im zweiten Teil des Zarathustra fiel. An anderer Stelle kennzeichnete Heidegger die Kompilation Baeumlers als „[...] das, was man aus dem Nachlaß Nietzsches zusammengestöppelt und unter dem Titel .Willen zur Macht' publiziert hat".87 Auf Baeumler war wohl auch der Satz gemünzt: „Was Wille zur Macht im Sinne Nietzsches heißt, verstehen wir niemals anhand irgend einer populären Vorstellung über Wollen und Macht, sondern allein auf dem Wege einer Besinnung über das metaphysische Denken und d. h. zugleich über das Ganze der Geschichte der abendländischen Metaphysik."88 Mit Nietzsches Wort „Gott ist tot", dem Ausgangspunkt seiner Überlegungen, wollte Heidegger erläutern, was unter dem Begriff „Nihilismus" zu verstehen ist und wie Nietzsche selbst dazu steht. Nihilismus als Grandbewegung der Geschichte des Abendlandes sei für ihn gleichbedeutend mit der „Entwertung der bisherigen obersten Werte": Gott, die übersinnliche Welt als die wahrhaft seiende und alles bestimmende Welt, die Ideale und Ideen, die Ziele und Gründe, die alles Seiende bestimmen und tragen. Diesen historischen Vorgang bewerte Nietzsche nun keineswegs nur als eine „Verfallserscheinung", sondern als eine Art 82 83 84 85 86 87 88

M.

Heidegger, Nietzsches

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

Wort ,Gott ist tot'

[1950], in: Holzwege,

Frankfurt a.M.

1952, 197.

230. 194. 197. 215.

M. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra? 116. M. Heidegger, ,Gott ist tot', 215.

[1953], in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1978,

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und Rekonstruktion

versus

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Ausbürgerung

„Gesetzlichkeit", „innere Logik" der abendländischen Geschichte, die

zu einer „neuen einer aller Werte" Wie Sinne im Wertsetzung" „Umwertung dränge. Heidegger weiter ausführte, bezeichnete Nietzsche die neue Wertsetzung auch noch als „Nihilismus", „nämlich als denjenigen, durch den sich die Entwertung zu einer neuen und allein maßgebenden Wertsetzung vollendet",89 und nannte dann diese „maßgebende Phase" den „vollendeten Nihilismus". Diesem „Nihilismus" als „Umwertung aller bisherigen Werte" stehe Nietzsche „bejahend" gegenüber. „Der Name Nihilismus bleibt daher mehrdeutig [...] zunächst immer zweideutig, insofern er einmal die bloße Entwertung der bisherigen obersten Werte bezeichnet, dann aber zugleich die unbedingte Gegenbewegung zur Entwertung meint."90 Im Unterschied zum „unvollständigen Nihilismus", so Heidegger weiter, der durch „Weltbeglükkungslehren", „Sozialismus" nur neue Ideale anstelle der abgewirtschafteten alten errichtet, muß der „vollständige Nihilismus" die „Wertstelle selbst", das „Übersinnliche als Bereich" beseitigen und „demgemäß die Werte anders setzen, umwerten".91 Nach Heidegger ist Nietzsche nun der erste Denker, der im Hinblick auf das heraufziehende Zeitalter des Nihilismus die „entscheidende Frage stellte und sie in ihrer metaphysischen Tragweite durchdachte", ob der Mensch für die „Übernahme der Erdherrschaft" vorbereitet ist.92 Wenn nämlich Gott und die Götter tot sind, dann geht „die Herrschaft über das Seiende als solches in der Gestalt der Herrschaft über die Erde an das neue, durch den Willen zur Macht bestimmte Wollen des Menschen über".93 Klarer als je einer vor ihm, so Heidegger, sah Nietzsche „die Notwendigkeit eines Überganges und damit die Gefahr, daß der bisherige Mensch sich immer hartnäckiger auf die bloße Ober- und Vorderfläche seines bisherigen Wesens einrichtet und das Flache dieser Flächen als den einzigen Raum seines Aufenthalts gelten läßt".94 Nietzsches Antwort, daß der Mensch der Aufgabe, sich die Erde „Untertan" zu machen, erst dann gewachsen sei, wenn er sich „über" sich selbst hinausgebracht hat, also ein „Übermensch" geworden ist, hat Heidegger zufolge zu Fehldeutungen, ja „zügellosen und ausgearteten und ins Leere wegstürmenden Phantasien"95 geführt. „Übermenschen" seien gerade nicht in jenen Figuren zu sehen, „die als Hauptfunktionäre eines vordergründigen und mißdeuteten Willens zur Macht in die Spitzen seiner verschiedenen Organisationsformen geschoben werden".96 Der „Übermensch", wie ihn Nietzsches Zarathustra lehrt, ist nach Heideggers Auslegung jedoch ein ganz anderer, nämlich der von „Rache" erlöste Mensch. In Anbetracht dessen, so Heidegger, muß die „gängige Meinung, die man sich über die Philosophie Nietzsches zurecht gemacht hat, [...] Nietzsche als [...] der Antreiber zum Willen zur Macht, zu Gewaltpolitik und Krieg, zur Raserei der ,blonden Bestie' [...] in sich zerfallen".97 Ob jedoch durch die Lehre Zarathustras bzw. durch den von Nietzsche eingeschlagenen Denkweg der „Geist der Rache" überwunden werden kann, wagte Heidegger anzuzweifeln. Zarathustra lehre nämlich sowohl den „Übermenschen" als auch die „ewige Wiederkehr des

89 90 91 92 93 94 95 96 97

M.

Heidegger, ,Gott

ist tot', 206.

Ebd., 207. Ebd., 208. M. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, 102. M. Heidegger, ,Gott ist tot'. 235. M. Heidegger, „Was heißt Denken?", Vorlesung 1951-1952, M. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, 102. Ebd. Ebd., 106 f.

Tübingen 1971,

24.

Norbert

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Gleichen" : „Die Erlösung von der Rache ist der Übergang vom Widerwillen gegen die Zeit zum Willen, der das Seiende in der ewigen Wiederkehr des Gleichen vorstellt, indem der Wille zum Fürsprecher des Kreises wird."98 Die Willensmetaphysik ist demzufolge nicht aufgehoben, so daß sich die Frage stellt, inwiefern sich hinter der „ewigen Wiederkehr" nicht doch auch noch ein „Widerwille gegen das bloße Vergehen und somit ein höchst vergeistigter Geist der Rache"99 verbirgt. Desgleichen kann im Falle des „Willens zur Macht" als dem „gewollten Prinzip einer neuen Wertsetzung" von einer Überwindung der Metaphysik nicht die Rede sein, weil die Herrschaft der bisherigen obersten Werte des Übersinnlichen nur zugunsten der Herrschaft des Sinnlichen umgekehrt wurde. „Nietzsche hält diese Umkehrang für Überwindung der Metaphysik. Allein jede Umkehrang dieser Art bleibt nur die sich selbst blendende Verstrickung in das unerkennbar gewordene Selbe."100 Sowenig wie jede Metaphysik vor ihm habe Nietzsche das „Wesen des Nihilismus" erkannt.101 Weil er am Wertdenken festhielt, konnte er die Neusetzung der Werte aus dem „Prinzip aller Wertsetzung" nicht mehr als ein „Töten" und als „Nihilismus" denken, denn das „Wertdenken der Metaphysik des Willens zur Macht ist in einem äußersten Sinne tödlich, weil es überhaupt das Sein selbst nicht in den Anfang und d. h. in die Lebendigkeit seines Wesens kommen läßt".102 Dies alles wollte Heidegger allerdings nicht als Einwand, gar als „Widerlegung" der Philosophie Nietzsches verstanden wissen. Es minderte für ihn nicht im Geringsten die Größe dieses Denkers, der die „Vollendung der Metaphysik" vollzog. Im Gegenteil: Als Vollendung der Metaphysik komme in Nietzsches Denken etwas zum Vorschein, „was dieses Denken selber nicht mehr zu denken vermag. Solches Zurückbleiben hinter dem Gedachten kennzeichnet das Schöpferische eines Denkens".103 Die „ewige Wiederkehr des Gleichen", aus Heideggers Sicht der „abgründlichste Gedanke Nietzsches", bleibe ein „Rätsel" und es spreche nichts dagegen, daß dieser Gedanke „etwas Ungedachtes verbirgt, was sich dem metaphysischen Denken zugleich verschließt".104 Einige Jahre später wurde Heideggers Interpretation von Eugen Fink wieder aufgenommen und in einem entscheidenden Punkt modifiziert: Fink sah Nietzsches Verhältnis zur Metaphysik gleichermaßen als „Gefangenschaft und Befreiung". Das Denken Nietzsches sei nicht nur Vollendung der Metaphysik, sondern auch ein erster Versuch, sich aus deren Fesseln zu befreien: „Eine nicht-metaphysische Ursprünglichkeit kosmologischer Philosophie findet sich in seinem Gedanken vom Spiel [...]. Wo Nietzsche Sein und Werden als Spiel begreift, steht er nicht mehr in der Befangenheit der Metaphysik."105

98 99 100 101 102 103 104 105

M.

Heidegger,

Wer ist Nietzsches

Zarathustra?, 114.

Ebd., 117. M.

Heidegger, .Gott

ist

tot', 118.

Ebd., 244. Ebd., 243.

Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, 118. Ebd., 122. E. Fink, Nietzsches Philosophie, Stuttgart 1960, 187 f. M.

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53

Karl Löwith Die

Neuauflage seiner Vorkriegsschriften nahm auch Karl Löwith zum Anlaß, um den Bedeutungswandel, den Nietzsches Bild und Werk erfahren hat, zu kommentieren und seine eigene Werkinterpretation in Erinnerung zu rufen. Im Vorwort der 1956 in umgearbeiteter Fassung erschienenen und um einen Anhang ergänzten 2. Auflage seines Buches Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen stellte er fest, daß Nietzsche uns heute anders anblicke als vor fünfzig Jahren, zur Zeit seines aufsteigenden Ruhmes. Manche seiner Vorhersagen hätten sich auf „unvorhergesehene Weise" erfüllt, andere seiner Aussagen seien zu „Gemeinplätzen" geworden. Vor allem habe Nietzsche nicht nur als erster den „europäischen Nihilismus" beim Namen genannt, sondern „ihm auch zum Dasein verholfen und durch seine Besinnung eine geistige Atmosphäre geschaffen, in welcher der ,Wille zur Macht' besinnungslos praktiziert werden konnte".106 Das Schwergewicht in der Beurteilung und Einschätzung Nietzsches veränderte sich über verschiedene Etappen, angefangen von der „Anerkennung des glänzenden Moralisten und Psychologen" über die „Zarathustra-Verehrung" der Weltkrieg I-Generation und die „Nietzsche-Karikatur des Dritten Reich" bis hin zur „endgeschichtlichen These", daß sich in Nietzsche die „Metaphysik des Abendlandes" vollende.107 Diese und andere Auslegungen mit den vielsagenden Titeln: Nietzsche als Künstler und Denker, Nietzsche und die Romantik, Nietzsche als Philosoph und Politiker zeigen, wie Löwith in seiner, im Anhang zu diesem Band abgedruckten kleinen Geschichte der Nietzsche-Deutung von 1894-1954 ausführt, welche Verlegenheit es stets bereitet hat, „sein Werk aus ihm selbst heraus zu verstehen".108 Baeumler, der „offizielle Befürworter und Herausgeber der Werke Nietzsches zur Zeit des dritten Reichs" wollte beispielsweise, wie Löwith notierte, aus Nietzsches Werk ein „einheitliches System" machen, ihm einen „heroischen Realismus" andichten. Dabei verkannte er völlig die „Art von Nietzsches Heroismus", der nicht bloß auf „Kampf" gründe, sondern auch auf „Leid und Idyll". Von einem „heroischen Idyll" wie von einem „heroisch aufgenommenen Leid" sei bei Baeumler aber nie die Rede. Den „Willen zur Macht" trenne er „willkürlich" vom „Zarathustra" und der „Wiederkunftslehre".109 Mit vielen Aphorismen könne Baeumler überhaupt nichts anfangen, weil sie in sein „System Nietzsche" nicht integrierbar sind. Nietzsches Ausfälle gegen Deutschtümelei würden einfach übergangen bzw. dreist in einen „Germanismus" umgedeutet.110 Nicht minder kritisch bewertete Löwith die Nietzsche-Deutungen der Existenzphilosophie. So sei bei Jaspers der Gesichtspunkt für die Auslegung von Nietzsches Lehre als eines „Philosophierens" nicht aus Nietzsche selbst, sondern aus seiner eigenen Existenzphilosophie entnommen: „Im Lichte dieser Methode erscheinen dann alle Positionen und Negationen von Nietzsches Denken als Formendes ,Transzendierens' [...] bzw. verwandeln sich Nietzsches .Rangordnungen des Lebens' zu Möglichkeiten der Existenz'."111

106 K.

107 108 109 110 111

Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen [1956], Vorwort, umgearb. Hamburg 1978, 11.

erg. Aufl., Ebd. Ebd., 199. Ebd., 211. Ebd., 212. Ebd., 220.

u.

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Den Gedanken der „ewigen Wiederkehr des Gleichen", degradiere Jaspers sonach zu einer „bloßen Chiffre der Transzendenz", wodurch nicht mehr ersichtlich werde, warum er für Nietzsche so wichtig war. Im Lichte dieser Existenzphilosophie erscheint Löwith zufolge Nietzsches Lehre lediglich als eine „schwindelerregende Bewegung", die alles Endgültige und Eindeutige meidet, aber einem Dogmatismus verfällt, wenn sie positive Bestimmungen setzt.112 Daß dies wohl kaum das gesuchte „Ganze" von Nietzsches Philosophie sein könne, unterstrich Löwith zusammenfassend in dem Satz: „Der Sprengstoff in Nietzsches Philosophie ist bei Jaspers wie ausgelaugt und in einem kunstvollen Netz von farblosen Begriffen seiner geschichtlichen Wirkung beraubt f...]."113 Wie Jaspers, so deute auch Heidegger sein eigenes Denken in Nietzsche hinein, „um sich in Nietzsche auszulegen". Löwith bezog sich hierbei auf Heideggers oben genannte Nachkriegspublikationen, denen er vorhielt, einzelne Sätze und Grandworte auszuwählen und deren Sinn ohne Rücksicht auf „mögliche Gegen-Sätze und Gegen-Worte" apodiktisch festzulegen."4 Desgleichen setze sich Heidegger über Selbstauslegungen Nietzsches hinweg, wenn er behauptet, dieser habe die Metaphysik nicht überwunden, sondern lediglich umgekehrt. Tatsächlich, so Löwith, ende Nietzsches „Abschaffung der wahren Welt" nicht im Wesenlosen, sondern bei einem „neuen Anfang", dem „Mittag", den Heidegger wiederum als „abgestellte Vergänglichkeit" mißdeutet: „Wer jedoch liest, was Nietzsche über den Mittag sagt, kann nur darüber staunen, was Heidegger an Nichtgesagtem und Nichtgemeintem herausliest [...]" bzw. „außer Betracht" läßt oder „einseitig interpretiert".115 In seiner eigenwilligen Lesart gehe Heidegger sogar so weit, von einer „Metaphysik der Werte" zu reden, obwohl Nietzsche ausdrücklich, wie Löwith hervorhob, feststellte, „daß der Gesamtcharakter des Lebens und der lebendigen Werte nicht abschätzbar und bewertbar ist".116 Insgesamt müsse es den seinsphilosophischen Voraussetzungen und Fragestellungen angelastet werden, wenn Heidegger zu dem unhaltbaren Ergebnis gelangt, „daß Nietzsche überhaupt nichts wesentlich Neues gedacht habe, sondern nur das vollende, was von alters her für die Metaphysik leitend gewesen ist".117 Diesen interpretatorischen Verfremdungen hielt Löwith seine Deutung von „Nietzsches ganzer Philosophie als einer Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen" mit den Worten entgegen: „Sie legt nicht ein, sondern aus; sie entnimmt auch den kritischen Gesichtspunkt für die Auslegung den [...] Texten [...] selbst."118 Nach Löwith ist Nietzsches Philosophie weder ein „einheitliches System" noch eine „Mannigfaltigkeit auseinanderfallender Aphorismen", sondern ein „System in Aphorismen",119 wobei der Zarathustra als sein „eigentliches Werk und Testament"120 angesehen werden müsse. Hierin verkünde nämlich Nietzsche seine „eigenste Lehre" von der „Überwindung der Zeitlichkeit der Zeit zur Ewigkeit der ewigen Wiederkehr des Gleichen",

112 K. Löwith, Wiederkehr des Gleichen, 220. 113 Ebd., 221. 114 Ebd., 222. 115 Ebd., 224. 116 Ebd., 223. 117 Ebd., 224. 118 Ebd., 13. 119 Ebd., 15. 120 Ebd., 12.

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die ihrerseits dem „Willen zur Macht" als „tragender und abschließender Gedanke" zugrunde liege.121 Es ging nun Löwith bei seiner Auslegung um die Herausstellung eines „fundamentalen Widerspruchs" in der „Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen", den er nicht als zu kritisierenden Mangel an logischer Konsistenz deutete, sondern in dem er einen „wesentlichen und umfassenden" Grundkonflikt im Verhältnis von Mensch und Welt, „ohne Gott und gemeinsame Schöpfüngsordnung", zum Austrag gebracht sah. Um die „Lösung" dieses Konflikts wie um die „Erlösung davon" kreise die „maßlose Anspannung von Nietzsches leidenschaftlichem Denken", das aus Löwiths Sicht mehr ein „versuchendes Experimentieren als ein erkennendes Ausführen ist".122 Nietzsches „scheinbare Lösung" bzw. sein Versuch, „aus dem endlichen Nichts des sich selber wollenden Ich in das ewige Ganze des Seins zurückzufinden, mündet schließlich in der Verwechslung seiner selbst mit Gott".123

Karl Schlechta Zusammen mit Hans Joachim Mette gehörte Karl Schlechta zu jenen Mitarbeitern des Nietzsche-Archivs, die seit 1933 die Herausgabe einer „Historisch-Kritischen-Gesamtausgabe" in Angriff nahmen und in den dreißiger Jahren schon auf die Brieffälschungen der Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche aufmerksam machten. Nach dem Krieg begann Schlechta mit den Vorbereitungen zur Veröffentlichung einer Ausgabe der Werke Nietzsches in drei Bänden, die zwischen 1954 und 1956 erschienen. In dieser Ausgabe wurden Nietzsches Notizen über den „Willen zur Macht" in einer chronologischen, anstatt wie bisher in einer systematischen Ordnung unter dem Titel Aus dem Nachlaß der Achtziger Jahre aufgeführt. Diese „Schlechta-Ausgabe" erntete sowohl Lob124 als auch Tadel und entfesselte seinerzeit eine heftige Debatte über das Verhältnis von „echtem Werk" und „Nachlaß", in die sich auch Karl Löwith mit dem Vorwurf einschaltete, hier sei, ganz im Sinne der „sekuritätsbedürftigen Restauration nach 1945", eine „neue Nietzsche-Legende" geschaffen worden.125 Löwith zufolge habe Schlechta verbreitet, daß es den Willen zur Macht als ein von Nietzsche gestelltes und durchdachtes Problem von weitester Herkunft und größter Tragwei-

nicht gäbe. Auf diese und andere kritische Einwände antwortete Schlechta mit einem „Offenen Brief an Karl Löwith", den er in einem Sammelband Der Fall Nietzsche (1958) zusammen mit anderen Beiträgen dokumentierte. Hier machte er zunächst geltend, im „Nachwort" der Ausgabe den „uneingeschränkten, den absoluten Nihilismus Nietzsches in seiner Redlichkeit wieder sichtbar zu machen versucht" und dies als eine „glänzende Diagnose der Grundsituation unserer Zeit" gewürdigt zu haben, ohne bei den heute gängigen „Notauskünften"126 Zuflucht zu nehmen. Des weiteren wies Schlechta die Behauptung zurück, den „Willen zur te

121 122 123 124 125 126

K.

Löwith, Wiederkehr des Gleichen, 12. Ebd., 14. Ebd. W. Bröcker, „Eine neue Nietzsche-Ausgabe", Philosophische Rundschau 5 (1957), H. 2. K: Löwith, „Zu Schlechtas neuer Nietzsche-Legende", Merkur 12, Stuttgart 1958. K. Schlechta, Der Fall Nietzsche. Aufsätze und Vorträge, München 1958, 97.

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Macht" in Nietzsches Werk zu ignorieren. Primär sei es ihm um den „philologischen Nachweis" gegangen, „daß es ein von Nietzsche autorisiertes Werk dieses Titels nicht gibt".127 Diese Richtigstellung verband Schlechta mit einer Gegenkritik: Löwith argumentiere so, als handele es sich beim „Willen zur Macht" um etwas von Nietzsche Durchdachtes. Dies stellte Schlechta aber in Zweifel, denn letzten Endes, so sein Argument, sei es eben nicht zu dem vielberufenen Werk gekommen.128 Schließlich machte Schlechta darauf aufmerksam, daß alle zentralen Begriffe Nietzsches das Gesamtwerk durchziehen und nicht erst im Nachlaß geprägt wurden. Einen Hauptbegriff, „den großen Mittag",129 habe er, Schlechta, zu analysieren versucht und Löwith seinerzeit130 dem sogar zugestimmt. Der Brief endete mit einem Appell an gemeinsam vertretene Positionen: wer Nietzsches Übermensch ist ,ein ekstatischer Nihilist' ist auch seine Weltauslegung letzten Endes eine unmenschliche. Welche Feststellung nicht ausschließt, daß nicht Nietzsches ekstatischer Nihilist bereits die .Weltherrschaft' angetreten haben könnte: insofern stecken wir wahrscheinlich mitten in .Nietz-

„Aber da wir beide wissen,

-

so

-

-

sche'."131

Fast zur selben Zeit, als die Debatte um die „Schlechta-Ausgabe" in der Bundesrepublik ihren Höhepunkt erreichte, meldete sich auch in der DDR die Kritik zu Wort, allerdings mit einer ganz anderen Perspektive.

4. Die

Verbannung

Nietzsches

aus

der DDR

Im Jahre 1949 war Ernst Bloch an die Universität Leipzig berufen worden. Viele sahen in dem „Hoffnungsphilosophen" zugleich auch einen Hoffnungsträger, der sowohl dem Marxismus neue Impulse geben bzw. der allmählich austrocknenden und zusehends verödenden philosophischen Landschaft der SBZ/DDR einen fruchtbaren Gewitterregen bescheren würde. Diese Hoffnung sollte sich freilich nur zum Teil erfüllen. Blochs exotischer Marxismus gewann zwar bald viele Anhänger, aber auch leidenschaftliche Gegner, die ihm fast ständig auf den Fersen waren, um sein Philosophieren als „unmarxistisch" oder „revisionistisch" zu brandmarken. Dies hatte zunächst noch keine Konsequenzen, da seine Art zu denken von höchster politischer Instanz gebilligt und seine gelegentlichen Ausfälle gegen den in der DDR betriebenen „Schmalspurmarxismus" toleriert wurden. Dafür machte Bloch wiederum Konzessionen politischer und philosophischer Art, so auch im Falle Nietzsches.

127 K. Schlechta, Der Fall Nietzsche, 99. 128 Ebd., 100. 129 K. Schlechta, Nietzsches großer Mittag, Frankfurt a.M. 1954. In Nietzsches Bild des Schlechta sowohl heidnische wie christliche Züge zu entdecken. 130 Siehe K. Löwith, Wiederkehr des Gleichen, 106 f. 131 Ebd., 104.

„Mittag"

meinte

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Ausbürgerung

Ernst Bloch Seine Beschäftigung mit Nietzsche reichte bis in die Jugendzeit zurück, nur war sie bei weitem affirmativer als bei seinem zeitweiligen Weggefährten und Kontrahenten, dem jungen Lukács. Davon zeugt ein 1913 verfaßter und später umgearbeiteter Essay, Der Impuls Nietzsche, der dann in die Sammlung Erbschaft dieser Zeit (1935) aufgenommen wurde. Hier verteidigte Bloch in verschiedenen Beiträgen Nietzsche gegen die „faschistischen" Verfälschungen eines Ludwig Klages132 und eines Alfred Baeumler133 und insistierte auf dem „anderen Nietzsche": Dem „Monopolkapital" wie dem „imperialistischen Krieg" fehle zwar nicht der von Nietzsche beschworene „Wille zur Macht", doch ideologisiere Nietzsche selber auch in dieser letzten Phase, nach Übermensch und Dionysos, nicht bloß Imperialismus, „sondern formale, inhaltlich unbestimmte Emportendenz dazu. [...] Der andere Nietzsche sucht nicht bloß ungebleichtes, sondern in utopische Feuer gesetztes

Diesseits".134 Einen Vortrag, Über die Wurzeln des Nazismus (1939) nahm er zum Anlaß, um vor der Zuordnung Nietzsches und Wagners zu den Nazis zu warnen. Man benenne damit zwar „wirkliche Nazi-Keimstellen in Wagner und Nietzsche", doch infolge dieser Übertreibung, vor allem der „Auslassung aller anderen Elemente bei Wagner und Nietzsche", werde dem Nazismus etwas zugeführt, was ihm nicht gehört.135 Im Prinzip Hoffnung, entstanden in den Jahren 1938-1949, bemühte sich Bloch darum,

der „faschistischen Ausbeutbarkeit" Nietzsches und dem, was in Nietzsches Denken selbst „imperialistisch" ist, den befreienden, Hoffnung verbürgenden „utopischen Geist" Nietzsches gegenüberzustellen.136 Von alledem war in Blochs erster größerer in der DDR verfaßten Schrift Über den gegenwärtigen Stand der Philosophie (1950) kaum noch etwas zu bemerken. Der Autor eröffnete seine Ausführungen mit einem Blick auf das „spätbürgerliche Denken", das von der „überalterten kapitalistischen Wirtschaftsweise" den Auftrag erhalten habe, „die Zeiger der Geschichtsuhr romantisch zurückzudrehen oder, wo dies nichts mehr hilft, sie agnostisch nihilistisch zu zerbrechen".137 Die Genese des Niedergangs „bürgerlichen Denkens", das Abrücken von der „Lichtlinie: Hegel Feuerbach Marx" zur „Linie der Irratio: Schopenhauer Wagner Nietzsche", bildete den Ausgangspunkt seiner Überlegungen zum Charakter der „neuesten bürgerlichen Denkweisen", die er geeint sah „in der faschistischen Gesamttendenz der heutigen Bourgeoisie".138 Begonnen habe die philosophische Abkehr des Bürgertums von der Wirklichkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Schopenhauer, gefolgt von Nietzsche, der wie sein Lehrer „materialistische Elemente" aufwies. So führte er einen „Aufklärungs-

-

-

-

132 E. Bloch, Der Impuls Nietzsche, in: Erbschaft dieser Zeit, erw. Ausg. [1935] (Gesamtausgabe, Bd. 4), Frankfurt a.M. 1977, 337. 133 Ebd., 365. 134 Ebd., 362 f. 135 E. Bloch, Über die Wurzeln des Nazismus [1939], in: Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz (Gesamtausgabe, Bd. 11), Frankfurt a.M. 1977, 319. 136 E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung (Gesamtausgabe, Bd. 5), Frankfurt a.M. 1977, 1114 f. 137 E. Bloch, Über den gegenwärtigen Stand der Philosophie [1950], in: Philosophische Aufsätze zur objektiven Phantasie (Gesamtausgabe, Bd. 10), Frankfurt a.M. 1977, 293. 138 Ebd., 299.

Norbert

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Kapferer

gegen Weihwasser" und klagte den „Leib gegen Spiritualisierung" ein. Angerufen werde dabei Dionysos, „ein nicht eben pfäffischer Gott", sogar mit dem „Anschein", als ob dieser Ruf gegen die „Verkleinerung des Menschen" gerichtet wäre. „Indes hinter dem Dionysos Nietzsches stand gesellschaftlich einzig das räuberische kapitalistische Individuum, auf dem Weg nicht nur zum ungestörten Ausleben, sondern zum ungehemmten Verbrechen." Der „Wille zur Macht", so Bloch weiter, „dieses pure Stichwort für Weltraubpolitik, schmückte sich mit Rosenkronen, Tanzliedern, heiligem Lachen und ähnlichen Festivitäten aus Zarathustra", und Dionysos wurde „nur die Maske für den Massenmörder". Was Nietzsches „Diesseitigkeit" angehe, diese „scheinbare Stück Feuerbach", so handle es sich in Wahrheit um „unteres Jenseits", um „romantischen Rekurs auf den Unterweltmythos selbst", auf „animalischen Dampf" und „barbarisches Außersichsein". Primär sei Nietzsches Intention zwar auf eine „große Emportendenz" gerichtet gewesen, doch de facto war seine Tendenz von „Blutsaugern" bevölkert. „Nicht das Opium, sondern den Humanismus im Christentum hat er bekämpft; so hat er auch vom Materialismus, diesem allzeit glückfreundlichen, auf Vernunft gestellten, entscheidend abgelenkt."139 Protestierte Bloch in den dreißiger Jahren noch dagegen, Nietzsche in die Nähe von Ludwig Klages und Carl Gustav Jung zu bringen, hatte er nun keine Bedenken, ihn umgekehrt zum Ahnherren von deren „irrationalistischem Biologismus" und „Obskurantismus"

krieg

zu

machen.140

In den viel später in der Bundesrepublik erschienenen Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, gehalten in den Jahren 1950 bis 1956, finden sich Ausführungen zu Nietzsche, über deren genaues Entstehungsdatum Unklarheit herrscht. Hatte Bloch sie so während seiner DDR-Zeit gelesen oder wurden sie später im Westen formuliert bzw. überarbeitet? Unterstellt man, daß sie chronologisch so vorgetragen wurden, dann hätte die kleine Nietzsche-Vorlesung, die so ziemlich am Ende steht, im letzten Jahr seiner Lehrtätigkeit 1956, während des „kurzen Frühlings der DDR-Philosophie" (Burrichter) stattgefunden, als man wieder sagen konnte, was lange Zeit nicht möglich war. Hier rechtfertigte Bloch nämlich seine zu Nietzsche in den dreißiger Jahren eingenommene Position mit „diplomatischen Rücksichten", von denen man heute befreit sei, so daß man die Sache „vorurteilsfrei" angehen könne. Selbstverständlich stecke viel „Präfaschistisches" in Nietzsche, aber es gebe auch den „anderen Nietzsche", der die Kategorie der „Vornehmheit" ins Spiel bringe, die auch für die „klassenlose Gesellschaft" von Belang sei. Auch Dionysos, ein „ungeheuer dialektisches Wesen", stehe gegen Asketismus, Lebensfeindlichkeit und gegen das „Zukunftabriegelnde", und „das klingt uns ja nicht ganz unvertraut". Seine Zukunft ist nicht unsere Zukunft, aber in Nietzsche lebten „wie in wenigen Philosophen Intentionen der Zukunft und der Wille zur reinen Luft". In manchen seiner Gedichte, so Bloch weiter, „haben Sie eine Weite, die ungeheuer ist und die es vorher nicht gab. ZuMan brauche nun Nietzsche zwar nicht gleich sehen sie Erneuerung der kann immerhin wählverwandten Blick darauf werzu man einen beerben, „aber gleich

Sprache".141

fen".142

139 E. Bloch, Über den gegenwärtigen Stand der Philosophie, 298 f. 140 Ebd., 301 f. 141 E. Bloch, Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, Bd. 4: Neuzeitliche Deutscher Idealismus. Die Philosophie des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1985. 142 Ebd., 415.

Philosophie II:

Entnazifizierung

und Rekonstruktion

versus

Ausbürgerung

59

Sicherlich darf man Bloch trotz seiner 1950er Schrift, die in manchen Passagen verdächtig nach Lukács klang, zu den wenigen Intellektuellen in der DDR zählen, die von einer bloßen Ausgrenzung Nietzsches aus dem Kulturerbe nichts hielten und weiterhin einer kritischen Rezeption den Vorzug gaben. Doch verhindern konnte Bloch die Ausbürgerung Nietzsches nicht, sowenig er sich zuzeiten dagegen stemmte.

Georg

Lukács

Das wirksamste Geschütz zum Abschuß Nietzsches wurde von Lukács in den fünfziger Jahren aufgefahren. Zwar fehlten in fast keiner seiner Nachkriegsschriften Attacken auf Nietzsche, aber erst sein voluminöses Werk Zerstörung der Vernunft (1955) brachte die Endabrechnung bzw. lieferte die philosophiegeschichtliche Rechtfertigung für die administrativ-politischen Maßnahmen eines kalten Kulturausschlusses. Lukács' Ausgangspunkt war die Suche nach den geistigen Quellen des „Hitlerismus", die der Ungar vor allem in der deutschen Philosophie, aber auch in der deutschen Literatur seit der Romantik vermutete. Der sich nach dem Tode Hegels herauskristallisierende „Irrationalismus" als aktiv betriebene „Zerstörung der Vernunft" trat zuerst als „romantischer Irrationalismus" durch Denker wie Friedrich Schlegel, Novalis, Franz Xaver von Baader, Joseph Görres, besonders aber durch Friedrich Wilhelm Schelling in Erscheinung, steigerte sich dann bei Arthur Schopenhauer und Sören Kierkegaard und gipfelte schließlich in Friedrich Nietzsche. Für Lukács war er der „Begründer des Irrationalismus der imperialistischen Periode" und damit der entscheidende Wegbereiter der faschistischen Weltanschauung. Bekämpften Schelling, Kierkegaard, Schopenhauer noch auf einem gewissen philosophischen Niveau, nämlich in Kenntnis der Philosophie Hegels, die „progressiven Tendenzen der bürgerlichen Philosophie", so müsse im Falle von Nietzsches Kritik des Sozialismus von einem „unvergleichlich tieferen Niveau"143 ausgegangen werden. Nietzsche polemisierte nämlich nach Lukács' Überzeugung durch sein ganzes Lebenswerk gegen die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, ohne auch nur eine einzige Zeile von ihnen gelesen zu haben. Dieser philosophische Niveauverlust ging bei Nietzsche jedoch einher mit einer „nicht unbeträchtlichen Begabung", auf die „parasitäre Intellektuellenschicht" der imperialistischen Periode mit „geistvollen Aphorismen" und „hyperrevolutionären Gesten" gewirkt und dabei selbst noch „fortschrittliche Denker und Schriftsteller" wie Thomas und Heinrich Mann und George Bernhard Shaw beeindruckt zu haben.144 Vor allem auf den Gebieten Kultur, Ästhetik, Moral so Lukács weiter erlangte Nietzsche eine wahre Meisterschaft, seiner „Apologetik eines aggressiven Imperialismus" einen rebellischen Anschein zu geben. Mit einer „zuweilen sogar richtigen Kunst- und Kulturkritik",145 seiner Sorge um „ästhetische, moralische und kulturelle Verfeinerung",146 bei Abwehr von „kulturellem Niedergang"147 und „Dekadenz",148 seinem „romanti-

143 144 145 146 147 148

G. Lukács, Nietzsche als Begründer des Irrationalismus, 10. Ebd., 14 f. Ebd., 14. Ebd., 46.

Ebd.

Ebd., 13, 26.

-

Norbert

60

sehen nen

Kapferer

Antikapitalismus"149 und seiner „scharfen Kritik der gegenwärtigen und vergangewie seiner „Religionskritik",151 verband sich eine „äußerst reaktionäre,

Moral"150

antidemokratische, antisozialistische Klassenposition": Ein „romantischer Traum von einer kulturell hochentwickelten Herrenschicht, die zugleich die als notwendig erkannte Barbarei

vertritt",152 dabei

die „Zivilisierang und Humanisierang der barbarischen Triebe" selbst als „Dekadenz" verurteilt,153 die „Sklaverei geschichtsphilosophisch rechtfertigt",154 und die das Heil einer zukünftigen Kultur „ausschließlich in der entschlossenen Privilegierang einer Minderheit, deren Muße auf der harten physischen Arbeit der Mehrzahl, der Masse beruht" sieht.155 Nietzsches vielgepriesener „Atheismus" muß nach Lukács' Dafürhalten als „religiöser Atheismus" angesehen werden, der mit der „Tötung Gottes" einen Immoralismus des „Alles ist erlaubt" inszeniert, aber dabei gleichzeitig den „neuen Gott Dionysos"156 einführt. Verwischt werden dabei lediglich die Grenzen zur Religion und die Tore geöffnet für die verschiedensten religiösen Tendenzen. Überhaupt wollte Nietzsche mit seiner Kritik des Christentums gar nicht diese Religion, sondern den Sozialismus treffen.157 Der Gott Dionysos sei für Nietzsche das mystische Symbol einer Umkehr innerhalb der herrschenden Klasse, nämlich die „Verwandlung aller dekadenten Eigenheiten zu Instrumenten einer militanten Verteidigung des Kapitalismus, die Verwandlung der Dekadenten in Aktivisten des nach innen wie nach außen aggressiven barbarischen Imperialismus".158 Obwohl sich Nietzsche, wie Lukács betonte, als Gegner und Kritiker der Dekadenz gebärdete sich gleichzeitig aber auch selbst als „dekadent" verstand war die Überwindung der Dekadenz nie sein Ziel. Ging es schon beim frühen Nietzsche um die „Herrschaft der Instinkte über Verstand und Vernunft", so nahm die Befreiung der Instinkte beim späteren Nietzsche eine viel breitere moralische und gesellschaftliche Dimension an: -

-

-

-

„Am Abschluß seiner Laufbahn faßt sich dieser Komplex in diese vielfach verwandelte Gestalt des Mythos wieder zusammen. Jetzt ist Dekadenz für Nietzsche ein universelles Problem, und Dionysos erscheint als das Symbol der zukunftsträchtigen, der bejahenswürdigen Dekadenz, der Dekadenz der Stärke, im Gegensatz zum lähmenden, kraftlos machenden Pessimismus (Schopenhauer), zur Instinktbefreiung mit plebejischen Akzenten

(Wagner)."159

Mit dem Konzept des „Willens zur Macht" sprengte Nietzsche nicht nur den passiven Pessimismus Schopenhauers, sondern überbot auch noch dessen Willensmythos. Indem Nietzsche, so Lukács weiter, den Schopenhauerschen Dualismus von Vorstellung und Wille beiseite

149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159

G. Lukács, Nietzsche als

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.

42. 53. 46 f. 24. 26. 28 f. 57. 61. 85.

Begründer des Irrationalismus, 23, 37.

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schob und damit einen, bei Schopenhauer noch vorhandenen, kantischen Restbestand, nämlich „die Welt als Erscheinung", eliminierte, dagegen dann das Sein selbst als „Wille zur Macht" proklamierte, andererseits unter diesem „Sein" keineswegs etwas vom Bewußtsein Unabhängiges, Existierendes, vielmehr etwas „Fiktives", nur „intuitiv Erfaßbares" verstand, verließ er den Boden einer „logischen Ordnung", auf welcher der „ältere Irrationalismus" Schellings und Kierkegaards noch formal stand.160 Nietzsches Mythen vom „Willen zur Macht", vom „Übermenschen" und von der „ewigen Wiederkehr des Gleichen" sprechen Lukács zufolge jeder wissenschaftlichen Denkungsart Hohn. Gleichwohl habe sein wissenschaftsfeindlicher Eklektizismus der „imperialistischen Epoche" ein methodologisches Vorbild geliefert, nämlich den Weg gezeigt, „wie man aus einer extrem agnostizistischen Erkenntnistheorie, aus einer Theorie des äußersten Nihilismus ein faszinierendes, farbenprächtiges Symbolreich des imperialistischen Mythos entwickeln kann".161 Es seien dies, wie Lukács unablässig wiederholte, „die Mythen der imperialistischen Bourgeoisie zur Mobilisierung aller Kräfte gegen ihren Hauptfeind", den Sozialismus:

„Daß der Kampf von Herren und Herde, von Vornehmen und Sklaven ein mystischkarikaturistisches Gegenbild zum Klassenkampf ist, ist nicht schwer zu dechiffrieren [...]. Ebenso, daß hinter der ewigen Wiederkehr ein sich selbst tröstendes mythisches Denken steckt, die Entwicklung könne nichts prinzipiell neues (also keinen Sozialismus) hervorbringen. Und auch das ist nicht allzu schwer einzusehen, daß der Übermensch dazu entstanden ist, um die aus der Problematik des kapitalistischen Seins, aus einer Verzerrung und Verstümmelung der Menschen spontan entsprießenden Sehnsucht in die Geleise des Kapitalismus zurückzuleiten usw. usw."162 Laut Lukács' Befund war Nietzsche der „führende Philosoph der imperialistischen Reaktion" und als solcher gebühre ihm die fragwürdige Ehre, geistig über seinen Gefolgsleuten, den „ordinären Pamphletisten der Reaktion vom Rembrandtdeutschen bis zu den Koestler und Burnham unserer Tage [,..]"163 zu rangieren. Lukács' vernichtende Nietzscheinterpretation machte in der DDR Schule, fand überzeugte Nachahmer und Fortsetzer in Johannes R. Becher, Wolfgang Harich, Georg Mende, Bernhard Kaufhold und Wolfgang Heise. Die beiden Letztgenannten meldeten sich in jener Zeit zu Wort, als ihr Lehrer in Sachen Nietzsche, Lukács, bereits seit über einem Jahr als „Revisionist" entlarvt worden war. Anlaß ihrer Intervention war die in der Bundesrepublik seit 1956 nunmehr vorliegende „Schlechta-Ausgabe".

Bernhard Kaufhold Für den

Autor, der sich nicht mit Nietzsche selbst, sondern mit der Rezeption dieses PhiloBundesrepublik befaßte, war durch Lukács der unumstößliche Nachweis erbracht worden, warum der Bejaher einer „Herrenmoral" samt „Sklaverei", der unerbitt-

sophen

in der

160 G. Lukács, Nietzsche als 161 Ebd., 86. 162 Ebd., 86 f. 163 Ebd., 15.

Begründer des Irrationalismus, 80

f.

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von Demokratie und Sozialismus", der Verherrlicher von „Eroberangslust, Krieg, Barbarismus, Bestialität", der Prediger von „Wissenschafts- und Fortschrittsfeindlichkeit" etc. eine so „hervorragende Rolle in der nationalsozialistischen Weltanschauung" spielten konnte.164 Kaufhold fand es daher empörend, „daß in den letzten Jahren alle Werke Nietzsches in Westdeutschland neu erschienen sind, bezeichnenderweise mit den unveränderten Nachworten und der Nietzsche-Biographie des ehemaligen faschistischen Philosophen Alfred Baeumler [...]"165 und in Verbindung damit eine „Restauration der Philosophie Nietzsches"166 begonnen habe, die „bestimmten gesellschaftlichen Kräften" diene. Bezeichnenderweise sei das Thema „Nietzsche und der Nationalsozialismus" im Westen nur in den Anfangsjahren bearbeitet worden. Den wenigen, humanistisch gesonnenen Philosophen, die Nietzsche kritisierten oder ihn völlig ablehnten, standen nach Kaufholds Beobachtungen „bedeutende philosophische Strömungen wie einzelne Vertreter derselben" gegenüber, die Nietzsches Ideen „vorsichtig aus dem Zusammenhang mit dem Faschismus" herauszulösen versuchten, indem sie von der „politischen Seite seiner Philosophie" absahen167 oder gar die „humanistischen Seiten" seines Denkens in den Vordergrund rückten. So habe die „Katholische Philosophie" zusammen mit einigen Vertretern des Protestantismus Interesse an einer Rehabilitierung, um „gemeinsam mit Nietzsche eine einheitliche

liehe „Feind

Front gegen die Arbeiterklasse und den wissenschaftlichen Sozialismus zu bilden".168 Zweck und Ergebnis dieser „klerikalen" Nietzsche-Umdeutungen sei eine „christlich gefärbte Elitetheorie", die sehr gut geeignet sei, den „Herrschaftsansprach der Bourgeoisie zu beBesonders „katholische Theologen und Philosophen" hätten die Differenzen zur Philosophie Nietzsches verkleinert, um im Kampf gegen die DDR und den wissenschaftlichen Sozialismus an vorderster Stelle stehen zu können.170 In Alfred Webers Beitrag entdeckt Kaufhold dagegen die Tendenz, die „menschenfeindlichen und barbarischen Züge" Nietzsches offen zu benennen und zu verurteilen. Dennoch sei in diesen kritischen Bemerkungen eine „bedingte Bejahung und Rechtfertigung" Nietzsches171 enthalten, weswegen Weber ein gutes Beispiel einer indirekten Art bundesrepublikanischer Nietzsche-Apologetik sei. So lobe Weber nicht nur Nietzsches philosophische Verdienste, seine Auffassung vom „vornehmen Menschen", seine Warnung vor der „Gefahr einer seelischen und geistigen Vermittelmäßigung", sondern berufe sich ausdrücklich auf ihn zwecks Begründung einer eigenen „Elitekonzeption". Damit stehe Alfred Weber, zusammen mit seinem Bruder Max Weber, Ortega y Gasset, Sorel und Pareto, in einer von Nietzsche selbst ausgehenden Traditionslinie. Laut Kaufhold hat Alfred Weber also die Philosophie Nietzsches nicht überwunden, „sondern im Gegenteil große Anleihen bei ihr gemacht".172

gründen".169

164 B. Kaufhold, „Zur Nietzsche-Rezeption in der westdeutschen Philosophie der Nachkriegszeit", in: R. Schulz (Hg.), Beiträge zur Kritik der gegenwärtigen bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Berlin 1958, 300. 165 Ebd., 279. 166 Ebd., 280. 167 Ebd., 313. 168 Ebd., 308. 169 Ebd., 337. 170 Ebd., 344 f. 171 Ebd., 352. 172 Ebd., 357.

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Neben dieser indirekten Apologetik Nietzsches registrierte Kaufhold eine Tendenz in der westdeutschen Philosophie, die dazu übergehe, Nietzsche uneingeschränkt und offen zu propagieren. So Karl Jaspers, der Nietzsche als den letzten großen Philosophen feiere. Der Existenzphilosoph benötige Nietzsche nämlich in seinem Kampf gegen den Fortschrittsgedanken und gegen den Sozialismus:

„Einige wesentliche Punkte der Nietzsche-Rezeption Jaspers' sind demnach die Auffassung des Menschen als eines tragischen, unvollendbaren Wesens, die Behauptung der Unvermeidbarkeit des Leidens und des Bösen in der Welt, der Kampf gegen den Fortschrittsgedanken und den Sozialismus."173 Über den Zusammenhang zwischen der Philosophie Nietzsches und der faschistischen Ideologie schweige sich Jaspers aus, um ihn desto leichter zu beerben. Auf diese Weise konnte er Nietzsches „Umwertung der Werte" inhaltlich voll übernehmen und seiner Exi-

stenzphilosophie einfügen, ohne die „barbarischen Schlußfolgerungen" zu ziehen, ja ihn überhaupt von allem „Unzeitgemäßen" befreien, in der Absicht, den Denker des Willens zur Macht zu einem Grundpfeiler künftiger Philosophie aufzuwerten. Diese „Bejahung und Fortsetzung Nietzsches" werde allerdings von Martin Heidegger

noch entschiedener betrieben. Kaufhold erinnerte hier zunächst einmal daran, daß vor 1933 „sowohl Nietzsches neue Werte als auch das Heideggersche Sein dem Faschismus gute Dienste leisteten". Nach 1945 habe Heidegger mit Nietzsches Schicksalskonzeption den Faschismus zu einem „Seinsgeschick" erklärt und damit gleichzeitig seine eigene Haltung im Jahre 1933 gerechtfertigt. Wenn es bei Heidegger heißt, „daß Nietzsche das Wesen desjenigen Menschentums bedacht hat, das im Schicksal des Willens zur Macht zur Übernahme der Herrschaft über die Erde bestimmt wird, [...] so meinte Nietzsche eindeutig die deutsche Bourgeoisie als führenden Kern Europas, so meinte Heidegger 1933 eindeutig die Faschisten [,..]."174 Was nun die Abwertung der Vernunft, des Denkens und der Wissenschaft angehe, stehe Heidegger noch „radikaler auf dem Boden der Umwertung Nietzsches"175 als Jaspers. Gleichwohl tragen nach Kaufholds Einschätzung beide den Hauptteil an der Restaurierung und Weiterentwicklung der Philosophie Nietzsches und „können als die wesentlichsten Vertreter der Nietzsche-Bewegung in Westdeutschland bezeichnet werden".176 Für Kaufhold war damit bewiesen, daß die „bürgerliche Philosophie" Nietzsche nicht entbehren kann, denn eine der Philosophie Nietzsches ist im Imperialismus Allein durch die sozialistischer Produktionsverhältnisse wird wie unmöglich. Schaffung sich in der DDR gezeigt hat, einer Fortexistenz der Nietzscheschen Ideen der Grund entzogen und ihre wirksame Bekämpfung möglich".177 Dies bedeute aber nicht, wie Kaufhold zu bedenken gab, daß die Philosophie Nietzsches in der DDR keine Wirkung mehr ausüben würde und hier und da noch verbreitet wäre. Vielfach liege hier noch eine Verkennung „des wahren Charakters" der Philosophie Nietzsches vor, die unter anderem durch Literatur

„Überwindung

-

173 174 175 176 177

B.

Kaufhold, „Zur Nietzsche-Rezeption", 364.

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

377 f. 378. 380. 408 f.

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bestärkt werde, die Nietzsches Leistungen zu sehr in den Vordergrund rücke wie z. B. das 1956 in Leipzig erschienene Buch von H. A. Korff Geist der Goethezeit}1% Wenn es bis zum Jahre 1956 noch hie und da von der marxistisch-leninistischen Auffassung abweichende Nietzscheauslegungen gegeben hat und zu diesen müßte mit den nötigen Abstrichen auch Blochs Prinzip Hoffnung gezählt werden -, so markiert Kaufholds Beitrag und die im selben Jahr publizierte Stellungnahme Wolfgang Heises zur „Schlechta-Ausgabe" das vorläufige Ende kontroverser Nietzschebilder. -

Wolfgang

Heise

Wie Kaufhold so ging auch Heise von einer Nietzsche-Renaissance innerhalb der „bürgerlichen Gegenwartsphilosophie" aus, welche sich aus dem sozialen Gehalt der Philosophie Nietzsches erklären lasse. Für Heise war er auch der Denker, der innerhalb der Philosophie in Fortsetzung der „bürgerlich-konterrevolutionären Linie Schopenhauers" den Übergang zur „imperialistischen Bourgeoisie" vollzog und „zum geheimen Klassiker der reaktionärsten, in den Faschismus mündenden ideologischen Linie der bürgerlichen Philosophie"179 wurde. Nietzsches Wirkung sei insgesamt so stark gewesen, daß man wesentliche Stufen der bürgerlichen Weltanschauungsbewegung „in der imperialistischen Epoche in Deutschland, soweit es sich nicht um naturwissenschaftlich-positivistische und klerikal orientierte Richtungen handelt, als Etappen einer ständig erneuerten Nietzscherezeption darstellen kann. Das gilt auch für die spezifischen Dekadenzbestrebungen innerhalb der schönen Literatur von Stefan George bis Gottfried Benn".180 Auf Nietzsche beriefen sich Spengler, Klages, Moeller van den Brack, Baeumler, Ernst Jünger etc., aber auch der junge Thomas Mann. Heise zufolge hatte Nietzsche nämlich im „einzelnen tief und richtig" die „bürgerliche Lebenslüge", den „Widersprach von Ideologie und Praxis", von „Kulturfassade und bürgerlicher Politik", von „moralischer Deklaration und wirklichem Motiv" durchschaut, „ohne daß er jedoch über den Bereich der Symptome zur tieferen Erklärung je kommen konnte, ohne auch nur einen oberflächlichen Begriff ökonomischer Zusammenhange zu besitzen".181 Nur wenige „bürgerliche Intellektuelle" wie Thomas Mann vermochten sich der Faszinationskraft Nietzsches zu entziehen, wobei dessen Erfahrung im Kampf gegen den Faschismus die ausschlaggebende Rolle spielte. Dabei sei Nietzsche, wie Heise hervorhob, den Nazis keineswegs in allem zu Diensten gewesen: „Nietzsche war weder militanter Antisemit noch Vulgärchauvinist",182 weswegen auch die faschistischen Chefideologen sich gezwungen sahen, Nietzsches Ideen zu passendem Gebrauch zu verfälschen, wobei sie sich auf die entsprechende Vorarbeit der Schwester Nietzsches stützen konnten. Die

„wohl raffinierteste und unverfrorenste Fälschung und gleichzeitige Unterordnung seiner Gedanken unter die jeweiligen Zielsetzungen der äußersten bürgerlichen Reaktion bis zur

178 B. Kaufhold, „Zur Nietzsche-Rezeption", 307. 179 W. Heise, „Buchbesprechung: F. Nietzsche, Werke in drei Bänden, Zeitschrift für Philosophie, H. 4 (1958), 654 f. 180 Ebd., 653 f. 181 Ebd., 654. 182 Ebd.

hg.

v.

K.

Schlechta", Deutsche

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Harmonie mit dem Nationalsozialismus wurde vom Nietzsche-Archiv unter der Leitung der Frau Elisabeth Förster-Nietzsche geleistet. Diese Verfälschung geschah nicht nur durch die anmaßende Interpretation der ehrgeizigen Schwester Nietzsches, die ihn der primitivsten chauvinistischen und antisemitischen Ideologie [...] annäherte. Sie bezog sich zugleich auf direkte Eingriffe in den Wortlaut der nachgelassenen Schriften."183 Die Befreiung Nietzsches von all diesen Entstellungen und Verfälschungen durch die Edition einer kritischen Textausgabe verdiene nun, was die philologische Leistung Karl Schlechtas angehe, Anerkennung. Darüber hinaus habe Schlechta in seinen Ausführungen zu Nietzsche eine beachtenswerte kritische Distanz zu den „Nietzscheanern" erkennen lassen. Dennoch bekenne sich Schlechta zu einer ideologischen Position, die von der Nietzsches nicht prinzipiell verschieden ist, leugne er doch, mit Nietzsche, den objektiven gesellschaftlichen

Fortschritt.184

Was Schlechta zum „Fall Nietzsche" zu sagen weiß, hieß es in einer anderen Rezension Heises, sei mehr als unbefriedigend. Zwar schauderte er vor Nietzsches aktivistischen Konsequenzen zurück, doch die „wirkliche Relation Nietzsches zu den Gaskammern der Faschisten" werden von Schlechta nicht auf-, sondern zugedeckt.185 Sosehr nun eine kritische Ausgabe von Nietzsches Werken so manche Legenden der „Nietzschejünger" wie seiner „faschistischen Anhängerschaft" zerstöre, so wenig Grund gebe es laut Heise für den Marxismus-Leninismus, sie zu begrüßen. An dem Sachverhalt, daß Nietzsche ein „Vorläufer des Faschismus" war, ändere sich auch dadurch nichts, vielmehr präpariere eine neue Nietzscheausgabe diesen zu neuem Gebrauch:

„So wird jetzt der reaktionäre Inhalt von diffamierender Fälschung und Deutung befreit neu zubereitet. Das gilt auch für jene klerikalen Lösungen, welche an Nietzsche die Tragödie der Gottlosigkeit demonstrieren wollen. Dabei sehen wir davon ab, daß die alte, offen faschistische Konzeption nach wie vor lebendig ist, vorgetragen wird und -

-

wirkt."186

Auch eine neue, „kritische" Nietzscheausgabe, so Heise, „kann uns nicht mit Nietzsche versöhnen, und wen sie mit ihm versöhnt, den versöhnt sie mit der Barbarei unter dem schillernden Gewand ästhetischer Brillanz".187 Diese Ausführungen Heises konnten wohl als offizielle Begründung gelesen werden, warum man in Zukunft in der DDR weder mit einer eigenen Werkedition noch mit der Übernahme der „Schlechta-Ausgabe" werde rechnen dürfen. Erst zweieinhalb Jahrzehnte später sollte das Für und Wider einer DDR-Nietzscheausgabe, mit dürftigem Endresultat freilich, erwogen werden.

183 W. Heise, „Buchbesprechung: F. Nietzsche", 654. 184 Ebd., 656. 185 W. Heise, „Buchbesprechung: Karl Schlechta, Der Fall Nietzsche", Deutsche (1958), H. 5, 821. 186 W. Heise, „F. Nietzsche, Werke", 654. 187 Ebd., 658.

Zeitschrift fir Philosophie

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5. Resultate fünfziger Jahren endete, in Ost und West auf je verschiedene Art und Weise, die Etappe der Nietzscherezeption nach 1945. Welches waren ihre Merkmale? Die Nietzscherezeption in der SBZ/DDR war überwiegend geprägt von dem Thema „Nietzsche und der Nationalsozialismus bzw. Faschismus", das zusehends politisiert und im Sinne des Marxismus diskutiert und ausgelegt wurde. Spätestens seit 1948/49 dominierte hier das von Georg Lukács entworfene Nietzscheverständnis, das einen Kulturausschluß des als „Profaschisten" entlarvten Philosophen implizierte. Lukács Nietzschebild blieb auch nach 1956/57 für die folgenden fünfundzwanzig Jahre maßgebend. Wolfgang Heise leistete hierzu einen nicht unwesentlichen Beitrag, indem er nach Lukács' Verurteilung als „Revisionist" die Erträge der Zerstörung der Vernunft in die sechziger Jahre durch sein Buch Aufbruch in die Illusion (1964) hinüberrettete und damit die Kontinuität dieser Art Nietzsche-Rezeption in der post-stalinistischen DDR gewährleistete.

Mit den erste

Es wäre indessen zu einfach, Personen wie Lukács, Kaufhold, Heise u. a. allein für den eindimensionalen Verlauf der Rezeptionsgeschichte in der SBZ/DDR verantwortlich zu machen. So borniert, undifferenziert, ja vielleicht sogar unphilosophisch man deren Zugang zu Nietzsche auch halten mag, er war wie im Falle Baeumlers politisch-ideologisch motiviert und genauso legitim wie jede mögliche andere einseitige Herangehensweise. Dabei waren keineswegs alle von Lukács vorgetragenen Gesichtspunkte exklusiv marxistisch-leninistisch, wie die Auseinandersetzung im Westen ja zeigte. In einer lebendigen Diskussionskultur, wo verschiedene Auslegungen miteinander konkurrieren und es keine übergeordnete philosophische oder politische Instanz gibt, die festlegt, welches nun die einzig richtige Lesart sei, können Verzerrungen und Übertreibungen Lukácsscher und Baeumlerscher Provinienz, selbst wenn sie Ausschließlichkeit beanspruchen, keinen Flurschaden anrichten. Dies ist nur in einer politisch gesteuerten philosophischen Monokultur möglich, die wie der Nationalsozialismus und der Marxismus-Leninismus klare weltanschauliche Feindbilder und unbefleckte positive Leitbilder benötigen. Ob Nietzsche jedoch ein positives Leitbild für die Nazis war, ist nach wie vor umstritten; daß er ein definitives Feindbild der Kommunisten im sowjetischen Einflußbereich war, steht außer Zweifel. Anders im Westen Deutschlands. Hier hatten selbst politische Verurteilungen Nietzsches keine Folgen, da die geistige Landschaft sowohl von Anklägern wie von Verteidigern durchsetzt war. Wenn der Zarathustra hier nicht auf den Verbotsindex gesetzt wurde wie Rosenbergs Mythos des 20. Jahrhunderts, dann nicht zuletzt deswegen, weil es auch viele internationale Fürsprecher gab wie Georges Bataille, Albert Camus, Albert Einstein, André Gide, deren Stimmen gehört wurden. Philosophen, deren scharfe Nietzschekritik der von Lukács um nichts nachstand, verstiegen sich außerdem nicht zu pauschalen Verdammungsurteilen. Fraglos war die Nietzscherezeption in der Bundesrepublik vielfältiger, weitgespannter, lernbereiter als in der DDR. Gleichwohl ist der enorme Einfluß bestimmter philosophischer Schulen, insbesondere der des Existentialismus und der Seinsphilosophie, nicht zu übersehen: Jaspers, Heidegger, Bollnow, Fink u. a. rezipierten Nietzsche, wie Löwith zu Recht für die beiden zuerst Genannten feststellte, im Lichte ihres eigenen Philosophierens. Das taten vom konfessionellen Standpunkt aus auch die Vertreter katholischer und protestantischer Philosophie. Selbst Karl Löwith deutete Nietzsche nicht anders denn im Rahmen seiner eigenen geschichts-

-

philosophischen Fragestellung.

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Mit Karl Schlechtas neuer kritischer Nietzscheausgabe und einem wachsenden philosophischen Erkenntnisinteresse begann sich dann in den sechziger Jahren das Forschungsfeld auszudifferenzieren und von schulspezifischen Rezeptionsmerkmalen zu emanzipieren. Zu dieser Entwicklung, die die sechziger Jahre noch deutlicher von der ersten, hier nachgezeichneten Rezeptionsphase abheben, hat der internationale, vor allem von Italien und Frankreich ausgehende Impuls wesentlich beigetragen: Die Neuedition sämtlicher Werke Nietzsches von Colli und Montinari seit 1967 ebnete einer weitaus umfassenderen Nietzscheforschung den Weg.

IL Forum

4. Nietzsche-Werkstatt Schulpforta: „Friedrich Nietzsches Gedichte"

Renate G. Müller u. Rüdiger Ziemann

Nietzsches

Lyrik

Vierte Nietzsche-Werkstatt

Schulpforta (30.8.-1.9.1995)

Die vierte Pfortaer Nietzsche-Werkstatt wurde durch Renate G. Müller (Dortmund) und Ziemann (Halle) geleitet; für die Geschäftsführung war Ralf Eichberg (Halle) verantwortlich. Die Veranstaltung, deren Thema und Leitung festgelegt wurden, nachdem eine andere Planung aufgegeben werden mußte, hatte einen Komplex des Werkes zum Gegenstand, dem trotz seines Umfangs immer noch wenig Selbständigkeit zugestanden wird: die lyrische Dichtung. Nietzsches schriftstellerische Arbeit begann mit dem Verfassen von Gedichten, und die letzte abgeschlossene Schrift ist ein Gedichtzyklus. Die konstitutive Bedeutung, die das Poetische für das Werk des Denkers hat, scheint paradoxerweise die Sicht auf den Dichter zu verstellen. Giorgio Colli hat in seinem Nachwort zu den DionysosDithyramben die Schwierigkeit nicht beschrieben, sondern durch das Beispiel seiner Urteile dargestellt: Was er an der „Versform" vermißt, das „letzte Verklingen in der Schwerelosigkeit", ist in lyrischer Dichtung so sehr der besondere Fall, daß der Einwand nichts besagt, und wenn die „Schwerelosigkeit" gar die der „Abstraktion" sein soll, kann eigentlich nicht mehr von Poesie die Rede sein. Deutlicher als diese Feststellungen zur „Form" reden die die Unterscheidung wird offenbar für möglich gehalten von den Mühen, zum „Inhalt" die es bereitet, Nietzsche als Dichter zu lesen. Dieser Inhalt erscheine nach allen Seiten hin wie ausgefranst eine bedenkenswerte Möglichkeit, zu beschreiben, was man nun schon seit Jahrzehnten eine „offene Form" nennt, wobei diese Form in den Dithyramben denn doch nicht gar so offen ist. Hier soll nicht der Wissenschaftler getadelt werden, der unser Verständnis des Denkers so sehr bereichert hat; sein Rang rückt nur in hellstes Licht, was in der Nietzsche-Literatur fast selbstverständlich geworden ist: die fehlende Bereitschaft, diesen lyrischen Dichter ganz als lyrischen Dichter zu begreifen, ihn mindestens im experimentierenden Interpretieren so zu behandeln, als hätte das Prosawerk eher eine begleitende und dienende Funktion. Dazu ist es eigentlich nur nötig, Nietzsches Platz in der deutschsprachigen Lyrik der Zeit näher zu betrachten. Werner Ross äußerte in einem Funkgespräch, Nietzsche sei der bedeutendste deutsche Lyriker der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gewesen. Das mag manchen Höhrer überrascht haben; wer einmal bereit ist, seine Bedenken gegen solcherart komparative Betrachtung von Dichterindividualitäten hintanzustellen, kann schwerlich widersprechen. Der Blick auf derartige Zusammenhänge ist auch deshalb notwendig, weil Nietzsche in den poetischen Werkstätten des „Jahrhunderts Goethes" durchaus heimisch war; unter diesem Begriff faßte George die Poesie des Zeitalters zusammen, das mit seinem Auftreten und dem Tode Nietzsches endete. Gedichte Goethes, Hölderlins und Schillers formten Weltbild und Kunstverständnis des jungen Nietzsche, in Platen und Heine und sehr wahrscheinlich im Byron-Nachdichter Ernst Ortlepp sah er Leitbilder, er hatte aber

Rüdiger

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Renate G. Müller

74

auch Scheffel und Geibel

u.

Rüdiger Ziemann

und zeigte sich das ist ja nicht unverständlich dort beträchtliche Nähe vermuten möchte: Wir finden bei ihm Abwenig interessiert, wehr oder Ablehnung, wenn er von CF. Meyer spricht. Schließlich ist im Zusammenhang des Themas daran zu erinnern, daß Nietzsche wie kaum ein anderer auf die lyrische Dichtung der Generationen nach ihm gewirkt hat. Der Nachhall seines Sprechens war schon bei George und Morgenstern nicht zu überhören, wurde dann für die poetischen Konzeptionen Bechers, Benns, ja eigentlich aller Dichter der Expressionistengeneration geradezu konstitutiv und ist bei gegenwärtigen Dichtern noch nicht verklungen. Der Aufriß der relevanten Aspekte zeigt schon, daß die Werkstatt sich bescheiden mußte. Immerhin konnte durch Untersuchungen zu einzelnen Gegenständen die Fruchtbarkeit des Werkstatt-Themas gezeigt werden. Durch Hermann Josef Schmidts Beitrag zu frühen Gedichten Nietzsches und Jörgen Kjaers Interpretation des letzten der Dionysos-Dithyramben wurde der Rahmen gegenwärtig, innerhalb dessen sich das Werk entfaltete. Auf prägende Tradition und Nachwirken wiesen die Vorträge von Klaus Goch (Lyrischer Familienkosmos), Jörn Pestlin (Drahtlose Lyrik) und Elke Günzel (Paul Celans Nietzsche-Lektüre) hin. Die weiteren Vorträge beschäftigten sich mit Nietzsches Theorie des Lyrischen (Franz Triebenecker), mit einzelnen Gedichten (Renate G. Müller, Claus Zittel), mit Spuren von Goethe- und Ortlepp-Lektüre in Gedichten Nietzsches (Frank Lisson, Mathis Schrader, Rüdiger Ziemann). Die durchgesehenen Beiträge werden mit Ausnahme derer von Hermann Josef Schmidt, Mathis Schrader und Rüdiger Ziemann hier vorgestellt. Vorträge und Gespräche konnten sich somit nur mit einem Teil der zu betrachtenden Dichtungen beschäftigen; es wurde aber hinreichend deutlich, daß hier ein fruchtbares Feld der Bearbeitung auch durch künftige Werkstätten harrt. Das Begleitprogramm war eng mit dem Gegenstand des Seminars verbunden. Die Lyriker und Germanistikstudenten Ralf Meyer und André Schinkel stellten neue Gedichte vor, und am anderen Abend sprach Mathis Schrader von Ginette Mühlmann auf der Gitarre begleitet die Dionysos-Dithyramben. Nicht nur diese Veranstaltungen begegneten starkem Interesse bei Lehrern und Schülern des gastgebenden Gymnasiums, dessen Leitung das Seminar freundlichst unterstützte; in stärkerem Maße als bisher nahmen Schüler und ganze Klassen an den Seminarsitzungen teil. Sie wirkten mit an der anregenden Atmosphäre des Seminars, für die den Beteiligten, den Mitarbeitern des Gymnasiums und seinem Rektor zu danken ist.

gelesen

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wo man

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vorläufiges morbidum. an

nietzsche.

einst

leergeschrieben -

aufatmet der leib

langes ringendes gedieht

ein ...

und mit den schlagen der uhren gefriert im herzen die Zufriedenheit deiner frühvollendeten

betrunkenen nachte

tage -

zugegen der freude das notwerk getan ist wenn sich der finger zurücklehnt und schlaf dich verfolgt und schlaf dich aufzehrt und ebnet wenn

in dünnen

dann

glänzenden -

bändchen umreichen sie dich ehrfurchterschüttert und dichten ein poem dein frierendes grab -

-

André Schinkel

(1994)

Renate G. Müller

Idyllen aus Messina. Versuch einer

Annäherung1

Die Idyllen aus Messina enthalten acht Gedichte, die zuerst in der Internationalen Monatsschrift, 1. Jg., Nr. 5 (Mai), 269-275, bei Ernst Schmeitzner in Chemnitz veröffentlicht wurden. Es war das einzige Mal, daß Nietzsche eine Reihe von Gedichten zur Publikation brachte, ohne sie in ein philosophisches Werk einzubinden. Später allerdings (1887) wurden diese Idyllen in veränderter Form als Lieder des Prinzen Vogelfrei der zweiten Fassung der Fröhlichen Wissenschaft hinzugefügt. Ich will mich im folgenden Vortrag zuerst den acht Gedichten im einzelnen nähern, um mich sodann etwas mit dem Zusammenhang zu beschäftigen. Die Reihe beginnt mit Prinz Vogelfrei, einem der drei Gedichte, in denen das Vogelmotiv2 das tragende ist. Das Wort „Vogelfrei" ist doppeldeutig; es bedeutet zunächst einmal ganz banal „frei wie ein Vogel", dann aber auch im mittelalterlichen Sinne „ausgestoßen" und „frei zum Töten". Man sollte dies nicht ganz aus dem Auge verlieren, zumal „Vogelfrei" ja auch noch anderes impliziert, nämlich Nietzsches „Freigeist", der ja in der Tat auch eine Art Verbrecher ist, da er sich von der Bindung an Herkommen, Moral, Staat usw. losgesagt hat. Der Zusatz „Prinz" soll dagegen auch einen gewissen Adel ausdrücken; es ist dies ein monarchisch-elitärer Aspekt, den Nietzsche seit frühester Jugend pflegte. Man erinnere sich an das früheste von Nietzsche überlieferte Theaterstückchen Das Königsamt

von 1854; KGW 1/1, 3 ff). Gleich im ersten Vers findet man dies bestätigt: „auf krummem Aste hoch über Meer und Hügelchen" war sein Platz, ähnlich wie fast dreißig Jahre zuvor „Dort auf jener Felsenspitze / Dort da ist mein Lieblingssitz -" (KGW 1/1, 6). Der „krumme Ast" weist aber auch darauf hin, daß es sich nur um einen vorläufigen Ruheplatz handelt, zumal er dort nur „hang", nicht etwa bequem saß. Was haben wir darunter zu verstehen? Die Lösung ist möglicherweise im Aphorismus 575, dem letzten der Morgenröthe mit der Überschrift Wir Luft-Schiffahrer des Geistes! zu finden. Der Aphorismus beginnt folgendermaßen: „Alle diese kühnen Vögel, die ins Weite, Weiteste hinausfliegen gewiß! irgendwo werden sie nicht mehr weiter können und sich auf einen Mast oder eine kärgliche Klippe niederhocken und noch dazu so dankbar für diese erbärmliche Unterkunft!" Auch der „krumme Ast"

(wohl

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1 Vortrag anläßlich der IV. Nietzsche-Werkstatt in Schulpforta am 31.8.1995. 2 Schon seit frühester Jugend hat dieses Motiv eine zentrale Rolle in Nietzsches Gedichten gespielt. Man vergleiche insbesondere die Gedichte Wohin? (KGW 1/1, 226) und Zwei Lerchen (KGW 1/1, 259) sowie deren Interpretation durch H. J. Schmidt, in: Nietzsche absconditus. Kindheit, Berlin/Aschaffenburg 1990, dort vor allem die Seiten 344-357, 990-1063.

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ist so eine „erbärmliche Unterkunft" für den Vogel Nietzsche ein Rastplatz auf dem Weg in weitere Weiten. Auch hier scheint das Motto des Kindes „Weiter, immer weiter!" (KGW -

171, 7) zu tragen. „Ein Vogel lud mich her

zu Gaste -" fährt Nietzsche fort. Es fragt sich nun, wer dieser in dieser Sammlung namentlich genannt wird, ist Theokrit von sei. Der der einzige, Vogel Syrakus. Ist er, der sogenannte Begründer bukolischer Dichtung, der ihn einladende Vogel? Deshalb der Ausflug nach Sizilien, dem Tummelplatz von Hirtendichtung, dem Ort der Leichtigkeit des Seins? Dies ist eine der Möglichkeiten, der ich bei der Besprechung des dritten Gedichts Lied des Ziegenhirten noch etwas weiter nachgehen werde. Eine andere Möglichkeit ist der Bezug zu Goethe. Am gleichen Tag wie Goethe dieser schiffte Nietzsche sich nunmehr am 29.März 1882, also am 29. März des Jahres 1787 95 Jahre später nach Sizilien ein. Der Hinweis auf Goethe ist auch deshalb nicht von der Hand zu weisen, weil Nietzsche später, in der Umarbeitung und Neugestaltung der Idyllen zu den Liedern des Prinzen Vogelfrei mit einem Gedicht An Goethe beginnt. Die Zeit des kurzen Aufenthaltes in Messina ist die wohl am schlechtesten dokumentierte in Nietzsches Leben. An Zeugnissen haben wir lediglich vier Postkarten. Auf einer von ihnen und zwar der an Peter Gast vom 8. April 1882 findet sich jedoch noch ein interessanter Hinweis. Er schreibt dort: „Also, ich bin an meinem ,Rand der Erde' angelangt, wo, nach Homer, das Glück wohnen soll." (KSB 6, 189) Dieser Hinweis geht auf die Insel der Phäaken, hinter der man schon im Altertum Sizilien vermutete. Das „Glück" und die „Inseln der Seligen" hatte schon der Naumburger Schüler gesucht. Ist er also wiederum den Alten in diesem Falle Homer gefolgt? Werner Ross hat nicht unrecht, wenn er in den Zeugnissen aus Messina etwas wie „Traumcharakter"3 annimmt. Nietzsche begibt sich auf Homers und Goethes Spuren in die Märchenwelt der Odyssee, ins Land der Phäaken. Kehren wir zurück zum Text: „Ein Vogel lud mich her zu Gaste / Ich flog ihm nach und rast' und raste / Und schlage mit den Flügelchen." Da wir nicht wissen, wie Nietzsche dieses Gedicht gelesen hätte, können wir dies erste „rast"' auch als Präteritum des Verbs „rasen" verstehen. Vielleicht war diese Doppeldeutigkeit gar von Nietzsche intendiert, denn das „Rasen" würde eine weitere Dimension neben dem Bukolischen andeuten, nämlich das Dionysisch-Pathetische. In der Fröhlichen Wissenschaft fällt mehrfach das Wort von der „Leidenschaft der Erkenntnis"; Leidenschaft das ist das griechische pathos, in dem wie in der deutschen Übersetzung noch das Wort „Leiden" steckt, aber ebenso auch die Raserei, die durch Dionysos, aber auch durch Aphrodite verursacht werden kann. Joachim Köhler meint in diesem Zusammenhang, die Leidenschaft bezöge sich auf die schönen Knaben von Tauromenion,4 das in der Nähe Messinas lag. Könnte aber nicht ebenso der Kreis der phäakischen Mädchen den Antrieb zu dieser Reise übers Meer geliefert haben? Im Nachlaß derselben Zeit finden sich bei Nietzsche Nausikaa-Lieder: Und das „weiße Meer" der nächsten Strophe ist gewiß Goethe nachempfunden, und zwar dem Vers „Ein weißer Glanz ruht über Land und Meer" aus dessen Nausikaa-Fragment.5 Die Leichtigkeit des südlichen Lebens kommt in diesen Versen zum Ausdruck, die aber gleichzeitig auch eine Indifferenz, eine Sorglosigkeit beinhaltet: „Es schläft mir jedes Weh -

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3 W. Ross, Der ängstliche Adler, Stuttgart 1980, 600. 4 Vgl. J. Köhler, Zarathustras Geheimnis, Nördlingen 1989, 321 ff. 5 Goethes Werke in 14 Bdn., Bd. 5, hg. v. E. Trunz, Hamburg 1948

ff.,

72.

Idyllen

aus

Messina

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und Ach. / Vergessen hab' ich Ziel und Hafen, / Vergessen Furcht und Lob und Strafen: / Jetzt flieg ich jedem Vogel nach." Das Ziel hatte schon der Wanderer in Der Wanderer und sein Schatten aufgegeben, die Sicherheit des Hafens verachtet der zu Schiff Gehende, und da er Furcht und Lob und Strafen, die stärksten Motive für angepaßtes Verhalten, vergessen hat, kann er nun jedem Vogel nachfliegen, und (in der nächsten Strophe wiederholt) „hinter jedem Vogel her". Das hört sich fast etwas frivol an. Und ich meine, daß neben und mit der Interpretation der Vögel als Vögel der Erkenntnis etwas anderes miteinfließt, nämlich ein spielerischerotisches Moment. Nicht die Vernunft ist mehr gefragt: „Vernunft? das ist ein bös Geschäfte: / Vernunft und Zunge stolpern viel!", sondern „Das Fliegen gab mir neue Kräfte / Und lehrt mich schönere Geschäfte, / Gesang und Scherz und Liederspiel". Mit der womöglich Kantischen Vernunft, der strengen ratio, ist seine Art der Erkenntnis nicht mehr zu erlangen, dann wohl schon eher mit dem sprühenden romanischen esprit, der ihn auch zu Scherz, List und Rache, zu bonmots und Sentenzen beflügelt. Da stolpert die Zunge dann nicht, die wohl nur stolpert, wenn sie die Vernunft bedient; wenn sie singt, wünscht sie sich sogar Zuhörer: „So horcht mir denn auf meine Weise / Und setzt euch still um mich im Kreise, / Ihr schönen Vögelchen, herum!" Wer auch immer die schönen Vögelchen sein mögen, mich erinnert auch dies stark an den Reigen der phäakischen Mädchen in der Odyssee. Bei der Besprechung des nächsten Gedichtes Die kleine Brigg, genannt „das Engelchen ", einer wie es scheint niedlich-ironischen Metamorphose, will ich mich kurz fassen. Es ist möglich, daß Nietzsche mit einem solchen Schiff, und zwar mit dem italienischen Namen „Angelina" (dt. „Engelchen"), nach Messina gefahren ist. Daß Schiffe sehr häufig Frauennamen tragen und mit Frauen verglichen werden, ist bekannt. Nietzsche selbst hatte schon als Schüler ein lateinisches Gedicht mit Namen Amazo („Die Amazone") geschrieben, in dem er zuerst die Schönheit und den Stolz und dann den Untergang dieser preußischen Korvette besang. Weit wichtiger aber scheint mir zu sein, daß hier eine subtile Ironisierung von Marienvorstellungen vorliegt. Auch die Jungfrau Maria, das „Mädchen" (vergine), wird gerade im italienischen Sprachraum oft einem Schiff verglichen; dies ist auch z. T. noch im „Gotteslob" der Fall, und obwohl der Protestantismus sich vom Marienkult radikal abwendet, läßt selbst das evangelische Adventslied Es kommt ein Schiff noch diese alte Tradition durchblicken. Dies wird vor allem in dem Vers „trägt Gottes Sohn voll Gnaden" deutlich. Wenn dort aber z. B. steht „das Segel ist die Liebe", so ist damit wohl „caritas", die christliche Nächstenliebe gemeint; Nietzsche aber meint „amor", wenn er schreibt: „Denn es dreht um Liebe sich / Stäts mein feines Steuerrädchen." Die ständig auftauchenden Diminutive „Fähnchen", „Flämmchen", „Lämmchen", „Hündchen", „Kätzchen" usw. lassen den Eindruck von Ironie über Unreife, Oberflächlichkeit, vielleicht auch geistiger Beschränktheit entstehen. Dies kommt schon in der zweiten Strophe zum Ausdruck: „Bin geschmückt mit hundert Fähnchen, / Und das schönste Kapitänchen / Bläht an meinem Steuer sich, / Als das hundert erste Fähnchen." Einem so oberflächlichen Geschöpf ist wohl auch der es scheinbar steuernde Mann (Kapitän) nur ein schmückendes Beiwerk wie die „hundert Fähnchen" (Kleider), die es zu Hause im Schrank hat. -

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geladen6

6 EKG,

Ausg.

f. d. Landeskirchen

Rheinland, Westfalen und Lippe, Gütersloh

o.

J., Nr. 4.

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Für die Oberflächlichkeit spricht auch die dritte Strophe: „Ueberallhin, wo ein Flämmchen / Für mich glüht, lauf ich ein Lämmchen / Meinen Weg sehnsüchtiglich: / Immer war ich solch ein Lämmchen." Daß mit dem „Lämmchen" der christliche Hintergrund sofort aufleuchtet, scheint mir evident. Und brillant kontrastiert hier Nietzsche „Lämmchen" mit „Flämmchen", die für das Lämmchen erglühen. Aber ist hier möglicherweise auch ein versteckter Selbstbezug? Hat sich der Junge Fritz nicht auch folgsam wie ein Lämmchen „sehnsüchtiglich" um Liebe bemüht, sobald ihm auch nur ein kleines Zeichen gegeben wurde? (Und jetzt ganz in Klammern, ins Unreine gesprochen und nur als Denkanstoß gedacht ist das „Jetzt flieg ich jedem Vogel nach" und „hinter jedem Vogel her" so weit davon entfernt? Was ist das Movens in diesem Falle?) Während mit dem Bild des „Lämmchens" die Unschuld angesprochen werden soll, werden mit „Hündchen" und „Kätzchen" andere Eigenschaften angeführt: Mit dem „Mündchen" kann das „Hündchen" bellen und durch „ein bitterböses Wörtchen" gar den Geliebten in den Tod treiben; daß Worte (zumindest psychisch) töten können, wird hier spielerischironisierend (auch deshalb der Diminutiv) dargestellt. Eine Parodie auf den Liebestod der Hero7 im hellenistischen Roman und in Elegien scheint mir in der nächsten Strophe ausgedrückt; der Sprung von der Klippe wirkt hier durch die Verwendung der Diminutive „Klippchen" und „Rippchen" als geradezu lächerlich. Merkwürdig ist allerdings, daß Nietzsche in diesem Wust von Diminutiven dann von der „lieben Seele", nicht aber vom „lieben Seelchen" spricht, was ebenso gut ins Versmaß gepaßt hätte. Er drückt damit aus, daß das Mädchen seine liebe (unsterbliche) Seele sehr wichtig nimmt, ganz im Gegenteil zu ihm selbst. Und deshalb beginnt er auch gleich darauf wieder zu parodieren, indem er diese Seele als „Kätzchen" über „geschwinde Tätzchen" verfügen läßt, mit denen sie sich in das „Schiffchen" retten kann. Gehen wir nun zum nächsten Gedicht dieses Zyklus Lied des Ziegenhirten über, und sehen wir uns auch gleich einmal den in Klammern gesetzten Untertitel an: An meinen Nachbar Theokrit von Syrakusa. Mit Theokrit sind wir wieder in der Spätantike bzw. im Hellenismus. Spätestens hier wird auch deutlich, warum Nietzsche diesen Zyklus Idyllen genannt hat. Theokrit gilt wie schon gesagt als Begründer der sogenannten bukolischen Dichtung, der „Eidyllien" (übers. Bildchen, kleine Gedichte) oder eben Idyllen. Dabei darf man freilich nicht an unseren durch die späteren Römer (allen voran Vergil) und durch das französische Rokoko geprägten Begriff von Idylle denken. Dieses Sentimentale, Romantische und Naturschwärmerische wäre auch gar nicht in Theokrits Sinne, und Nietzsche stellt uns ja in der derben Sprache dieses Gedichts nachdrücklich dar, daß er seinen Theokrit kannte. Wie Theokrit und die gesamte Bukolik läßt er einen Hirten (hier einen Ziegenhirten) sprechen. Bukolik kommt ja ursprünglich von „boukolos", was „Rinderhirte" bedeutete. Allerdings sind „boukoloi" auch Priester des Dionysos; man sollte dies nicht ganz vergessen, denn auch dies mag in einer Nebenstimme bei Nietzsche mitschwingen. Das Motiv des verliebten und an seiner Liebe leidenden Hirten gebraucht Theokrit mehrfach, und zwar besonders in seiner 3. Idylle Ständchen für Amaryllis (die griechische Überschrift aber lautet „komos"!)8 und in der 14. Idylle Aischinas und Theonychos, in der der Hirte Aischinas seinem Freund sein (Liebes-)Leid klagt. -

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7 Vgl. u. a. Vergil, Heroid, 17 u. 18. 8 Siehe Theokrit, Gedichte, gr.-dt. ed. F. P.

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Fritz, Tübingen 1970, 26 ff.

Idyllen

aus

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Messina

Auch der Ziegenhirte, den Nietzsche hier sprechen läßt, ist vor Liebe und Eifersucht krank. Wiederum also das Thema Liebe, wie schon zuvor bei dem „Engelchen". Hier aber geht es um eine sehr sinnliche, körperliche Liebe. Ein Hirte liegt auf seinem Bett und wartet auf seine Geliebte. Da sie nicht kommt, fühlt er sich „krank im Gedärm"; ganz anders als das verspielte „Engelchen" spricht er nicht von seiner Seele, sondern von körperlichen Schmerzen. Dazu paßt auch „mich fressen die Wanzen". Im folgenden wird gezeigt, wie befangen dieser Ziegenhirte in seiner „Naturhaftigkeit" ist; wenn er sich mit einem Hund vergleicht, die Geliebte mit einer Ziege, und deren möglichen Liebhaber mit einem Bock, erkennen wir darin ein Verhaftetsein im Animalischen. Auch Theokrit wollte seinen Lesern dies vor Augen führen, nämlich daß sie das Tierische in sich tragen und darunter leiden. Indem wir als Leser uns selbst in diesen Opfern (von Leidenschaften und Trieben) wiedererkennen und die lächerliche Figur sehen, die diese Opfer machen, gewinnen wir Abstand und können angesichts der ironisch-satirischen Behandlung Humor entwickeln. Dazu trägt auch die Einfältigkeit des Hirten bei. „Das Kreuz, als sie's versprach! / Wie konnte sie lügen?" zeigt die Fassungslosigkeit des Hirten, daß sein Mädchen, obwohl sie auf das Kreuz geschworen hat zu kommen, diesen Schwur bricht. (Daß hierin natürlich auch eine Kirchenkritik steckt, steht wohl außer Frage; der Gut-gläubige wird ausgenutzt und

alleingelassen.)

Dadurch entsteht in ihm aber auch Argwohn und Verdacht: „Woher ihr seid'ner Rock? Und die Antwort kommt derb, ja zotig: Möglicherweise „wohnt noch mancher Bock / An diesem Holze?" Läuft sie [gar] jedem nach wie seine Ziegen? Und wieder haben wir diese merkwürdige Parallele: Das „Ich" des Prinzen Vogelfrei fliegt jedem Vogel nach, „Engelchen" läuft jedem „Flämmchen" nach, und die Geliebte des Ziegenhirten läßt jeden, oder zumindest manchen Bock an sich heran, oder läuft ihm gar nach. Durch den Verdacht vergiftet sich das Leben des Ziegenhirten nun aber noch zusätzlich: „Wie kraus und giftig macht / Verliebtes Warten!" Krause Gedanken entstehen und vergällen ihm die Lebensfreude, sodaß er auch nicht mehr essen will („Lebt wohl, ihr Zwiebeln!"). Im Garten der Freude und der Lust (vielleicht einem epikureischen Garten?) „wächst bei schwüler Nacht Giftpilz" und breitet sich aus. Der Anfang der letzten Strophe erinnert an Sappho: „Dédyke mèn a selánna kai pléiades" (Nun ist schon der Mond hinabgesunken und auch die Plejaden);9 bei Nietzsche: „Der Mond ging schon ins Meer, / Müd sind alle Sterne." (Dieser letztgenannte Vers ist übrigens der einzige in diesem Gedicht, der aus dem Rhythmus fällt!) Bei Sappho geht jedoch die Strophe beherrscht zuende. „Mitte der Nacht und vorbei die Stunde. Ich aber liege al-"

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lein."10

Nach einer durchwachten Nacht voller Verdacht und Selbstquälerei kommen am Morgen für den Ziegenhirten Resignation und Verzweiflung, gar Lebensüberdruß: „Grau kommt der Tag daher / Ich stürbe gerne." -

9

Anfang des F. 52 (ed. Bergk). Nietzsche selbst hat übrigens schon in seiner Schulzeit (1863) in seinen Anmerkungen und Übersetzungen zu griechischen Lyrikern das ganze Fragment nicht nur auf griechisch abgeschrieben (HKG II, 206), sondern auch übersetzt und mit der Überschrift Um Mitternacht versehen (ebd., 211).

10

Eigene Übersetzung.

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fühlt, daß hinter der Parodie dieses Gedichts sich doch der abgrundtiefe Ernst der Tragödie verbirgt, ja, daß beide auch zusammengehören: „Incipit tragoedia"11 gleich „InMan

cipit parodia".12

Der Charakter einer Parodie kommt wohl am deutlichsten im folgenden Gedicht Die kleine Hexe zum Ausdruck. Das Gedicht wurde später unverändert unter der Überschrift Die fromme Beppa in die Lieder des Prinzen Vogelfrei übernommen. Ganz deutlich ist in diesem Gedicht die Kirchenkritik zur Sprache gekommen, wenngleich auch hier in spielerischer Form und auf eine bestimmte Ausprägung bezogen, nämlich den italienischen Katholizismus, dem im Gegensatz etwa zum spanischen meistens eine gewisse Leichtigkeit, Sorglosigkeit und Oberflächlichkeit innewohnte. Die kleine Hexe spricht im Gegensatz zum „Engelchen" gar nicht von ihrer „Seele", obwohl sich dies doch gerade im Kontext mit Kirche ziemen würde. Aber nein, gerade hieran soll die Verlogenheit der Kirche aufgezeigt werden. Sie spricht von der „unsterblichen Seele", aber eigentlich geht es nur um das „hübsche Leibchen" und das hübsche Gesicht, denn während Gott angeblich nur ins Herz schaut, prüft die Kirche „Herz und Gesicht". „Die Kirche weiß zu leben", die kleine Hexe aber auch; sie weiß genau, wie sie sich zu verhalten hat: „Man lispelt mit dem Mündchen / Man knixt und geht hinaus"; dann aber folgt die ironische Verkehrung: nicht Buße und Absolution löschen die begangene Sünde aus nein! „mit dem neuen Sündchen / löscht man das alte aus". Dies zeigt recht deutlich, daß das ganze Ritual nur ein Spiel ist, das man zwar spielt, weil es zur Konvention gehört, das aber doch keiner recht ernst nimmt, das aber auch keinem wehtut. Mit so einem Gott läßt es sich leben, drum stimmt die Hexe an: „Gelobt sei Gott auf Erden"; auf Erden (!) und eben nicht im Himmel, denn sie ist ein durchaus weltliches Persönchen. Und da sie sich so gut mit Gott und seinen Vertretern auf Erden arrangieren kann, „so lang noch hübsch [ihr] Leibchen", wird sie es auch mit dem Teufel aushalten: „Als altes Wackelweibchen / Mag mich der Teufel frein!" Hier könnte vom Metrum, wenn auch nicht in den Reim passend, stehen: „Mag ich zur Hölle fahr'n!" Der Tod ist also schon angesprochen: Nähern wir uns nun ein wenig dem nächsten Gedicht dieses Zyklus, das so rätselhaft erscheint: Das nächtliche Geheimniss. Auch dieses Gedicht findet sich unverändert, aber mit einer neuen Überschrift Der geheimnissvolle Nachen in den Liedern des Prinzen Vogelfrei wieder. Wie im ersten Gedicht scheint Nietzsche hier von sich selbst zu sprechen, zumindest aber spricht ein „Ich" im Gegensatz zu den vielen, ja zu „allen". Dieses „Ich" liegt im Gegensatz zu allen anderen eines Nachts (genauer gesagt: „Gestern Nachts") wach, aber unfreiwillig, nicht wie der theokritische Ziegenhirte in Erwartung seiner Geliebten. Weder „das Kissen, / Noch der Mohn, noch, was sonst tief / Schlafen macht ein gut Gewissen" lassen ihn Ruhe finden. Die „Vielen, allzuvielen" (hoi polloi) aber finden wohl Ruhe, teils weil sie schwer gearbeitet haben und müde auf ihr „Kissen" sinken; etwas, was sich Nietzsche nach eigenen Angaben selbst verbot. Am 15.3.1882 schrieb er an Gast: „wollen Sie meinen Zustand kennen lernen? Zur Strafe für die unsinnige Thätigkeit meiner ersten Basler Jahre kann ich jetzt nicht mehr die kleinste Arbeit thun ohne einen Gewissensbiss ich empfinde jedesmal: -

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11 12

Die fröhliche Wissenschaft, 342. Diese Gleichung wird freilich erst in der Vorrede zur zweiten Auflage der Fröhlichen Wissenschaft aufgemacht, sie läßt sich indes insbesondere in den lyrischen Texten auch schon 1882 nachweisen.

Vgl.

Idyllen

aus

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Messina

,das ist nicht recht, du darfst nicht mehr arbeiten!'" (KSB 6, 178) Da er sich nicht an sein eigenes Postulat hielt und ständig weiterarbeitete, entstehen Gewissensbisse; aber sind es nur die hierher rührenden, die ihm den Schlaf rauben? Sind seine Gewissensbisse nicht auch diejenigen des eigentlichen Amoralisten, des Zerstörers des Wertehimmels, des „Mörders Gottes", des „Mörders aller Mörder", wie er in dem berühmten Aphorismus Der tolle Mensch (125) der Fröhlichen Wissenschaft schreibt. Selbst Betäubungsmittel, der „Mohn",

können in solch einer Situation nicht helfen. Und so macht der Ruhelose sich auf und geht zum Strande. Und nun beginnt eine traumartige Schilderung, wie durch Schleier hindurch. Beginnt das Opium, das er zu sich genommen hat, nun seine halluzinatorische Wirkung zu entfalten? Nietzsche meint, wie er auf einer Postkarte an Gast vom 8. April vermerkte, er sei „an [seinem] ,Rand der Erde' angelangt" (KSB 6, 189). Am „Rande der Erde" aber wartet auch Charon, der Totenfährmann in die Unterwelt, mit seinem Kahn. In Nietzsches traumhafter Schilderung geht es weiter: „Mondhell war's und mild ich traf / Mann und Kahn auf warmem Sande." Obwohl er quasi wie in Trance dorthin gelangt, hat er doch deutliche vielleicht gar wie unter der Wirkung bestimmter Rauschmittel gesteigerte Sinneseindrücke: „Mondhell", „mild", „warmer Sand". Im nächsten Vers erfahren wir, daß der Mann ein Hirt ist und ein Schaf bei sich hat. Hier zeigt sich eine andere Parallele zur griechischen Mythologie: Es kann sich auch um Hermes handeln, der als Gott der Herden öfter mit einem Schaf abgebildet wird. Gleichzeitig aber ist der „gute Hirte" auch Hermes Psychopompos, der Geleiter der Toten in die Unterwelt. Beide Aspekte schwingen hier mit. Das Schaf kann auch die Seele eines Toten symbolisieren, die mit dem Kahn über den Acheron in die Unterwelt gebracht wird. „Schläfrig stiess der Kahn vom Lande." Schlaf (Hypnos) und Tod (Thanatos) sind Brüder, das weiß schon die griechische Mythologie. Aber auch der Zuschauer der Szene scheint schläfrig zu sein und hinüberzugleiten in den Schlaf, noch nicht in den Tod, auf jeden Fall aber taucht er in einen zeitlosen Zustand ein. „Eine Stunde, leicht auch zwei / Oder war's ein Jahr? da sanken / Plötzlich mir Sinn und Gedanken / In ein ew'ges Einerlei / Und ein Abgrund ohne Schranken / That sich auf -". Auch das Gefühl der Räumlichkeit geht also verloren, nur das Gefühl von Tiefe („Abgrund") ist noch vorhanden. Durch die Aufhebung von Raum und Zeit sinken die Gedanken „in ein ew'ges Einerlei". Auch hier drängt sich die Verbindung zum Aphorismus 125 der Fröhlichen Wissenschaft auf: „Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?" Aber während der „tolle Mensch" der Fröhlichen Wissenschaft seine Betroffenheit laut herausschreit, herrscht hier doch eine gewisse Distanziertheit und Dissoziiertheit des Betroffenen, was sich zum Beispiel darin ausdrückt, daß sich zwar ein Abgrund auftut, aber daß der Betrachtende nicht in ihn hinabgerissen wird oder „stürzt", um mit den Worten des tollen Menschen zu sprechen. Zumal der nächste Halbvers glauben machen will: es war ja nur ein Traum („da war's vorbei! -")! Doch etwas bleibt von dieser Nacht: „Morgen kam: auf schwarzen Tiefen / Steht ein Kahn und ruht und ruht —"; die Gegenwart des Todes bleibt bestehen, ebenso das Gefühl eines Lebens über dem Abgrund. Für die vielen aber, die nun nach einer Mordgeschichte begierig schreien „Was geschah?" „Was gab es? Blut?" hält der Betroffene die (mystische) Erfahrung seiner Nacht zurück: „Nichts geschah! Wir schliefen, schliefen / Alle ach so gut! so gut!" Der Tod spielt auch im folgenden Gedicht eine wichtige Rolle. Nietzsche hat auf dem Friedhof (it. „campo santo") wohl schon in Genua ein Grabmal mit einer Inschrift -

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die ihn zu dem nun folgenden Gedicht inspiriert hat: „Pia, caritatevole, amorosissima", was ins Deutsche übersetzt bedeutet: „Fromme, Barmherzige (Wohltätige), Liebevollste (oder Geliebteste)." Mit dem Beginn des Gedichts „O Mädchen, das dem Lamme / Das zarte Fellchen kraut" (krault!), sind wir wieder im bukolischen Bereich, allerdings hier wohl eher in der süßlichromantischen, somit modernen und nicht antiken Bukolik. Doch dann fährt er fort „Dem Beides, Licht und Flamme, / Aus beiden Augen schaut". Nicht von ungefähr wird man an Scherz, List und Rache Nr. 62 (Ecce homo) denken. „Ja! Ich weiss, woher ich stamme! / Ungesättigt gleich der Flamme / Glühe und verzehr ich mich. / Licht wird alles, was ich fasse, / Kohle Alles, was ich lasse: / Flamme bin ich sicherlich." Will Nietzsche hier in das

gelesen,

unbekannte tote Mädchen etwas von sich hineinlegen, sieht er gar sich selbst in diesem Mädchen? Das Gedicht geht ja weit über das hinaus, was er auf dem Grabstein sehen kann. Zudem scheint jegliche Ironie zu fehlen. „Pia" und „caritatevole" gibt Nietzsche wieder mit „So fromm, so mild von Herzen", „Amorosissima" aber läßt er unübersetzt als letzte Zeile der ersten wie der zweiten Strophe stehen. „Amorosissima", dieser italienische Superlativ mit der doppelten Bedeutung (Liebevollste und Geliebteste) mag ihn fasziniert haben, vielleicht hat er gar das ganze Gedicht um dieses Wort herum aufgebaut. So vermutet er auch die Liebe als Grund für den zu frühen Tod des Mädchens. Und so zartfühlend wie selten stellt er der Toten seine Fragen: „Was riß so früh die Kette? / Wer hat dein Herz betrübt? / Und liebtest du, wer hätte / Dich nicht genug geliebt? -". Er horcht auf die Antwort und fährt fort: „Du schweigst doch sind die Thränen / Den milden Augen nah:". Hier scheint mir eine tiefempfundene eigene Erfahrung miteinzufließen. Im Schweigen liegt der Grund für den Tod: „Du schwiegst und starbst vor Sehnen". Gilt dies auch für den ausgebrannten Nietzsche („Glühe und verzehr' ich mich"), der sich nie wirklich zu erklären wagte? Als nächstes Gedicht folgt Vogel Albatross, das in einer Vorstufe Der Siegreiche hieß. Überhaupt schien die Vorstufe anders konzipiert. Statt in der dritten Person wurde dort in der ersten Person und in anderem Versmaß von Nietzsche gedichtet: „Der Himmel trägt mich doch / Noch darf mein Flügel ruhn! / Wie ward? Jüngst flog ich doch? / Und hier verlern ich's nun / Ich ruh' und schwebe doch / Wie darf mein Flügel ruhn?" (KSA 14, -

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230)

Warum nun in der dritten Person? Will er suggerieren, daß es nicht er, sondern jemand anders ist, der so hoch fliegen kann, daß er schwebt? Oder denkt er wirklich an jemand anderen? Oder sind beide Aspekte darin enthalten? In Piatons Phaidros ist ein solcher Zustand des Schwebens bzw. Getragenwerdens erreicht, und zwar bei der Fahrt des gefiederten Seelenwagens.13 Wenn die Seele aber soweit gekommen ist, dann braucht sie nicht mehr „Ziel und Zug und Zügel" ; dann ist sie am Ziel, am überhimmlischen Ort (hyperouranios topos), am Sitz des „wahrhaft seienden Seins"

(ousia

13

ontos

ousa) angelangt.

Piaton, Phaidros 247 b-c: „Denn die Seelen, die man die unsterblichen nennt, fahren (poreutheisai), sie auf dem Gipfel angekommen sind, nach außen und machen halt auf des Himmels Rückseite, und wenn sie dort stehen, trägt sie der Umschwung in die Runde; so schauen sie, was außerhalb des

wenn

Himmels ist."

(Übers.

W.

Buchwald)

Idyllen Und

aus

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Messina

möglicherweise will Nietzsche selbst das platonische Bild noch übersteigern, indem „Mitleidig selbst dem Neid -". Der Neid (gr. phthonos) nimmt bei Piaton nicht Flug zum überhimmlischen Ort teil.14 Nietzsche seit seiner Jugend in seinen Texten immer wieder eine anagogische Ten-

er schreibt: an dem

Daß denz bewies, steht wohl außer Frage. Dennoch meine ich, daß nicht Piaton hier das Vorbild sein kann, obwohl er platonische Bilder, und zwar insbesondere aus dem Phaidros, immer wieder verwendet. Aber auch in anderen Kontexten kommt dies immer wieder vor, als Beispiel sei aus einer der Dichter steht zuletzt auf einer hohen Horazinterpretation des Jahres 1862 zitiert: Warte und überschaut Himmel und Erde." (HKG II, 137) Mir scheint aber, daß er vor allem mit dem „Schweben" und „Ruhen" der zweiten Strophe auf einen anderen Philosophen abzielt, den er in seiner mittleren Entwicklungsphase wohl sehr verehrt hat: nämlich Epikur. Dieser spätantike Philosoph hat einen zentralen Begriff in seinem Denken; es ist der der „katastematike hedone", der ruhenden Lust. Diese ruhende Lust ist der vollkommene Zustand, den man wohl erst nach vielen Anstrengungen (Flügelschlagen) und durch innere Reife erreichen kann. In diesem Zustand kann man dann auch „den Sieg vergessen", weil man auf einer ganz anderen Ebene ist, die nicht mehr von Kampf und Mühe bestimmt ist. Bezeichnenderweise wurde diese zweite Strophe bei der Abfassung der Lieder des Prinzen Vogelfrei weggelassen. In dieser Zeit war Epikur kein Vorbild mehr für Nietzsche, wenngleich er bestimmte aufklärerische Aspekte an Epikur nach wie vor schätzte. Einen interessanten neuen Gesichtspunkt aber bringt die dritte Strophe: „Gleich Stern und Ewigkeit / Lebt er in Höhn jetzt, die das Leben flieht". Wenn man eine solche Höhe gewonnen hat, ist man wohl für das Zusammenleben mit anderen, für die Kommunikation nicht mehr geeignet. Dieses höhere Wesen oder möglicherweise höhere Selbst, das Nietzsche zuletzt anschluchzt: „Ich dachte dein: da floss / Mir Thrän' um Thräne ja, ich liebe dich!" muß doch im eigentlichen Sinne un-menschlich sein. Übrigens hat Nietzsche in den Liedern des Prinzen Vogelfrei dieses Gedicht nach dem letzten Vers „Liebeserklärung" genannt, aber im Untertitel hinzugefügt (bei der aber der Dichter in eine Grabe fiel-). Das heißt, er hat kritische Distanz genommen; er hat die Lebensuntauglichkeit eines solcherart Liebenden eingesehen, der sich ebenso verhält wie Thaies, der, während er den Himmel betrachtet, in einen Brunnen fällt und daraufhin von einer thrakischen Magd ausgelacht wird.15 Kritische Distanz, vor allem aber parodistischen Charakter verrät auch das letzte Gedicht dieses Zyklus Vogel-Urtheil. Ein „Ich", wohl Nietzsche selbst, zieht sich zurück in die Natur, um sich „zu erquicken",16 vielleicht um sich in der Natur von seiner (Dicht)-Kunst zu erholen. „...

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14 15

phthónos gar éxo theíou choróu ístatai; 247a. Auch hier ist aber möglicherweise, wie so oft bei Nietzsche, eine hintergründige Lesart angezeigt: So wenig wie die Anekdote bei Thaies greift, der wohl in den (trockenen!) Brunnen geklettert war, um die Sterne zu beobachten, so sehr kann hier versteckt durch das rührselige Schluchzen (was eine erste Interpretation als Ironie werten kann) die tiefe Betroffenheit des Dichters ausgedrückt sein. Auch hier drückt sich also die lebenslange Naturverbundenheit des Dorfkindes Nietzsche aus, die unter dem Druck von Internat und philologischen Studien in eine tiefe Natursehnsucht mündete. Auch dies einfühlsam nachgezeichnet bei H. J. Schmidt, in: Nietzsche absconditus. Jugend, Berlin/Aschaffenburg -

16

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1993 f.

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Renate G. Müller

Da hört er etwas ticken, „leise ticken", und zwar kommentiert er zunächst freundlich „Zierlich wie nach Takt und Maass", weil er etwas Bekanntes darin wahrnimmt. Aber dann: „Böse wurd' ich, zog Gesichter." Er fühlt sich wohl von dem Vogel verhöhnt, kann aber dennoch nicht anders, als der Verführung des Metrums (tiktak) nachzugeben („Bis ich gar, gleich einem Dichter, / Selber mit im Tiktak sprach.") Er kann sich dem Reimen (Versemachen) und dem metrischen Sprechen nicht entziehen, aber er kann sich noch darüber lustig machen: „Wie mir so im Versemachen / Silb' um Silb' ihr Hopsa sprang, / Mußt ich plötzlich lachen ". Das Tiktak einer Uhr oder (mir geläufig) Nähmaschinengeklapper17 des Metrums (entweder jambisch oder trochäisch) zieht ...

sich mit nahezu musterhafter Präzision durch alle diese Gedichte. Das Tiktak der Uhr weist auch einen ehernen Zwang auf, nämlich den der unaufhaltsam verrinnenden Zeit. Aber selbst in diesem Zwang zum Metrum kann er sich doch noch über sich selbst lustig machen, poetische Selbst-Ironie üben. „Du ein Dichter? Du ein Dichter? / Steht's mit deinem Kopf so schlecht? -" scheint schon nach vorn zu weisen zum Lied der Schwermuth 3 (ZA IV) und dem späteren ersten Dionysos-Dithyrambus: „Nur Narr! Nur Dichter!" Hier soll mein Durchgang durch diesen Zyklus enden. Zum Schluß möchte ich noch ein paar Gedanken zum Gesamtzusammenhang äußern. Die Gedichte scheinen sehr heterogen zu sein: dennoch können wir auch einige Gemeinsamkeiten ausmachen. Da ist zunächst das beim letzten Interpretationsversuch genannte formale Moment des ununterbrochenen Metrums zu nennen, das an sich schon ein parodistisches Element ist, selbst wo die Worte das nicht verraten. Aber auch in den meisten Gedichten läßt sich dieser Aspekt wie wir gesehen haben interpretativ erschließen. Man kann auch so etwas wie einen Spannungsbogen zwischen Parodie und Pathos in diesem Zyklus ausmachen. Auf der inhaltlichen Ebene werden verschiedene Themen angesprochen und diesem Spannungsbogen entsprechend auf unterschiedliche Weise abgehandelt, so geht es z. B. um das Thema „Liebe" im 2., 3., 4., 6. und 7. Gedicht. Im 5. und 6. Gedicht tritt das Thema „Tod" in den Mittelpunkt, mehr oder weniger latent schwingt es aber auch schon im 3. und 4. Lied mit. Und schließlich rahmt ein zentrales Thema zumal vom „mittleren" Nietzsche das Ganze ein: „Freiheit" im 1. und „Gebundenheit" im 8. Gedicht. Freiheit und Gebundenheit, das ist der Gegensatz, der sein Denken vor allem dieser Zeit auf mehreren Ebenen bestimmte, ihn, der beispielsweise als Vogel Albatros frei in höchsten Höhen des Gedankens schweben wollte und dennoch als Kranker (und nicht nur „im Gedärm") in seiner erbärmlichen leiblichen Befindlichkeit gebunden blieb. Als Movens dieses Gedichtzyklus aber erscheint mir die südliche Heiterkeit und Leichtigkeit des Seins, die sich besonders in den ersten vier Gedichten ausspricht, wenngleich auch hier hinter der heiteren apollinischen Maske wie so oft bei Nietzsche ein tiefer dionysischer Ernst lauert. -

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17

Oder war dies gar eine Reminiszenz an das Mühlengeklapper in Schulpforta? (Während der Werkstatt führte uns Frau Dorfmüller, die Bibliothekarin der Landesschule, freundlicherweise auch das historische Mühlwerk vor. Der Rhythmus der Idyllen, der sich weiter vor meinem inneren Ohr drehte, ließ sich damit ohne weiteres in Einklang bringen!)

Gerd Franz Triebenecker

Über die mimetische Funktion der Lyrik

„Ein solches Reden ist ein wahrhaftes lautes Denken. Die Reihen der Vorstellungen und ihrer Bezeichnungen gehen nebeneinander fort, und die Gemütsakte, für eins und das andere, kongruieren. Die Sprache ist allsdann keine Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes, sondern wie ein zweites, mit ihm parallel fortlaufendes, Rad an seiner Achse. Etwas ganz anderes ist es, wenn der Geist schon, vor aller Rede, mit dem Gedanken fertig ist. Denn dann muß er bei seiner bloßen Ausdrückung zurückbleiben, und dies Geschäft, weit entfernt, ihn zu erregen, hat vielmehr keine andere Wirkung, als ihn von seiner Erregung abzuspannen." Heinrich von Kleist („Über das langsame Verfertigen der Gedanken beim Reden")

Die Kunst der

Sprache

Ein Gespräch über den Lyriker Nietzsche kann den Philosophen Nietzsche kaum ignorieren. Es steht dabei nicht in Frage, daß der Lyriker dem Philosophen den Anlaß des Sprechens verdankt; auch nicht, daß der Philosoph ohne die Sprachvirtuosität des Lyrikers kaum wäre. Beides ist kaum zu trennen. Das Gegeneinanderbewegen von lyrischer Eigenproduktion und theoretisch gebundener Rede provoziert gerade die vitale Eigen- und Widerständigkeit dieses Denkens. Man sollte also nicht den Lyriker beim philosophischen Wort nehmen, sondern vielmehr jenes Wort nach dem Gegenstand „Lyrik" befragen, nach ihrem „Wozu?" und „Warum?" Was kann Lyrik leisten, was andere Sprechweisen, auch die philosophische, nicht zu leisten vermögen? Nur dieser Frage soll hier nachgegangen werden und, meinem persönlichen Forschungsstand geschuldet, auch nur innerhalb des Frühwerks bis zum Aufsatz Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne.1

1

Andererseits ist dies auch keine ganz willkürliche Entscheidung. Ernst Behler verweist darauf: „Das Thema der Sprache ¡st mit dem frühen Nietzsche noch dadurch auf besondere Weise verbunden, daß er

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Gerd Franz Triebenecker Nietzsche selbst scheint in der Geburt der jeder Rede über die Lyrik aufzubauen.

Tragödie aus dem

Geist der Musik hohe Hürden

vor

„Wir reden über Poesie so abstract, weil wir alle schlechte Dichter zu sein pflegen. Im Grande ist das aesthetische Phänomen einfach; man habe nur die Fähigkeit, fortwährend ein lebendiges Spiel zu sehen und immerfort von Geisterschaaren umringt zu leben, so ist man Dichter; [...]." (GT, KSA 1, 60 f.) Damit scheint jede weitere Rede über Lyrik, die nicht in der Lage ist, sich selbst als Poesie auszuweisen, diskreditiert. Zudem verbleibt die Kritikerschelte nicht beim einfachen Vorwurf, sondern liefert gleich noch ein Patentrezept zu der Frage „Wie werde ich ein guter Dichter?" und erst dadurch ein guter Kritiker. Allerdings bedarf es kaum eines genaueren Hinsehens, und das Rezept erweist sich als unscharf, denn alles, was man braucht, ist Phantasie. Wenn ich aber nur noch poetisch über Poesie reden könnte, würde ich vorschnell auf sprachliche Differenz als Erkenntnismittel verzichten. Die Frage danach, was von Lyrik wie geleistet werden kann, würde in selbstreferentiellen Argumentationskreisen ungehört und unbeantwortet verklingen. Trotzdem trifft der Satz Entscheidendes, das tiefer reicht als Kritik an kunstwissenschaftlicher Begrifflichkeit. Klagt er doch einen Gebrauch von Wörtern und Sätzen ein, der sich nicht an der Abstraktion, also der Begriffsbildung, orientiert, sondern an einer Pluralität sich ständig verändernder Bilder und Assoziationen. Deren Qualität ist ihre Unruhe, die kein Bild isoliert von dem anderen werden läßt. Sprache aber muß festlegen und Bedeutung isolieren, will sie im Gespräch oder in der Lyrik mitteilen können. Die Überführung subjektiver Bilder in die sprachliche Mitteilung nährt sich von einer zentralen Frage in den frühen Schriften Nietzsches: Wie kann Kultur, die sich in ihren Symbolen, ihren Ritualen, ihrer Kunst und nicht zuletzt in ihrer Sprache formt, davor bewahrt werden, in Konventionen zu erstarren? Wie können kulturelle Regelsysteme das, was sie ausgrenzen und festlegen müssen, um als Kultur existieren zu können, in ihre

Entwicklungsdynamik integrieren? In der knappen Schrift Über Wahrheit und Lüge stehen Sprachnotwendigkeit und Sprachentwicklung prototypisch für dieses komplexe Problemfeld. Als physisch schwache, der Robustheit und anarchischer Zufälligkeit nichtmenschlicher Natur ausgelieferte Art vermag der Mensch nur durch seinen Intellekt, durch bewußte Verstellung, sein Leben zu sichern. Mit ihm allein gelingt nur kurzfristiges Überleben im „allergröbstefn] bellum omnium contra omnes"

(WL, KSA 1, 877).

Mimikry an Natur ermöglicht aber keine Konstruktion und Weitergabe von Wissen, nicht das Bilden von Überlebensregeln und die gemeinschaftliche Koordination Gefahren antizipierenden Verhaltens. Dauerhafte menschliche Existenz ist nur in Gemeinschaft möglich, wird als solche erst durch Kommunikation aller mit allen. „Jetzt wird nämlich das fixirt, was von nun an ,Wahrheit' sein soll d. h. es wird eine gleichmässig gültige und verbindliche Be-

sieh später nie wieder auf derart intensive Weise mit sprachtheoretischen Problemen beschäftigt hat wie in den genannten drei bis vier Jahren von 1869-1873"; E. Behler, „Die Sprachtheorie des frühen Nietzsche", in: Nietzsche Studien, hg. v. E. Behler, M. Montinari, W. Müller-Lauter u. H. Wenzel, Berlin/ New York 1980.

Über die mimetische Funktion der Lyrik

89

der Dinge erfunden und die Gesetzgebung der Sprache giebt auch die ersten Gesetze der Wahrheit [...]" (WL, KSA 1, 877) Die Dinge erhalten einen Namen; zufällig und ohne das Ding und Wort in einer zwingenden Beziehung zueinander stünden. Wahrheit und Lüge definieren sich nur durch das Einhalten oder Nichteinhalten lebensnotwendiger Konventionen, durch ihre Funktionalität innerhalb sozialer Praktiken, nicht durch die Autorität des Sachverhaltes oder durch metaphysische Garantien. Sprache repräsentiert nicht die Welt, so wie sie erscheint, sondern nur den in ihr Tätigen. Das mindert aus Nietzsches Sicht in keiner Weise die Qualität des Schöpfungsaktes. Es potenziert vielmehr seine Kreativität, weil es originäres, unautorisiertes Schaffen aus dem Nichts ist, motiviert allein vom Wollen zum koordinierten Handeln. In diesem von Nietzsche konstruierten historischen Moment veräußert der Mensch durch das Erfinden der Sprache die Fähigkeit, sich zu erinnern und vorauszuschauen, seine physiologischen und psychologischen Gebundenheiten und Erfahrungen in ein Referenzsystem, das ihn erst als Subjekt in seine Geschichte treten läßt. „Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue." (WL, KSA 1, 879) Das Wort ist als Daseinsbedingung zugleich Daseinsdeutung. Alle Welt außerhalb des Namensgebers wird anthropomorphisiert. In dem Moment, in dem der Mensch sich durch Sprache veräußert, verinnerlicht er Welt durch Sprache hindurch. Er stellt sich in den Mittelpunkt des Gegebenen und ordnet um sich herum jegliches Seiende. Durch die Namensgebung zwingt er die Natur jedoch nicht in das Korsett seines Ordnungssystems, weil das Wort noch der faktischen Bindung entbehrt. Natur bleibt vielmehr neben der Ordnung, neben dem Referenzsystem stehen, von ihm zwar gemeint, aber nicht erreicht. „Er bezeichnet nur die Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdrucke die kühnsten Metaphern zu Hülfe." (WL, KSA 1, 879) Das Erfinden von Wörtern und Namen wird nicht nur metaphorisch mit Begriffen lyrischer Kunstproduktion umschrieben, sondern von Nietzsche im genauesten Wortsinn als dem Kunstschaffen äquivalent begriffen. Das so konstruierte System von Wörtern und Sätzen ist nur im Modus des „Als ob" Abbild des Wirklichen. Es bleibt ästhetisch und, indem es sich dem Realismus verweigert, realistisch. Die Annahme, mit der begrifflich gebundenen Kommunikation über ein Referenzsystem zu verfügen, das adäquates Abbild der Wirklichkeit ist, erweist sich von Beginn an als funktional begründete und strukturierte Illusion.

Zeichnung

„[...] denn zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären wie zwischen Subjekt und Objekt giebt es keine Causalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ästhetisches Verhalten, ich meine eine andeutende Uebertragung, eine nachstammelnde Uebersetzung in eine ganz fremde Sprache. Wozu es aber jedenfalls einer frei dichtenden und frei erfindenden Mittel-Sphäre und Mittelkraft bedarf!" (WL, KSA 1, 884)

Das ästhetische Schaffen hat in dieser Konzeption kein Vorbild. Seine Ausgangsmaterialien sind allein die von den Sinnen gelieferten Wahrnehmungen. Die Natur wird in keiner Weise als nachzuahmendes Original verstanden, weder als natura naturans noch als natura naturata. Gerade dies kennzeichnet die kulturelle Schöpfungspotenz des Menschen: das freie Entwerfen aus zweckrationalen heraus. Der bisher nachgezeichnete Idealtyp des Sprachentstehungsprozesses, der eingebettet ist in eine Erzählung über das mögliche Entstehen von Kultur, zielt vornehmlich auf die Kritik

Überlegungen

Gerd Franz Triebenecker

90

eines normativen Wahrheitsbegriffes. Die Erzählung wertet das im Idealbild Dargestellte in dem Maße auf, wie das Werden menschlicher Sozietät als kreativer Akt des Selbstentwurfes

gezeichnet wird.

Das „Nur" der Relationen muß retrospektiv von der Verfestigung der ästhetischen Relation zur Wahrheit, von der Überführung des bewußten Scheins in eine angenommene Abbildbeziehung, nicht als Kritik ursprünglicher Wortgenese gelesen werden. Sprache verliert erst dann ihren kreativen, eigenverantwortlichen Charakter, wenn sie unumstößlich meint, das Wahre zu sagen, wenn die Lebendigkeit der Erfahrungen sich nicht mehr im ästhetischen Prozeß der Sprachbildung wiederfinden. „Nur durch Vergesslichkeit kann der Mensch je dazu kommen zu wähnen: er besitze eine Wahrheit in dem eben bezeichneten Grade." (WL, KSA 1, 878) Wird die Kongruenz von Wort und Ding als erreicht angenommen, tritt der prozessuale Charakter von Sprache hinter ihre Verdinglichungstendenzen zurück. Dann bestimmt unzulässige Verallgemeinerung das je Besondere des darzustellenden Gehaltes. Die Anthropomorphisierang von Welt durch den hochkomplexen Bau der begrifflichen Systeme degeneriert von einer kulturell-ästhetischen Leistung zum Konservieren des einmal erworbenen Weltbezuges. Die Symbole repräsentieren dann nicht mehr den Prozeß von Weltgewinnung und -konstraktion. Sie repräsentieren nur noch sich selbst, denn ihr Gebrauch ist lediglich durch Tradition und begriffliche Abstraktion autorisiert. Mit dem Verlust des Modus „Als ob" wird Sprache nicht mehr durch die Fremdheit der sie umhüllenden Welt strukturiert, sondern diese wird von Sprache ausgegrenzt. Damit verliert sie in Nietzsches Sicht ihre existentielle Bedeutung für den Fortgang von Kultur zwischen Naturfremdheit und dem sie motivierenden Entwurf der Einheit mit Natur. Sprache im Bewußtsein eindeutiger Abbildung verleugnet mit der begrifflichen Unerreichbarkeit von Welt auch die Eigenart menschlicher Wahrnehmung und in letzter Konsequenz die Erkenntnis- und Darstellungsfähigkeit des Menschen in seiner Sprache. Der einzelne kann sich in Nietzsches Entwurf nur vermittels der a priori in ihm liegenden Formen von Zeit und Raum ein Bild der Außenwelt konstruieren. Aus diesem Grunde nimmt er an den Dingen auch nur diese Formen wahr. Er wird sie nie als Für-sich-Seiende erkennen.

„Dabei ergiebt sich allerdings, dass jene künstlerische Metapherbildung, mit der in uns jede Empfindung beginnt, bereits jene Formen voraussetzt, also in ihnen vollzogen wird; nur aus dem festen Verharren dieser Urformen erklärt sich die Möglichkeit, wie nachher wieder aus den Metaphern selbst ein Bau der Begriffe constituirt werden sollte. Dieser ist nämlich eine Nachahmung der Zeit- Raum- und Zahlenverhältnisse auf dem Boden der Metaphern." (WL, KSA 1, 886) Schon in der

Eigentümlichkeit menschlicher Wahrnehmung liegt tendenziell eine Gleichschaltung von Subjekt und Objekt begründet. Diese kommt dann nicht zum Tragen, wenn Sprache als Illusion von Wirklichkeit, als ästhetische Nachahmung der eigenen Wahrnehmungsleistung begriffen wird. Die Interpretation der weltentwerfenden Beziehung von Subjekt und Objekt ist eine Nachahmung der das Subjekt konstituierenden Formen der Wahrnehmung. Sie ist Mimesis an die eigene Leistungsfähigkeit, mit der der ablösende Schritt aus Natur vollzogen wurde. Dieser Bruch war die Veräußerlichung des Menschen in ein von ihm geschaffenes Referenzsystem. Damit eröffnet Nietzsche den Entwurf eines Mimesismodells, das

von

Martina

Über die mimetische Funktion der Lyrik

91

Lekker 120 Jahre später umschrieben wird „als eine Vermittlung zwischen der Wirklichkeit des Leibes und der äußeren Realität" ? Zuvor erläutert sie genauer:

„das Besondere am mimetischen Vermögen des Menschen ist, daß er die Veräußerungen als solche erkennt. Das heißt, er erfährt sie als eine von seiner Leiblichkeit getrennte Abbildung seiner selbst in einem anderen, in einem Medium. Er kann zwischen sich und seinen mimetischen Modellen unterscheiden. Mimesis ist also die Fähigkeit, sich sinnlichsinnvoll darzustellen oder mit solchen Darstellungen operieren zu können."3 In Nietzsches Terminologie ist dieser Tatbestand durch das Nichtvergessen der „Als ob"Relation, das Virulenthalten der begrifflich-metaphorischen Nachahmung der menschlichen Wahrnehmungsformen beschrieben. Im Anverwandeln des Leibes an die Umwelt, im ersten Sich-Verstellen entdeckt der Mensch seine Fähigkeit zur List, seine potentielle intellektuelle Überlegenheit. Dauerhaft wird sie, wenn Mimikry, die nur der eigene Leib erlebt, erfahrbar wird für die Anderen. Im Versuch, die Überlebenserfolge mitteilbar zu gestalten, wird die eigene Leiberfahrung in ein System von Zeichen verwandelt, seien es Wörter oder, ihnen vorgängig, Laute und Gesten. So bleibt der Leib im Medium Sprache präsent, ohne daß sie

ihn repräsentiert. Mit dem Schritt von der Mimikry an Umwelt zur Mimesis an sich selbst wird Sprache als Referenzsystem evoziert. Der Mensch wird das Zeichen erfindende Wesen. Die Transformation der sich nur anverwandelnden Mimikry in die distanzschaffende und darstellende Mimesis der Sprache ist gleichzeitig die erste originäre kulturelle Leistung und Voraussetzung für Kultur. In ihr bedingen sich Selbstreferentialität der erfundenen Wortzeichen und ihre Darstellungskraft gegenseitig. Ob die Verschränkung dauerhaft und so Antrieb von Kultur bleiben kann, wird durch ihre Bewegung zwischen normativer Wahrheit und bewußter Illusion bestimmt. Bleibt die Sprache, was sie in ihrer Genese war, nämlich ästhetische Relation, also dem Kunstschaffen verwandt, gelingt der Selbstentwurf. Wird sie nur noch als Wahrheit des So-Seienden akzeptiert, mündet sie in Stagnation. Nietzsche überwindet diese dichotomischen Alternativen durch eine weitere Differenzierung der mimetischen Aktivitäten innerhalb der Sprachbildung. Diese sind, und das wird noch zu zeigen sein, Transformationen des Apollinischen und des Dionysischen, die ebenfalls verschiedene Weisen mimetischen Handelns sind. Bis hierher ist Sprache Mimesis an die eigenen Wahrnehmungsformen. Sie ist dies nicht als onomatopoetische Nachahmung der Dinge im Wort, sondern, Bezug nehmend auf Martina Lekker, als die veräußernde Schaffung der Referenzen überhaupt. In der Sprache bleibt der Leib präsent, weil seine Reaktionen metaphorisch übersetzt und nicht abgebildet werden. Es ist aber noch kein Hinweis auf das Verhindern des Vergessens gegeben worden, das heißt, Mimesis erinnert noch nicht an die Worterfindung. In Über Wahrheit und Lüge führt Nietzsche dies durch die gegenüberstellende Beschreibung der Praktiken des intuitiven und des vernünftigen Menschen aus. Dem intuitiven Menschen gelingt die immerwährende Spracherneuerung, jedoch keine für die soziale Praxis notwendige Traditionsbildung. Er kann nicht aus dem Vergangenen das Zukünftige antizipieren, vermag keine Entlastung durch das Schon-verständigt-Sein zu erfahren und kein kulturelles Regelwerk zu entwerfen. Er erlebt jeden Moment als solchen mit ungebremster

2 M. Lekker, Mime, Mimesis und 3 Ebd., 23.

Technologie, München 1995,

27.

Gerd Franz Triebenecker

92

Vitalität, darf den „Ausdruck der Bedürftigkeit

aus

seinen Mienen wischen"

(WL, KSA 1,

888).

Der vernünftige Mensch strukturiert die Welt durch Regelhaftigkeit. Er initiiert Traditiound ist in der Lage, aus ihnen heraus Zukünftiges zu erwarten. Konsequenter heißt dies auch: nur er vermag die zivilisatorischen Früchte der Sprache zu ernten. Im Gegenzug ist er aus dem Moment, dem einzig unmittelbaren Sein in der Zeit, herausgerissen. Zwar ist er unkünstlerisch und ohne Aufheiterung, jedoch in der Lage, gelassen zu leiden, auch im Unglück seine Subjektqualitäten zu beweisen. Über das Glück des vernünftigen Menschen schweigt Nietzsche. In der dichotomischen Gegenständigkeit beider Praktiken ist Glück ermöglichende Kultur nicht. Wie das Apollinische und das Dionysische müssen auch das Intuitive und das Vernünftige als gegenwendig verklammert und sich gegenseitig herausfordernd konzipiert werden. „Wo einmal der intuitive Mensch, etwa wie im älteren Griechenland seine Waffen gewaltiger und siegreicher führt, als sein Widerspiel, kann sich günstigen Falls eine Kultur gestalten; und die Herrschaft der Kunst über das Leben sich gründen [...]." (WL, KSA 1,

nen

889)

Erinnert der eine ein konstruiertes prähistorisches Glück, in dem das eigene momentane Erfinden den Schlüssel zur kulturellen Entwicklung liefert, wo „weder das Haus, noch der Schritt, noch die Kleidung, noch der thönerne Krug verrathen, dass die Nothdurft sie erfand" (WL, KSA 1, 889), so garantiert der andere dessen Überleben, weil er aus der Erfahrung zu lernen versteht. Richtet man diese Lebensweisen auf die Sprache, so ist der erste das ästhetisch produktive Subjekt, während der letztere sich zivilisatorisch bewährt, indem er befähigt ist, die „anschaulichen Metaphern zu einem Schema zu verflüchtigen, also ein Bild in einen Begriff auszulösen" (WL, KSA 1, 881). Der eine verherrlicht die Dinge und sich selbst in einer sich immer wieder überbietenden polysemantischen Metaphernbildung, der andere formt den Begriff durch das „Uebersehen des Individuellen und Wirklichen" (WL, KSA 1, 880). In der gegenseitigen, notwendigen Verklammerang wird die ursprüngliche Mimesis an die eigene Physiologie durch Erinnerung wachgehalten. Auf der einen Seite ist Sprache in ihrem Entstehen Mimesis an die Wahrnehmungsformen, auf der anderen Seite Mimesis der entwickelten Sprache an ihr Entstehen, also Nachvollzug der Trennung von Natur und Kultur. Mimetisch verfahrende Sprache stellt sich als fortwährende Erneuerung der Sprache durch Erinnerung ihres Kunstcharakters dar. Sie entlastet die Symbolwelt von der Pflicht zur Wahrheit und verhindert gleichzeitig die Selbstreferentialität der Zeichen. Damit zeichnet sie die ästhetische Darstellung als das entscheidende Moment im Ausdrucksreichtum von Sprache aus, ohne sie zur Erst- und Letztbegründung zu erheben.

Die

Sprache

der Kunst

bringt beide Weisen des Sprechens neu zur Geltung. In ihr treffen sie auf eine Daseinsbewältigung, die sich an einer der beiden kulturellen Symbolisierangstechniken orientiert und die semantischen Funktionen zur Konfrontation mit der jeweils anderen provoziert. Das Erleben der Sprache in der Kunst generiert den Vorbildcharakter ästhetisch gebundener Rede für alltägliches Sprach verhalten. Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik etabliert die Lyrik als Provokateur lebendiger und plastischer Alltagssprache. Kunst

Über die mimetische Funktion der Lyrik

93

Um dies argumentativ nachvollziehen zu können, gibt es aus meiner Sicht zwei sich oft kreuzende und verschlingende Pfade. Da ist zum einen die Transformation der Willensmetaphysik Schopenhauers, die kunstphilosophisch in der Nachahmung (Abbild und Repräsentation) des Willens durch die Künste mündet. Und da ist zum anderen Nietzsches Vorhaben, die bis dahin tradierten Mimesismodelle neu zu konzipieren. Ich möchte hier den zweiten Argumentationsweg nachzeichnen, da er bis in den Aufsatz Über Wahrheit und Lüge gestaltend bleibt. Nicht allzu bescheiden kündigt Nietzsche zu Beginn der Geburt der Tragödie an:

„Nach diesen allgemeinen Voraussetzungen und Gegenüberstellungen nahen wir uns jetzt den Griechen, um zu erkennen, in welchem Grade und bis zu welcher Höhe jene Kunsttriebe der Natur in ihnen entwickelt gewesen sind: wodurch wir in den Stand gesetzt werden, das Verhältnis des griechischen Künstlers zu seinen Urbildern, oder, nach dem aristotelischen Ausdrucke, ,die Nachahmung der Natur' tiefer zu verstehn und zu würdigen." (GT, KSA 1, 31) In der Naturphilosophie des Aristoteles verknüpft Mimesis Konstruktion mit Natur. Mimesis ist die Voraussetzung für jede menschliche Überbietung des natürlich Gegebenen. Die menschliche Fähigkeit, aus konstruktiver Überlegung heraus zu schaffen, ist Nachahmung, weil der produzierende Mensch durch die Strukturgleichheit von menschlicher Arbeit und dem organischen Sein der Natur in der Lage ist, das Werden der Natur schaffend nachzuahmen. Das verbindende Element ist das in den Dingen angelegte Telos, das der Mensch selbst dort, wo Natur es nicht zu seiner endgültigen Gestalt bringt, vollendend nachahmt. Für Aristoteles steht nicht Abbildlichkeit im Vordergrund, sondern der Transfer generischer Naturprozesse auf die Produktionsweise menschlicher techné. Die mimetische Bezugnahme geht über die Wiedergabe eines Originals weit hinaus, denn im verändernden Nachvollziehen ermöglicht Mimesis eigenständige menschliche Konstrukte. Insoweit wird Nietzsches Fiktion des Sprachentstehungsprozesses von der aristotelischen Nachahmung der natura naturans mitgetragen. Die mimetische Übersetzung der eigenen Leiblichkeit ahmt Natur nicht im abbildenden Modus nach. Vielmehr werden die in ihr wirkenden Potenzen durch Veräußerung in Sprache über sich hinausgetrieben, die natürliche Potenz kulturell entfaltet.4 Gleichzeitig trennt sich Nietzsche von Aristoteles, da die Nachahmung der Natur sich nur an der eigenen „Natürlichkeit" orientiert. Die mimetische Aktivität entzündet sich nicht an einem gemeinsamen Telos zwischen äußerer Natur und menschlichem Handeln, sondern allein am Erfolg zwischenmenschlicher Kommunikation. Der mimetische Impuls verdankt sich der Differenz zur äußeren Natur, nicht gemeinsamen Teilmengen. Die Poetik kennzeichnet Mimesis auch als der Natur entwachsen. „Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dichtkunst hervorgebracht zu haben, und zwar naturgegebene Ursachen."5 Das Nachahmen und die Freude am Nachahmen sind gleichermaßen natürliches Erbteil des Menschen und anthropologische Differenz zu animalischer Natur. Das heißt,

4 Auf eine ebenso kursorische Auseinandersetzung mit dem platonischen Erbteil in Nietzsches Mimesiskonzeption muß ich hier verzichten, da dies eine wesentlich gründlichere Auseinandersetzung mit der Metaphysik der GT verlangen würde. 5 Aristoteles, Poetik, hg. v. M. Fuhrmann, Stuttgart 1982, 21.

94

Gerd Franz Triebenecker

Mimesis ist gegebenes Transfermittel von kulturellen Techniken zwischen den Generationen. Im Vollzug entwickelt sich der Trieb durch Selektion und kulturelle Vervollkommnung zum Genuß an der Produktion und Rezeption von Kunst. Auch bei Nietzsche steht vor der Kunst der Trieb. Das Dionysische und das Apollinische werden „als künstlerische Mächte betrachtet, die aus der Natur selbst, ohne Vermittlung des menschlichen Künstlers, hervorbrechen, und in denen sich ihre Kunsttriebe zunächst und auf directem Wege befriedigen" (GT, KSA 1, 30). Die beiden kunstkonstitutiven Prinzipien erscheinen in ihrer ersten Formulierung als Triebe, als physiologische Phänomene. Reine, unverstellte Natur sind sie damit kaum. Ihnen verbleibt lediglich der Charakter residualer Natur im sozial-historisch verfaßten Menschen. Sie sind, was den Menschen an sein organisches Sein erinnert; mehr Brücke zur als Teil von Natur. Die naturnahen Seinsweisen entsprechen den physiologischen Zuständen des Traumes und des Rausches. Im Traum erlebt sich der einzelne ganz und gar als Künstler. Er ist der Schöpfer von Bildern und Welten, in denen der gesamte Kosmos menschlichen Tuns, Hoffens und Leidens sich offenbart. Die Formen und Gestalten sind klar und vollkommen, nicht getrübt durch die zerstreute Wahrnehmung der Alltagswirklichkeit. Gleichwohl können und müssen sie auch unerfreulicher, ja schmerzhafter Natur sein. Denn sie sind Teil der Wirklichkeit des Träumenden. Der Traum bietet die Möglichkeit einer entlastenden und doch totalen Anschauung des Lebens, so wie es ist. Die Entlastung ist aber keine vollständige. Der Träumende fühlt und leidet im Traum durch die Erlebnisqualität des Scheins hindurch. Es ist alles nicht so ganz wirklich. Nur „die durchschimmernde Empfindung ihres Scheins" (GT, KSA 1, 26) bewahrt vor der Intensität realer Erfahrung. Das Erleben dessen, was im komprimierten Auf und Ab von Glück und Unglück kaum zu ertragen wäre, reduziert sich durch das halbbewußte Wissen auf ein erträgliches Maß. Doch so notwendig die Wahrnehmungsqualität des Scheins ist, so notwendig ist es, daß dieser Schein die Konturen des Wirklichen nicht völlig verwischt, denn der Traum soll wieder zum Vorbild für das wirkliche Leben werden. Das Geträumte wird zurückprojiziert auf die eigene Lebenswirklichkeit, ist Erkenntnismittel im Sinne des sich selbst bewältigenden Lebens; „[...] denn aus diesen Bildern deutet er sich das Leben, an diesen Vorgängen übt er sich für das Leben" (GT, KSA 1, 27). Der Traum bezieht sich auf die Wirklichkeit wie ein vollkommeneres Abbild zum fehlerhaften Original. Er repräsentiert das zu Repräsentierende totaler und komplexer, als dies in der Wahrnehmung des wachen einzelnen je geschehen könnte. Der Träumende korrigiert das Abbild zum Vorbild. In der Bewegung von der Nachahmung zur projektiven Vorahnung wirkt die aristotelische Mimesis der Vollendung nach. Im Gegenzug hat sich die Interaktion zwischen Mensch und Natur ganz in das vorstellende Subjekt zurückgezogen. Die Modellierung Apolls als Sinnbild der Funktionen von Traumtätigkeit und Kunst für individuelle Lebenspraxis profiliert sich zu einer Weise psychologischer Bewältigung menschlicher Individualexistenz. In der zirkulären Bewegung der Traumbilder bedingen sich Schein und Sein gegenseitig. Ihre oszillierende Polarität gestattet erst ein des Lebens durch das individuelle Leben selbst. Ihm ist die ästhetische Projektion als Aufgabe gegeben, um das Leben nicht nur erträglich, sondern auch reicher zu gestalten. In den Bildern, deren Gegenstände Elemente gelebter Wirklichkeit sind und dieser zugleich zum Vorbild werden, offenbart sich im Wechselspiel von Projektion und Lebensbewältigung eine Präfiguration des von Nietzsche konzipierten Mimesismodells, das sich vollends entfaltet im Gegenspiel von Dionysos und

Übersteigen

Apoll.

Über die mimetische Funktion der Lyrik

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Die Antipode des Traums ist der Rausch. In ihm brechen alle Dämme der Individual existenz. Jeder hat sein Ich aufgegeben, um Teil eines Ganzen zu sein. Er ist nicht mehr allein mit seinen aufwallenden Gefühlen, sondern Atom einer Menge, die so fühlt wie er. Alle Regeln und Normierungen sind vergessen. Die Zeit ist aufgehoben. Dieses individuelle Erlebnis stilisiert Nietzsche zur utopischen Vision, in der sich Natur und Kultur, Individuum und Gesellschaft als Versöhnte selber feiern. Jetzt können sie den Urgrund allen Seins, das Geschick des einzelnen im Kreislauf von Werden und Vergehen direkt erblicken. Diese Erkenntnis liegt vor allen bloß. „Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: Die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des UrEinen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches." (GT, KSA 1, 30) Natürlich steht auch hier Gefahr ins Haus. Das Fest hat seinen Preis. Die Entfesselung aller Triebe kann kulturell bereits Erworbenes an den Rand des Abgrunds oder gar darüber hinaus führen. Würde der utopische Grenzwert der Einheit mit Natur den Moment überdauern, degenerierte er zur Naturverfallenheit. So ist der Rausch nicht frei von Grauen. Er erlebt sich als Synergie verschiedenster Emotionen, als Komprimat menschenmöglicher Gefühle und Erfahrungen. Beide Erlebnisweisen, die dionysische und die apollinische, werden von den Künsten nachgeahmt. Orientieren sie sich am Traum und dessen Entlastungsfunktion in der Distanz, sind sie apollinisch; wird im Rausch die Intensität der zeitlosen Zyklizität nachgeahmt und so ein zeitlich begrenzter Ausstieg ritualisiert, sind sie dionysisch. Das Dionysische und das Apollinische sind als künstlerische Mächte nicht mehr Natur. Ihr unmittelbares Hervorbrechen sichert die Herkunft, vermag aber nicht deren Qualität zu konservieren. Dem Bruch ist die Distanz, der plötzliche Abstand, als gewollter Impuls eingeschrieben. Dieser selbst ist das menschliche Individuum, das ihn als Individuum tragen und ertragen muß. Seine Gewalt, die im eigentlichen die kulturelle Vollendung des evolutionären Erbes ist, bedarf heilender Gegenmittel in Form des Traumes und des Rausches. Das Dionysische und das Apollinische wie auch die ihnen adäquaten Erlebnisweisen waren nie Natur. Sie sind Produkte der Entzweiung, die sich auf das partielle Vergessen oder die Linderung in der Distanz des Scheines richten. Doch bleiben sie bis hier ungeformt. Sie sind noch nicht dem Strom historischer Transformationen (obwohl ein frühes Ergebnis) überantwortet. Noch sind sie Kunstzustände der Natur, Zwitter. Man kann dies kaum trefflicher als Nietzsche selbst mit der paradoxen Wendung „sentimentalischer Zug der Natur" (GT, KSA 1, 33), der sich in den Dionysosfeiern versinnbildlicht, beschreiben. Erst diesen „unmittelbaren Kunstzuständen der Natur gegenüber ist jeder Künstler .Nachahmer', und zwar entweder apollinischer Traumkünstler oder dionysischer Rauschkünstler oder endlich wie beispielsweise in der griechischen Tragödie zugleich Rausch- und Traumkünstler [...]" (GT, KSA 1, 30). Als Nachahmer kann der menschliche Künstler sich nicht mehr der unmittelbaren Teilhabe gewiß sein. Der Abstand, der sich zwischen ihm und der Natur auftat, ist auch in ihm als eigene Lebenszeit zwischen die Zustände partieller Erlösung und einer den Zufall mühsam verdeckenden Alltagswirklichkeit getreten. Jene Zustände simulierend zu stimulieren oder darzustellen, ist ab jetzt Aufgabe der Mimesis. Die mimetische Funktion der Künste orientiert sich am Selbsterlebten. Sie fokussiert Schnittstellen von Leib und Kultur, formuliert individuelle und kulturelle Bewältigungstechniken. Dabei tritt die Reflektion in den künstlerischen Prozeß, in dem der physiologische Zustand durch auf diesen Zweck ausgerichtete Mittel neu und auf höherer Ebene organisiert werden soll. Somit ist „Nachahmung der Natur" aus dem Menschen heraus auf den Men-

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Gerd Franz Triebenecker

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sehen, den Künstler selbst gerichtet. Er veräußert selbst Erfahrenes, physiologisch bedingte Erlebnisweisen in ein Medium und kreiert so kulturelle Bewältigungspraktiken. Der Künstler ahmt etwas nach, das in ihm der Natur noch am nächsten stand. Er will in der Kunst sich nicht selbst wiederentdecken, sondern in den Veräußerlichungen sich an früher Erlebtes anverwandeln. Mimesis ist der Versuch, Unmittelbarkeit durch ästhetische Reflexion neu zu organisieren. Sie rekonstruiert durch die Rationalität der ästhetischen Zeichen hindurch die eigenständige Vitalität von Leib und Gefühl. Gelingt ihr dies, verspinnt sie damit natürliche und kulturelle Erfahrung, reflektiertes und unmittelbares Sein zu einem spannungsvollen Gewebe, in dem das eine ohne das andere nicht ist. In einer spiralförmigen Bewegung treibt sie Kultur und Kunst in ihre Geschichte als Bewältigungsprozeß der Individuation. Kulturgeschichtlich wird in der Mimesis projizierte archaische Nähe zur Natur aufgehoben, um kulturell transformiert neu gewonnen zu werden. Individuell sucht sie in der eigenen Person eine andere Perspektive jenseits der alltäglichen Wahrnehmung. „Dieser Prozess des Tragödienchores ist das dramatische Urphänomen: sich vor sich selbst verwandelt zu sehen und jetzt zu handeln, als ob man wirklich in einen andern Leib, in einen andern Charakter eingegangen wäre." (GT, KSA 1, 61) Über das dramatische Rollenspiel hinaus trägt Mimesis in dieser Verschachtelung der Projektionen die Identifikation mit dem anderen. Dies geschieht aber nicht in völliger Hingabe, sondern im Wechselspiel der Komplementarität. Beides wird zu einer eigenständigen Konstruktion zusammengeschmolzen, deren komplexeste Organisation und Wirkkraft schließlich in der gegenständigen Verschlungenheit beider Kunsttriebe erreicht wird. Innerhalb der Künste sieht Nietzsche in Homer und Archilochus die beiden Prototypen ästhetischer Gestaltungen und Transformationen beider physiologischer Bewältigungspraktiken. Homer ist der Dichter, der der hellenischen Welt analog zum Traum einen Spiegel vorhält. Er beschreibt die ihn umgebenden Bilder. Und was im Traum quasi natürlich die durchschimmernde Erfahrung des Scheins gewährleistete realisiert er durch formale Gestaltung der Sprache. Mit ihr gelingt die Distanzierang von der Sprache als Alltagspraxis. Gleichzeitig idealisiert und heroisiert er das hellenische Leben und entwirft so eine dichterische Welt, in der sich der Grieche wiedererkannte und die trotzdem die für die Traumwirkung nötige Distanz bereithielt. -

-

„Dies ist die Sphäre der Schönheit, in der sie ihre Spiegelbilder, die Olympischen, sahen. Mit dieser Schönheitsspiegelung kämpfte der hellenische ,Wille' gegen das dem künstlerischen correlative Talent zum Leiden und zur Weisheit des Leidens: und als Denkmal seines Sieges steht Homer vor uns, der naive Künstler." (GT, KSA 1, 38) Homers Epen realisieren im dichterischen Entwurf ein Selbstbild der athenischen Kultur, in dem ihre Kämpfe und Notwendigkeiten sich idealisiert wiederfinden. Sie ermöglichen einen Selbstverständigungsprozeß, der durch Rückprojektionen Widerstand im Alltag findet und dort zum Weiterleben verführt. Was diese Kunst aber innerhalb der metaphysischen Grundstellung der Geburt der Tragödie nicht leistet, ist der realistische Blick in den Urgrund des Seins, in die Zyklizität des Lebens. Das Epos verbleibt im Apollinischen, und erst die Lyrik und das Volkslied vermögen mehr. Da das Dionysische den Verlust der Individualität voraussetzt, muß Nietzsche das lyrische Ich, die sich aussprechende Individualität, neu als Nachahmung des Rausches, also der

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zeitlich begrenzten Auslöschung des kulturellen Subjekts interpretieren. Mit der Berufung auf eine Bemerkung Schillers, daß vor dem Dichten eine „musikalische Stimmung" (GT, KSA 1, 43) stehe, macht Nietzsche sich den Weg frei, in dessen Verlauf er Lyrik als objektive Kunst interpretieren kann. Jetzt kann Nietzsche direkt auf die Willensmetaphysik Schopenhauers zurückgreifen. In der Geburt der Tragödie denkt Nietzsche das Absolute in der Nachfolge Schopenhauers als Wille. Jedoch verändert er dessen Konzeption so, daß er aus der metaphysischen Grundkonstellation heraustreibt. Die Veränderungen, die dazu führen, kann ich hier nicht beschreiben, sondern will das Ergebnis nur kurz skizzieren.6 Im Fragment 7 (196) heißt es dazu: „Das Ineinander von Leid und Lust im Wesen der Welt ist es, von dem wir leben. Wir sind nur Hülsen um jenen unsterblichen Kern." (NF 1869-1874, KSA 7, 213) Was Nietzsche mit diesem Fragment als absoluten Urgrund alles Seienden interpretiert, trägt sehr menschliche Züge. Leid und Lust sind nur menschliche Erlebnisweisen des Werdens und Vergehens, des Hoffens und des Enttäuschtwerdens. Mit ihnen sind die Zyklen des organischen Seins in der sich selbst verzehrenden Zeit, die dem einzelnen Geheimnis bleiben muß, weil er nur im Augenblick an ihr teilhat, zum metaphysischen Substrat geworden. In ihm strukturieren das Werden im Vergehen und das Vergehen im Werden den philosophischen Begriff. Die Psychologisierung des Absoluten führt dazu, daß nicht wie in Schopenhauers Willensmetaphysik nur der Mensch nach Erlösung strebt, sondern dieser Wille oder das Ur-Eine selbst. Es will über sich hinaus und schafft das nach Nietzsche in den ästhetischen Produktionen der von ihm abhängigen Erscheinungen. Am exklusivsten erreicht dies die Musik. „Denn die Musik ist, wie gesagt, darin von allen anderen Künsten verschieden, dass sie nicht Abbild der Erscheinungen, oder richtiger, der adäquaten Objectität des Willens, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst ist [...]." (GT, KSA 1, 106) In der Musik gelingt die Nachahmung der Natur oder des Ur-Einen durch den hohen Grad der Verallgemeinerung. Sie ist eine „Wiederholung der Welt" oder „ihr zweiter Abguss" (GT, KSA 1, 44), Nachahmung ohne Informationsverlust. Sie verbindet in einem Akt die Nachahmung der Erscheinungen der Natur im begriffs- und bildlosen Medium der Musik und das ständige Werden und Vergehen des natürlichen Seins, seine universellen Schaffensqualitäten. Sie ist damit direkter Ausdruck des metaphysischen Substrats und enthüllt so das Geheimnis des Ur-Grundes. Will der Lyriker Ähnliches erreichen, muß er, dem Wort verpflichtet, im Beginnen gänzlich mit dem Kern der Welt, seinem Schmerz und Widerspruch, eins werden. Im rauschartigen Zustand der musikalischen Stimmung verliert der Künstler seine Individualität und ist jetzt ganz in der Erfahrungsweise des Ur-Einen. Dessen nun in ihm wirkende Eigenlogik treibt zum Abbild in Musik, der reinsten Form der Widerspiegelung. Dies ist aber im Medium des Wortes nicht kommunizierbar, kann nicht lyrische Praxis werden. Erst durch apollinische Traumeinwirkung entsteht die für die sprachliche Bilderproduktion nötige Distanz zum Ur-Einen, wird das eben Gefühlte zum sprachlich formulierbaren Gleichnis. „Das Bild, das ihm jetzt seine Einheit mit dem Herzen der Welt zeigt, ist eine Traumszene, die jenen Urwiderspruch und Urschmerz, sammt der Urlust des Scheins, versinnlicht." (GT, -

KSA 1,

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44)

6 Diese Veränderungen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen sind ausführlich diskutiert worden; „Dionysos als Ding an sich", Nietzsche-Studien 14 (1985).

von

M. Fleischer

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Gerd Franz Triebenecker

Der Lyriker kombiniert die beiden mimetischen Techniken, das heißt, die Anverwandlung den Rausch und an den Traum. So kann sich seine Kunst zu einer Ausdruckskraft emporschwingen, die jenen Künsten, die sich nur an einem Ur-Bild orientieren, fremd bleiben muß. Die vom Lyriker produzierten Bilder des Seins lassen durch die Kombination der beiden mimetischen Techniken auf den Grand der Dinge sehen und können dies gleichzeitig kommunizieren. Erst jetzt ist das spannungsvolle Aufeinander-angewiesen-Sein von Dionysischem und Apollinischem, von Entlastung und Erschütterung, von Projektion und Wahrheit realisiert. Entkleidet man die so beschriebenen Schöpfungsprozesse ihrer metaphysischen Konstruktion, ergibt sich das Bild des durch aufreizende Musik zum mystischen Erleben inspirierten Dichters, der versucht, das individuell Erlebte in Worten mitteilbar nachzuvollziehen. Die lyrische Dichtung ist „die nachahmende Effulguration der Musik in Bildern und Begriffen" (GT, KSA 1, 50). Damit wird mehr von der Sprache verlangt, als sie zu leisten imstande ist. In der dionysischen Lyrik erregt das ekstatische Spüren des Ur-Einen im musikalischen Erlebnis die Assoziationskraft der Wörter. Mit ihnen versucht der Lyriker, in Metaphern und Symbolen das Sprachlose kommunikativ nachzugestalten, um das Rauscherlebnis des einzelnen für die Gemeinschaft zu retten. Dabei erliegt Sprache dem Reichtum musikalischer Ausdruckskraft, weil sie ihn nicht adäquat wiederzugeben vermag. Die Wörter und Begriffe sind durch Konvention schon zu sehr auf das jeweils zu Bedeutende festgelegt, um etwas beschreiben zu können, was zwischen ihnen liegt. In der Differenz zwischen dem musikalisch Absoluten und der fixierten Genauigkeit der Wörter eröffnet sich aber ein zuvor ungeahnter Raum für Sprachspiel und Sprachschöpfung. Eine Vielzahl von Deutungen ist für das eine musikalische Erlebnis möglich. Jede beschreibt andere Aspekte des Erlebten, erhellt neue Facetten der projizierten Einheit mit dem Urgrund des Lebens. Indikator für diese Leistungsfähigkeit ist die Strophenform: an

„Wer eine Sammlung von Volksliedern, z. B. des Knaben Wunderhorn auf diese Theorie hin ansieht, der wird unzählige Beispiele finden, wie die fortwährend gebärende Melodie Bilderfunken um sich aussprüht: die in ihrer Buntheit, ihrem jähem Wechsel, ja ihrem tollen Sichüberstürzen eine dem epischen Scheine und seinem ruhigen Fortströmen wildfremde Kraft offenbaren." (GT, KSA 1, 48) Jede Metapher oder jedes sprachliche Bild, welches in der Lage ist, das Einzelerlebnis in die Gemeinschaft zu tragen, wird somit gelungenes Zeugnis für den Reichtum von Sprache, für die Flexibilität des kulturell Erworbenen. In diesem für das Sprachvermögen idealtypischen Prozeß überanstrengt sich Sprache und treibt so über die stehenden Konventionen hinaus. Damit ist der kunstgründende Perspektivenwechsel für die Lyrik gewonnen. Nietzsche verbleibt aber nicht bei dieser kunstimmanenten Interpretation, sondern verknüpft sie mit dem Volkslied. Dieses ist Anzeichen für die Befähigung einer Kultur, ihre sprachlichen Konventionen in Fluß zu halten, Sprache als künstlerischen Prozeß zu begreifen, der ständig um das Auszudrückende ringt, das je Erreichte nicht durch die Zuschreibung von Wahrheit zum Endgültigen erklärt. Der Reichtum und die Variabilität der Volkslieder sind bis in die Geschichte der Alltagssprache Zeichen für die Ausstrahlung des lyrischen Bemühens um den Ausdruck des Sprachlosen. So ermöglicht die Mimesis der Lyrik an die Musik schöpferische Potenz innerhalb notwendiger Konventionalität der Sprache.

Über die mimetische Funktion der Lyrik

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Sprache

Die Mimesis der

„In diesem Sinne dürfen wir in der Sprachgeschichte des griechischen Volkes zwei Haupt-

strömungen unterscheiden, jenachdem die Sprache die Erscheinungs- und Bilderwelt oder die Musikwelt nachahmte." (GT, KSA 1, 49) Nietzsche zieht damit keine historisch genau

datierbare Grenzlinie. Er unterscheidet vielmehr zwei Sprachweisen nach der Dominanz ihres Objektbezuges und damit ihrer Teilhabe an der apollinischen Symbol weh oder am dionysischen Musikrausch. Beide Sprachweisen sind unauflöslich aufeinander angewiesen. Die apollinische Sprache findet ihren Rückhalt in der Welt der Dinge, der Handlungen, in der Gesamtheit der gesellschaftlichen Zusammenhänge. Sie gewährleistet Verständigung durch fixierte Bedeutungen. In ihr ist die für das Gespräch notwendige Konventionalität, das Schaffen allgemeingültiger Symbole das gestaltende Prinzip. Mit ihr konstruiert sich Kultur einen Sinn- und Deutungshorizont, der sie als eben diese Kultur charakterisiert. Damit dieses Gestaltungsprinzip sich nicht in der Regelhaftigkeit verliert oder gar den Grund für das Sprechen vergißt, bedarf es immer wieder der musikalisch-dionysischen Erschütterung und damit des Verflüssigens des Festen. Gleichzeitig ist die dionysische Spracherschütterung auf die apollinische Konvention verwiesen, um überhaupt kommunikativ sein zu können. Beide Funktionen werden in Über Wahrheit und Lüge von der Konzeption des vernünftigen und des intuitiven Menschen weitergeführt. Der Verzicht auf die dem Mythos entlehnte Namensgebung begründet sich auch in der Ablehnung metaphysisch verbürgter Grundannahmen. Die Abbildfünktion der Künste in der Geburt der Tragödie gegenüber dem metaphysischen Substrat ist in der Mimesis der Sprache in Über Wahrheit und Lüge vollständig eliminiert und in der kulturellen Leistung der Kommunikation verwurzelt. Nietzsches sprachphilosophisches Denken erschöpft sich nicht im kulturkritischen Nachweis der perspektivischen Gebundenheit jeder Rede oder im allgemeinen Hinweis auf die Unfähigkeit der Sprache, die Dinge im Prozeß zu zeigen. Kulturhistorisch gewendet, beschreibt dieses Denken auch die unterschiedliche Medialität von Sprache in oral oder schriftlich geprägten Kulturen sowie die problematischen Prozesse beim Wechsel. Die Ausweitung der kunstimmanenten Lösung auf das oral tradierte Volkslied und einige nachgelassene Fragmente dieser Schaffensperiode weisen in diese Richtung. Oral geprägte Kulturen müssen, um ihren Wissens- und Traditionsbestand sichern zu können, dem gesprochenen oder gesungenen Wort exklusive Räume zuweisen. In ihnen wird das für das Selbstbild der Kultur Notwendige immer wieder neu erzählt. Dabei unterliegen die Erzählungen Veränderungen, weil sie den sozial und historisch bedingten Wechselfällen Folge leisten müssen. So bleibt die Sprache ständig in Veränderung. Allein durch die Flüchtigkeit des Mediums „gesprochenes Wort" sind der endgültigen Fixierung Grenzen gesetzt. Das Medium schlägt auf die Funktion der Sprachelemente zurück und hinterläßt sie in

potentiellen Bedeutungsdiffusionen. Erst das geschriebene Wort verfestigt zur klareren und dauerhafteren Bedeutung und entlastet dadurch Kommunikation von Vieldeutigkeit. Gleichzeitig entläßt es die Dichtung der sozialen Verantwortung der Wissensverwalterin. „Poesie und Prosa treten als unterschiedliche Diskursformen auseinander."7 aus

7 A. u. J. Assmann, „Schrift Weinheim 1990, 16.

Evolution", Einleitung

Kognition -

-

zu

E. A.

Havelock, Schriftlichkeit,

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Gerd Franz Triebenecker

Mit der Veräußerung der Sprache in das Medium Schrift verliert sie aber auch tendenziell ihre plastische Konkretheit. Nicht mehr die leibliche Autorität des an den Sprecher gebundenen Wortes sichert ihren Wert, sondern die Dauer der Schrift. Die Fiktion des Erzählers mündet in der Fixierung durch das Wort. „Jetzt wird nämlich das fixirt, was von nun an ,Wahrheit' sein soll d. h. es wird eine gleichmässig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden und die Gesetzgebung der Sprache giebt auch die ersten Gesetze der Wahrheit [...]." (WL, KSA 1, 877) In der Kritik der Normwerdung von Sprache erliegt Nietzsche nicht der romantischen Sehnsucht nach der Poesie als Mutter aller Sprache, sondern er versucht, das Paradox, mit fixierten Bedeutungen das nicht Fixierbare auszudrücken, zu entspannen. Mit dem lyrischen Volkslied entwirft er eine Art und Weise der Rede, die prototypisch diese Bemühungen

repräsentiert.

In ihm werden die

Leistungen des intuitiven und des vernünftigen Sprachbildners, sich gegenseitig stützend, gedacht. Sozial entlastete Poesie ist nur aus der Sprachrationalität der Vernunft heraus zu haben, und erst diese Entlastung macht Poesie frei für das sprachschöpfende Wortspiel, welches wiederum die konsequente Rationalität von Sprache zu stören vermag. In der Diffusion der Bedeutung bleibt so ein Raum erhalten, in dem sich das nach Worten ringende Subjekt an Sprache abarbeiten kann, sie als eigene Leistung erfährt. Mit der Nachahmung des in der Musik Erlebten gibt sich Sprache einen Grenzwert, den sie nicht zu erreichen imstande ist. In dieser Konzeption erinnert Mimesis, die sich verfestigende Sprache, an ihre Konventionalität. Sie provoziert die angebliche Faktizität der Wörter zum Sprachspiel, stört scheinbar unverrückbare Traditionen. Der Lyriker oder der Sänger des Volksliedes wird so zum Provokateur einer Sprachbewältigung und -praxis, die Sprache vor sich selbst schützt, da sie für Nietzsche immer in der Gefahr steht, einer einmal

definierten Wahrheit blind zu folgen. Das Zusammentreffen von lyrischem Ich und musikalischer Sprachlosigkeit führt zu einer Selbstüberanstrengung der Sprache, die sie in immer neue Vernetzungen, Wortverbindungen und Bilder treibt. Der lyrische Versuch, das eigene Erleben für andere zu erzählen, provoziert eine kulturelle Bewältigungspraxis, die versucht, sich am Neuen selbst zu verändern. Das Neue, was immer das sein mag, wird nicht in das alte Sprachmaterial gepreßt, sondern verlangt dessen Neuformierung. In der Mimesis der Sprachkunst reorganisiert der Inhalt der gesprochenen und der geschriebenen Sprache sie selbst und, daraus folgend, das kulturelle Selbstbild, das sie trägt. Die mimetischen Techniken der Erinnerung an die Sprachgenese oder der Veräußerung der eigenen Wahrnehmungsleistungen treffen aufeinander und eröffnen einen Kreislauf, der sich immer wieder neu an den Objekten entzündet und schließlich selbst die Transformationen des Mediums mitgestaltet. Er bewahrt die situationsgebundene Flexibilität mündlicher Sprache auch in der Schriftkultur auf. Gerade die Inkongruenz von Wörtern und Dingen, von Symbolen und Erfahrungen ermöglicht ein Bewußtsein von Sprache, in dem sie integraler Bestandteil selbstverantwortlicher Daseinsbewältigung ist. Dem Lyriker, als dem Vorahmer solcher Rede, gelingt durch die Verknüpfung beider mimetischer Techniken die Etablierang einer sich im Prozeß befindenden Sprache. Er rettet die Konfusionen der Bedeutungen in die Konventionalität der Sprache, schützt so das Medium vor der Gefahr, in klar definierten Zeichen zu erstarren. Kulturgeschichtlichen Rückhalt finden solch sprachtheoretische Überlegungen unter anderm in den Forschungsergebnissen von Eric A. Havelock und J. Goody. Heinz Schlaffer

Über die mimetische Funktion der Lyrik

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kommentiert: „In Griechenland war die Dichtung ein Relikt der mündlichen Kultur, in der Neuzeit wird sie zu ihrem Anwalt."8 Mimesis ist in Nietzsches Konzeption der Träger dieses Einspruchs, weil sie erinnert und gleichzeitig die medialen Voraussetzungen für beide Weisen des Sprechens schafft. Durch die Verankerung der Sprache in mimetischen Prozessen als der medialen Veräußerung und Darstellung von Leib und Welt gelingt es Nietzsche, einer Dichotomisierung von Notwendigkeit der Entlastung und Normierung, von Wort und Schrift zu umgehen und ein Modell zu entwickeln, das beide aufeinander verweist. Voraussetzung ist, daß Lyrik Sprache im Bewußtsein ihrer Unvollkommenheit bleibt. Ihr zu folgen gelingt frühestens dann, wenn es beginnt, einem die Sprache zu verschlagen.

8 H. Schlaffer in der Einleitung zu J. tur, Frankfurt a.M. 1991, 22.

Goody,

I. Watt u. K.

Gough, Entstehung und Folgen der Schriftkul-

Klaus Goch

Lyrischer Familienkosmos Bemerkungen zu Nietzsches poetischer Kindheitserfahrung fir Steffen Kublik

I. Es ist vielleicht nicht völlig verfehlt, Leben und Werk Friedrich Nietzsches in Zusammenhang zu bringen mit dem, was man als protestantische Pfarrhauskultur zu bezeichnen pflegt: eine Lebens weh, der für die deutsche Geistes- und Ideengeschichte, insbesondere auch für die Entwicklung der Dichtkunst, eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zukommt. Gottfried Benn, einer der größten Lyriker unseres Jahrhunderts und selbst Pastorensohn, stellt im Jahre 1933 in seinem Aufsatz Der Deutsche Mensch Erbmasse und Führertum eine

aufschlußreiche Namenliste

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zusammen:

„Da stehen an der Schwelle der deutschen Literatur Gottsched und Bodmer, der eine ein sächsischer, der andere ein Schweizer Pfarrerssohn [...]. Hinzu tritt Geliert, aus einem Pfarrhaus im Erzgebirge [...]. Wir finden Wieland aus Schwaben [...]. Da ist Lessing

Kamenz. Vorher war in der schlesischen Dichterschule mit Fleming und Gryphius, dann im Hainbund mit seinem Gründer Boie das Pfarrhaus vertreten. Oder überblicken wir jene Lyriker: Bürger, Hölty, Matthias Claudius, Matthison, Otfried Müller, Gerok, Geibel und dazu der Stürmer und Dränger Lenz alles Pfarrerssöhne. Die Romantik war eine reine Pfarrhausangelegenheit: die Gebrüder Schlegel, Schelling, Schleiermacher und der große Jean Paul stammen von da. ' aus

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"

1

G. Benn, Der Deutsche Mensch Erbmasse und Führertum, in: Sämtliche Werke, Bd. IV: Prosa 2, hg. v. G. Schuster (Stuttgarter Ausgabe), Stuttgart 1989, 53 f. Benn bezeichnet diesen Aufsatz (in berechtigter Selbstkritik!) als „läppisches Zeug. Was man jetzt so will" (ebd., 525). Ihm ist also sehr wohl bewußt, daß er das Phänomen der protestantischen Pfarrhauskultur „nationalistisch" akzentuiert in dem Sinne, daß diese deutsche Tradition als entscheidendes movens zur Hervorbringung einer spezifisch „nordischen" Kultur erscheint, die den romantisch-„mittelmeerischen" Kunst- und Kulturbemühungen überlegen sein soll, deren dichterische Ausdruckswelt denn auch als „tiefer", „metaphysischer" gekennzeichnet wird im scheinbar wohltuenden Gegensatz zur flachen, bloß auf die Wirkungsmechanismen der „Gesellschaft" reflektierenden künstlerischen Produktion des lateinisch-französischen Aufklärungs- und Zivilisationsliteraten. Die Konstituierung eines solchen Gegensatzes gehört zum ideologischen Repertoire des deutschen Konservatismus und prägt z.B. auch Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen. Benn stützt sich, bis in einzelne Formulierungen hinein, auf die methodisch sehr angreifbare Studie von E. Kretschmer: Geniale Menschen, Berlin 1929 Max Oehler projiziert dann dessen Thesen von der -

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Klaus Goch

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Das eindrucksvolle Bennsche Register gibt allerdings noch keinen Hinweis auf den tieferen geistigen Grandimpuls, der diese innige, kulturhistorisch so wirkungsmächtige Verbindung von deutscher Dichtung und deutschem protestantischen Pfarrhaus in Gang setzt und befördert: Reformation, wie sie Luther und seine Mitstreiter in ihrem Ursprung verstehen, bedeutet vor allem Hinwendung zum Bibeltext, zum Wort, zum logos als der einzigen Quelle göttlicher Offenbarung richtiges Verstehen dieser „scriptura" ist unabdingbare Voraussetzung eines richtigen Glaubens und eines richtigen gottgefällig-irdischen Lebens; damit notwendig verbunden ist eine hohe Konzentration auf die Sprache allgemein, auf ihren jeweiligen Korpus, auf ihre Regeln, schließlich auch auf die ihr innewohnenden Potenzen zum freien künstlerischen Spiel, also auf ihre dichterischen Möglichkeiten, wobei entscheidend ist, daß sich die Sprache in den folgenden Epochen zunehmend ablöst von ihrer dienenden Funktion als Medium der Glaubenserkenntnis und sich, gleichsam in einem stetigen Prozeß der „Säkularisierung" und „Emanzipation", in ein Erkenntnismittel sui generis verwandelt. Man könnte also von einer inneren Dialektik der Selbst-Destruktion sprechen: Die für die lutherisch-reformatorische Theologie so bedeutsame Fixierung auf das Wort wird zum entscheidenden movens der wissenschaftlich-rationalen Untersuchung von Sprache und Text sie führt zur Philologie, die vor dem Kanon der heiligen Schriften keineswegs innehält und deshalb zu jener „zersetzenden" Bibelkritik führt, die das vorher unantastbare Wort der Offenbarung in zerstörerischen Zweifel zieht. Die Poesie, durch die protestantische Wort- und Sprachgebundenheit durchaus gefördert und zur Blüte gebracht, scheint einem ähnlichen Prozeß zu unterliegen hat sie im evangelischen Verständnis zunächst einzig den Sinn, das unangreifbar gültige Wort der Offenbarung auf ästhetisch angenehme Art zu umspielen, ist sie also nichts weiter als schönes decorum und kommt ihr höchstens die Aufgabe zu, den einzelnen Gläubigen über die göttlichen Heilstatsachen eingängig-sinnlich und „erbaulich" zu belehren, so entwindet sie sich doch der „metaphysischen" Umklammerung, füllt sich auf mit „Eigenbedeutung", wird zum autonomen Ausdracksmittel einer vom Glaubenshintergrand vollständig abgelösten Subjektivität, ist gar am Ende selbst „göttlich" geworden und verführt zu der These, daß die Welt nicht länger theologisch, sondern nur noch ästhetisch zu rechtfertigen sei. So enthält die Hinwendung zum Wort als dem Grandelement protestantischer Glaubens- und Welthaltung von Beginn an den Keim einer Art von Dekomposition; sie setzt den Prozeß der Auflösung von Innen in Gang, an dem das ganze Kultursystem (wie es in der Lebenswelt des evangelischen Pfarrhauses am prägnantesten in Erscheinung tritt) notwendig scheitern muß und vielleicht darf man sagen, daß diese Entwicklung philosophisch, aber auch leidvoll biographisch, in der Gestalt des Pfarrerssohnes Friedrich Nietzsche endgültig zu ihrem Abschluß gelangt. Allerdings scheinen schon die Väter der Reformation ein Bewußtsein zu haben von den selbstzerstörerischen Kräften ihrer auf das Wort gegründeten Theologie, wenn sie immer wieder und mit Nachdruck bemüht sind, die Poesie aber auch die mit ihr geschwisterlich verbundene Musik in ihren Glaubenskosmos fest zu integrieren. Alle potentiell schädlichen, zur Rebellion wider das geoffenbarte Wort reizenden Wirkungen sollen möglichst gering und unter Kontrolle gehalten werden; es gilt, die in den schönen Künsten enthaltenen anarchischen, gleichsam teuflischen Kräfte zu domestizieren. So werden denn Poesie und Musik als eigenständige Erkenntnisquellen durchaus verdammt sie sollen einzig den Zweck -

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höherwertigen,

vom

evangelischen Pfarrhaus maßgeblich bestimmten deutschen Kultur unmittelbar auf vgl. M. Oehler, Nietzsches Ahnentafel, Weimar 1938, 3 f.

die Gestalt Friedrich Nietzsches;

Lyrischer

Familienkosmos

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die zuweilen traurige Seele (die anima triste) aufzumuntern und den in seinem Sündenstande manchmal melancholischen Geist heiter zu stimmen und ihn vorzubereiten auf die große Freude göttlichen Gnadenwirkens. In dieser dienenden Funktion sind Poesie und Musik dann durchaus akzeptable, wichtige Bestandteile des Glaubenslebens. Wir kennen das im protestantischen Milieu so weitverbreitete Genre-Bild vom Wittenberger Reformator, wie er im Kreise seiner Lieben die Laute traktiert, ein Lied auf den Lippen um so aufs plakativste zu verdeutlichen, daß evangelische Glaubensgewißheit und heiter-gesellige Kunstausübung sich keineswegs feindlich gegeneinander verhalten, wenn denn Musik und Poesie einzig begriffen werden als taugliche Mittel zur Rekreation des Gemüts, als Einstimmung zum Glauben, um damit schließlich doch der Ehre Gottes zu dienen. In seinem FaustusRoman hat Thomas Mann in der Figur des Hallenser Theologen Ehrenfried Kumpf dieses reformatorisch-lutherische Kunstverständnis in die Sphäre der (sehr erhellenden) Karikatur überführt: Nach langen, mehr oder minder geistvollen theoretischen Expektorationen drängt es den Gottesmann zu künstlerischem Tun; er nimmt eine Gitarre zur Hand und schmettert fröhliche Lieder, um so seinen Zuhörern eindringlich klarzumachen, daß der Herr im Himmel nichts einzuwenden habe gegen „Weltfreude und gesunden Kulturgenuß",2 daß sogar der Teufel, dieses böse, zur melancholia reizende, alles verneinende Wesen, mittels der heiteren Kunst besiegt werden kann:

verfolgen,

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,,,Seht!' rief er ,Da steht er im Eck [...] der traurige, saure Geist und mag nicht leiden, daß unser Herz fröhlich sei in Gott bei Mahl und Sang! Soll uns aber nichts anhaben, der Kernbösewicht mit seinen listigen, feurigen Pfeilen! Apage!' donnerte er, griff eine Semmel und schleuderte sie in den finsteren Winkel. Nach diesem Strauß griff er wieder in die Saiten und sang ,Wer recht in Freuden wandern will'."3 die reformatorische Kunsttheorie sowie die wittenbergisch inspirierten Kunstausübungen hier auf so amüsante Weise persifliert und lächerlich gemacht werden der protestantische Geist hat denn doch eine durchaus bedeutende, ehrwürdige und erstaunlich dauerhafte Kunstgattung hervorgebracht, in der sich, gemäß der theologisch bestimmten ästhetischen Grundkonzeption, Wort und Musik innig verbinden zur Glaubensbefestigung im Medium der schönen Kunst, bis heute lebendig und im (zumindest sonntäglichen) Gebrauch. Wir sprechen vom evangelischen Kirchenlied, also von dem, was man (um eine sehr summarisch-allgemeine Definition zu versuchen) bezeichnen könnte als ein christlich-geistliches Gedicht metrisch-strophischer Struktur mit einer für den Gruppengesang geeigneten, einfachen, am Volks- und Kinderlied orientierten Melodie.4 Allerdings sagt diese knappe, formale Bestimmung kaum etwas aus über die zentrale Stellung dieses merkwürdigen lyrisch-musikalischen Gebildes innerhalb der protestantischen Glaubens- und Lebenskultur: Es hat seinen festen, unverrückbaren Platz in der Liturgie, der Agenda des evangelischen Gottesdienstes (es ersetzt dort den gregorianischen Choral und wird aus diesem Grunde auch Auch

wenn

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2 T. Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde, Frankfurt a.M. 1963, 106. 3 Ebd. 4 Zur Struktur und Geschichte des Kirchenliedes einführend: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. III, Tübingen 1959, 1454 ff. Eingehender: Handbuch zum Evangelischen Kirchengesangbuch (HdB/ EKG), Liederkunde, Erster Teil, Göttingen 1970, Einführungen, 3 ff.

Klaus Goch

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„Choral" genannt); es ist aber auch, was vielleicht noch wichtiger ist, stets präsent im häuslichen, privaten Bereich; es wird gebraucht bei Hausandachten, es dient nicht zuletzt der ganz persönlichen Erbauung des einzelnen Individuums und wer dem Geist, den

sozialen und kulturellen Verkehrsformen einer vom Protestantismus substantiell bestimmten Familie ausgesetzt (oder auch: ausgeliefert) ist, der empfängt, mehr oder minder bewußt, vom Kirchenlied die ersten wirkungsmächtigen, vielleicht sogar dauerhaft prägenden künstlerisch-poetischen Eindrücke, so er denn halbwegs sensibel ist für sprachliche Strukturen, für Metaphern und Bilder, für die Beziehung vom Wort zur Musik. Dies wird nun wohl in ganz besonderem Maß für das intellektuell und künstlerisch so aufgeschlossene, im evangelisch-christlichen Pfarrhausmilieu heranwachsende Kind Friedrich Nietzsche zutreffen; wie sehr ihn das Kirchenlied als Glaubensversicherung und „Gefühlskatalysator" gerade auch in extremen familiären (Leidens-) Situationen zu beeindrucken vermag, geht beispielsweise aus seiner (in der Autobiographie von 1858 überlieferten) Schilderung der Trauerfeier für den so katastrophal früh verstorbenen Vater Carl Ludwig Nietzsche recht deutlich hervor: „Um 1 Uhr Mittag begann die Feierlichkeit unter vollen Glockengeläute. Oh, nie wird sich der dumpfe Klang derselben aus meinem Ohr verliehren, nie werde ich die düster rauschende Melodie des Lieds Jesu meine Zuversicht' vergessen!"5 Das Kirchengesangbuch, in dem solche Lieder gesammelt, gleichsam kanonisiert sind, geordnet nach bestimmten Themen z. B. Morgen- und Abendgesänge, Choräle für die hohen Feiertage -, spielt für die protestantische Familie eine fast ebenso bedeutende Rolle wie die Heilige Schrift selbst. Es gibt, landeskirchlich differenziert, eine Vielzahl von Gesangbüchern, die sich unterscheiden im Korpus der aufgenommenen Lieder; in dieser Auswahl kommt immer auch die jeweils vorherrschende Theologie, das jeweils maßgebende Bekenntnis zum Ausdruck, und der (zuweilen autoritär verordnete) Wechsel des Gesangbuchs ist für die Gemeinde das Signal für eine mehr oder minder freiwillig nachzuvollziehende konfessionelle Veränderung ein Mechanismus, der im Verlauf der evangelischen Kirchengeschichte, je stärker das protestantische Glaubenssystem ins Wanken gerät und in einzelne Strömungen zerfällt, zu heftigem Streit, manchmal zur Rebellion mit durchaus politischem Hintergrande führt; auch Nietzsches Mutter berichtet in einem ihrer Tagebücher (die einen recht aufschlußreichen Eindruck vermitteln vom christlich-protestantischen „Geist" der Familie) über eine solche Auseinandersetzung im Naumburger kirchlichen Leben: „Großer Gesangbuchstreit auf dem Dom"6 wobei es hier um die Abschaffung des aufklärerisch-rationalistischen Naumburger Gesangbuchs von 1818 geht, zugunsten eines Kompendiums, das seit 1852 in der westfälischen Grafschaft Minden-Ravensberg in Gebrauch ist und aus dem der Hauch der in jener Gegend ganz besonders wirksamen Erwekkungsbewegung weht, also jener Tendenz, die vom „Jahrhundert der Vernunft" denkerisch „zerfressene" protestantische Theologie mit Hilfe einer allerdings recht künstlich erzeugten Glaubensexaltation zu rekonstituieren; dieser Gesangbuchstreit, der die Gemeinde spaltet und für familiäre Diskussionen sorgt, ist somit durchaus ein kleiner, lokaler Widerschein jener -

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5 F. Nietzsche, Nachgelassene Aufzeichnungen Anfang 1852 Sommer 1858, bearb. v. J. Figl unter Mitarbeit von H. G. Hödl, Berlin/New York 1995 (KGW 1/1), 286. Der Choral Jesus meine Zuversicht, heute EKG, Nr. 330, ist den Liedern von „Tod und Ewigkeit" zugeordnet, kann aber auch als Ostergesang verwendet werden. Die Dichtung assoziiert weitgehend Hiob 19,25-27, der Verfasser ist unbekannt; vgl. HdB/EKG, Liederkunde, Zweiter Teil, Göttingen 1990, 386 ff. 6 Franziska Nietzsche, Tagebuch, GSA 100/850. -

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Lyrischer Familienkosmos

großen, den Protestantismus auch heute noch bestimmenden Auseinandersetzung zwischen Aufklärung und Restauration. Das Gesangbuch zuweilen also auch (Kirchen-)Politikum, die in ihm versammelten Lieder stets anwesend im täglichen Leben, wirksam sogar bis in die Sphären höchster Kunst, da doch zum Beispiel, wie bekannt, die musikalischen Formen und inhaltlichen Aussagen der großen Bachschen Oratorien vom protestantischen Choral maßgebend strukturiert werden. In einer evangelischen Familie, in einem Pfarrershaushalt gar, wird man daneben allerdings nachhaltig konfrontiert mit literarisch-künstlerischen Produkten, denen eine weit weniger erhabene Aura anhaftet; es ist die Rede von der fast unübersehbaren Flut der Erbauungsliteratur, der geistlichen Traktate, der frommen Periodika, denen die Aufgabe zukommt, die innere Glaubensseligkeit des einzelnen Christen (über den Zuspruch der sonntäglichen Predigt hinaus) zu befördern und zu festigen, des öfteren in Abwehr gegen die Kulturerzeugnisse einer profan und ungläubig gewordenen Welt mit ihren „unsittlichen", der göttlichen Daseinsordnung scheinbar zuwiderlaufenden Theaterstücken, Romanen oder Gedichten. Häufig wird dieser christlich-belehrende Zeigefinger nicht nur in Prosa-Form, sondern auch poetisch-lyrisch erhoben, um „die geistliche Aussage aufzulockern und da-

durch dem anonymen Leser anziehender zu machen".7 In Nietzsches Familie wird diese fromme Literatur abonniert und eifrig gelesen; die Mutter exzerpiert in ihr Tagebuch immer wieder jene Text-Passagen und Gedichte, die ihr besonders wertvoll und wichtig scheinen, und man darf sehr stark vermuten, daß sie ihren Kindern diese Fundstücke gleichfalls zur Kenntnis bringt. Da gibt es neben längeren Abschriften kurze Sinnsprüche, zum Beispiel: „Stürz dich glaubensmutig in die Welt hinein",8 oder: „Frei ist allein derjenige, der nicht nur von der Eitelkeit und Sinnlichkeit, sondern auch von seinem eigenen Selbst frei geworden ist in Gott."9 Da werden aber auch Gedichte abgeschrieben, meistens Stimmungsbilder, immer versehen mit einer manchmal recht „aufgesetzt" wirkenden, christlich grundierten „Lehre" : Heimweh, An mein Stübchen, Sonnenuntergang, Über den Sternen, Ein Lied vom Himmel, Ob wir uns wiedersehn, Hochzeitsgedichte, Todesgedichte, Gedichte über das Wesen und Wirken einer christlichen Mutter.10 Diese erbaulich-lyrischen Gebilde sind heute von einer gewissen Komik umweht; sie scheinen allerdings einen ständigen Anreiz zu bilden für eigenständige innerfamiliäre poetische Aktivitäten, also für jene Gelegenheitsliteratur, die mehr oder minder sprachmächtige Familienmitglieder zu wichtigen Lebensereignissen, zu Taufen, Geburtstagen, Hochzeiten und Todesfällen verfassen manchmal geistlich getönt, manchmal heiter und neckisch auf die besonderen, vielleicht skurrilen Eigenschaften von Personen, manchmal auf ganz bestimmte komische Ereignisse anspielend, zuweilen vor dem Verschwinden bewahrt durch sorgfältig-schön gestaltete Abschriften, als Erinnerung für spätere Jahre, als Demonstrationsobjekte familiärer Tradition für die Kinder und für kommende Generationen. Man darf -

F. Bartsch, in: Die Religion, Bd. II, Tübingen 1958, 541 hier auch eine Erörterung über die Aufgaben der Erbauungsliteratur: „Sie will das Wort Gottes in den Herzen der Menschen anbauen und einpflanzen, so daß es Frucht bringe im Reiche Gottes. Dies geschieht, indem sie das Wort Gottes auslegt und in freier Weise vergegenwärtigt, veranschaulicht und entfaltet [...] Sie will den Menschen durch cogitatio, meditatio, contemplatio über das Irdisch-Vergängliche und die damit verbundene Gefahrdung und Bedrohung seiner Existenz hinaus zur Gotteskindschaft leiten." (Ebd.) 8 Franziska Nietzsche, Tagebuch, GSA 100/849.

7

-

9 10

Ebd. In: Franziska Nietzsche,

Tagebücher, GSA

100/849 f.

Klaus Goch

108

behaupten, daß diese poetische Praxis in Nietzsches Familienumkreis mit besonderer Intensität und Liebe betrieben wird; so sind uns zahlreiche Gelegenheitsgedichte erhalten geblieben, akribisch gesammelt, da doch gerade in dieser Familie die lutherisch-protestantische Wortfixiertheit ihre allerschönsten Blüten treibt und alles Geschriebene peinlichst aufgehoben wird.11 Die vielleicht schönsten, umfangreichsten Dokumente dieser Art sind wohl die zur Hochzeit von Nietzsches Eltern entstandenen Gelegenheitsgedichte, ein Konvolut von sechzehn Seiten, mit lustigen Versen zum Polterabend, dann mit einem Lobgesang auf die liebreizende Braut, in dem es, um eine kleine Probe zu geben, u. a. heißt: „Die blühende Rose

Sie ist Dein Bild, Mit lieblicher Anmuth Gleich Dir erfüllt. Du lächelst freundlich Wie sie, uns zu, Wie Rosen blühen So blühst auch Du."12

Überliefert sind auch die gelegenheitspoetischen Einschübe in die Liturgie des Trau-Gottes-

dienstes; hier liest

man u. a.:

„Heil Euch treu vereinten Beiden! Euch vereinte hold Geschick! Seht Euch winken reine Freuden Und der Lieb und Freundschaft Glück. Heiter fließen Eure Tage An geliebter Hand dahin; Fern von Euch sey jede Klage, Euch geleite froher Sinn."13 Das Kirchenlied, das christliche Erbauungsgedicht, schließlich die Gelegenheitspoesie dieser oder ähnlicher Art das sind wohl die wichtigsten Elemente im lyrischen Kosmos einer von der evangelischen Pfarrhauskultur geprägten Familie; vor dem Hintergrund einer solchen (heute leicht biedermeierlich-idyllisch wirkenden) poetischen Tradition unternimmt auch das sprachlich außergewöhnlich sensible Kind Friedrich Nietzsche seine ersten dichterischen Experimente, zunächst umhüllt von den Konventionen, Themen und Formen dieser Tradition, bald jedoch mit wachsender Kritik und Abgrenzung, im stets schärfer werdenden Be-

So kann denn Johann Figl mit größtem Recht feststellen: „[...] von keiner anderen bedeutenden Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts ist ein Nachlaß aus der Kindheit und Jugendzeit in einem auch nur annähernd vergleichbaren Umfang bekannt." (KGW 1/1, V f.) Allerdings wird des öfteren vergessen, daß diese kulturgeschichtlich so wertvolle Dokumentenfülle vor allem aus der „Sammelwut" der „dummen" Mutter und der „bösen" Schwester resultiert! 12 Franziska Nietzsche, Hochzeitsdokumente, GSA 100/854. 13 Ebd. Hier wird Choral-Manier praktiziert; die Strophe läßt sich singen nach der Melodie des Kirchenliedes Herz und Herz vereint zusammen sucht in Gottes Herzen Ruh (EKG, Nr. 217) von Christian Gregor (1723-1801) nach einer Vorlage von Nikolaus Graf von Zinzendorf (1700-1760).

11

Lyrischer

Familienkosmos

109

wußtsein davon, daß sich diese Lebenswelt in einem Auflösungsprozeß befindet und in Abwehrkämpfe verstrickt ist, von einer kulturellen Einheit also kaum noch gesprochen werden kann, da doch gerade das evangelische Pfarrhaus zu einer Art von Bühne geworden ist, auf der die dramatische, politisch-kulturell so folgenreiche Auseinandersetzung zwischen Aufklärung und Restauration mit besonderer Härte geführt wird.

II. Diese Zerrissenheit, diese seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zu beobachtende Gegensätzlichkeit der Glaubens- und Lebenshaltungen, die kaum mehr dazu berechtigt, von einer einheitlichen, geistlich-geistig halbwegs homogenen evangelischen Pfarrhauskultur zu sprechen sie bestimmt nun auf besonders deutliche, markante Weise die familiäre Konstellation, in die Friedrich Nietzsche hineingeboren wird. Da ist zunächst die Familie der Mutter, da ist die weltoffene, liberale und „heitere" Atmosphäre des rationalistisch-aufklärerisch bestimmten Pfarrhauses in dem kleinen Dorf Pobles, geprägt von der Gestalt des Großvaters David Ernst Oehler, der als Pastor und dennoch zugleich als Mitglied einer Freimaurerloge ein freundliches, „vernünftiges" Christentum zu leben versucht und sich den Grundpositionen der Aufklärungstheologie verpflichtet weiß: daß nämlich Glaube und Vernunft keineswegs feindlich gegeneinander wirken, sondern sich ergänzen in dem gemeinsamen Ziel, die Wohlfahrt des Menschengeschlechts schon in dieser Welt zu fördern und zu sichern.14 Die Religion ist unter dieser Prämisse dann vor allem auch Anleitung zu einem glücklichen irdischen Leben, und die Kirche hat aus dieser Perspektive nicht so sehr die Aufgabe, ein unbegreifliches, Furcht und Schrecken erzeugendes Dogma zu verkünden sie ist dagegen eher eine Instanz zur Beförderung von Moralität, Tugend und individueller Glückseligkeit; sehr eindringlich kommt diese theologische Haltung und die mit ihr verbundene Spielart protestantischer Pfarrhauskultur in einem Lehrgedicht zum Ausdruck, das uns von einem radikal glaubensabtrünnigen Aufklärer überliefert ist, dem ehemaligen Franziskanermönch Eulogius Schneider, der später, in den Wirren der Französischen Revolution, den Tod unter der Guillotine zu erleiden hat. Dort liest man u. a.: -

-

-

-

„Der Theolog, der Duldung lehrt,

Und dürre Dogmen so behandelt, Daß er sie in Moral verwandelt, Der ist und machet aufgeklärt.

Der Bürger, der nach seiner Weise Das Gute tut im engsten Kreise, Gesetz, Vernunft und Menschheit ehrt, Ha, wäre der nicht aufgeklärt?

14

Zu Nietzsches Großvater D. E. Oehler und zu seinem Glaubens- und Amtsverständnis ausführlich: K. Goch, Franziska Nietzsche. Ein biographisches Porträt, Frankfurt a.M./Leipzig 1994, 69 f.

Klaus Goch

110

Die Mutter, die in zarter Jugend Gefühl für Wahrheit und für Tugend In ihrem Kinde weckt und nährt, Die preis ich laut als aufgeklärt. Der

Landmann, der mit seinem Stande

ist und im Vaterlande Ein nützlich Glied zu sein begehrt, Ist nicht gelehrt, doch aufgeklärt.

Vergnügt

Ein Mädchen suchet in den Pflichten Der Gattin sich zu unterrichten: Wohl dem, der sie zur Frau begehrt, Sein künftig Weib ist aufgeklärt."15 Man könnte behaupten, daß diese hehren (heute leicht naiv wirkenden) Maximen die Richtlinien bilden für den „Geist", die Werthaltungen und sozialen Verkehrsformen des Pobleser Pfarrhauses; sehr klar bemerklich ist auf jeden Fall das aufklärerische Streben nach Wissenserweiterung, verbunden mit einem überaus starken Interesse an Musik und Literatur, auch dann, wenn die Kulturprodukte nicht im engeren Sinne „christlich" grundiert sind. So besitzt David Ernst Oehler eine erstaunlich umfangreiche Bibliothek, in der sich wahrlich nicht nur geistliche Traktate befinden, sondern vor allem auch die großen Werke der Weltliteratur, des griechisch-römischen Altertums, der deutschen Klassik. Es gibt sogar moderne, aufrührerisch-rebellische literarische Erzeugnisse eine wahre Fundgrube für den notorisch lesehungrigen Großsohn Friedrich Nietzsche, der hier zum Beispiel bekannt wird mit dem bösen, unsittlichen, erotisch ambivalenten Lord Byron, der Identifikations- und Zufluchtsfigur seiner Jünglingsjahre, in denen er versucht, alle Naumburger Kindheitsschmerzen und -irritationen mit Hilfe neuer Denk- und Lebensmuster zu überwinden.16 Welche Bedeutung die Pobleser Daseinssphäre für ihn hat, wie angenehm entspannend sie sich abzuheben scheint von seiner städtischen, einengenden Lebens- und Erziehungswelt das kommt sehr eindringlich zum Ausdruck in einem Gelegenheitsgedicht, welches der vierzehnjährige Nietzsche im Juli 1859 zum (letzten) Geburtstag des Großvaters verfaßt; erstaunlich ist, daß der intellektuell so „frühreife" Schüler in der resümierenden Schlußzeile die Leitbegriffe der Aufklärung, nämlich „Wahrheit" und „Tugend", als die geistigen Grundlagen des großväterlichen Wesens und Wirkens schon recht klar erkennt und benennt: -

-

15 16

E. Schneider, „Wahre Aufklärung", in: Die Aufklärung, in ausgewählten Texten dargestellt und eingel. v. G. Franke, Stuttgart 1963, 102 f. So schreibt der junge Nietzsche z. B. an Mutter und Schwester: „Könnt ihr mir nicht aus Pobles den Don Juan herbeischaffen?" (KGB 1/1, 193) Gemeint ist hier Lord Byrons zwischen 1819 und 1824 entstandene Verserzählung Don Juan, in der die Liebes- und Kriegserlebnisse eines jugendlichen Abenteurers erzählt werden, kaum zu vergleichen mit den Ausformungen dieses weltliterarischen Stoffs bei Tirso de Molina, Molière oder in der Mozart-Oper. Vgl. auch den Vortrag des Schülers Nietzsche über Lord Byrons Dichtungen: HKG II, 9 ff. Zur Bedeutung des englischen Dichters für die Entwicklung eines „alternativen" Lebenskonzepts bei Nietzsche vgl. Nietzsche über die Frauen, hg. u. kommentiert v. K. Goch, Frankfurt a.M./Leipzig 1992, 27 ff.

Lyrischer Familienkosmos

111

„[...]

O hätte ich Lieder Und frohe Gesänge Daß es mir gelänge In farbigen Bildern Die Milde zu schildern Die's Pfarrhaus von Pobles

Beständig umhüllet

Und alles mit Frieden Und Ruhe erfüllet. Der Gram ist gemieden Und Schmerz wird vertrieben Durch Zuspruch der Lieben. Ein heiliges Leben Beseligt sie immer Mit feurigem Streben. O Ort der du stets mir Der Heimath Schimmer Die ich verloren Von Neuen gegeben Du bist mir erkoren Die Spuren der Kindheit Die mir sonst entschwinden Gar treu zu bewahren; Nach vielen Jahren Sind sie noch zu finden Die Sehnsucht zu stillen Zur einstigen Heimath Die Seele zu füllen Mit Bildern der Jugend Mit Wahrheit und Tugend."17 von Pobles erfahren, ist kaum einmal die Rede von von Gebeten, Gottesdienstbesuchen oder geistliAndachtsritualen, evangelisch-christlichen chen Exerzitien, wohl aber von Lese- und Gesangsstunden, Rezitationen und Theaterspiel

In

dem,

was

wir über das Pfarrhaus

die kennzeichnend sind für eine aufklärerischgebildete, offene, humanistisch bestimmte Familienkultur. Da gibt es musikalische Abendunterhaltungen; man führt zum Beispiel Georg Philipp Telemanns lustige SchulmeisterKantate auf, in der auf amüsante Weise ein Lehrer mit seinen widerspenstigen Schülern einen Chorsatz einstudiert, was allerdings erst nach einigen durchaus disharmonischen Bemühungen gelingt dennoch ist die im Schlußsatz verkündete „Moral" ein Lob auf die Musik und deren gute Wirkung für den Menschen: also

von

jenen Freizeitbeschäftigungen,

-

-

17

HKG

I, 110.

Klaus Goch

112

„Wer die Musik nicht liebt und ehret Wer diese Kunst nicht gerne höret Der ist und bleibt ein Asinus Ein Asinus I-A, I-A Ein Asinus."18

wichtig sind die regelmäßig stattfindenden Lesestunden, in deren Verlauf auch lyrische Produkte rezitiert werden. Im Jahre 1895, während der Niederschrift ihrer leider Fragment gebliebenen Lebenserinnerungen, sind Nietzsches Mutter einige dieser Gedichte Gleich

noch immer sehr präsent; sie wird sie, wie es ihre Gewohnheit war, auch ihren Kindern vorgetragen haben. Da ist zum Beispiel die hübsche Versnovelle Johannes der Seifensieder des Hamburger Aufklärungsdichters Friedrich von Hagedorn (1708-1754), in der es, in sprachlich-poetischer Form, auch um das Lob der Musik geht:

„Johannes war ein Seifensieder; Der wußte viele schöne Lieder, Und sang, mit unbesorgtem Sinn, Vom Morgen bis zum Abend hin. Sein Tagwerk könnt ihm Nahrung bringen; Und wann er aß, so mußt er singen; Und wann er sang, so wars mit Lust, Aus vollem Hals und freier Brust. Beim Morgenbroth, beim Abendessen Blieb Ton und Triller unvergessen; Der schallet recht; und seine Kraft Durchdrang die halbe Nachbarschaft. Man horcht; man fragt: Wer singt schon wieder? Wer ists? Der muntre Seifensieder."19 Der nächste Nachbar allerdings, ein habgieriger Griesgram, fühlt sich durch den Gesang erheblich gestört; er bietet Johann 50 Taler, unter der Bedingung, mit dem Singen aufzuhören. Der Seifensieder geht auf diesen Handel ein, muß aber schnell erkennen, daß Geld ihn nicht glücklich macht. Er gibt schließlich dem Nachbarn die Münzen zurück, um nun wieder frei und unbeschwert sein Liedchen trällern zu können:

„Dem Nachbar, den er stets gewecket, Bis der das Geld ihm zugestecket, Dem stellet er, aus Lust zur Ruh, Den vollen Beutel wieder zu,

18

G. P. Telemann, Der Schulmeister. Komische

Kantateßr Bariton-Solo, Knabenchor,

Baß und Cembalo, Bärenreiter-Ausgabe 1786, neu hg. sche, Mein Leben, GSA 100/851, 11.

19

In: K. Bohnen (Hg.), Deutsche Gedichte des 18. Nietzsche, Mein Leben, 100/851, 10.

v.

F.

zwei Violinen, Stein, Kassel 1956. Vgl. Franziska Nietz-

Jahrhunderts, Stuttgart 1987, 90 ff. Vgl. Franziska

113

Lyrischer Familienkosmos Und

Als,

spricht: Herr, lehrt mich bessre Sachen, des Singens, Geld bewachen.

statt

Nehmt immer euren Bettel hin Und laßt mir meinen frohen Sinn. Fahrt fort, mich heimlich zu beneiden. Ich tausche nicht mit euren Freuden. Der Himmel hat mich recht geliebt. Was ich gewesen, werd' ich wieder Johann, der muntre Seifensieder."20

Ein weiteres Gedicht, das die Mutter in ihren lyrischen Hausschatz aufgenommen hat, thematisiert auf ähnliche Weise die großen Wirkungen der Musik: Arion, geschrieben von dem berühmten Romantiker Ludwig Tieck (1773-1853). Es verwendet ein bekanntes antikes Motiv die Rettung des griechischen Poeten und Tonkünstlers Arion von Methyma (ca. 625 v. Chr.) durch einen Delphin: -

„Arion schifft auf Meereswogen Nach seiner teuren Heimat zu, Er wird von Winden fortgezogen, Die See in stiller sanfter Ruh."21 Die Reise bringt ihn jedoch sehr bald in Todesnot: Die Seeleute wollen ihn töten, sie werfen ihn ins Meer; er aber spielt auf seiner Leier nun kommen, von den süßen Tönen gelockt, die Fische heran. Ein Delphin nimmt ihn auf seinen Rücken und bringt ihn ans Land: -

„Arion sieht mit trunknen Blicken in das Seegewühl, Er fährt auf eines Delphins Rücken, Schlägt lächelnd in sein Saitenspiel.

Lautsingend

Der Fisch, zu Diensten ihm gezwungen, Naht schon mit ihm der Felsenbank, Arion hat den Fels errungen Und singt dem Fährmann seinen Dank.

Am Ufer kniet er, dankt den Göttern, Daß er entrann dem nassen Tod. Der Sänger triumphiert in Wettern, Ihn rührt Gefahr nicht an und Tod."22

20 21 22

In: K. Bohnen (Hg.), Deutsche Gedichte des 18. Jahrhunderts, 90 ff. In: L. Tieck, Gedichte, Erster Teil, Faksimiledruck nach der Ausgabe von 53 ff. Ebd.

1821-23, Heidelberg 1967,

Klaus Goch

114

Die Musik als heiter und vergnügt stimmende Kunst, als Seelentrösterin, schließlich sogar als „Lebensretterin"23 es sind daneben aber auch ganz andere, weit dunklere Lebensmotive mit der sonst so freundlich-harmonischen Pobleser Familienwelt verbunden. So notiert sich Nietzsche im Jahre 1875 einige ihm wichtig erscheinende, prägende und unvergeßliche Kindheitserinnerungen in ein Heft, das den Titel Vorarbeit zu Richard Wagner in Bayreuth (also zu der Vierten Unzeitgemäßen Betrachtung) trägt; und er erwähnt dort auch eine frühe poetische Erfahrung, die er mit Pobles und der Gestalt David Ernst Oehlers verbindet: „Als der Großvater mir Hölty's ,Wunderseliger Mann' erklärte."24 Gemeint ist das Gedicht Das Landleben des Hainbund-Lyrikers Ludwig Heinrich Hölty (1748-1776), der (in einer Literaturgeschichte) als zarter, hektischer, kindlich unbeholfener Charakter geschildert wird sein ganzes Werk aber sei elegisch umschattet von der Ahnung seines frühen Todes:25 -

-

„Wunderseliger Mann, welcher der Stadt entfloh! Jedes Säuseln des Baums, jedes Geräusch des Bachs, Jeder blinkende Kiesel, Predigt Tugend und Weisheit ihm! Schattengeräusch ist ihm ein heiliger Tempel, wo ihm sein Gott vorüberwallt;

Jedes

Jeder Rasen ein Altar, Wo er vor dem Erhabnen kniet!

Seine Seine

Nachtigall Nachtigall

tönt Schlummer herab auf

ihn,

weckt flötend ihn wieder auf, Wann das liebliche Frührot Durch die Bäum auf sein Bette scheint.

Dann bewundert er dich Gott, in der Morgenflur, In der steigenden Pracht deiner Verkünderin, Der allherrlichen Sonne, Dich im Wurm, und im Knospenzweig; Es kann hier nicht weiter erörtert werden, welche Bedeutung der leicht anklingende Topos von der Musik als „Retterin", „Erlöserin", als das „ganz Andere", „Versöhnlich-Versöhnende" für Nietzsche später gewinnen wird, vgl. nur: „Die Musik waltet über dem Menschen wie eine beschwingte Leidenschaft und läßt ihn gerade dann fliegen, wenn sein Fuss im Sande ermüdet. [...]. Dadurch ist die urbestimmte Natur, durch welche die Musik zur Welt der Erscheinung spricht, das räthselvollste Ding unter der Sonne, ein Abgrund, in welchem Kraft und Güte gepaart ruhen, eine Brücke zwischen Selbst und Nicht-Selbst." (Friedrich Nietzsche, Richard Wagner in Bayreuth, Bd. 6, Vierte Unzeitgemäße Betrachtung, KSA 1, 465) Zum Gesamtkomplex: H. G. Hödl, Musik, Wissenschaft und Poesie im Bildungsprogramm des jungen Nietzsche (im Druck, ein Typoskript ist mir vom Autor freundlichst zur Verfügung gestellt worden); R. G. Müller, „Anmerkungen zu Nietzsches Tragödienproblem", in: Nietzscheforschung. Eine Jahresschrift, Bd. 2, Berlin 1995, 237 ff. 24 KSA 8, Nachgelassene Fragmente, 1875-1879, 194. Vgl. M. Montinari, Nietzsches Kindheitserinnerungen aus den Jahren 1875-1879, in: Nietzsche lesen, Berlin/New York 1980, 22 ff. 25 Vgl. M. Sulzer-Tunk, Illustrierte Geschichte der Deutschen Literatur in sechs Bänden, Bd. II, Köln o.J., 334.

23

115

Lyrischer Familienkosmos Ruht im wehenden Gras, wenn sich die Kühl' Oder strömet den Quell über die Blumen aus; Trinkt den Atem der Blüte, Trinkt die Milde der Abendluft.

ergießt,

Sein bestrohtes Dach, wo sich das Taubenvolk Sonnt, und spielet und hüpft, winket ihm süßre Rast Als dem Städter der Goldsaal, Als der Polster der Städterin.

Und der spielende Trapp schwirret zu ihm herab, Gurrt und säuselt ihn an, flattert ihm auf den Korb, Picket Kramen und Erbsen, Picket Körner ihm aus der Hand. Einsam wandelt er oft, Sterbegedanken voll, Durch die Gräber des Dorfs, setzet sich auf ein Und beschauet die Kreuze Und den wehenden Totenkranz.

Grab,

Wunderseliger Mann, welcher der Stadt entfloh! Engel segneten ihn, als er geboren ward, Streuten Blumen des Himmels Auf die Wiege des Knaben

aus."26

Wir erfahren nicht, wie David Ernst Oehler diese merkwürdigen Strophen erklärt und interpretiert hat. Ob er vielleicht ein wenig verwirrt, ja sogar verängstigt darüber war, daß sein kluger, aber eben doch noch „kindlicher" Großsohn von einem derart melancholisch„doppelbödigen" Gedicht affiziert wurde? Denn scheint der Titel auch eine ländliche und heitere Idylle anzukündigen, so wird doch ein ganz anderes, dunkleres Daseinsgefühl evoziert und ein geheimnisvolles, schattenhaft bleibendes Ich vorgeführt: ein Welt- und Lebensflüchtiger, ein eremitisch Existierender, kaum in Kontakt mit der Umwelt, in einer (scheinbar) frei gewählten Isolation lebend, Gott und das Göttliche in der Natur suchend, geprägt von einem pessimistisch eingefärbten Pantheismus, einer heimlichen Todessehnsucht, die ihn zu den Gräbern treibt; und doch wird dieser traurig-glückliche Mensch am Ende dargestellt als vom Himmel, von den Engeln gesegnet. Es ist in der Tat ein wenig erstaunlich, daß ein höchstens vierzehnjähriger Junge (eine exakte Datierung ist nicht möglich) emotional so nachhaltig berührt wird von der düsteren Aura, die dieses Gedicht uns vermittelt vielleicht der erste Anklang eines Lebensmotivs, das später charakteristisch scheint für den Existenz-Entwurf Friedrich Nietzsches: die Flucht vor der Welt, die Selbstisolation, dieser die ganze Persönlichkeit prägende Lebensernst „in der Vielseitigkeit der Verhältnisse, in Trauer und Freude, selbst im Spiel" (wie er als Achtzehnjähriger in einer kleinen Selbstbeschreibung notiert),27 also der Sphäre von -

26 In: K. Bohnen (Hg.), Deutsche Gedichte, 284 ff. 27 Oktober 1862, HKG II, 120.

Klaus Goch

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„Kreuz, Tod und Gruft" verhaftet,28 eines barocken Kirchenlied-Verfassers

gefangen

in der

aufzugreifen.29

„Schwermutshöhle",

um

das Bild

III. In den Kindheitserinnerangen von 1875 ruft sich Nietzsche neben der Erlebniswelt, die mit dem Namen des Großvaters verbunden ist, auch die ganz andere, für ihn noch prägendere familiäre Atmosphäre ins Gedächtnis zurück eine dem Pobleser protestantischen Lebensverständnis durchaus entgegengesetzte, weit dunkler und enger wirkende Ausformung der evangelischen Pfarrhauskultur: die Welt des Vaters, verknüpft mit dem Geburtsort Röcken (dann der neuen Heimat Naumburg) mit den Gestalten der Großmutter Erdmuthe, der beiden Tanten Auguste und Rosalie. Er beschwört (wie schon in seinem ersten autobiographischen Entwurf von 1858)30 eine Szene herauf, die sein kindliches Gemüt unvergeßlich berührt hat wie nämlich die Tante Auguste, während eines Ferienaufenthalts bei dem Stiefonkel und Pfarrer Friedrich August Engelbert Nietzsche in Nirmsdorf, im „Silberglanz" mit ihm ein Abendlied gesprochen (oder vielleicht auch gesungen) hat: -

-

„Der Mond ist aufgegangen, Die goldnen Sternlein prangen Am Himmel hell und klar. Der Wald steht schwarz und schweiget, Und aus den Wiesen steiget Der weiße Nebel wunderbar."31 Diese berühmten Zeilen des Matthias Claudius, im Ursprung keineswegs als Kirchenlied sind zu jener Zeit schon längst aufgenommen in den Bestand der evangelischen Gesangbücher32 Nietzsches Erinnerung weist also auch hin auf eine „poetische Praxis", die kennzeichnend ist für die Röcken-Naumburger Familienkultur: Einen wichtigen Platz nimmt der Choral, das geistliche Lied ein, durchaus in bewußter Abgrenzung zu dem, was in der großen, zuweilen wohl auch unchristlich-unsittlichen Welt literarisch produziert und

gedacht,

-

28

Vgl. Nietzsches Brief an Erwin Rohde vom 8. Okt. 1868, in dem er seine Vorliebe für die Musik Wagners und die Philosophie Schopenhauers mit der eigenen „depressiv"-dunkel eingefärbten Lebensstimmung in Verbindung bringt: „Mir behagt an Wagner, was mir an Schopenhauer behagt, die ethische Luft, der faustische Duft, Kreuz, Tod und Gruft etc." (KSB 2, 322) Dazu auch das Kapitel „Ritter, Tod und Teufel", in: E. Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Bonn 1989 (10. unv. Aufl. der

Erstaufl. v. 1918), 50 ff. In dem Choral Straf mich nicht in deinem Zorn von Johann Georg Albinus (1624-1679): „Wie so lang machst du bang / meiner armen Seele / in der Schwermutshöhle" (EKG, Nr. 176) Auch in: „Wie wohl ist mir o Freund der Seelen", Aria (Choral) im Notenbüchlein der Anna Magdalena Bach [1725], Edition Peters, Leipzig, Nr. 4546, 55. 30 Aus meinem Leben, KGW 1/1, 295; KSA 8, 194. 31 Als „Abendlied" 1779 entstanden; vgl. L. Spitzer, „Matthias Claudius' Abendlied", Euphorion 54 (1960), 70 ff. 32 Heute EKG, Nr. 368 mit einer 1790 komponierten Melodie von Johann Abraham Peter Schulz.

29

117

Lyrischer Familienkosmos

angeboten wird, hatte doch bereits der verstorbene Vater Carl Ludwig Nietzsche viele Sprachkunstwerke als infiziert vom „Weltlichen" entrüstet von sich gewiesen, weil sie in seinen Augen allzu sehr die Auflösung des christlichen Glaubens und die Aberration vom gottgefälligen Lebenswandel proklamierten.33 Das Kirchenlied erscheint hier also als das poetisch-künstlerische Instrument zur Konstituierung eines innerfamiliären Glaubenssystems, als Lebenshilfe, aber auch als Warnung noch im Jahre 1864 schickt zum Beispiel die besonders fromme, erweckungsbewegte Tante Rosalie ihrem Neffen Friedrich Nietzsche, dessen Glaubenszweifel sie ahnt (und der zu jener Zeit gerade mit größtem Eifer Piatons Symposion studiert hat) einen Brief, der gänzlich aus einem Kirchenlied besteht, auf der Grundlage des 121. Psalms: -

„Ich erhebe, Herr zu Dir Meiner beiden Augen Licht, Mein Gesicht ist für und für Zu den Bergen aufgericht't, Zu den Bergen, da herab Ich mein Heil und Hülfe hab'.

Wann Du sitzest, wann Du stehst, Wann Du redest, wann Du hörst, Wann Du aus dem Hause gehst Und zurücke wieder kehrst, Wann Du trittst aus oder ein Woll' er Dein Gefährte sein!"34 Der hohe Stellenwert des Kirchenlieds im innerfamiliären Verständigungs- und Gefühlssystem tritt sehr deutlich hervor, wenn man die Tagebücher der Mutter näher betrachtet; sie enthalten des öfteren kleine Momentaufnahmen, die erkennen lassen, daß auch der Sohn und die Tochter eingebunden sind in diese christlich-poetische Kunstausübung, daß ihnen das lyrische Wort (verbunden mit Musik, mit einer „Melodie") immer wieder (und schon recht früh!) in der Gestalt des Chorals entgegentritt. Da singt zum Beispiel Franziska Nietzsche des Morgens (hier gemeinsam mit der Tochter) zum Zwecke der „Erbauung", wie sie notiert, ein Lied aus dem Naumburger Gesangbuch, verfaßt von Johann Andreas Cramer (1723-1788), einem Freunde Gellerts, als Theologe und Poet dem Geist der Aufklärung verpflichtet allerdings wird der Choral von der Mutter nicht näher bezeichnet; vielleicht aber ist es jene Dichtung, die der Abteilung der Trostlieder zugeordnet und deshalb zur Stärkung der gläubigen Seele (zur „Erbauung") gut geeignet ist: -

33 34

M. Oehler, Nietzsches Vater. Biographische Skizze nach seinen Briefen, unveröff. GSA 100/1222. Rosalie Nietzsche an Nietzsche in Naumburg, 21. Sept. 1864, KGB 1/2, 434 f.

Vgl.

Typoskript,

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„Schön ist die Tugend, mein Verlangen, Und meiner ganzen Liebe werth! Mit aller Kraft ihr anzuhangen Hat meine Seele oft begehrt. Ach könnt ich's, wie würd ich mich freun! Was heilig ist, muß selig seyn. [...] O bilde Vater, meine Seele; In deiner Liebe mache mich, Daß ich kein andres Gut mir wähle, Gewiß und unveränderlich; Dann bin ich ganz dein Eigenthum, Und lebe ewig Dir zum Ruhm."35 Dann wieder berichtet die Mutter, wie der Sohn, am Morgen ihres Geburtstags, in ihr Zimmer tritt, einen Choral singend; es handelt sich um das auch heute noch sehr bekannte, im Kampf mit der Gegenreformation entstandene Kirchenlied des niederdeutschen Pfarrers Josua Stegmann (1588-1632):

„Ach bleib mit deiner Gnade Bei uns, Herr Jesu Christ, Daß uns hinfort nicht schade Des bösen Feindes List.

Ach bleib mit deiner Treue bei uns, mein Herr und Gott

Beständigkeit verleihe,

hilf uns

aus

aller Not."36

Es ist verständlich und nur folgerichtig, daß vor dem Hintergrunde dieser (fast täglich) ausgeübten familiären Kirchenlied-Praxis, in der das sprachlich-lyrische Gebilde sich stets melodisch-musikalisch präsentiert, die ersten „kunsttheoretischen" Erörterungen des heranwachsenden Nietzsche (niedergelegt in der Autobiographie von 1858) Musik und Dichtung eng miteinander verknüpfen und zunächst sogar mit einer Überlegung zum Wesen und Wirken der Musik beginnen, dann erst, in einem zweiten Abschnitt (und noch immer unter dem Titel Über Musik), auf die Poesie (und die eigenen dichterischen Versuche) zu sprechen 35

36

Naumburgisches Gesangbuch, zum Gebrauch bei öffentlichen und häuslichen Gottesverehrungen, 3. Aufl., Naumburg 1818, 335 f. (Lied Nr. 374), Melodie nach Wer nur den lieben Gott läßt walten; zu Johann Andreas Cramer: HdB/EKG, Lebensbilder der Liederdichter und Melodisten, Göttingen 1957, 265 f. Franziska Nietzsche, Tagebuch, 100/850; das Lied heute EKG, Nr. der ist mein Leben (1609) von Melchior Vulpius.

208,

nach der Melodie Christus

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kommen wobei der kleine Ästhetiker eine gewisse Rangordnung aufstellt: „Die Tonkunst redet oft in Tönen eindringlicher als die Poesie in Worten zu uns u. ergreift die geheimsten Falten des Herzens."37 Die Musik ist für ihn, ganz in der Tradition der lutherischen Kunsttheorie und -théologie, die „herrlichste Gabe Gottes", dem man „ewig Dank" zu singen habe für „diesen schönen Genuß".38 Wohl kommt der Tonkunst das Vermögen zu, die menschliche Seele aufzuheitern und zur Rekreation des Gemütes beizutragen wird aber „die Musik nur zur Belustigung gebraucht oder um sich sehen zu lassen vor den Menschen, so ist sie sündlich und schädlich".39 Ihre Hauptbestimmung ist nämlich darin zu sehen, „daß sie unsere Gedanken auf höheres leiten",40 also immer auch hinweisen soll auf ein Transzendentes, „Göttliches" : „Vorzüglich ist dies der Zweck der Kirchenmusik [...]. Hiezu gehören auch die Choräle."41 Allerdings fügt hier der junge Nietzsche einige kritische Bemerkungen an: „Indeß muß man bedauern, wie sich diese Gattung der Musik immer mehr von ihrer Hauptbestimmung entfernt", vor allem deshalb, weil „jetzt so mancher Choral [existirt], der mit seiner schleppenden Melodie so ungemein von der Stärke u. Kraft der aelteren abweicht" .42 Mit höchst erstaunlicher Sensibilität erkennt er also den Zerfallsprozeß der protestantischen Choral-Tradition, ist doch um die Mitte des 19. Jahrhunderts die ursprünglich in den Kirchenliedern künstlerisch zum Ausdruck kommende allgemein bindende, „orthodoxe" Energie der lutherischen Konfession schon längst degeneriert zur schwächlichen, individualistisch-selbstbezogenen Gefühlsseligkeit, die der singenden, bekennenden Gemeinde keine kräftig-glaubensfrohen, sondern nur noch matte, „schleppende" Gesänge zur Verfügung stellen kann. Man könnte nun fragen, ob und auf welche Weise die familiäre Choral-Praxis nicht nur diese „theoretischen" Spuren hinterläßt, sondern auch einwirkt auf die ersten lyrischen Versuche des Kindes Friedrich Nietzsche, ob es also Parallelen und Verbindungen formaler oder inhaltlicher Art gibt, ob Übereinstimmungen festzustellen sind hinsichtlich der Bilderund Metaphernwelt, ob Strakturelemente des Kirchenlieds imitiert, verwandelt oder sprachlich-spielerisch ironisiert und konterkariert werden, das Kirchenlied somit zu einer Art von Folie wird, auf der sich dann eine ganz eigene, der Aussageabsicht des Chorals vielleicht sogar entgegengesetzte lyrische Wirklichkeit abzuzeichnen beginnt. Es mag zum Beispiel nicht gänzlich unwichtig sein, daß zu den ersten schriftlichen Zeugnissen, die uns von Nietzsche überliefert sind, zwei Choral-Abschriften gehören.43 Es handelt sich zum einen um Luthers auf der Grundlage des 130. Psalms entstandenes Lied Aus tiefer Not schrei ich zu dir, eine Dichtung, die (1532 fertiggestellt) am Anfang der protestantischen ChoralTradition steht und eine exemplarisch-vorbildhafte Bedeutung für die Entwicklung der gesamten Gattung hat, nicht zuletzt, weil sie eine zentrale Aussage der lutherischen Theologie dichterisch gestaltet daß nämlich die ständige Buße des sündigen, im Elend der Welt gefangenen Menschen unabdingbare Voraussetzung für das Gnadenwirken Gottes ist: -

-

-

37 38 39 40 41 42 43

Friedrich Nietzsche, Aus meinem Leben, KW 1/1, 306. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. GSA 71/213 (verfilmt unter Nr. 259); vgl. KGW 1/1, Vorwort, IX, Anm. 9.

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„Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott erhör mein Rufen. Dein gnädig Ohren kehr zu mir Und meiner Bitt sie offen; Denn so du willst das sehen an, Was Sund und Unrecht ist getan, Wer kann Herr vor dir bleiben?"44 Die zweite Choral-Abschrift Nietzsches aus dieser frühen Zeit (1854/55) ist ein Kirchenlied ganz anderer Art: „Jesus lebt, mit ihm auch ich" aus den Geistlichen Oden und Liedern (1757) von Christian Fürchtegott Geliert (1715-1769), dessen Wirken als Hochschullehrer und Poet dadurch geprägt ist, daß er versucht, die alte lutherische Glaubenslehre mit der Philosophie der Aufklärung zu verbinden, also eine Übereinstimmung herzustellen zwischen der Religion und der auf rationaler Einsicht beruhenden „weltlichen Tugend". Seine Kirchenlieder bewahren, obwohl ihn Friedrich von Preußen den „vernünftigsten aller deutschen Gelehrten"45 nennt, immer eine innige, wenn auch zuweilen naive

Frömmigkeit:

„Jesus lebt, mit ihm auch ich! Tod, wo sind nun deine Schrecken? Er, er lebt und wird auch mich Von den Toten auferwecken. Er verklärt mich durch sein Licht; Dies ist meine Zuversicht."46

angefertigten Choral-Abschriften folgen im nächsten Jahr weitere Kirchenlied-Kopien, und zwar als Geschenktexte für die Mutter mit der Widmung: „Nachstehende Lieder bringet Dir auf Deinen Wunsch als kleine Weihnachtsgabe Dein Fritz Nietzsche 1857."47 Es handelt sich dabei zunächst um eine Dichtung von Paul Gerhardt Diesen beiden 1856

(1607-1676)

44

aus

seinen 1667 erschienenen Geistlichen Andachten:

GSA 71/213; der Choral heute in EKG, Nr. 195; zur Entstehungsgeschichte und zur „Theologie" der Dichtung vgl. HdB/EKG II, 44 ff. Der junge Nietzsche schreibt alle fünf Strophen des Liedes ab; Vorlage kann nicht das Naumburgische Gesangbuch gewesen sein, da dort eine vom Lutherschen Originaltext stark abweichende Version von F. C. Fulda aufgenommen ist (ebd., 308 f.). 45 Vgl. HdB/EKG, Lebensbilder der Liederdichter und Melodisten, ebd., 264. 46 GSA 77/213, Heute EKG, Nr. 89. Nietzsche schreibt alle sechs Strophen ab, vertauscht jedoch die letzten beiden Strophen. In KGW 171, IX (Anm. 9) wird irrtümlich angegeben, dieser Choral sei „bekannter unter dem Titel Jesus meine Zuversicht'". Es handelt sich jedoch um zwei völlig selbständige Kirchenlieder aus unterschiedlichen Epochen (1653 bzw. 1757), wobei Geliert sicherlich von dem älteren Choral zu seiner Dichtung angeregt worden ist; er hat „dessen Strophenform und Praxis übernommen und ihm in seinem Kehrreim .Dies ist meine Zuversicht' ein Denkmal gesetzt." (HdB/ EKG I, Liederkunde, ebd., 359). Er folgt hier also der in der protestantischen Choral-Tradition recht gebräuchlichen Praxis des „Echoliedes", ein Verfahren, das er sonst jedoch strikt ablehnt. Vgl. HdB/ EKG 1/2, Die biblischen Quellen der Lieder, ebd., 164. 47 GSA 77/213 (verfilmt unter Nr. 266).

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„Gieb dich zufrieden und sei stille In dem Gotte deines Lebens! In ihm ruht aller Freuden Fülle, Ohn ihn mühst du dich vergebens; Er ist dein Quell und deine Sonne, Scheint täglich hell zu deiner Wonne. Gieb dich zufrieden."48 Es folgt die Abschrift der letzten beiden Strophen des wohl bekanntesten Kirchenliedes von Paul Gerhardt, dem 1656 in der Praxis Pietatis Mélica erschienenen Passionschoral O Haupt voll Blut und Wunden, der dem lateinischen Salve caput cruentatum des Arnulf von Löwen

nachgebildet ist:

„Wenn ich einmal soll scheiden, So scheide nicht von mir, Wenn ich den Tod soll leiden, So tritt du dann herfür; Wenn mir am allerbängsten Wird um das Herze sein, So reiß mich aus den Ängsten Kraft deiner Angst und Pein. Erscheine mir zum Schilde, Zum Trost in meinem Tod Und laß mich sehn dein Bilde In deiner Kreuzesnot. Da will ich nach dir blicken, Da will ich glaubensvoll Dich fest an mein Herz drücken. Wer so stirbt, der stirbt wohl."49 Bei der letzten Choral-Abschrift innerhalb dieser Weihnachtsgabe für die Mutter handelt es sich um acht Strophen eines Kirchenliedes, dessen Verfasser der junge Nietzsche nicht nennt das aber inhaltlich und formal mit der Passionsdichtung Paul Gerhardts in einem gewissen Zusammenhang steht und auch nach der 1601 von Hans Leo Haßler komponierten, zunächst „weltlich" verwendeten Melodie von O Haupt voll Blut und Wunden gesungen werden kann: -

„Ich habe Lust zu scheiden Mein Sinn geht aus der Welt Ich sehne mich mit Freuden Nach Zions Heimatfeld Weil aber keine Stunde zum Abschied ist benennt So hört aus meinem Munde mein letztes Testament."50 GSA 77/213 (verfilmt unter Nr. 266); heute EKG, Nr. 295, vgl. HdB/EKG II, Liederkunde, 288 ff. Nietzsche schreibt sämtliche fünfzehn Strophen des Chorals ab. 49 GSA 77/213 (verfilmt unter Nr. 266); heute EKG, Nr. 68, vgl. HdB/EKG I, Liederkunde 293 ff.

48

50

GSA 77/213

(verfilmt

unter

Nr.

266).

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In Nietzsches Kindheitsdichtungen sind über diese Abschriften hinaus die Spuren der protestantischen Choraltradition allenthalben auffindbar hier nur einige unsystematische, fragmentarische Hinweise: In dem Prosa-Stück Kleine Weihnachtsgabe für meine liebe Mutter (1857; KGW 1/1, 204 ff.) ist nicht nur die erste Strophe des sehr populären, allerdings nicht in den Kanon des Evangelischen Kirchengesangbuchs aufgenommenen Liedes O du fröhliche eingewoben; der Text endet es ist gleichsam sein „Ziel" und „Höhepunkt" mit der vollständigen Abschrift des zunächst als Kinder- und Hauslied konzipierten Weihnachtschorals von Nikolaus Hermann (ca. 1480-1561): -

-

-

„Lobt Gott, ihr Christen, allzugleich In seinen höchsten Thron Der heut' aufschließt sein Himmelreich Und schenkt uns seinen Sohn."51

gleichen Jahres ist das „Libretto" zu einer Art von „Oratorium" oder „Kantate" erhalten; hier verwendet der junge Nietzsche (neben Bibelsprüchen und eigenen

Vom Osterfest des

Formulierungen) als wesentliche Textgrundlage die Choräle Jesus meine Zuversicht und Gellert-Dichtung Jesus lebt mit ihm auch ich (KGW 171, 195 ff.). Es gibt

nochmals die

daneben immer wieder Gedichte, die in ihrer formalen, äußeren Struktur, zuweilen auch in ihrer inneren „trotzigen" Glaubensgewißheit, das Vorbild des protestantischen Chorals erkennen lassen, auch wenn sich die inhaltliche Aussage schließlich doch vom „christlichkirchlichen" Hintergrund abzulösen scheint als Beispiele könnte man nennen: Schifferlied (KGW III, 224), Am Morgen (KGW 1/1, 225), Wohin (KGW 1/1, 226), Dem Herrn sei Lob (KGW 1/1, 239), Zittert all ihr Menschenkinder (KGW 171, 241), Im Freien (KGW 171, 260). Aus dieser Perspektive ist ein Gedicht-Fragment, im Jahre 1858 entstanden, vielleicht von ganz besonderem Interesse im Hintergrund des kleinen lyrischen Experiments erkennt man einen sehr bekannten und sehr alten, aus vorreformatorischer Zeit stammenden Weihnachtsgesang; dessen erste Strophe lautet: -

-

„Es ist ein Ros entsprungen Aus einer Wurzel zart, Wie uns die Alten sungen, Von Jesse kam die Art Und hat ein Blümlein bracht Mitten im kalten Winter Wohl zu der halben Nacht."52 In welcher „Gefühlslage" und mit welchen Mitteln der dreizehnjährige Poet das „Material" des Kirchenlieds für seinen eigenen dichterischen Versuch verwandelt und verfremdet, so daß eine neue lyrische Wirklichkeit, eine ganz andere, der „frohen Botschaft" des Chorals

51

GSA 77/213 (verfilmt unter Nr. 266); das Lied heute EKG, Nr. 21, vgl. HdB/EKG I, Liederkunde, 175 ff. In einer Schluß-Variante dieses Textes (vgl. HKG I, Nachbericht 462 f.) erscheint der 1539 entstandene Lutherchoral Vom Himmel hoch da komm ich her (heute EKG, Nr. 16); abgeschrieben wird nur die letzte Strophe: „Lob Ehr sei Gott im höchsten Thron", vgl. HdB/EKG I, Liederkunde 159 ff. 52 EKG, Nr, 23, vgl. HdB/EKG I, Liederkunde 180 ff.

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sogar zuwiderlaufende, äußerst pessimistisch-negative Grandstimmung entsteht das näher zu untersuchen mag erkenntnisfördernd sein für jene Interpreten, die es wagen, über die „Selbstwahrnehmung" und über das vielleicht schon gebrochene Verhältnis des Kindes Nietzsche zum christlich-protestantischen Lebens- und Glaubenskosmos einige Reflexionen (oder auch Spekulationen) anzustellen: -

„Es ist ein Röslein entsprossen In holder Maienzeit Von Blättlein zart umschlossen Gleich einem Sterbekleid Doch als die rauen Lüfte Das Röslein angerührt Und als die zarten Düfte Sturm und Wind entführt."53

IV. Was immer eine eingehende Untersuchung auch ergeben mag, vielleicht kann man doch schon sagen, daß die familiäre Choral-Tradition durchaus ein movens, ein auslösender Faktor ist für die ersten dichterischen Versuche des Kindes Friedrich Nietzsche neben der gelegenheitspoetischen Praxis, die in dieser speziellen, regelwidrigen Familien-Konstellation ganz besonders intensiv und unter gesteigertem pädagogischen Druck betrieben wird, ist doch die junge, erzieherisch unsichere Mutter immer wieder bestrebt, solche „künstlerischen Auftritte" ihrer Kinder möglichst oft herbeizuführen als äußerlich wahrnehmbare Zeichen dafür, daß ihre Erziehungsarbeit gelungen ist und der Sohn sowie die Tochter sich widerstandslos einfügen in das familiäre Sozial- und Verständigungssystem. Man könnte also, etwas hart formuliert, von einem „Zwang zur Poesie" sprechen. Da sagt zum Beispiel der achtjährige Nietzsche zum Geburtstag der Mutter (die Verse sind hier noch dem dichterischen Ingenium der Tante Rosalie entsprangen): -

-

„Ein Körbchen wünschtest Du Dir Zu bergen die Schlüssel des Zimmers? Sieh' ich reich es Dir gefüllt mit einigen Blumen Mehr hätte ich gern gegeben Doch zu jetziger Zeit sind schwer sie zu finden, Möge nur Freude Dir bringen Was heut ich gespendet Mit herzinniger Liebe Und mit dem herzlichen Wunsche Das Gott der Allmächtige Dich segne Mit Leben Gesundheit und Frieden."54

53 54

KGW 1/1,280. Franziska Nietzsche,

Tagebuch,

GSA 100/850.

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Klaus Goch

Dann, 1853, Nietzsches

zum

eigenen

Geburtstag

der Großmutter Erdmuthe

Versen:

hier wahrscheinlich schon in -

„Meine liebe Großmama Auch Deine Enkelchen sind da Und bringen Dir heute Zur schönen Geburtstagsfreude Die besten Wünsche ein ganzes Herzchen voll Und glaube nur alle für Dein Wohl Denn der liebe Gott hat Dich uns von neuen gegeben Er wird auch ferner beschützen Dein Leben Ja ihm sei Dank und Dir seine Gnad Und auch Deine Liebe früh und spat."55 Dann, 1854,

zum

Geburtstag

der Tante Rosalie:

„Gott, der uns ja alles giebt Wenn wir zu ihn kindlich flenn Er der uns ja als Vater liebt Mög sagen es soll geschehn Doch noch ein Wünschchen habe ich Und füg es freundlich dran Das Du uns liebst so wie wir Dich Jetzt und so auch fortan."56 Dann, 1856 (schon aufgenommen in die Kritischen Gesamtausgaben), ein Geburtstagsgedicht für die Mutter; und hier wird bereits ein „eigener Ton", eine subjektive Befindlichkeit, sogar eine innere seelische Not recht deutlich

spürbar:

„Ich bringe Dir eine kleine Gabe. Viel ist's nicht. Doch nimm's nur Weißt ja das ich nicht viel hab, Drum ich nicht viel geben kann.

an.

Ich wünsche dir das beste Leben

Gesundheit, Freude, doch ich bin

Zwar zu gering dir's selbst zu geben Doch nimms vom lieben Gotte hin.

So sei an dein Geburtstage recht heiter Und wie dus heute bist, so geh es weiter. Du wirst mich doch auch lieben immer mehr Denn ich bleib gegen dich von Liebe gar nicht leer.

55 56

Franziska Nietzsche, Ebd.

Tagebuch,

GSA 100/850.

Ich liebe dich so sehr, daß i[ch] dich möcht erdrücken Doch thu ichs lieber nicht; es möcht dich nicht beglücken. Und etwas noch möcht ich dir geben Wie du wirst aus den letzten Vers sehn Du möchtest gern nun wissen Was ich noch wollt von dir. Ich möchte dich denn küssen So küss ich dich gleich hier."57

Hinter aller sprachlichen Unbeholfenheit, hinter den Floskeln und Formeln, kommt eine ganz bestimmte Gefühlswahrheit und -Wirklichkeit zum Ausdruck: Dieses Kind wagt nur ganz vorsichtig, in ängstlich gedrückter Haltung, seine große Liebe zu gestehen, seine spontanen Emotionen zu zeigen wohl auch nur dann, wenn gleichzeitig „Gaben" und „Leistungen" vorgewiesen werden können. In diesem Falle, 1856, sind solche Präsente nun aber nicht mehr materielle Dinge, sondern Gedichte, poetische Gebilde, Produkte subjektiver Phantasie und Kreativität. Es ist ein kleines Pandämonium innerer Ängste und Obsessionen mit Schiffbruch, Gewitter und Schlachtengetümmel, das in der Tat schon Raum geben mag für kindheitspsychologische oder psychoanalytisch grundierte Deutungsversuche.58 Vielleicht aber können wir die Kindheitsgedichte Nietzsches nur dann recht verstehen und angemessen würdigen, wenn wir uns, vor allen tiefenpsychologisch-tiefenphilosophischen Expektorationen, zunächst der bescheidenen kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Bemühung unterziehen, das familiäre Umfeld, also die vom protestantischen Geist geprägte Lebens- und Glaubenswelt ein wenig sichtbarer zu machen, um so eine historische Perspektive zu gewinnen, mit deren Hilfe wir das in Nietzsches Leben und Denken aufscheinende „Eigene" (auch das „Zerstörerische") um so klarer bezeichnen können. Immer aber sollten wir uns ein Bewußtsein davon erhalten, daß wir alle in der hermeneutischen Falle gefangen sind und deshalb jedes Interpretationsmonopol eine hochfahrende Anmaßung ist. Es liegt der Geistes- und Gedankenwelt Nietzsches sicherlich nicht allzu fern, wenn man sich der Erkenntnis öffnet, daß jeder Interpretation ein Hauch von Unredlichkeit anhaftet es ist nämlich nicht möglich, sich aus dem eigenen historischen Rahmen, aus subjektiven Stimmungen und Vorurteilen, aus den Grenzen seiner Biographie gänzlich zu lösen. Also ist es wohl gar nicht zu verhindern, daß wir, in Verfolg unserer fröhlichen Wissenschaft, mit großer, aber doch zuweilen widersinniger Entdeckerlust gerade jene Spuren verfolgen, die wir zuvor höchstselbst gelegt haben. Aber das ist um auch einmal den alten, weisen Fontane in Anspruch zu nehmen ein weites, weites Feld -

-

-

-

...

-

57 58

KGW 1/1, 115 f. Vgl. hier besonders die umfangreichen Interpretationen von H. J. oder Spurenlesen bei Nietzsche, 4 Bde., Aschaffenburg 1990 ff.

Schmidt, in: Nietzsche Absconditus

Jörgen Kjaer

Zarathustras Nachtlied und der Dionysosdithyrambus Von der Armut des Reichsten „Nacht ist es: nun erst erwachen alle Lieder der Liebenden. Und auch meine Seele ist das Lied eines Liebenden", also singt Zarathustra im zweiten Teil des bekannten Buches (KSA 4, 136). Kann es aber stimmen, daß Zarathustras Seele ein Liebeslied ist, das von Liebe zeugt? Ich wage es zu bezweifeln, jedenfalls wird hier von dem Phänomen Liebe in bedenklichem Sinne geredet und gesungen. Dies werde ich im folgenden zu demonstrieren versuchen. Schon unmittelbar nach den oben zitierten Worten wird die betreffende Liebe auf folgende Weise näher qualifiziert; jetzt heißt es: „Ein Ungestilltes, Unstillbares ist in mir; das will laut werden. Eine Begierde nach Liebe ist in mir, die redet selber die Sprache der Liebe." Von der Alltagssprache und vom Alltagswissen her wird aber wohl die Frage berechtigt sein, ob es angeht, Liebe mit Begierde nach Liebe gleichzusetzen, und von der Alltagssprache her ist zu bezweifeln, daß jemand, der Liebe begehrt, dieselbe Sprache spricht bzw. dieselbe Art Lieder dichtet und singt wie ein Liebender, der die bzw. das Geliebte begehrt. Aber vielleicht handelt es sich hier nicht um Alltagssprache und nicht um normalmenschliche Erfahrung, vielleicht befinden wir uns bei diesem Lied in höheren Regionen des Geistes, der Weisheit und der sublimen Liebe, in die die Alltagssprache und die Alltagsweisheit nicht hineinreichen. Auch dies bezweifle ich und gehe im folgenden daher davon aus, daß unsere Alltagssprache und Alltagsweisheit mit Recht zwischen Liebe und Begierde nach Liebe unterscheiden. Dabei handelt es sich bei der Distinktion zwischen Liebe und Begierde nach Liebe nicht um eine unwesentliche Nuance, sondern um einen abgrundtiefen Unterschied, denn wer eine unstillbare Begierde nach Liebe fühlt, dem fehlt etwas, und zwar nicht irgendetwas Beliebiges, sondern dem fehlt eben die Liebe. Dieser entscheidende Unterschied, ob hier ein Liebender singt, dem die/das Geliebte fehlt, oder ein die Liebe Begehrender, dem die Liebe selbst fehlt, ist aber im Gedicht mystifiziert. Daraus ergeben sich schwere Interpretationsprobleme. Der Grundgedanke, daß die Bedürftigen und Armen der göttlichen Liebe näher sind als die Saturierten und Reichen, ist eine Alltagsweisheit, die ehrwürdigen philosophischen und religiösen Traditionen entspricht.2 Zarathustra spürt dies und weiß davon, obwohl dieses -

Eine Vorstufe der folgenden Interpretation des Nachtliedes findet sich in J. Kjaer, Friedrich Nietzsche. Die Zerstörung der Humanität durch Mutterliebe, Opladen 1990, 205 f. 2 Vgl. Piaton, Symposion: „Liebe ist zuerst Liebe zu etwas und dann Liebe zu dem, wonach jemand ein Bedürfnis hat" (230) und „göttlicher ist der Liebhaber als der Liebling, weil in ihm der Gott ist" (213). Jesu Wort von den geistlich Armen, die selig sind (Mathäus 5,3), könnte eine ähnliche Weisheit einschließen. So träfe das Prinzip für den griechischen Eros wie auch für die christliche Agape zu. 1

Jörgen Kjaer

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Wissen sich bei ihm, wie ich meine, nicht als Weisheit qualifiziert. Um den Sachverhalt in der Bildlichkeit des Liedes kurz zu formulieren: Die Nächtigen sind es, die lieben können und dadurch die Vorteile des Lichtes genießen, während das Existieren als reines bedürfnisloses, selbstgenügsames Licht von der Liebe ausschließt und einsam macht: „Oh, ihr erst seid es, ihr Dunklen, ihr Nächtigen, die ihr Wärme schafft aus Leuchtendem! Oh, ihr erst trinkt euch Milch und Labsal aus des Lichtes Eutern!" (KSA 4, 137 f.) Die Sonne, die angeblich einen großen Reichtum besitzt, immer schenkt und deren Herz und Hand sogar „Schwielen" haben, und zwar „vor lauter Austheilen" (KSA 4, 137), ist arm, gerade wegen dieses Schenkens nicht ärmer an dem, was sie schenkt, sondern an der Liebe, aus der sie schenken sollte. Die Nächtigen sind seliger als der sonnenhaft Scheinende und die Nehmenden seliger als der Schenkende, weil es die Nächtigen und Nehmenden sind, die wegen ihrer Bedürftigkeit die „Potenz" haben, den zu lieben, der das besitzt, was ihnen fehlt. Die Sonne kennt das Glück des Nehmenden nicht, daher klagt und singt sie: „Ach, Durst ist in mir, der schmachtet nach eurem Durste!" (KSA 4, 138) Daß die menschliche Liebe als solche paradox ist bzw. sich leicht als paradox darstellen läßt von dem, der es liebt, in paradoxen Sprüchen zu sprechen, bereitet keine Verständnisschwierigkeiten. Diese Paradoxie läßt sich geradezu sachlich begründen. Aber im Nachtlied geht es ja nicht nur um die unmittelbar verständliche sachliche Paradoxie, daß in der Liebe das unökonomische Prinzip herrscht: Je bedürftiger man ist, um so reicher ist man. Das eigentliche Paradoxon, das im Nachtlied die Interpretationskunst herausfordert, besteht darin, daß auch der Mangel an Liebe als Liebe deklariert wird. Unter bestimmten menschlichen Bedingungen hat aber auch diese Paradoxie eine sachliche Grundlage, die eine vernünftige Aufschlüsselung ermöglicht: Wenn ein Mensch irgendwann in seinem Leben einen anderen Menschen liebt und aus irgendeinem Grunde nicht nur den geliebten Menschen, sondern auch die Liebe und die Liebesfähigkeit selbst verliert, dann spürt und erkennt er wie kein anderer, welchen unersetzlichen Wert die Liebe hat und leidet entsetzlich. Dieses Leiden ist insofern mit Liebe vergleichbar, als es eine Bedürftigkeit ist, und zwar eine leidenschaftlich verzehrende, aber sie unterscheidet sich gleichzeitig radikal von der Bedürftigkeit eines Liebenden, insofern sie prinzipiell unstillbar ist, nicht wegen der Unerreichbarkeit des Objekts, sondern wegen ihrer eigenen sonderbaren widersprüchlichen Beschaffenheit, die es dem bedauernswerten Subjekt dieser Bedürftigkeit weder erlaubt, sich einer „normalen" Liebe hinzugeben noch einer romantischen Liebe auf Distanz. Er spürt eine Bedürftigkeit, die vergleichbar ist mit der eines Menschen, der an Gott geglaubt, aber diesen Glauben verloren hat und das Leben nun als sinnlos und leer erlebt und den Verlust um so stärker fühlt, als er sich noch an die verlorene Fülle des Glaubens erinnert. Solche Gefühle sind Ausdruck einer ganz anderen Art Bedürftigkeit als die Gefühle des sich nach dem/der Geliebten Sehnenden, sie werden durchaus nicht als der paradoxe Reichtum der Bedürftigkeit erlebt, sondern als ein den Lebenssinn zerstörendes Defizit, als ultimative Armut. Solche Gefühle setzen eben die Vorgeschichte eines sterblichen Menschen mit seiner Schwäche, Sensibilität, Bedürftigkeit, kurz: Liebesfähigkeit, voraus, der traurige und verhängnisvolle Verlust- und Enttäuschungserfahrungen mit der Liebe und dem Glauben gemacht hat. Man kann aber das Nachtlied nicht ohne weiteres auf der Grundlage dieser Sachlichkeit interpretieren, weil die Sonne eben auf keinen Fall als nächtig gelten will. Durch die Sonnenallegorie wird gerade die lebensgeschichtliche Genese und Herkunft des Leidens zielbewußt verleugnet und durch eine naturgegebene bzw. übermenschliche und jedenfalls schicksalhafte Genealogie ersetzt. Die Paradoxie, die aus menschlicher Perspektive entschlüsselt und verständlich gemacht werden kann, ist aus der übermenschlichen Sonnenperspektive -

Zarathustras Nachtlied

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menschlich unverständlich. Denn wie wäre es zu verstehen, daß irgendein Vorzug, eine Qualifikation, ein Können, ein Überfluß einen Menschen von dem normalen menschlichen Geben und Nehmen der Liebe ausschließen kann? Wie wäre es einem sterblichen Interpreten möglich, die Paradoxie aufzuschlüsseln, daß man wegen eines Überschusses, einer menschlich relevanten naturgegebenen Qualifikation von der Liebe ausgeschlossen sein und daß dieser Defekt als Liebe aufgefaßt werden kann? Oder sind wir vielleicht dazu genötigt, einfach die übermenschliche Perspektive hinzunehmen und sie gläubig gelten zu lassen, wenn wir nicht im voraus ungläubig eine Hermeneutik des Verdachts wollen walten lassen? Müssen wir an die Sonne glauben, oder müssen wir vielleicht selber zu Sonnen werden, um zu verstehen? Was könnte uns Sterblichen im menschlichen Sinne das Sonnenhafte bedeuten? Im Kontext des Zarathustra ist deutlich, daß Gold und Sonne vor allem Weisheit und schenkende Tugend bedeuten. Diese Tugend ist die Eigenschaft des nicht ressentimentvollen, des nicht abhängigen, des souveränen Menschen. Am Anfang des Werkes spricht Zarathustra die Sonne an:

„Du grosses Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest! Zehn Jahre kamst du hier herauf zu meiner Höhle: du würdest deines Lichtes und dieses Weges satt geworden sein, ohne mich, meinen Adler und meine Schlange. Aber wir warteten deiner an jedem Morgen, nahmen dir deinen Überfluss ab und segneten dich dafür. Siehe! ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zu viel gesammelt hat, ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken." (KSA 4, 11) Weisheit also, und zwar wie es bald danach heißt, die Weisheit, die die Lehre vom Übermenschen in sich schließt, ist es, was Zarathustra aus Lust am Schenken verschenken will. Zarathustra alias die Sonne ist wie Nietzsche ein Philosoph, der ja, wie man gemeinhin annimmt, die Weisheit bzw. das Wissen liebt. Zehn Jahre lang hat er in der Einsamkeit des Gebirges Weisheit gesammelt und will sie jetzt den Menschen schenken. Wieso sollte aber leuchtende Weisheit und Liebe zur Weisheit der Liebesfähigkeit hinderlich sein. Sind Weisheit und Liebe nicht eher verschwistert, als daß sie einander im Wege stünden, sind sie im Grande nicht die beiden Seiten eines Blattes? Man sollte m. E. das Wort sophia (Wissen, Weisheit) in der Wortfügung philo-sophia idealiter nicht als ein genitivus objectivus, bei dem man sich das Objekt des Liebens (philein) als von dieser Aktivität unabhängig vorhanden vorstellt, auffassen, sondern als einen genitivus subjectivus, bei dem man sich das Wissen als ein Produkt der Liebe und der Liebeserfahrangen vorstellt. Es geht bei der echten Philosophie um das Wissen, die Einsicht, die Weisheit der Liebe, die Weisheit, die nur aus Liebe entstehen kann, die aus und in Liebe dem anderen Menschen mitgeteilt und mit dem anderen geteilt wird. Solche Philosophie ist freilich in der abendländischen Philosophiegeschichte realiter selten. Wie könnte sich also Weisheit der Liebe und der Liebesfähigkeit entgegenstellen? Dies ist dann möglich, wenn es sich entweder um reine, formale Intelligenz, um verstandesmäßige, intellektuelle Potenz oder um ein bestimmtes nützliches Wissen und Können handelt, das für Machtzwecke eingesetzt wird. Wenn man Weisheit mit Verstand gleichsetzt oder sie als verfügbare Erkenntnis hypostasiert, als etwas, das es außerhalb der menschlichen Relationen und Erfahrungen gäbe oder das ohne Rücksicht auf andere Menschen selbstgenügsam gehäuft und zu Zwecken der Herrschaft angewandt werden könnte, dann entsteht allerdings der bekannte Konflikt zwischen Liebe und Macht. Solche Intellektualität und solchermaßen verstandene Häufung von selbstgenügsamem Wissen sollten aber nicht als besonders wert-

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volle Qualitäten verstanden werden, sie qualifizieren uns weder als Menschen noch als Übermenschen im Gegenteil: Sowohl wenn man, wie ich hier, aus alltäglichen menschlichen Erfahrungen heraus denkt als auch wenn man, wie Nietzsche, nicht nur versucht, das Übermenschliche zu denken, sondern auch aus der Perspektive des Übermenschen zu denken, muß man sich wohl einig sein, daß Intelligenz und Wissen ohne den wesentlichen Bezug auf andere Menschen human wertlos sind, ja sich geradezu zerstörerisch auf Humanität und Natur auswirken. Man muß an die Seelen anderer Menschen rühren, damit Wissen Wert hat. Die Sonne fragt mit Recht rhetorisch: „Sie nehmen von mir: aber rühre ich noch an ihre Seele?" Das Nachtlied handelt also nicht von trivialen Gegensätzen zwischen Wissen, Macht und Liebe. Aber es gibt eine dritte Möglichkeit des Konfliktes zwischen Liebe und Wissen: Wissen kann aus einer lebensgeschichtlichen Enttäuschung über den Umgang mit Menschen entstehen, aus beschädigter Liebe. Es kann sich um ein melancholisches, misanthropisches, demaskierendes Wissen handeln, aber solches Wissen ist ja kein aus natürlicher Potenz fließender Reichtum, der an die Seele anderer Menschen rühren will, sondern eben ein ambivalentes, zugleich auftrumpfendes und zurückgehaltenes, kontaktscheues, igelhaft abwehrendes und sich zurückziehendes Wissen. Es fragt sich, ob die abendländische Philosophie nicht weitgehend ein solches melancholisches Wissen ist, das aus beschädigter Liebe und/oder schlechtem Gewissen genötigt ist, sich selber und die Existenz und das Sein und Wesen seines Trägers zu rechtfertigen.3 Für Nietzsche selbst war ja bekanntlich das Wahr-

3 Pia Daniela Volz hat überzeugend nachgewiesen (Nietzsche Der lyrische Melancholiker, in: Jahresschrift der Förder- und Forschungsgemeinschaft Friedrich Nietzsche e.V., Bd. III, 1992/1993, Halle 1994), daß Nietzsches Lyrik grundsätzlich melancholisch ist. Wenn man auch nicht sagen kann, daß alle philosophischen Texte Nietzsches unmittelbar eine melancholische Welt- und Selbstsicht und ein melancholisches Welt- und Selbstverhältnis zum Ausdruck bringen, trägt doch bei näherer Analyse auch seine Philosophie, auch wenn sie sich heiter gibt, grundsätzlich den Charakter des Melancholischen. Dies ist insofern ein ernstzunehmendes Problem bei der Interpretation seiner Philosophie, als, wie gemeinhin angenommen, Nietzsche im Grunde mit seiner Philosophie den sentimental-nihilistischen Kult des Leidens durch seine tragische Philosophie überwinden wollte. Der dänische Ideengeschichtler Lars-Henrik Schmidt macht mit Recht gerade den Unterschied zwischen einer melancholischen und einer tragischen Philosophie zu einem wesentlichen typologischen Unterscheidungsmerkmal der heutigen Philosophien. Mit größter Klarheit arbeitet er den Unterschied zwischen Melancholie und Tragik heraus (L.-H. Schmidt, Den sociale excorsisme. Konstruktion af det sociale hos Rousseau og Nietzsche, Ärhus 1987, in dänischer Sprache mit englischer Zusammenfassung, 34 f.) und argumentiert anhand der späteren Texte Nietzsches mit großem Gewicht dafür, daß Nietzsches philosophische Bestrebungen daraufhinausliefen, eine tragische Philosophie zu begründen. Da seine Nietzscheinterpretation nicht eine hermeneutische ist, die darauf abzielt, primär Nietzsches Philosophie möglichst adäquat zu verstehen, sondern darauf, die Inspiration von Nietzsche für die Herausdestillierung einer „reinen" tragischen Philosophie zu nutzen, erübrigt sich für ihn die Frage, ob Nietzsches Philosophie sozusagen selber diese Reinheit erreichte. Das letztere bezweifle ich. Ich neige zu der Auffassung, daß der Grundzug von Nietzsches Philosophie sowie der der modernen abendländischen Philosophie überhaupt bei allen Versuchen, der Melancholie zu entkommen, ein melancholisch-narzißtischer, oder, mit der Bezeichnung Nietzsches, eine Philosophie des Ressentiments ist. Von der Psychologie meint Gilles Deleuze: „Weit entfernt, ein psychologisches Merkmal zu sein, ist der Geist der Rache vielmehr die Grundlage, auf der unsere Psychologie steht und von der sie abhängig ist. Nicht ist das Ressentiment der Psychologie geschuldet, vielmehr unsere ganze Psychologie ist, ohne es zu wissen, eine des Ressentiments." (G. Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, München 1976, 40 f.) Diese These könnte ebenso gut auf die abendländische Philosophie überhaupt zutreffen, zumal die Nietzsches, die von Deleuze als eine ganz andere Philosophie aufgefaßt wird. Vgl. dazu J. Kjaer, „Die Relevanz der Berücksichtigung von Nietzsches -

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Zarathustras Nachtlied

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heitsideal ein asketisches. In Ecce homo sagt Nietzsche selber, daß das Nachtlied der Schwermut entsprangen ist, diese Schwermut wird aber als Folgeerscheinung einer übermenschlichen Qualität gedeutet: Welche Sprache wird ein solcher Geist reden, wenn er mit sich allein redet? Die des Dithyrambus. Ich bin der Erfinder des Dithyrambus [...]. Auch die tiefste Schwermut eines solchen Dionysos wird noch Dithyrambus; ich nehme, zum Zeichen, das Nachtlied, die unsterbliche Klage, durch die Überfülle von Licht und Macht, durch seine Sonnen-Natur, verurtheilt zu sein, nicht zu lieben." (KSA 6, 345) „-

Sprache

Karl samt

Jaspers zitiert in seinem bekannten Nietzsche-Buch zustimmend gläubig diese Stelle einigen der paradoxen Formulierungen des Nachtliedes:

„Das Wesen des Erkennens sieht

er [Nietzsche] paradox darin begründet, aus der Liebe im die Liebe aufzuheben: ,Der erkennende verlangt nach aber entspringen, Erfolg mit und sich abgeschieden dies ist seine Leidenschaft.' den sieht Vereinigung Dingen Dabei gerät er in zwei ihn oder die Dinge für ihn vernichtende Bewegungen. Entweder soll sich ihm .alles in Erkenntnis auflösen' (,ein Streben, alles zu Geist zu machen') ,oder er löst sich in die Dinge auf (,sein Tod und dessen Pathos'). Die erste Möglichkeit (alles in Erkenntnis auflösen) gewinnt die Höhe ihrer Erfahrung in dem .Nachtlied'. Dies .Lied eines Liebenden' ist Nietzsches ergreifende Klage aus der Einsamkeit der klaren Wahrheit, als die er nicht geliebt wird und nicht mehr lieben kann, aber als die er sich verzehrt in der Bereitschaft des Willens zur Liebe, in einem unbestimmten, weltlosen und freundlosen Lieben: ,Licht bin ich: ach, daß ich Nacht wäre! Ich lebe in meinem eigenen Lichte, ich trinke die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen. Ich kenne das Glück des Nehmenden nicht Nacht ist es: ach! daß ich Licht sein muß! Und Durst nach Eine unerhörte, Nietzsche bezwingende Erfahrung hat hier und Einsamkeit!' Nächtigem! Überfülle von Licht, durch seine Sonnennatur, verurteilt zu Sprache gewonnen: ,durch sein, nicht zu lieben.' Das wäre die bei sich selbst bleibende, in sich vollendete Wahr-

zu

-

...

...

heit."4

An anderer Stelle heißt

es

bei

Jaspers:

„Der Grandzug von Nietzsches Leben ist sein Ausnahmesein. Er wird von allem wirklichen Dasein gelöst, von Beruf und Lebenskreis. Er findet nicht Ehe, nicht Schüler und Jünger, erbaut sich keinen Tätigkeitsbereich in der Welt. Er verliert den festen Wohnsitz und irrt von Ort zu Ort, als ob er suchte, was er nie findet. Aber dieses Ausnahmesein ist selber eine Substanz, ist die Weise von Nietzsches gesamtem Philosophieren."5

Kindheit beim Interpretieren und Gebrauch seiner Philosophie. Zwei Beispiele der Tradierung unbewältigter Probleme der Nietzscheschen Philosophie (Gilles Deleuze und Richard Rorty)", in: Nietzscheforschung, Bd. 1, Berlin 1994. 4 K. Jaspers, Nietzsche, Berlin/New York 1981, fotomech. Nachdruck der 4. Aufl. 1974, 229 f. 5 Ebd., 41.

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Jörgen Kjaer

Ohne Zweifel interpretiert Jaspers vollständig den Intentionen und dem Selbstverständnis Nietzsches gemäß, wie sie im Nachtlied zum Ausdruck kommen, denn die Qualifikationen der Sonne werden im Lied mit allen Mitteln als naturgegebene, unveränderliche und schicksalhafte Eigenschaften dargestellt. Schon das Sonnenbild signalisiert dieses Naturhaft-Notwendige: Eine Sonne muß scheinen, dort oben kreist und scheint sie, sie kann nicht anders, sie gehorcht einer höheren, tieferen bzw. inneren Notwendigkeit, dies wird sogar ausdrücklich betont: „Einem Sturm gleich fliegen die Sonnen ihre Bahnen, das ist ihr Wandeln. Ihrem unerbittlichen Willen folgen sie, das ist ihre Kälte." Interessanterweise hat aber Nietzsche an der zitierten Stelle in Ecce homo zunächst nicht vom Lieben, sondern vom Geliebt-Werden geschrieben, er schrieb zuerst: „verurtheilt zu sein, nicht geliebt zu werden", die letzten vier Worte streicht er durch und schreibt dafür „nicht zu lieben". Diese Worte streicht er dann auch durch, schreibt wieder „nicht geliebt zu werden", um dann bei der dritten Änderung bei „nicht zu lieben" zu bleiben.6 Was also im Lied als naturhaft-notwendig dargestellt wird, hat jedenfalls in Nietzsches eigener Interpretation nichts Notwendiges an sich, sondern ist Gegenstand einer anscheinend willkürlich schwankenden Selbstinterpretation, wobei es doch einen ganz entscheidenden Unterschied macht, ob das Problem der Sonne aus einem naturhaften Nicht-Lieben oder Nicht-Lieben-Können, das seinerseits einer übermenschlichen Weisheit, Potenz, Souveränität bzw. Aufgabe (einer Sonnen-Natur) entspringt,7 oder ob es aus einem kränkenden Nicht-geliebtworden-Sein in der Vergangenheit herrührt. Dies wäre ja eine Schicksalhaftigkeit allzumenschlichen Charakters, ein fatales Verhängnis, da dann die Eigenschaften und das ganze Gehabe der Sonne nicht originär wären, sondern eben reaktiv, und ihre Selbstinszenierung eine selbstbetrügerische Umdichtung des Defizitären und Reaktiven in Souveränität, Überfluß und Potenz, eine Umdichtung der Schwermut und Melancholie in Licht und Gold, und Nietzsches spätere Selbstinterpretation eine bestätigende Wiederholung dieses Selbstbetrugs. So hängt die Möglichkeit einer solidarischen Deutung des Nachtliedes und seiner Paradoxien davon ab, ob man die naturhafte und schicksalhafte Gegebenheit der übermenschlichen Qualitäten und Potenzen der Sonne gelten läßt bzw. an die schicksalhafte Notwendigkeit und Substanz der Aufgabe Zarathustras glaubt. Man muß an die vitale Potenz Zarathustras und/oder an seine moralische und geistige Befugnis glauben, sich überhaupt seine Zarathustrische Aufgabe zu stellen. Ähnlich denkt Jaspers: Man muß „an diese Aufgabe und an Nietzsches Bewußtsein dieser Aufgabe" glauben, um Nietzsche richtig zu verstehen.8 So 6 Vgl. J. Kjaer, Zerstörung der Humanität, 213. 7 Ein Thema, um das der spätere Nietzsche oft kreist, ist das Sich-notwendig-Machen. Wie im Begriff des Willens zur Macht schwingt in dem Begriff des Sich-notwendig-Machens deutlich der reflektierte Notstand mit, aus dem der sentimentale Wille geboren ist. 8 K. Jaspers, Nietzsche, 87. Alice Miller dagegen ist weit davon entfernt, an solche heroischen Aufgaben zu glauben. Mit ihrem Spürsinn für die wirklichen lebensgeschichtlichen Erfahrungen hinter den Texten dringt sie zu der Grundproblematik des Nachtliedes vor: „Das Kind war dazu da, um die andern zu verstehen, Geduld mit ihnen zu üben, ihnen alles nachzusehen, ihr Selbstgefühl zu bestätigen, aber niemals, um seinen Hunger nach Verständnis zu stillen. Die Tragik dieses Lösungsversuches, die Tragik des Schenkenden und des Durstenden beschreibt Nietzsche im Nachtlied. [...] Aus diesem Gedicht spricht der Neid auf diejenigen, die nehmen können, die als Kind Liebe bekommen konnten [...]." (A. Miller, „Das ungelebte Leben und das Werk eines Lebensphilosophen" [Friedrich Nietzsche], in: Der gemiedene Schlüssel, Frankfurt a.M. 1988, 64 f.) Für Miller dient bei Nietzsche Philosophie geradezu „als Schutz vor der Wahrheit" (73). Ich glaube, sie hat vollständig Recht. Dies verhindert aber nicht, daß Nietzsche in seiner Philosophie viele Wahrheiten, vor allem unangenehme Wahrheiten, aufdeckt und ausspricht,

Zarathustras Nachtlied

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also daran, ebenso wie „vollendeten Wahrheit" gelten läßt.

glaubt Jaspers

er

im Ernst die

Möglichkeit

Wie es aber in Nietzsches Leben mit dieser Aufgabe und ihrer verrät er selber in einem Brief an seinen Freund Rohde:

„[...]

es

ist mir zu schwer

zu

leben,

wenn

ich

es

einer

hypostasierten

Notwendigkeit bestellt ist,

nicht im grössten Stile thue, im Ver-

gesagt, mein alter Kamerad! Ohne ein Ziel, welches ich nicht für unaussprechlich wichtig hielte, würde ich mich nicht oben im Lichte und über den schwarzen Fluthen trauen

gehalten haben!

Dies ist eigentlich meine einzige Entschuldigung für diese Art Litteratur, wie ich sie seit 1876 mache: es ist mein Recept und meine selbstgebraute Arzenei gegen den Lebens-Überdraß." (KGB HI/1, 226) Im Klartext: Als Kompensation für die beschädigte Liebe und das daraus folgende melancholische Nicht-lieben-Können muß Nietzsche, um überhaupt leben zu können, eine Aufgabe erdichten, an deren Notwendigkeit und unendliche Wichtigkeit er glaubt. Kann man aber aus einer Erfahrung der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins an die Kontingenz der sozialen Welt sich selber und seine Aufgabe auf glaubwürdige Weise notwendig machen? Läuft dies nicht auf denselben Widersinn hinaus wie das Unterfangen, seine desillusionierende Einsicht in die Absurdität des Daseins bewußt mit neuen Illusionen verschleiern zu wollen?9 Den Verdacht einer solch bedauernswerten lebensgeschichtlichen Fatalität mit daraus folgenden widersinnigen Unterfangen legen viele Aussagen der Sonne nahe. Das Lied spricht eben nicht die Sprache der Liebe, sondern die dithyrambische Sprache des mit sich allein sprechenden schwermütig-melancholischen Zarathustra, der eben durch diese Sprache seine Schwermut zu überspielen versucht, dem es aber eben nicht gelingt, Kot in Gold zu verwandeln. Die wirkliche Fatalität der Sonne ist gewiß auch tragisch, aber es ist eine Tragik ganz anderer Art, als die von Jaspers angenommene, besteht doch ein abgrundtiefer Unterschied zwischen einer Lebensaufgabe, die angeborenen Eigenschaften und potentem Überfluß (einer Überfülle an Licht und Macht) mit der Notwendigkeit einer Naturkraft entspringt, und einer Lebensaufgabe, die man nötig hat, um seine Schwermut auszuhalten, um unerträglich-kränkende Lebenserfahrungen etwa Liebesverlust und Enttäuschungs- und Ohnmachtserfahrungen zu kompensieren. Die Sonne des Nachtliedes postuliert und suggeriert den Besitz einer glänzenden und belebenden Weisheit und auch eine exorbitante Lebenspotenz und Souveränität. Der Inhalt im einzelnen und der Tonfall der vielen Klagen dementieren aber ständig dieses Grandpostulat. Der Widersprach ist fundamental und hat den Charakter eines performativen Widerspruchs.10 -

-

aber, wie es im Nachtlied der Fall ist,

so kann er dies nur tun, weil er in dem entscheidenden lebensgeschichtlichen Punkt sich selber monumental betrügt. So sind denn viele seiner Wahrheiten als solche tief problematisch, nicht nur weil sie auf einem Fundament der Lüge ruhen, sondern auch weil die Lüge selber ein integraler Bestandteil der Philosophie ist, die die Wahrheit verbergen soll, ja vielleicht sind gerade seine krudesten Wahrheiten die wichtigsten Tarnmittel. 9 Vgl. zu diesem Grundproblem J. Kjaer, „Nietzsches Naumburger Texte: Synkretistische mythopoetische Theodizee oder antichristliche Theodizeekritik?", in: Nietzscheforschung, Bd. 2, Berlin 1995, 341 f. 10 Ich habe im vorhergehenden biographische Dokumente nicht deswegen herangezogen, weil ich etwa der Meinung wäre, daß das, was ein Dichter im Vertrauen einem Freund zu einem bestimmten Thema sagt, auf seine poetischen Produkte mit verwandtem Thema direkt übertragbar ist bzw. überhaupt einen hermeneutischen Wert haben muß. Da aber Nietzsche bekanntlich aus eigenen Lebenserfahrungen

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Dieser Widerspruch läßt sich nicht in einer solidarischen Lesestrategie als integrales Textelement verstehen. Es hilft auch nichts, wenn man die Widersprüche dadurch zu integralen Elementen der ästhetisch-rhetorischen Textstruktur machen will, daß man sie als selbstparodistisch auffaßt. Erstens fehlen im Gedicht deutliche textliche Indizien dafür und zweitens würde eine solche Deutung die absurde Konsequenz implizieren, daß das ganze Werk des Zarathustra, mit dem Nietzsche sich selber und sein ganzes Leben notwendig machen und vor der Menschheit rechtfertigen wollte und sich gerechtfertigt zu haben meinte, als im radikalsten Sinne selbstparodistisch gedeutet werden müßte. In diesem Punkt verstand Nietzsche aber zu dieser Zeit durchaus keinen Spaß. Dagegen gibt es keine größeren Interpretationsschwierigkeiten, wenn man kritisch den Text als die selbstbetrügerische Klage eines Melancholikers liest, der mit der Liebe bittere Erfahrungen gemacht hat und der es daher einerseits nötig hat, sich als den grandios Schenkenden zu idealisieren, um als solcher bewundert zu werden, andererseits aber ständig seine Geschenke rachsüchtig zurücknimmt, weil man ihn nicht genug liebt und bewundert oder weil er das Lieben und GeliebtWerden als eine Erniedrigung erlebt. Wenn man die solidarisch-gläubige Hermeneutik Jaspers' gegen eine Hermeneutik des Verdachts austauscht, den Text symptomatisch liest, die suggerierte Grundvoraussetzung der zarathustrischen Sonne fallen läßt und heuristisch

schreibt und zudem Philosophie als Lebensausdruck, -symptom und -Weisheit betrachtet, und da seine Texte von sich aus den Eindruck erwecken, aus eigenster Erfahrung geschrieben zu sein, aber gleichzeitig diese Erfahrungen mystifizierend interpretieren und rhetorisch verschlüsseln, so daß man bei der Interpretation auf Schritt und Tritt auf Rätsel, Dunkelheiten und Widersprüche stößt, legen sie die Heranziehung von biographischen und autobiographischen Dokumenten nahe. Das Nachtlied ist ein typisches Beispiel für solche mystifizierte Lebenserfahrung. Als Lied demonstriert es auf der übergeordneten Ebene der Rede performativ und paradigmatisch selbst die Beziehungsfalle des gleichzeitigen Gebens und Zurücknehmens, die die Sonne im Rahmen des Liedes eindrucksvoll thematisiert und formuliert: „Ein Hunger wächst aus meiner Schönheit: wehetun möchte ich Denen, welchen ich leuchte, berauben möchte ich meine Beschenkten: also hungere ich nach Bosheit. Die Hand zurückziehend, wenn sich schon ihr die Hand entgegenstreckt; dem Wasserfalle gleich zögernd, der noch im Sturze zögert: also hungere ich nach Bosheit. Einerseits hat der Redende einen wahren Heißhunger danach, sich wahrhaft mitzuteilen, andererseits ist er zu stolz, die Wahrheit seiner kläglichen Existenz wahrhaftig zu offenbaren, weshalb er sofort wieder das Mitgeteilte zurücknimmt, das verbirgt, was er gerade entbergen wollte. Diese Beziehungsfalle ist ein charakteristischer Zug vieler Nietzschescher Texte, sowie seiner praktischen Kommunikation mit seinen Freunden und Verwandten. In der Zeit nach dem Zusammensein mit Lou in Tautenburg häufen sich die Beispiele solcher Double-bind-Kommunikation, besonders im Briefwechsel mit der Mutter und der Schwester. Wenn man das oft genug beschriebene widerspruchsvolle Verwirrspiel der Nietzscheschen Texte entwirren will, braucht man oft nur diese Tendenz zu berücksichtigen, damit die Aussage sich in dem Sinne entwirrt, daß diese Art Verwirrung als ein integrales aber unbewußtes strukturelles Moment der Rede identifiziert wird. Ein anderes wichtiges Argument für den hermeneutischen Wert des zitierten Bekenntnisses an Rohde ist, daß Nietzsche in seinen Briefen und autobiographischen Aufzeichnungen durchaus keinen Hehl daraus macht, daß dem Zarathustra eigene Lebenserfahrungen zugrunde liegen, und daß daraus sich interpretatorische Schwierigkeiten ergeben müssen. Dies spürt auch z. B. Georg Brandes, der in einem Brief an Nietzsche schreibt: „Die Jugendschriften die unzeitgemässen sind mir sehr nützlich gewesen. Wie Sie jung waren und enthusiastisch, auch offen und naiv! Vieles in den reifen Büchern verstehe ich noch nicht recht, Sie scheinen mir oft ganz intime, ganz persönliche Data umzudeuten oder zu generalisiren und geben dem Leser einen schönen Schrein ohne den Schlüssel." (KGB III/6, 184 f.) Wir, die wir u. a. auf der Grundlage der im Briefwechsel Nietzsches enthaltenen Informationen und in Kenntnis seiner frühen Texte interpretieren können, sind wesentlich besser gestellt als Brandes und seine Zeitgenossen. Diesen Vorteil sollten wir nutzen. -

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adäquate und nur allzu häufig vorkommende Lebensgeschichte eines abendländischen Philosophen konstruiert, die nachweisbar auch die Nietzsches ist, lösen sich die Interpretationsschwierigkeiten auf. Zu dieser Lebensgeschichte gehört vor allem das Granderlebnis, nicht geliebt worden zu sein bzw. sich nicht geliebt, verstanden und geachtet gefühlt zu haben. Dieses Erlebnis schließt keineswegs aus, daß die Sonne bzw. Zarathustra/Nietzsche nicht auch, vielleicht sogar gleichzeitig, erlebt hat, daß sie immer schenkt, und daß andere

eine

ihr das Geschenkte abnehmen. So hat es der Vater Zarathustras, Nietzsche, tatsächlich manchmal selbst erlebt. Es gibt auch viele Quellen, die dokumentieren, daß Nietzsche nicht nur sehr bewundert, sondern auch tatsächlich von vielen Menschen geliebt wurde bzw. daß viele sich beschenkt fühlten und ihm dankbar waren, so z. B. Erwin Rohde und Heinrich Köselitz (wobei ich von der problematischen Liebe der Mutter und Schwester absehe). Tragischerweise erlebte er dies niemals als die Liebe, derer er bedurfte, bzw. er konnte mit der ihm dargebrachten Liebe nichts anfangen, da er in jedem Liebesverhältnis fürchtete, sich selber zu verlieren. Ohne Zweifel hat Nietzsche tatsächlich bis kurz vor seinem Zusammenbrach seine Situation so erlebt, wie die Sonne sie ausdrückt: Er möchte gern lieben können, vertraulich mit den Menschen, den Nächtigen und Bedürftigen verkehren, fühlt sich aber grundsätzlich und fatal davon abgeschnitten. Seine Schwierigkeiten mit der Liebe bekennt Nietzsche mit seltener Offenheit in einem Briefentwurf an die Schwester:

„Ich bin viel zu stolz als je zu glauben, daß ein Mensch mich lieben könne: dies würde nämlich voraussetzen, daß er wisse, wer ich bin. Ebensowenig glaube ich daran, daß ich je Jemanden lieben werde: das würde voraussetzen, daß ich einmal Wunder über Wunder! einen Menschen meines Ranges fände Vergiß nicht, daß ich solche Wesen wie Richard Wagner oder A. Schopenhauer eben so sehr verachte als tief bedaure und daß ich den Stifter des Christenthums als oberflächlich empfinde im Vergleich mit mir ich habe sie alle geliebt, als ich noch nicht begriff, was der Mensch ist." (KGB III/3, 24) -

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Hier redet die stolze Sonne, die weder lieben kann und will, noch geliebt werden will, weil sie dies als eine Art Majestätsbeleidigung empfinden würde. Anderswo unterstreicht er sein Bedürfnis nach Kommunikation und emotionalem Austausch und erklärt das Problem eher aus einem kontingenten Defizit an Partnern. So schreibt er in einem Brief an Elisabeth:

„[...] ich bin nicht umsonst

so tief krank gewesen und noch jetzt durchschnittlich krank wie gesagt, weil es mir am rechten milieu fehlt und ich immer etwas Komödie spielen muß, statt mich an den Menschen zu erholen. Ich betrachte mich deshalb ganz und gar nicht als einen versteckten oder hinterhältigen oder mißtrauischen Menschen; im Gegentheil! Wäre ich's so würde ich nicht so viel leidenl Man hat es aber nicht in der Hand, sich mitzutheilen, wenn man auch noch so mittheilungslustig ist, sondern man muß den finden, gegen den es Mittheilung geben kann. Das Gefühl, daß es bei mir etwas sehr Fernes und Fremdes gebe, daß meine Worte andere Farben haben als dieselben Worte in andern Menschen, daß es bei mir viel bunten Vordergrund giebt, welcher täuscht genau dies Gefühl, das mir neuerdings von verschiedenen Seiten bezeugt wird, ist immer noch der feinste Grad von ,Verständniß\ den ich bisher gefunden habe." (KGB HI/3, 52 f.) -

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Nietzsche scheint sich zu diesem Zeitpunkt noch keine Gedanken darüber gemacht zu haben, ob nicht das Selbstbild und die Einstellung anderen Menschen gegenüber, die er in dem

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Briefentwurf an die Schwester zu Papier brachte, wesentlich dazu beitragen, daß er keinen Partner fand, dem gegenüber es Mitteilung geben konnte. Viel eher, als an Nietzsches Aufgabe kritiklos zu glauben, muß man Nietzsche seine traurigen Erfahrungen glauben, und es ist auch nicht schwer, sich in sie hineinzuversetzen. Es ist nicht schwer zu verstehen, daß es bei den Lebenserfahrungen der enttäuschten Liebe und der mißbrauchten Sensibilität notwendig sein kann, seine Gekränktheit und Fremdheit narzißtisch zu kultivieren, sich überheblich von anderen zu distanzieren und die gewöhnliche, „gemeine" menschliche Liebe und das Mitleid philosophisch als Schwäche zu devaluieren. Auch ist es sehr verständlich, daß er dabei ständig, ohne es selbst einzusehen, der Double-bind-Kommunikation verfällt, in der er um Liebe bettelt oder sie geradezu fordert, und gleichzeitig sich jede Liebe verbittet und die Möglichkeit, jemand könnte ihn verstehen, ausschließt. Aber solche allzumenschlichen Verteidigungsstrategien sollten nicht als Weisheit interpretiert werden. Die melancholische Sonne macht aus ihrer Not eine Tugend: Die schweren Qualen, die eine allzumenschliche lebensgeschichtliche Herkunft haben, werden einer quasi naturgegebenen übermenschlichen Genealogie und Potenz zugeschrieben. So kann er sein eigenes Leiden pathetisch-selbstmitleidig „bekennen", bewundern und genießen. Die Reaktivität aus Ohnmacht und enttäuschter Liebe wird in Souveränität und Potenz umgelogen. Das Grandparadoxon, daß die Sonne trotz oder sogar wegen ihres prätendierten Reichtums und ihrer Selbstgenügsamkeit und Souveränität die Nächtigen um ihre Bedürftigkeit beneidet, läßt sich somit lebensgeschichtlich und genealogisch leicht entschlüsseln, wenn man dem lyrischen Ich nicht seine solare Herkunft glaubt, sondern ihm eine menschliche Lebensgeschichte zuschreibt. Nur muß man den Preis in Kauf nehmen, daß das eine Glied des Paradoxons, die Grundvoraussetzung, an der die Glaubwürdigkeit der pathetischen Klage hängt, und zwar die postulierte und suggerierte sonnenhafte Souveränität, dann eine faustdicke Lüge ist. Das Paradoxon birgt keine tiefe menschliche Weisheit, die unser Verständnis der menschlichen Liebe vertieft, sondern verbirgt eine Lebenslüge, die Einsicht und Erfahrungen verfälscht. Erst wenn man diese Verfälschung durch eine Hermeneutik des Verdachts entschleiert hat, kommt die melancholische Weisheit Zarathustras an den Tag. Man könnte auch sagen: Gerade weil Nietzsche sich vor der kränkenden und demütigenden Einsicht in sein menschliches Defizit dadurch schützt, daß er sich mit der übermenschlichen Sonne identifiziert, seinem Defizit eine vornehmere, natur- und schicksalhafte Genealogie andichtet, kann er im einzelnen den narzißtischen Melancholiker mit so viel psychologischem Realismus darstellen, als hätte er Alice Millers Buch Das Drama des begabten Kindes gelesen. Dieser Realismus ist also keineswegs mit schonungsloser Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit verbunden, sondern im Gegenteil nur durch einen fundamentalen Selbstbetrug möglich. Damit möchte ich die ästhetischen Qualitäten bzw. die sprachliche Meisterschaft Nietzsches nicht devaluiert haben. Andererseits gibt es für mich keinen ästhetischen Wert, der von dem Wahrheitswert des Textes im Sinne Gadamers abstrahiert werden könnte. Wenn man, wie ich, Gadamers Gesichtspunkt der ästhetischen Nicht-Unterscheidung teilt, muß man wohl sagen, daß dem Dichter das Alchimistenkunststück, Kot in Gold zu verwandeln, nicht gelungen ist.11 Dafür

11

Ähnlich denkt Hermann Josef Schmidt und bringt seine Gedanken auf ein schönes Bild : „Ist der Midas-

Mythos nicht von tiefer Symbolik für Nietzsche: gert, ist

Schmidt,

er ist trotz seines reichen Denkens emotional verhunihm zerbrochen; doch für uns könnte es lauteres Gold der Erkenntnis sein [...]." (H. J. Nietzsche absconditus, Bd. II: Jugend, Berlin/Aschaffenburg 1993, 400)

an

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stellt meine Interpretation weder die wirklichen Erfahrungen, die dem Gedicht zugrundeliegen, noch die rhetorische Meisterschaft der Sprache, und auch nicht die im Lied enthaltenen Erkenntnisse in Frage im Gegenteil. Aber m. E. kann man nur geleitet von einer Hermeneutik des Verdachts zu diesen Erfahrungen durchdringen, sie ernstnehmen und den allzumenschlichen und tragischen Sinn der Klagen im einzelnen wie im ganzen verstehen, während eine solidarische Hermeneutik diese Erfahrungen nicht bemerken und sie daher auch nicht ernstnehmen und verstehen kann, und den Selbstbetrug, durch den Zarathustra/Nietzsche seine Erfahrungen verfälscht und umlügt, in der Interpretation arglos reproduziert.12 -

Von der Armut des Reichsten Die thematische Ähnlichkeit dieses neunten und letzten Dionysosdithyrambus mit dem Nachtlied Zarathustras ist so deutlich, daß die Annahme sich aufdrängt, Nietzsche rekurriere im Dithyrambus auf dieses Gedicht. Die beiden Texte lassen sich lesen, als verhielten sie sich zueinander wie Rätsel und Lösung, wie eine Lüge zur Entschleierung dieser Lüge, oder vielmehr wie ein Selbstbetrug zu einer Entschleierung dieses Selbstbetrugs. Diese augenfällige Komplementarität war in der Nietzsche-Forschung meines Wissens bisher kein Thema, obwohl es sich um zentrale Gedichte und zentrale Probleme bei Nietzsche handelt.14 Es geht im Dithyrambus um dieselbe Grundproblematik wie im Nachtlied, und zwar um die Problematik und Paradoxie des Nicht-Lieben-Könnens und des Nicht-Geliebt-Werdens wegen eines angeblichen Reichtums, um die Schwierigkeiten des Gebens und Nehmens bei behauptetem Überfluß. Die Gedichte unterscheiden sich jedoch hinsichtlich des Stils und der Form, und auch inhaltlich und perspektivisch sind aufschlußreiche Verschiebungen zu verzeichnen, die an den formalen und stilistischen Strategien des Dithyrambus abgelesen werden können. Wie das Nachtlied ist der Dithyrambus auf starken Paradoxien aufgebaut, diese bringen aber nicht mehr pathetisch eine Klage zum Ausdruck, die ernstgenommen werden kann, sondern lassen sich am besten als aufklärende Ironie auffassen und sind damit einer solidarischen Interpretation zugänglich. Wo die Paradoxien im Nachtlied mystifizierend dem Selbstbetrug dienen, kann man hier kaum umhin, sie so zu lesen, als zielten sie konsequent auf die Entschleierung des grandios inszenierten Selbstbetrugs. Sie lassen sich ohne weiteres als textimmanente Schlüssel der Interpretation verstehen. Der Reichtum und der Überfluß sollen im Nachtlied in irgendeinem Sinne als wirklicher Reichtum und Überfluß gelten. Erst wenn man gegen den Strich eine Hermeneutik des Verdachts mobilisiert, lösen sich die Paradoxien auf, die sonst eine schlüssige Interpretation verhindern. Im Dithyrambus wird dagegen von Anfang an im Text selbst zumal durch groteske Paradoxien der Verdacht erweckt. Das Problem, von dem im Dithyrambus ausgegangen wird, ist die seelische Dürre, die aus der Erfahrung der Lieblosigkeit und Verständnislosigkeit der anderen herrührt, und der Schluß -

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12 13 14

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Andere Beispiele dafür habe ich in „Die Relevanz" angeführt. KSA 6, 406 f. Nur bei Grundlehner finden sich ein paar Kommentare zur thematischen Ähnlichkeit der beiden Gedichte, bei Groddeck aber nicht, obwohl er im Prinzip die Dithyramben im Kontext des Zarathustra liest. Aus Platzgründen muß hier auf eine ausführliche Diskussion dieser beiden Interpretationen verzichtet werden.

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formuliert das Rezept, das diese einsame Existenz ohne Liebe und seelischen Austausch allein beenden kann, und zwar daß Zarathustra sich eben seiner solaren Grandiosität begebe und ärmer werde. Was im Nachtlied suggestiv als tragisch-heroisches und notwendiges Schicksal dargestellt und vorausgesetzt wird, wird im Dithyrambus Zarathustra ironisch verulkend als selbstverschuldeter Irrtum und willkürliche Pose aus reaktiver Nötigung demaskiert: „Aber wer sollte dich auch lieben, / du Überreicher? / Dein Glück macht rings trocken, / macht arm an Liebe" (KSA 6, 409). Gerade die Selbstinszenierung als gleichzeitig souveränes, überreiches, selbstgenügsames und notwendiges Wesen mit einer schicksalhaften Aufgabe, die im Nachtlied die Voraussetzung des suggestiven Pathos war und nicht selbstreflexiv thematisiert wurde, wird jetzt als Thema in den Vordergrund gerückt und ad absurdum geführt. Im Gegensatz zum Lied, das monologisch ist und aus einer Kette von relativ selbständigen Sprüchen besteht, in denen die klagende Sonne ihre Klage ständig kreisend variiert, ohne daß sich eine deutliche Entwicklung abzeichnet, ist der Dithyrambus sowohl dialogisch als auch dialektisch, zudem straff und zielstrebig komponiert, und die Komposition unterstreicht sozusagen die unerbittliche Logik der aus den verschiedenen gegensätzlichen Stimmen hervorgehenden Einsicht. Der Dithyrambus ist dreigeteilt: In den ersten sieben Strophen klagt Zarathustra darüber, daß niemand ihn liebt, und nimmt sich vor, sich damit zu versöhnen, und dabei sogar die Liebe, die ihm von außen nicht entgegengebracht wird, selber zu ersetzen. Strophe acht und neun sind die Peripetie, wo Zarathustras ersehnte süße Wahrheit erscheinen soll. Strophe zehn bis achtzehn präzisieren und variieren dann die furchtbare, demaskierende Wahrheit, die schon von einer Stimme im ersten Teil angekündigt wurde. Wichtig ist, daß schon am Anfang des Dithyrambus eine aufschlußreiche Verschiebung der Thematik und Perspektive des Nachtliedes stattgefunden hat: Der Anlaß der Klage ist nicht der Fluch, nicht lieben zu können, sondern der Fluch, nicht geliebt zu werden bzw. nicht geliebt worden zu sein, also genau das, was im Manuskript des Ecce homo zwar zuerst geschrieben, aber dann sofort durchgestrichen wurde, weil es nicht mit dem solaren Pathos und der Zarathustrischen Selbstinszenierung zuammenpaßte. Der Rückgang auf eine lebensgeschichtliche Voraussetzung der im Nachtlied dargestellten Problematik verändert die Perspektive total, unabhängig davon, ob hier eine autobiographische Referenz zum Leben Nietzsches angenommen wird oder nicht, denn das lebensgeschichtliche Problem als solches wird textimmanent thematisiert. Die Sonne spricht im Lied ihrem eigenen Selbstverständnis zufolge aus schicksalhafter Notwendigkeit, während im Dithyrambus Zarathustra 1 aus der Perspektive des Reaktiven spricht und handelt, worauf Zarathustra 2 durch seinen Spott hinweist. Erst aus der enttäuschten Liebe entsteht die Nötigung, sich narzißtisch selber lieben und alles selber kontrollieren und erschaffen zu müssen. Erst nach der Einleitung, die die Vorgeschichte der Problematik darstellt, taucht das vom Nachtlied bekannte Thema des überfließenden Reichtums auf. Die Selbstgenügsamkeit des Sich-selber-Tröstens-und-Liebens wird also schon in der ersten Strophe explizit als eine Reaktion auf die Erfahrung des Nichtgeliebt-Werdens dargestellt, und somit als eine in sich widersprüchliche Geste. Eine Selbstgenügsamkeit, die darin besteht, man solle sich selber mit Liebe beschenken, ist natürlich von vornherein ein Widersinn, vergleichbar dem Graffiti-Witz „Hilf der Polizei, verhau dich -

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selber". Im Werk Nietzsches finden sich überhaupt viele Formulierungen, in denen er eine ausweglose Situation, eine Ohnmacht in souveräne Bemeisterung, Selbstbefriedigung und Autarkie umdeutet, aber ständig wird dabei eben die Genese aus der Ohnmacht verschleiert oder verleugnet und das Selbstverhältnis als eine originäre schicksalhafte Tatsache darge-

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stellt: Nietzsche/Zarathustra will sich selber Gesetze geben, sich selber richten, sich selber erschaffen, sich selber erzeugen und gebären, sich selber segnen, sich selber heilen, sich selber rechtfertigen, sich selber notwendig machen, sich selber verewigen und vergöttlichen bzw. stellt all dies als das Kennzeichen des potenten Ausnahmemenschen dar. Im Gegensatz

anderen vergleichbaren Stellen wird aber im Dithyrambus die allzumenschliche Herkunft dieses übermenschlichen bzw. Münchhausenschen Projektes mit ironischem Tonfall von Anfang an kenntlich gemacht. Zwar ist es heutzutage eine Binsenwahrheit, man müsse sich selber lieben, um sich im Dasein zu behaupten und um andere lieben zu können, dies wird in jeder Anleitung zur seelischen Gesundheit betont,15 damit ist aber natürlich nicht narzißtische Selbstbezogenheit gemeint, die gerade jede echte Beziehung zu anderen verhindert und die tragischerweise am besten als die Reaktion darauf zu verstehen ist, daß der solchermaßen in sich selbst Befangene sich nicht geliebt und angenommen gefühlt hat. Das Selbstverhältnis spiegelt sozusagen immer das Verhältnis zu anderen Menschen16 und bewährt sich in der Beziehung zu anderen Menschen. Hermann Josef Schmidt hat überzeugend nachgewiesen, daß schon der ganz junge Nietzsche dazu neigte, intersubjektive Beziehungen zu intrasubjektiven Beziehungen zu transformieren.17 Diese Tendenz steigert sich bei wie allmählich ohne ich ins daß diese Absurdität den Charakter Nietzsche, meine, Absurde, des eigentlich und deutlich Selbstparodistischen annimmt. Der letzte Dithyrambus stellt aber ausnahmsweise gerade den Gegensatz zwischen der illusorischen Selbstgenügsamkeit der Souveränität, die in Wirklichkeit narzißtische Selbstbezogenheit ist, und der Abhängigkeit von anderen als eine universale Existenzbedingung dar. Der Wille zur Armut könnte der Widerruf des Willens zur Macht, des Pathos der Distanz und der radikalen Philosophie der Rangordnung sein und Anerkennung der Tatsache bedeuten, daß man sich als Mensch dem Ausgeliefertsein an andere Menschen nicht entziehen kann, ohne sich eine noch schlimmere Lage einzuhandeln, und zwar nicht nur die Einsamkeit, sondern auch das Ausgeliefertsein an eine noch grausamer richtende Instanz, und zwar an sich selbst. Und er könnte die dämmernde Einsicht bedeuten, daß das Ausgeliefertsein an die anderen nicht nur eine Qual bedeuten muß, sondern auch die Möglichkeitsbedingung der Liebe ist. Hat Nietzsche kurz vor seinem Zusammenbrach seinen lebenszerstörenden Narzißmus und Souveränitätswahn, seine Psycho-Logik und deren selbstbetrügerischen philosophischen Überbau in aller Klarheit eingesehen? So fände im letzten Dithyrambus seine radikalste Umwertung statt die Umwertung seiner eigenen Philosophie und seines eigenen Lebens.18 Ist es offensichtlich widersinnig, die Liebe anderer mit Eigenliebe, das Verständnis von Seiten anderer mit Selbstverständnis ersetzen zu wollen, ist es vielleicht nicht ganz so widerzu

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Auch Nietzsche formuliert diese Wahrheit, und zwar zu einer Zeit, wo christliches oder moralistisches Denken vorherrschte und wo sie daher noch nicht zu einer Binsenwahrheit geworden war. „Man muss sich selber lieben lernen also lehre ich mit einer heilen und gesunden Liebe: dass man es bei sich selber aushalte und nicht umherschweife. (KSA 4, 242) Es erforderte damals Mut, dies überhaupt laut zu sagen. 16 Vgl. dazu J. Kjaer, Zerstörung der Humanität, 21 f. 17 H. J. Schmidt, Nietzsche absconditus, Bd. I: Kindheit, Berlin/Aschaffenburg 1991, 123. 18 Auf Groddecks ungeheuer gründliche Rekonstruktion der Textgenese der Dionysosdithyramben mich stützend, gehe ich davon aus, daß sie im wesentlichen erst in der letzten Hälfte des Jahres 1888 entstanden sind, obwohl sie früher angekündigt wurden. (W. Groddeck, Friedrich Nietzsche „DionysosDithyramben", Bd. 1: Textgenetische Edition der Vorstufen und Reinschriften, Berlin/New York 1991, XX f.) 15

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sich mit seiner eigenen Weisheit beschenken zu wollen: Durch selbständiges Nachdenken kann man schon klüger werden. Ein solches Klüger-Werden gestaltet das Gedicht wirkungsvoll, aber nicht als die Entfaltung eines vernünftigen Räsonnements, sondern als eine parodistisch inszenierte Peripetie bzw. einen dialektischen Umschlag: Die für Zarathustra unerwartete und schockierende Wahrheit, die den aufmerksamen Leser allerdings nicht im geringsten verblüfft, ist ein Ergebnis des grotesken Selbstbetrugs Zarathustras, seines widersinnigen Projektes. Das Gedicht demonstriert sozusagen den dialektischen Umschlag des übersteigerten Selbstbetrugs in die entschleiernde nackte Wahrheit, indem es das Verhalten eines Heiligen imitiert, der von einem unbezwinglichen Drang zu Unflätigkeit und Blasphemie überwältigt wird. So könnte auch Nietzsche, der sich trotz Perioden der Manie physisch und psychisch immer elender, und absolut nicht unmittelbar als Übermensch fühlt, durch seine immer megalomanere literarische Selbstinszenierung das Gefühl provoziert haben, er sei doch nur ein lächerlicher, ohnmächtiger Hanswurst, und zwar auf dem Gebiet, auf dem gerade ein nicht-gläubiger Mensch allein selig werden kann: dem Gebiet der menschlichen Beziehungen. Es ist, als inszenierte er mit masochistischer Satanie den katastrophalen Zusammenbruch seines Lebensprojektes und seiner Philosophie. Mit tragischer Ironie wird im Gedicht dargestellt, wie Zarathustra einem Ödipus gleich sein eigenes Verderben heraufbeschwört.19 Seine eigenen Taten zerstören ihn, ermöglichen aber auch die Einsicht in die Wahrheit. Wenn man wie Nietzsche selbst sein Leben als ein Experiment betrachtet, wäre es naheliegend den letzten Dionysosdithyrambus als das Ergebnis dieses Experiments aufzufassen, als ein letztes Wahrheitsgeschehen vor seinem geistigen Zusammenbruch. In diesem Wahrheitsgeschehen wäre von Nietzsche selbst auch die grandiose Selbstinszenierung in Ecce homo dementiert. Von entscheidender Bedeutung ist die Kulmination der ersten Hälfte des Gedichtes in der siebten Strophe, wo das selbstregenerative Projekt aus der Perspektive des Zarathustra 1 überaus gut gelungen ist: Er sitzt wie Gott am siebten Tag und genießt sich selbst und sein Werk, sich selbst als sein eigenes Werk. Das Ergebnis ist wie simuliert wird nicht nur selbstregenerativ, sondern wie auch Groddeck hervorhebt selbstgenerativ: eine Selbstkonzeption, ein Erzeugnis und eine Geburt seiner selbst durch Selbstempfängnis. Die Weisheit ist nicht nur mit Wasser vergleichbar, sondern auch mit dem befruchtenden Samen. Es findet sozusagen eine philosophische Selbstbegattung statt. Durch die sieben Strophen, in denen er gleichsam seine ganze Philosophie resümiert hat, ist die Leibesfrucht, wie er meint, in ihm gewachsen, und jetzt soll ihm seine von ihm selbst konzipierte und geborene Wahrheit von außen, in leiblicher Gestalt erscheinen, die er wie eine Braut und ein liebliches Dionysoskind ersehnt. Ich habe an anderer Stelle die These aufgestellt, Nietzsches Philosophie ziele mit innerer Konsequenz darauf, daß er sich selber erschaffe, sich selber erzeuge, sich selber gebäre, Gott werde.20 Das Interessante ist aber hier, daß dieses Unterfangen in diesem Text so grotesk übertrieben formuliert wird, und gleichzeitig so künstlerisch und intellektuell diszipliniert, daß man kaum umhin kann, auch dies als dick aufgetragene Selbstironie und -parodie bzw. Selbstentschleierung aufzufassen. Mit ungeheurem dramatischen, fast Schillerschen Effekt baut Nietzsche den Spannungsbogen auf, der die

sinnig,

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Platzgründen kann ich leider nicht weiter auf das Problem Ödipus in den Texten Nietzsches eingehen, ich verweise stattdessen auf die überaus wichtigen Ausführungen und Anregungen dazu in H. J. Schmidt, Jugend, 443 f., insbes. 588-591. 20 J. Kjaer, Zerstörung der Humanität. 19

Aus

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Zarathustras Nachtlied

Epiphanie der Wahrheit vorbereitet. In der achten voll retardiert.

Strophe wird diese Spannung noch kunst-

„- Still! Eine Wahrheit wandelt über mir einer Wolke gleich, mit unsichtbaren Blitzen trifft sie mich. Auf breiten langsamen Treppen steigt ihr Glück zu mir: komm, komm, geliebte Wahrheit!" -

(KSA 6, 408)

Ich frage mich, ob es nicht zum kalkulierten selbstparodistischen Effekt des Gedichts gehört, daß Nietzsche hier in seinem neunten und letzten Dithyrambus, wo er sich mit der Wahrheit vermählt und sich selbst in seiner Wahrheit erschaffen, erzeugen und gebären will, auf den Dionysosmythos anspielt: Die mythologische Urszene, an die die Episode in der achten Strophe erinnert, ist die Begegnung zwischen Zeus und Semele, die mit dem von Zeus gezeugten Dionysoskind schwanger war. Die eifersüchtige Hera hatte sie dazu überredet, Zeus zu bitten, sich in seiner wahren göttlichen Majestät zu zeigen, worauf Zeus als zerschmetternder Donner und Blitz erschien. Semele starb, Zeus rettet aber das ungeborene Kind und näht es in seinem Schenkel ein, den er später aufschlitzt. So ist Dionysos zweimal geboren: Auf niedriger Ebene von der Mutter und auf höherer Ebene von dem Vater eine eindrucksvolle Illustration des männlichen Uterasneides. So kulminieren die Dionysosdithyramben anscheinend in der Selbstbeschwängerang und Schwangerschaft Zarathustras und der Geburt des Dionysos.21 Ein Ereignis, das aber aus der Doppelperspektive des Verblendeten und des die Verblendung Durchschauenden dargestellt und interpretiert wird. Da Zarathustra 1 sich selber liebevoll mit seiner eigenen Wahrheit beschenken will, ist natürlich aus seiner Perspektive keine herbe, asketisch-nihilistische, demaskierende Wahrheit zu erwarten, sondern eine ihn bestätigende und dadurch beglückende. Der Leser aber, der nicht genötigt ist, Zarathustras Selbstbetrug mitzuvollziehen, um so weniger, als er von einer anderen Stimme des Textes durch den grotesken Witz einen Wink mit dem Zaunpfahl bekommen hat und dadurch der anderen, kritischen Perspektive teilhaftig geworden ist, ist auf Schlimmstes vorbereitet. Er ahnt von Anfang an, daß das Projekt des Zarathustra 1 nicht glücken kann. Wie Zarathustra 1 widersinnigerweise sich selbst liebevoll beschenken will, will er auch die Anerkennung durch den anderen ersetzen. Zarathustras eigene Wahrheit soll ihn ansehen, wie ihn seine Mutter oder andere ihm nahestehende Menschen nie angesehen haben, wie er aber immer gewünscht hat, angesehen zu werden. Auch hier finden wir den Widersinn der Selbstgenügsamkeit: Wenn keiner ihn liebevoll und bewundernd anblickt, muß er sich selber liebevoll und bewundernd anblicken.22 Was er aber dabei im Spiegel zu sehen -

21 22

Auch Groddeck sieht an dieser Stelle eine Anspielung auf den Mythos von der Geburt des Dionysoskindes, deutet sie aber ganz anders; vgl. W. Groddeck, „Dionysos-Dithyramben", 272. Und wenn keiner ihn liebevoll anspricht, muß er sich selber liebevoll an- und zusprechen. So hat Groddeck natürlich recht, wenn er hinter den Worten „kein Tropfen erreichte mich" die „konventionelle Fügung" „kein Wort erreichte mich" sieht (ebd., 253 f.). Diese „konventionelle Fügung" ist aber bei Nietzsche durchaus nicht nur konventionell, sondern hat eine tiefere existentielle Bedeutung, da sie eine

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bekommt, ist nicht eine bewundernde und schmeichelhafte Wahrheit, sondern der Basilisken-

blick des Selbstmißtrauens. Es kommen keine süßen und heiteren Wahrheiten originär von innen durch einen souveränen Gnadenakt unserer selbst. Was von innen kommen soll, dem muß erst durch den liebevollen Blick zur Welt geholfen werden, der uns das sein läßt, was wir sind. Solange uns ein solcher Blick nicht trifft, erreicht uns auch kein Wort, glauben wir nicht an unsere eigene Wahrheit und unser eigenes Existenzrecht und haben wir wie Nietzsche ein radikales Autodizeeproblem, ein Problem der Selbstrechtfertigung. Dann mißtrauen und verachten wir uns selbst und müssen uns selbst ständig durch unser sonnenhaftes Glänzen rechtfertigen, uns selbst notwendig machen. Das, was Zarathustra 1 ersehnt und erwartet, ist der liebevolle Blick und das menschliche Wort, die ihn rechtfertigen und von seiner Einsamkeit, seinem Selbstmißtrauen und seinem Geist der Schwere befreien sollen. Es verwundert nicht, daß dieser Blick einer weiblichen Instanz gehört, denn die Mutter ist es, die uns zum ersten Mal unter Umständen sozial anerkennt. Wir werden sozusagen unter diesen Umstanden zum zweiten Mal geboren als Wesen mit Bürgerrecht im sozialen Leben, unter anderen Umständen und Blicken wird uns dieses Recht genommen, dann müssen wir versuchen, uns selbst zu rechtfertigen. Dies war vermutlich das Schicksal des Menschen, der es nötig hatte, sich als Zarathustra zu inszenieren. Seinen Versuch, sich selbst zu rechtfertigen, hat er zur Selbstvergöttlichung gesteigert, ja steigern müssen. Dahinter lauerten aber immer das Selbstmißtrauen, die Selbstverachtung und der Selbsthaß. So kann es nicht verwundern, daß auch im Spiegelbild etwas lauert: „Purpurn lauert ein Drache im Abgrund ihres Mädchenblicks." (KSA 6, 408) Es bleibt aber nicht beim Lauern, die Göttin Wahrheit erscheint wie Zeus begleitet von Blitz und Donner, der erwartete liebevolle Blick wird zu einem vernichtenden Blitz, der Spruch, den die Wahrheit spricht, ist verhängnisvoll, ist fatal. Fatum kommt von fari, sprechen, und bedeutete ursprünglich einen Orakelsprach, der ja manchmal im ursprünglichen Sinne des Wortes fatal wurde. Sprach und Fatum sind hier eins. Wo Zarathustra 1 einen Rechtfertigungs- und Freisprach erwartet, erfolgt ein vernichtender Urteilsspruch: „Wehe dir, Zarathustra! / Du siehst aus wie Einer, / der Gold verschluckt hat: / man wird dir noch den Bauch aufschlitzen! ..." (KSA 6, 408) Der Kontrast zwischen den suggestiv dargestellten Erwartungen des Zarathustra 1 und diesem Sprach könnte kaum größer sein: Anstatt eine vom Lächeln vergüldete liebliche, von der Sonne gesüßte und von der Liebe gebräunte und wie eine schöne Braut ersehnte Wahrheit trifft Zarathustra, der sich gerade herbe Wahrheiten verbeten hatte, wie ein Blitzschlag eine herbe, fatale und vernichtende Wahrheit.23 Der Regisseur des Gedich-

tragische Lebenserfahrung 23

ausdrückt. So heißt es in Ecce homo: „mit sieben Jahren wußte ich, daß mich nie ein menschliches Wort erreichen würde" (KSA 6, 297), dieser Formulierung entspricht manche Briefstelle in Nietzsches Korrespondenz der späten achtziger Jahre. Der vorher zitierten Anregung Hermann Josef Schmidts folgend, das Goldmotiv bei Nietzsche mit der Sage von König Midas zu kombinieren, möchte ich darauf hinweisen, daß diese Sage u. a. davon berichtet, wie König Midas Dionysos darum bittet, daß alles, was er, Midas, berühre, sich in Gold verwandle. Dionysos gewährt ihm das Gewünschte, was zur Folge hat, daß er hungern muß, da auch seine Nahrung sich in Gold verwandelt. Wenn man die Problemstellung der physischen Ernährung auf die geistig-seelische Lebenserhaltung durch den lebendigen Austausch mit anderen Menschen erweitert, so beinhaltet diese Sage in nuce die Problematik des Nachtliedes und des Dithyrambus. Interessanterweise findet sich eine Stelle im Zarathustra, wo die geistig-seelische Bedeutung des Bildes vom Goldverschlucken deutlich wird: „Und muss ich mich nicht verbergen, gleich Einem, der Gold verschluckt hat, dass man mir nicht die Seele aufschlitze?" (KSA 4, 220) Diese Formulierung, auf die auch Groddeck hinweist, macht die Bedeutung des Goldverschluckens deutlich, es ist das kommunikations-

Zarathustras Nachtlied

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inszeniert, daß die von Zarathustra abgespaltene personifizierte „Wahrheit" durch dieses Bild das Rätsel Zarathustras bzw. die Lüge Zarathustras entschleiert. Zwar ist das Bild vieldeutig, aber die vielen Bedeutungen scheinen mir insgesamt eine ziemlich deutliche Richtung zu haben: Zarathustras Selbstgenügsamkeit, Souveränität und Autarkie sind illusorisch; anstatt daß seine Weisheit ihn selbst und seine Mitmenschen erquickt und befruchtet, erwürgt sie ihn. Wie man im wirklichen Leben nicht Gold essen kann, kann man im geistigen und seelischen nicht von seiner Eigenliebe und anderen sonderbaren selbstgenügsamen Aktivitäten und seiner grandiosen Selbstinszenierung leben. Eine Weisheit, die nicht aus einer Beziehung zu anderen Menschen entsteht, anderen nicht mitgeteilt wird und nicht mit anderen geteilt, sondern in grandioser Selbstbezogenheit anderen aufgedrängt wird, und, wenn die anderen diese Wahrheit nicht annehmen wollen, mit beleidigt-gekränkter Miene wieder zurückgenommen bzw. verschluckt wird, ist eben unfruchtbar, mehr noch, sie ist in Wirklichkeit kein Gold, war es nie und kann auch nicht in Gold verwandelt werden. Was sie auch war, sie wird eher in Spucke verwandelt, mit der der Gekränkte die anderen nun rachsüchtig bespuckt. Das Bild präzisiert im Kontext des Gedichts eindrucksvoll und mit schneidender Ironie das, was im Nachtlied durch mystifizierende Paradoxien verschleiert wurde. Das Goldverschlucken entspricht entmystifizierend den Flammen, die die Sonne des Nachtliedes in sich zurücktrinkt. Im dithyrambischen Kontext ist klar, daß dieses Zurücknehmen Ausdruck eines kontingenten Defizits und keine schicksalhafte Notwendigkeit ist, ein reaktives Verhalten und keine Folge einer übermenschlichen Souveränität. In nicht zu überbietenden ironischen, ja geradezu höhnischen Sprüchen, deren Sinn, trotz der Paradoxie ihrer Formulierung, kaum mißzuverstehen ist, wird nun wiederholt die Wahrheit von dem illusionären und selbstbetrügerischen Projekt Zarathustras entschleiert; folgende Paradoxe lassen sich als Variationen dieses Grundthemas entschlüsseln: „Du möchtest schenken, wegschenken deinen Überfluss, / aber du selber bist der Überflüssigste! / Sei klug, du Reicher! / Verschenke dich selber erst, oh Zarathustra!" (KSA 6, 409), „Du musst ärmer werden, / weiser Unweiser! / willst du geliebt sein" (KSA 6, 410). Was hier mit einem Donner- und Blitzschlag nach dem anderen gesagt wird, ist eben, daß das ganze Projekt der Autarkie, der Souveränität, der Selbstgenügsamkeit, der Macht und der Selbsterschaffüng ihn von all dem abgeschnitten hat, was das Leben menschlich und lebenswert macht, es ist ein wahnhaftes und unfruchtbares Lebensprojekt gewesen. Die übermenschliche „Aufgabe", die er sich selbst auferlegt hatte, um leben zu können, die grandiose Zarathustrische Rolle hat ihn um die lebendigen Beziehungen zu anderen Menschen gebracht, sie ist eine lebensund liebeszerstörende Rolle gewesen. Die Paradoxien: „Mir selber wirft dein Licht Schattes hat alles so

abwehrende Element der Beziehungsfalle, in der sich Zarathustra befindet: Er will seine Weisheit nicht mit den anderen teilen, daher muß er sie verbergen, für sich behalten, in sich zurücktrinken, dafür muß er einsam werden und frieren, aber zu diesem Zeitpunkt meint er dies guten Mutes aushalten zu können, er läuft mit „warmen Füßen kreuz und quer" auf seinem Ölberg herum (KSA 4, 221). Von demselben Problem handelt die Rede Zarathustras Vom Gesindel: „Das Leben ist ein Born der Lust; aber wo das Gesindel mit trinkt, da sind alle Brunnen vergiftet. [...] Hier im Höchsten quillt mir der Born der Lust! Und es giebt ein Leben, an dem kein Gesindel mit trinkt!" (KSA 4, 124 f.) Da Nietzsche/ Zarathustra zu diesem Zeitpunkt überhaupt keinen als ebenbürtig bzw. alle anderen als gemeines Gesindel auffaßt, heißt dies in der Praxis, daß er seine Weisheit und Lust mit niemandem teilen kann. Der letzte Dithyrambus ist die Einsicht, daß die Vorstellung, es gebe für ihn „ein Leben, an dem kein Gesindel mit trinkt", eine Illusion ist: Wenn er mit keinen Menschen zusammen trinken kann, ist das Wasser vom „Gold" vergiftet.

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-", „geh, Zarathustra, weg aus deiner Sonne" (KSA 6, 409) ergeben in diesem Zusammenhang den traurigen Sinn, daß die glänzende Weisheit, die Zarathustra als Sonne verschenken will, gerade die wesentlichste not-wendende Wahrheit seines Lebens in den Schatten gestellt und getrübt hat, sie hat verhindert, daß er seine wahren Lebensbedürfnisse gesehen und gelebt hat, er hat sich selber im Wege gestanden.

ten

Aus dieser Interpretation folgt nicht notwendigerweise, daß Nietzsche zur lebbaren Selbsteinsicht durchgedrungen und im Sinne meiner Auslegung des Gedichts tatsächlich ärmer und weiser geworden wäre. Denn wie Nietzsche, Alice Miller zufolge, seine Philosophie dazu benutzte, sich vor der Wahrheit zu schützen, kann er auch die künstlerisch disziplinierte Gestaltung der Wahrheit dazu benutzen, sich die Wahrheit vom Leibe oder vielmehr von der Seele zu halten. Man kann sagen, daß der späte leidende Nietzsche seine Leiden, darunter auch seine Leiden am Selbstbetrug, künstlerisch und philosophisch ausschlachtete, anstatt sie in lebendige, existentielle Weisheit und Lebenspraxis zu transformieren. So ist die raffinierte Inszenierung eines existentiellen Wahrheitsgeschehens im neunten Dithyrambus eher eines von vielen artistischen Experimenten, die Nietzsche mit seinen eigenen bitteren Lebenserfahrungen vornahm. Er macht sozusagen mit artistischer Raffinesse die Selbsterkenntnis zu einer masochistischen Leistung, einer lust- und qualvollen, zur Schau gestellten Selbstkreuzigung oder Selbstverbrennung. Der Selbstkenner- und Selbsthenker des vierten Dithyrambus inszeniert im neunten und letzten Dithyrambus eine Selbsthinrichtung durch Selbsterkenntnis. Dem Erkennenden fehlt aber die echt philo-sophische Weisheit, denn in der bitteren Formulierung „Man liebt nur die Leidenden, man gibt Liebe nur dem Hungernden" (KSA 6, 410) schwingen immer noch die Denunziation der Liebe und des Mitleides, die Verachtung der Mitmenschen und der Geist der Rache mit. Gewiß blieb Nietzsche nichts anderes übrig als die Ausschlachtung seiner existentiellen Nöte. Überhaupt hat Nietzsche wahrscheinlich keine andere Wahl gehabt, als sich durch seine „Aufgabe" und seine Zarathustrische Selbstinszenierung am Leben zu erhalten. Hätte er die Wahrheit, die er im letzten Dithyrambus artistisch inszenierte und dadurch abkühlte und auf Distanz hielt, tatsächlich wahrgenommen und gefühlt, hätte er daran zugrunde gehen müssen. In einer säkularisierten Welt sind gewisse Einsichten, wenn sie sich mit den ihnen entsprechenden Gefühlen verbinden, einfach tödlich. Vielleicht ging Nietzsche an dieser Wahrheit tatsächlich in dem Moment zugrunde, wo die psychische Energie des Lebensphilosophen nicht mehr ausreichte, um die Wahrheit über seine selbstbetrügerische, selbst-, lebens- und liebeszerstörende Denkweise und Lebenspraxis durch künstlerische und intellektuelle Raffinesse zu formen und zu bannen, und die einsichtigen Gefühle ihn überwältigten. Man braucht sich nicht darüber zu wundern, daß Nietzsche ausgerechnet den letzten Dithyrambus als Schlußgedicht des Nietzsche contra Wagner benutzte. Im Epilog, dem das Schlußgedicht folgt, geht es um das Mißtrauen des freien Denkers der Wahrheit gegenüber. Hier wiederholt er einige seiner später vielzitierten Aussagen zum Wahrheitsproblem:

„Nein, dieser schlechte Geschmack, dieser Wille zur Wahrheit, zur Wahrheit um jeden Preis', dieser Jünglings-Wahnsinn in der Liebe zur Wahrheit ist uns verleidet: dazu sind Wir glauben nicht mehr wir zu erfahren, zu ernst, zu lustig, zu gebrannt, zu tief daran, dass Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht, wir ,

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haben genug gelebt, um dies zu glauben Heute gilt es uns als eine Sache der Schickdass man nicht Alles nackt nicht bei Allem dabei sein, nicht Alles verstehn lichkeit, sehn, und .wissen' wolle. Tout comprendre c'est tout mépriser [...] Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehn zu lassen? Vielleicht ist ihr -

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Zarathustras Nachtlied

Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu reden, Baubol leben! Dazu thut noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehn zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den Ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich aus Tiefe Und kommen wir nicht eben darauf zurück, wir Waghalse des Geistes, die wir die höchste und gefährlichste Spitze des gegenwärtigen Gedankens erklettert und von da aus uns umgesehn haben, die wir von da aus hinabgesehn haben? Sind wir nicht eben darin Griechen? Anbeter der Formen, der Töne, der Worte? Eben darum Künstler? ..." (KSA 6, 438 f.)

Name, griechisch

...

zu

...

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Der letzte Dithyrambus soll dann abschließend eine praktische Demonstration sein, wie Nietzsche durch artistische Form eben die schlimmste Wahrheit bannt, mit der Wahrheit

spielt und dadurch die Wahrheit verschleiert. Der waghalsige Salto mortale besteht darin, daß die Verschleierung der Wahrheit hier paradoxerweise als eine Inszenierung der Entschleierung der Wahrheit stattfindet. Durch diese effektvolle Inszenierung will der Autor vermeiden, in die häßliche Wahrheit hinabzusinken, in ihr zu ertrinken. Die kunstvolle und zugleich schockierende Inszenierung der Wahrheit funktioniert hier eher als Schutz vor der Wahrheit. Was der Dithyrambus aber für den Autor ist, braucht er nicht für den Leser zu sein. Was mich als Leser betrifft, ist es mir so ergangen, daß ich letzten Endes doch wieder Verdacht geschöpft habe gegen die allzu effektvolle und stimmige Inszenierung der Wahrheit. So geschieht Wahrheit kaum. Aus dem Gedicht spricht eine panische Angst vor der Wahrheit, auf jeden Fall scheint es mir unmöglich, die artistische Gestaltung des Gedichtes als heitere Spielerei und schöne Oberfläche zu erleben; man hat eher den Eindruck eines grauenvollen danse macabre am Rande des Abgrundes. Die Worte des Epilogs sind paradigmatisch für Nietzsches melancholische Auffassung der Philosophie, der Liebe zur Wahrheit. Gerade die klügsten und erfahrensten europäischen Geister des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die freien Geister männlichen Geschlechts, sind sich gewiß, wie Nietzsche meint, in dem Punkt einig, daß die Wahrheit häßlich, unanständig und abgründig und durchaus nicht als solche liebenswürdig ist und vom Philosophen geliebt zu werden verdient. Nur in poetisch verschleierter Form, auf Distanz, können sie sie lieben. Aber wie wäre es, wenn die Vorstellung von der häßlichen, nackten Wahrheit tatsächlich ein Produkt der beschädigten Liebe und der gestörten Beziehungen zu anderen Menschen wäre? Dann hilft auch keine Verschleierung der Wahrheit, denn die Verschleierung der Wahrheit hebt weder das Wissen um die zu verschleiernde Wahrheit noch die andauernde lebenszerstörende Wirkung der Wahrheit auf. Umgekehrt, wenn die Philo-sophie ein Produkt von gelebten und lebendigen Beziehungen zwischen Menschen ist, bei denen sie wagen, einander Vertrauen, Offenheit, Aufmerksamkeit und u. U. auch Sympathie, Mitleid und Liebe entgegenzubringen, dann ist die melancholische Metaphorik von Oberfläche und Tiefe, von Häßlichkeit und Abgründigkeit der Wahrheit vollständig irrelevant, auch wenn bei diesen gelebten Beziehungen enttäuschende Erfahrungen mit der Liebe gemacht werden sollten. Dann verliert auch der Gegensatz zwischen der Konventionalität, Allgemeinheit bzw. Gemeinheit der kommunikativen Sprache und der Individualität der dichterischen Metaphorik ihre dramatische und aporetische Brisanz: Wo die soeben genannten Grundhaltungen herrschen, ist die Alltagssprache in ihrer Allgemeinverständlichkeit kein Hindernis für die individuelle Aussage und für die persönliche Begegnung, sondern vielmehr ein Medium der Mitteilung eigener Erfahrungen und des Austausches von Erfahrungen in jeder einmaligen Begegnung zweier oder mehrerer einmaliger Menschen, aus der immer wieder Alltagsweisheit entsteht und u. U. höhere Weisheit Philo-sophie entstehen könnte. -

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Literatur Grundlehner, Phillip. The Poetry of Friedrich Nietzsche, New York/Oxford 1986. Platon. Platon. Sämtliche Werke, Bd. 2, in der Übers, v. Friedrich Schleiermacher, hg. v. W. F. Otto, Hamburg (o.J.). Schmidt, Lars-Henrik. Tragik der Aufklärung, Ârhus 1989. Det sociale selv. Invitation til socialanalytik, Àrhus 1990 (in dänischer Sprache). Schmidt, Hermann Josef. Philosophie als Problem. Anmerkungen zum Paradox und zur Sinnhaftigkeit von "

-



Philosophie,

Rheinstetten 1977.

JÖRN PESTLIN

Massenmedien als Teil von Rezeptionsund Wirkungsgeschichte: Nietzsche-Lyrik im Weimarer Rundfunk 1844-1944: „In einer Gedenkstunde anläßlich des 100. Geburtstages Friedrich Nietzsches, der neben führenden Männern von Partei, Staat, Wehrmacht, Kunst und Wissenschaft Gauleiter und Reichsstatthalter Fritz Sauckel und Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink anwesend waren, sprach am Sonntagvormittag Reichsleiter Alfred Rosenberg."1 Der Zeitpunkt dieser Gedenkstunde, ihre Parallelität zum sonntäglichen Gottesdienst mag Zufall sein. Der politische Stellenwert, der diesem Jubiläum und der Veranstaltung eingeräumt wurde, läßt sich aber anhand anderer Tatsachen bemessen. So waren eben nicht nur die auserwählten Gäste im Weimarer Nationaltheater die Adressaten von Rosenbergs Rede, sondern auch die anonymen Zuhörer vor den Volksempfängern, die Abonnenten des Völkischen Beobachters und zahlreicher anderer Titel der gleichgeschalteten Presse. Diese Gedenkveranstaltung markierte den Endpunkt einer sehr wechselvollen postmortalen Karriere Nietzsches, die von den Massenmedien kommentiert, befördert und auch initiiert wurde. Sie war der Epilog zu einer Geschichte, die eigentlich ein anderes Ende nehmen sollte. Der lang gehegte Wunsch vieler Mitstreiter des Nietzsche-Archives, eine Gedenkhalle möge eine würdige Kulisse für die „Reichsfeier" zu Nietzsches Jubiläum abgeben, war letztlich nicht in Erfüllung gegangen. Der von Schultze-Naumburg entworfene Gebäudekomplex auf dem „Silberblick" über Weimar gegenüber dem Ettersberg wurde nie seinem ursprünglichen zu

Verwendungszweck übergeben. 1844-1994: Fünfzig Jahre später -

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war dieser Tag wiederum Anlaß und Anstoß, sich öffentlich mit der Person, ihrem Werk und ihrer Wirkung auseinanderzusetzen. Allerdings waren es diesmal nicht „führende Repräsentanten" des Staates, die sich für diese Aufgabe berufen und verantwortlich fühlten, und der Gestus, der die öffentliche Auseinandersetzung bestimmte, war auch ein anderer. Die Modi dieser aktuellen Thematisierung waren sehr vielfältig: Theaterinszenierungen, Ausstellungen bildender Kunst, wissenschaftliche Foren und Tagungen, Artikel in verschiedenen Printmedien und Beiträge in Rundfunk und Fernsehen waren so gestaltet und plaziert, daß sie die Aufmerksamkeitsschwelle des Publikums, zumindest eines interessierten, überwinden konnten. Nietzsche beschäftigte zu seinem 150. Geburtstag die Feuilleton- und Kulturredaktionen der Massenmedien, er war „fit to print". Diese „zeitgeistige" Formulierung hätte vor achtzig, neunzig oder hundert Jahren sicherlich niemand verwendet, aber das Phänomen, das sie charakterisiert, war seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts und die dann folgenden fünfzig Jahre relevant. Die Begeisterung der Massenmedien für Nietzsche in diesem Zeitraum war erheblich.

1 A.

Rosenberg, „Friedrich Nietzsche", Völkischer Beobachter vom 17.10.1944 (Berliner Ausgabe), 1.

Jörn Pestlin

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Heute bedarf es schon eines sehr „runden" Jubiläums, damit der Gegenstand Nietzsche dem Elfenbeinturm der akademischen Verwaltung und des wissenschaftlichen Diskurses entweichen und in die Niederungen der Massenkultur oder zumindest in deren Grenzbereiche vordringen kann. Das war nicht immer so. Seitdem das Interesse für Nietzsche erwacht war, bildeten sich neben der als selbstverständlich empfundenen wissenschaftlichen Auseinandersetzung verschiedene Spielarten der Rezeption heraus, die wiederholt mit Attributen belegt wurden, die sich am ehesten mit den Begriffen Mode und Kult zusammenfassen lassen. Auch wenn diese Begriffe häufig im Zusammenhang mit dem Namen Nietzsche fielen, bedeutet dies nicht, daß sie die zeitgenössische Kommunikation über die Nietzsche-Rezeption außerhalb der institutionalisierten Wissenschaft dominierten; sie sind eher idealtypischer Natur und ihre Funktion soll hier im wesentlichen eine systematisierende sein. Kennzeichnungen dieser Art finden sich vor allem in feuilletonistischen Kommentaren und wissenschaftlichen Analysen, die sich mit der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte Nietzsches beschäftigten; wobei diese wiederum ja selbst ein Teil des Prozesses, den sie reflektierten, waren. Die Symptome, auf die man sich bei einer Charakterisierung mit diesen Begriffen bezog, waren im Wesen identisch: der Name Nietzsche hatte gleichzeitig in ganz verschiedenen Bereichen der Gesellschaft Widerhall erzeugt; Künstler, Literaten, Politiker und Journalisten fühlten sich inspiriert oder sahen sich zu Meinungsäußerungen genötigt. Ein Gelehrter hatte die Grenzen seines angestammten Territoriums durchbrochen; nicht nur eine beschränkte Fachöffentlichkeit zollte ihm Aufmerksamkeit. „Der Name Nietzsche ist", wie Kurt Eisner schon 1892 feststellte, aus

allgemeinen Bildung ,hinaufgesunken'. Eine große Literatur hat sich die Erscheinung des Wundermannes angesiedelt, ein Heer von Nachahmern, dieser Marodeurs geistiger Feldherrnzüge, hat sich zusammengefunden, Romanciers und Essayisten schmücken mit seinen Sentenzen ihre Titelblätter und die Zeitschriften hungern nach ungedruckten Briefen, Gedanken und sonstigen Nachlaßwerken. [...] Der Ruhm hat sich gerächt an seinem Verächter, er schleppt ihn hinein, wovor ihn am meisten graute: in schlechte Gesellschaft."2 „zum Inventar der

um

Solche und ähnliche Stimmen, diesen Zustand bedauernd oder kritisierend, da man Nietzsche verehrte oder verurteilte, lassen sich unzählige im Blätterrauschen der Jahrhundertwende vernehmen. Dabei wurde aber übersehen, daß jeder dieser ehrenwerten Kritiker seinen Anteil zur Bewahrung des von ihm beklagten Zustandes leistete; publizistische Enthaltsamkeit wäre die einzig konsequente, aber nicht praktikable Form von Kritik, die ja im Kern das Reden über Nietzsche kritisierte, gewesen. Die lexikalische Bedeutung der Begriffe Kult und Mode sind an sich frei von wertenden Aspekten, in der Sprachpraxis hingegen sind häufig schon unterschwellige oder auch direkte Wertungen an diese Begriffe geknüpft. So werden die Termini Kult und Mode auch bei der Charakterisierung bestimmter Phänomene der Nietzsche-Rezeption weniger beschreibend als

wertend gebraucht. Bei der Attribuierang dieses Phänomens als Mode oder modisch war die Richtung der Wertung zumeist eindeutig: Es „erfahrt ein Gegenstand durch seine Bezeichnung als ,Mode-

2 K.

Eisner, „Aus dem Nachlaß eines Lebenden", Frankfurter Zeitung

vom

17.5.1892, Nr. 138.

Nietzsche-Lyrik

im Weimarer

Rundfunk

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sache' eine Abwürdigung", schreibt Georg Simmel 1905 in seinen Überlegungen zum Phänomen der Mode, „wenn man ihn aus anderen, sachlichen Gründen perhorresziert und herabzusetzen wünscht, so daß dann freilich die Mode zum Wertbegriff wird".3 Der Terminus Mode tauchte vor allem dann auf, wenn über Nietzsches Präsenz in den Printmedien, seinen publizistischen Erfolg, räsoniert wurde. In diesem Zusammenhang war der Begriff in mehrfacher Hinsicht denunzierend, denn allem, was mit ihm näher bestimmt wird, wird automatisch Kurzlebigkeit und Unsachlichkeit bzw. Oberflächlichkeit unterstellt, sind dies doch die wesentlichen Eigenschaften, die etwas als modisch auszeichnen. Die Fraktion der Nietzsche-Befürworter zielte mit dem Modevorwurf eher auf einen bestimmten Rezipiententyp. Dessen Interesse für Nietzsche war ihrer Meinung nach nicht sachlich begründet. Es resultierte lediglich aus dem Bedürfnis nach Neuheiten und Sensationen, um an den Caféhaus-Tischen mitreden zu können. Der Sinn dieses Rezipienten stand nach Schlagworten, nicht nach „inhaltlicher Tiefe". Welche Position dabei im einzelnen zu Nietzsche eingenommen wurde, war sekundär. Die Nietzsche-Gegner hingegen gingen einen Schritt weiter, sie verdächtigten primär den Gegenstand der Rezeption, also Nietzsche, des Modischen. Sein Werk befriedige angeblich nicht das Bedürfnis nach Unvergänglichkeit, sondern lediglich das nach Besonderheit; in ihren Augen ist es Resultat und Ausdruck gegenwärtiger kultureller und gesellschaftlicher Irritationen. Wenn die zeitgenössischen Nietzsche-Gegner seine Philosophie als Mode kritisierten, meinten sie damit eigentlich, daß dieser die sachliche Begründetheit fehle und daß sie keinerlei Aussichten auf Fortbestand hat. Diese Kritik bezog seine Verehrer automatisch mit ein.

„Ueber die wahre Bedeutung Nietzsches, der von so vielen Männlein und Weiblein oder vielmehr Unweiblein als Bahnbrecher und Begründer einer neuen Welt- und Lebensanschauung gepriesen wird, jetzt schon zu reden, hieße leeres Stroh dreschen, denn der Strom der Nietzschebegeisterung ist annoch so gewaltig, daß wir getrost lieber ein wenig warten wollen, bis er sich ein wenig wird verlaufen haben, was bei solchen meteorähnlichen Erscheinungen in nicht allzu langer Zeit erfolgt. Denn Blitze blenden wohl, aber leuchten nicht lange, und der wahre Wert einer neuen Philosophie steht im Allgemeinen im umgekehrten Verhältnis zu der augenblicklichen Aufnahme, welche sie findet [...]."4 Dieses „leere Stroh" wurde aber trotz aller Warnungen beharrlich weitergedroschen, und kam immer noch etwas dabei heraus. Als die Begriffe Nietzsche-Mode, Modephilosoph oder -philosophie bzw. Nietzsche-Kult zur Bezeichnung zeitgenössischer Rezeptionsformen genutzt wurden, war ihre Differenz auf der Inhaltsebene eher unwesentlich, sie waren gegeneinander austauschbar. Der Hintergrund einer über hundertjährigen Rezeptions- und Wirkungsgeschichte macht es allerdings notwendig, zwischen diesen Begriffen zu differenzieren. Aus heutiger Perspektive erscheint es unangebracht, von Nietzsche-Mode oder -Moden zu sprechen, da die Geschichte zeigte, daß jene damit charakterisierten Phänomene keine kurzfristigen, also modischen waren. es

3 G. Simmel, Philosophie der Mode [1905], in: Gesamtausgabe, Bd. 10, hg. v. O. Rammstedt, Frankfurt a.M. 1995, 17. 4 R. Franke, „Friedrich Nietzsche und das Deutschthum", Tägliche Rundschau vom 23.02.1896, Nr. 45.

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Jörn Pestlin

Nietzsche-Kult, bereits 1897 von Ferdinand Tönnies, dem Begründer der in Deutschland, als Titel für eine Monographie gewählt,5 ist dagegen auch jetzt noch in der wissenschaftlichen Literatur gebräuchlich. Hier wird er heute zur Charakterisierung konkreter und relativ eng begrenzter Ausschnitte der Nietzsche-Rezeption verwendet. Besonders um die Jahrhundertwende sind verschiedene lyrische, dramatische und epische Texte sowie Werke der bildenden Kunst und Musik entstanden, deren Sujet Nietzsche war, Nietzsche im weitesten Sinne. Das heißt, er lieferte nicht nur die Motive für diese künstlerischen Produkte, sprich Zarathustra, den Übermenschen, die ewige Wiederkehr und andere mehr, sondern auch das stilistische Vorbild, der Begriff vom Zarathustra- oder Nietzsche-Stil wurde geprägt. Die Spannbreite reichte von epigonalem Dilettantismus, einer bloßen Imitation der Sprache Nietzsches, bis hin zu kongenialen Schöpfungen. Dieser mit dem Begriff Nietzsche-Kult näher bezeichnete Bereich ist besonders durch seine artifizielle und affirmative Grundhaltung geprägt. Die als Kult titulierte Nietzsche-Adoration war aber durchaus kein homogenes Phänomen, die Formen und Motive variierten. Die heute eher negative Konnotation dieses Begriffs rührt vor allem daher, daß dieser Kult auch getragen wurde von „ressentimentgeladenen, selbsterwählten Eliten, bei denen eine kleinbürgerliche Parvenümoral zum Durchbrach kommt, die in dem verzweifelten Willen gipfelt: auch an der Spitze zu stehen, auch mitzubestimmen, auch ,Herrenmensch' zu sein",6 vor allem aber, weil unter nationalsozialistischen Vorzeichen der Nietzsche-Kult offiziellen und staatstragenden Charakter bekam. Hinzu kommt außerdem noch die aus heutiger Sicht ambivalente Rolle, die das Nietzsche-Archiv als einer der wichtigen Träger und Initiatoren des Kultes spielte. Schon einige Zeitgenossen, die in das Geschehen in und um das Archiv involviert waren oder es als Außenstehende beobachteten, kamen zu zwiespältigen Urteilen. Der langjährige Mitstreiter an der Seite von Frau Förster-Nietzsche, Graf Kessler, vermerkte im August 1932 in seinem Tagebuch resigniert: „Man möchte weinen, wohin Nietzsche und das Nietzsche-Archiv gekommen sind!"7 Was anfänglich noch als Mode abgetan wurde, das in und durch die Printmedien artikulierte Interesse an Friedrich Nietzsche, erwies sich als äußerst langlebiges Phänomen. Von den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts bis zum Zusammenbruch der „Herrenmenschen-Diktatur" im Mai 1945 wurden unzählige Indizien produziert und hinterlassen, die dokumentieren, daß Nietzsche in Person und Werk Gegenstand und Sujet der Massenmedien und somit auch der Massenkultur war. Nicht nur an seinem Geburts- oder Todestag, sondern auch ohne solche Anlässe geisterte Nietzsche durch die Tageszeitungen, Journale und später auch durch das Hörfunkprogramm. Er gehörte quasi zu den Dauerthemen öffentlicher Kommunikation; auch ohne Jubiläum war er in wechselnden Kontexten für die Massenmedien interessant. Die Nietzsche-Rezeption in dem hier betrachteten Zeitabschnitt war ein Prozeß, der auf unterschiedlichen Ebenen ablief. Die Rezeption außerhalb der Schranken einer akademischen Philosophie fand ihren Ausdruck nicht nur in dem, was heute als Nietzsche-Kult bezeichnet wird, also in den hymnischen Gedichten eines Hermann Conradi, Richard Dehmel oder Stefan George, in den Bildern und Plastiken eines Olde, Klinger, Dix, Munch, in den Kompositionen eines Richard Strauss und Gustav Mahler oder in den Visiten eines Adolf Der Terminus

Soziologie

5 F. Tönnies, Der Nietzsche-Kultus. Eine Kritik, Berlin 1990. 6 F. Nietzsche, Gedichte, hg. v. J. Hermand, Stuttgart 1964, 131. 7 H. Graf Kessler, Tagebücher 1918-1937, hg. v. W. Pfeiffer-Belli, Frankfurt a.M.

1996, 723.

Nietzsche-Lyrik

im Weimarer

151

Rundfunk

Hitler in der „Villa Silberblick" bei Elisabeth Förster-Nietzsche das sind die heute noch gern zitierten Extremformen, die in den Kanon des wissenschaftlichen Diskurses Eingang fanden. Das „Alltägliche" und „Profane" dieser Rezeption ereignete sich zu einem gut Teil in den Massenmedien, in Presse und Funk; es war gekennzeichnet durch eine geringe Halbwertszeit und fand abseits jeder „offiziellen" Geschichtsschreibung statt. Die massenmediale war neben der philosophischen und künstlerischen eine zumindest quantitativ nicht zu unterschätzende Seite der Nietzsche-Rezeption in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wobei es die hier vorgenommene Differenzierung der Nietzsche-Rezeption real so nicht gab; das, was hier als massenmediale Rezeptionsebene herausgearbeitet wurde, war natürlich ohne philosophische und künstlerische Rezeption kaum möglich. Mit diesem bisher wenig beachteten Aspekt der Nietzsche-Rezeption eröffnet sich möglicherweise auch ein neuer Zugang zum Verständnis der Wirkungsgeschichte Nietzsches. Deshalb ist es nur folgerichtig, sich auch dieser Seite analytisch zuzuwenden. -

Zwischen Leitartikel und

Traueranzeige.

Zwei

Beispiele

aus der Tagespresse der frühen dreißiger Jahre soll dem bisher Plastizität verliehen werden. Diese beiden Artikel sind weder vom Inhalt noch vom Stil her repräsentativ für die Thematisierung Nietzsches in den Massenmedien. Sie illustrieren aber das bisher Gesagte anschaulich und vermitteln auch einen Eindruck von der Bandbreite des massenmedialen Zugriffs, der sich eben nicht in Rezensionen und populärphilosophischen oder biographischen Abrissen erschöpfte. Bei dem ersten handelt es sich wahrscheinlich um eine phantastische Erzählung, die in der in Danzig erscheinenden Baltischen Presse im Juni 1930 in Fortsetzungen abgedruckt wurde. Unter der Überschrift Die Uebermenschen. Eine Chronik aus dem Zeitalter der Elektronen* wird der Leser in eine kommende Zeit geführt, in der die Welt von egalitären „Künstlermenschen", einer Inkarnation des nietzscheschen Übermenschen, bevölkert wird. Dieser Mensch gleicht im Phänotyp einer „lebendig gewordenen griechischen Statue". Die Funktion Nietzsches im „Zeitalter der Elektronen" wird wie folgt geschildert:

Anhand zweier

Beispiele

Ausgeführten etwas

„Der Geburts- und Todestag des großen Denkers, der so hellseherisch den Übermenschen verkündigt hatte, wurde seitdem dieser leibhaft auf Erden wandelte, überall festlich begangen. Die Hauptfeier aber fand in der 20. Stadt des B-Kontinents, die einstmals ,Weimar' geheißen hatte, statt, woselbst das von der Schwester des Philosophen begründete ,Nietzsche-Archiv' wie eine ,heilige Stätte' der ,Gläubigen' längst vergangener

Zeiten erhalten geblieben war. Es bildete jedoch gleichsam nur eine .Kapelle', rings um die ein herrlicher, tempelartiger Bau aus weißen Glasmassen errichtet worden war, in dessen Innerem sich ein Amphitheater von riesigen Dimensionen befand. Ein gewaltiges Standbild des Denkers aus Gold erhob sich in der Mitte dieses Baus, in dem sich alljährlich an dem Geburts- und Todestage Nietzsches, Deputierte aus allen Erdteilen zusammenfanden, um sein Andenken zu ehren. Die Reden, die hierbei gehalten wurden, ver-

8 B. Szarlitt, „Die Uebermenschen. Eine Chronik Baltische Presse vom 28.6.1930 (Danzig).

aus

dem Zeitalter der Elektronen"

(13. Fortsetzung),

Jörn Pestlin

152

nahm man durch Radio auf dem ganzen Erdenrand; ebenso die von hervorragenden Künstlern aus allen Weltteilen vorgetragenen Gedichte Nietzsches sowie Kapitel aus seinem ,Zarathustra', der für die ganze gesamte Menschheit seit langem dasselbe bedeutete, was einstmal die ,Bibel'. Eingedenk der großen musikalischen Begabung des Philosophen und der innigen Freundschaft, die ihn mit Richard Wagner verbunden hatte, wurde bei dieser Feier immer auch eines der Musikdramen dieses Meisters zur Aufführung

gebracht."9

Dieser Ausschnitt aus der 13. Folge der Chronik aus dem Zeitalter der Elektronen ist einerseits recht aufschlußreich, beschreibt er doch, wenngleich verkürzt und überzeichnet, Formen des historischen und zeitgenössischen Nietzsche-Kults. Die Ähnlichkeiten dieses fiktiven zeremoniellen Aktes mit den verschiedenen Entwürfen und Projekten von Nietzsche-Denkmälern ist sinnfällig (z. B. mit dem von Harry Graf Kessler und Henry van de Velde betriebenen Projekt eines Nietzsche-Festspielforums, wo der „Zusammenklang von bildender Kunst mit sportlichen Wettkämpfen, Musik, Tanz, Theater inmitten einer ideologisch aufgeladenen Kulturlandschaft dem ,heiligen' Boden ,Ilm-Athens' Menschenmassen im Zeichen Nietzsches" vereinen sollte, um so „den Wandel seines Kultes von einer halbprivaten Gemeindeangelegenheit zur Sache der Öffentlichkeit [zu] dokumentieren"10). Andererseits ist die Intention des zitierten Abschnitts nicht eindeutig zu bestimmen. Eine klare Antwort auf die Frage, ob der Autor mit diesen Zeilen lediglich in den virulenten Nietzsche-, Zarathustra- und Übermenschen-Kultus einstimmte, oder ob er diese Passage möglicherweise als kritisch-ironische Anspielung auf die distanzlose Nietzsche-Adoration verstanden wissen wollte, geht auch aus dem gesamten Text nicht hervor. Die Entscheidung darüber blieb dem einzelnen Leser und der jeweiligen Position zur Nietzsche- und Übermenschenproblematik überlassen. Auf ganz andere Art und Weise reflektiert ein Artikel, der in der Deutschen Tageszeitung erschienen ist, die massenkulturelle Absorption Nietzsches. Das Zusammentreffen mit Zarathustra im Warenhaus so die Überschrift dieses Artikels wird als symptomatische und zugleich schmerzhafte Erfahrung des kulturellen Niedergangs, des blasphemischen Umgangs mit geheiligten Werten beschrieben. Der Autor streift, wohl eher zufällig wie ein verirrter Flaneur -, durch eine ihm fremde Welt. Ein Warenhaus. -

-

-

-

-

„Es ist nicht einer jener Mammonspaläste [...]. Es ist asketisch auf Billigkeit eingerichtet. Es dient dem fünften Stand. [...] Alles kann man sich hier anschaffen, was zur Notdurft gehört. Zwischen den Ständen für Papier und Lederwaren steht der Büchertisch. [...] Mehr als diese Bücher, die in immer neuen und immer schlechteren Ausgaben auf den Markt geschüttet werden, interessieren mich die Menschen und Mienen, ihr Suchen und Finden, ihr Zugriff, ihre Ablehnung. Unversehens entdecke ich, daß auf dem Tisch, von .Nesthäkchen' und den .Drei Musketieren' eingefaßt, eine neue Ausgabe des Zarathustra liegt. Ich habe nicht erwartet, ihm hier zu begegnen, und so stehe ich überrascht und bestürzt. [...] Ich blättere kühl und rein hauchen mich die Sätze an. Ich finde: .Abseits vom Markte und Ruhme begibt sich alles Große: Abseits vom Markte und Ruhme wohn-

9 10

B. Szarlitt, „Die Uebermenschen". J. Krause, „Märtyrer" und „Prophet". Studien zum Nietzsche-Kult in der bildenden Kunst der Jahrhundertwende, Berlin 1984, 200.

Nietzsche-Lyrik

im Weimarer

153

Rundfunk

die Erfinder neuer Werte,...'[...], ein verfrorener Mann neben mir spricht mit der Verkäuferin. ,Wollen Sie den Nietzsche haben?' fragt sie mich. Mein Kopf schüttelt sich. Hier im Warenhaus einmal Nietzsche 95 Pfennig das Stück bitte dazupacken nein, unmöglich! Außerdem besitze ich zwei Zarathustra-Ausgaben. Eine, die ich von einem Freund geschenkt bekommen habe, weil ein Druckbogen fehlt, und eine, die noch aus dem Krieg stammt. Es ist eine Feldausgabe mit kleinen Blutflecken. Sie ist sehr zerlesen, mir aber teuer, weil doch das gehört nicht hierher. Jetzt blättert ein anderer im Zarathustra. Ich beobachte ihn. Seine Hände und Augen sind gleichgültig. Sein Gesicht ist ohne Widerglanz. Er befühlt das Werk wie einen Gegenstand, wiegt es, um so Preis und Wert zu vergleichen. Dann legt er es unzufrieden beiseite. [...]""

ten von je

...

-

-

...

In diesem Text artikulieren sich die unterschwelligen Ängste und Befürchtungen einer bildungsbürgerlichen Elite, daß die tradierten kulturellen Muster ihre distinktive Kraft verlieren, daß der „fünfte Stand" sie möglicherweise zu den seinen macht. Die moderne Massengesellschaft mit ihren neuen technischen und strukturellen Möglichkeiten der Kulturproduktion und -distribution wird als Bedrohung der traditionellen kulturellen Ordnung und Hierarchie angesehen. Eine schleichende, aber stetige Profanisierung des „Guten, Wahren und Schönen" steht zu befürchten, da es durch die Kulturindustrie in ein Massenprodukt mit Warencharakter verwandelt wird. Hinzu kommt noch ein psychologischer Aspekt: Eine Elite, die sich selber gern als die Realisierung des Übermenschen verstand, verlor mehr und mehr den Boden unter den Füßen und fühlte sich nun auch noch um die Träume betrogen; Exklusivität, selbst wenn sie nur halluziniert war, drohte verlustig zu gehen. Daß diese Befürchtungen nicht ganz unbegründet waren, darauf läßt auch ein Artikel im Berliner Tageblatt schließen, dessen Fazit lautete: „Zarathustra hat in den Reihen des Proletariats fliegend Einzug gehalten"; als Beleg dafür wird ein „Dresdener Bäcker mit Namen Puphal, der während der Nacht Quarkkuchen bäckt"12 und tagsüber Gedichte auf Nietzsche

schreibt, genannt.

Öffentliche Meinung

und Massenmedien

Nietzsche war Gegenstand der Massenmedien. Dokumente und Quellen, die dies belegen, lassen sich unzählige finden. Zur annähernden Quantifizierung dieses Materials müßten statistische Verfahren bemüht werden; der notwendige Zeitaufwand ließe jeden Zählversuch von vornherein scheitern. Zumal es auch völlig irrelevant ist, ob es nun zehn- oder zwanzigtausend Rezensionen, Kommentare oder Beiträge sind, die Nietzsche zum Thema hatten, an der Grundaussage würde sich damit nichts ändern. Einen ersten Eindruck vom Umfang der Thematisierung Nietzsches in den Massenmedien vermitteln die zweibändige Bibliographie Nietzsche und der deutsche Geist von Krummel und die Zeitungsausschnittsammlung, die das Nietzsche-Archiv während seines Bestehens anlegte.

11

12

Krieger, „Zarathustra im Warenhaus", Deutsche Tageszeitung vom 5.7.1932 (Berlin, MorgenAusgabe); der selbe Artikel erschien auch in der Neuen Preußischen Kreuzzeitung. „Ein Arbeitergedicht über Nietzsche", Berliner Tageblatt und Handelszeitung vom 27.08.1909 (Abendausgabe), Nr. 434. A.

Jörn Pestlin

154

Zur genauen Beschreibung des Forschungsgegenstandes ist zunächst eine begriffliche Konkretisierung erforderlich. Wenn im Text bisher von Massenmedien die Rede war, sind nicht alle Einrichtungen der Gesellschaft, die sich zur Verbreitung von Kommunikation technischer Vervielfältigungsmittel bedienen, gemeint, sondern nur ganz spezielle Massenmedien. Nämlich Zeitungen, in begrenztem Umfang Zeitschriften und der Hörfunk. Keinesfalls gemeint ist das Massenmedium Buch als jenes Massenmedium, auf das sich die klassische Nietzsche-Forschung im wesentlichen konzentriert. Die in dieser Untersuchung betrachteten Massenmedien bedienen sich bei der Bearbeitung und beim Transport von Sinngehalten unterschiedlicher publizistischer Formen. Zu Zwecken einer Systematisierang soll die scheinbare Vielfalt publizistischer Formen zu einigen zentralen Kategorien zusammengefaßt werden, unter die sich die einzelnen Formen subsumieren lassen. Diese induktiv gewonnenen Kategorien seien mit Nachricht, Bericht, Unterhaltung und Werbung bezeichnet. Einen Ansprach auf absolute Vollständigkeit und Gültigkeit will diese Typologie nicht erheben, sie dient lediglich als analytisches Hilfsmittel. Bei der Zuordnung der konkreten Beispiele zu den „reinen Kategorien" sind Überschneidungen oder Grenzüberschreitungen der Regelfall.

Informationen über Nietzsche, die durch die Massenmedien erarbeitet und verbreitet wurden, unterschieden sich nicht nur unter inhaltlichen, sondern auch unter strukturellen Gesichtspunkten. Strukturell insofern, als der Modus, unter dem sie angeboten wurden,

differierte. So wurden die Informationen nicht nur in Gestalt von subjektiven Berichten oder Meinungsäußerungen der jeweiligen Autoren (zumeist mit Objektivitätsansprach) verbreitet, sondern auch in der Form von Nachrichten. Also mit einem Ansprach auf Aktualität und Wahrheit. Beispielsweise vermeldeten Anfang 1927 diverse Tageszeitungen das Auffinden eines Nietzsche-Autographen in dem Gästebuch eines Lokals. In dem Artikel hieß es: „Nietzsche schrieb auf dem Hohentwiel einst ein: ,Ich kann keinen größeren Gegensatz denken, als Poesie und Gästebücher'. Der Philosoph weilte bekanntlich mit seiner Schwester um das Ende des vergangenen Jahrhunderts in Singen, was damals gar nicht beachtet wurde."13 So wie diese Kurzmeldung abgefaßt war, vermittelte sie dem durchschnittlichen Leser den Eindruck, eine Neuigkeit und die Wahrheit zu erfahren. Nur Insider verfügten über das notwendige Hintergrandwissen, um die Echtheit der Eintragung anzweifeln zu können. Der oben zitierte Artikel Die Uebermenschen transportiert dagegen Informationen primär im Modus von Unterhaltung. In anderen Fällen wurden Informationen über Nietzsche in Form von Werbung übermittelt, denn Rezensionen zur Nietzsche-Literatur lassen sich nicht nur als Meinungsäußerung oder Kommentar, sondern durchaus auch in ihrer Funktion als indirekte oder direkte Werbung lesen. Seine dauerhafte Präsenz in den unterschiedlichen Massenmedien legt den Schluß nahe, daß Nietzsche in dem hier betrachteten Zeitraum Bestandteil der öffentlichen Meinung war. Öffentliche Meinung allerdings nicht verstanden als ein durch öffentliche Kommunikation gewonnener Standpunkt, der von einer Öffentlichkeit vertreten wird. Luhmann hat einen Begriff von öffentlicher Meinung vorgeschlagen, der sich an deren Funktion orientiert. Er hat dabei das für eine moderne, ausdifferenzierte Gesellschaft prinzipielle Problem von hoher „Beliebigkeit des politisch und rechtlich Möglichen" einerseits und andererseits „den

13

„Auffindung eines Nietzsche-Autogramms", heim).

Neue

BadischeLandes-Zeitung vom 27.01.1927 (Mann-

Nietzsche-Lyrik

im Weimarer

155

Rundfunk

Strukturbedarf menschlichen Erlebens und Verhaltens"1 im Auge. Nach Luhmanns Meinung hat sich mit der öffentlichen Meinung ein Lösungsmechanismus für dieses Problem herausgebildet, denn er versteht unter öffentlicher Meinung eine thematische Struktur öffentlicher Kommunikation. Öffentliche Meinung fungiert also als Selektionshilfe der öffentlichen Kommunikation, sie stellt gewissermaßen einen Pool derjenigen Themen dar, bei deren Nennung mit Aufmerksamkeit für die Kommunikation gerechnet werden kann, wo die Aufmerksamkeitsschwelle bereits überwunden ist und damit die Wahrscheinlichkeit für das Funktionieren des Kommunikationsprozesses sehr groß ist. Auch wenn Luhmanns Begriff der öffentlichen Meinung im Sektor der politischen Kommunikation angesiedelt ist, sollte es möglich sein, diesen auch auf anders fundierte Bereiche der Kommunikation anzuwenden, zumal die Bestimmung der Systemzugehörigkeit (Wann ist von politischer Kommunikation zu sprechen?) im konkreten Einzelfall äußerst kompliziert sein dürfte. So ließen sich verschiedene Ausschnitte des massenmedialen Diskurses über Nietzsche durchaus der politischen Kommunikation zuordnen. Für die Massenmedien als Organ einseitiger, indirekter und öffentlicher Kommunikation ist die Orientierung an der öffentlichen Meinung unerläßlich. Eine Zeitung z. B., die an der öffentlichen Meinung vorbei berichtet, also Themen ignoriert, auf die die Aufmerksamkeit sich richtet, würde sich isolieren und hätte kaum kommerziellen Erfolg. Andererseits sind die Massenmedien ganz erheblich an der Generierung öffentlicher Meinung beteiligt. Das Wirklichkeitsbild setzt sich aus den massenmedial vermittelten Informationen und Bildern zusammen. „Was nicht berichtet wird, existiert nicht, oder etwas vorsichtiger: Seine Chancen, zu einem Teil der von den Zeitgenossen wahrgenommen Wirklichkeit zu werden, sind

minimal."15

Wenn in den Massenmedien so intensiv und dauerhaft über Nietzsche nachgedacht, informiert und polemisiert wurde, dann deshalb, weil er Bestandteil der öffentlichen Meinung und damit ein akzeptierter Gegenstand von öffentlicher Kommunikation war. Indizien dafür sind weniger die umfangreichen Beiträge im Feuilleton, die vor allem einen Überblick über Werk und Biographie vermitteln wollten, oder die Feierstunden im Hörfunk aus Anlaß des Geburts- und Todestages, sondern eher die kleinen und unauffälligen Meldungen, die in der tagtäglichen Informationsflut nicht weiter auffielen, oder die zahlreichen Verweise und Bezüge auf Nietzsche, wenn Themen in den Massenmedien verhandelt wurden, die mit Nietzsche primär gar nichts zu tun hatten. Als exemplarisches Beispiel sei hier ein Satz aus einem Artikel des Abendblattes der Frankfurter Zeitung vom 13. April 1922 zitiert: „In diesen Tagen, da jedes dritte Wort in Zeitungen und Gesprächen Genua lautet" an diesem Ort verhandelten die Siegermächte des 1. Weltkrieges mit Deutschland über den Modus der Reparationszahlungen „mag es interessieren, wie Friedrich Nietzsche diese Stadt, die heute Mittelpunkt der Welt geworden ist, und ihre Bewohner sieht." Zeitungsartikel mit Formulierungen dieser Art sind keine Seltenheit in den Beständen des Nietzsche-Archivs; die beauftragten Zeitungsausschnittdienste müssen sehr gründlich recherchiert haben. Nietzsche wurde nicht nur als Autorität in Sachen Genua präsentiert; die Themenpalette war breitgefächert, sie reichte bis zu Fragen der gesunden Ernährung und der Körperertüchtigung. -

-

14

Verwaltung,

15

„Öffentliche Meinung",

in: Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Opladen 1983, 12 f. E. Noelle-Neumann, Öffentliche Meinung. Die Entdeckung der Schweigespirale, erw. Ausg., Frankfurt N. Luhmann,

3. Aufl.,

a.M./Berlin 1991, 216.

Jörn Pestlin

156

Sinnvoll waren solche Querverweise und Bezüge aber nur dann, wenn die Person, zu der sie hergestellt wurden, populär war. Diese Art der publizistischen Thematisierang Nietzsches basierte einerseits auf der Voraussetzung, daß der Leser oder Hörer mit dem Thema Nietzsche vertraut war, daß er keiner grundlegenden Einführungen bedurfte, um sich von dieser Nachricht angesprochen zu fühlen. Die Hauptkoordinaten des Themas wurden als bekannt vorausgesetzt. Noch wichtiger allerdings ist, daß das Thema als solches etabliert war. „Es entzieht sich durch Selbstverständlichkeit der Disposition", heißt es bei Luhmann. „Nicht mehr das Thema selbst, nur noch die Meinungen und Entscheidungen über das Thema stehen zur Verfügung."16 Mit der Etablierung Nietzsches als Thema der öffentlichen Kommunikation war es möglich, Meinungen zu Nietzsche öffentlich zu äußern, ohne sich der Gefahr auszusetzen, ins Leere zu laufen. Der Name Nietzsche versprach Aufmerksamkeit von Seiten des Lesers oder Hörers; und diese war und ist unerläßlich für (kom-

merzielle) Massenmedien.

Warum wurde Nietzsche aber zum Bestandteil der öffentlichen Meinung? Warum garantierte er über so lange Zeit Aufmerksamkeit? Luhmann vermutet verschiedene Regeln, die bei der Verteilung von Aufmerksamkeit und der Themenbildung strukturierend wirken. Einige dieser sehr allgemein gehaltenen Regeln lassen sich zur Erklärung der Thematisierang Nietzsches durchaus heranziehen. Unter Punkt eins heißt es bei Luhmann: „Überragende Priorität bestimmter Werte, deren Bedrohung oder Verletzung gleichsam von selbst ein politisches Thema entstehen läßt."17 Nietzsche verletzte permanent, zumindest verbal, tradierte Werte und Normen, eines seiner Ziele war ja bekanntlich die „Umwertung aller Werte". Da er dieses Ziel äußerst radikal und provokativ verfolgte, konnte er entweder als Bedrohung für Sitte und Ordnung identifiziert werden oder aber als Prophet einer längst überfälligen moralischen Erneuerung gelten. „Der Status des Absenders einer Kommunikation" wird als eine weitere Regel genannt. „Politische Führer, bekannte Namen, gesellschaftliche Größen finden für ihre Mitteilungen eher Aufmerksamkeit und Echo als Leute, die nicht über prominenten Status verfügen. Der Status färbt gleichsam auf die Mitteilung ab."18 Als sich Personen mit einer gewissen gesellschaftlichen Stellung für Nietzsche interessierten und dies auch öffentlich artikulierten, erweiterte sich der Kreis derer, die ihn kannten, schlagartig. Heute würde man von Multiplikatoren sprechen. Wichtig war, daß diese Personen ihre Heimat in unterschiedlichen Teilsystemen der Gesellschaft hatten Wissenschaft, Kunst, Literatur, Politik, Publizistik und deshalb über einen insgesamt großen Wirkungsradius verfügten. Eine nächste Aufmerksamkeitsregel beschreibt Luhmann mit „Symptome politischen Erfolges. Da in der komplexen Welt der Politik die realen Bedingungen des Erfolges oft unabsehbar und ausreichende Informationen nicht vorhanden sind, treten an deren Stelle Symptome mit besserem Orientierungswert etwa [...] die Erwähnung [...] in der Presse [...]."19 Diese Aussage, übersetzt auf den hier diskutierten Fall, könnte heißen: nachdem der Prozeß einer öffentlichen Thematisierang einmal ins Laufen gebracht wurde, nährte dieser sich aus sich selbst. Über Nietzsche wurde berichtet, weil über Nietzsche berichtet wurde; eine Art Perpetuum mobile der Kommunikation. -

-

-

16 17 18 19

Luhmann, Ebd., 16. Ebd., 17. N.

Ebd.

„Öffentliche Meinung",

18.

Nietzsche-Lyrik Neben diesen

im Weimarer

157

Rundfunk

allgemeingültigen Prinzipien der Themenbildung öffentlicher Kommunika-

tion, die beschreiben, nach welchen Regeln Aufmerksamkeit sich fokussiert, müssen sich auch Gründe dafür benennen lassen, warum ausgerechnet Nietzsche Bestandteil der öffentlichen Meinung war. Kursorisch sei auf einige verwiesen, ohne daß die angegebene Reihen-

eine Wertigkeit ausdrückt: Die Geheimnisse und vermuteten Skandale, die sich um die Person Nietzsche, dessen Leben und Wahnsinn rankten, boten ausreichend Stoff für einen Journalismus, der heute unter die Kategorien „Boulevard" oder „Yellow" fallen würde. Die Aphorismen und Fragmente Nietzsches, mit ihrem Changieren zwischen Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit, boten ein schier unerschöpfliches Reservoir an Zitaten für die unterschiedlichsten Themenbereiche und Positionen. Tucholsky brachte diesen Sachverhalt auf den Punkt: „Sage mir, was du brauchst, und ich will dir dafür ein Nietzsche-Zitat besor-

folge -

-

gen."20

Über die Beziehung zu Nietzsche und dessen Werk meinten verschiedene Bevölkerungskreise ihrem Lebensgefühl Ausdruck verleihen zu können; man glaubte in Nietzsche die eigenen verdrängten und untergründigen Ängste, Bedürfnisse und Ressentiments artikuliert zu finden. Die Printmedien, allen voran der Typus der meinungsbildenden und -transportierenden Tageszeitung, griffen Nietzsche immer wieder als Thema auf, da dieser von unterschiedlichen, teilweise divergierenden politischen Strömungen und Meinungen beansprucht wurde. Er diente quasi als Ausgangs- und Bezugspunkt im Koordinatensystem der politischen und kulturellen Kontroverse. Öffentlichkeit macht salonfähig: mit einem Verweis auf Nietzsche als Ursprung konnten Meinungen und Positionen artikuliert werden, die eigentlich nicht akzeptiert waren. Diese Motive besitzen wenigstens eine Gemeinsamkeit: eine gewisse Offenheit und Unbestimmtheit, die viel Raum für Interpretation und Instrumentalisierung ließ. Eine weitere, nicht zu unterschätzende Ursache für die Präsenz Nietzsches in den unterschiedlichen Massenmedien dürfte in den zahlreichen auf massenmediale Publizität gerichteten Aktivitäten des Archivs seiner Schwester zu suchen sein. Um die Frage nach möglichen Motiven für die offensichtliche Attraktion, die ein Philologe, Philosoph und Dichter wie Nietzsche auf die Massenkultur ausüben konnte, beantworten zu können, muß zuerst einmal geklärt werden, welche Formen diese massenkulturelle Bemächtigung angenommen hatte. Es geht nicht primär um das Warum, sondern um die Art und Weise, wie Nietzsche von der Massenkultur, speziell von den Massenmedien, aufgesogen wurde. Den Nietzsche-Bildern, die die Massenmedien produzierten, inszenierten und massenhaft verbreiteten, soll das Interesse gelten. Es steht zu vermuten, daß die Massenmedien für viele ihrer Nutzer die einzige und zufällige Berührungsfläche mit dem Namen Nietzsche darstellten; daß sie also Nietzsche erst wirklich populär gemacht haben. Daß das Wissen um und über Nietzsche zu einem beträchtlichen Teil aus den Massenmedien gewonnen wurde. Mit der massenmedialen Thematisierung wurde eine notwendige Grundlage für den allgemeinen gesellschaftlichen Wissens- und Meinungshorizont hinsichtlich eines Begriffs Nietzsche geschaffen. Der Einfluß der Massen-

-

-

-

20

K. Tucholsky, Gesammelte Werke, Bd. 10 Reinbek 1975, 14.

[1932], hg.

v.

M.

Gerold-Tucholsky

u.

F.-J. Raddatz,

158

Jörn Pestlin

medien auf diesen Wissens- und Meinungshorizont und damit auf die in der Gesellschaft zirkulierenden Nietzsche-Bilder dürfte erheblich gewesen sein. Die Erkenntnis, daß der größte Teil unseres Wissens über die Welt nicht aus unmittelbar gemachten Erfahrungen und Beobachtungen stammt, sondern über die Massenmedien gewonnen wird, ist so neu, wie man annehmen könnte, nicht. In seinem Buch Public opinion kam der Amerikaner Walter Lippmann bereits 1922 zur selben Erkenntnis. Darüber hinaus erkannte er, daß die medial vermittelte Welt immer eine vereinfachte und reduzierte ist, daß sie als solche aber nicht wahrgenommen wird.

„Was da entsteht

an vereinfachten Bildern der Wirklichkeit, das ist die Wirklichkeit der die Menschen, .pictures in our heads', das ist unsere Realität. Was immer die Wirklichkeit tatsächlich sein mag, es ist bedeutungslos, nur unsere Annahmen über die Wirklichkeit zählen, nur sie bestimmen unsere Erwartungen, Hoffnungen, Anstrengungen, Gefühle, nur sie bestimmen unsere Handlungen. Diese Handlungen aber sind ihrerseits real und haben reale Tragweite, schaffen neue Wirklichkeit."21

Damit rückt auch eine ganz andere Fragestellung ins Blickfeld, die nach den prä- oder protofaschistischen Tendenzen in Nietzsches Denken und Wirkung. Möglicherweise sind nämlich die Versuche einer umfassenden Ideologisierang und Politisierung Nietzsches auf der Ebene der akademischen Philosophie eine Reaktion auf massenmediale Gebrauchsmuster und -Strategien. Damit ist gemeint, daß die Massenmedien bestimmte Klischees, Stereotype und Bilder mit spezifisch ideologischen Konnotationen produzierten und verbreiteten bzw. aufgegriffen, tradiert oder vernutzt haben, die erst nachträglich eine „höhere" wissenschaftliche Weihe bzw. Verdammung erfahren haben, nachdem sie sich als äußerst ergiebig und folgenreich für politische und propagandistische Zwecke erwiesen hatten nach dem Prinzip einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Die massenmedialen Bilder, Ausdruck der an Nietzsche herangetragenen Erwartungen, beeinflußten den gesamten Prozeß der Rezeption -

nachhaltig. Ein allgemeines Problem,

das dem bisher Dargestellten auch zugrunde liegt, ist im weitesten Sinne das Verhältnis von Form und Inhalt in der Kommunikation. Also die Frage danach, ob und wie das Medium die Botschaft transformiert oder, mit McLuhan, ob das Medium die eigentliche Botschaft ist. Nietzsche selbst gibt den Anstoß, die Wirkung von Dichtung und Philosophie deren Rezeption unter diesem Blickwinkel zu betrachten. Denn er war nicht nur Philosoph und Dichter, er überwand auch die Grenzen seiner eigentlichen Profession der Philologie und entwickelte sich zum Medientheoretiker,22 durch dessen gesamtes Werk sich die Thematisierang der Sprache, der Umgang mit diesem Medium das Sprechen und Schreiben, das Hören und Lesen wie ein roter Faden zieht. Er setzte sich mit der Verschriftlichung der oralen griechischen Kultur und der umfassenden Literalisierang der zeitgenössischen Gesellschaft und deren sozialen und psychologischen Folgen auseinander. Medium und Rezeption sind für Nietzsche nicht voneinander zu trennen. -

-

-

-

-

-

21 22

Noelle-Neumann, Öffentliche Meinung, 214 f. dazu F. Kittler, Grammophon Film Typewriter, Berlin 1986; und R. Fietz, Medienphilosophie. Musik, Sprache und Schrift bei Friedrich Nietzsche, Würzburg 1992. E.

Vgl.

Nietzsche-Lyrik

im Weimarer

Rundfunk

159

„Die Annahme oder Unterstellung ,reiner', von aller Medialität unberührter, also unmittelbarer Inhalte ist für ihn ein metaphysisches Phantasma. [...] Es gibt keine unmittelbar einsichtigen Inhalte, keine transmedialen Bedeutungen. Ein Medium ist nie ein .bloßes' Medium, ist nicht neutral hinsichtlich der in ihm vermittelten Gegenstände, sondern entscheidend beteiligt an ihrer Konstitution. Jeder .Inhalt' unterliegt der spezifischen Qualität und Dynamik seines Mediums. Und auch hinsichtlich seiner Rezeption ist das Medium nicht neutrales Transportmittel: unabhängig von allen Inhalten prägt und modifiziert es vielmehr die Art und Weise, in welcher der Rezipient Inhalte vernimmt, aktiviert bestimmte sensitive und kognitive Fähigkeiten des Rezipienten und anästhesiert andere. Dem Leser, beispielsweise, wird eine ganz andere Rezeptionsleistung abverlangt als dem Hörer eines Textes, er ist in ganz anderer Hinsicht angesprochen und gefordert."23 Aus dieser Perspektive heraus erscheint die Frage nach der Art und Weise, wie die Person Nietzsche und deren Werk durch Massenmedien vermittelt und transformiert wurde, sinnvoll. Hinzu kommt dann auch noch die, man möchte fast schon meinen pikante Tatsache, daß Nietzsche, der als einer der ersten und vehementesten Kritiker des Journalismus und der Massenpublizistik auftrat, zu einem der Lieblingskinder dieser ,,schreibfingrige[n] Sklaven des demokratischen Geschmacks" (KSA 5, 61) avancierte. Die Aufgabe lautet aus diesem Grund auch: mit Nietzsche sich der Rezeptionsgeschichte Nietzsches anzunähern.

Massenmedien und

Lyrik

Nietzsche wurde unter verschiedenen inhaltlichen Blickwinkeln und Schwerpunktsetzungen in und durch die Massenmedien thematisiert, so z. B. auch in seiner Eigenschaft als Dichterphilosoph, als Verfasser von wortgewaltiger Lyrik. Womit eine Verbindung zu dem Thema der Werkstatt geknüpft ist. Die vorliegende Arbeit will keine neuen Interpretationsangebote unterbreiten, es sollen auch nicht die möglichen Quellen und Inspirationen für die Motiv- und Metaphernwahl Nietzsches aufgespürt werden. Nicht der Produktions- bzw. Produzentenseite, sondern der der Rezeption bzw. dem Rezipienten soll das Interesse gelten. Rezeption allerdings nicht im klassischen Sinne, also unter den Fragestellungen: Wie, wo oder warum taucht Nietzsche im Werk dieser oder jener Größe (der Literatur- bzw. Philosophiegeschichte) auf? Oder wer übte auf ihn bzw. auf wen übte Nietzsche maßgeblichen Einfluß aus? Den massenmedialen und damit massenhaften Gebrauchsformen, -mustern und -zusammenhängen der Lyrik Nietzsches soll nachgegangen werden. Es gilt also die eingangs formulierte Frage nach den massenmedialen Nietzsche-Bildern hinsichtlich des Stellenwerts und der Funktion der Lyrik innerhalb des Prozesses der Inszenierung und Verbreitung zu konkretisieren. Das Interesse gilt den möglichen Intentionen, die die Thematisierung der Lyrik bzw. deren Gebrauch in den Massenmedien bestimmt haben. Es geht um die in diesem Prozeß bewußt inszenierten und unbewußt produzierten Nietzsche-Bilder und -Klischees und deren mögliche Wirkung auf der Seite des anonymen Rezipienten.

23

R. Fietz,

Medienphilosophie,

282 f.

Jörn Pestlin

160 Zur

Beantwortung dieses Fragenkomplexes wäre es von Interesse, zu wissen, wie groß der Bekanntheitsgrad der Lyrik Nietzsches war. Verschiedene Fakten deuten darauf hin, daß die Lyrik nicht nur in den Kreisen der kulturellen Eliten bekannt war. So legt die Tatsache der umfangreichen editorischen Aktivitäten bezüglich der Gedichte Nietzsches die Vermutung nahe, daß ein Bedarf und damit auch eine gewisse Bekanntheit bestand. Neben der von Nietzsche selbst veranlaßten Herausgabe seiner Gedichte gab es eine von

überhaupt

Elisabeth Förster-Nietzsche verantwortete, mehrfach bearbeitete und von verschiedenen Verlagen veröffentlichte Gedicht- und Sprachsammlung. In der von Adolf Levenstein 1914 herausgegebenen Textsammlung Friedrich Nietzsche im Urteil der Arbeiterklasse, in der Reflexionen über den Dichter Nietzsche eher marginal sind, formulierte ein Weber: „Vorweg will ich bemerken, daß die Lektüre der beiden Bücher von Nietzsche, die ich besitze: ,Also sprach Zarathustra' und ,Gedichte und Sprüche' den tiefsten Eindruck auf mich gemacht hat [...]."24 Die verschiedenen Werkausgaben enthielten auch jeweils umfangreiche Zusammenstellungen von Gedichten aus dem Nachlaß Nietzsches. In dem separaten Gedichtband der Musarionausgabe25 wurden sogar einige als Prosatext verfaßte Abschnitte aus dem Zarathustra in Versform abgedruckt. Die Annahme, daß sich die Kenntnis von Nietzsches Lyrik nicht nur auf Insider und Spezialisten beschränkte, ist zumindest nicht unberechtigt. Die allgemeine Zugänglichkeit als eine wesentliche Voraussetzung dafür war jedenfalls gegeben. Ob die Bücher allerdings wirklich gelesen wurden, oder ob sie eher dekorativen Zwecken dienten, kann nicht geklärt werden. Als andere mögliche Informationsquelle zu dieser Problematik könnten auch zeitgenössische Lehrpläne höherer Bildungsanstalten oder Überblickswerke zur Literaturgeschichte, die inhaltlich auf ein breites Publikum abgestellt waren, herangezogen werden. Die Auswertung umfangreichen Quellenmaterials aus dem Bereich der Printmedien (Tageszeitungen, Publikumszeitschriften) und des Hörfunks (Programmzeitschriften, Rezensionen und Manuskripte zu Hörfunksendungen) und der Vergleich dieses Materials zeigte, daß die Auseinandersetzung mit Nietzsche in beiden Massenmedien auch über den Gebrauch und die Thematisierang der Gedichte Nietzsches stattfand. Anders als in der Presse kam der Lyrik im Hörfunk allerdings eine quantitativ und qualitativ wesentliche Rolle bei der Thematisierang Nietzsches zu. Daher soll sich das Augenmerk im folgenden auf das Massenmedium Hörfunk richten, wobei der Rückgriff auf die Printmedien als Sekundärquellen unerläßlich ist, da es keinerlei Tondokumente, die den Arbeitsgegenstand betreffen, gibt.

Rundfunkveriührungen Die von den Printmedien zelebrierte bzw. von ihnen selbst initiierte „Nietzsche-Mode" dauerte schon zirka dreißig Jahre an, als sich mit dem Hörfunk eine zusätzliche Bühne zur Auf- und Weiterführang dieses Spektakels eröffnete. Diese Bühne ist für den oben formulierten Fragenkomplex insofern von Bedeutung, als sie ein Ort war, an dem verstärkt mit

24 25

A. Levenstein (Hg.), Friedrich Nietzsche im Urteil der Arbeiterklasse, Leipzig 1914, 30 f. F. Nietzsche, Gesammelte Werke, Musarionausgabe, Bd. 20: Dichtungen 1859-1888, hg. v. R. M. Oehler u. F. C. Würzbach, München 1927.

Oehler,

Nietzsche-Lyrik

im Weimarer

Rundfunk

161

Lyrik gearbeitet werden konnte und gearbeitet wurde. Die Transformation der „NietzscheMode" ins Auditive erfolgte im wesentlichen über den Gebrauch seiner Lyrik. In dem

eingangs zitierten Text aus der Baltischen Presse war die Rede davon, daß die gesamte Weltbevölkerung via Radio an der Nietzsche-Feier und den dort gehaltenen Reden, Gedichtrezitationen und Lesungen teilhaben konnte. Das Fiktionale dieser Passage beschränkt sich auf das Technische und Organisatorische. Für flächendeckende globale Rundfunksendungen fehlten 1930 noch weitgehend die technischen Voraussetzungen die Stärke der Sendeanlagen war für transnationalen bzw. transkontinentalen Sendebetrieb nicht ausreichend -, vor allem mangelte es an den für einen Weltrundfunk notwendigen gesellschaftlichen und politischen Strukturen sowie den erforderlichen völkerrechtlichen Vereinbarungen. Die geschilderte Art der Programmgestaltung war dagegen längst Realität geworden. -

Seit dem offiziellen Start des deutschen Unterhaltungsrundfunks mit der Übertragung aus dem Berliner VOX-Haus am Abend des 29. Oktober 1923 war Nietzsche in dem neuen Massenmedium Hörfunk akustisch präsent. Aber nicht nur das, auch zur programmatischen Selbstverständigung und Legitimation des Hörfunks taugte eben dieser Nietzsche. In einer Schrift zum ersten Rundtunkjubiläum hieß es:

„leichter Unterhaltungsmusik"

„Nietzsche sagt einmal: ,Man muß den Menschen zur Kunst nicht nur überreden, sondern dazu verführen.' Ein solcher Verführer ist der Rundfunk. Er kommt nicht feierlich befrackt auf das Podium, er verlangt nicht den Kauf von Eintrittskarten und den Weg zu einem Vortragssaal in Irgendwo er ist im Zimmer, erzählt eine Stunde von Dichtern und Dichtungen und verlangt kein Beifallklatschen und kein Gedränge an der Garderobe Nie ward es dem Menschen so leicht gemacht, zur Literatur zu kommen [...]. In anmutiger, leicht faßlicher, von Musik umschmeichelter Form führt der Rundfunk zur Literatur aller Völker und aller Zonen: zur Raumüberwindung der tönenden Welle gesellt sich die Zeitüberwindung. Der Rundfunk wirbt so für die Dichtung und streut ihr Samenkorn in weitem und immer weiteren Bogen. Die Literatur kann den Rundfunk nicht mehr entbehren. Man kann sagen: wenn ihn nicht die Techniker erfunden hätten, hätten ihn die Dichter erfinden müssen, den Verführer Rundfunk."26 -

...

...

Wie schon so oft in diesem Jahrhundert erwiesen sich Nietzsche-Zitate als überaus vielseitig verwendbar. In diesem Falle war es ein Vertreter des noch jungen Unterhaltungsrundfunks der Autor war literarischer Berater der Stuttgarter Rundfunkgesellschaft -, der sich bei der Aufgaben- und Positionsbestimmung des neuen Massenmediums auf Friedrich Nietzsche berief. In seinen hymnischen Ausführungen wähnte er den Hörfunk in doppelter Weise Nietzsche verpflichtet. Dessen Verführungsgedanken und -absichten sah der Autor in und mit dem Rundfunk realisiert. Der dafür zu zahlende Preis war allerdings hoch, sehr hoch: paradoxerweise sollte nämlich aus dem kaum emanzipierten Hörer wieder ein Leser gemacht werden, der sein neues Radio für dessen Nutzung er monatlich eine Gebühr entrichten mußte abschaltet, geläutert und motiviert zu seinem Bücherschrank eilt, um in diesem Falle zur Kröner-Taschenbuchausgabe zu greifen. „Ja, so ist der Rundfunk: ein selbstloser, ehrlicher Makler!"27 Der sich selber ganz in den Dienst anderer stellte und keine eigenen Interessen und Ambitionen verfolgte. Der Eindruck könnte zumindest entstehen. -

-

-

26 27

P. Enderling, „Rundfunk, der Verführer", Süddeutscher Ebd.

Rundfink 1 (1924),

Nr.

4, 111.

162

Jörn Pestlin

Ob und wie der Makler Rundfunk seine Rolle gegenüber dem Klienten Nietzsche auszufüllen verstand, was er unternahm, um dem Verbraucher diesen als eine unverzichtbare Ware zu offerieren, und speziell welche Rolle dabei dessen Gedichte spielten, soll im weiteren untersucht werden. Es geht vor allem um die Frage: Welche Mittel und Strategien er zur Erfüllung seiner eingegangenen Verpflichtung einsetzte, wie er Nietzsche präsentierte. Eine rein quantitative Beurteilung der Aktivitäten der Rundfunkgesellschaften hinsichtlich Nietzsches ist nur schwer möglich. Lediglich Zahlen stehen zur Verfügung, keine endgültig gesicherten und vor allem fast ohne Vergleichsmöglichkeit, deshalb auch ohne konkreten Aussagewert. Es läßt sich also nicht abschließend sagen, ob der Name Nietzsche im Hörfunk über- oder unterdurchschnittlich oft Erwähnung fand; mit der Rundfunkpräsenz Goethes konnte Nietzsche sich jedenfalls nicht messen, allein im Goethe-Jahr 1932 wurde der Faust dreißigmal durch die einzelnen Sendegesellschaften zur Aufführung gebracht.28 Für die gut neun Jahre der Weimarer Rundfunkgeschichte lassen sich über 30 Hörfunksendungen, die in irgendeiner Form den Namen Nietzsche im Titel führten, nachweisen. Dazu kommen noch einmal etwa 30 Sendungen, die nicht unmittelbar Nietzsche zum Thema hatten, aber in denen sein Werk zur Programmgestaltung herangezogen, ausgebeutet wurde. Dies sind mit Sicherheit nicht alle Beiträge, die von den Rundfunkgesellschaften produziert und ausgestrahlt wurden. Sie können aber durchaus als repräsentativer Querschnitt von Formen und Inhalten der auditiven Inszenierung Nietzsches, seiner Person und seines Werkes für diesen Zeitraum gelten.

Stellvertreter Rundfunk Die offensichtlichen Anlässe, Nietzsche einen Programmplatz im Hörfunk einzuräumen, lassen sich nicht immer ausmachen. Wie in den Printmedien war auch hier sein Geburtsbzw. Todestag häufig Anstoß, ihn in das Bewußtsein der Hörerschaft zu rücken. Die dabei angewandten Gestaltungsmuster wurden weitgehend anderen, traditionellen Bereichen der Kommunikation entlehnt. In seiner Rede über die Funktion des Rundfunks charakterisierte Brecht den Rundfunk in seiner ersten Phase als einen sich eindrängenden Stellvertreter. „Als Stellvertreter des Theaters, der Oper, des Konzerts, der Vorträge, der Kaffeemusik, des lokalen Teils der Presse usw. Von Anfang an hat der Rundfunk nahezu alle Institutionen, die irgend etwas mit der Verbreitung von Sprech- oder Singbarem zu tun hatten, imitiert."29 In diese Beschreibung Brechts läßt sich auch das Engagement des Rundfunks für Nietzsche einordnen. Das neue Massenmedium trat an die Stelle des Vortrages im Bildungsverein und der Feierstunde im Stadttheater; dies waren für die Programmgestaltung die wesentlichen Quellen der Inspiration und Imitation. Inhaltliche oder strukturelle Transformationen wurden kaum realisiert.

28 29

C. Hörburger, Das Hörspiel der Weimarer Republik. Versuch einer kritischen Analyse, Stuttgart 1975, 30. B. Brecht, Der Rundßnk als Kommunikationsapparat. Rede über die Funktion des Rundßnks, in: Schriften 1, Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 21, Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 1992, 552.

163

Rundfunk

Nietzsche-Lyrik

im Weimarer

Dichtung

und Rundfunk

angesprochen, war der Rundfunk ein Massenmedium, daß bei seiner Programmarbeit bezüglich Nietzsches recht umfangreich auf dessen Lyrik zurückgriff. Daneben bildeten informierende Vorträge, Sprüche, einzelne Abschnitte aus dem Zarathustra sowie das liedkompositorische Werk die wesentlichen Elemente, aus denen ein typischer Hörfunkbeitrag über Nietzsche zusammengestellt wurde. Welche Nietzsche-Bilder der Hörfunk durch diese Materialauswahl und die Behandlung des Materials inszenierte und verbreitete und worin möglicherweise die Motive für diese Programmgestaltung bestanden, soll im folgenden anhand einiger Beispiele aus der Rundfunkgeschichte erörtert werden. Mit einem wohl eher zufällig erhalten gebliebenen Brief an das Nietzsche-Archiv vom Wie schon oben kurz

Oktober 1924 meldete sich ein entrüsteter Nietzscheaner und Radiohörer schreibt:

zu

Wort;

er

„In Leipzig war eine eigenartige Nietzsche-Feier, dergestalt, dass am 80. Geburtstag des grossen Gelehrten der Leipziger Messe-Sender durch den Rundfunk die sämtlichen 7 einzeln erschienenen Nietzsche-Lieder hat singen lassen. Sie sind also auf diese Weise von vielen Tausend Menschen gehört worden. Dazwischen sprach der frühere Regisseur des Leipziger Stadttheaters [...] Gedichte Nietzsches aus dem Zarathustra und anderen Werken, also an sich eine sehr stimmungsvolle Feier, wenn sie nur nicht durch den Rundfunk gewesen wäre, denn künstlerischen Ansprüchen kann der doch nun einmal nicht

genügen."30

Mit seiner nur nebenbei geäußerten Meinung zu dieser Sendung beschreibt der Hörer indirekt mit wenigen Sätzen eine typische Darstellungsweise Nietzsches durch den Funk. Er spricht zwar vom „grossen Gelehrten" und Dichter, läßt den Denker aber hinter dem Dichter verschwinden. Die Betonung des Dichters erfährt noch Bekräftigung durch die Kritik am Rundfunk als einer technischen Apparatur, die den „künstlerischen Ansprüchen", die der Nietzscheaner an die Feier seines Idols stellt, nicht genügen. Unterschwellig wird das Medium als ein kunstfeindliches charakterisiert, und daher also als ungeeignet für Nietzsche, den Künstler. Ob in den Titeln von Rundfünkbeiträgen, den Überschriften von Programmankündigungen oder den Rezensionen in den Programmzeitschriften, immer wieder tauchen die Wendungen Dichter und Denker, Dichter und Philosoph oder die Bezeichnungen Lyriker bzw. Dichter auf. Exemplarisch ist der Fall der Berliner Sendegesellschaft Funk-Stunde, die am 25. August 1925 zu Nietzsches 25.Todestag eine Feierstunde veranstaltete und übertrug. Die Ankündigung dieser Sendung in der eigenen Programmzeitschrift ist mit Nietzsche der Dichter betitelt. Ein kurzer biographischer Abriß nennt wichtige Lebensdaten und beschreibt den philologisch-philosophischen Werdegang anhand einiger Schriften. Dem lesenden Hörer wird keine Interpretation oder Wertung zu inhaltlichen Fragen angeboten noch werden aktuelle Zeitbezüge hergestellt, einzig die Form und der Sprachstil werden thematisiert. Nietzsche wird als ein Künstler der Sprache beschrieben.

30

Brief vom Musikverlag Kistner & Siegel B, 14.

(Leipzig) an das Nietzsche-Archiv vom 22.10.1924, GSA, ZA

Jörn Pestlin

164

„Ein ganz neuartiger und sprachlich gehobener Stil waltet in [seiner] Dichtung. [...] Einer der freiesten Geister und genialsten Vorkämpfer ist mit Nietzsche dahingegangen. Seine Ethik ist durch Unverständnis und die geistige Enge des vergangenen Jahrhunderts aufgestachelt worden. Wir erfreuen uns an seiner kristallklaren Sprache und an dem hohen dichterischen Schwung seiner Schöpfungen."31 Hier wurde die eingeschlagene Richtung klar benannt: nicht seine Kritik an einer traditionellen Weltinterpretation, der bigotten Moral im Wilhelminischen Kaiserreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts, nicht seine erkenntnis- oder philosophiekritischen Gedanken oder das Ambivalente der Person Nietzsche wurden thematisiert. Einzig seine schöne Sprache sollte erfreuen. Der Hörer möge vor Verzückung vor seinem Empfänger erstarren. Eine Rundfunkkritik belegt, daß diese Akzentsetzung auch beim Hörer, zumindest beim professionellen Radiohörer, angekommen war. In einer Rezension in der Berliner BörsenZeitung war nachstehendes zu lesen:

„Nietzsche-Feier der Berliner Funkstunde. Die 25. Wiederkehr des Todestages von Friedrich Nietzsche veranlaßte die Berliner Funkstunde, die Abendveranstaltung am 25. August zu einer Gedächtnisfeier für den großen Toten zu gestalten. Man hatte in Theodor Kappstein einen berufenen Redner gewonnen [...], [er] verstand es vor allem, auch ohne dabei ins Seichte zu verfallen, eine wahrhaft populäre Einführung in die Gedankenwelt des Dichter-Philosophen zu geben [...]." Paul Bildt rezitierte

aus

dem Werk Nietzsches.

„Er las, gut ausgewählt, einige der markanten ,Sprüche', um sodann mit hervorragend beseeltem Vortrag einiger Gedichte den Lyriker Nietzsche zu beschwören .Venedig' und das .Tanzlied' wurden hinreißend gesprochen. [...] Temperament und stimmliche Leistung Paul Bildts machten die Darbietung zu einem vollendeten Genuß [,..]."32 -

Akzentuierung des Künstlers Nietzsche war keine Einzelerscheinung, sie war eine der typischen Formen, wenn nicht sogar die Form der auditiven Nietzsche-Inszenierung in den Anfangsjahren des Weimarer Rundfunks. Sendungen von gleichem oder ähnlichem Zuschnitt wie die der Berliner Funk-Stunde gab es häufiger. Wenn Nietzsche konstatiert: „In der ganzen Philosophie bis heute fehlt der Künstler" (KSA 13, 357), dann brachte er damit gleichzeitig zum Ausdruck, daß er diesen Zustand überwunden zu haben meinte. Die Verbindung von Kunst und Philosophie ist bei ihm kein beiläufiges öder zufälliges Resultat, sondern ein höchst reflektiertes. Die Dramaturgie der oben genannten Hörfunksendung aber geht auf die symbiotische Verbindung von Kunst und Philosophie nicht ein. Der Rundfunk machte in diesem Fall aus dem einen Nietzsche zwei. Den Künstler behielt er für sich, den verbreitete er über den Äther, für den Philosophen hatte er dagegen wenig Verwendung, den ignorierte er. In einer Programmankündigung zu einer Gedenkfeier zum 30. Todestag Nietzsches wird diese Praxis nochmals explizit ausgesprochen: Die

31 32

„Nietzsche der Dichter", Die Funk-Stunde vom 23.8.1925, Nr. 34, 658. „Nietzsche-Feier der Berliner Funkstunde", Berliner Börsen-Zeitung vom 28.8.1925 (Morgenausgabe).

Nietzsche-Lyrik

im Weimarer

Rundfunk

165

„Einen Dichter, nicht einen Philosophen, obgleich er beides gewesen ist, nenne ich Friedrich Nietzsche, [...] wie keinem seiner Zeitgenossen und noch Generationen nach Nietz-

diesem vom Schicksal vergönnt, in einer berückenden Schönheit der Sprache in reden, glänzenden Formulierungen, die auch dort noch berauschten und beglückten, der Inhalt der Werke sich in unklare Andeutungen verliert."33

sche

zu wo

war es

Es gab allerdings auch Kritik an dieser Art der Inszenierung Nietzsches; in der liberalen Vossischen Zeitung hieß es zu dem Beitrag der Berliner Funk-Stunde:

„Kappstein [hielt] einen kurzen, verwaschenen Vortrag, der zwar populär war, aber auch flach was keineswegs dasselbe ist und nicht einmal gut informierte. Dann rezitierte Paul Bildt, der sonst so kluge Schauspieler, Nietzsche mit unleidlichem Theaterpathos, ohne Sinn für den Nerv des Gedankens, der hinter der knalligen Drapierung der Worthülle verschwand." -

-

Ein guter

Beitrag über Nietzsche sollte „unbedingt auf die Bequemlichkeit eines GedankenPotpourris und den Unterhaltungsreiz eines bunten Abends verzichten" ,34 Der Verfasser dieser Rundfunkkritik unterstellt mehr oder weniger direkt, daß Nietzsche zum Gegenstand und Mittel profaner und beiläufiger Unterhaltung verkommt, die sich dazu noch hinter einem Bildungsanspruch verbirgt. Damit werde man weder Nietzsche noch dem Anspruch „sittlicher Hebung der Massen" durch Bildung, durch Partizipation an den „kulturellen Werten" gerecht. Das Elitär-Bildungsbürgerliche dieser Position, die Behauptung der Unvereinbarkeit von Kunst und Unterhaltung, ist latent; in ihr artikuliert sich die Befürchtung, daß die rezitierten Gedichte lediglich als formvirtuose, ästhetizistische Gebilde wahrgenommen werden. Mit der Konsequenz, daß die Symbiose von Dichtung und Philosophie aufgelöst wird, daß gedankliche Tiefe „hinter der knalligen Drapierung der Worthülle" verschwindet. Dabei wäre

zu fragen, ob die hier kritisierte Dominanz der „Worthülle", des akustischen Signifikanten, nicht auch als ein (unbewußter) Versuch gewertet werden kann, literale Rezeptions- und Interpretationsmuster zu unterwandern, um einerseits dem Rundfunk als einem genuin auditiven Medium gerecht zu werden und andererseits die sich neu eröffnenden Möglichkeiten dieses Massenmediums für die Auseinandersetzung mit Nietzsche und

dessen Werk zu nutzen. Das heißt also, daß die Kritik an der Art und Weise der Programmgestaltung genauso auf deren mediale Form abzielte; gewissermaßen als Grundkonflikt lag ihr die Differenz zwischen literaler und oraler Rezeption zugrunde. „Der Deutsche liest nicht laut, nicht für's Ohr, sondern bloß mit den Augen: er hat seine Ohren dabei in's Schubfach gelegt." So plastisch beschreibt Nietzsche Folgen des Wandels von einer primär oralen zu einer primär literalen Kultur. „Der antike Mensch las, wenn er las es geschah selten genug sich selbst etwas vor, und zwar mit lauter Stimme [...]: das will sagen, mit all den Schwellungen, Biegungen, Umschlägen des Tons und Wechsel des Tempo's, an denen die antike öffentliche Welt ihre Freude hatte". (KSA 5, 190) Literale Rezeption ist wesentlich durch das stille Lesen des vereinzelten Individuums geprägt, eine Tätigkeit, wo Signifikant und Signifikat ineinander fließen, wo die Differenz zwischen ihnen -

-

33 F. Rupp, „Vom Dichter des .Übermenschen'", Der 34 „Radio-Woche", Vossische Zeitung vom 4.9.1925.

neue

Rundfunk vom 24.8.1930 (Offenbach/M.).

Jörn Pestlin

166

Wo Sprache als Medium von festgelegten Bedeutungen erscheint; noch der Sinn, die Information hinter der „Worthülle", wahrgenommen wird. Diese literale Praxis hat zur Folge, daß „die .mannichfach modulirte Sprache' (MusA 5, 215) ihrer klanglichen, nicht kodifizierbaren signifikanten Überschüssigkeit beraubt" wird, und „nicht mehr als .Partitur' tonal modulierbarer Signifikanten fungiert, sondern lautlose Signifikate zu fixieren vorgibt" .35 Als Ergebnis der Ablösung der oralen durch die literale Kultur vermerkte Nietzsche eine Dominanzverschiebung auf den visuellen Sinn und, damit verbunden, eine immer stärker vom Intellekt beeinflußte und getragene Verarbeitung von Sinnesreizen. Die Funktion des Intellekts aber „ist nicht das phantasiebedürftige, das (ver)suchende und (er)findende, das versinnlichende Interpretieren der materiellen Zeichenhülsen, sondern das von einem Kode geleitete und kontrollierte Merken und Abrufen der in ihnen hinterlegten Signifikate".36 Die vorgebliche Unterdrückung der „gedanklichen Tiefe" muß also nicht unbedingt nur als Verlust gewertet werden, sondern könnte auch im Sinne Nietzsches aufgefaßt werden. Gewissermaßen als Reaktion, als praktische Umsetzung seiner Kritik an der Literalisierang und dem damit verbundenen Bedeutungs- und Machtzuwachs der Ratio. Überlegungen dieser Art bildeten möglicherweise den Hintergrund für einen Hörfunkvortrag mit dem Titel Nietzsche im künstlerischen Vortrag?1 den der Sender Münster (Westdeutscher Sendebezirk) am 25. August 1925 ausstrahlte. In ihm wurde der Hoffnung und dem Wunsch Ausdruck verliehen, den „Dichter und Philosophen Nietzsche" ohne die „sich häufenden wissenschaftlichen Aufhellungen [...], aus unmittelbarem Sinn und Klang des Wortes, wie es im künstlerischen Vortrag lebt, [...] genießen zu können". Der Autor wähnte Nietzsche fest in der Hand der Wissenschaft, und seiner Meinung nach resultierten daraus Defizite. Er verwies darauf, „daß man an der Tatsache kaum vorübergehen kann, wie sich mehrendes Ueberspinnen der Dichtung mit wissenschaftlichem und allzuwissenschaftlichem .Darüber' den Wert unmittelbarer Aufnahme durch sinnvolle Interpretation beeinträchtigen kann, und damit zweifelsohne eine Seite des Werkes mehr und mehr abgekehrt erscheint: die künstlerische".38 Diese Position ist die Reaktion auf einen Wandlungsprozeß innerhalb der NietzscheRezeption zu dieser Zeit, der auch von anderen Zeitgenossen wahrgenommen wurde. „Ein großer Brach in der Nfietzsche]-Tradition erfolgte um die Mitte der 20er Jahre [...]", konstatiert Gisela Deesz 1933 in ihrer Arbeit über die Entwicklung des Nietzsche-Bildes in Deutschland. „Plötzlich tritt N[ietzsche] als Denker und Philosoph in Erscheinung."39 Dem Vortragenden geht es aber nicht primär darum, den Künstler Nietzsche wieder in den Vordergrund zu rücken: „Ich bitte nicht mißzuverstehen: ,Rezitationsveranstaltungen' schlechthin mit Nietzsches Dichtungen, gar im .Programme' unglücklich eingefügt, möchte ich nicht das Wort reden." Es geht ihm um eine Sensibilisierang für das Hören, für den Klang der Worte, unabhängig von ihrer Bedeutung. „Hat Nietzsche dem gesprochenen Wort

weitgehend verschwindet. wo nur

35 36 37

Fietz, Medienphilosophie, 288. Ebd., 289. R.

Rundfunkvortrag Dichtungen"

38 39

vom

F. K. Rodemeyer; von diesem Vortrag liegt kein Manuskript vor, als Quelle Zeitungsartikel „Nietzsches Prophétie im Klang. Ein Beitrag zum Vortrag seiner selben Autor, Literarische Umschau. Wochenschrift der Badischen Presse vom

von

genutzt wurde der

26.8.1925 (Karlsruhe), Nr. 33, 129 f. u. a. Ebd. G. Deesz, Die Entwicklung des Nietzsche-Bildes in Deutschland

(Phil. Diss.),

Bonn

1933, 94.

Nietzsche-Lyrik

im Weimarer

Rundfunk

167

Bedeutung allgemein zuerkannt, so wird er seinem eigenen, als klingendem diese sicherlich in besonderem Maße beigemessen haben [...]." Seiner Meinung Phänomen, nach erschöpfen sich Nietzsches Erkenntnisse nicht im Begrifflichen, und deshalb könne man dem Wesen Nietzsches letztlich auch nicht mit Begriffen gerecht werden:

schon hohe

„kein Nennen, Bezeichnen der Erkenntnis, nein, ein Jauchzen der Erkenntnis'. Um das dem Ohre vernehmlich zu machen, ist eben das gesprochene Wort unerläßlich, in ihm erlöst sich das Eingefangene, und was noch so sehr geschärfter Verstand herausschält und manchmal vielleicht sehen möchte, es wird im Begreifen der Klangwelt Nietzsches zur Offenbarung, wenn nur die sinnvoll durchgebildete Sprechgestaltung aus den Worten die wesentlichen Kräfte fängt, die dann im wahrsten Sinne durch ihren Klanggehalt Prophétie sind. Es ist das, was zwischen den Zeilen schwingt, was so weit, so hoch hinausschwingt, daß es unserem jetzt so kümmerlich gewordenen ,Auge' nicht faßbar ist [...]."40 Ob die Aussage des Autors vom „kümmerlich gewordenen ,Auge'" als eine intuitive oder reflektierte Beschreibung der veränderten Rezeptionsbedingungen und -gewohnheiten in Folge der Entwicklung und Etablierung von Massenmedien, deren Reize über den Gehörsinn wahrgenommen werden (Telefon, Grammophon, Radio) zu bewerten ist und damit ein Thema Nietzsches unter umgekehrten Vorzeichen wieder aufgriff, läßt sich nur vermuten. Die Tatsache aber, daß dieses Thema Gegenstand eines Rundfunkvortrages war, läßt sich dahingehend interpretieren, daß der Autor des Vortrages einerseits nach einer „funkischen" Form der Auseinandersetzung mit dem Thema Nietzsche suchte und andererseits im akustischen Wesen des neuen Massenmediums eine Option sah, angemessen mit Nietzsche um-

zugehen.

Nietzsches

Lyrik im Rundfunk

Bei der

Gestaltung der einzelnen Rundfunksendungen, soweit darüber noch detaillierte Aufzeichnungen vorliegen, wurde auf eine verhältnismäßig geringe Zahl von Gedichttiteln zurückgegriffen. Dies, obwohl Nietzsches Gedichte umfangreich in gedruckter Form vorlagen. Unangefochten an erster Stelle bezüglich ihres Vortrages im Hörfunk standen drei Gedichte: An den Mistral, Venedig und Die Krähen schrei'n. Zufall ist die Wahl dieser Gedichte sicherlich nicht. Sieht man von ihrer lyrischen Qualität einmal ab, besitzen sie noch weitere Eigenschaften, die sie für diese herausgehobene Stellung prädestinieren. In ihnen artikulieren sich Eigenschaften, Wesenszüge und biographische Aspekte, die bei der Genese

verschiedener Nietzsche-Bilder eine konstitutive Funktion einnahmen, die diesen Bildern geradezu klischeehaft anhingen. „So ist das ,Tanzlied' An den Mistral eine hymnische Lobpreisung des dynamischen Lebens. Das hymnische ,Lied' wird zum ekstatischen Wirbel, der alle Bereiche des Lebens, das Erhabene wie das Häßliche erfaßt."41 Es ist „ein ausgelassenes Tanzlied, in dem, mit Verlaub! über die Moral hinweggetanzt wird [...]" (KSA 6,

40 41

F. K. Rodemeyer, „Nietzsches Prophétie im Klang", 129. T. Meyer, Nietzsche und die Kunst, Tübingen/Basel 1993.

168

Jörn Pestlin

334). Der brausende und mitleidlose Tanz steigert sich zum Vernichter des herkömmlichen, konventionellen Daseins mit seinen moralischen Schranken, er wird zum Ausdruck eines

schöpferischen Lebensentwurfes. Der antimoralistische und lebensbejahende Nietzsche wird mit diesen Versen zur Sprache gebracht. In den beiden anderen Gedichten finden direkte und indirekte Bezüge zu Nietzsches Leben und Schaffen ihren Ausdruck. Vor allem ist es das große Thema Einsamkeit, welches sich in ihnen artikuliert. Die Lust, aber auch die Pein der Einsamkeit; die immer wieder erlebte und erlittene Ambivalenz von intellektuellem Ansprach und seelischer Erfahrung dieses Zustandes sind Thema der Zeilen. Ein dagegen eher vordergründiges und unreflektiertes Motiv für den häufigen Gebrauch des Gedichtes Venedig dürfte in dessen Titel liegen, womit wahrscheinlich Nietzsches affirmative Beziehung zu dieser Stadt und zu den südlichen Regionen überhaupt dargestellt werden sollte, obwohl es Gedichte gibt, die diesem Anliegen weitaus besser entsprechen („Mein Glück!", Im Süden). Ein ganz anderes, die Öffentlichkeit bewegendes Kapitel aus Nietzsches Biographie schwingt in den Zeilen von Venedig zumindest untergründig mit. War es doch dieses Gedicht, das der wahnsinnig gewordene Nietzsche sang, als Overbeck ihn aus Turin abholte. Ob diese knapp skizzierten Bezüge allerdings als Intention hinter der Gedichtwahl standen, und ob beim damaligen Hörer ähnliche Assoziationen ausgelöst wurden, kann nur vermutet werden. Neben diesen hervorragenden Beispielen des dichterischen Schaffens Nietzsches wurden auch Jugendgedichte bei der Materialzusammenstellung für zahlreiche Funksendungen berücksichtigt. Ein exemplarisches Beispiel, Nietzsche auf diese Art akustisch erlebbar zu machen, bietet ein von der Schlesischen Funkstunde Breslau veranstaltetet und ausgestrahlter „Friedrich-Nietzsche-Abend" anläßlich des „25. Todestages des Dichters". Diese Sendung ist aus zweierlei Gründen beispielhaft für die Rundfunkpraxis bezüglich der Person Nietzsche in der Weimarer Zeit. Erstens von der Struktur her: ein Vortrag wird durch künstlerische Darbietungen ergänzt, gewissermaßen illustriert. Und zweitens von der inhaltlichen Schwerpunktsetzung: das Thema der Sendung und des Vortrages ist „Nietzsche als Dichter". Zur Umrahmung wurden Kapitel aus dem Zarathustra gelesen, Gedichte von Nietzsche rezitiert, von ihm komponierte Lieder sowie Vertonungen von Nietzsche-Gedichten gesungen. Diese Auswahl kann wohl als ein Versuch gewertet werden, anhand von Werkbeispielen eine „lyrischen Entwicklung" Nietzsches zu rekonstruieren. Der Bogen wird von den von Religiosität, Pathos und Weltschmerz getragenen, zumeist epigonalen Jugendgedichten (Heimweh, Nachtgedanken, Gethsemane und Golgatha, Erster Abschied) bis zu Nietzsches „vollendetstem Dithyrambus"42 Die Sonne sinkt gespannt. Dazwischen liegen dunkle bis düstere liedkompositorische Versuche, die Baseler Jahre mit dem monologischen Gedicht Der Wanderer, in dem „das vereinsamte Subjekt seine Grenzsituation in einprägsamen Naturlyrismen ausspricht",43 das expressive Tanzlied An den Mistral und Also sprach Zarathustra. Diese Rekonstruktion war aber eher eine Konstruktion, der vorgebliche Entwicklungsgang wurde an Nietzsche herangetragen, in ihn hineingedeutet. neuen,

42 43

T.

Meyer, Nietzsche und die Kunst, 127.

Ebd., 120.

Nietzsche-Lyrik

im Weimarer

Rundfunk

169

„Daß Nietzsche schon in Schulpforta, wie es für einen begabten und musisch interessierEleven normal ist, Gedichte verfaßt hat, bleibt in diesem Zusammenhang relativ unerheblich. Als Lebensziel hat Nietzsche den Poetenberuf nie verstanden. [...] weiter nicht von Belang ist auch der Umstand, daß es aus den Baseler Jahren noch vereinzelte ten

gibt, in denen Nietzsche die konventionelle lyrische Sprechweise seiner frühen Talentproben weiterführt."44 Gedichte

Das Bild eines kontinuierlich dichtenden Nietzsche hat seine Ursache unter anderem in der Editionspraxis des Nietzsche-Archivs, die Gedichte aus dem Nachlaß und die durch Nietzsche selbst veröffentlichten wurden aus ihrem Kontext herausgelöst und in einer Buchaus-

gabe zusammengefaßt. „Die vorliegende Sammlung [...] gibt ein Bild der dichterischen Entwicklung Friedrich Nietzsches während eines Zeitraums von dreißig Jahren", schreibt Elisabeth Förster-Nietzsche im Vorwort zu Gedichte und Sprüche. „Sie beginnt zu einer Zeit, wo das erste Stammeln poetischen Ausdrucks überwunden ist, und endet mit jener höchsten Erhebung des dichtenden Geistes, die nur noch in Dithyramben redet."45 Nietzsches durchaus zwiespältiges Verhältnis zum eigenen Dichtertum, Gedichte wurden von ihm erst ab einem bestimmten Zeitpunkt und als „Beigabe" zur schriftstellerischen Tätigkeit veröffentlicht, wurde geflissentlich übersehen. Durch die beschriebene Materialauswahl wurde vor allem der tragische, schwermütige und existentielle Gestus in Nietzsches Lyrik bedient, gewissermaßen als ihr Paradigma herauskristallisiert. Andere Themen, stilistische Varianten und Funktionen seiner Lyrik wurden weitgehend ausgeblendet, was nicht nur für die hier erwähnten Beispiele, sondern für die gesamte „funkische" Darstellung Nietzsches zutraf. Unterschlagen wurden die spielerische Ironie, die Heiterkeit, die Parodie und der Witz, Elemente, die besonders in der Gedicht- und Spruchsammlung „Scherz, List und Rache", einem Vorspiel in deutschen Reimen, aufblitzten. Diese spruchartigen Gedichte, „die Nietzsche zweifellos als ein Zeugnis seiner inneren Selbstbefreiung und als Gegengift für den romantischen Pessimismus seiner ersten

Phase verstanden

hat",46 kamen nicht zu Gehör.

Wenn

z.

B. in einem Hörfunkbei-

trag mit der Überschrift Nietzsche als Dichter auf die Zeilen Dichters Berufung, eine lyri-

Äußerung

zum Thema Dichten und Dichter und damit auch zu seinem verzichtet wurde, führt dies zu dem Verdacht, daß nur ein ganz eigenen Selbstverständnis, bestimmtes Bild vom dichtenden Nietzsche im Bewußtsein der Öffentlichkeit präsent war und/oder von den Programmverantwortlichen gewollt wurde. Welche Wirkung ein so gearteter Beitrag letztlich beim einzelnen Hörer zeitigte, welches Bild von Nietzsche haften blieb, kann nur vermutet werde. Zur Formulierung einer möglichen Antwort ist es notwendig, die Flüchtigkeit und Beiläufigkeit der Rezeption als wesentliche Merkmale des Mediums Hörfunk zu berücksichtigen. Ganz wesentlich dürfte das Bild, das nicht nur von dieser Sendung vermittelt wurde, durch die Musikdarbietungen geprägt worden sein. Neben vier von Nietzsches eigenen Liedkompositionen einer Marginalie seines Schaffens wurden auch die Gedichte Venedig, Die Sonne sinkt, Ecce homo und Aus dem Nachtlied Zarathustras in ihrer vertonten Form zur Aufführung gebracht.

sche

Nietzsches

-

-

44 45 46

B. Allemann, „Nietzsche und die Dichtung", in: H. Steffen (Hg.), Nietzsche. Werk und Göttingen 1974, 50. F. Nietzsche, Gedicht und Sprüche, hg. v. E. Förster-Nietzsche, Leipzig 1898, IX. B. Allemann, „Nietzsche und die Dichtung", 51.

Wirkung,

170

Jörn Pestlin

Diese Art der Interpretation und des Gebrauchs Nietzsches vermittelte ein eindimensionales Nietzsche-Bild und dies in doppelter Hinsicht. Diese Rundfunkbeiträge konzentrierten sich im wesentlichen auf den Künstler, den Lyriker und Musiker Nietzsche und dabei vor allem auf den tragischen, existentiellen und pessimistischen Gestus des künstlerischen Schaffens.

Der Hörfunk im Politik

Spannungsfeld von Kunst,

Kommerz und

Die Ursachen dafür, daß Nietzsche gern im Gewand des tragischen Dichters auf der akustischen Bühne vorgeführt wurde, sind auch oder sogar vor allem im Massenmedium Hörfunk, dem Selbstverständnis und den Ansprüchen, mit denen der Weimarer Hörfunk angetreten war, zu suchen. Die Einführung des Hörfunks in Deutschland war sowohl von der Funkindustrie als auch von verschiedenen staatlichen Instanzen vorangetrieben worden. Beide Seiten versuchten ihren Einfluß auf die technische, ökonomische und organisatorische Entwicklung des neuen Mediums zu wahren, da man sich von diesem finanziellen Gewinn erhoffte. Beide Seiten verstanden es, Interessenkonflikte intern auszutragen und am Parlament vorbei eine randfunkpolitische Ordnung zu schaffen. Daher „sind die offiziellen Funktionszuweisungen an den Weimarer Rundfunk nur als staatliche, nicht als gesellschaftliche Aufträge anzusprechen. Insofern war die Auftragslage' des damaligen Rundfunks weit weniger klar als heute [...]".47 Diese läßt sich wohl am ehesten definieren als ein permanenter Kompromiß angesichts interner Interessenkollisionen und als gemeinsame Abwehr externer Angriffe von Gruppierungen, die entweder den Hörfunk generell ablehnten oder denen der Zugang zu dem Massenmedium verweigert wurde, obwohl sie ihn für sich reklamierten. Die Funkindustrie verfolgte ausschließlich kommerzielle Interessen mit ihrem Engagement für den Hörfunk. Die staatlichen Akteure als Vertreter eines „Kulturstaates" erkannten dagegen in dem neuen Medium eine doppelte Chance: einerseits nämlich „ohne Eigenmittel eine neue kulturstaatliche Institution zu errichten, die sich selbst tragen, womöglich sogar für andere kulturelle Zwecke Gewinne abwerfen konnte", und andererseits die Möglichkeit, über den Hörfunk „Einfluß auf das kulturelle und politische Verhalten der Erwachsenen zu ,

erhalten".48

Schon im Namen des ersten

Lizenzträgers des deutschen Rundfunks

Gesellschaft für drahtlose Belehrung und Unterhaltung mbH. griffige Formel gebracht. Der Hörfunk beanspruchte die Rolle eines „Kulturfaktors",

ist dieser

-

Deutsche Stunde. Ansprach auf eine

-

mittler und -werber

47

48

sein;

er

wollte den Hörer

an

er wollte Kulturträger, -Verdie Hand nehmen und zu den vermeint-

H. O. Halefeldt, „Das erste Medium für alle? Erwartungen an den Hörfunk bei seiner Einführung in Deutschland Anfang der 20er Jahre", in: Hans-Bredow-Institut (Hg.), Rundßnk und Fernsehen 1948-1989. Ausgewählte Beiträge der Medien- und Kommunikationswissenschaft aus 40 Jahrgängen der Zeitschrift „Rundßnk und Fernsehen", Baden-Baden/Hamburg 1990, 46. Ebd., 72.

Nietzsche-Lyrik

im Weimarer

Rundfunk

171

liehen kulturellen Werten führen, verführen, wie der oben zitierte Text des literarischen Beraters der Stuttgarter Rundfunkgesellschaft auf das Anschaulichste belegt. Weiter heißt es dort über den Rundfunk:

„Er will nicht das Buch ersetzen, sondern dazu verführen. Ich denke mir, daß mancher

Alltag verstaubte Mensch durch ihn einen reinigenden Luftzug abbekommt: er hört Dichtung eines Dichters, der sonst nur hinter der Glastür des Bücherschrankes der guten Stube prangt, und ist überrascht von der Schönheit des Vergessenen, Übersehenen, er geht zum Schrank, liest und hat eine Feierstunde. Ihm ward der Weg zu einem Freunde gezeigt durch den Rundfunk [...]. Der Rundfunk ist der Wegweiser zu den Schatzkammern des deutschen Geistes."49 vom

die

-

Über das Inventar dieser Schatzkammer gab es scheinbar ein stilles Einverständnis. Es war geprägt von einem engen (bildungs-)bürgerlichen Kulturbegriff. Die Motive für die großzügige Öffnung der Schatzkammer variierten. „Neben den ,Wohltätern', die geistige Nahrung billig verteilen wollten, standen die eher Aufklärung, teilweise um Lebenshilfe bemühten .Erzieher'. Beide waren sich über den Inhalt des Angebots weitgehend einig: Hohe Kultur sollte geboten werden, die großen Werke vor allem deutscher Dichter, Denker und Musiker. Die Erkenntnisse und Errun-

um

genschaften

von

Wissenschaft und Technik sollten behandelt werden. "50

Nietzsches

Dichtungen wurden also allem Anschein nach der Kategorie „hohe Kultur" zugerechnet, darüber muß so etwas wie ein gesellschaftlicher Konsens bestanden haben. Der Ansprach des Hörfunks, „Kulturfaktor" zu sein, mußte sich aber mit den kommerziellen Erwartungen arrangieren, die eben auch von Anfang an an das neue Medium geknüpft waren. Da der frühe Rundfunk sich einzig über Teilnahmegebühren finanzierte, bestand zur Sicherung des ökonomischen Erfolges der permanente Zwang, neue Hörer und damit Gebührenzahler zu akquirieren. Dieser Fakt hatte natürlich auch schon in den zwanziger Jahren Auswirkungen auf die Programmgestaltung. Um wirklich ein Medium für die Massen zu sein, mußte das Programm den vermuteten Ansprüchen eines Massenpublikums entsprechen. Die ökonomische Vernunft gebot es, daß die Kulturindustrie ihre Angebote nicht nur auf die Bedürfnisse einer Minderheit, des politisch, literarisch und musikalisch gebildeten bürgerlichen Publikums abstimmte, sondern sich an das interessierte, aber weniger gebildete Massenpublikum wandte. So ist es nur normal, daß Unterhaltung das Radioprogramm dominierte und daß auch die Vermittlung der hehren kulturellen Werte, das Bildungsprogramm, einen gewissen unterhaltenden Charakter haben mußte. Dieser empfundene Widersprach zwischen Bildung und Unterhaltung wurde im Falle Nietzsches dadurch aufgelöst, daß den meisten Sprechbeiträgen Gedichte und Lieder von bzw. nach Nietzsche zur Seite gestellt wurden. Damit der unterhaltende Charakter nicht zu offensichtlich wurde, konzentrierte man sich auf die „ernsthaften", sprich existentiellen und tragisch-pessimistischen Gedichte Nietzsches.

49 50

P. Enderling, „Rundfunk, der Verführer". H. O. Halefeldt, „Das erste Medium für alle?", 62.

Jörn Pestlin

172

Diese „philologistische Bildungshuberei",51 wie Bischoff den Willen des Rundfunks zur Hochkultur bezeichnete, ist ein Resultat des Interessenausgleichs zwischen Industrie und Staat. Unterhaltsame Belehrung oder belehrende Unterhaltung als programmatischer Kom-

promiß.

Den Debatten über die ganz konkrete inhaltliche Gestaltung des Rundfunkprogrammes ging das grundlegende Problem, überhaupt etwas senden zu müssen, voraus. Brecht schrieb über die Anfänge des Hörfunks: „Man hatte plötzlich die Möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich recht überlegte, nichts zu sagen."52 So war Nietzsche, gemeinsam mit vielen anderen, zuerst nichts weiter als Rohstoffquelle zum Ausfüllen von

diesem Zweck vor allem der vermeintlichen „Rosinen des ist verständlich. Sie waren unverfänglicher und darum leichter zu handhaben. Die Schwierigkeiten einer notwendigen Konsensbildung zwischen den verschiedenen Interessengruppen bei der Programmgestaltung wurden so weitestgehend vermieden, und die Gefahr, womöglich in die Schußlinie ernannter oder selbsternannter Kultur- und Sittenwächter zu geraten, war relativ gering. Daß Nietzsche genauso wie Goethe Teil dieses Bildungskanons war, zeigte die Praxis. Bei Nietzsche erstreckte sich der „Rosinen-Konsens" allerdings nur auf die Beurteilung seiner Funktion als Lyriker bzw. Dichter, ansonsten gab es keinen allgemein akzeptierten gesellschaftlichen Konsens, der in der Programmgestaltung seinen Niederschlag fand. Dieser Dissens, der in den Printmedien ganz offen ausgetragen wurde, fand lediglich in einem einzigen Beitrag des Senders Frankfurt am Main seinen Ausdruck. Daß die Sendegesellschaft damit allerdings ihren Auftrag und ihre Kompetenz überschritten hatte, wurde von einem Rezensenten dieser Sendung offen ausgesprochen: „Der Vortrag, den am Freitag Dr. Marcuse über den Skandal um das Nietzsche-Archiv' hielt, schien uns in jeder Hinsicht verfehlt. Was kann es die Hörerschaft des Rundfunks interessieren, daß sich der [...] Herausgeber des Berliner Literaturblättchens ,Die literarische Welt' mit dem Nietzsche-Archiv zankt [,..]."54 Die Zeit der Weimarer Republik war eine überaus konfliktbeladene. Schon ihre Geburt aus dem verlorenen Krieg und einer steckengebliebenen Revolution war keine günstige Voraussetzung; hinzu kamen die politischen Unruhen und Krisen der Nachkriegsjahre und die ökonomische Katastrophe der Inflation. Sendezeit. Daß

bürgerlichen

man

sich

zu

Bildungskanons"53 bediente,

„Zerrissenheit, nicht Gemeinsamkeit schien das Zeichen der Zeit. Gleichzeitig aber schien ein Wiederaufbau, für viele ein Wiederaufstieg, Deutschlands nur möglich, wenn diese Zerrissenheit überwunden würde. Schon bevor der Rundfunk als Medium am Horizont auftauchte, intensivierte sich daher die Suche nach Möglichkeiten, die gesellschaftliche Integration zu fördern, Massenmedien, Erziehungsinstanzen und kulturelle Institutionen für die Allgemeinheit zu öffnen und auf das Wohl derselben zu verpflichten."55

51 52 53 54 55

F. W. Bischoff, „Das literarische Problem im Rundfunk", in: H. Bredow (Hg.), Aus meinem Archiv. Probleme des Rundfunks, Heidelberg 1950, 143. B. Brecht, Der Rundfink als Kommunikationsapparat, 552. E. Piel, „Der .ehrliche Makler' oder Die Provision. Zur frühen Problematik eines Massenmediums", Sprache im technischen Zeitalter, H. 67 (1978), 245. „Am Lautsprecher", Rheinisch-Mainische Volkszeitung vom 23.6.1930. H. O. Halefeldt, „Das erste Medium für alle?", 78 f.

Nietzsche-Lyrik

im Weimarer

Rundfunk

173

Der Rundfunk sollte nicht polarisieren, er sollte nicht das Podium sein, auf dem politische, ideologische oder kulturelle Machtkämpfe ausgetragen werden. Vielmehr sollte er dazu beitragen, eine große hörende Volksgemeinschaft zu formen, die via Lautsprecher permanent sich ihrer kulturellen und ästhetischen Wurzeln vergewisserte. Identitätsstiftung als randfunkpolitische Aufgabe. Was mit einem Zitat vom ersten Intendanten der Schlesischen Funkstunde, Walter Bischoff, verdeutlicht werden soll: „In einer Zeit babylonischer Verwirrung der Ideen, der Kunstlosigkeit aus Kunstbetriebsamkeit" hat der deutsche Rundfunk

begonnen,

„den gültigen Bestand deutscher Dichtung immer wieder einer hörenden Volksgemeinschaft zuzusenden. [...] Es scheint fast so, als ob die Zeit, ihrer geistig-seelischen Verwirrung müde, sich das gewaltige Verständigungsmittel, das sich im Rundfunk darstellt, schaffen mußte, um die Vielfalt, das Durcheinander der Stimmen und Rufe in einen wellendurchstrahlten Bannkreis zu schlagen, dessen Peripherie unbegrenzt, dessen Mittelpunkt aber im Herzen des Hörers selbst liegt."56 Die hier euphorisch beschworenen Potenzen des Hörfunks wurden allerdings nur in sehr begrenztem Maße genutzt; die Institution Hörfunk hatte vielmehr die Tendenz zu homogenisieren und Widerständiges, Nicht-Kompatibles abzustoßen und auszuschließen. Ein Ausschlußkriterium war die Zugehörigkeit bzw. NichtZugehörigkeit zu einem imaginären „gültigen Bestand deutscher Dichtung". Neben diesen nicht klar definierten kulturellen und künstlerischen Begrenzungen, die allerdings recht weit und auch durchlässig waren, gab es deutlich formulierte politische Grenzen. Unparteilichkeit bzw. Überparteilichkeit wurde vom Rundfunk gefordert, er sollte ein Medium jenseits aller Tagespolitik sein. Durch diese Forderung war der Hörfunk aber automatisch auf „unpolitische Kultur" festgelegt. Diese Bedingung erfüllte Nietzsche aber nur in begrenztem Maße. Sein ganzes Werk ist durchzogen mit Spitzen und Hieben gegen die deutsche Politik, Geschichte und Kultur. Dazu kommt, daß er Gegenstand von Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen politischen Strömungen und Gruppierungen des niedergegangenen Kaiserreiches und der Weimarer Gesellschaft war. Daher griff der Rundfunk mit Vorliebe auf den politisch unverfänglicheren Nietzsche, eben den Dichter Nietzsche, zurück. Der Hörfunk war bemüht, jegliche ideologische und politische Aufladung Nietzsches zu vermeiden. Die Konzentration auf den Künstler Nietzsche kann als Versuch gewertet werden, der permanenten Ideologisierang Nietzsches auszuweichen, er sollte politisch entschärft werden. Dieses nur in seinen wesentlichen Zügen charakterisierte Bedingungsgeflecht, das sich der Weimarer Rundfunk teilweise selber geknüpft hatte, und die darin integrierten Filter- und

Zensurmechanismen sind der Grand dafür, daß das Massenmedium Rundfunk Friedrich Nietzsche vor allem als Schöpfer von Gedichten präsentierte, nur präsentieren konnte und wollte. Das, was lediglich wie eine eher belanglose Richtung oder Spielart der öffentlichen Kommunikation über Nietzsche erscheint und auf eine gewisse Popularität der Lyrik Nietz-

sches schließen läßt, ist eher das Resultat ausdifferenzierter medialer, kultureller und politischer Mechanismen und Interessen. Diese vielfältigen Mechanismen bewirkten, daß das

56

F. W.

Bischoff, „Das literarische Problem", 141.

174

Jörn Pestlin

von Nietzsche vermittelte, so und nicht anders aussahen. Der frühe Rundfunk sah sich selber als besonders geeignet für die Verbreitung von Literatur, Dichtung und Musik. Diese Grundeinstellung bestimmte unabhängig von politischen oder kulturellen Prämissen ganz erheblich die Programmgestaltung und Themenwahl. So ist es also nur logisch, daß gerade der Dichter bzw. Musiker Nietzsche besonders intensive Zuwendung durch das noch junge Massenmedium Hörfunk erfahren hat, da Musik und Lyrik in ihrer akustischen Präsenz, im Gegensatz beispielsweise zu philosophischen Texten, für diese Medium als adäquat angesehen wurden. Nietzsches Lyrik und Lieder wurden vor allem aus einem Grund über den Rundfunk ausgestrahlt: nicht etwa daß ihre Qualität so überzeugt hätte (besonders die umfängliche Aufführung der von ihm komponierten Lieder legt die Vermutung nahe, daß qualitative Kriterien nicht immer die entscheidenden waren) oder weil sie als besonders repräsentativ für ihn angesehen wurden, sondern einzig deshalb, weil sie die einfachste Möglichkeit boten, Nietzsche in dieses Medium zu integrieren, denn ignorieren konnte und wollte man ihn offensichtlich nicht.

Image oder das Stereotyp, welche der Rundfunk

Elke Günzel

Die versäumte Begegnung im Engadin Paul Celans Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche

1. Paul Celans Nietzsche-Lektüre Schon in seiner Jugend hat Paul Celan die Werke Friedrich Nietzsches gelesen. In Israel Chalfens Celan-Biographie werden die Erinnerungen von Celans Verwandten, Bekannten und Freunden aus der Jugendzeit in der Bukowina zusammengetragen. Dort erinnert sich ein Schulkamerad:

„Als Primaner las Paul Nietzsches .Zarathustra' und .Jenseits von Gut und Böse'. Freunden und Freundinnen erzählte er, wie sehr ihn diese Bücher beeindruckten. Das trag ihm den Spitznamen .Übermensch' ein [...]"' Paul Celan schrieb seine Gedichte von einem bestimmten datum her, beeinflußt von unmittelbar Erlebtem und Gelesenem. Doch gerade das macht seine Gedichte so schwer entschlüsselbar. Er hütete das Geheimnis seines Lebens. So fällt es auch heute noch Verwandten, Bekannten und Freunden sehr schwer, etwas mitzuteilen von diesem so schwierigen und wechselhaften Menschen. Nur Brachstücke erfährt man von den Begegnungen mit ihm. Von welchen Dichtern, welchen Philosophen oder welchen Wissenschaftlern er beeinflußt war, läßt sich nun dagegen etwas genauer rekonstruieren. Celan hinterließ nach seinem Tod seine Privatbibliothek, die aus mindestens 3000 Bänden besteht. Der überwiegende Teil ist erhalten geblieben und seit 1990 im Deutschen Literaturarchiv einsehbar. Auch die Vorfassungen seiner Gedichte sind dort zugänglich. Gesperrt bis zum Jahr 2020 bleiben allerdings seine Briefe, Tagebücher, Exzerpte und Notizen. So kann leider nur brachstückhaft entschlüsselt werden. Celans Lyrik ist so vielstimmig wie seine Bibliothek. Die Bilder verschiedenster Dichter, Philosophen und Wissenschaftler werden evoziert, verknüpft, in einen Dialog gesetzt, oder überschneiden sich gar „meridianhaft" wie es Paul Celan selbst bezeichnet hat, auch sprach er von „kommunizierenden Röhren" ? -

-

1 I. Chalfen, Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend, Frankfurt a.M. 1983, 76. 2 Brief an Alfred Margul Sperber vom 12.3.1962, in: Neue Literatur 7 (1975), 57 f.: „lassen Sie mich heute von heiterern Dingen sprechen als neulich, von etwas aus dem Bereich der kommunizierenden Röhren, von etwas .Meridianhaftem', wie Gisèle und ich es nennen."

Elke Günzel

176

Noch vor der Eröffnung des Celan-Archives ging man von bestimmten Einflüssen aus, die Celans Dichten prägten: der jüdischen Tradition, vermittelt durch Martin Buber und Gershom Scholem, Hölderlin, dem Symbolismus und dem Surrealismus. Von seiner Jugend her ist es vor allem Rilke, der ihm viel bedeutet haben soll. Kaum einer ahnte seine große Liebe zu Franz Kafka. Wenig Beachtung fand zudem seine Beschäftigung mit der Psychoanalyse und der Medizin. Seine Philosophielektüre blieb meist unerwähnt. Eine Nähe zu Martin Heidegger wurde oft vorausgesetzt. Celan hatte jedoch ein sehr gebrochenes Verhältnis zu ihm. Aus meinen Gesprächen mit seiner Frau Gisèle Celan-Lestrange und mit seiner Jugendfreundin llana Schmueli, die ihm in seinen letzten Lebensjahren viel bedeutet hatte, erfuhr ich, daß Celan von Heidegger eine Entschuldigung, ein Zeichen der Reue gesucht haben soll. Nur deshalb habe er ihn in Todtnauberg besucht. Gisèle Celan-Lestrange zeigte mir auch, daß sein Gedicht Todtnauberg ein bitteres, ein enttäuschtes Gedicht gewesen sein kann. Celans Heidegger-Lektüre läßt sich durch die Anstreichungen und Randnotizen in seinen Heidegger-Bänden nun rekonstruieren. Man kann deutlich mißbilligende Töne dabei entdecken. Auch Heidegger-Kritiker findet man in seiner Bibliothek: Karl Löwith oder auch französische Kritiker wie François Fedier und Guido Schneeberger.3 Celans Bibliothek umfaßt eine große Anzahl philosophischer Werke. Obwohl der Nachlaß leider unvollständig ist, Celan auch einige sehr wichtige Bücher kurz vor seinem Freitod verschenkt haben soll, kann man feststellen, daß sich Celan umfassend mit der Philosophie beschäftigt hat. In der Bibliothek befinden sich: Piaton, Aristoteles, Plotin, Boethius, Tho-

Aquin, Paracelsus, Montaigne, Descartes, Pascal, Spinoza, Leibniz, Hamann, Fichte, Hegel, Schopenhauer, Marx und Kierkegaard. Aus dem zwanzigsten Jahrhundert besaß er unter anderen Werke von Simmel, Husserl, Wittgenstein, Heidegger, Scheler, Nicolai Hartmann, Jaspers, Sartre, Lukács, Benjamin, Adorno und Bloch. mas von

Zu den wichtigsten Philosophen zählte allerdings für Celan immer wieder Nietzsche. Das zeigt sich schon allein darin, daß er mindestens zwei Gesamtausgaben, drei Einzelbände und eine Ausgabe mit Briefen besaß. Da er es mit den Daten und Orten seines Lebens sehr genau nahm, hat er sich oft in die neu erworbenen Bücher Kaufdatum und Ort hineinge-

schrieben. So ist das jüngste nachweisbare Datum seiner Nietzsche-Beschäftigung in Nietzsches Briefwechsel mit Franz Overbeck zu finden (erschienen: Leipzig 1918). Er hat es am 3.8.1952 gekauft. In einigen der Briefe hat er etwas angestrichen. In den weiteren Nietzsche-Ausgaben gibt es dann leider kein Kaufdatum mehr. Weiterhin hatte Celan Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtungen (Stuttgart 1955). Spuren seiner intensiven Lektüre sind zahlreiche Anstreichungen in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben und in Schopenhauer als Erzieher. Im Nachlaß befindet sich außerdem die von Karl Löwith herausgegebene und ausgewählte Ausgabe: Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, erschienen: Frankfurt 1959. Angestrichen hat Celan hier nichts.

3 K. Löwith, Denker in dürftiger Zeit, Frankfurt a.M. 1953; von Celan mit vielen Anstreichungen versehen. Außerdem war in das Buch die Fassung eines noch unveröffentlichten Gedichts eingelegt mit der Datierung: 19.10.1954. Trois attaques contre Heidegger: Schneeberger, Adorno, Hunerfeld, Paris 1966, mit einer Widmung von François Fedier (Nov. 1966). -

Die versäumte

Begegnung

im

111

Engadin

Aufschlußreiche Eintragungen findet man in Celans Ausgabe von Nietzsches Werken in drei Bänden, 2. Auflage, München 1960 (Hanser). Dort hat Celan im 2. Band in Ecce Homo (1088-1089) eine Bemerkung Nietzsches zu Heinrich Heine angestrichen:

„Den höchsten Begriff vom Lyriker hat mir Heinrich Heine gegeben. Ich suche umsonst in allen Reichen der Jahrtausende nach einer gleichen süßen und leidenschaftlichen Musik. Er besaß jene göttliche Bosheit, ohne die ich mir das Vollkommene nicht zu denken

vermag."

Weiter unterstrich er im folgenden Satz die Worte „Heine und ich". Nietzsche schreibt dort:

„Man wird einmal sagen, daß Heine und ich bei weitem die ersten Artisten der deutschen

Sprache sind in einer unausrechenbaren Entfernung von allem, ihr gemacht haben. -"

was

bloße Deutsche mit

-

Celan benutzte noch eine weitere Nietzsche-Ausgabe, die er nicht in seiner häuslichen Bibliothek hatte, sondern in seinem Arbeitszimmer an der École Normal Supérieur. Er arbeitete als Lektor für Deutsch als Fremdsprache. In seinen letzten Lebensjahren wohnte er teilweise auch in seinem Arbeitszimmer und kam in manchen Zeiten wegen der Trennung von seiner Frau nicht an seine häusliche Bibliothek.4 An der École las er in der Studienausgabe in vier Bänden, ausgewählt und eingeleitet von Hans Heinz Holz, Frankfurt/Hamburg 1968. Im ersten Band, in Die Geburt der Tragödie, hat Celan einiges eingetragen. Von Seite 30 bis Seite 48 hat er einzelne Wörter unterstrichen und ins Französische übersetzt. Die Vermutung liegt nahe, daß er ein Seminar über Nietzsches Werk an der École plante oder sogar durchführte. Aber Celan hat nicht nur Zeilen am Rand angestrichen und Wörter unterstrichen, sondern auch Datierungen eingeschrieben. Celan müssen die Werke, in die er Lektüre- und Kaufdaten geschrieben hat, besonders wichtig gewesen sein. (So hat er beispielsweise seine Scholem- und Kafka-Ausgaben mit umfangreichen Anstreichungen und Randnotizen versehen. Diese Lektüre hat er auch außergewöhnlich genau datiert.) Auf Seite 39 schrieb er das Datum vom 3.6.1969 ein. Bei Nietzsche geht es hier um den Traum und die Bedeutung der Traumanschauung. Wachen und Träumen verbildlicht er mit der Anschauungsgabe des Apollon. Die Gegensätze Träumen und Wachen gehören zu den wesentlichen Elementen von Celans Lyrik. Seit dem Band Mohn und Gedächtnis bestimmen sie die Gedichte. Vergessen und Erinnern, Sprechen und Schweigen sind die poetologischen Grandkonstanten Celans, die durch die Metaphern „Mohn" des Traumes und „Gold" der Erinnerung immer wieder hervorgerufen werden.5 Ein weiteres Datum schrieb Celan auf Seite 41, den 10.6.1969. Erst sieben Tage später also las er die beiden folgenden Seiten. Man findet dort eine Symbolik, die Celan in dieser

Celan, Briepvechsel mit Franz Wurm, Frankfurt a.M. 1995, 112. Brief Celans vom 15.11.1967: „Vieles, darunter meine Bibliothek, ist außer Reichweite wer weiß, für wie lange." 5 Vgl. z. B.: P. Celan, Argumentum e silentio, in: Gesammelte Werke in fünf Bänden, hg. v. B. Allemann, S. Reichert u. R. Bücher, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1983, 138.

4 P.

-

Elke Günzel

178

Zeit auch bei Kafka, zum Beispiel in der Parabel Der Jäger Gracchus,6 und bei Loerke in Pansmusik1 immer wieder entdeckte: Es ist die Vision eines schwankenden Kahnes auf dem Meer. Bei Nietzsche taucht an dieser Stelle aus dem Traum die strahlende Anschauung Apollons. Vier Tage später las Celan vier Seiten weiter. Dort ist das Datum vom 17.6.1969 eingetragen. Auf diesen Seiten geht es Nietzsche um die Subjektivität des Lyrikers. Der griechische Dichter Archilochus dient hier Nietzsche als Anschauungsmaterial. Dieser, leidenschaftlicher als die früheren, habe das „subjektive" Element eingebracht. Zunächst scheint dies, so meint Nietzsche, eine schlechte Eigenschaft eines Künstlers zu sein. Doch der „Lyriker" als Künstler sei ja möglich. „[...] er", schreibt Nietzsche, „der, nach der Erfahrung aller Zeiten, immer ,ich' sagt und die ganze chromatische Tonleiter seiner Leidenschaften und Begehrungen vor uns absingt" (KGW HI/1, 39). Nietzsche weist auf Schiller, der die „musikalische Stimmung" zum Ausgangspunkt seines Dichtens erklärt. So wird für Nietzsche der Lyriker der „dionysische Künstler":

„Er [der Lyriker] ist zuerst, als dionysischer Künstler, gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins geworden und producirt das Abbild dieses UrEinen als Musik, wenn anders diese mit Recht eine Wiederholung der Welt und ein zweiter Abguss derselben genannt worden ist; jetzt aber wird diese Musik ihm wieder, wie in einem gleichnissartigen Traumbilde, unter der apollinischen Traumeinwirkung sichtbar." (KGW 111/1, 39 f.) Da der Lyriker also in dionysischen Rausch gefallen war, gibt er, so schließt Nietzsche, seine Subjektivität auf. Das Bild, das ihm dann im Traume erscheint, wird zum Objektiven. Celan unterstreicht:

„Das ,Ich' des Lyrikers tönt also

Sinne der

neueren

aus

dem

Abgrunde

Ästhetiker ist eine Einbildung."

des Seins: seine

.Subjektivität'

im

An den Rand hat Celan ein ,,-i-" geschrieben. Dieses Zeichen bedeutet so viel wie „Idee". Man findet dieses ,,-i-" sehr häufig in Texten, die ihm wichtig waren. Sie haben ihn auf eine Gedichtidee gebracht. Unter seinen nachgelassenen Papieren finden sich Konvolute, auf die sich dieses ,,-i-" bezieht. Da man diese Aufschriebe leider noch nicht einsehen darf, bleiben die Zeichen in den Büchern nicht gänzlich erklärbar. Celan hat sich auf diese Seite ein solches ,,-i-" neben seine Datierung notiert. Er unterstrich dort den Satzteil: „so sind dagegen die Bilder des Lyrikers nichts als dene Objektivationen von ihm".

er

selbst und

gleichsam nur verschie-

Nietzsche fährt fort:

6 F. Kafka, 7

„Jäger Gracchus", in: Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlaß, hg. v. M. Brod, Frankfurt a.M. 1954, 99 ff. O. Loerke, „Pansmusik", in: Gedichte und Prosa, Bd. 1, hg. v. P. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1958.

Die versäumte

Begegnung im Engadin

179

„[...] weshalb er als bewegender Mittelpunkt jener Welt .ich' sagen darf: nur ist diese Ichheit nicht dieselbe, wie die des wachen, empirisch-realen Menschen, sondern die einzige überhaupt wahrhaft seiende und ewige, im Grande der Dinge ruhende Ichheit, durch deren Abbilder der lyrische Genius bis auf jenen Grand der Dinge hindurch-

sieht."8

Die letzte Datierung schreibt Celan zwei Seiten weiter (Seite 47 von Celans Ausgabe), eine Woche später, am 24.6.1969. Nietzsche führt hier Ziel und Zweck der Kunst aus. Celan unterstrich dazu folgenden Satzteil: „...,

denn

nur

als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt

tigt"; weiterhin hat Celan den Satz

ewig gerechtfer-

angestrichen:

„Somit ist unser ganzes Kunstwissen im Grande ein völlig illusorisches, weil wir als Wissende mit jenem Wesen nicht eins und identisch sind, das sich als einziger Schöpfer und Zuschauer jener Kunstkomödie einen ewigen Genuß bereitet." Die letzte Anstreichung Celans findet man auf der nächsten Seite seiner Ausgabe: Hier geht die Bedeutung des Volkslieds. Nietzsche bezieht sich auf die Sammlung Des Knaben Wunderhorn. Die wilde, rauschhafte Kraft dieser Lyrik kontrastiert er mit dem Epos. Celan strich sich folgenden Satz an:

es um

„Vom Standpunkte des Epos ist diese ungleiche und unregelmäßige Bilderwelt der Lyrik einfach zu verurteilen: und dies haben gewiß die feierlich epischen Rhapsoden der apollinischen Feste im Zeitalter des Terpander getan." Nietzsche stellt einen Gegensatz zwischen zwei ästhetischen Hauptströmungen fest. Die Sprache ahmte entweder die Erscheinungs- und Bilderwelt oder die Musikwelt nach. Er spricht von den orgiastischen Flötenweisen des Olympus, die sich in der Sprache, geboren aus der Musikwelt, offenbarten. Celan sprach in einem Interview im Dezember 1966 von ganz ähnlichen Unterschieden, die er in seiner früheren und späteren Lyrik entdeckte. Er sagte:

„[...] auch musiziere ich nicht mehr, wie zur Zeit der vielbeschworenen Todesfuge, die

nachgerade schon lesebuchreif gedroschen ist. Jetzt scheide ich streng zwischen Lyrik und Tonkunst. Das Zeichnerische liegt mir näher, nur schattiere ich mehr [...] ich versuche absichtlich manche Kontur,

um

der Wahrheit der Nuance

lenrealismus."9

8 O. Loerke, „Pansmusik", 41. 9 H. Huppert, .„Spirituell'. Ein Gespräch mit Paul Celan", in: W. Paul Celan. Materialien, Frankfurt a.M. 1988, 320 f.

willen, getreu meinem See-

Menninghaus u.

W. Hamacher

(Hg.),

180

2.

Elke Günzel

Brückenschläge

zu

Gottfried Benn

Gottfried Benn muß Celan 1969 ebenso wichtig gewesen sein wie Nietzsche. Celan hat in eine seiner Benn-Ausgaben ein Kaufdatum aus demselben Jahr hineingeschrieben. Er besaß eine umfangreiche Sammlung des Bennschen Werks. Ein Buch aber hat er erst im Februar 1969 gekauft. Die gesammelten Schriften in einer Ausgabe von 1922 datierte er mit dem 8. Februar 1969. Da Gottfried Benns Dichtungstheorie stark von Nietzsche beeinflußt ist, liegt die Vermutung nahe, daß Celan in Nietzsches Geburt der Tragödie auch auf die Suche nach den Gedanken und Bildern gegangen ist, die Benn beeinflußt haben. Benn überträgt Nietzsches Bezeichnung „Artist"10 auf den modernen Dichter. So heißt es

beispielsweise in Benns bekannter Rede „Probleme der Lyrik", Lyrikdiskussion geworden ist:

modernen

die ein

Wegbereiter der

„Artistik ist der Versuch der Kunst, innerhalb des allgemeinen Verfalls der Inhalte sich selber als Inhalt zu erleben und aus diesem Erlebnis einen neuen Stil zu bilden, es ist der Versuch, gegen den allgemeinen Nihilismus der Werte eine neue Transzendenz zu setzen: die Transzendenz der schöpferischen Lust."11 Nietzsches Sprache beeinflußt die Sprache Benns, Nietzsches Weltbild in Benns Interpretationsweise ist Ausgangspunkt des Bennschen Lyrikverständnisses. Das moderne „Ich" ist ein von Nietzscheanischer Größe und Untergang geprägtes. Benn geht es hierbei nicht um ein exaktes Nietzsche-Verständnis, sondern eher um ein passendes Bild, eine richtige Farbe. So zeichnet er das „Ich" des Lyrikers ausgespannt zwischen dionysischen Rauschzuständen und apollinischen Lichtwelten, die zur Objektivation streben. Diese Welt findet Benn, wie später auch Celan, in Nietzsches Geburt der Tragödie.

3. Das

seidenverhangene Nirgend

Die Datierungen von Celans Nietzsche-Lektüre vom 3.6.1969 bis zum 24.6.1969 überschneiden sich mit den Datierungen von drei seiner nachgelassenen Gedichte, die Beda Allemann in dem Band Zeitgehöft publiziert hat. Celan hat viele seiner Gedichte immer wieder umgeschrieben. Jede weitere Fassung datierte er. So existieren zu den Gedichtkonvoluten jeweils mehrere Mappen mit datierten Vor- und Endfassungen. Dort kann man erfahren, was Celan während seiner Nietzsche-Lektüre geschrieben hat: Am 4.6.1969 schrieb er das Gedicht Das seidenverhangene Nirgend, am 9.6. schrieb er Die Weinbergsmauer erstürmt und am 25.6. Erst wenn ich dich als Schatten berühre.

spricht Nietzsche beispielsweise in Ecce Homo von „Artisten der deutschen Sprache" (vgl. KGW VI/3, 284). 11 G. Benn, „Probleme der Lyrik", in: Essays, Reden, Vorträge, hg. v. D. Wellershoff, 7. Aufl., Stuttgart 10

So

1989.

Die versäumte

Begegnung

im

181

Engadin

im folgenden das erste Gedicht analysiert werden, das Celan während seiner Nietzsche-Lektüre verfaßt hat. Dabei wird der Versuch unternommen, die Spuren Nietzsches im Gedicht wiederzuentdecken.

Exemplarisch soll

„Das seidenverhangene Nirgend

widmet dem Strahl seine Dauer, Ich kann dich hier sehn.

Eingehn dürfen bei euch, ausgehn

-

Unter der Sandhaube steuert dein unbelauscht schlafendes Hirn den unverwirkbaren, einen, ozeanischen

Tag, komm, ich hell auf, komm, ich geb dich mir und auch dir,

Überzüchtete, Schwere."12

Die ersten beiden Verszeilen kennen noch kein „Ich" und kein „Du". Zwei Konkreta und zwei Abstrakta stehen sich gegenüber: die „Seide", die etwas verhängt, und der „Strahl" sind die konkreten Objekte. Doch vom „Strahl" erfährt man nicht, ob es ein Lichtstrahl, ein Blitzstrahl oder ein Wasserstrahl ist. „Seide" und „Strahl" werdenden Abstrakta „Nirgend" und „Dauer" zugesprochen. Das „Nirgend" wird von der „Seide" verhangen. In einer typisch Celanschen Substantivierung nennt er ein „Nirgend". Es ist, so läßt sich erschließen, der Nichtort, die U-topie, die Celan so ins Deutsche übersetzt. Dieses Nirgendwo ist der Ort, den das Gedicht sucht, so sagt es Celan in seiner Büchner-Preis-Rede:

„Das Gedicht sucht [...] auch diesen Ort [...] Und das Gedicht

alle

Tropen und Metaphern Toposforschung?

ad absurdum

geführt

Gewiß! Aber im Lichte des zu Erforschenden: im Lichte der Und der Mensch? Und die Kreatur? In diesem Licht."13

12 13

Celan, Gesammelte Werke, Bd. 3, 74. Ebd., 199. P.

wäre somit der

werden wollen.

U-topie.

Ort,

wo

182

Elke Günzel

Es ist also dieses Nirgendwo, dieser Nichtort, von einem Schleier aus Seide verhangen, der erreicht, daß der Blitz-, Wasser- oder Lichtstrahl dauert, ihm eine gewisse Ewigkeit verliehen wird. Dem Nietzsche-Leser werden sich schon bei diesen ersten beiden Gedichtzeilen die ZitatAssoziationen aufdrängen: Der Seidenschleier, der das Nirgend verhüllt, mag mit dem Schopenhauerschen Schleier der Maja korrespondieren, den Nietzsche in den ersten Seiten der Geburt der Tragödie zitiert:

es

„Und von

so möchte von Apollo in einem exzentrischen Sinne das dem im Schleier der Maja befangenen Menschen sagt."

gelten,

was

Schopenhauer

Das Zitat, welches Nietzsche hier anführt, ist für Celan von großer Bedeutung. Die „Meridiane", die Celan immer wieder sucht, die „kommunizierenden Röhren", das sind die Bilder, die ihn faszinieren und die er dann bei verschiedenen Autoren wiederentdeckt. Das Bild des Menschen, der im Todes- oder im Weltenkahn über die Meere schaukelt, ist die große Vision, die Celan in den letzten Jahren vor seinem Tod in der Seine suchte. Er findet es bei Kafka (Jäger Gracchus), bei Loerke (Pansmusik), bei Alfred Jarry (Faustroll), bei

Odysseus,

aber

nun

auch bei

Schopenhauer in

Nietzsches Zitierweise.

„Wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegränzt, heulend Wellenberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt mitten in einer Welt von Qualen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium individuationis." (KGW 111/1, 24) Die Paradoxie der abendländischen Metaphysik, wie sie Nietzsche auf die Spitze treibt, spiegelt sich in der zweiten Gedichtzeile von Celans Gedicht wider. Der zur ewigen Wiederkehr des Gleichen verurteilte Mensch begründet in seinen Qualen erst die Dauer des Strahls. Das Zerbrechen des „principii individuationis", so schreibt Nietzsche weiter, läßt das Wesen des Dionysischen aufblitzen.

„[...] das ungeheure Grausen [...], welches den Menschen ergreift, wenn er plötzlich an den Erkenntnissformen der Erscheinung irre wird [...]. Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung hinzunehmen [...] so thun wir einen Blick in das Wesen des

Dionysischen [...]." (KGW HI/1, 24)

Der „Strahl" ist etwas Bewegtes, Plötzliches. Ihm wird erst durch die „seidenverhangene" Scheinwelt Dauer verliehen. Der Blitzstrahl aus Nietzsches Zarathustra könnte hier mit dem rauschhaften dionysischen Prinzip aus der Geburt der Tragödie zusammengelesen werden. Nietzsche hat später das Gegeneinander der Gottheiten verworfen. Dionysisch wird allein das schöpferische Streben, das sich selbst gestaltet. So heißt es in Die sieben Siegel im Zarathustra:

„[...] zum Blitze bereit im dunklen Busen und zum erlösenden Lichtstrahle, schwanger Blitzen, die Ja! sagen, Ja! lachen, zu wahrsagerischen Blitzstrahlen [...]

von

wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein und nach dem hochzeitlichen der Ringe, dem Ring der Wiederkunft! o

-

Ring

Die versäumte

Begegnung im Engadin

183

[...] Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!" (KGW VI/1, 283) An diesem Ort, in welchem ein momentaner Strahl Dauer erhält, findet dann in den nächsten beiden Gedichtzeilen Celans die Begegnung zwischen einem „Ich" und einem „Du" statt. Das „Ich" kann hier ein „Du" sehen. Aus dem „Du" wird dann in der nächsten Zeile ein „Euch".

„Ich kann dich hier

sehn.

Eingehn dürfen bei euch, ausgehn

-"

Wer ist dieses „Du"? Wer ist dieses „Euch"? Es könnte sich um ein Ein- und Ausgehen bei den Göttern handeln. Das erste Kapitel der Geburt der Tragödie endet mit einer solchen Vorstellung, die aus dem dionysischen Tanz geboren ist:

„Jetzt bei dem Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnissvollen Ur-Einen herumflattere. Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit [...] als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wandeln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden [...]." (KGW 111/1, 25 f.) Es ist ein Wandeln unter den Göttern, das hier visionär geschaut wird. Ein solches Bild ist Celan auch durch Hölderlin bekannt. Diesen Dichter nennt er seinen Schicksalsbruder. Die Dichterin Nelly Sachs hat Celan den „Hölderlin unserer Zeit"14 genannt. Den Leiden dieses Dichters fühlte sich Celan verwandt. Celan könnte also hier Hölderlins Vorstellung von den Dichterhelden assoziiert haben, die „droben im Licht wandeln".15 Das „Du", welches das „Ich" hier in der Augenblicksewigkeit des Blitzstrahls erkennt, wird in den folgenden Zeilen erneut angesprochen, als ein Schlafendes, welches den „ozeanischen Tag" schaut.

„Unter der Sandhaube steuert dein unbelauscht schlafendes Hirn den unverwirkbaren, einen, ozeanischen

Tag," [...]"

R. Dinesen, Nelly Sachs. 1992, 294 ff.

14

Vgl.

15

Vgl.

z.

B.

Eine

Biographie,

„Hyperions Schicksalslied": „Ihr

Werke, Bd. 1: Gedichte bis 1800, hg.

v.

aus

dem Dänischen

v.

G. Gericke, Frankfurt a.M.

wandelt droben im Licht ..."; F. Hölderlin, Sämtliche F. Beissner, Berlin 1959, 260.

184

Elke Günzel

Das

„Du" trägt eine Sandhaube. Der Sand könnte der Wüstensand des einsamen Wanderers

sein, wie er im Zarathustra dargestellt wird,

es könnte damit aber auch Asche gemeint sein. schon in den frühen Gedichten Celans ein Bild für die Asche der Toten. Seine erste Gedichtpublikation war betitelt mit Sand aus den Urnen. Doch geht man noch weiter zurück zu den frühen Jugendgedichten Celans, so entdeckt man eine weitere Metaphorik des Sandes, die auch später immer wiederkehrt. Damals schrieb er ein Gedicht vom Sandmann, der den Kindern Sand in die Augen streut, damit sie schlafen.16 Die Sandhaube ist also eine vieldeutige Schlafhaube des „Du". Das „Hirn" dieses „Du" steuert und ist gleichzeitig einsam als ein „Unbelauschtes" und „Schlafendes". Der Zustand eines Träumenden taucht auf. Doch warum träumt gerade ein „Hirn"? Das Gehirn spielt in der Bilderwelt Benns eine herausragende Rolle. Benn stellt fest, daß der Mensch der abendländischen Zivilisation einer fortschreitenden Verhirnung" anheimgefallen sei. Im Phänotyp schreibt Benn:17

Sand

war



„Ich fühle nur noch das Gehirn. Es liegt wie eine Flechte in meinem Schädel. Es erregt mir eine von oben ausgehende Übelkeit [...]. O so möchte ich wieder werden: Wiese, Sand, blumendurchwachsen, eine weite Flur. In lauen und kühlen Wellen trägt einem die Erde alles zu. Keine Stirne mehr. Man wird gelebt." Der Mensch leidet am Gehirn und wünscht sich Erlösung von der Qual des Bewußtseins, er sehnt sich, so Benn, nach vorrationalen, archaischen Existenzzuständen. So heißt es in der ersten Strophe des Gedichtzyklus' Ikarus:

„O, Mittag, der mit heißem Heu mein Hirn Wiese, flachem Land und Hirten schwächt, daß ich hinrinne und den Arm im Bach, den Mohn an meine Schläfe ziehe, zu

du Weithingewölbter, enthirne doch stillflügelnd über Fluch und Gram

o

des Werdens und Geschehens

mein Auge,

f...]"18

Celans Mohn-Metapher des Schlafes taucht schon bei Benn immer wieder auf. Aber auch Nietzsche gebraucht diese Metapher im Zarathustra. So heißt es dort:

„Zehnmal mußt du des Tages dich selber überwinden: das macht eine gute ist Mohn der Seele." (KGW VI/1, 28)

Müdigkeit und

Auch bei Benn zeigt der Mohn die Sehnsucht nach Schlaf an. Es ist Mittag, auch ein Hinweis auf den großen Mittag aus Nietzsches Zarathustra. Die Anspielungen auf Benn und

16 17 18

P. Celan, „Der Sandmann", in: Das Frühwerk, hg. v. B. Wiedemann, Frankfurt a.M. G. Benn, „Phänotyp", in: Frühe Prosa und Reden, Wiesbaden 1950, 51 f. G. Benn, „Ikarus", in: Gesammelte Werke, Bd. 1: Gedichte, Wiesbaden 1960, 46.

1989, 26.

Die versäumte

Begegnung im Engadin

185

Nietzsche offenbaren, daß das schlafende Hirn in Celans Gedicht ein in archaische Träume entwordenes Dasein meint. Auch dieses Hirn steuert:

„den unverwirkbaren, einen,

ozeanischen

Tag, [...]" Der Träumende sieht das Ozeanische, das Paradies, den Garten Eden, Arkadien. Vielleicht dachte Celan hier an die arkadische Landschaft, die Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches dargestellt hat. Celan hat dieses Werk intensiv gelesen, was die vielen Anstreichungen in seiner Ausgabe zeigen.

„Et in Arcadia ego. Ich sah hinunter, über Hügel-Wellen, gegen einen milchgrünen See [...]" (KGWIV/3, 324 f.),

hin

-

so beginnt Nietzsche seine Vision. Er evoziert eine Landschaft mit Bäumen, Blumen, Gräsern, einer Kuhherde im Abendlicht. Ein Stier tritt in einen Bach, Hirten hüten die

Herde. Er malt weiter:

„Links Felsenhänge und Schneefelder über breiten Waldgürteln, rechts zwei ungeheuer beeiste Zacken, hoch über mir, im Schleier des Sonnenduftes schwimmend, alles groß, still und hell. Die gesamte Schönheit wirkte zum Schaudern und zur stummen Anbetung des Augenblicks ihrer Offenbarung; unwillkürlich, wie als ob es nichts Natürliches gäbe, stellte man sich in diese reine scharfe Lichtwelt (die gar nichts Sehnendes, Erwartendes, Vor- und Zurückblickendes hatte) griechische Heroen hinein." (KGW IV/3, 325) Das Licht dieser arkadischen Landschaft ist ein anderes als dieser bewegte Blitzstrahl des Dionysos. Es ist reine, klare Helligkeit. Auch Celan hat in seinem Gedicht ein anderes Licht aufblitzen lassen. Während das „Du" diesen einen Tag, den „ozeanischen", steuert, ruft das „Ich" in der folgenden Zeile:

„komm, ich hell auf," Diese Aufforderung des „Ich" kann sowohl konkret als Lichtspenden gemeint sein, als auch abstrakt: das „Ich" will etwas klären. In der nächsten Zeile wird noch einmal die Aufforderung „komm" wiederholt:

„komm, ich geb dich mir und auch dir"

paradoxe Formulierung: das „Ich" will das „Du" sich selbst geben und dem „Du" zurückgeben. Diese seltsame Verschränkung zwischen „Ich" und „Du" findet man immer wieder in eine

-

diesen letzten Gedichten aus dem Nachlaßband. In den Gedichtbänden zuvor, Atemwende, Fadensonnen und Schneepart ist die Anrede eines „Ich" an ein „Du" seltener geworden.

Elke Günzel

186

Erst in Zeitgehöft findet man das wieder. Doch eigenartig taucht hier das „Ich" in das „Du", das „Du" in das „Ich". So heißt es zum Beispiel in anderen Gedichten des Bandes:

„Von der sinkenden Walstirn les ich dich ab du erkennst mich, -

[-]"19

„Du liegst hinaus

über dich,

[-]"20

„Erst wenn ich dich als Schatten berühre, glaubst du mir meinen

Mund,

I-]"21 „[...]

meine Trauer, ich seh's, läuft zu dir über."22

„Ich lotse dich hinter die Welt, da bist du bei dir, unbeirrbar,

[...r23

„Meine dir zugewinkelte Seele hört dich

gewittern,

[...r24

„Kleines Wurzelgeträum [...] hier, wo du mich abliest vom Blindblatt,

I...V25

Im zweiten Teil der

einigung

19 20 21 22 23 24 25

von

Nachlaßgedichte,

den

„Ich" und „Du":

Celan, Gesammelte Werke, Bd. 3, 72. Ebd., 73. Ebd., 76. Ebd., 79. Ebd., 89. P.

Ebd., 90. Ebd., 92.

Israelgedichten, gibt

es

sogar Bilder einer Ver-

Die versäumte

Begegnung

im

187

Engadin

„[•••] ich stand in

dir."26

„über dich, Offene, trag ich dich

zu

mir."

„[•••] geben uns weiter:

wir an

dich und

an

mich,

Eins mit dir bin ich, uns zu

[,..]"29

erbeuten,

Diese Gedichte haben wieder stärker ein weibliches „Du", eine Schwesterseele, wie Celan sie nennt,30 eine Bezeichnung, die er wohl von Nietzsche übernahm. Im Zarathustra ist der morgendliche Himmel als Schwester-Seele angerufen. An dieser Stelle heißt es:

„Wir reden nicht zueinander, weil wir zu vieles wissen: wir schweigen uns an, wir lächeln uns unser Wissen zu. Bist du nicht das Licht zu meinem Feuer: Hast du nicht die Schwester-Seele zu meiner Einsicht?" (KGW VI/1, 203) Das zweite Zeitgehöftkonvolut hat nicht nur einen abstrakt weiblichen Ansprechpartner, sondern auch einen konkreten. Celan hat auf die Mappe, in die diese Gedichte eingelegt waren, den Namen „llana" geschrieben. Er hatte damals mit seiner Jugendfreundin llana Schmueli einen intensiven Briefkontakt und schickte ihr seine Gedichte. Im November 1969 besuchte er sie in Tel-Aviv. Im ersten Teil von Zeitgehöft läßt sich das „Du" nicht so stark vom „Ich" abgrenzen, es könnte auch ein Selbstgespräch, ein Aufspalten der Persönlichkeit dahinter stehen. In der Analyse des Gedichts Das seidenverhangene Nirgend läßt sich das deutlich zeigen: Das „Ich" ist ein Wachendes. Es kann ein „Du" sehen, wahrnehmen, erkennen, es weckt das „Du". Mit dem zweimaligen Aufruf „komm" zeigt es sein Vertrautsein mit diesem „Du", es will aufhellen, klären. Das „Du" hingegen ist unter der Sandhaube, einer Schlafhaube. Sein Hirn steuert im Schlaf, unbelauscht vom Bewußtsein, die arkadische Landschaft, die Träume der Menschheit vom Garten Eden, dem Paradies oder Ozeanien, eine archaische Landschaft, in der es keine Trennung zwischen den Menschen gibt, sondern eine harmonische Eintracht besteht. Das „Du" wird dann ein weiteres Mal aufgespalten: Das „Ich" will

26 27

28 29 30

P. Celan, Gesammelte Werke, Bd. 3, 96. Ebd., 97. Ebd., 98. Ebd., 102. Vgl. E. Günzel, Das wandernde Zitat. Paul Celan im jüdischen

Kontext, Würzburg 1995, 246 f.

Elke Günzel

188

ihm es selbst geben: „Ich geb dich dir", lautet es. Dem träumenden „Du" wird ein anderes hinzugegeben. Auch das „Ich" erhält ein weiteres: „[...] ich geb dich mir und auch dir",

heißt es in den beiden Gedichtzeilen. Die letzten beiden Zeilen lenken den Satz in eine syntaktische Vieldeutigkeit. Ein einziges Wort wird in jede der beiden Zeilen gestellt, durch ein Komma werden sie noch weiter voneinander getrennt:

„Überzüchtete,

Schwere."

Das „Ich" gibt nicht eine überzüchtete Schwere an sich selbst und sein „Du" weiter. Es heißt nicht „[...] ich geb dir [...] Schwere", sondern „[...] ich geb dich mir und dir [...], Schwere". „Überzüchtete" ist kein Attribut der „Schwere", sondern gleichberechtigt. Dreht man den Satz um, wird er verständlicher: „Komm, Überzüchtete, Schwere, ich geb dich mir und auch dir." Das „Ich" ruft also eine überzüchtete, eine schwere Gestalt auf, genauso wie es später im zweiten Band weitere weibliche Gestalten aufruft wie die „Mandelnde", die „Pfeilige" oder die „Offene". Dadurch daß hier aber der Aufruf der „Überzüchteten, Schweren" erst am Ende des Satzes folgt, wird er doppeldeutig. Hört man das Gedicht, weiß man nicht, daß zwischen „Überzüchtete" und „Schwere" ein Komma ist. Es bleibt also offen: Erhält das wache „Ich" und das träumende „Du" eine „überzüchtete Schwere", oder wird der „Überzüchteten" und „Schweren" das „Ich" und das „Du" gegeben. Der Satz verharrt in einer schwankenden

Ambiguität.

Diese nicht vollkommen evozierten weiblichen Halbwesen, „Überzüchtete" und „Schweaus der Gedankenwelt Nietzsches stammen. Benn hat einen Essay über Nietzsches Züchtungsgedanken geschrieben. Er stellt die Entstehung dieser Idee so dar:

re", können

„[...] hier der Hohe, zum Befehlen geboren; ,wir' die Künstler, ,wir', die Wanderer auf den Höhen, ,wir', die Ausnahmen, ,wrr', die Gefahr; und dort die geschwächten, dünnen, ausgelöschten Persönlichkeiten [...]. Aber diese kleinen Leute will er aufrütteln, -

heben, züchten, zerstören, erziehen"31

Zarathustra, so fährt er fort, sei die große Züchtungsvision. Aber, so schrankt Benn ein, „dann sahen wir einen anderen Züchter kommen", der Nationalsozialismus habe diese Idee

mißbraucht und sie für seine Grausamkeiten benutzt. Die „Überzüchtete" in Celans Gedicht mag also eine schauerliche Gestalt sein, die aus Nietzsches Züchtungsidee entsprungen ist. Aus Nietzsches „Geist der Schwere" ist hier ebenfalls ein weibliches Halbwesen geworden. Im Zarathustra ist jener Geist derjenige, den sie den „Herrn der Welt" nennen (KGW IV/1, 136), der christliche Gott, den Zarathustra zu seinem satanischen Widersacher macht (KGW IV/1, 45). Er hat dem Menschen die Flügel genommen, ihnen die Last des Zwangs, der Not, des Willens und die Dualität von Gut und Böse aufgebürdet (KGW IV/1, 248 f.).

31

G. Benn, „Züchtung", in: Prosa 2, ster, Stuttgart 1989, 37.

Stuttgarter Ausgabe,

in

Verbindung

mit I.

Benn, hg.

v.

G. Schu-

Die versäumte

im

Begegnung

Engadin

189

Das Gedicht endet düster: das „Ich" nimmt dem „Du" seinen Traum von Arkadien, der Blitzstrahl wird unsichtbar im hellen, gleißenden Licht der Klärung. Der Zwang eines Halbwesens der Schwere und die Perversion einer überzüchteten Gestalt zerreißt die Traumwelt des unverwirkbar einen ozeanischen Tags. Das folgende Gedicht, das Celan fünf Tage später geschrieben hat, ist ein „Gegengedicht",32 ein Aufstand gegen Dionysos, eine Rebellion gegen den Rausch und den Tanz. Der Gott des Weines wird in den ersten beiden Gedichtzeilen gegenwärtig. Dort heißt es:

„Die Weinbergsmauer vom

erstürmt

Ewigkeitsklirren,

die Reben meutern,

Das dritte Gedicht, das erst zwei Wochen später am 25.6. verfaßt wurde, beendet zunächst diese Auseinandersetzung mit Nietzsches Bilderwelt. Es beginnt mit der Berührung eines „Du" durch den Schatten des „Ich". Ist es jene Schattengestalt, die Zarathustra in seine

Gebirgswelt begleitet?

„Erst

wenn

ich dich

als Schatten berühre, glaubst du mir meinen

Mund,

Der Mund deutet in diesen Zeilen auf einen Konflikt um die Wahrhaftigkeit der Rede. Auch Nietzsche geht es um die Rede in der Gestalt des eigenen Schattens. Das Gespräch mit dem eigenen Schatten umrahmt den letzten Teil der aphoristischen Brachstücke von Menschliches, Allzumenschliches, Der Wanderer und sein Schatten. Dort spricht der Wanderer:

„Es redet: wo? Und wer? Fast ist es mir, als hörte ich mich selber schwächerer Stimme als die meine ist." (KGW IV/3, 175)

reden,

nur

mit noch

-

Als der Schatten ihm antwortet, ruft der Wanderer

aus:

„Bei Gott und allen Dingen, an die ich nicht glaube, mein Schatten redet; ich höre glaube es nicht." (KGW IV/3, 175)

aber

es,

Der Schatten stellt seine Liebe zum Licht dar, seine Liebe zu den Menschen, da sie Lichtseine Freude über das Leuchten in den Augen der Menschen. Er aber sei

jünger seien,

32

33 34

So Celans Jugendfreundin und Brieffreundin in seinen letzten Jahren, llana Schmueli, in einem Gespräch mit der Verfasserin (1991/92): Die Gedichte von Zeitgehöft könnten so aufgebaut worden sein, daß auf jedes Gedicht ein Gegengedicht, ein „böses" Gedicht folgte. P. Celan, Gesammelte Werke, Bd. 3, 75. Ebd. 76.

190

Elke Günzel

auch jener Schatten, den alle Dinge zeigten, wenn der Sonnenschein der Erkenntnis auf sie falle. Die Rede beginnt, der Wanderer spricht, belehrt, und am Ende des Buches wird er sich von seinem Schatten verabschieden. Celans Gedicht endet mit dem Gegenteil. Die letzte Zeile lautet: „

Schweigewütiges

sternt."

Doch diese Zeile

erst

war

laßmappen erkennen kann.

ein später Entschluß, wie man in der Originalfassung der NachDas Gedicht endete zunächst mit der Zeile:

„Redewütiges

sternt."

Celan verbesserte es nachträglich in „schweigewütig". Er schreibt ein ,,-i-" dazu, das Zeichen, das auf die nicht zugänglichen Notizen Celans verweist, die vielleicht weiteren Aufschluß geben würden. Doch Celan gibt noch einen Hinweis. Er zitiert einen Satz von Nikolaus von Cusa und einen weiteren von Rilke. Das Zitat von Cusanus lautet:

„Gott ist der Ort der Genauigkeit" Rilkes Zeile ist

aus

dem Gedicht

an

Hölderlin:

„Die Zeile schloß sich wie Schicksal" Dieses letzte der drei Gedichte, die während der Nietzsche-Lektüre verfaßt wurden, ist ein imaginärer Dialog mit vielen Denkern. So steckt auch ein Bild aus Husserls Gedankenwelt darin. Im Gedicht heißt es:

„der klettert mit Spät-

droben in Zeithöfen

sinnigen umher, [...]" Celan hat den Begriff

„Zeithof"

von

Husserl. Er besaß die

von

Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins.

Heidegger herausgegebenen

Dort hat er das Wort „Zeithof" unterstrichen. In diesem vielstimmigen Gedicht bildet Nietzsches Schattengestalt zwischen Reden und Schweigen den Rahmen, den Anfang und das Ende des Gedichts. Es endet mit einem „tanzenden Stern" aus Schweigen.

Die versäumte

Begegnung

im

191

Engadin

Begegnung mit der Schattengestalt Hochgebirge

4. Die

im

In allen drei Gedichten taucht Nietzsche nicht einfach als Bilderlieferant auf. Er ist imaginärer Gesprächspartner und Celan setzt sich mit seiner Denkwelt auseinander. In einem der wenigen Prosastücke Celans, dem Gespräch im Gebirg, zeigt er, wie wichtig ihm das imaginäre Gespräch mit Büchern war. In seiner Büchner-Preis-Rede verweist er darauf, wie dieses Prosastück entstanden ist:

„Und vor einem Jahr, in Erinnerung an eine versäumte Begegnung im Engadin, brachte ich eine kleine Geschichte zu Papier, in der ich einen Menschen ,wie Lenz' durchs

Gebirg gehen ließ."35

es die imaginäre Begegnung mit Nietzsche, die er dort versäumte? Wollte Celan nach Sils Maria pilgern? Im Hotel „Waldhaus" in Sils Maria machte Adorno immer Ferien. Auch viele andere deutsche Professoren trafen sich dort. Peter Szondi wollte in Sils Maria eine Begegnung zwischen Adorno und Celan ermöglichen. Diese ist aber nicht zustande gekom-

War

men.

Die Schrift Gespräch im Gebirg, eine Unterhaltung zweier Juden im Hochgebirge, mag auch ein Dialog mit Nietzsches Zarathustra gewesen sein (der für die jüdischen Intellektuellen wohl immer auch ein Moses gewesen ist). Schon im ersten Satz dieser Schrift zitiert Celan die Landschaft Zarathustras herbei:

„Eines Abends, die Sonne, und nicht Im Zarathustra heißt

nur

sie,

war

untergegangen

es:

„Düster ging ich jüngst durch leichenfarbne Dämmerung, ten

Lippen.

Nicht

[...]"36

nur

eine Sonne

war

mir

düster und hart, mit

untergegangen." (KGW VI/1, 194) -

gepreß-

Beiden Wanderern waren also mehr als eine Sonne untergegangen, als sie durch ihre Gedankenlandschaft im Hochgebirge gingen. Auch dem Schatten aus dem Zarathustra begegnet man bei Celan wieder: „er ging also, das war zu hören, ging unterm Gewölk, ging im Schatten, dem eignen und dem fremden denn der Jud, du weißts, was hat er schon, das ihm auch wirklich gehört, das nicht geborgt war, ausgeliehen und nicht zurückgegeben, da ging er also und kam, kam daher auf der Straße f...]"37 -

Im Zarathustra kommt der Schatten auf Zarathustra zu, spricht ihn an, Zarathustra läuft ihm davon und gibt schließlich lachend auf. Sein Schatten stellt sich dann ganz eigenartig vor:

35 36 37

P.

Celan, Gesammelte Werke, Bd. 3, 201.

Ebd., 196. Ebd., 169.

Elke Günzel

192

„Ein Wanderer bin ich, der viel hinter deinen Fersen her gieng: immer unterwegs, aber ohne Ziel, auch ohne Heim: also, dass mir wahrlich wenig zum ewigen Juden fehlt, es sei denn, dass ich nicht ewig und auch nicht Jude bin." (KGA VI/1, 335) Der Schatten ist also Schattens:

Beinahe-Jude, ist heimatlos wie Ahasver. So endet die Rede des

„Dies Suchen nach meinem Heim;

o Zarathustra, weißt du wohl, dies Suchen war meine frißt mich auf. Heimsuchung, Wo ist mein Heim? Danach frage und suche und suchte ich, das fand ich nicht. Oh ewiges Überall, oh ewiges Nirgendwo, oh ewiges Umsonst." (KGW VI/1, 337) es

-

-

Der Schatten steht ihm

Nirgendwo, im Umsonst, Worte die auch Celan gebraucht, um seine charakterisieren. Bei Kafka findet er eine „Religion des Umsonst",38 eigene Ortlosigkeit die plötzlich in Lachen ausbricht. Bei Nietzsche findet er eine Spannung zwischen einer Leichtigkeit des Tanzenden und einer Schwere aus lauter Sterblichkeit und Umsonst. Celan findet in seinen letzten Gedichten schwerlich die träumende, rauschhafte Natur. Es bleibt ihm meist nur die Schwermut. In den früheren Gedichten „musizierte" er. In Mohn und Gedächtnis gibt es die Tänzerin, die Flöte, den nächtlichen Rausch. Diese Bilder findet man zum Beispiel in dem Gedicht Halbe Nacht aus dem Band Mohn und Gedächtnis. Die dionysische Nacht ist eine schmerzhafte. Auch bei Celan wechseln sich hier Tanz und Schmerz ab. Doch wenn auch die Bilderwelt und die Gegensätze von Trunkenheit, Rausch und klarem Licht der Erkenntnis sich in den Gedichten wiederfinden, transformiert Celan sie in seiner früheren Lyrik in seine eigene Erfahrungswelt. In der späten Lyrik hingegen findet man mehr und mehr ein kritisches, imaginäres Gespräch zwischen Celan und Nietzsche: ein nachgeholtes Gespräch im Engadin. zu

38

Vgl.

E. Günzel, Das wandernde Zitat, 119.

Claus Zittel

Abschied Friedrich Nacht

der Romantik im Gedicht Nietzsches Es geht ein Wandrer durch die von

ßr Andreas Thomasberger

[1876]

Es geht ein Wandrer durch die Nacht Mit gutem Schritt; Und krummes Thal und lange Höhn Er nimmt sie mit. Die Nacht ist schön Er schreitet zu und steht nicht still, Weiß nicht, wohin sein Weg noch will. Da singt ein Vogel durch die Nacht. „Ach Vogel, was hast Du gemacht? Was hemmst Du meinen Sinn und Fuß Und gießest süßen Herz-verdraß Auf mich, daß ich nun stehen muß Und lauschen muß, Zu deuten Deinen Ton und Gruß?" -

5

-

-

10

15

-

Der gute

Vogel schweigt und spricht:

„Nein, Wandrer, nein! Dich grüß ich nicht

20

Mit dem Getön! Ich singe, weil die Nacht so schön: Doch Du sollst immer weiter gehn Und nimmermehr mein Lied verstehn! Geh nur von dann' Und klingt Dein Schritt von fern nur an, Heb' ich mein Nachtlied wieder an, So gut ich kann. Leb wohl, Du armer Wandersmann!" -

25

(Erste Fassung KGB 5, 177)

Claus Zittel

194

[1884]

Der Wanderer

Es geht ein Wandrer durch die Nacht Mit gutem Schritt; Und krummes Thal und lange Höhn Er nimmt sie mit. Die Nacht ist schön Er schreitet zu und steht nicht still, Weiß nicht, wohin sein Weg noch will. -

5

-

durch die Nacht: hast du gemacht! Was hemmst du meinen Sinn und Fuß Und gießest süßen Herz-Verdruß In's Ohr mir, daß ich stehen muß Und lauschen muß Was lockst du mich mit Ton und Gruß?" Da

10

singt

ein

„Ach Vogel,

Vogel was



-

15

Der gute

Vogel schweigt

und

spricht:

„Nein, Wandrer, nein! Dich lock' ich nicht

Mit dem Getön Ein Weibchen lock' ich von den Höhn Was geht's dich an? Allein ist mir die Nacht nicht schön. Was geht's dich an? Denn du sollst gehn Und nimmer, nimmer stille stehn! Was stehst du noch? Was that mein Flötenlied dir an, Du Wandersmann?" -

-

20

25

Der gute Vogel schwieg und sann: „Was that mein Flötenlied ihm an? Was steht er noch? Der arme, arme Wandersmann!" -

(KSA 11, 322)

Einleitung Zwischen den Jahren der Jugendlyrik Nietzsches, 1854-1869, und der Zeit der fruchtbaren lyrischen Produktion ab 1882, als im Zuge der Vorarbeiten zu den Idyllen von Messina und der Fröhlichen Wissenschaft wieder eine Vielzahl neuer Gedichte und Gedichtentwürfe entstehen, erstreckt sich eine elfjährige Zwischenphase, in welcher Nietzsche Verhältnis-

Abschied

von

der Romantik im Gedicht

195

mäßig selten die lyrische Form wählt.1 Eines der wenigen ausgearbeiteten lyrischen Werke dieser Phase ist sein Gedicht Es geht ein Wandrer durch die Nacht aus dem Jahr 1876. Dieses Gedicht ist wenig bekannt und wurde meines Wissens von der Nietzsche-Literatur selten beachtet, bis auf eine Ausnahme, eine Deutung von Jochen Hörisch, die sich aber kaum auf das Gedicht selber einläßt und daher vernachlässigt werden darf.2 Jedoch weist das Wanderer-Gedicht eine Vielzahl von Eigentümlichkeiten in Formgestalt und Motivik auf sowie eine hohe Verweisungsdichte auf die zentralen Themen, mit denen Nietzsche zu dieser Zeit sich auseinandersetzte, wodurch es als wichtiges Dokument einer neuen dichterischen und philosophischen Selbstbestimmung gelesen werden kann: als Abkehr, das ist die zentrale These meiner Interpretation, von der Wagner-Welt und der eigenen Dionysos-Philosophie der Frühzeit. Zunächst werde ich die Textlage des Gedichts, von welchem verschiedene Fassungen existieren, kommentieren und meine Wahl der frühen Fassung begründen. Dann gebe ich einen Überblick über den dazugehörigen biographischen Kontext seiner Entstehung und schlüssele die direkten Bezüge auf. In einem weiteren Durchgang durchs Gedicht werden dessen metrische, sprachliche und motivische Elemente beschrieben, Zitate und Anspielungen benannt und im abschließenden Teil über eine philosophische Ortsbestimmung einer

Deutung zugeführt.

Philologica Von Nietzsches Wanderer-Gedicht existieren im wesentlichen zwei Hauptfassungen mit jeweils geringfügig abweichenden Varianten. Die erste Fassung schreibt Nietzsche in einem Brief an Erwin Rohde in der Nacht vom 17. zum 18. Juli 1876 nieder (KSB 5, 176 f.), notiert sie sich dann mit kleinen Änderungen der Interpunktion in sein Notizbuch (KSA 8, 302, 17 [31]); die zweite Fassung gehört unter dem Titel Der Wanderer der sogenannten Fragment-Gruppe 28 aus dem Herbst 1884 (KSA 11, 322 f.; 28 [58])3 an, die den Fundus für das spätere lyrische Schaffen Nietzsches darstellt. Nietzsche projektierte zu dieser Zeit eine separate Gedichtausgabe, wofür er auch ältere Gedichte heranzog und überarbeitete.

Zu dieser Einteilung des lyrischen Werks in drei Gruppen siehe die ausführliche Begründung bei W. Groddeck, „Gedichte und Sprüche. Überlegungen zur Problematik einer vollständigen, textkritischen Ausgabe von Nietzsches Gedichten", in: G. Martens u. W. Woesler (Hg.), „Edition als Wissenschaft". Festschrift für Hans Zeller, Tübingen 1991, 174 f. 2 J. Hörisch, „Deutschland 1875. Friedrich Nietzsche: ,Es geht ein Wandrer durch die Nacht'", in: K. Lindemann (Hg.), europalyrik. 1775 heute, Paderborn 1982, 219-225 (vgl. dazu Anm. 14). Am Rande erwähnen es z. B.: E. Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 1918, 246; J. Köhler, „Die Fröhliche Wissenschaft". Versuch über die sprachliche Selbstkonstitution Nietzsches (Diss.), Würzburg 1977, 29 f.; H. Pfotenhauer, Die Kunst als Physiologie, Stuttgart 1985, 151 u. 172 f. Ein Sonderfall stellt die „Deutung" von P. Grundlehner, The Poetry of Friedrich Nietzsche, Kap. IV/1: „Der Wanderer", Oxford 1986, 64-69 dar, da ihr Autor unsinnigerweise davon ausgeht, daß die späte Fassung des Wanderer-Gedichts von 1884 mit der früheren ausgetauscht werden und sodann aus dem Briefkontext gedeutet werden könnte (s. 320). 3 Die Umarbeitungsschritte sind wiedergegeben in KGW VII/4,2: „Nachbericht zur siebenten Abteilung", 234 f. 1

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Einen Teil dieser Gedichte veröffentlichte Nietzsche dann in seinen Publikationen der Jahre 1885-1887, viele, darunter auch das Wanderer-Gedicht, welches das älteste der wieder aufgegriffenen war, ließ er unveröffentlicht. Dennoch gilt diese Fassung allgemein als die „endgültige", auch Montinari bezeichnet sie in seinem Kommentar zur Studienausgabe als solche (vgl. KSA 14, 709) und Jost Hermand druckt sie in seiner Nietzsche-Gedicht-Ausgabe ab.4 Es ist aber festzuhalten, daß Nietzsche die späte Fassung, indem er von ihrer Veröffentlichung absah, auch niemals autorisiert hat und man deshalb nur von einer „letzten" Fassung sprechen dürfte, hingegen die frühere Fassung durch ihre Absendung in einem Brief wenigstens eine schwache Autorisierung erhalten hatte. Darüber hinaus wäre die Frage nach der Endgültigkeit über eine qualitative Abwägung der Fassungen zu beantworten, wobei in meinen Augen der früheren klar der Vorzug gebührte.5 Mit dieser Beschreibung der Textlage ist auch ein weiteres Problem für die Interpretation der Nachlaß-Gedichte angesprochen: die Frage ihrer Isolierbarkeit. Wolfram Groddecks Einsicht, daß die publizierten Gedichte Nietzsches „fast ausnahmslos in einem kompositorisch kalkulierten Zusammenhang mit seinem Gesamtwerk stehen, aus dem sie sich nicht ohne Sinnverkürzung isolieren lassen",6 trifft auch auf einen bedeutenden Teil der in Konvoluten gruppierten Nachlaß-Gedichte zu und vor allem auch auf die Gedichte, die in einen Brief eingebettet überliefert sind. Daher werde ich nun auf die äußeren, durch den Briefkontext gegebenen biographischen Bezüge eingehen, und sichten, welches Material das Wanderer-Gedicht an seiner Oberfläche einer ersten Deutung anbietet.

Biographica Die Leitmotive der Freundeskorrespondenz in den Wochen vor der Entstehung des Wanderer-Gedichts setzten sich zusammen aus Klagen über die Einsamkeit des Gelehrtendaseins und erwartungsfrohen Betrachtungen über die im Herbst erstmalig stattfindenden Bayreuther Festspiele, an denen Nietzsche und Rohde gemeinsam teilnehmen wollten. So schreibt Rohde am 2.7.1876: „[...] wie einsam im Grande unser einer unter dieser akademischen Jetztzeitlichkeit' steht, an der ein Junggeselle sich noch dazu viel mehr reiben muß als wer sich in sein eignes Schneckenhaus zurückziehen kann." Wenige Zeilen später kündigt er aber dennoch an, sich zum Winter „einer weit strengeren Einsamkeit zu befleißigen". Hieran knüpft er schopenhauerisch gefärbte Ausführungen über seine eigene unglückselige „Willens "-Abhängigkeit an, bei der Nietzsche, der „so viel glücklicher angelegt" sei, kaum begreifen werde, wie schwer er an seiner „ganz profan nach Glück verlangenden irdischen

4 F. Nietzsche, Gedichte, hg. v. J. Hermand, Stuttgart 1964, 25; ferner J. Köhler, „Die fröhliche Wissenschaft", 29; sowie D. Breuer, Deutsche Metrik und Versgeschichte, Stuttgart 1981, 236. 5 Aus folgenden Gründen: Erstens ist die frühere Fassung lakonischer, die zweite durch die Ergänzungen weitschweifiger und in den Teilen ungleichgewichtiger geraten; zweitens steht die frühe Fassung in einem dichten Verweisungszusammenhang, innerhalb dessen sie eine wichtige neue Position Nietzsches markiert, während Nietzsche diese Gedichtthematik, als er die letzte Fassung schrieb, längst hinter sich gelassen hatte und es vermutlich deshalb in eine einfache Parodie umzugestalten versuchte, indem erden Vogelgesang nun eindeutig als einen Lockruf nach einem Weibchen bestimmte. 6 W. Groddeck, „Gedichte und Sprüche", 170, vgl. 174.

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der Romantik im Gedicht

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Hälfte zu tragen habe". Schließlich münden Rohdes Schilderungen seiner Nöthe ein in den Wunsch nach Erlösung, welche er sich durch die Wagnersche Musik zu erlangen erhofft: „- Ach Freund, wie sehne ich mich nach Bayreuth, dem einzigen Ort der Welt wo ich mich, und meine Leiden, und zugleich die Philologie und alle Wagnerei, und diese fatale akademische Dunstluft völlig loswerde und in ein wonnereiches Meer eintauchen kann! (KGB H/6, 352 f.) Zwei Wochen nach diesem merkwürdigen Brief, in dem der Wunsch nach einem gesicherten bürgerlichen Leben und Dionysos-Jüngerschaft erstaunlich verträglich nebeneinander bestehen, am 17.7.1876, sendet Rohde überraschend eine Verlobungsanzeige an Nietzsche, die er mit folgendem Begleitschreiben versieht: "

„Erschrick nicht, geliebter Freund! ich kann augenblicklich nicht viel reden und erklären; möchte ich endlich an einem jugendlich mädchenhaften, mir ganz ergebenen Herzen Ruhe finden, gefunden haben. Ich will morgen beginnen meiner Braut aus deiner 4. Betrachtung (in die ich alleine mich bereits tief versenkt habe) vorzulesen. Sie ist noch sehr jung; ich muß und will sie erziehen, und ihre Hingebung wird mirs leicht machen." (KGB II/6, -

366)

Nietzsche

antwortet

gleich

am

nächsten

Tag:

„Sei es zum Guten, lieber getreuer Freund, was Du mir da meldest, zum wahrhaft Guten: das wünsche ich Dir aus ganzem vollen Herzen. So willst Du denn im Jahre des Heils 1876 Dein Nest bauen, wie unser Overbeck, und ich meine, Ihr werdet mir dadurch dass Ihr glücklicher werdet, nicht abhanden kommen. Ja, ich werde ruhiger an Dich denken können: wenn ich Dir auch in diesem Schritte vielleicht nicht folgen sollte. Denn Du hattest die ganz vertrauende Seele so nöthig und hast sie und damit Dich selbst auf einer höheren Stufe gefunden. Mir geht es anders, der Himmel weiss es oder weiss es nicht. Mir scheint das alles nicht so nöthig seltne Tage ausgenommen. Vielleicht habe ich da eine böse Lücke in mir. Mein Verlangen und meine Noth ist anders: ich weiss kaum es zu sagen und zu erklären. Diese Nacht fiel's mir ein einen Vers daraus zu machen; ich bin kein Dichter, aber Du wirst mich schon verstehen." -

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Dann folgt das Gedicht und nach ihm die den Brief abschließenden Zeilen: „So geredet zu mir, Nachts nach der Ankunft Deines Briefs. FN. Nebst den allerherzlichsten Glückwünschen meiner Schwester." (KGB 5, 176 f.) Mit diesen

biographischen Informationen könnte man sich schnell eine Interpretation die etwa so aussähe: Durch die Formulierung: „so willst du denn dein Nest zurechtlegen, bauen" wird Rohde mit dem Vogel identifiziert, wofür sich noch weitere Belege in der späteren Korrespondenz finden lassen, etwa wenn Nietzsche am 20.5.1877 an Rohde schreibt: „ich dachte Deiner lange, als ich im hellsten Grüne, in der stärkendsten Blüthenbaumluft die Vögel singen und zwitschern hörte. Mir fiel ein, daß Rée sagte, es werde selten ein so schönes Paar geben als Dich und Deine Braut, und ich glaube wohl gar, Ihr werdet immer schöner." (KGB 5, 239) Die Wendung „auch wenn ich Dir vielleicht darin nicht folgen sollte" spielt vermutlich leise auf Nietzsches vergebliches Werben um Mathilde Trampedach an, der er zwei Monate zuvor einen Heiratsantrag überbringen ließ. In diesem hielt er, unter Verwendung von Bildern aus dem Umkreis der Wanderer-Metaphorik, um ihre Hand an: „Wollen Sie es wagen mit mir zusammen zu gehen, als mit einem, der recht

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herzlich nach Befreiung und Besserwerden strebt? Auf alle Pfade des Lebens und des Denkens?" (KGB 5, 147) Somit sähe sich Nietzsche als den rastlos und einsam gehen müssenden Wanderer, dem das Vogellied Herzverdruß bereitet, da es in ihm eine schmerzliche Ahnung von einem Glück der erfüllten Liebe wachruft, das zu teilen ihm aber nicht beschieden ist. Auch die spätere Fassung, in der der Vogel singt: „Ein Weibchen lock' ich von den Höhn", fügte sich bequem dieser Lesart. Für Janz ist das Wanderer-Gedicht denn auch eine „dichterische Vision", mit welcher Nietzsche seinen Standpunkt zur Frage der Verehelichung schildere, und auch Ernst Bertram will in ihm entsprechend Stiftersche Hagestolz-Motivik ausmachen und bezeichnet die Stimmung des Briefes als „tiefernst".7 Doch gibt es mehrere deutliche Hinweise auf eine weitere Sinnebene des Gedichts. Da ist zunächst eine Spur, auf die der Verlobungsbrief Rohdes führt. Wie man sich erinnert, teilte Rohde Nietzsche mit, er sei gerade im Begriff seiner Braut aus der 4. Unzeitgemässen Betrachtung vorzulesen. Um so auffälliger mußte ihm sein, daß sich in dieser Schrift eine präzise Parallelstelle zum Wanderer-Gedicht findet: Es heißt dort im 3. Abschnitt über

Wagner: „Wie ein Wanderer durch die Nacht geht, mit schwerer Bürde und auf das Tiefste ermüdet und doch übernächtig erregt, so mag es ihm oft zu Muthe gewesen sein; ein plötzlicher Tod erschien dann vor seinen Blicken nicht als Schreckniss, sondern als verlockendes liebreizendes Gespenst. Last, Weg und Nacht, alles mit einem Male verschwunden! das tönte verführerisch." (KSA 1, 441; vgl. auch Bd. 8, 216) -

Offenbar ist für Rohde eine versteckte Botschaft in dem Wanderer-Gedicht enthalten, mit der Nietzsche sein Verhältnis zu Wagner und dessen Auffassungen thematisiert. Nietzsche setzt sich in diesem Gedicht an die Stelle Wagners und nimmt dabei einschneidende Korrekturen an seiner bisherigen Konzeption vor, durch die er sich von Wagner entschieden distanziert. Dies gilt es im folgenden aufzuzeigen. Zuvor sei aber noch zweierlei nebenbei bemerkt. Zum ersten, daß in dem eben angeführten Zitat die Anfechtungen des Wanderers nicht nur aus der Sehnsucht nach einem Eheweib bestehen, wie es ja die 2. Fassung des Wanderer-Gedichts explizit behauptet, sondern noch das ganze spätromantische Erlösungsinventar von Nacht/Frau/und Tod8 präsent ist und man

7 C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 1, München 1978, 762; und E. Bertram, Versuch einer Mythologie, 246. Beide machen sich bei ihrer unmittelbar biographischen Lesart aber nicht die Mühe, die Bezüge zu den Brieftexten aufzuzeigen. Janz kommentiert an dieser Stelle das Gedichtende unrichtig mit der Bemerkung: „[...] und Nietzsche ging weiter: Rohde erhielt über ein Jahr keinen Brief mehr von ihm" denn Nietzsche schreibt ihm am 22.9. und 30.12.1876 und am 20.5.1877, außerdem trafen sie sich in Bayreuth. Eine neuere biographische Deutungsvariante der Entfremdung zwischen Rohde und Nietzsche findet sich bei J. Köhler, Zarathustras Geheimnis, Nördlingen 1989, 232 f.; und K. Goch, Nietzsche. Über die Frauen, Frankfurt a.M. 1992, 150 f., die das „andere Verlangen" Nietzsches als homosexuelles lesen: „Der Waldvogel singt von der Liebe zwischen Mann und Frau, und dieses Lied ist nicht für ihn gemacht." (Goch, ebd.) Von was der Vogel singt, ist in der ersten Fassung, auf die sich hier bezogen wird, m. E. so eindeutig nicht. Bemerkenswert ist indes, daß der Nachtvogel zum Waldvogel erklärt wird, und sich so unversehens doch ein Verweis auf Wagner eingeschlichen hat (- zum Bruch der Freundschaft vgl. man auch meine 17. Anm). 8 Zur romantischen Motiv-Konstellation von „Nacht/Mutter/Tod" vgl. man den lesenswerten Aufsatz von G. Kaiser, „Mutter Nacht Mutter Natur", in: F. Kittler (Hg.), Die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften, Paderborn 1980, 87-141. -

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der Romantik im Gedicht

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dieses damit auch dem Vogellied der frühen Fassung zuordnen kann. Zum zweiten, daß dieser Personenwechsel in einer Parallelstelle ein schlagender Beleg für die Gültigkeit von Nietzsches oft nicht ernst genommener Selbstcharakteristik seiner Schrift Richard Wagner in Bayreuth aus Ecce homo ist, denn darin erklärt er: „[...] an allen psychologisch entscheidenden Stellen ist nur von mir die Rede, man darf rücksichtslos meinen Namen oder das Wort .Zarathustra' hinstellen, wo der Text das Wort Wagner giebt. [...] psychologisch sind alle entscheidenden Züge meiner eignen Natur in die Wagners eingetragen [...]." (EH, -

KSA

6, 314)

Metrum und Reim Die erste markante Distanzierung wird schon durch Metrum und Reim erreicht, welche ich zunächst beschreibe und dann deute. Das Wanderer-Gedicht ist mit Ausnahme einer Freiheit im Vers Zeile 16, „Nein, Wandrer nein! Dich grüß ich nicht", konsequent in Jamben abgefaßt. Zumeist handelt es sich um jambische Vierheber, die gelegentlich von einem Zweiheber abgelöst werden, wodurch die Strophen aufgelockerter gegliedert werden (- die Brieffassung ist zweistrophig, die späteren vierstrophig). Die ersten vier Verszeilen sowie die Zeilen 16 und 17 können, wie der Reim nahelegt, jeweils auch als auf zwei Zeilen verteilte Sechsheber gelesen werden. Kreuzreime zu Beginn, dann Paar- bzw. Haufenreime kennzeichnen das Gedicht, wobei die paargereimten Vierheber als streng alternierend-akzentuierende, achtsilbige „Knittelverse"9 abgefaßt sind. Die Verse schließen ausnahmslos mit einsilbiger, voller Kadenz. Die Sätze und die Verse enden meist gemeinsam, d. h. der Vers ist verhältnismäßig unselbständig, er paßt sich der Syntax an. Die Verszeilen werden durch diese Anordnung sehr faßlich, sie sind leicht und schnell vom Ohr aufzunehmen. Die Verszeilen sind damit als regelrecht „anti-dionysisch" zu qualifizieren, da sie sich nach den Ordnungsbedürfnissen des Verstandes richten: anstelle dionysisch-rauschhafter Gefühlsvereinigung steht das apollinische Maß in strenger Regelmäßigkeit. Durch das strenge Auf und Ab der Jamben, die in den Eingangsversen eine hohe Geschwindigkeit erreichen, wird der unbeirrte Schritt des Wanderers durch Thal und Höhn rhythmisch umgesetzt. Eine erste kurze Irritation stellt die unvermutete Aussage des Verses in Zeile 6, „Die Nacht ist schön -", dar, die überrascht, da der Wanderer bislang nicht auf die Natur achtete („Er nimmt sie mit"). Doch zieht das Tempo des Rhythmus nach der kleinen Unterbrechung sofort wieder an, bis plötzlich das Vogellied erklingt. Jetzt beginnt auch der Rhythmus des Gedichts stillzustehen, regelrecht auf der Stelle zu treten, was -

9 Ich verwende die Bezeichnung „Knittelvers" uneigentlich, d. h. nicht nach dem heutigen Verständnis, wonach dem Knittelvers ein hohes Maß an Freiheit im Metrum zuerkannt wird. Es ist eine Frage der Einschätzung, ob Nietzsche der modernen Lesart folgt, oder noch derjenigen Heines oder Wagners verhaftet bleibt, welche fälschlicherweise die sture Monotonie des Versmaßes noch als Kennzeichen des Knittelverses behaupteten (vgl. dazu: A. Schöne, Faust. Kommentare, Frankfurt a.M. 1994, 208 ff. u. 268). Jenseits dieser terminologischen Frage ist für meine Zwecke nur wichtig, daß das WandererGedicht bis auf o. g. Ausnahme sich keine rhythmischen Freiheiten gestattet. Gleichwohl muß ich konzedieren, daß sich beim Lesen keineswegs ein monotones Leiern als Höreindruck einstellt.

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Nietzsche besonders kunstvoll in den Zeilen 10-14 durch den fünfmaligen Endreim auf dem dunklen U-Vokal erreicht, in den die bisherige Bewegung hinein und sich leer läuft. Dies bleibt so bis zum Ende des Gedichts. Nach einem Paarreim, in dem der Vogel das Gespräch aufnimmt, folgen in seiner Rede wieder je zwei Haufenreime, mit vier- und fünfmalig gleichem Endreim.

Deutungsvorschlag Ganz entgegen dem „tiefernsten" Eindruck, den Bertram von diesem Gedicht gewann, nimmt Nietzsche mit der eben beschriebenen Reim- und Versform den ironisch-parodistischen Reimverston Heines auf,10 den er auch später noch öfter, z. B. in Scherz, List und Rache verwenden wird. Der damals häufig noch als Inbegriff der Unbeholfenheit geltende „Knittelvers" weist das Gedicht als Parodie aus. Durch den strengen Rhythmus und den Endreim bewegt sich Nietzsches Wanderer von Anbeginn an aber auch auf Konfrontationskurs mit der „Poetik" Wagners, die jede Beschränkung des Affektausdrucks durch metrischen Zwang ablehnt und dabei besonders den Jambus verdammt. In Oper und Drama beurteilt er ihn folgendermaßen: „Die Unschönheit dieses Metrons [...] ist an und für sich beleidigend für das Gefühl." Der Endreim ist Wagner bekanntlich allein schon durch seine romanische Abkunft verdächtig. Über ihn befindet er: „Durch die bloße Steigerung der Wortsprache zum Reimverse kann der Dichter nichts Anderes erreichen, als das empfangende Gehör zu einer theilnahmslosen, kindisch oberflächlichen Aufmerksamkeit zu nöthigen, die für ihren Gegenstand, eben den ausdruckslosen Wortreim, sich nicht nach Innen zu erstrecken vermag."11 Dies könnte schon eine ganz brauchbare Beschreibung dessen sein, was sich im Wanderer-Gedicht zwischen Vogel und Wanderer abspielt, in deren Kommunikation per „Knittelvers" und Endreim ein „inneres" unmittelbares Verstehen nicht gelingt. Bezeichnenderweise sind hier aber die Akzente anders gesetzt, und die Wertung des Geschehens fällt nun allein schon dadurch ganz verschieden aus, daß Nietzsches Wanderer weiterzieht, ohne daß ihm eine Erlösung aus den Zwängen gebundener Rede durch Musik möglich geworden wäre, ja diese ihm vielleicht auch gar nicht mehr zuteil werden konnte, wie ich im folgenden zu begründen versuche. Dazu werde ich die verschiedenen Bezugnahmen auf Wagner und auch auf Nietzsches Frühwerk skizzieren und die Art von Nietzsches Wanderschaft über eine knappe Untersuchung des Wanderer-Motivs charakterisieren. Nietzsche parodiert in der von Wagner verfemten Reimversform die Wagnersche Sprache und Motivik selber. Zahlreiche archaisierende Wendungen aus dem Wagner-Wortschatz werden aufgenommen, wie z. B.: „sann", „Getön", „geh nur von dann'" oder besonders: „süßen Herz-verdraß",12 und durch den Vers in ihrer peinlichen Biederkeit bloßgestellt.

10 11 12

Vgl. D. Breuer, Deutsche Metrik, 236. R. Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 4, 5. Aufl., Leipzig o. J., 106, 111. Diese Wendung spielt offenkundig auf das Quartett Sachs David Eva Stolzing aus dem 3. Aufzug der Meistersinger an, wo es heißt: „Einer Weise mild und hehr, sollt es hold gelingen, meines Herzens süß' Beschwer deutend zu bezwingen." Auch hier soll durch Deutung die süße Herz-Beschwer überwunden werden, durch sie werden Stolzings „Natur-Triebe" domestiziert und in die bürgerliche Ord-

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der Romantik im Gedicht

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So gibt z. B. die vom Reim erzwungene Dehnung in ,,-verdruß" denselben vollends der Komik preis.13 Der Dialog zwischen dem Wanderer und dem Vogel, und das ist nun entscheidend, nimmt insbesondere Bezug auf die gleich angelegte Szenerie im 2. Aufzug von Wagners Siegfried,14 welcher „im Jahre des Heils", d. h. im Jahr der Bayreuther Festspiele (1876), ebenfalls mit seiner Uraufführung auf dem Programm stehen wird, den aber Rohde und Nietzsche schon seit langem kannten. Dort ist es Siegfried, der vom Vogelgesang gefesselt wird und das Lied des Waldvögleins verstehn will. Zunächst indem er versucht, mit dem Sprechen aufzuhören und das Vogellied auf einem Rohr nachzuahmen: „Entrat ich der Worte, achte der Weise, sing ich so seine Sprache, versteh ich wohl auch, was er spricht." Dies versucht er vergeblich, aber nachdem er das „Tier, das zum Sprechen taugt", Fafner, erschlagen hat, vermag er, in deutlichem Kontrast zu Nietzsches Wanderer, das Vogellied zu verstehen.15 Der Vogel weist ihm mit seinem Gesang den Weg zur Braut Brunhilde, wodurch in Siegfried Angst vor der Selbstpreisgabe und zugleich die Sehnsucht nach ihr geweckt werden:

„Die Stimme des Waldvogels: Jetzt wüßt' ich ihm noch / das herrlichste Weib [...] Sieg-

fried:

O holder

Sang!

/ süßester Hauch! / Wie brennt sein Sinn / mir sehrend die Brust!

integriert. Nietzsche wird einen Weg jenseits der schlechten Alternative Wagners, in welcher Zwangsordnung und Auflösungssehnsüchte einander fordern, suchen. Auch dies ist ein von Heine in seinen Gedichten gerne angewendetes Verfahren, um „Stimmung" zu zerstören. Dies scheint aufgrund der strengen Architektonik und den sonst „reinen" Reimen des Wanderer-Gedichts hier eher vorzuliegen als die gleichwohl auch denkbare „positive", d. h. freie Handhabung nung

13

des

Endreims, wie sie

u. a. bei Goethe und den Romantikern Praxis war. sehen auch Pfotenhauer (Die Kunst als Physiologie, 173) und Hörisch („Deutschland 1875"). Pfotenhauer erblickt im Wanderer-Gedicht ebenfalls eine Kontrafaktur zu Wagner, will diese aber in der Abkehr von Wagners Schuld- und Verfehlungskonzept ausmachen. Jedoch stellt auch er fest, es werde „in Nietzsches Poem die Natur noch zum Anlaß von sentimentalen Projektionen". Hörisch indes behauptet, Nietzsche könne mit seinem Gedicht nur unzulänglich und paradox avisieren, was Wagners Werk musikalisch vollzöge: die Überwindung der Sprache. Diese Lesart, die Nietzsche der Gegenaufklärung zuschlägt und ihm jene Position als Ziel vorsetzt, die Nietzsche unermüdlich kritisiert, siedelt sich erklärtermaßen selbst im Bereich jenseits von argumentati ver Zugänglichkeit an. Hörischs Deutung, dies sei des weiteren angemerkt, ist so allgemein angelegt, daß sie auf alles und gar nichts paßt, das Gedicht selber kaum in den Blick nimmt, mit suspekten ideologischen Kategorien operiert und damit insgesamt eher als eine Stilübung poststrukturalistischen Sprachgebrauchs anzusehen ist. Um wenigstens einen Eindruck zu vermitteln: „Die um 1775 erfundene Universalisierung von Bedeutsamkeit und Verstehen läßt die, die jene Universalisierung eingesetzt haben, buchstäblich nicht mehr in Ruhe; Goethes Wanderer und Büchners Lenz kennen kein Diesseits oder kein Jenseits des Symbolischen mehr. Auch Nietzsches Wanderer ist ein spätes Opfer dieser Universalisierung kryptogrammatischer Regeln, die einen rekonstruierbaren sozialgeschichtlichen Hintergrund haben. Die innovativen Sozialisationsprozeduren der Kleinfamilie, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sich durchsetzten, ziehen die erzieherischen Beeinflussungen von der Äußerlichkeit des ganzen Kinder-Körpers ab, um sie auf das Ohr als jene Körperöffnung zu zentrieren, die nicht verschließbar ist. So ersetzt die Semantisierung des Unbewußten, das sich als der Diskurs des Anderen konstituiert, dem durch keinen Schließmuskel zu wehren ist, die pädagogische Zurichtung gehorchender Körper." (Ebd., 220) 15 Im 3. Aufzug wird Wotan bezeichnenderweise zu Siegfried sagen: „Ein Vöglein schwatzt wohl manches; / kein Mensch doch kann's verstehn" woraufhin ihm Siegfried erklärt, dies sei durch das Blut des erschlagenen Fafner gekommen, d. h. erst die un-menschliche Heldentat und der Blutrausch machten dies möglich.

14

Diesen

Bezug

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I Wie zückt er heftig / zündend mein Herz! / Was jagt mir so jach / durch Herz und Sinne? / Sing es mir süßer Freund! Der Waldvogel: Lustig im Leid / sing' ich von Liebe; / wonnig und weh / web' ich mein Lied: / nur Sehnende kennen den Sinn!"

Philosophische Grundlegung Dieser Weg ist Nietzsches Wanderer offenkundig versperrt. Dies ist um so erstaunlicher, als Nietzsche in der Geburt der Tragödie die Waldvogelszene an argumentativ zentraler Stelle eingesetzt hatte. Bekanntlich zerfällt diese Schrift in zwei nicht recht zueinander passende Teile, wobei im ersten die Verfallsgeschichte der griechischen Kultur vorgeführt wird, während im zweiten Teil Nietzsche Hoffnungen auf eine Renaissance des Tragischen durch das Musikdrama Wagners Raum gibt. Die Schwierigkeit bei der Verknüpfung dieser Teile liegt darin begründet, daß Nietzsche die Zerstörung der griechischen Kultur als irreversiblen Auflösungsprozeß des ursprünglichen Gleichgewichts der dionysischen und apollinischen Kräfte beschreibt, welches das Fundament der griechischen Kultur bildete; denn dieser Zerfall wird dadurch herbeigeführt, daß das apollinische Prinzip in Gestalt des Sokratismus sich zur einseitigen Dominanz aufschwingen konnte, mit der Folge, daß das dionysische Prinzip nicht mehr gebändigt, sondern verdrängt wurde. Nach dem Siegeszug des Sokratismus, welcher dann das neue Fundament der alexandrinischen Kultur bildet, ist der mythische Urgrund auf immer verloren und die versuchten Rückwendungen zum dionysischen Urgrund sind nur noch reaktive Kompensationsbemühungen, mit welchen der alte metaphysische Trieb in nun niederer Form sich allmählich in ein „Pandämonium überallher zusammengehäufter Mythen und Superstitionen verlöre (KSA 1, 148, GT 23; vgl. auch z. B. das Ende von Geburt der Tragödie, 14). In einem Nachlaßfragment dieser Zeit beschreibt Nietzsche diesen Vorgang klarsichtig: „[...] aus den Ruinen der zerstörten Kunst blüht die Mystik." (KSA 7, 133)16 Die Angestrengtheit der Ausführungen des zweiten Teils ist deshalb auf das Bemühen um eine zuvor konzeptionell ausgeschlossene Rückkehr zur dionysischen Urheimat zurückzuführen. Nietzsche beschreibt die neuzeitliche Situation wie folgt: „Und nun steht der mythenlose Mensch, ewig hungernd, unter allen Vergangenheiten und sucht grabend und wühlend nach Wurzeln. Die Gegenwart sei daher primär gekennzeichnet durch den „Verlust des Mythos, [...] den Verlust der mythischen Heimat, des mythischen Mutterschosses" (KSA 1, 146, GT 23). Nietzsche sieht sich nun vor der Schwierigkeit, Wagners Musikdrama gegen die Auswüchse der damals zeitgenössischen Kunst, die zur „bloßen Ergetzlichkeit herabgesunken" sei (KSA 1, 159, GT 24), als echte Wiedergewinnung des Ursprungs auszuweisen. Nun sind es gerade die Waldvogelszene aus dem Siegfried und in ihr das Verstehen-können des Vogelsangs, die von ihm als Kriterium und Beweis eines doch noch möglichen Wiederfindens der mythischen Heimat angeführt werden! "

„Und wenn der Deutsche zagend sich nach einem Führer umblicken sollte, der ihn wieder in die längst verlorne Heimat zurückbringe [...]- so mag er nur dem wonnig lockenden 16

Vgl. dazu die ausführliche Begründung in Teil Würzburg 1995.

1 meiner Studie

Selbstaußebungsfiguren bei Nietzsche,

Abschied

von

203

der Romantik im Gedicht

Rufe des dionysischen Vogels lauschen, der über ihm sich deuten will." (KSA 1, 149, GT 23)

wiegt und ihm den Weg dahin

Tröste", heißt es wenige Seiten später, gebe es, obgleich der sokratische sich nachhaltig durchgesetzt hätte, „Anzeichen dafür, dass trotzdem der deutsche Geist in herrlicher Gesundheit, Tiefe und dionysischer Kraft unzerstört [...] in einem unzugänglichen Abgrunde ruhe und träume: aus welchem Abgrunde zu uns das dionysische Lied emporsteigt. [...] Glaube Niemand, dass der deutsche Geist seine mythische Heimat auf ewig verloren habe, wenn er so deutlich noch die Vogelstimmen versteht, die von jener Heimat erzählen." (KSA 1, 153 f., GT 24) Diese Passagen, denen noch der direkte Verweis auf Siegfried folgt, geben den Schlüssel zur Deutung des Wanderer-Gedichts. Wenn der Wanderer jetzt nicht mehr die Vogelstimmen verstehen kann, ist dies Zeichen des unrettbaren Verlorenseins des mythischen, dionysischen Urgrunds. Dieser Befund wird bestätigt und weiter präzisiert, wenn man in Nietzsches frühen Schriften das Motiv des Wanderers näher untersucht. „Zu

unserem

Optimismus

Wanderermotiv17 Bereits in seiner Devno/crzí-Schrift (1867) schrieb Nietzsche: „So ist unser Streben eine Wanderung ins Unbekannte, mit der unsteten Hoffnung einmal ein Ziel zu finden, wo man sich ausruhen kann."18 Auch in der Folge lassen sich zahlreiche Verwendungen des Wanderns als Metapher finden. Für unseren Zusammenhang ist wichtig, daß der Wanderer meist durch den Verlust der mythischen bzw. religiösen Bindungen zu seiner Wanderschaft gezwungen wird und daß er deshalb vor allem für den Philosophen steht. Wiederum liefert der Kontrast zum Griechentum die Folie für die Charakterisierung:

„Andere Völker haben Heilige, die Griechen haben Weise. [...] In anderen Zeiten ist der

ein zufälliger einsamer Wanderer in feindseligster Umgebung, entweder sich durchschleichend oder mit geballten Fäusten sich durchdrängend. [...] Was ist das Leben überhaupt werth? Die Aufgabe, die der Philosoph innerhalb einer wirklichen, nach einheitlichem Stile gearteten Kultur zu erfüllen hat, ist aus unsern Zuständen und Erlebnissen deshalb nicht rein zu errathen, weil wir keine solche Kultur haben. Sondern nur eine Kultur, wie die griechische, [...] nur sie kann [...] die Philosophie überhaupt rechtfertigen, weil sie allein weiß und beweisen kann, warum und wie der Philosoph nicht ein

Philosoph

Es gibt beim frühen Nietzsche gleichzeitig zwei voneinander unabhängige Wanderermotivgruppen: zum einen ist das Wanderermotiv verbunden mit dem Freundschaftsmotiv („das gemeinsame Wandern"), zum andern steht es für den einsamen Philosophen. Soweit ich es überblicke, wird das Freundschaftsmotiv mit dem Wanderer-Gedicht endgültig als Wanderer-Konnotation verabschiedet! Daher verfolge ich hier nur den sich durchsetzenden „Philosophenstrang" zurück. Zur literaturhistorischen Vorgeschichte des Wanderer-Motivs vergleiche man generell die einschlägige Arbeit G. Kaisers, Wandrer und Idylle, Göttingen 1977. 18 F. Nietzsche, Frühe Schriften, Historisch-Kritische Gesamtausgabe, München 1933-1940, Nachdruck: München 1994, hg. v. H.-J. Mette und K. Schlechta, Bd. 3, 336. 17

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Claus Zittel

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zufälliger beliebiger bald hier- bald dorthin versprengter Wanderer ist. Es giebt eine stählerne Nothwendigkeit, die den Philosophen an eine wahre Kultur fesselt: aber wie, wenn diese Kultur nicht vorhanden ist? Dann ist der Philosoph ein unberechenbarer und darum Schrecken einflößender Komet, während er im guten Falle als ein Hauptgestirn im Sonnensysteme der Kultur leuchtet. Deshalb rechtfertigen die Griechen den Philosophen, weil er allein bei ihnen kein Komet ist." (KSA 1, 808 f., PHG 1) Kapitel über Heraklit in derselben Schrift prägt Nietzsche die Definition: „Einsam die Straße zu ziehn gehört zum Wesen des Philosophen" (KSA 1, 833, PHG 8), die auch im Pathos der Wahrheit wiederkehrt: „Die verwegensten Ritter [...] muß man bei den Philosophen suchen. Ihr Wirken weist sie nicht auf ein .Publikum', auf die Erregung der Massen und auf den zujauchzenden Beifall der Zeitgenossen hin; einsam die Straße zu ziehn gehört zu ihrem Wesen." (KSA 1, 757) Und in einem Fortsetzungsentwurf zu Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne heißt es kurz und bündig: „Der Philosoph als Abnormität. Daher als einsamer Wanderer." (KSA 14, 141) Auch in Schopenhauer als Erzieher, und damit will ich diese Stellenauslese abschließen, heißt es entsprechend: „Es sieht oft so aus als ob ein Künstler und zumal ein Philosoph zufällig in seiner Zeit sei, als Einsiedler oder als versprengter und zurückgebliebener Wanderer." (KSA 1, 406) Die Ungebundenheit, das Losgelöstsein von den traditionellen Werten, die einsame Wanderschaft und die Unzeitgemäßheit, das alles sind bereits die Kennzeichen, die später Nietzsches Freigeist19 eignen werden, als dessen Vorläufer der Wanderer des frühen Nietzsche anzusehen ist, der dann Schritt für Schritt immer mehr ins Zentrum seines Philosophierens rückt. Rückblickend beschreibt Nietzsche seinen Übergang zur Freigeist-Philosophie in der Vorrede 3 zu Menschliches, Allzumenschliches: „[...] ein Wille und Wunsch erwacht, fortzugehn, irgend wohin, um jeden Preis; [...] ein aufrührerisches, willkürliches, vulkanisch stossendes Verlangennach Wanderschaft, Fremde, Entfremdung, Erkältung, Ernüchterung, Vereisung, ein Hass auf die Liebe [...]." Dieses Buch endet bezeichnenderweise mit dem „Aphorismus" Der Wanderer, in welchem gleichfalls die Identifikation des Freigeistes mit dem Philosophen vorgenommen wird und der mit den folgenden Worten beginnt: „Wer nur einigermaassen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten anders fühlen, denn als Wanderer, Ziele: denn dieses giebt es nicht." (KSA 2, 362 f., MA 638) Begibt man sich nun sub specie des ausgebreiteten Materials auf einen letzten Durchgang durch das Wanderer-Gedicht, so ist zunächst augenfällig, daß der Wanderer hier ebenfalls als ziellos bezeichnet ist („Weiß nicht, wohin sein Weg noch will") und somit als Philosoph gesehen werden kann. Auf seiner Wanderschaft hört er das Vogellied, das ihn zum Stehen bringt. Die gestelzten Worte, mit denen er den Vogel anredet, desavouieren seine Stimmung als eine ihn plötzlich überfallende sentimentale Anwandlung. Der Wunsch nach ekstatischer Vereinigung kann sich für den Wanderer-Philosophen niemals erfüllen, denn geradezu per definitionem ist er durch das Wissen um den Verlust des mythischen Zusammenhangs bestimmt. Eine Anfechtung wie das Vogellied ist in Wahrheit Ausdruck einer zeitweiligen Schwäche des Wanderers, sich erbauen und „ergetzen" zu wollen. Der merkwürdige Vogel Im

-

19

Man vgl. dazu besonders Nietzsches Gedicht Der Freigeist (KSA 11, 329), in welchem die nun nur noch vom Schreien der Krähen begleitete „Winter-Wanderschaft" des heimatlosen Wanderers ihre bitterste und eindringlichste Gestaltung erhält.

Abschied

von

der Romantik im Gedicht

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erteilt ihm auch den entsprechend nüchternen Bescheid: „Doch Du sollst immer weiter gehn / Und nimmermehr mein Lied verstehn!"20 Mit der erstaunlichen Antwort des Vogels in Zeile 16: „Nein, Wandrer, nein! Dich grüß ich nicht", welche den zentralen Umschlagspunkt des Gedichts darstellt und auch entsprechend durch das Versmaß hervorgehoben ist denn sie befindet sich in der einzigen Zeile, in welcher metrische Freiheiten auftreten -, werden die konventionellen Erwartungen durchkreuzt; mit dieser Vogelrede geht die ganze spätromantische Welt aus den Fugen. Sie hebt sich selbst auf. Resümierend kann festgehalten werden: Nietzsche vollzieht in diesem Gedicht eine doppelte Loslösung. Zum einen verspottet er, und dies noch vor seinen Bayreuth-Erfahrungen, seine eigene (und auch Rohdes) Wagnerhoffnung und kehrt sich dabei ab von dem romantischen Erlösungsprogramm Wagners und seiner eigenen frühen Schriften, die Notwendigkeit anerkennend, daß nach dem Verlust des Mythos die Hoffnung auf eine Rückkehr zur Natur vergebens ist und nur die Wanderschaft bleibt. Anders formuliert: Nietzsche wird sich klar darüber, daß eine Erlösung in der Kunst nur eine im Schein ist, und damit nie wirklich gelingen kann. „Ich bin kein Dichter", diesen Satz hatte Nietzsche seinem Gedicht vorangestellt. Vergegenwärtigt man sich, wie Nietzsche in der Geburt der Tragödie den Lyriker als einen Musiker und damit dionysischen Künstler bestimmt hatte, der „gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch" verschmelze (KSA 1, 43 f., GT 5), und hält die ironischen „Knittelverse" des Wanderer-Gedichts dagegen, so klärt sich der Sinn dieser Einleitung. Es wird nun deutlich, daß der in den früheren Schriften und bei Wagner geführte Streit, ob der Wort- oder der Tonkünstler den höheren Rang einnehme, verlagert wird, da der Gegenspieler des Musikers jetzt der Philosoph geworden ist, der im Unterschied zum Dichter um die Scheinhaftigkeit der Kunst weiß. Alle späteren Dichtungen Nietzsches sind in diesem Sinne philosophische Dichtungen, insofern sie sich ihres Scheincharakters stets bewußt sind und diesen oft auch zu ihrem Thema machen, häufig in Gestalt der Selbstparodie. Hierin wird Nietzsche auch die entscheidende Differenz zu den Unmittelbarkeitssuggestionen Wagners erblicken. Die andere Loslösung vollzieht sich gegen die Sicherheiten einer bürgerlichen Existenz, wie sie Rohde in seinem Brief sich so sehnlichst erträumt hatte. Diese Komponente des Wanderer-Motivs wird im späteren Werk, wo die Wanderer-Metapher, wie man weiß, äußerst prominent ist, sehr gerne von Nietzsche spöttisch ausgespielt. Das Wandern und Gehen steht dann meist als Sinnbild für seinen Denkstil, den er der bürgerlichen Art, im Sitzen zu denken, entgegenhält: -

„[...] oh wie rasch errathen wir's, wie Einer auf seine Gedanken gekommen ist, ob sitzend, vor dem Tintenfass, mit zusammengedrücktem Bauche, den Kopfüber das Papier

20

Sehr einleuchten will mir Rüdiger Ziemanns im Anschluß an diesen Vortrag gegebener Hinweis auf den Ahasver-Mythos der Christuslegenden. Die bekannteste Fluchformel Christi lautet: „Ich will stehen und ruhen, du aber sollst gehn." Dieser Bezug ist deshalb sehr wahrscheinlich, da Nietzsche auch in Also sprach Zarathustra in ähnlicher Weise das Ahasver-Motiv einsetzt, wenn der „Schatten" zu Zarathustra spricht: „Ein Wanderer bin ich, der viel schon hinter deinen Fersen her gieng: immer unterwegs, aber ohne Ziel, auch ohne Heim: also dass mir wahrlich wenig zum ewigen Juden fehlt, es sei denn, dass ich nicht ewig, und auch nicht Jude bin." (KSA 4, 339) Im Wanderer-Gedicht hat Nietzsche über die Verknüpfung des Wanderer-Motivs mit dem des „ewigen Juden" womöglich eine weitere provokante Gegenposition zu einem Hauptcharakterzug Wagners bezogen, zu dessen Antisemitismus, der ihm bekanntlich äußerst zuwider war.

Claus Zittel

206

oh wie rasch sind wir auch mit seinem Buche fertig! Das geklemmte Eingeweide verräth sich, darauf darf man wetten, ebenso wie sich Stubenluft, Stubendecke, Stubenenge verräth." (KSA 3, 614, FW 366) „Wir gehören nicht zu Denen, die erst zwischen Büchern, auf den Anstoss von Büchern zu Gedanken kommen unsre Gewohnheit ist, im Freien zu denken, gehend, springend, steigend, tanzend, am liebsten auf einsamen Bergen oder dicht am Meere, da wo selbst die Wege nachdenklich werden. Unsre ersten Werthfragen, in Bezug auf Buch, Mensch und Musik, lauten: ,kann er gehen? mehr noch, kann er tanzen?'" (KSA 3, 614, FW 366)

gebeugt:

-

Als letzter wichtiger Punkt bleibt die Schlußwendung des Briefes anzusprechen: „So geredet zu mir, Nachts nach der Ankunft Deines Briefs", durch die der Dialog im Gedicht zum Selbstgespräch, wie später zwischen dem Wanderer und seinem Schatten, wird. Auch dies ist Zeichen der Einsamkeit,21 und in vielen Gedichten der Spätzeit wird diese Struktur prägend werden. Auch sie steht in beredtem Kontrast zum bevorstehenden Ereignis in Bayreuth, wo Wagner versuchen wird, die Massen zu bezwingen. Nietzsches Wanderschaft ist eine des Geistes, und als solche immer zugleich auch eine Reise ins eigene Innere:

„Und was mir nun auch noch als Schicksal und Erlebniss komme, ein Wandern wird darin sein und ein Bergsteigen: Man erlebt endlich nur noch sich selber." (KSA 4, 193, ZA „Der Wanderer") -

21

Siehe dazu den diesen Gedanken weiterführenden Aufsatz von E. Lämmert, „Nietzsches Apotheose der Einsamkeit", Nietzsche-Studien 16 (1987), 47 ff., bes. 55.

Frank Lisson

Der Einfluß Goethes auf die

Lyrik Nietzsches

das rein quantitative Verhältnis aller im Werk Nietzsches genannten Persomiteinander, dann fällt auf, daß Goethe gleich hinter Wagner und Schopenhauer am dritthäufigsten erwähnt wird. Und das, obwohl Goethe nie eine derart offensichtliche und einschneidende Rolle im Leben Nietzsches gespielt hat wie Wagner oder Schopenhauer. Waren die beiden letzteren für Nietzsche durchaus Gegenstände einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung, in der höchste Verehrung und schroffe Ablehnung unglaublich nah beieinanderlagen, so blieb Goethe jedoch für Nietzsche zeitlebens ein vergleichsweise stiller Begleiter, dessen geistige Autorität Nietzsche unumwunden anerkannte. Sein Verhältnis zu dem großen Dichter, das schon früh entstand und sich dann kontinuierlich durch alle Schaffensperioden zog, war von einer gleichbleibenden Affirmation bestimmt, so wie sie nur bei einem unwiderruflichen und allgemein anerkannten Vorbild Bestand haben kann. Obgleich das Goethebild Nietzsches wohl immer fragmentarisch geblieben ist, war Goethe für Nietzsches Denken und Schaffen von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Wie sehr dem großen Dichter ein Sonderstatus zukam, mag sich schon darin zeigen, daß Nietzsche nie nicht einmal in seinen letzten Lebensjahren mit ihm wirklich ins Gericht gegangen war, obwohl sich freilich auch bei Goethe Angriffspunkte hätten finden lassen können. Anders verhielt es sich beispielsweise mit Schiller, der zwar in seiner Bedeutung für Nietzsche an Goethe nicht heranreichte (er wird im Werk nicht einmal halb so oft genannt wie Goethe), dabei aber sehr wechselvolle Kritik erfuhr. So wandte sich Nietzsche, nachdem er sich in frühen Jahren vielfach sehr positiv über Schiller geäußert hatte, spätestens seit den achtziger Jahren immer häufiger mit Polemik gegen ihn, etwa wenn er, wie in der GötzenDämmerung, Schiller unter dem Titel Meine Unmöglichen den „Moraltrompeter von Säckingen" nannte (KSA 6, 11). Jedoch darf angenommen werden, daß hinter der Polemik gegen Schiller sich nicht selten die Absicht einer gewollten Erhöhung Goethes verbirgt, den Nietzsche von seinen Zeitgenossen (wie manchen, den er über die anderen stellte) nur allzu leicht mißverstanden sah, weshalb er ihn nicht mit Schiller, dem „deutscheren" und „idealistischeren" Dichter von beiden, wie üblich in einem Atemzug zu nennen bereit war. Auch war Schiller, wie er von sich selbst sagte, weit entfernt von dem Naturhaften, dem „Naiven", das Goethes Genius nährte, mußte Schiller sich doch alle seine Dichtungen mühsam abringen, mußte Natur suchen, weil er selbst nicht mehr Natur war. Über Goethe dagegen schwebte der Nimbus des Unanfechtbaren, er war das weltüberlegene Genie, das Nietzsche von allen anderen Geistesgrößen abgesondert wissen wollte. Für Goethe nämlich fand er nur schwer einen Vergleich. Und deshalb hat es weder für den frühen, noch für den späten Nietzsche je eine „Abrechnung" oder gar ein „Fertigwerden" mit Goethe gegeben.

Vergleicht

man

nen

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-

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208

Frank Lisson

Das Verhältnis, das Nietzsche zu dem Vorbild Goethe suchte, war also schon insoweit ein außergewöhnliches, als es immer von jener dauerhaften, heimlichen bis offenen Bewunderung erfüllt war. Ein feiner und tiefer Respekt, mit welchem sich Nietzsche still vor Goethes Genie verbeugte, verhinderte hier die sonst bei ihm nur zu oft eintretenden Schwankungen in der Beurteilung von anderen Geistesgrößen. Zu Goethe verspürte er nämlich ein geradezu verwandtschaftliches Verhältnis. Goethe hatte für ihn die Bedeutung einer vornehmen Größe, die leise vorübergeht, ohne daß es einer Betonung oder lauten Auseinandersetzung mit ihr bedürfte, um von ihrem ganzen Umfang erfaßt und aufgenommen zu werden. Vielleicht hat dieser nicht zu übersehende Sonderstatus, den allein Goethe im Leben Nietzsches eingenommen hat und der deswegen so untypisch für Nietzsche erscheinen mag, Ernst Bertram in seinem Buch Nietzsche. Versuch einer Mythologie zu der Behauptung veranlaßt, daß es überhaupt recht schwierig sei, die Verbindung Nietzsche Goethe hinreichend zu beurteilen. Er schreibt: -

„Das Verhältnis des Zarathustradichters zu seinem Goetheerlebnis ist weitaus verwickelter und verschränkter als die fast bildhaft einfache und einleuchtende Fabel seiner Wagnerliebe, seines Schopenhauer-Jüngertums. Es ist, mit alleiniger Ausnahme der Gestalt des Sokrates, vielleicht das komplizierteste Verhältnis zu einem geistigen Ahnen überhaupt, das bei Nietzsche zu beobachten ist."1

Nietzsche, der in späten Tagen kaum eine andere Gestalt der Weltgeschichte als kongenial neben sich duldete, machte bei Goethe also eine der wenigen Ausnahmen. Freilich gab es außer der breiten Affirmation auch hier und da eine ablehnende Haltung, etwa daß Goethe die Griechen nicht verstanden hätte (KSA 6, 159).2 Doch blieben diese Vorbehalte zumeist Einzelerscheinungen, die nie an Elementares, nie an wirklich Grundsätzliches rüttelten. Selbst in der Deutung der Griechen sah Nietzsche keinen ausreichenden Anlaß, sich polemisch gegen Goethe zu wenden. Statt dessen finden wir, mit zunehmendem Alter des Philosophen, sogar eine immer stärker werdende Anlehnung an den großen Dichter, die nicht selten Züge geistiger Affinität annimmt und zuweilen bis an eine Identifikation mit Goethe heranreicht. So heißt es in einer Nachlaßstelle der achtziger Jahre etwa: „- meine Vorfahren Heraklit, Empedokles, Spinoza, Goethe." (KSA 11, 13) Für Nietzsche war Goethe der „große Einsiedler", der „nicht nur ein guter und großer Mensch", sondern auch abgesondert von allen anderen ein schöpferischer Einsamer, ja sogar „eine Kultur" für sich gewesen sei (vgl. KSA 2, 607). Es ist gewiß kein Zufall, daß gerade der spätere Nietzsche Goethe häufig mit solchen Attributen belegte, die er auch für sich selbst gern in Anspruch nahm. Hier drängen sich nun einige Parallelen zu seinem eigenen Selbstverständnis auf: nur für wenige habe Goethe gelebt, manches habe er über die Deutschen hinweggedichtet (wie etwa den Tasso oder die Iphigenie), ja, er sei sogar ein „Umsonst" und „in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen" (KSA 2, 607) gewesen. Ferner war Goethe für Nietzsche das Genie, das sich über seine Zeit gesetzt habe; er war der „Ausnahme-Deutsche", „der unter Deutschen auf feine Weise verschanzt -

-

1 E. Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 1929, 20. 2 Jedoch gestand Nietzsche in Die Geburt der Tragödie Goethe immerhin zu, daß es ihm zwar nicht möglich gewesen sei, „die verzauberte Pforte zu erbrechen, die in den hellenischen Zauberberg führt", er sich aber „am kräftigsten" darum bemüht habe (KSA 1, 129 ff.).

Der

Einfluß

Goethes

209

auf die Lyrik Nietzsches

und verkleidet" (KSA 11, 567) lebte. Man verstand sich wohl über vieles, auch „über das Kreuz".3 In Menschliches, Allzumenschliches lobt Nietzsche sogar Goethes Unterhaltungen mit Eckermann als das beste deutsche Buch, das es gibt (KSA 2, 599). Eines aber machte Goethe geradezu zum Vorbild der Lebens- und Kunstauffassung Nietzsches: in Goethe nämlich, davon war er überzeugt, sei, wie nur in ganz wenigen Größen der Weltgeschichte, der „Überschuß einer weisen und harmonischen Lebensführung" schöpferisch geworden! Gleiches wurde nur noch Homer, Sophokles, Theokrit, Calderón und Racine zugestanden (KSA 2, 53).4 Daraus lassen sich die wesentlichen Elemente erkennen, die Nietzsche mit Goethe verband: das beinahe zwanghaft Schöpferische und die Auffassung, das Leben ins Höchstmögliche zu steigern. „Ich halte für wahr, was mich fördert" heißt ein Ausspruch Goethes, der stark an Nietzsches „Wahr ist, was das Leben steigert" erinnert. Dabei ist das Schöpferische nicht ohne den Segen der Inspiration denkbar. Sowohl Goethe als auch Nietzsche empfanden ihr Schaffen zeitweilig als Eingebung, die plötzlich wie ein dringendes Bedürfnis erschien und ins Werk gesetzt werden wollte. Goethe schrieb seinen Werther in nur vier Wochen, ohne daß er zuvor Skizzen darüber angefertigt hatte. Von ähnlicher Inspiration geleitet, behauptete Nietzsche, jeden Teil seines Zarathustra in kaum mehr als zehn Tagen zu Papier gebracht zu haben. „Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da gibt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Notwendigkeit, in der Form ohne Zögern, ich habe nie eine Wahl gehabt." (KSA 6, 339) Was Goethe von den meisten anderen Dichtern unterscheidet, und worin der hauptsächliche Grund für die Einmaligkeit seiner Werke besteht, ist, wie bereits angedeutet, daß seine Dichtung aus einer reinen Ursprünglichkeit sowie aus einer ungeheuren Energie des Erlebens erwuchs. Damit war Goethe der naturhafte, unverfälschte Dichter, der noch genügend Instinkt in sich trug, um für Nietzsche an das Idealbild des schöpferischen Genius heranzureichen und der durch diese Eigenschaft sogar in die Nähe der Griechen rückte. Vieles glaubte Nietzsche in Goethe vorgebildet zu finden, was seiner eigenen Auffassung vom „höheren Menschen" entsprach. Weil er in Goethe eine Art überzeitlichen Lehrer sah, dessen Worte auch weit über die Gegenwart, über die Nation, ja selbst über die Epochen hinaus Gewicht haben werden denn Goethe rechnete er in eine „höhere Gattung von Literaturen, als ,National-Literaturen' sind" (KSA 2, 607) -, liegt es nahe, daß er einige Gedanken, Aussagen und Wendungen, die er bei Goethe fand, in ihrem Inhalt unverändert übernommen hat, weil er sie als geistesverwandt erkannte und deshalb ihre treffende Symbolik kurzerhand aufgriff, oder weil er überhaupt der Ansicht war, daß so manches Wort Goethes sich durchaus für seine eigenen gedanklichen Konzeptionen eignen würde, so wie er schon in Jugendtagen gern auf Goethe zurückgriff, wenn es darum ging, eigene Auffassungen durch Zitate zu untermauern.5 Es darf daher angenommen werden, daß Nietzsche -

-

3

Vgl. KSA 6, 52: „Der

vornehme Römer

empfand

das Christentum als foeda

superstitio:

ich erinnere

daran, wie der letzte Deutsche vornehmen Geschmacks, wie Goethe das Kreuz empfand. Man sucht umsonst nach wertvolleren, nach notwendigeren Gegensätzen ..." 4 Vgl. hierzu auch KSA 6, 26 (Nietzsche contra Wagner): „In Goethe zum Beispiel wurde der Überschuß 5

schöpferisch, in Flaubert der Haß." Vgl. hierzu die Arbeiten aus Schulpforta:

F. Nietzsche, Charakterschilderung des Cassius aus Julius F. Nietzsche, Primum Oedipodes regis carmen choricum (HKG II, 376 u. 398). Goethe wird dort ohne wirklich zwingenden Grund zitiert. Dafür stellt Nietzsche jedoch dem Lehrer seine Belesenheit unter Beweis.

Cäsar

(HKG II, 199); sowie

210

Frank Lisson

auf den von ihm häufig gebrauchten Begriff des „Hammers" („mit dem Hammer philosophieren", „der Hammer redet" u. ä.) durch den zweiten Teil des Cophtischen Liedes von Goethe gestoßen wurde, in dem es in den letzten Zeilen heißt:

„Du mußt steigen oder sinken, Du mußt herrschen und gewinnen, Oder dienen und verlieren, Leiden oder triumphieren, Amboß oder Hammer sein." Eine andere, vielleicht ebenfalls nicht zufällige Parallele zu der Metaphorik Nietzsches zeigt sich in dem Gedicht Selige Sehnsucht, das deutliche Ähnlichkeiten zu Nietzsches Sprache und Stil aufweist:

„Sagt es niemand, nur den Weisen, Weil die Menge gleich verhöhnet: Das Lebend'ge will ich preisen, Das nach Flammentod sich sehnet. Nicht mehr bleibest du umfangen In der Finsternis Beschattung,

Und dich reißet neu Verlangen Auf zu höherer Begattung."

Aus beiden Gedichten spricht der gereifte Goethe, der den Sturm und Drang hinter sich gelassen hat und einer immer mehr vollendeten Form entgegenstrebt. Nur dieser ältere Goethe konnte für Nietzsche das Bild jener gewaltigen „Ausnahme" darstellen, nach der er in späten Tagen selbst immer mehr verlangte: alle romantischen Neigungen in sich zu überwinden, um dem Leben mit einer gereiften und überlegenen, in sich gefestigten Klassizität zu begegnen. So stand das Phänomen Goethe am Ende wie eine glühende Abendsonne am Himmel der deutschen Kultur, die ihr reines, antikes Licht nur noch vergeblich auf seine Erben zu werfen schien. Doch war Goethe als leidenschaftlicher Sturm-und-Drang-Lyriker deswegen nicht weniger für Nietzsche von hohem Interesse, denn in dem jungen Goethe zeigte sich eben jene ungebändigte Schaffenskraft, die verwerfen und neu schöpfen will, das gegen die Konventionen seiner Zeit aufbegehrende Genie, welches sich seiner zeitbedingten Fesseln zu entledigen sucht. Beide Einflüsse schlagen sich im Werk Nietzsches deutlich nieder, und beide Züge stehen für das freie, lebensbejahende Individuum, das auf den Menschen der Gegenwart des ausgehenden 19. Jahrhunderts folgen sollte. Wie also wirkte sich das „Erlebnis" Goethe nun auf die Lyrik aus? Wenden wir uns zunächst den frühen Schriften Nietzsches zu. Aus diesen läßt sich bereits ein Bekenntnis der Hochachtung herauslesen, ohne daß jedoch schon eine wirkliche, sagen wir kritische Auseinandersetzung mit Goethe erkennbar wäre, wie sie doch später trotz aller Affirmation allmählich stattgefunden hat. Obwohl der Name Goethes in den Schriften des Schülers vergleichsweise häufig vorkommt, läßt sich dennoch kein überdurchschnittlich großes Interesse Nietzsches an dem Weimarer Genius erkennen. -

Der

Einfluß

Goethes

auf die Lyrik Nietzsches

211

für dessen waren vielmehr andere Dichter, wie etwa der sprachgewaltige Hölderlin Lyrik er sich besonders wegen ihrer „Natürlichkeit und Ursprünglichkeit" (HKG II, 2) begeisterte oder der stürmische Immoralist Lord Byron, die den jugendlichen Nietzsche maßgeblich beeinflußt haben. Damit hatte Nietzsche seine Gunst auf zwei Dichter gerichtet, Es

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-

die außerhalb der konventionellen Diskussion standen. Beide nämlich, sowohl Hölderlin als auch Lord Byron, genossen Mitte des 19. Jahrhunderts ja bekanntlich innerhalb der herrschenden Meinung nur wenig Wertschätzung, geschweige denn, daß sie von der bürgerlichen Öffentlichkeit gefeiert worden wären. Hölderlin etwa war den Lehrern Nietzsches noch zu verworren und undeutsch, Lord Byron galt aufgrund seiner exzessiven Lebensführung weiten bürgerlichen Kreisen als die „Unmoral in Person".6 Goethe dagegen war zu jener Zeit die von jedermann mächtig und fast durchweg vorbehaltlos verehrte Apotheose, das zum Olympier hochstilisierte, unumstrittene Genie. Wilhelm Dilthey etwa nennt Goethe in seinem Aufsatz Goethe und die dichterische Phantasie den „größten Lyriker aller Zeiten",7 und an anderer Stelle heißt es wieder über den Lyriker Goethe mit einem sich an Nietzsche anlehnenden Vokabular: „[...] nie ist ein solcher Wille zur Macht über das Leben in solchen Rhythmen ausgesprochen worden!"8 Es ist also nicht weiter verwunderlich, wenn bei Nietzsche diese allgemeine Begeisterung für Goethe zwar leise mitschwingt, er sich aber in seiner von Unruhe und Suche nach geistiger Orientierung geprägten Jugendphase stärker zu den impulsiveren, radikaleren und damit auch unzeitgemäßeren Dichtern hingezogen fühlt. In den Schriften aus dieser Zeit wird Goethe zwar oft zitiert, fungiert aber eben nicht in gleicher Weise als Vorbild und Träger einer nachahmenswerten Weltanschauung wie die beiden romantisch-tragischen Dichter. Statt dessen wird die Größe Goethe, wie ich bereits angedeutet habe, von Nietzsche als unangreifbare Autorität gern zur Untermauerung seiner eigenen Gedanken herangezogen, so daß die eigenen Aufsätze durch Verweise auf Goethe sowohl geschmückt und bereichert als auch in ihrer Argumentation abgesichert werden. Dennoch dringt die konservative Haltung des ganz jungen Nietzsche, der ja schon 1858 in seiner Autobiographie Aus meinem Leben welche er gewiß nicht zufällig dem Namen nach an die Goethes anlehnte allem Modernen, besonders in der Musik, eine strenge Abfuhr erteilt und nur das Klassische gelten läßt, auch in der Lyrik des frühen Nietzsche immer wieder durch. Was das Musikalische anbelangt, so sollte er seine Meinung, die er als noch nicht vierzehnjähriger Schüler in überzogen selbstsicherer Manier dargeboten hatte,9 bekanntlich schon bald wieder verwerfen. Für den heranwachsenden Nietzsche war die Musik lange Zeit von überragender Bedeutung. Er spielte sogar noch als Primaner in Schulpforta mit dem Gedanken, selbst Musiker zu werden (die meisten seiner Kompositionen fielen in die Jahre 1861 bis 1864). Wenngleich dieser Gedanke dann aber doch fallengelassen wurde, so änderte das nichts an dem Bedürfnis Nietzsches, auch weiterhin selbst zu komponieren. Noch im Jahre 1872 sandte er dem renommierten Wagner-Dirigenten Hans von Bülow sein jüngstes Werk, die Manfred Medita-

-

6 W. Ross, Der ängstliche Adler, München 1990, 59. 7 W. Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung, Leipzig 1910, 237. Der erwähnte Aufsatz ist bereits 1877 erstmals veröffentlicht und dann 1905 in der ersten Auflage bzw. 1910 in der zweiten und dritten (nunmehr veränderten) Auflage in das hier zitierte Buch aufgenommen worden. 8 Ebd., 189. 9 Vgl. HKG I, 18 (Aus meinem Leben): „Ich empfing dadurch auch einen unauslöschbaren Haß gegen alle moderne Musik und alles, was nicht klassisch war. Mozart und Haidn, Schubert und Mendelsohn Beethoven und Bach das sind die Säulen auf die sich nur deutsche Musik und ich gründete."

212

Frank Lisson

Hon zu, die er als Antwort auf Schumanns Manfred-Musik verstanden wissen wollte. Statt der gewünschten wissenschaftlichen Bestätigung seiner Kunst durch den Fachmann bekam Nietzsche allerdings ein vernichtendes Urteil ausgesprochen, das jeden anderen Musiker zum Aufhören gezwungen hätte. Nietzsche aber machte weiter, behielt dabei jedoch die Kritik von Bülows im Auge. Denn so sehr Hans von Bülow ihn als Komponisten von reiner Instrumentalmusik auch tadelte, ja ihn sogar auf seine fehlenden musikalischen Grundkenntnisse und auf seine niemals systematisch geschulte Satztechnik hinwies, erkannte er doch feinsinnig Nietzsches lyrische Begabung, indem er ihm riet, wenn er schon komponieren müsse, wenigstens Vokalmusik zu schreiben und so das Wort zur alleinigen und vollen Geltung gelangen zu lassen. Und in der Tat hat Nietzsche einige bedeutende Lied-Kompositionen zustande gebracht. Sein melodisches Gefühl ließ ihn dazu tendieren, die Trennung zwischen Lyrik und Musik aufzuheben. Erwuchs doch das eine aus dem anderen, weshalb beide Elemente für ihn gleichsam eine künstlerische Einheit bildeten. Nietzsches hochmusikalisches Gespür duldete keine Lyrik, die nicht rhythmisch und vor allem musikalisch war, so daß in erster Linie dieses musikalische Gefühl als Maßstab für alles Lyrische herangezogen wurde. Die Melodie des einzelnen Wortes trug nach Nietzsches Ansicht wesentlich zur Vollendung des Poesie bei. Selbst seine Prosa verrät überall deutliche Anzeichen eines Dranges nach Musik, und zwar nicht nur in der Zarathustra-Dichtung, sondern auch ganz besonders in der Fröhlichen

Wissenschaft.

Zweifellos räumte Nietzsche dem Gedicht (im Großen wie im Kleinen) zeitlebens einen übergeordneten Stellenwert ein, vielleicht galt seine eigentliche Hinwendung, sein eigentliches schöpferisches Verlangen sogar vorrangig dieser Form der Dichtung. Dafür spräche nicht nur, daß das Gedicht sowohl für den ganz frühen als auch wieder für den ganz späten Nietzsche zum zentralen Instrument dichterischer Schöpfung und zum höchsten Ausdrucksmittel des Gefühles überhaupt (dem Dithyrambus) geworden ist, und somit quasi den Rahmen seines Werkes bildet, sondern auch, daß genaugenommen von allen literarischen Gattungen nur der Lyrik ein spezifisches Interesse entgegengebracht worden ist, während sich dagegen im Hinblick auf die Dichtung insgesamt (einmal abgesehen von der Tragödie) kaum ein solches finden läßt. Dies zeigt sich etwa in Nietzsches Haltung gegenüber dem Roman und dem (modernen) Drama. Äußerungen über jene zwei Dichtungsgattungen finden sich nur vereinzelt, und wenn, dann zumeist mit kritisierender Absicht. Daß der Roman und das Drama die Hauptausdrucksformen des literarischen Realismus sind, mag zu Nietzsches Abwertung dieser beiden Gattungen beigetragen haben, denn dem Realismus stand er bekanntlich äußerst ablehnend gegenüber. Es fällt auf, daß Nietzsche von seiner frühen Lyrikauffassung, die er bereits 1858 im Zusammenhang eigener poetischer Versuche entwickelt hatte, auch später kaum abgewichen ist. Dabei legte er in der Lyrik, was das Inhaltliche betrifft, vornehmlich Wert auf sprachliche Klarheit und gedankliche Tiefe, so wie er es bei Goethe fand. Er selbst schrieb dazu in seiner Autobiographie:

„Denn ein Gedicht daß vollendet seien soll, muß allerdings so einfach als möglich sein, aber dennoch muß die wahre Poesie auf jeden Worte liegen. [...] Man muß überhaupt bei den Schreiben eines Werks vorzüglich die Gedanken berücksichtigen; eine Nachlässigkeit im Styl verzeiht man eher, als eine verwirrte[n] Idee. Ein Muster hiervon sind die göthischen Gedichte in ihren goldklaren, tiefen Gedanken." (HKG I, 28, AL)

Der

Einfluß

Goethes

auf die Lyrik Nietzsches

213

beherzigen, machte sich Nietzsche bald daran, indem er Lyrik geradezu als lernbar auffaßte, möglichst jeden Abend ein Gedicht zu schreiben. Das Ergebnis einer solchen schulischen Methode liegt auf der Hand: Nietzsches Jugendgedichte, die etwa von der Knabenzeit, 1854, bis zur Studentenzeit, 1868, reichen, sind geprägt durch allerlei Vorbilder: die Naturlyrik Eichendorffs, der Weltschmerz Byrons, die Ironie Heines, das Pathos Hölderlins, aber auch die Erlebnisdichtung Goethes haben den Jugendgedichten Pate gestanden. Der junge Nietzsche übte sich, wie bei werdenden Künstlern üblich, zunächst im Nachahmen von schon bestehender Kunst, um über diesen Weg zu einem eigenen Stil zu finden. Es spricht also keineswegs gegen die frühen lyrischen Versuche Nietzsches, wenn man in manchen von ihnen epigonale Stilübungen eines sich formenden Poeten erkennen will, weisen doch andere Gedichte, die schon erstaunliche Züge einer eigenen Gestaltung tragen Dies

zu

wie etwa Ohne Heimath von 1859 und Noch einmal eh ich weiter ziehe von 1864 -, auf die tiefe lyrische Begabung Nietzsches hin. Ein Beispiel, diesmal für die lyrische Orientierung an Goethe, mag das Gedicht Mailied von 1857 abgeben, das unverkennbar den Ton des jungen Goethe zu treffen sucht. So heißt es in der dritten Strophe des Mailiedes von Nietzsche: -

„O unbegrenzte Fülle Von lauter Seligkeit! O Wonne o umhülle Mein Herz mit seinem Leid. Laß schwinden und vergehen Was nicht wie Frühlingswehen Dir rauscht ins Herz hinein! O kann's was schönres geben Als den Mai, den Mai allein!"10 Und bei Goethe

klingt das

Mailied wie

folgt:

„Und Freud und Wonne Aus jeder Brust. O Erd', o Sonne! O Glück, o Lust! O Lieb, o Liebe! So golden schön, Wie Morgenwolken Auf jenen Höhn!" In dieser Gegenüberstellung läßt sich deutlich das Verlangen des jungen Nietzsche erkennen, an das große Vorbild anzuschließen, ohne dabei aber freilich in bloße Nachahmung zu verfallen. So übernimmt er zwar in Anlehnung an den jungen Goethe viele Gefühlswörter, Naturmetaphern und O-Exklamationen, erreicht aber nicht den freien und natürlichen Umgang mit dem Gefühl, sondern wirkt distanzierter und gewollter, was sich schon allein darin

10

HKG, WI, 226.

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Frank Lisson

äußert, daß Nietzsche lediglich über das Gefühl spricht, während Goethe das Gefühl direkt

es aus sich selbst heraus in eine eigene sprachliche Form umgießt. Bemerkenswert genug aber bleibt die Wortwahl, der Rhythmus und die dem eigentlich heiter gemeinten Gedicht mitschwingende Schwermut des gerade erst dreizehnjährigen Schülers Nietzsche. Ein anderer bedeutsamer Anstoß, der von Goethe ausging und der Nietzsche ein Leben lang faszinieren und seine Philosophie befruchten sollte, war der Prometheus Goethes. Diese Gestalt mußte von Nietzsche als seelenverwandt aufgefaßt werden. Prometheus Ausdruck eines schöpferischen Titanismus, „die Glorie der Aktivität" (KSA 1, 67), wie er in der Tragödie schreibt stellt für Nietzsche das potenzierte Abbild des schaffenden Subjekts dar. In eben dieser Intention, nämlich in der des Genies, das sich gegen die vorhandenen Strukturen stellt und eigene Werte schafft und vertritt, zitiert Nietzsche die letzte Strophe des Prometheus-Gedichtes von Goethe in der Geburt der Tragödie:

wiedergibt und

-

-

„Hier sitz' ich, forme Menschen Nach meinem Bilde, Ein Geschlecht, das mir gleich sei, Zu leiden, zu weinen, Zu genießen und zu freuen sich, Und dein nicht zu achten, Wie ich!" Welcher Gedanke Goethes hätte besser in das Selbstgefühl und in die Genieauffassung des Baseler Professors Nietzsche passen können als dieser prometheische Hymnus von Goethe? Waren die frühen Verse Nietzsches noch vielfach von suchender Nachahmung geprägt, so zeigt sich in den Gedichten und Liedern der siebziger Jahre schon der unverwechselbare Klang und die lyrische Besonderheit Nietzsches, aus der vor allem in den späteren Jahren Verse hervorgingen, welche zu den Meilensteinen deutscher Dichtung zählen. Das Nietzsche von Jugend an bestimmende Einsamkeitsmotiv, getragen von tiefer Schwermut, äußert sich besonders in Gedichten wie An die Melancholie (1871) oder Der Herbst (1877) und kulminiert schließlich in den unübertroffenen Versen von Der Freigeist (Vereinsamt) oder Aus hohen Bergen Gedichten der achtziger Jahre. Aber damit wäre nur eine Seite der Lyrik Nietzsches aufgedeckt. Neben dem tragischen Pathos, das besonders die früheren Gedichte prägt, wird spätestens ab den achtziger Jahren gleichsam ein deutlicher Hang zum witzigen Spruch, zum spitzen Aphorismus und zur spielerischen Ironie bei Nietzsche erkennbar. Nietzsches Gedichte sind nun immer spürbarer von der Tendenz erfüllt, weg von sentimentaler Stimmungslyrik und hin zur spruchhaft bündigen Aussage zu gelangen. Überhaupt läßt sich beobachten, daß der Lyriker Nietzsche eine Wandlung durchmachte, die vom naiven Stimmungsgedicht über das schildernde Naturgedicht bis zum raffinierten, spielerisch-artistischen Kunstprodukt ihren Lauf nahm. Der Sinnspruch, der ein „Tanz der Gedanken" sein soll, rückt mit zunehmenden Alter Nietzsches immer stärker in den Vordergrund. Auch die Form vieler dieser spitzzüngigen Sinnsprüche, die in der Tradition altdeutscher Knittelverse stehen (an die übrigens auch Goethe in seinem Faust I anknüpft), ist von dem musikalischen Stil Nietzsches geprägt. So lautet der Sinnspruch Sternen-Egoismus aus der Sammlung Scherz, List und Rache, Vorspiel in deutschen Reimen:

jungen

-

-

-

Der

Einfluß

Goethes

auf die Lyrik Nietzsches

215

„Rollt' ich mich rundes Rollefaß Nicht um mich selbst ohn' Unterlaß, Wie hielt' ich's aus, ohne anzubrennen, Der heißen Sonne nachzurennen?"

drängte alles in Nietzsche zur Musik. Es ist jenes beständige Suchen nach Worte sind, und nach Worten, wo Musik ist. Bereits als Primaner in Pforta Musik, wo deutet er in einem Brief an seine Mutter dieses ihn immerfort beherrschende Gefühl an: „Wenn ich minutenlang denken darf, was ich will, da suche ich Worte zu einer Melodie die ich habe, und eine Melodie zu Worten die ich habe, und beides zusammen, was ich habe, stimmt nicht, ob es gleich aus einer Seele kam. Aber das ist mein Los!" (KGB 1/1, Schon früh

253)

diese Mischung aus liedhaften Gedichten und spielerisch immer mehr Freude gewinnt, vielleicht in der Nietzsche denen witzigen Sprüchen, Rache List von 1882, die der Fröhlichen Wissenschaft vorund Scherz, Spruchsammlung versuchte. Im selben Jahr bemerkte auch Jacob Gast vertonen ist und Peter zu angestellt Burckhardt, nachdem ihm das neueste Buch des Freundes zugesandt worden war, in einem Brief an Nietzsche dessen Hinwendung zur Heiterkeit: „Zunächst der ungewohnte heitere Göthe'sche Lautenklang in Reimen, dessen Gleichen man gar nicht von Ihnen erwartete und dann das ganze Buch und am Ende der Sanctus Januarius." (Brief v. 13.9.1882, KGB Am deutlichsten

zeigt sich an

-

1/1, 253)

Den Titel der Spruchsammlung entlehnte Nietzsche dem gleichnamigen goethischen Man muß dies wohl als bejahende Parodie auf Goethe verstehen, denn die Unterschiede treten deutlich zutage: während die Spruchlyrik des späten Goethe eher eine weltüberlegene Gelassenheit und eine humane Grundgesinnung ausstrahlt, tritt in Nietzsches Sprüchen zunehmend der Hang zur dionysischen Leichtigkeit, zur Spielfreude und bissigen Ironie, vor allem aber die Lust zu provozieren in den Vordergrund. Ein Beispiel davon mag der Spruch Einladung geben, in dem es heißt:

Singspiel.

„Wagt's mit meiner Kost, ihr Esser! Morgen schmeckt sie euch schon besser und schon übermorgen gut!"11 Es ist wiederum Ernst Bertram, der in seinem schon erwähnten Buch Nietzsche. Versuch einer Mythologie darauf hinweist, daß gerade die berühmtesten dieser Sprüche dem goethischen Vorbild auch sprachlich und rhythmisch am meisten verpflichtet sind. So bemerkt er: „Das prachtvolle ,Ecce homo' mit seinem ausbrechenden: Ja! ich weiß, woher ich stamme! ist ganz goethische Form (Ja! ich rechne mir's zur Ehre, Wandle fernerhin allein!') ..." Auch sei Nietzsches Römischer Stoßseufzer: „Nur deutsch! Nicht teutsch! So will's jetzt deutsche Art! ..." eine Nachbildung von Goethes An die T.. und D..: „Verfluchtes Volk! Kaum bist du frei. Und ganz den Hans Sachsischen Spruchgedichten Goethes nachgeformt, so Bertram, ist etwa der Sinnspruch Das Wort: '

"

11

KSA 3, 353.

Frank Lisson

216

„Lebend'gem Worte bin ich gut: das springt heran so wohlgemut, das grüßt mit artigem Genick, ist lieblich selbst im Ungeschick,"12 Der Westöstliche Diwan darf ebenfalls als Inspirationsquelle der Spruchdichtung Nietzsches angesehen werden. Nicht nur, daß Nietzsche häufig direkt aus dem Diwan zitiert, er versucht auch seine eigenen Verse auf das Niveau Goethes zu bringen. Nietzsche übernimmt zwar die Form, wie die altertümelnde Knittelvers-Reimart, ahmt aber Goethe nicht bloß nach, sondern verleiht den Sprüchen seinen eigenen persönlichen Stil, er bildet sie gewissermaßen weiter, indem er sie nach seiner Art spitzer und schärfer formuliert. Wenig Widerhall fand dagegen bei ihm jene altdeutsche Strenge und fromme Tüchtigkeit des Hans Sachs. Was bei Goethe noch nach Reformation klingt, das verliert bei Nietzsche den getragenen Anstrich Hans Sachsischer Spruchweisheit und bekommt dafür eine grellere Farbe, es rückt ab ins doppelsinnig Geistreiche und Ironische:

„So sprach ein Weib voll Schüchternheit zu

mir im

Morgenschein:

,Bist schon du selig

wie

selig

wirst du

vor

Nüchternheit,

trunken sein!

' "

-

Beispiel in Der Halkyonier (KSA 11, 317), einem Sinnspruch der frühen Jahre. achtziger Ernst Bertram bringt das Verhältnis der Sinnsprüche Goethes und Nietzsches auf folgende Formel:

heißt

es zum

„Was bei Goethe geläutert volkstümlich, wird bei Nietzsche schon parodisch populär; was dort humorvoll, wird hier burlesk, was dort lustig spottend, wird hier ironisch boshaft; das geistige wird geistreich, das Leuchtende grell, das Doppeldeutige antithetisch; Lachen wird Gelächter, Beweglichkeit Nervosität, Überlegenheit Bewußtsein der Überlegenheit; alles wird schillernder, wirksamer, spitzer, farbiger, geistiger alles uneinfacher, undeut-

scher,

ungoethischer."13

-

Vor allem augenfällig aber ist die Neigung zur Parodie und zur Schlußüberraschung. Hierin bekommen die Sinnsprüche Nietzsches ihre so typische Eigenart und unterscheiden sich gänzlich von den goethischen Reimversen. Die Schlußüberraschung wird dadurch rein äußerlich zur Geltung gebracht, daß Nietzsche sehr häufig einen Gedankenstrich vor das letzte Wort des letzten Verses setzt. Beides, sowohl Parodie als auch die verblüffende Pointe am Schluß eines Spruches, findet sich beispielhaft dargestellt in dem Gedicht An Goethe, das den Eingangsspruch zu den Liedern des Prinzen Vogelfrei bildet und in dem Nietzsche der Lebensanschauung Goethes die eigene Weltsicht parodistisch entgegensetzt, indem er folgende bekannten Verse in Anlehnung an den Faust dichtet, die auch hier den Abschluß bilden sollen:

12 13

Vgl. hierzu E. Bertram, Nietzsche, 239. E. Bertram,

Nietzsche, 21.

Der

Einfluß

Goethes

auf die Lyrik Nietzsches

217

„Das Unvergängliche

Ist

nur

dein Gleichnis!

Gott, der Verfängliche,

Ist Dichter-Erschleichnis

...

Weltrad, das rollende,

Streift Ziel auf Ziel: Not nennt's der Grollende, Der Narr nennt's Spiel -

...

-

das herrische, Mischt Sein und Schein: Das Ewig-Närrische Mischt uns hinein! ..."

Weltspiel,

-

-

Nietzsche-Kolloquium: „Nietzsche als Tiefenpsychologe und Tiefenphilosoph"

4. Dortmunder

Wiebrecht Ries

Beiträge zu einer „Phänomenologie der Liebe"

Nietzsches

Wenn in den folgenden Betrachtungen von einer „Phänomenologie der Liebe" die Rede ist, so wird mit der Wahl dieses Ausdrucks nicht an den terminologisch gefestigten Sprachgebrauch angeknüpft, der in den Untersuchungen Husserls, Heideggers und vor allem Schelers anzutreffen ist.1 Ein solcher akademischer Usus wäre dem Gestus der Philosophie Nietzsches gänzlich inadäquat. Beabsichtigt wird in diesem Vortrag vielmehr eine Überschau über die Notizen, die Nietzsche sich über diesen grundlegenden Aspekt des Lebens (bei verschiedenen Anlässen und Gelegenheiten) gemacht hat; sie reichen vom Augenblickseinfall bis hin zur systematischen Reflexion. Hierbei mag deutlich werden, wie vielgestaltig sich die Thematik im Schrifttum des Denkers präsentiert, wie stark die Faszination gewesen sein muß, die von der Liebe und dem Geschlechterverhältnis für Nietzsche ausging, gelangt er doch von ihnen aus zu einer umfassenden Deutung des Lebens und seiner konstitutiven Pole, des Männlichen und des Weiblichen, zumal von Nähe und Ferne; ja, er versucht auf dieser Grundlage sogar eine Metaphysik der Liebe und des Todes. Wer die Entstehungsgeschichte seiner Werke kennt, den wird es nicht verwundern, daß Nietzsche in der Tradition der französischen Moralistik und in der Nachfolge Schopenhauers eine Vielzahl geistvoll-spöttischer Aphorismen über die Liebe, das Geschlechterverhältnis sowie über die gesellschaftliche Rollenrhetorik von Mann und Frau er sagt meist „Weib" niedergeschrieben hat. Diese Äußerungen gehören vorzugsweise seiner sogenannten positivistischen Phase an, man findet sie demgemäß in Menschliches, Allzumenschliches, in der Morgenröthe, in der Fröhlichen Wissenschaft und vor allem in den noch zu wenig beachteten Tautenburger Aufzeichnungen aus dem Sommer des Jahres 1882. Aus der Fülle dieser Aufzeichnungen kann in diesem Vortrag indes nur eine kleine und nicht einmal repräsentative Auswahl geboten werden, in der sich Nietzsche als aufgeklärter Psychologe und Soziologe zeigt. Entbehren diese Textstücke zumeist der Bedeutungstiefe, die Nietzsche als Theoretiker der griechischen Tragödie, als Dichter des Zarathustra, als Entdecker oder Erfinder des Willens zur Macht aufbietet, so bedürfen sie gleichwohl eingehender Interpretation, denn ohne sie wäre unser Nietzsche-Bild unvollständig und zumal eine Betrachtung seiner „Phänomenologie der Liebe" kaum durchführbar. Mit diesen, den Nachruhm des Denkers vor allem als Tiefenpsychologe begründenden Aufzeichnungen hat das Motiv allerdings noch nicht seine endgültige Gestalt gefunden. Es gibt nämlich bei Nietzsche eine, -

-

1 Hierbei ist vor allem an das mit Nietzsches Denken so eng verknüpfte Werk M. Schelers, Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Haß [1913], gedacht, das in späteren Auflagen bekanntlich den Titel Wesen und Formen der Sympathie trägt.

222

Wiebrecht Ries

wie man sagen könnte, „ästhetische Hermeneutik" des Lebens, die, in der Nachfolge Goethes und der Romantik, philosophisch darüber hinaus orientiert an Heraklit und dem Piaton des „Symposion", das Leben als erotisch-dämonische Macht zu begreifen versucht.2 Diese Tiefenschicht wird vor allem in der Geburt der Tragödie sichtbar gemacht, läßt sich aber auch in der Zarathustra-Dichtung, in Jenseits von Gut und Böse, in der Götzen-Dämmerung sowie in zahlreichen Komplexen aus dem Nachlaß von Mitte der achtziger Jahre an nachweisen. Einen ihrer Höhepunkte findet Nietzsches Reflexion in der Umdeutung der Figur des Sokrates wie in das Erotische des auch denen bedeutsam konnotiert platonischen Dionysos, wird; auch dieser Interpretationsprozeß hat seinen Niederschlag vor allem in der Geburt der Tragödie gefunden. Erotische Züge auch in Nietzsches Konzeption des Willens zur Macht nachzuweisen, wäre für den Referenten eine anspruchsvolle und gewiß nicht undankbare Aufgabe, doch verfahrt Nietzsche in diesen späten Entwürfen mehr konstruierend als phänomenologisch, so daß dieses Thema einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben muß. Es dürfte keinem Zweifel unterliegen, daß Nietzsches Wirkungsgeschichte in ihrem Frühstadium sich insbesondere auf zwei Aspekte seines Werkes stützt: seine Kulturkritik und vor allem seine Theorie der Affekte.3 Wenn von einer „Psychologie der Affekte", von einer „gesellschaftlichen Rollenrhetorik" zu sprechen ist, so ist auf die Tatbestände der Gefühlslegende und der sozialen Mythologie hinzuweisen. Aufgrund ihres charakteristischen Affekts werden die sozialen Rollen und ihre Träger nicht nur präsentiert, sondern zugleich auch in ihrem wahren Wesen verdunkelt und verschleiert. So weiß Nietzsche von der „Proteus-Natur" des Weibes, wenn er schreibt: „Weiber werden aus Liebe ganz zu dem, als was sie in der Vorstellung der Männer, von denen sie geliebt werden, leben." (KSA 2, 269)4 Die Lebensrolle der Frau wird demzufolge nicht von ungefähr mit dem Begriff der „Maske"

belegt:

„Es giebt Frauen, die, wo man bei ihnen auch nachsucht, kein Inneres haben, sondern reine Masken sind. Der Mann ist zu beklagen, der sich mit solchen fast gespenstischen, nothwendig unbefriedigenden Wesen einlässt, aber gerade sie vermögen das Verlangen des Mannes auf das stärkste zu erregen: er sucht nach ihrer Seele und sucht immer fort." (KSA 2, 270) -

Scheint Nietzsche sich in diesen Aphorismen in die langwährende und fatale Tradition einer Verachtung der Frau durch den intellektuell und gesellschaftlich dominierenden Mann einzureihen, so kennt er andererseits die instinktive Klugheit der Frau:

„Der weibliche Intellect.

Der Intellect der Weiber zeigt sich als vollkommene Beherrschung, Gegenwärtigkeit des Geistes, Benutzung aller Vortheile. Sie vererben ihn als ihre Grundeigenschaft auf ihre Kinder, und der Vater giebt den dunkleren Hintergrund des Willens dazu. Sein Einfluss bestimmt gleichsam Rhythmus und Harmonie, mit denen das neue Leben abgespielt werden soll; aber die Melodie desselben stammt vom Weibe." -

(KSA 2, 272)

2 Hierzu vgl. von W. Ries, Ästhetische Hermeneutik der Welt, im Erscheinen. 3 Dieses Moment unterstreicht vor allem L. Klages, Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches [1926], 5. Aufl., Bonn 1989. 4 Für einige, auf wenige Worte verkürzte Zitate aus dem Werk Nietzsches und anderer Autoren wurde auf einen Nachweis verzichtet, wenn der Sinnzusammenhang hierdurch nicht berührt schien.

Nietzsches Beiträge

zu

einer

„Phänomenologie der Liebe"

Daher findet Nietzsche „ein Unheil Hesiod's

223

bekräftigt":

„Ein Zeichen für die Klugheit der Weiber ist es, dass sie es fast überall verstanden haben, sich ernähren zu lassen, wie Drohnen im Bienenkorbe. Man erwäge doch, was das aber ursprünglich bedeuten will und warum die Männer sich nicht von den Frauen ernähren lassen. Gewiss weil die männliche Eitelkeit und Ehrsucht grosser als die weibliche Klugheit ist; denn die Frauen haben es verstanden, sich durch Unterordnung doch den überwiegenden Vortheil, ja die Herrschaft zu sichern." (KSA 2, 273)

In der Morgenröthe schenkt Nietzsche zwei Grundbestimmungen des Affekts verstärkte Beachtung, indem er seinen Perspektivismus und seine wählerische Natur hervorhebt. So schreibt er im vierten Buch über „Furcht und Liebe":

„Die Furcht hat die allgemeine Einsicht über den Menschen mehr gefördert, als die Liebe, denn die Furcht will errathen, wer der Andere ist, was er kann, was er will: sich hierin zu täuschen, wäre Gefahr und Nachtheil. Umgekehrt hat die Liebe einen geheimen

Impuls, in dem Andern so viel Schönes als möglich zu sehen oder ihn sich so hoch als möglich zu heben: sich dabei zu täuschen, wäre für sie eine Lust und ein Vortheil und so

thut sie es."

(KSA 3, 225)

-

Einen der Liebe verwandten Affekt kritisiert Nietzsche, wenn er „die Komödie des Mitleidens" bloßstellt: „Wir mögen noch so sehr an einem Unglücklichen Antheil nehmen: in seiner Gegenwart spielen wir immer etwas Komödie, wir sagen Vieles nicht, was wir denken und wie wir es denken, mit jener Behutsamkeit des Arztes am Bette von Schwerkranken." (KSA 3, 248) In diesen Passagen ist bereits der Tenor einer entlarvenden Psychologie getroffen, die Nietzsche vor allem in den Schriften Zur Genealogie der Moral und Der Antichrist als Waffe gegen die christliche Moral ins Feld führt. Der Komplikation des Liebesaffekts mit anderen seelischen Grundstrebungen des Menschen gilt ein weiterer Aphorismus, den ich der Fröhlichen Wissenschaft entnehme; Nietzsche reflektiert in ihm auf die Vielfalt dessen, „was alles Liebe genannt wird": -

-

„Habsucht und Liebe: wie verschieden empfinden wir bei jedem dieser Worte! Und doch könnte es der selbe Trieb sein, zweimal benannt, das eine Mal verunglimpft vom Standpuncte der bereits Habenden aus, in denen der Trieb etwas zur Ruhe gekommen ist und die nun für ihre ,Habe' fürchten; das andere Mal vom Standpuncte der Unbefriedigten, Durstigen aus, und daher verherrlicht als ,gut'. Unsere Nächstenliebe ist sie nicht ein Drang nach neuem Eigenthuml" (KSA 3, 386) -

-

Nietzsche entdeckt somit, daß sich im Begriff und im psychologischen Tatbestand der Liebe zwei verschiedene, wenn nicht gar entgegengesetzte Gesichtspunkte durchdringen, man kann sie mit den aus anderem Zusammenhang bekannten Begriffen des Egoismus und des Altruismus verknüpfen. Die unterschiedliche Akzentuierung dieser psychischen Strebungen, die man besser als allgemeine Richtungen oder Dimensionen des seelischen Geschehens zu bezeichnen hätte, läßt einen Bedeutungswandel erkennen, in dem Nietzsche das Werk der Malkontenten vermutet. Er schreibt:

„[...] so wundert man sich in der That, dass diese wilde Habsucht und Ungerechtigkeit der Geschlechtsliebe dermaassen verherrlicht und vergöttlicht worden ist, wie zu allen

224

Wiebrecht Ries

Zeiten

geschehen, ja, dass man aus dieser Liebe den Begriff Liebe als den Gegensatz des Egoismus hergenommen hat, während sie vielleicht gerade der unbefangenste Ausdruck des Egoismus ist. Hier haben offenbar die Nichtbesitzenden und Begehrenden den Sprachgebrauch gemacht, es gab wohl ihrer immer zu viele." (KSA 3, 387) -

In dem zitierten Textstück, das den scheinhaften Wandel der Geschlechtsliebe zu einem vermeintlich uneigennützigen Liebesethos beschreibt, erweitert sich Nietzsches Einsicht in die gesellschaftliche Rollenrhetorik der Affekte zu einer exemplarischen Semiotik der sozialen Natur des menschlichen Trieblebens schlechthin, die freilich die männliche und die weibliche Rolle oft ganz einseitig den Gesichtspunkten von Dominanz und Unterwerfung zuordnet und im antiken Sinne in das Lob der Höherwertigkeit der Freundschaft ausklingt. Ich werde mich nunmehr den Tautenburger Aufzeichnungen für Lou von Salomé aus dem Sommer 1882 zuwenden, in denen man eine weitere Radikalisierung der bisher schon festgestellten Figuren des Nietzscheschen Denkens antrifft. In ihnen hat die Forschung bisweilen eine fast vollständige Phänomenologie der Liebe sehen wollen. Sie sind die Frucht eines knapp dreiwöchigen Zusammenseins und gedanklichen Austausches mit ihr vom 7. bis 26. August 1882; Lou von Salomé schreibt darüber an Paul Rée: „Seltsam, daß wir unwillkürlich mit unsern Gesprächen in die Abgründe gerathen, an jene schwindligen Stellen, wohin man wohl einmal einsam geklettert ist um in die Tiefe zu schauen. Wir haben stets die Gemsenstiegen gewählt."5 Nietzsche wendet in diesen Aufzeichnungen eine schon der Antike bekannte Lehre auf das Seelenleben an: Hatte nämlich das naturphilosophische Denken der Vorsokratiker entdeckt, daß die phänomenalen Gegensätze dynamisch auseinander hervorgehen, so konstatiert Nietzsche einen wesensverwandten Prozeß im Bereich des Affektiven: „Dem Weh thun, den wir lieben ist die eigentliche Teufelei. In Bezug auf uns selber ist es der Zustand des heroischen Menschen die höchste Vergewaltigung. Das Streben in den Gegensatz gehört hierzu." (KSA 10, 28) Im Sinne einer wohl aus dem Sensualismus der französischen Aufklärung ererbten Konzeption fragt Nietzsche nach den Gesetzmäßigkeiten eines psychischen Geschehens, welches durch das Aufeinandertreffen artgleicher bzw. entgegengesetzter Affekte hervorgerufen wird: -

-

„Freude am Schaden des Anderen ist etwas Anderes als Grausamkeit, letztere ist Genuß im Mitleiden und hat ihre Höhe, wenn das Mitleiden am höchsten ist (dann, wenn wir den lieben, den wir foltern). Wenn ein Anderer dem, welchen wir lieben, das Wehe zufügte, dann würden wir rasend vor Wuth, das Mitleid wäre ganz schmerzhaft. Aber wir lieben ihn: und wir thun ihm wehe. Dadurch wird das Mitleid ein ungeheurer Reiz. Es ist der Widerspruch zweier entgegengesetzter starker Triebe, der hier als höchster Reiz wirkt. Selbstverstümmelung und Wollust nebeneinander ist das Gleiche." (KSA 10, 28 f.)

Betrachtungen wie diese führen Nietzsche zu einem in dieser Grundsätzlichkeit bei ihm bisher unbekannten Zweifel an der qualitativen Identität des Affekts als eines wesenhaften Elements der psychischen und Bewußtseinsorganisation. So in dem bedeutenden Notât: „Die höchste Liebe zum Ich, wenn sie als Heroismus sich äußert, hat Lust zum Selbst-Untergange neben sich, also Grausamkeit, Selbst-Vergewaltigung." (KSA 10, 29) In den Erfahrungs-

-

5 Friedrich Nietzsche, Paul Rée, Lou Frankfurt a.M. 1970, 185.

von

Salomé. Die Dokumente ihrer

Begegnung, hg.

v.

E.

Pfeiffer,

Nietzsches Beiträge

zu

einer



Phänomenologie der Liebe

"

225

bereich der psychopathologischen Grundierung des Liebesphänomens führt die Beobachtung der Verwobenheit von Lust und Schmerz, der inneren Nähe von „Selbstverstümmelung und Wollust". Es heißt in diesem thematischen Zusammenhang weiter: -

vom Geliebten, die Begierde mißhandelt werden. Hingebung wird zum Trotz gegen sich. Andererseits der Liebgehabte, welcher das Liebende quält, sein Machtgefühl genießt, um so mehr, als er sich selber dabei tyrannisiert: es ist eine doppelte Ausübung von Macht. Machtwille wird hier zum Trotz gegen sich." (KSA 10, 29)

„Die unbedingte Hingebung und das Gerneleiden

zu

-

Die ausdrückliche Konsequenz zieht Nietzsche in Frageform: „Seinem Affekte einen Namen geben ist schon ein Schritt über den Affekt hinaus. Die tiefste Liebe z.B. weiß sich nicht zu benennen und fragt sich wohl: ,Bin ich nicht Haß?'" (KSA 10, 56) Ist das Affektive für nahezu die gesamte Tradition der europäischen Geistesgeschichte ein kommunikativer Grundzug des Seelenlebens, durch den sich das Individuum dem Anspruch seiner natürlichen und sozialen Umwelt öffnet, so entdeckt Nietzsche den Tatbestand einer prinzipiellen Verschlossenheit des menschlichen Gefühlslebens in der reflexiven Natur der Liebe: „Mit aller Kenntniß anderer Menschen kommt man nicht aus sich hinaus, sondern immer mehr in sich hinein." (KSA 10, 56) In prägnanter Anwendung auf die Klasse der erotischen Affekte heißt es dann: „Man liebt immer nur seine Begierde und nicht das Begehrte." (KSA 10, 66) Prüft man diese und sinnverwandte Belegstellen in ihrer Gesamtheit, so lassen sich im Blick auf die Liebe die folgenden Rückschlüsse auf Nietzsches Affektpsychologie ziehen: Die Liebe, auch in ihrer vergeistigten Form, gründet in der psychophysischen menschlichen Natur. Das Phänomen der Liebe ist grundsätzlich gespalten; zwischen dem Liebenden und dem Geliebten besteht stets ein charakteristisches Gefälle. Auch über diesen konkreten Aspekt hinaus eignet der Liebe eine duale Natur, diese zeigt sich in den Gegensatzpaaren von Sinnlichem und Geistigem, von Höhe und Niedrigkeit, von Edelsinn und Gemeinheit. Entsprechend der inneren Differenzierung des Liebesphänomens enthält sich Nietzsche durchwegs einer einheitlichen Wesensbestimmung, vielmehr faßt er es als reine Bewegtheit, als panerotischen Dynamismus auf. Zufolge dieser Einsicht ist die menschliche Natur nichts Konstantes, sondern in sich dialektisch bewegt. Damit steht Nietzsche auf gleicher Höhe mit dem Gesellschaftsroman seiner Zeit, insbesondere mit den großen Franzosen und Russen wie etwa Balzac, Flaubert, Stendhal, Tolstoi, Turgenjew und Dostojewski. Diesen zeigt sich das gesellschaftliche Leben als eine immerwährende Maskerade von Macht- und Herrschsucht im Zeichen von „Wahn, Kampfund Verfall". Als gesellschaftlich vermittelte Triebgröße bindet der Eros bei ihnen die Menschen aneinander, um sie zugleich nur desto tiefer von sich zu entfremden. So gesehen, zeigt sich der Mensch, bei diesen Autoren wie bei Nietzsche, über seine affektive Natur stets unaufgeklärt; wie der psychische Kosmos, so stellt sich auch der Sozialkosmos als ein Rollengefüge dar, als dessen tragendes Element sich dem außenstehenden Betrachter die Illusion zu erkennen gibt. Hier wie dort findet man die dreifache Inkongruenz von Erwartung und Erfüllung, Ideal und Wirklichkeit, Wesen und Erscheinung und als Fazit eine vollständige und endgültige Desillusionierung. -

als seine oft dem zeittypischen Rollencliché verhafteten Auslassungen über die Frau sind Nietzsches intuitive Erkenntnisse über den erotischen Perspektivismus, die Dialektik von Nähe und Ferne, über die Frau als „magisches Lebensprinzip" (R. Borchardt). So in der folgenden begrifflichen Phantasie über den Zauber des Eros aus dem

Tiefgründiger

Wiebrecht Ries

226 zweiten Buch der Fröhlichen Wissenschaft, deren Interpretation freilich zu der Straffheit und Prägnanz der bisher kommentierten Aphorismen hermeneutische Anstrengung erforderlich macht:

-

im Unterschied eine verstärkte

-

„Die Frauen und ihre Wirkung in die Ferne. Wenn ein Mann inmitten seines Lärmes steht, inmitten seiner Brandung von Würfen und Entwürfen: da sieht er auch wohl stille -

zauberhafte Wesen an sich vorübergleiten, nach deren Glück und Zurückgezogenheit er sich sehnt, es sind die Frauen. Fast meint er, dort bei den Frauen [...] werde auch die lauteste Brandung zur Todtenstille und das Leben selbst zum Traume über das Leben. [...] Der Zauber und die mächtigste Wirkung der Frauen ist, um die Sprache der Philosophen zu reden, eine Wirkung in die Ferne, eine actio in distans: dazu gehört aber, zuerst und vor Allem Distanz!" (KSA 3, 424 f.) -

-

Nicht von ungefähr erinnert die zitierte Passage sowohl an den Mythos der Sirenen wie an die Fabel der Helena. Wird im Sirenen-Mythos das archaische Subjekt, das nicht bei sich selber verweilt, sondern sich chaotisch dissoziiert, mit der Aussicht auf Vernichtung bedroht, so erweist sich Helena in einer Überlieferungsvariante als Chimäre, als blendendes Trugbild, das zergeht, sobald man sie zu ergreifen versucht. Verspricht das Weibliche ein Zur-Ruhe-Kommen der leidenschaftlich bewegten Existenz, eine Erlösung von der lärmenden Unrast des Lebens, so erweist sich diese Lockung als zerstörerischer Irrtum, da der machtvolle Zauber der Frau an die Bedingung der Distanz gebunden bleibt. Als Kritiker der romantischen Fernstenliebe zeigt Nietzsche sich in dieser Passage als vertraut mit der spezifischen Dialektik von Illusion und Desillusionierung, die wesentlich auf die „metaphorische Verwandlungsmacht" (E. Grassi) der Leidenschaften und die durch sie bewirkte irreale Welt verweist. Der stärkste „Zauber des Lebens", schreibt Nietzsche, „liegt [wie] ein golddurchwirkter Schleier" über dem in der Ferne schimmernden Horizont der Welt (KSA 3, 569). Als schöner Schein ist der Schleier ein alter metaphorischer Topos für das Weibliche, seinen Verführungszauber. An diesem Zauber entzündet sich alle Lust zum Schaffen im Werk; in ihm allein schenkt sich die Epiphanie einer ewigen Schönheit der Welt, „aus Morgenduft gewebt und Sonnenklarheit" (Goethe), als Gunst des Lebens: auf „Ein Mal": „Ja, das Leben ist ein Weib." Daß alles mit allem verbunden sei, daß die Welt aus miteinander kommunizierenden Wesen bestehe, ist ein „Elementargedanke" (A. Bastian) oder „Archetyp" (CG. Jung), der in der philosophischen Spekulation immer wieder zum Ausdruck kommt.6 Man findet seine Spuren bei Heraklit wie in der stoischen Naturphilosophie, in neuerer Zeit im Spinozismus, im Frühidealismus und in der Romantik, so beim jungen Hegel, bei Schelling, bei Hölderlin und etwa bei Carus. Unter den Großen des 19. Jahrhunderts zeigen Ausprägungen des Grundgedankens Schopenhauer und E. v. Hartmann. Auch bei Nietzsche findet man Ansatzpunkte zu einer Naturgeschichte der menschlichen Seele, in welcher der Eros als kosmischer Mittler eine bedeutende Stellung einnimmt. Versteht man die Einheit des Seins, die der deutsche Idealismus vergeblich zu konstruieren trachtete, nicht als spekulative Gedankenschöpfung, sondern als Erfahrungsgröße, so ist sie dem Menschen aber lediglich in den gehobenen Zuständen von Rausch und Entrückung zugänglich. Davon legt ein Hymnus

6

Vgl. hierzu

das

Kapitel „Magie"

in E. R. Curtius, Balzac

[1951],

Neudruck: Frankfurt a.M. 1985.

Nietzsches Beiträge

zu

einer

„Phänomenologie

227

der Liebe"

Zeugnis ab, den Nietzsche nicht von ungefähr unter dem Titel Trunkenes Lied dem Zarathustra als dem Künder ekstatischer Wahrheit in den Mund legt: „Wenn ich je stille Himmel über mir ausspannte und mit

eignen Flügeln in eigne Himmel flog: Wenn ich spielend in tiefen Licht-Fernen schwamm, und meiner Freiheit Vogel-Weisheit kam: so aber spricht Vogel-Weisheit: .Siehe, es giebt kein -

Oben, kein Unten! Wirf dich umher, hinaus, zurück, du Leichter! -

nicht mehr! »sind alle Worte nicht für die Schweren gemacht? Lügen dem Leichten nicht alle Worte! Singe! sprich nicht mehr!«' Oh wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein und nach dem hochzeitlichen Ring der Ringe, dem Ring der Wiederkunft? Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte, es sei denn dieses Weib, das ich liebe: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit! Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!" (KSA 4, 291)

Singe! sprich -

-

-

Nur wenn der Mensch sich zum Tiere zurückbildet, der Logos der Sprache in den Naturlaut einer Vogelstimme zurückübersetzt wird, kann das Geheimnis des erotischen Allebens erfühlt werden. Die spätromantische Liebesmetaphysik Nietzsches erreicht ihren Höhepunkt darin, daß Zarathustra die Seele zu einem ziellosen Überschreiten ihres Horizontes, zu einem Aufbruch ins Grenzenlose, verführt. Dieser am Ende des dritten Teils des Zarathustra stehende Hymnus auf die Ewigkeit dokumentiert die für jede Lebensphilosophie so außerordentlich typische Konstellation eines Transzendierens ohne Transzendenz. Ähnlich im Nachtwandler-Lied aus dem vierten Teil der Dichtung: „-

Alles

von

verliebt, oh

Neuem, Alles ewig, Alles verkettet, verfädelt, liebtet ihr die Welt,

so

ihr Ewigen, liebt sie ewig und allezeit: und auch zum Weh sprecht ihr: vergeh, aber komm zurück! Denn alle Lust will Ewigkeit!" (KSA 4, 402) -

-

-

In diesem Zusammenhang ist indessen kaum noch von einer bloßen „Phänomenologie der Liebe" zu sprechen. Es kommt nicht von ungefähr, sondern entspricht der Zeitsituation, daß die Einheit der Welt bei Nietzsche nicht mehr Sache der philosophischen Konstruktion wie noch bei Hegel ist, sondern im Medium einer virtuellen, fast möchte man sagen: einer konstruierten ästhetischen Erfahrung zur Darstellung kommt. Die tiefe Affinität zu der Musik von Wagner, Strauss und Mahler gründet in der Tatsache, daß hier wie dort ein seelisches Urgeschehen zu inszenieren versucht wird, mit dem Unterschied freilich, daß Nietzsche als Philologe und Philosoph wider Willen an die Maßstäbe von Logik und Kritik gebunden bleibt. Sein Philosophieren, das den Übergang vom Begriff zur autonomen ästhetischen Erfahrung markiert, präsentiert sich daher oft genug als (bloße) gedankliche Nachschöpftmg einer der Kunst, insbesondere der Musik, vorbehaltenen Wahrheit. Denn anders als in der gesamten klassischen Philosophie bis auf Hegel geht es Nietzsche nicht um die Deskription der kategorialen Grundstruktur von Seinsverhältnissen, sondern um die

228

Wiebrecht Ries

seelischer Konstellationen in einer „Ausdrucks-Welt".7 „Man darf vielleicht den ganzen Zarathustra unter die Musik rechnen", schreibt Nietzsche im Ecce homo. (KSA 6, 335) Wenn Nietzsche im Zarathustra und in verwandten Schriften als Dichter-Philosoph spricht, so versucht er in der Geburt der Tragödie, in der Fröhlichen Wissenschaft und etwa in der Götzen-Dämmerung die Naturgeschichte des menschlichen Bewußtseins und die sie bestimmenden Triebmächte begrifflich zu rekonstruieren, die ästhetische Hermeneutik von Welt gleichsam „von außen" zu explorieren. Der Verschlungenheit von Leben und Tod hat sich das griechische Denken im großen Mythos, im archaischen Sinnspruch, in der Tragödie und nicht zuletzt in der Begriffsdichtung der platonischen Dialoge zu vergewissern versucht. Ich erinnere an die Orpheus-, Dionysos-, Demeter-Persephone-Mythen. Heraklit sagt: „Derselbe aber ist Hades und Dionysos, dem sie toben und feiern."8 Piaton schreibt dem Euripides die Einsicht zu:

Darstellung

„Wer weiß, ob

eigentlich Die

Verschlungenheit

von

tot

unser

sein

Leben nicht

ist, Tod aber Leben?"9

Leben und Tod in einem einheitlichen Akt

geistiger

Schau

zu

erfassen, ist dem Menschen allerdings versagt. Das integrale Ganze dieser Erfahrung wird

Piaton auf verschiedene Dialoge, insbesondere auf den Phaidon und das Symposion aufgespalten und im übrigen auf diverse Rollenträger thematisch bezogen. Wenn Nietzsche in der Geburt der Tragödie die Schlußpassagen des Phaidon wie des Symposion zu einem „dialektischen Bild" (W. Benjamin) vereinigt in der Wendung: „Er [Sokrates] ging in den Tod, mit jener Ruhe, mit der er nach Plato's Schilderung als der letzte Zecher im frühen Tagesgrauen das Symposion verlässt, um einen neuen Tag zu beginnen; indess hinter ihm auf den Bänken und auf der Erde, die verschlafenen Tischgenossen zurückbleiben, um von

von

Sokrates, dem wahrhaften Erotiker, zu träumen" (KSA 1, 91), so erscheint Sokrates als der erotische Mittler der verborgenen Einheit von Leben und Tod. Deutlicher als im Phaidon kommt im Symposion zum Ausdruck, daß die Liebe und der Tod die Seele über ihren Binnenbereich hinaus in ein Jenseits führen. Eros ist für Piaton kein Gott, sondern ein „Daimon", ein Mittelwesen zwischen Göttlichem und Menschlichem, das gerade aufgrund dieser seiner Doppelnatur die menschliche Seele in sich selbst aufzurühren und zu bewegen vermag. Als Sohn von Penia und Poros läßt sich der Eros niemals endgültig definieren: weder Gott noch Mensch, weder schön noch häßlich, weder dumm noch weise, weder gut noch schlecht, ist er hauptsächlich „Begierde" : „ein gewaltiger Jäger", ein „arger Zauberer" und nicht zuletzt ein Philo-soph, stets in die Weisheit verliebt, niemals aber ihrer teilhaftig. Wie Sokrates, dessen Züge er trägt, lehrt auch der Eros nichts, denn er ist wie dieser unwissend. Nicht weiser macht er den Menschen, aber er erweckt in ihm das denkende Bewußtsein und entzündet die Ahnung einer höheren Seinsweise. So ist er der Geburtshelfer der Seele in ihrer Sehnsucht nach einer göttlichen Vollkommenheit. Es ist diese Tradition

von Nietzsche vereinzelt gebrauchten Begriff hat bekanntlich G. Benn aufgegriffen und zum Titel eines seiner eigenen Werke gemacht. Ich weise auch daraufhin, daß Nietzsches Ästhetik in einem engen Zusammenhang mit dem dichterischen Schaffen Georges, Hofmannsthals und Rilkes steht, doch können diese Bezüge auf knappem Raum nicht mehr ausgeführt werden. 8 Fragment B 15 Diels/Kranz. 9 Gorgias 492 e.

7 Diesen

Nietzsches

Beiträge zu

einer



Phänomenologie der Liebe

"

229

des platonischen Eros, des Dämon als Erzieher, die man bei Nietzsche wiederfindet: das Zusich-selber-Kommen des großen Menschen, von Nietzsche in der Figur des ZarathustraDionysos stilisiert. Denn für Nietzsche ist nicht anders als für Piaton die Liebe Ernsteres „als das Entzücken über die Linien eines Gesichtes und die Farbe einer Wange" (J. Ortega y Gasset), sie ist der Wille und die Entscheidung für eine höchste Ausprägung des Menschlichen. Das Geheimnis aller Liebe, von der Piaton im Symposion durch den Mund der Seherin Diotima spricht, ist der Drang, im Schönen zu zeugen, ist der Wille zur Ewigkeit in der Zeit, das Verlangen nach Seinsbeständigkeit und Seinsmächtigkeit: „Das erotische Streben erreicht die höchste Form einer Ständigkeit des Menschen im Unsterblichen durch die Verbindung des Geistes mit dem wandellosen Sein des ideenhaft Schönen, das in vollkommener Identität in sich besteht."10 Wenn Nietzsche als „letzter Liebhaber der Weisheit" (K. Löwith) und Verewigung die in Piatons Symposion und Phaidros vorgegebene Beziehung von Eros und Philosophie in die erotische Bewegtheit seines versuchenden Denkens um „Mittag und Ewigkeit" integriert und mit Dionysos der „unendlichen Tiefe des mit dem Tod vermählten Lebens" (W. F. Otto) verbindet, wie dies der Uvo Hölscher-Schüler D. Bremer in seinem Beitrag Nietzsches Dionysos und Piatons Eros überzeugend dargelegt hat, dann erweitert er die empirischdeskriptive Psychologie der Liebe zu einer Hermeneutik des Lebens, die in den „Mysterien der Geschlechtlichkeit" ihre Wurzeln besitzt. Der „ewige Wille" zu Zeugung, Schwangerschaft und Geburt, von Nietzsche mit den griechischen Dionysien verbunden, wird über einen bloß biologischen Rahmen hinaus zum „Urbild des unzerstörbaren Lebens" (K. Kerényi). In ihm wirkt und verbürgt sich die Strebung nach „Immer-Sein", das Verlangen nach der „ewigen Wiederkehr des Lebens", das „triumphierende Ja zum Leben über Tod und Wandel hinaus", zum „Gesamt-Fortleben" der Sterblichen, schreibt Nietzsche im Schlußabschnitt seiner Götzen-Dämmerung, Was ich den Alten verdanke, in welchem er seinen Begriff des Dionysischen mit dem „tiefsten Instinkt des Lebens", der Geschlechtlichkeit, verbindet. In der Tat verdankt Nietzsche diese Inspiration dem Dionysos-Kult und der aus ihm hervorgegangenen griechischen Tragödie, deren Entstehungsgeschichte er in einer Reihe ebenso kühner wie fragwürdiger Konjekturen in seiner Erstlingsschrift zu eruieren versucht. Den authentischen Gehalt des Dionysos-Mythos, wie er ihm erscheint, versucht Nietzsche in den folgenden Sätzen zu rekonstruieren:

„Es ist eine unanfechtbare Ueberlieferung, dass die griechische Tragödie in ihrer ältesten Gestalt nur die Leiden des Dionysus zum Gegenstand hatte und dass der längere Zeit hindurch einzig vorhandene Bühnenheld eben Dionysus war. [...] der eine wahrhaft reale Dionysus erscheint in einer Vielheit der Gestalten, in der Maske eines kämpfenden Helden und gleichsam in das Netz des Einzelwillens verstrickt. So wie jetzt der erscheinende Gott redet und handelt, ähnelt er einem irrenden strebenden leidenden Individuum: und dass er überhaupt mit dieser [...] Bestimmtheit und Deutlichkeit erscheint, ist die Wirkung des Traumdeuters Apollo, der dem Chore seinen dionysischen Zustand durch jene gleichnissartige Erscheinung deutet. In Wahrheit aber ist jener Held der leidende Dionysus der Mysterien, jener die Leiden der Individuation an sich erfahrende Gott, von

10

D. Bremer, „Nietzsches Dionysos und Piatons 60. Geburtstag, Bonn 1975, 36.

zum

Eros", in:

A. Patzer (Hg.), Apophoretafür U. Hölscher

230

Wiebrecht Ries

dem wundervolle Mythen erzählen, wie er als Knabe von den Titanen zerstückelt worden sei [...]. Die Hoffnung [...] ging aber auf eine Wiedergeburt des Dionysus, die wir jetzt als das Ende der Individuation ahnungsvoll zu begreifen haben [...]. Und nur in dieser Hoffnung giebt es einen Strahl von Freude auf dem Antlitze der zerrissenen, in Individuen zertrümmerten Welt: wie es der Mythus durch die in ewige Trauer versenkte Demeter verbildlicht, welche zum ersten Male wieder sich freut, als man ihr sagt, sie könne den Dionysus noch einmal gebären." (KSA 1, 71 f.) Noch in der späten, aus dem Frühjahr 1888 stammenden Aufzeichnung, in welcher Nietzsche auf das Verdienst seiner Jugendschrift zurückblickt, heißt es in hymnisch bewegter

Satzperiode:

„Mit dem Wort .dionysisch' ist ausgedrückt ein Drang zur Einheit, ein Hinausgreifen über Person, Alltag, Gesellschaft, Realität, als Abgrund des Vergessens, das leidenschaftlich-schmerzliche Überschwellen in dunklere vollere schwebende Zustände; ein verzücktes Jasagen zum Gesammt-Charakter des Lebens, als dem in allem Wechsel Gleichen, Gleich-Mächtigen, Gleich-Seligen; die große pantheistische Mitfreudigkeit und Mitleidigkeit, welche auch die furchtbarsten und fragwürdigsten Eigenschaften des Lebens gutheißt und heiligt, aus einem ewigen Willen zur Zeugung, zur Fruchtbarkeit, zur Ewigkeit heraus: als Einheitsgefühl von der Noth wendigkeit des Schaffens und Vernichtens [...]."

(KSA 13, 224)

Nietzsche verknüpft in der Gegenüberstellung des Apollinischen und des Dionysischen die in der primären Anschauung gegebene Duplizität der Geschlechter zu einem dramatischen Antagonismus; an ihn „ist die Fortentwicklung der Kunst eben so noth wendig geknüpft, als die Fortentwicklung der Menschheit" (KSA 13, 224). Wenn es Nietzsche in der Geburt der Tragödie vordergründig vor allem um die Genesis dieser Kunstgattung zu gehen scheint, so darf dabei nicht übersehen werden, daß der Gegensatz des Dionysischen und des Apollinischen zu einer Naturgeschichte der menschlichen Seele, ja selbst zu einer spekulativen Kosmogonie ausgeweitet wird. Diese interpretatorischen Extrapolationen sind für Nietzsche möglich, weil in den Tiefenschichten des menschlichen Bewußtseins die vorund außermenschliche Natur gleichsam beredt wird. So verstanden, sind das Dionysische und das Apollinische Rollenträger des Lebensprozesses selbst, in ihnen erlangen zwei ursprüngliche Daseinsmächte Ausdruck als Musik, als Wort oder als Gestalt bzw. eidetische Form. In einer diesen Gedanken fortspinnenden Reflexion der Götzen-Dämmerung wird das Dionysische daher für Nietzsche zum Symbol für die Heiligung des Schmerzes

überhaupt:

„[...] alles Werden und Wachsen, alles Zukunft-Verbürgende bedingt den Schmerz Damit es die Lust giebt, damit der Wille zum Leben sich ewig selbst bejaht, muss es auch Dies Alles bedeutet das Wort Dionysos: Ich ewig die ,Qual der Gebärerin' geben kenne keine höhere Symbolik als diese griechische Symbolik, die der Dionysien. In ihr ist der tiefste Instinkt des Lebens, der zur Zukunft des Lebens, zur Ewigkeit des Lebens, religiös empfunden, der Weg selbst zum Leben, die Zeugung, als der heilige Weg." (KSA 6, 159 f.) ...

...

-

Nietzsches Beiträge Nietzsches

zu

Entdeckung

einer des

„Phänomenologie der Liebe" Dionysischen,

die seinem

Weltbegriff

231 die

Tiefenperspektive

verleiht, korrespondiert eine ekstatische Erfahrung der Liebe, die dem Tod als Preisgabe der Individuation, der Freigabe für den acherontischen Grund des Daseins wesensverwandt ist. Aus dieser

„Ahnung [schöpft]

die Liebe

gerade ihre höchsten Entzückungen".11

„Heiterkeit, güldene, komm!

du des Todes

heimlichster, süssester Vorgenuss!

Lief ich zu rasch meines Wegs? Jetzt erst, wo der Fuss müd ward, holt dein Blick mich noch ein, holt dein Glück mich noch ein."12 -

„Nur auf dem Grundton des Todes schreitet das Leben fort", heißt es bei A. Baeumler.13 Die erotische Grundstrebung zur Einigung des Seins erscheint bei Nietzsche als eine Potenz des Dionysos selbst, seine im orphischen Mythos dargestellte Zerstückelung als Vorbedingung für die sich immerfort vollziehende Neuschöpfting des Lebens, einen Prozeß des Stirb und Werde!, der dem menschlichen Bewußtsein so grundsätzlich inkommensurabel ist, daß seine Ahnung dem Grauen vor dem Selbstverlust unauflöslich verknüpft ist. Glückserfahrung und Todesängstigung sind bei Nietzsche erotisch verwoben. Zu Nietzsches „Phänomenologie der Liebe" gehört zentral die Stilisierung zweier großer Eroten, des platonischen Sokrates und des tragischen Gottes Dionysos. „Es erstaunt daher nicht, daß die Gestalt des Sokrates bei Nietzsche paradoxerweise, versteckt und vielleicht unbewußt, schließlich mit der Dionysos-Figur zusammenfällt."14 Diese interpretatorische Konvergenz ist indes nicht so geheimnisvoll, wie der Autor dieser Zeilen, P. Hadot, meint, ist der Forschung doch zur Genüge bekannt, daß Nietzsche zwischen seinen Figuren Verhältnisse nicht nur des Kontrasts, sondern auch des fließenden Übergangs bis hin zur Identität schuf. So steht der Dionysos Nietzsches einerseits in einem schroffen Gegensatz zur Christusfigur, andererseits identifiziert der Denker ihn mit einem Aspekt des Sokrates. Schon der Neunzehnjährige hebt in seinem Aufsatz Über das Verhältniß der Rede des Alcibiades zu den übrigen Reden des platonischen Symposions das Moment der Verbindung von Sinnlichem und Geistigem hervor:

„Durch den Gegensatz des Sokrates und Alcibiades kommt endlich jene dämonische

Doppelnatur des Eros selbst zur Anschauung, jenes Mitteninnen zwischen Göttlichem und Menschlichem, Geistigem und Sinnlichem [...] Selbst schon die wundersame Vereinigung philosophischer Reden mit dem Genüsse des Weines erinnert hieran."15

11 12 13

14 15

E. Fink, Grundphänomene des menschlichen Daseins, hg. v. E. Schütz und F. A. Schwarz, Freiburg/ München 1979, 349. KSA 6, 396. A. Baeumler, Das mythische Weltalter. Bachofens romantische Deutung des Altertums [1926], Sonderausgabe 1965, 225. P. Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, Berlin 1991, 162. Friedrich Nietzsche, Werke (Historisch-kritische Gesamtausgabe), Bd. 2., hg. v. H. J. Mette, München 1934, 423.

Wiebrecht Ries

232 Die

Mischung der Züge erscheint am vollkommensten in jenem Dionysos gewidmeten Aphorismus Nr. 295 aus Jenseits von Gut und Böse, in dem wohl alle hier erörterten Motive Nietzsches versammelt sind:

es jener grosse Verborgene hat, der Versucher-Gott und der geborene Rattenfänger gewissen, dessen Stimme bis in die Unterwelt jeder Seele hinabzusteigen weiss, welcher nicht ein Wort sagt, nicht einen Blick blickt, in dem nicht eine Rücksicht und Falte der Lockung läge, zu dessen Meisterschaft es gehört, dass er zu scheinen versteht und nicht Das, was er ist, sondern was Denen, die ihm folgen, ein Zwang mehr ist, um sich immer näher an ihn zu drängen, um ihm immer innerlicher und gründlicher zu folgen: das Genie des Herzens, das alles Laute und Selbstgefällige verstummen macht und horchen lehrt, das die rauhen Seelen glättet und ihnen ein neues Verlangen zu kosten giebt, still zu liegen wie ein Spiegel, dass sich der tiefe Himmel auf ihnen spiegele ; das Genie des Herzens, das die tölpische und überrasche Hand zögern und zierlicher greifen lehrt; das den verborgenen und vergessenen Schatz, den Tropfen Güte und süsser Geistigkeit unter trübem dickem Eise erräth und eine Wünschelruthe für jedes Korn Goldes ist, welches lange im Kerker vielen Schlamms und Sandes begraben lag; das Genie des Herzens, von dessen Berührung Jeder reicher fortgeht, nicht begnadet und überrascht, nicht wie von fremdem Gute beglückt und bedrückt, sondern reicher an sich selber, sich neuer als zuvor, aufgebrochen, von einem Tauwinde angeweht und ausgehorcht, unsicherer vielleicht, zärtlicher zerbrechlicher zerbrochener, aber voll Hoffnungen, die noch keinen Namen haben, voll neuen Willens und Strömens, voll neuen Unwillens und Zurückströmens [...]." (KSA 5, 237)16

„Das Genie des Herzens, wie

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16

Siehe dazu B. Thönges, Das Genie des Herzens. Über das Verhältnis dionysischer Philosophie in Nietzsches Werken, Stuttgart 1993.

von

aphoristischem

Stil und

Christian Niemeyer

Die Fabel von der Welt als Fabel oder Nietzsches andere Vernunft Irrtümer

um

eine Geschichte?

„Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht? Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!" Friedrich Nietzsche 1888 ...

„Es giebt noch eine andere Welt zu entdecken und mehr als eine! Auf die Schiffe, ihr Philoso-

phen!" Friedrich Nietzsche 1882

Lange schon, spätestens seit Heidegger, währt der Streit um den kurzen, eineinhalbseitigen

Abschnitt Wie die wahre Welt endlich zur Fabel wurde aus Nietzsches Götzen-Dämmerung. Heidegger hat diesen Abschnitt als „kurze Darstellung des Piatonismus und seiner Überwindung"1 gelesen und daran die Frage angeschlossen, „welche neue Auslegung und Einstufung des Sinnlichen und Übersinnlichen" Nietzsche infolge dieser seiner „Umdrehung des Piatonismus"2 anzubieten habe. Die im folgenden bevorzugte Lesart nimmt ihren Ausgang, ähnlich wie jene Heideggers, von der in diesem Zusammenhang wohl provokantesten These Nietzsches: „Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare scheinbare vielleicht? abgeschafft!" (KSA 6,81) Anders aber als Heidegger möchte ich diesen Satz, den Nietzsche seiner Auseinandersetzung mit Gustav Teichmüller abgewann,3 nicht dem Platonismus-Problem als solchem kontrastieren, sondern der sechs Jahre älteren Botschaft Nietzsches aus Die fröhliche Wissenschaft: „Es giebt noch eine andere Welt zu entdecken und mehr als eine! Auf die Schiffe, ihr Philosophen!" (KSA 3, 530) Ich sehe mich zu dieser Kontrastierung, die jene Heideggers weitgehend unberührt läßt, durch den Verlauf veranlaßt, den der von Heidegger angeregte Streit um Nietzsches Wie die „wahre Welt" endlich zur Fabel wurde in neuerer Zeit genommen hat. Denn dieser Streit konfrontiert den Leser zunehmend mit dem Bild eines „pessimistischen" Nietzsche, der 1888 die Abgeschafftheit der „wahren" und "



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1 M. Heidegger, Nietzsche, Bd. 1, Pfullingen 1961, 235. 2 Ebd., 243. 3 Vgl. H. Nohl, „Eine historische Quelle zu Nietzsches Perspektivismus: G. Teichmüller, die wirkliche und die scheinbare Welt", Zeitschrift für Philosophie und philosophische Forschung, Bd. 149 (1913), 106-115.

Christian

234

Niemeyer

mit Erich Meuthen gesprochen der „scheinbaren" Welt deklarierte und „nicht zur Entdeckung eines positiv bestimmbaren Ortes schöpferischer Phantasie, der für sich letztlich doch wieder 'Wahrheit' beansprucht",4 durchdrang. Und zu diesem Bild will ja nicht recht passen, daß Nietzsche noch 1882, in gleichsam „optimistischer" Manier, zur Entdeckung „anderer" Welten aufgerufen hatte. Entgegen der scheinbaren Unvereinbarkeit beider Sätze möchte ich im folgenden also deren Anschlußfähigkeit belegen. Dabei gehe ich in drei Schritten vor: Zunächst (1) will ich die Problematik der auf einen „pessimistischen" Nietzsche abstellenden Auslegung diskutieren, um dann (2) den „optimistischen" Nietzsche zu rehabilitieren und (3) fruchtbar zu machen für eine Neuinterpretation von Wie die „wahre Welt endlich zur Fabel wurde. -

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1. Der „pessimistische" Nietzsche sowie „scheinbare" Welt

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und die „wahre"

Der Ausdruck „pessimistischer" Nietzsche ist gewiß nicht schön. Er legt sich aber aufgrund zahlreicher neuerer Auslegungen von Wie die „wahre Welt" endlich zur Fabel wurde erinnert sei nur an jene Erich Meuthens nahe und wird auch expressis verbis von Spiekermann verwandt. Dieser nämlich drückte sein Erstaunen darüber aus, daß sich der wie er es nennt „erkenntnistheoretische Pessimist" Nietzsche selbst im Fall offenkundiger „kosmologischer Fabeleien" (gemeint ist die Wiederkunftslehre) auf die Suche nach empirischen Beweisen begeben habe, obgleich ihm doch „die ,wahre Welt' zur Fabel geworden"5 sei. Mich interessiert bei diesem Urteil nur das in ihm verborgene Mißverständnis über den Begriff „wahre Welt". Denn bei Nietzsche bezieht sich dieser Begriff auf Metaphysisches, nicht aber auf Physisches. Nietzsche kann im Gegensatz zu der Unterstellung Spiekeralso sehr wohl beides tun, nämlich die „wahre Welt" für abgeschafft erklären und manns gleichwohl nach empirischen Beweisen für seine Wiederkunftslehre suchen. Ob letzteres sinnvoll war oder ist, steht hier nicht zur Debatte. Mir geht es nur um den Befund als solchen und der lautet: Annahmen über die „wahre Welt" berühren gar nicht die von -

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Spiekermann angesprochene empirische Problemebene. Deswegen übrigens kann Nietzsche auch noch im Anschluß an die Götzen-Dämmerung, etwa in Ecce homo, empirische Forschung einklagen. Prominent geworden ist etwa sein Urteil, daß die Begriffe „,Seele', ,Geist', zuletzt gar noch .unsterbliche Seele'" erfunden worden seien, „um den Leib zu verachten, um ihn krank .heilig' zu machen, um allen Dingen, die Ernst im Leben verdienen, den Fragen von Nahrung, Wohnung, geistiger Diät, Krankenbehandlung, Reinlichkeit, Wetter, einen schauerlichen Leichtsinn entgegenzubringen!" (KSA 6, 374) Deutlicher kann man gar nicht für empirische Forschung eintreten, und zwar gerade weil die „wahre" Welt, wie dieses Zitat nun deutlich macht, nicht nur als abgeschafft zu gelten hat, sondern abgeschafft werden muß wenn denn empirische -

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4 E. Meuthen, „Vom Zerreißen der Larve und des Herzens. Nietzsches Lieder der .Höheren Menschen' und die .Dionysos-Dithyramben'", Nietzsche-Studien 20 (1991), 152-185, hier 169. 5 K. Spiekermann, „Nietzsches Beweise für die Ewige Wiederkehr", Nietzsche-Studien 17 (1988), 496-538, hier 496.

Die Fabel

von

der Welt als Fabel

235

nicht behindert werden soll. Denn die von Nietzsche in diesem Zitat als bloß erfunden gerügten, die empirische Forschung behindernden Begriffe „Seele", „Geist", „unsterbliche Seele" sind nichts anderes als Beispiele für jene metaphysischen Entitäten, die Nietzsche mit seinem „wahre-Welt"-Konzept anspricht. Andere Beispiele für derartige metaphysische Entitäten nennt Nietzsche im Antichrist unter dem Stichwort „Fiktions-Welt" (KSA 6, 181), vor allem aber auch in der GötzenDämmerung, also in dem Text, der dem Abschnitt Wie die „wahre Welt" endlich zur Fabel wurde den entscheidenden Kontext verleiht. Hier nämlich ist wenige Seiten nach diesem Abschnitt vom „Ich" bzw. von den „geistigen Ursachen" als „Fabel" die Rede, allgemeiner gesprochen: Es ist die Rede von einer „Ursachen-Welt" und einer „Willens-Welt" und einer „Geister-Welt", die der (philosophierende) Mensch in einem Akt des ,,Missbrauch[s]" (KSA 6, 91) der (tatsächlichen) Empirie geschaffen habe, weil er eines Weltmodells bedürftig sei, in der die Gottesvorstellung ebenso zu beheimaten ist wie die Gottgleichheitsvorstellung des Menschen. Der Begriff „wahre Welt", so darf man aus all dem also folgern, repräsentiert in Nietzsches Verständnis das zweifellos durch Piatons Phaidros angeregt wurde einen Sammelbegriff für metaphysische Optionen, die dem Menschen eine Adelung seiner Selbstauslegung erlauben und/oder die ihn antreiben, sich aus den Niederungen der empirischen Welt zu erheben. Insoweit Nietzsche diese „wahre" Welt als abgeschafft deklariert, begegnet er uns also als Antimetaphysiker und Vordenker einer empirischen Humanwissenschaft. Warum aber redet Nietzsche dann davon, daß auch die „scheinbare" Welt abgeschafft sei? Denn dies klingt ja tatsächlich sehr pessimistisch, wenn nicht gar defaitistisch und jedenfalls so, als stünde gar kein Weltkonzept für Theoriebildung und Forschung mehr zur Verfügung. Namentlich postmoderne Interpreten, wie etwa Jacques Derrida6 oder Richard Rorty,7 haben denn auch aus Nietzsches These von der Abgeschafftheit der „wahren" und der „scheinbaren" Welt gefolgert, diese These sei identisch mit der generellen Einsicht in die Unmöglichkeit von Wahrheitserwerb und Daseinsrechtfertigung. In der Logik dieser Interpretationen und unter Mißachtung der Mahnung Heideggers, daß Nietzsche dieses „leere Nichts" nicht meinen könne, insofern er „die Überwindung des Nihilismus in jeder Form"8 wolle, begegnet uns Nietzsche also wiederum als der, als den wir ihn eingangs bei Meuthen oder Spiekermann antrafen: als eine Art „erkenntnistheoretischer Pessimist", nur, daß die helle Seite dieses „Pessimisten" nun im Vordergrund steht: etwa unter der bei postmodernen Nietzsche-Interpretationen auch in anderen Zusammenhängen nahegelegten9 Chiffre des „anything goes", die offenbar auch Richard Rorty im Blick hat, wenn er Nietzsche seinem Lobgesang auf das „Vokabular der Selbsterschaffung" einfügt, das, im Unterschied zu dem mit den Namen Dewey und Habermas belegbaren „Vokabular der Gerechtigkeit", „privat" sei und „ungeeignet zur Argumentation."10 Mitunter, etwa bei Pierre Klossowski, wird diese oder jedenfalls doch eine analoge Schlußfolgerung auch noch zusätzlich gestützt durch die von Nietzsche mit der „Gott-ist-

Forschung

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6 7 8 9 10

J. Derrida, „Sporen. Die Stile Nietzsches", in: W. Hamacher (Hg.), Nietzsche aus Frankreich, Frankfurt a.M./Berlin 1986, 129-168, hier 135 ff. R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a.M. 1990, 58 f. M. Heidegger, Nietzsche, 241. Vgl. G. Schweppenhäuser, Nietzsches Überwindung der Moral, Bonn 1988, 10. R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, 13.

Christian

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Niemeyer

angesprochene „ontologische Katastrophe".11 Für diese gibt der berühmte aus der Fröhlichen Wissenschaft gewiß die nachdrücklichste Aphorismus den uns Schwamm", fragt hier der „tolle Mensch" sich und die „Wer Anschauung: gab Mörder Gottes, „um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns?

tot"-Formel

Der tolle Mensch

Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? [...] Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?" (KSA 3, 481) Indes muß man hier deutlich trennen. Denn was den verzweifelten Fragen des „tollen Menschen" unterliegt, ist die sich hier anbahnende Folgerung aus Nietzsches Dekonstruktion auch des Pantheismus als des Versuchs, Gott mit der Welt zu identifizieren. Nicht nur Gott ist nun nicht mehr da, auch die Welt, für die er zeugte, sieht sich ins Nichts versetzt und bedarf neuer Sinngebung. Eben dies aber ist das entscheidende: Nietzsche begnügt sich keineswegs mit der Feststellung, daß die Welt, mit der und in der sich Gott bezeugt, mit Gottes Tod ihre Geltung verliert. Sondern Nietzsche will auch die Sinngebung für eine „Ordnung der Dinge" ohne Gott und konzentriert sein Denken mit dem den Wer ZusammenZarathustra auf diesen Übermenschen. deswegen hang auflöst und mithin die Bedeutung des Übermenschenkonstrukts nicht mehr zu sehen vermag und dies gilt für viele Autoren im Umfeld der Postmoderne, etwa auch für Foucault12 -, wird notwendig nur „pessimistische" Nietzsche-Bilder zu zeichnen in der Lage -

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sein.13

Damit mögen postmoderne Einwände erledigt sein. Wie aber steht es mit den Einwänden jener, die vielleicht noch zuzugestehen vermögen, daß Nietzsche als Antimetaphysiker die mit der Gottesvorstellung verknüpfte metaphysische „wahre" Welt als abgeschafft deklariert, ohne daß sie doch anders als „pessimistisch" damit umgehen können, daß Nietzsche der „wahren" Welt auch noch die „scheinbare" Welt nachwirft? Die Antwort auf diese Frage hängt natürlich vor allem davon ab, was unter jener „scheinbaren" Welt eigentlich zu verstehen ist. Nimmt man, wie Heidegger, das PiatonProblem zum Ausgangspunkt, ist die Antwort leicht: Die „scheinbare Welt" steht für das Sinnliche und repräsentiert zusammen mit dem Übersinnlichen, also der „wahren Welt", „das Seiende im Ganzen".14 Die Fortführung dieser Erwägung läßt sich dann bei Volker Gerhardt nachlesen: „Die deklarierte Abschaffung der .scheinbaren Welt' beseitigt nicht die Vorgänge und Eindrücke, die uns die Welt bedeuten, sondern sie nimmt ihnen ihren von der Substanzmetaphysik zugewiesenen Charakter als bloßer Schein oder Erscheinung."15 Ich würde aber auch an dieser Stelle die von Heidegger wie Gerhardt in Erinnerung gerufene platonische Denk- und Begriffstradition gerne vernachlässigen. Die Berechtigung hierfür sehe ich in dem angeführten Zitat aus Ecce homo. Denn es ist ja auffällig, daß Nietzsche hier den von ihm abgelehnten metaphysischen Entitäten empirisch erforschbare Realitäten entgegenhält. Der Begriff „scheinbare" Welt, so könnte man mithin auch sagen, repräsen-

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P. Klossowski, „Nietzsche, Polytheismus und Parodie" [1963], in: W. Hamacher (Hg.), Nietzsche aus Frankreich, 15-45, hier 39 f. 12 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 1974, 412. 13 Vgl. R. Reschke, „Der Lärm der grossen Stadt, der Tod Gottes und die Misere vom Ende des Menschen. Zu Nietzsches Kulturkritik der Moderne", In: Nietzscheforschung, Bd. 1, Berlin 1994, 19-91, 11

14 15

hier 95 f. M. Heidegger, Nietzsche, 241. V. Gerhardt, „Selbstbegründung. Nietzsches Moral der 28-49, hier 35.

Individualität", Nietzsche-Studien 21 (1992),

Die Fabel

von

der Welt als Fabel

237

tiert in Nietzsches Sprachgebrauch jene empirische Welt, auf die der Mensch in seinem Erkenntnisbemühen Bezug nahm, als er die Grenze seines metaphysischen „wahre"-WeltKonzepts zu ahnen begann. Warum aber, so muß man nun natürlich fragen, wählt Nietzsche dann das Adjektiv „scheinbar", und vor allem: Warum deklariert er die Abschaffung dieser „scheinbaren Welt", wenn er in ihr doch jenes empirische Wissen beheimatet glaubt, mit dessen Hilfe er das metaphysische „wahre"-Welt-Konzept zu entkräften hofft? Bei einer Antwort auf diese Frage hat man zu berücksichtigen, daß der Mensch sich wohl nie zuvor so sehr wie im auslaufenden 19. Jahrhundert von Metaphysik und Philosophie entkoppelte, um voller Optimismus die Naturvorgänge zu entschlüsseln. Indem Nietzsche die damit entdeckte und entdeckbare neue Welt des empirischen Wissens nur als „scheinbare" deklariert und, ähnlich wie die „wahre" Welt, für abgeschafft erklärt, erweist er sich also als Wissenschaftskritiker, deutlicher gesprochen: Er erweist sich als Kritiker einer in seiner Epoche um sich greifenden Tendenz zur Entphilosophierung der Wissenserwerbsgrundlagen. Dies nun konfrontiert uns mit einem etwas irritierenden Zwischenresultat. Denn Sie werden sich erinnern Nietzsches Hinweis auf die Abschaffung der „wahren" Welt meinten wir ja lesen zu können als Indiz für seine Selbstauslegung als eines Anti-Metaphysikers, der für empirische Forschung eintritt. Nietzsches Hinweis auf die Abschaffung auch der „scheinbaren" Welt hingegen konfrontiert uns mit einem Nietzsche, der als Rephilosophierer zu begreifen ist und vor kurzschlüssiger empirischer Forschung warnt. Wie aber kann beides zusammengehen? Meine Antwort wäre: sehr gut. Denn, um mit dem Anti-Metaphysiker zu beginnen: Nietzsches Interesse an empirischen Beweisen für die Wiederkunftslehre oder an um noch einmal die Themen aus dem Ecce-homo-Zitat Revue passieren zu lassen empirischer Erforschung der Zusammenhänge zwischen menschlichem Wohlbefinden einerseits sowie Nahrung, Wohnung, geistiger Diät, Krankenbehandlung und Wetter andererseits ist eher didaktischer Natur. Nietzsche will also, anders gesagt, einen der Hauptsätze aus der GötzenDämmerung, nämlich die sarkastische Formulierung „Es giebt mehr Götzen als Realitäten in der Welt" (KSA 6, 57), als Sarkasmus kenntlich machen und, im Bewußtsein der Leser, durch die Umdrehung ersetzen: „Es gibt mehr Realitäten als Götzen in der Welt, und wer uns das Umgekehrte glauben machen will, betreibt Ideologie. Weitergehende Ambitionen sind hiermit sowie mit dieser Inanspruchnahme des Realitätsbegriffs aber nicht verbunden, will sagen: Man wird dem ganzen Nietzsche nicht gerecht, wenn man hieraus folgert, Nietzsche habe ja doch an die empirische Konstitution einer ansonsten von ihm als abgeschafft deklarierten „scheinbaren" Welt geglaubt. Insoweit erreicht auch die gegen Spiekermann naheliegende Setzung, Nietzsche sei kein „erkenntnistheoretischer Pessimist", noch nicht das Zentrum des uns überantworteten Nietzsche-Problems. Daraus folgt im Umkehrschluß: Dieses Zentrum ist erst dort erreicht, wo wir in Nietzsche einen allerdings über seine Metaphysik-Kritik belehrten Rephilosophierer sehen, der die Frage stellt, mit Hilfe welcher methodologischen Vorkehrungen man sicherstellen kann, dem Publikum eine Welt des Wissens zu präsentieren, die wie sich in Anlehnung für Blindheit der Metaphysik („wahre Welt") ebensowean Kant vielleicht variieren ließe wie für Leere der nig Zeugnis ablegt Empirie („scheinbare Welt"). Diese Welt des Wissens ist m. E. jene „andere" Welt, die Nietzsche erstmals in der Fröhlichen Wissenschaft in den Blick nahm. Diese These möchte ich nun, in meinem zweiten Argumentationsschritt, verständlich machen. -

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238

Christian

2. Der „optimistische" Nietzsche Welt

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Niemeyer

und die „andere"

Nietzsches Annahme, wonach es für die Philosophen noch eine „andere Welt" (KSA 3, 530) zu entdecken gäbe, beschließt den Aphorismus Auf die Schiffe! aus der Fröhlichen Wissenschaft. „Erwägt man", so eröffnet Nietzsche diesen Aphorismus, „wie auf jeden Einzelnen

eine philosophische Gesammt-Rechtfertigung seiner Art, zu leben und zu denken, wirkt, [...] so ruft man zuletzt verlangend aus: oh dass doch viele solche neuen Sonnen noch geschaffen würden! Auch der Böse, auch der Unglückliche, auch der Ausnahme-Mensch soll seine Philosophie, sein gutes Recht, seinen Sonnenschein haben!" (KSA 3, 529) Die Anrufung des „Sonnenscheins" in diesem Zusammenhang belegt, daß Nietzsche hier in sinngebender Absicht tätig ist. Denn wir erinnern uns die Frage „fort von allen Sonnen?" markierte ja den höchsten Punkt des Sinnlosigkeitsverdachts des wenige Seiten zuvor aufgebotenen „tollen Menschen". Die „andere" Welt, auf die Nietzsche abzielt, ist also, so das erste Resultat, identisch mit einem neuen, sinngebenden philosophischen Grundgedankengang, der tauglich ist zu einer alternativen, aus herkömmlichen Philosophien nicht beziehbaren Daseinsrechtfertigung insbesondere für den „Bösen", den „Unglücklichen", den „Ausnahme-Menschen", also, kurz und im Vorblick auf den Zarathustra gesprochen: den Übermenschen. In Jenseits von Gut und Böse sehen wir Nietzsche erneut „auf die Schiffe" gehen, nun ein wie er es nennt fast noch neues „Reich [...] gefährlicher Erkenntnisse" (KSA 5, 38) entdeckend, ein Reich psychologischer Erkenntnisse vor allem, wie man hinzuzusetzen hat. „Die gesammte Psychologie", so notiert Nietzsche denn auch, „ist bisher an moralischen Vorurtheilen und Befürchtungen hängengeblieben: sie hat sich nicht in die Tiefe gewagt." (KSA 5, 38) Fast folgerichtig scheint der Begriff „Tiefenpsychologie" für das von Nietzsche Beabsichtigte, wobei das in dieser Hinsicht (erkenntnis-)„optimistische" Selbstbild durchaus auffällig ist. So lesen wir etwa im nämlichen Jahr (1886): „Man hat meine Schriften eine Schule des Verdachts genannt, noch mehr der Verachtung, glücklicherweise auch des Mutiles, ja der Verwegenheit. In der That, ich selbst glaube nicht, dass jemals Jemand mit einem gleich tiefen Verdachte in die Welt gesehn hat." (KSA 2, 13) Ein vergleichbares Eigenlob Nietzsches als eines Vorläufers einer so möchte ich es vorläufig nennen16 anderen Vernunft findet sich auch im Fall Wagner: „Hat man sich für die Abzeichen des Niedergangs ein Auge gemacht, so versteht man auch die Moral, man versteht, was sich unter ihrem heiligsten Namen und Werthformeln versteckt: das verarmte Leben, der Wille zum Ende, die grosse Müdigkeit." (KSA 6, 11 f.) Dieser Satz kennt dann auch die Umkehrung, die lauten könnte: „Hat man für die Abzeichen des Niedergangs kein Auge, also keine andere Vernunft, so hält man für Moral, was nur Zeugnis verarmten Lebens ist." Hinter diesem Urteil verbirgt sich auch das Plädoyer für eine neue Erkenntnismoral, die Nietzsche denen abverlangt, die sich gleich ihm aufmachen, eine „andere" Welt zu suchen. Und so lesen wir denn auch im 1887 nachgereichten und mit der Überschrift Wir Furchtlosen versehenen fünften Buch von der Fröhlichen Wissenschaft, und zwar an einer Stelle, an der sich Nietzsche als „Antimetaphysiker" zu erkennen gibt: „Es ist kein Zweifel, der Wahrhaftige, in jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wissen-

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16

Vgl. C. Niemeyer, Psychologie Nietzsches Nietzsches Psychologie. Von der anderen Klassikers der Philosophie und Pädagogik, Berlin 1996 (unv. Ms.). -

Vernunft eines

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schaft voraussetzt, bejaht damit eine andre Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte" also, wie Nietzsche noch erläuternd hinzusetzt: eine „andere Welt" als „diese Welt, unsre Welt" (KSA 3, 577), für die gelte, daß sie vor allem moralisch diskreditiert sei. Nicht von ungefähr wird denn auch in Jenseits von Gut und Böse die damit gerechtfertigte Kolumbusmentalität aus der Fröhlichen Wissenschaft strapaziert: „[...] nun! wohlan! jetzt tüchtig die Zähne zusammengebissen! die Augen aufgemacht! die Hand fest ans Steuer! wir fahren geradewegs über die Moral weg" (KSA 5, 38). Die Schätze, die Nietzsche angesichts seiner durch diese Mutmacherformel vorangetriebenen Eroberungstätigkeit an Land bringt können sich durchaus sehen lassen, zumal sie bereits ein Stück weit die methodologischen Optionen eines moralisch geschärften Psychologieinteresses belegen. So deklariert Nietzsche etwa, als habe er gerade Freud gelesen: -

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„Eine eigentliche Physio-Psychologie hat mit unbewussten Widerständen im Herzen des zu kämpfen, sie hat ,das Herz' gegen sich: schon eine Lehre von der gegenseitigen Bedingtheit der ,guten' und der .schlimmen' Triebe, macht, als feinere Immoralität, einem noch kräftigen und herzhaften Gewissen Not und Überdruss, noch mehr eine Lehre von der Ableitbarkeit aller guten Triebe aus den schlimmen." (KSA 5, 38) Forschers

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Eines hat Nietzsche nun also erkannt: Die Rehabilitation des „Bösen" bedarf des psychologisch subtilen Blicks auf das Andere der Vernunft des vermeintlich „Guten", auf dessen in der etwas späteren Terminologie der Genealogie der Moral geredet Ressentimentstruktur. Denn ohne Psychologie bliebe diese Struktur, diese auf Selbstidealisierung und Fremdverachtung beruhende Ideologie des „Guten", in Geltung eine Ideologie, zu der gehört, das „Böse" immer nur als das (qua Moral) zu Überwindende zu lesen, nicht aber als „lebensbedingende[n] Affekt" (KSA 5, 38) beziehungsweise, wie es im Zarathustra heißt, „des Menschen beste Kraft" (KSA 4, 359). Indem Nietzsche diese alternative Lesart des „Bösen" zur Geltung bringt, löst er eben das ein, was er in der Fröhlichen Wissenschaft als Desiderat einklagte: eine „philosophische Gesamt-Rechtfertigung" der Lebens- und Denkart des „Bösen" resp. des Übermenschen. Daß damit dem „Guten", sofern dieser sich über seine geheime Immoralität Selbsttäuschungen anheimgibt, die philosophische Rechtfertigung entzogen ist, gilt damit zugleich als mitgesagt. In Anbetracht dieser bösen Seite des Guten kann Nietzsche denn auch, sich in ironischer Attitüde als „Immoralist" definierend und damit seine Absicht der „Umwerthung aller Werthe" (KSA 6, 57) komplettierend, im Ecce homo die Ernte einfahren: „Ich verneine [...] einen Typus Mensch, der bisher als der höchste galt, die Guten, die Wohlwollenden, Wohltäthigen [...]." (KSA 6, 367) In der Linie dieser Kritik begegnet einem als weiterer Typus psychologischer Reflexion auf den dekadenten Effekt christlich unterlegter Gleichheitspostulate so etwas wie ein früher Abglanz psychologischer Biographieforschung, in dessen Linie sich Kants „Sapere aude!" als eine zwar akzeptabel pointierte, aber unzureichend durchdachte Triebfeder erweist. Die „andere" Welt, auf die Nietzsche abzielt, ist also, so ließe sich nun auch und mit größerer Präzision formulieren, identisch mit einem neuen (philosophischen) Grundgedankengang, dessen philosophischer Anteil im wesentlichen in der Psychologie und in gekonnter Psychologienutzung hin auf die Kritik der Ressentimentstrukur des „Guten" gründet. Deswegen auch kann Nietzsche nun sagen: „Psychologie ist nunmehr wieder der Weg zu den Grundproblemen" (KSA 5, 39) eine Aussage, mit der er sich als eine Art (Erkenntnis-)„Optimist" erweist, der zugleich an einer rephilosophierten Psychologieauslegung Interesse nimmt. -

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Damit nun kann auch ein zentrales Element der Ausgangsfrage aufgenommen werden die Frage nämlich, wieso Nietzsche 1888, in offensichtlich (erkenntnis-)„pessimistischer" Manier, die Abschaffung der „wahren" und der „scheinbaren" Welt deklariert, obgleich er doch noch 1882, in offensichtlich (erkenntnis-)„optimistischer" Manier, die Entdeckung einer „anderen" Welt für möglich gehalten hatte. Nietzsche nämlich, dieser Eindruck drängt sich jedenfalls zunehmend auf, kam bei seiner 1882 einsetzenden Suche nach einer „anderen" Welt zu der Erkenntnis, daß das psychologisch in den Blick genommene Dilemma der Welt der „Guten" strukturidentisch ist mit dem Dilemma der „wahren" Welt. Beide Welten nämlich können der metaphysisch ausgerichteten Sicherung ihres Bestandes nicht entraten. „[...] wir haben", so lesen wir hierzu denn auch im Nachlaß vom Frühjahr 1888, „die ,wahre Welt' als eine .erlogene Welt' und die Moral als eine Form der Unmoralität erkannt" (KSA 13, 322). Entsprechend war es für Nietzsche auf seinem Weg in eine „andere" Welt denn auch ein leichtes, auf diese gleichsam in doppelter Hinsicht fragwürdige „wahre" Welt Verzicht zu leisten. Analoges gilt für die „scheinbare" Welt. Auch die Abschaffung dieser Welt konnte Nietzsche in Wie die „wahre Welt" endlich zur Fabel wurde nicht zuletzt deswegen ohne weiteres deklarieren, weil er um die oder besser wohl: seine „andere" Welt bereits wußte. Denn die „scheinbare" Welt ist zwar im Gegensatz zur „wahren" Welt eine Welt ohne Metaphysik, eine Welt, die durch empirische Forschung konstituiert wird und der sich Nietzsche, wie wir hinsichtlich minder wichtiger Themen (Nahrung, Wohnung, geistige Diät, Krankenbehandlung, Wetter) gesehen haben, durchaus mitunter nahe wußte. Aber gegenüber der „anderen" Welt nimmt sich die „scheinbare" Welt doch eher kärglich aus, weiß sie sich doch (beispielsweise) bar des Wissens um die von Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse dem Ansatz nach entschlüsselte Selbsttäuschung in Gestalt der Ideologie des „Guten". Dabei gibt und dies ist wohl das wichtigste Resultat die „andere" Welt im Gegensatz zur „scheinbaren" Welt ihr Geheimnis nicht preis durch (naturwissenschaftsanaloge) empirische Forschung, sondern durch (geisteswissenschaftsanaloge) psychologische Hermeneutik. In diesem Erkenntnisinteresse erweist sich Nietzsche als der, als den wir ihn ausgangs des letzten Kapitels meinten sehen zu müssen: als ein Rephilosophierer, der sein Veto einlegt gegen die in seiner Epoche um sich greifende Entphilosophierung. Damit steht auch unsere andere, im Zusammenhang mit dem Stichwort „Rephilosophierung" stehende Vermutung wieder im Raum, insoweit des späten Nietzsche Hauptinteresse tatsächlich darin zu gründen scheint, eine „andere" Welt des Wissens zu entdecken, die sich von der Blindheit der Metaphysik („wahre Welt") ebenso weit entfernt weiß wie von der Leerheit der Empirie („scheinbare Welt"). Überraschend indes ist die Bedeutung, die der Psychologie zugewiesen wird hinsichtlich ihrer Leistungen zur Entdeckung dieser „anderen" Welt. Überraschend ist allerdings auch (und nach wie vor), warum Nietzsche, wenn er denn, wie hier behauptet, derart großes Gewicht auf die Entdeckung und Entdeckbarkeit einer „anderen" Welt des Wissens legte, noch 1888 in Wie die „wahre Welt" endlich zur Fabel wurde derart apodiktisch von der Abschaffung der „wahren" und der „scheinbaren" Welt redete, ohne ein Wort über diese „andere" Welt zu verlieren. Denn damit ging Nietzsche das Risiko ein, mißverstanden zu werden. Indes, und das Wort vom Mißverständnis deutet es bereits an, steht doch sehr in Frage, ob es sich hier tatsächlich um ein Problem Nietzsches oder nicht vielmehr um eines seiner Interpreten handelt. Anders gesagt: Ich möchte abschließend den Nachweis führen, daß Nietzsche trotz des knappen Textangebots von Wie die „wahre Welt" endlich zur Fabel wurde jene Informationen nicht außer acht läßt, die ihn als souveränen Anwender seiner eigenen Psychologie kenntlich machen. -

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3. Die andere Vernunft in Wie die „wahre Welt" endlich zur Fabel wurde Der kurze, eineinhalbseitige Abschnitt Wie die „wahre Welt" endlich zur Fabel wurde gehört zu einem jener Nietzsche-Texte, die man eigentlich ohne Mobilisierung eines größeren Kontextes nicht interpretieren kann: zu spärlich (vom Umfang her) ist das Gebotene, zu stichwortartig das Gesagte, zu rätselhaft das Gemeinte. Außer Frage nur scheint zu stehen, daß Nietzsche hier mittels sechs stichwortartig geraffter Punkte die mit Heidegger gesprochen „wichtigsten Zeitalter des abendländischen Denkens"17 Revue passieren läßt, wenn nicht gar, etwas deutlicher gesagt, die Verfallsgeschichte der Vernunftmetaphysik erzählt. Das bisher ins Zentrum gerückte Diktum von der Abgeschafftheit der „wahren" und der „scheinbaren" Welt repräsentiert dabei die sechste und letzte Stufe des Verfalls, also das mit Nietzsche gesprochen „Ende des längsten Irrtums" (KSA 6, 81). Wenn nun Nietzsche seine eigentlichen Hoffnungen jenseits der „wahren" und der „scheinbaren" Welt auf die „andere" Welt und deren psychologische Decouvrierung gerichtet hat, wären Aussagen hierüber zu beheimaten auf einer aus der sechsten Stufe sich herausentwickelnden siebten Stufe, die zugleich für die erste Stufe des Nicht-Verfalls sowie für die erste Stufe eines Vernunftgebrauchs stünde, der nicht heimgesucht wäre von den Dilemmata klassischer Vernunftmetaphysik. Die erste Frage an den Text Wie die „wahre Welt" endlich zur Fabel wurde muß mithin lauten, ob sich Hinweise in dieser Richtung identifizieren lassen. Es liegt nahe, die Sucharbeit in dieser Richtung zunächst auf Nietzsches Ausführungen zur sechsten Stufe zu konzentrieren. Bemerkenswert ist dabei vor allem, daß uns hier der Name Zarathustras begegnet. Denn Zarathustra ist für Nietzsche gewiß kein Symbol des Verfalls schon gar nicht des Verfalls der Vernunftmetaphysik gewesen, sondern, eher im Gegenteil, Signum einer neuen Menschheitsepoche, die sich auf den Tod Gottes einzurichten weiß und mithin eine „Ordnung der Dinge" ohne Gott vorzubereiten hat, eine Ordnung, deren „ewige Wiederkunft" guten Gewissens gewünscht werden kann. Karl Löwith hat denn auch vorgeschlagen, die von Nietzsche nur angedeuteten Stichworte zur sechsten Stufe folgendermaßen fortzuschreiben: -

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„Ich, Nietzsche-Zarathustra, bin die Wahrheit der Welt, denn ich habe zuerst, über die ganze Geschichte des längsten Irrtums hinweg, die Welt vor Piaton wiederentdeckt. Ich will gar nichts anderes als diese ewig wiederkehrende und mir nicht mehr entfremdete Welt, welche ineins mein Ego und Fatum ist; denn ich will selber mich ewig wieder, als einen Ring im großen Ring der sich-selber-wollenden Welt."18 Indes: Diese Formulierung, deren Tendenz nicht bestritten werden soll, krankt doch etwas an einer zu starken Konzentration auf die antiken Vorbilder des vom späten Nietzsche mit eigenem Sinngehalt aufgeladenen Wiederkunftsgedankens. Vor allem: Daß uns Nietzsche Zarathustra als „Lehrer der ewigen Wiederkunft" (KSA 4, 275) und als Proponenten einer 17 18

M. Heidegger, Nietzsche, 234. K. Löwith, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes bis Schriften, Bd. 9, Stuttgart 1986, 1-194, hier 128 f.

zu

Nietzsche [1967], in: Sämtliche

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Christian

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Ordnung der Dinge ohne Gott vorführt, will noch nicht viel besagen hinsichtlich der uns maßgeblich interessierenden Frage, ob wir in Zarathustra auch jemanden sehen dürfen, der

mittels seiner anderen Vernunft eine „andere" Welt entdeckte. Gottlob aber führt uns Nietzsche Zarathustra ja nicht nur als Pädagogen oder Theismus-Dekonstrukteur vor, sondern auch als wie es in Ecce homo heißt „Psychologien] der Guten" und „Freund der Bösen" (KSA 6, 369). Damit nun sind die entscheidenden Stichworte genannt, die eine „andere" Welt des Wissens entdecken helfen sollen. Denn der Auftrag an dieses Wissen geht ja wie hier unter Bezug auf unsere Auslegung des Aphorismus Auf die Schiffe! aus der Fröhlichen Wissenschaft zu erinnern ist auf eine alternative, aus herkömmlichen Philosophien nicht beziehbare Daseinsrechtfertigung insbesondere für den (vermeintlich) „Bösen". „Siehe die Guten und Gerechten! Wen hassen sie am meisthen?", hören wir denn auch Zarathustra, den „Psychologen der Guten", fragen, und seine Antwort ist der eines „Freundes der Bösen" würdig: „Den, der zerbricht ihre Tafeln der Werthe, den Brecher, den Verbrecher: das aber ist der Schaffende." (KSA 4, 26) Mit diesem Wort, so ist hier im Blick auf das vorherige Kapitel zu erinnern, legt Zarathustra seine von Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft eingeklagte „philosophische Gesamt-Rechtfertigung" der Lebens- und Denkart des „Bösen", des „Unglücklichen", des „Ausnahme-Menschen" vor. Die Gegenprobe zu dieser Deutung, an deren Horizont sich die „andere" Welt des Wissens als Ertrag einer hermeneutisch ausgerichteten Psychologienutzung abzeichnet, würde es erforderlich machen, auch für die anderen fünf Stufen der in Wie die „wahre Welt" endlich zur Fabel wurde erzählten Verfallsgeschichte der Vernunftmetaphysik analoge Argumente, nur mit umgekehrtem Ergebnis, zu plausibilisieren. Es wäre also, anders gesprochen, zumindest je an einem zentralen Repräsentanten der jeweiligen Stufe ein begriffliches oder auch persönliches Psychologiedefizit nachzuweisen, dem der Rang eines Verfallsindikators zukommt, von dem sich Zarathustra als Repräsentant der sechsten Stufe unbetroffen weiß. Diese Erwartung verträgt sich mit Christoph Türckes Annahme, wonach man die Geheimnisse der menschlichen Vernunft nach Nietzsches Überzeugung „nicht durch so etwas Abstraktes wie Erkenntnistheorie [errät], sondern an dem jeweiligen Typus Mensch, in dem sie auf unverwechselbare Weise Gestalt, Gesicht, Geruch konkret werden" .19 Indes: Ein derartiges, auf Rekonstruktion des Typus Mensch abzielendes Vorhaben scheint im Fall von Nietzsches Wie die „wahre Welt" endlich zur Fabel wurde schon an dem schlichten Umstand zu scheitern, daß das knappe Textangebot entsprechendes Material nur für die erste und dritte Stufe ansatzweise zur Verfügung stellt. Ich möchte trotzdem versuchen zu sehen, wie weit sich damit kommen läßt, wobei ich mit der ersten Stufe beginne. Als Name wird auf dieser Stufe nur der Piatons genannt, aber man hat natürlich dabei Anlaß, an Sokrates zu denken, den Nietzsche schon in der Geburt der Tragödie als Vorläufer der Verwissenschaftlichung von Kultur, Kunst und Moral brandmarkte, um ihn später, mit den Antipoden „décadence gegen Wohlgeratenheit, Philosophieren aus dem Mangel gegen ein Denken aus der Fülle, Verneinung versus Bejahung des Lebens, Denken im Banne der Moral gegen ein Denken Jenseits von Gut und Böse",20 gegen Zarathustra auszuspielen. Vor dem Hintergrund dieser Begriffsduale will es durchaus einleuchten, warum es Sokrates ist, an dem Nietzsche wie dies Christoph Türcke im Rahmen seines Ansatzes formuliert „des ganzen psychologischen Geheimnisses von Philosophie [...] innezuwerden -

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19 20

C. Türcke, Der tolle Mensch. Nietzsche und der Wahnsinn der Vernunft, Frankfurt a.M. 1989, 95. J. Salaquarda, „Der ungeheure Augenblick", Nietzsche-Studien 18 (1989), 317-337, hier 323.

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der Welt als Fabel

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glaubt".21 Tatsächlich aber ist die Sokrates-Kritik im Umfeld des Textabschnitts,

um den hier geht, kaum psychologisch ambitioniert. Sokrates, so lesen wir hier beispielsweise, habe „aus der Vernunft einen Tyrannen" (KSA 6, 72) gemacht und stünde in dieser seiner Eigenschaft für ein „Verfalls-Symptom" (KSA 6, 68). Immerhin: Wenn Nietzsche in Wie die wahre Welt endlich zur Fabel wurde die mit dem Namen Sokrates assoziierbare erste Stufe der Verfallsgeschichte der Vernunftmetaphysik mit den Worten charakterisiert: „Die wahre Welt erreichbar für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften, er lebt in ihr, er ist sie." (KSA 6, 80), läßt sich zumindest vermuten, daß er hier in kritischer Absicht auf Selbststilisierungen abstellt, die Sokrates (resp. Piaton) eigentümlich waren und die des zu fordernden psychologisch subtilen Blicks auf das Andere der Vernunft des vermeintlich „Guten" ebenso entraten wie der Voraussetzung des Zugriffs auf eine Rehabilitation des „Bösen" resp. auf die „andere" Welt des Wissens. Etwas fruchtbarer in Richtung der von mir beabsichtigten Gegenprobe sind die Ausführungen Nietzsches zur dritten Stufe. Sie ist nach Nietzsches Auffassung gekennzeichnet durch das Diktum: „Die wahre Welt, unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar, aber schon als gedacht ein Trost, eine Verpflichtung, ein Imperativ." (KSA 6, 81) Diese Umschreibungen spielen deutlich auf die kritische Philosophie Kants an. Die letzten drei Attribute der im Klammerausdruck nachgereichten Erläuterung bringen denn auch Kant, zumal als psychologischen Typus, ins Spiel: „bleich, nordisch, königsbergisch" (KSA 6, 81). Gewiß: Auf den ersten Blick besagen diese Attribute für sich noch nicht viel. Bezieht man sie aber auf Zarathustras Wort, wonach die Weisheit ein Weib sei und immer nur einen mutigen, unbekümmerten, spöttischen und gewalttätigen „Kriegsmann" (KSA 4, 49) liebe, entfalten sie eine eigentümliche Kontrastwirkung. Kant nämlich, so könnte man schließen, verfugte nach Nietzsches Auffassung als (psychologischer) Typus nur über unzureichende Apriori, um den Verfall seiner Konzeption der „wahren" Welt aufzuhalten und sich den Zutritt in jene „andere" Welt zu verschaffen, der sich Nietzsche nur wie wir gesehen haben mittels Kolumbusmentalität zu nähern wußte. Wichtiger aber vielleicht noch als derartige typologische Erwägungen ist das zentrale theoretische Motiv in Nietzsches Bemühen, Kants „Behauptungen" auf ,,de[n] Behauptenden" (KSA 10, 262) zurückzuführen. Nietzsche nämlich, so könnte man dann sagen, exekutierte an Kant exemplarisch ein bedeutendes Teilstück seiner mit einem Nachlaßwort von 1888 „Psychologie der Philosophen" (KSA 13, 285). Ein derartiges Projekt, das in der Hauptsache getragen wurde von Nietzsches Annahme, daß „das meiste bewusste Denken eines Philosophen [...] durch seine Instinkte heimlich geführt und in bestimmte Bahnen gezwungen" (KSA 5, 17) werde, ist zu sehen als zentraler Teil eines weitausgreifenden, aber nicht mehr zur gänzlichen Ausführung gebrachten Spätprogramms, das Nietzsche unter dem Titel einer Etablierung der Psychologie als „Herrin der Wissenschaften" (KSA 5, 39) ankündigt, damit sein frühes Interesse an einer Inthronisation der „Göttin Philosophie" (KSB 2, 329) durchkreuzend. Wir haben im vorhergehenden Abschnitt ja bereits einige eher gegenstandstheoretische und methodologische Aspekte dieses Programms angesprochen. Es gehört dem auf eine „Psychologie der Philosophen" zulaufenden Programmpunkt zu, wenn Nietzsche den „Aberglauben der Logiker" (KSA 5, 30) abhandelt und in diesem Zusammenhang ausführt: „Es denkt: aber dass dies ,es' gerade jenes alte berühmte ,Ich' sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme, eine Behauptung, vor allem keine .unmittelbare es

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C. Türcke, Der tolle Mensch, 95.

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Gewissheit'. (KSA 5,31) Die Folgerung Nietzsches ist kühn und hat namentlich die Gemüter derer beschäftigt, die, zumal in neuerer Zeit, über die Herkunft des seit Freud in der Psychoanalyse üblichen Ausdruck des Es stritten: Das „ehrliche alte Ich" hat sich zu einem „kleinen ,es'" (KSA 5, 31) verflüchtigt. Entsprechend auch, so darf man Nietzsche verstehen, verflüchtigen sich bei näherem Hinsehen die aus der vermeintlichen Gewißheit über ein verfügungsfähiges Philosophen-Ich aufgestellten philosophischen resp. metaphysischen Positionen. Diesen Gesichtspunkt vertiefte Nietzsche in der dritten Abhandlung der Genealogie der Moral. Nietzsche liefert hier eine psychologische Analyse der Bedeutung, die die Philosophen dem asketischen Ideal verleihen. Der Ertrag dieser Analyse scheint auf den ersten Blick recht bescheiden: Nietzsche vermerkt „eine eigentliche Philosophen-Gereiztheit und -Rancune gegen die Sinnlichkeit" und „eine eigentliche Philosophen-Voreingenommenheit und -Herzlichkeit in Bezug auf das ganze asketische Ideal" (KSÄ 5, 350) Positionen, die notwendig scheinen, weil sie das „Optimum der Bedingungen höchster und kühnster Geistigkeit" (KSA 5, 351) zu gewährleisten vermögen. Im Rücken dieser Philosophen-Rationalität identifiziert Nietzsche allerdings „la bête philosophe", also eine, wie sich vielleicht übersetzen läßt, im Philosophen sich entäußernde Unterform der „Bestie Mensch", die bei ihrer Art des Kampfes ums Dasein im Reich der Philosophie über das Ziel hinausschießt „und mit einer Feinheit der Witterung, die „höher ist als alle Vernunft", alle Art Störenfriede und Hindernisse" (KSA 5, 350) beseitigt. Der Effekt dessen ist für Nietzsche eindeutig negativ: „Ruhe in allen Souterrains; alle Hunde hübsch an die Kette gelegt; kein Gebell von Feindschaft und zotteliger Rancune; keine Nagewürmer verletzten Ehrgeizes; bescheidene und unterthänige Eingeweide, fleissig wie Mühlwerke, aber fern; das Herz fremd, jenseits, zukünftig, posthum." (KSA 5, 352) Diese Metaphorik, in der sich ein zweifelndes Porträt der freiwillig-unfreiwilligen asketischen Existenzweise Nietzsches mit bitteren Reminiszenzen an seine Zeit als Philologe mischt, steht für die dunkle Seite von Philosophie als Lebensform. Auf dieser Seite begegnet uns der Philosoph als jemand, der des asketischen Ideals im Interesse seiner Arbeitsbedingungen bedürftig ist, zugleich aber doch auch dieses Ideal immer wieder mißbraucht, und sei es qua Ruhigstellen dessen, was nach Ausdruck und Berücksichtigung verlangt: die Seinsverfaßtheit des Menschen etwa oder auch nur der "

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Einspruch

von

Kollegen.

Dieses (wissenschafts-)psychologische Interesse dominiert auch die Götzen-Dämmerung, also das Werk, das dem uns hier in besonderer Weise interessierenden Text den unmittelbaren Kontext verleiht. „Götzen aushorchen" auf das hin, was ihren „geblähten Eingeweiden" (KSA 6, 57) an Substantiellem zu entnehmen ist, so Nietzsche im Vorwort dieser Schrift, sei ein „Entzücken [...] für mich alten Psychologen" (KSA 6, 58). Diesem „Entzükken" gibt Nietzsche auch unter dem Abschnittstitel Die Vernunft in der Philosophie Raum. Hier nämlich untersucht er „Alles, was Philosophen seit Jahrtausenden gehandhabt haben" (KSA 6, 74). Der Hauptertrag dieser Untersuchung sei nicht vorenthalten:

„Die Sprache gehört ihrer Entstehung nach in die Zeit der rudimentärsten Form von Psychologie; wir kommen in ein grobes Fetischwesen hinein, wenn wir uns die Grundvoraussetzungen der Sprach-Metaphysik, auf deutsch: der Vernunft, zum Bewusstsein

bringen: Das sieht überall Thäter und Thun: das glaubt an's ,Ich'" (KSA 6, 77)

das

glaubt an Willen als Ursache überhaupt;

Die Fabel

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und das glaubt letzten Endes auch an Gott: „Ich fürchte", so Nietzsche nur eine Seite später, „wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben ..." (KSA 6, 78). Vor dem Hintergrund dieses Zitats macht das offenkundige Losgekommensein Zarathustras von Gott ebenso hellhörig wie seine Worte: ,,,Ich' sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich." (KSA 4, 4, 39) Zarathustra bezeugt hiermit nämlich, so könnte man sagen, daß er als „Psychologe der Guten" und „Freund der Bösen" nicht die „rudimentärste Form von Psychologie" vertritt, sondern die elaborierteste. Denn er jedenfalls sieht nicht mehr nur „Täter" und „Tun" und „Wille" und „Ich", sondern er sieht allererst die „kleinen Leute", die sich „heerdenmäßig" der Obhut christlicher Priester -

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und dem „höchsten Ratschluß" Gottes anvertrauen und sich ansonsten über ihre tatsächlichen Handlungsimpulse Selbsttäuschungen hingeben. Diese Problemsicht Zarathustras geht auf theoretische Entlegitimierung der „wahren Welt" (mit Hilfe der ,,Gott-ist-tot"-Formel); und sie geht auf psychologische Demaskierung sowie pädagogische Abschaffung der „scheinbaren Welt" (der „kleinen Leute"). Insoweit wäre Zarathustra tatsächlich nicht (nur) Vollender der sechsten Stufe des Niedergangs der Vernunftmetaphysik, sondern er wäre (auch) Vorbereiter der siebten Stufe, auf der ein nicht sprachmetaphysisch unterlegter Vernunftgebrauch freisetzbar wird, von dem ausgehend sich über die Abschaffung der „wahren" und der „scheinbaren" Welt in Ruhe urteilen läßt, weil nun jene „andere" Welt zu Gebote steht. Mit dieser Lesart, so meine ich, läßt sich verhindern, daß Nietzsches Geschichte der Genese einer Fabel unversehens, so wie bei einigen der eingangs erwähnten (postmodernen) Interpreten, selbst zu einer Fabel wird.

Ralf Elm

Der Wille zur Macht und die Macht der Geschichte bei Nietzsche und Heidegger

Einer von Themistios überlieferten Platon-Anekdote zufolge soll ein korinthischer Bauer nach der Lektüre des platonischen Gorgias-Dialogs so beeindruckt und begeistert gewesen sein, daß er spontan seine Äcker und Weinstöcke verlassen und sich in die Akademie Piatons begeben haben soll. Weiter heißt es im Text, der Korinther habe Piaton seine Seele übergeben. Statt der Bewirtschaftung seiner Güter soll er fortan Piatons Auffassungen gepflanzt haben.2 Eine solche Wirkungskraft der Philosophie ist auch für Aristoteles anzusetzen. Er schrieb bekanntlich einen Protreptikos, eine Art Werberede für die Philosophie, die als unumgänglich für das praktische Leben angegeben wird.3 In diesem Ansatz kommt ebenso wie in Themistios' Platon-Anekdote die unmittelbare Lebensbedeutsamkeit der antiken Philosophie zum Ausdruck. Heute hat die Philosophie diese direkte Lebensbedeutsamkeit zwar eingebüßt, ist aber deshalb nicht bedeutungslos. Vielmehr liegt ihre Bedeutung über ihre Mitarbeit in Gremien und Kommissionen hinaus wesentlich in ihrer Geschichte selbst und in ihrem Nachdenken über die Geschichte.4 Freilich ist dies nicht so zu verstehen, als hätte die Philosophie in ihrer Geschichte einen Sack mit Antworten gefüllt, aus dem man sich nur bei passender Gelegenheit faute de mieux bediente. Die Auseinandersetzung mit vermeintlich vergangenen philosophischen Positionen ist kein Kompensations- oder Verlegenheitsphänomen, das Resultat eigenen Ideenmangels oder eigener Skepsis wäre. Paradigmatische Ansätze aufzugreifen heißt vielmehr, ihre zentralen Überlegungen für die eigenen Fragen und zur Klärung der eigenen geschichtlichen Situation fruchtbar zu machen. Es kennzeichnet gerade die Großen unter den Philosophen, daß man unter Zuhilfenahme ihrer Überlegungen solche Klärungen vornehmen kann. Das trifft in besonderem Maße auf Nietzsche und Heidegger zu. Überdies sind sie in höchstem Grade Denker der Geschichte, ihrer und damit auch unserer Zeit. Deshalb ist gerade das Auf-

1

Der Text ist die unveränderte

quium gehaltenen Vortrags. 2 3

Fassung eines am 20.

Juli 1995 auf dem 4. Dortmunder Nietzsche-Kollo-

Themistios, Oratio 23, 295c-d.

Vgl. zum Nutzen der Philosophie für das Leben Aristoteles, Protreptikos (Ausgabe During), B 31, 46-51

u. ö. 4 Das ist eine der zentralen Einsichten der von Heidegger und Gadamer sich herschreibenden Hermeneutik des 20. Jahrhunderts. So bildete etwa die in ihrer Geschichte und der Auseinandersetzung mit ihr liegende Bedeutung der Philosophie einen Grundzug der Tübinger Vorlesungen Rüdiger Bubners. Vgl. zudem in einerneueren Arbeit W. Wieland, „Über den Grund des Interesses der Philosophie an ihrer Geschichte", in: R. W. Puster (Hg.), Veritas filia temporis? Philosophiehistorie zwischen Wahrheit und Geschichte (Festschrift für Rainer Specht zum 65. Geburtstag), Berlin 1995, 9-30.

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Ralf Elm

greifen von Nietzsche und Heidegger immer mit der Bemühung um Verständnis der eigenen geschichtlichen Situation verbunden. Für uns heißt „sie aufzugreifen": uns (mit ihnen) begreifen zu wollen. Das gilt erst recht, wenn es um den Willen zur Macht geht. Wenn ich diesem im folgenden nachgehe, muß ich mich beschränken. Was mich hier vor allem interessiert, ist allein die Sachfrage des Willens zur Macht im Horizont der Geschichte.5 In drei Punkten werde ich vorgehen. Zunächst werfe ich hinsichtlich meines Themas einen kurzen Blick auf die Nietzsche-Forschung. Ein zweiter Abschnitt behandelt die Geschichtlichkeit des Willens zur Macht und ihre Grenzen bei Nietzsche. Schließlich frage ich mit Heidegger, inwiefern der Wille zur Macht aus der Macht der Geschichte (und der Macht -

des

Seins) verstanden werden kann.

1. Der Wille zur Macht und die Frage nach der Geschichte in der Nietzsche-Forschung Wer als Nichtphilosoph die Formel des „Willens zur Macht" ganz unbefangen hört, wird wohl unwillkürlich danach fragen, welcher Wille und vor allem wessen Wille überhaupt gemeint ist. Nietzsches Antwort selbst geht dahin, daß alles Wirkliche in seiner Wirklichkeit Willen zur Macht ist. So sagt er etwa: „Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht" (ZA II, KSA 4, 147); oder er gilt als das „innerste Wesen des Seins" (KSA 12, 260);6 „Diese Welt ist der Wille zur Macht und nichts außerdem" (KSA 11, 611);7 „Unser Intellekt, unser Wille, ebenso unsere Empfindungen sind abhängig von unseren Wertschätzungen; diese entsprechen unseren Trieben und deren Existenzbedingungen. Unsre Triebe sind reduzierbar auf den Willen zur Macht. Der Wille zur Macht ist das letzte Faktum, zu dem wir hinunterkommen".8 Wie diese Äußerungen aber gerade hinsichtlich der Fragen, um welchen Willen und um wessen Willen es sich überhaupt handelt, auszulegen sind, wird in der Nietzsche-Forschung verschieden beantwortet. Man kann drei Grundpositionen unterscheiden. Der ersten Position zufolge ist der Wille zur Macht in gewisser Weise als eine einheitliche Größe, als der unsere Wirklichkeit konstituierende Machtwille schlechthin zu begreifen. Im Kern ist dies die Auffassung von Martin Heidegger. Ihm gilt der Wille zur Macht als Nietzsches „Grundwort".9 Im Willen zur Macht sieht er „die durchgängige Verfassung alles Seienden"10 als dessen eine „Seinsverfassung"11 auf den Punkt gebracht. -

5

Was die Problematik des Nachlasses, den Willen zur Macht als Ideologie, den Willen zur Macht als je perspektivische Interpretation und die damit zusammenhängenden Themenkomplexe anbetrifft, sei auf den instruktiven Überblick von J. Salaquarda verwiesen: „Der Wille zur Macht: Philosophisches Problem Literarisches Projekt Angebliches Hauptwerk". Dieser Vortrag wurde am 16. Juni auf der Weimarer Tagung „Der Wille zur Macht" gehalten und wird auch von der Stiftung Weimarer Klassik publiziert. Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [80]. Nachlaß Juni Juli 1885, 38 [12]. GA, Nachlaß XIV, 327; vgl. XVI, 415. M. Heidegger, „Nietzsches Wort ,Gott ist tot'", in: Holzwege, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1952, 215. M. Heidegger, Nietzsche, Bd. I, Frankfurt a.M. 1996, 424. -

-

6 7 8 9 10 11

-

Ebd., Bd. I, 468.

249

Der Wille zur Macht

Darum bilden Wille und Macht auch eine unzertrennliche Einheit.12 Denn Wille will als Wille immer Macht und als sie selbst kann Macht immer nur sich selbst wollen; ansonsten gäbe sie ihr Wesen auf. Diesem Ansatz widerspricht entschieden die zweite Grundposition. Ihrer Interpretation nach geht es im Werk Nietzsches gar nicht um einen Willen zur Macht im Singular, sondern Nietzsche soll die Wirklichkeit allein als Pluralität von untereinander im Kampf liegenden Willen zur Macht auffassen. Es ist bekanntlich Wolfgang Müller-Lauter gewesen, der diese Auffassung, die sich mittlerweile in der Nietzsche-Forschung durchgesetzt hat, als erster vertrat.13 Selbst dort, wo vom Ganzen der Wirklichkeit als einem Willen zur Macht die Rede ist, denke Nietzsche immer an die Einheit einer Vielheit, niemals an eine für sich bestehende substantielle Entität. Aber eben deshalb könne Heideggers Deutung des Willens zur Macht als einem metaphysischen Prinzip nicht zutreffen. Gegen Müller-Lauters Belege für seine These ist nichts einzuwenden. Er hat klar gezeigt, daß nicht ein Wille zur Macht, sondern das freie Kräftespiel einer Vielheit von Machtwillen weltkonstituierend ist, so daß alles Seiende im beständigen Werden ist. Was aber fraglich ist (und nachher noch zur Debatte gestellt werden soll), ist, ob Müller-Lauter seinerseits Heideggers metaphysikgeschichtliche Deutung des Willens zur Macht angemessen begreift, wenn er meint, Heidegger würde den Willen zur Macht als metaphysisches Prinzip ansetzen. Schließlich wird und damit komme ich zur dritten Grundposition im Willen zur Macht weder ausschließliche Singularität noch ausschließlich Pluralität, sondern beides in ihrer Verschränkung zu sehen versucht. Diese Mitte Juni 1995 von Pavel Kouba vorgetragene Position bezweifelt zwar nicht die philologische Richtigkeit der Müller-Lauterschen Resultate, meint aber, daß es Nietzsche philosophisch um mehr als um die Aufstellung einer „Theorie der Machtquanta"14 gegangen sei. Weil jeder Wille zur Macht immer etwas Bestimmtes will, muß es ihm auch um die Wirklichkeit des Anderen gehen. Denn das Andere und die Auseinandersetzung mit ihm bilden überhaupt die Möglichkeiten des Willens zur Macht. Der wirkliche Wille zur Macht ist für Kouba das Offenhaltenwollen und Offenhaltenkönnen eines offenen Raumes der Macht und der Freiheit. Die Position von Pavel Kouba zeigt, daß die Diskussion um die Bestimmung des Willens zur Macht mitnichten schon als abgeschlossen gelten kann. Zugleich scheint mir aber die starke Konzentration auf die Frage, ob es sich beim Willen zur Macht um den einen oder um die vielen oder um beides handelt, von dem Zusammenhang mit der Geschichte abgelenkt zu haben. Damit will ich weder sagen, man habe das Thema der Geschichte aus den Augen verloren, noch behaupten, man sähe es nicht. Geschichte ist im Ausgang von Nietzsches Zweiter Unzeitgemäßer Betrachtung ein vielbehandeltes Thema. Aber gerade wenn man sich die ersten zwei Grundpositionen anschaut,15 ist es für das Verständnis des -

-

-

12 13 14

15

Vgl. ebd.,

-

Bd. II, 266 ff. W. Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/New York 1971. Der genaue Titel des am 18. Juni 1995 auf der Weimarer Tagung „Der Wille zur Macht" gehaltenen Vortrags von P. Kouba lautet: „Der wirkliche Wille zur möglichen Macht. Überlegungen zu Nietzsches Machtbegriff". Auch dieser Vortrag wird von der Stiftung Weimarer Klassik veröffentlicht. Für P. Kouba ist zu berücksichtigen, daß seine Überlegungen zunächst programmatischen Charakter haben. Aber hier dürfte, weil alles politische Handeln, Verstehen und Interpretieren sich je konkret vollzieht, man damit aber immer historischen Zusammenhängen und Bedingungsfeldern unterliegt, die Betrachtung der geschichtlichen Dimension des Willens zur Macht einer der nächsten Schritte sein.

250

Ralf Elm

Willens zur Macht äußerst aufschlußreich, daß sein Zusammenhang mit der Geschichte, seine Geschichtlichkeit in jenen Konzeptionen vollkommen unterschiedlich gedacht wird. Und eben das hat man m. E. noch nicht für das sachliche Verständnis des Willens zur Macht fruchtbar gemacht. Thetisch ließe sich sagen: Während Müller-Lauter mit Nietzsche die Geschichte aus dem Willen zur Macht versteht, denkt Heidegger mit und gegen Nietzsche genau umgekehrt den Willen zur Macht aus der Geschichte.

2. Zur Geschichtlichkeit des Willens und ihren Grenzen bei Nietzsche

zur

Macht

Macht das letzte Faktum von allem, so bedeutet dies natürlich auch, wie in entsprechend einer Aufzeichnung aus dem Nachlaß heißt, daß er das „Ur-faktum aller Geschichte" (GA, Nachlaß XII, 238) ist. Freilich hat Nietzsche den Gedanken des Willens zur Macht und seine Implikationen nicht auf einmal gehabt. Vielmehr hat sich, so Walter Kaufmann,16 die Generalthesis des Willens zur Macht über verschiedene Stufen erst mit der Zeit herauskristallisiert. Statt die unterschiedlichen Stufen hier nachzuzeichnen, möchte ich lediglich die erste und für alles weitere maßgebende Vorgestalt des Willens zur Macht ansprechen. Eine solche Vorgestalt ist in Nietzsches Zweiter Unzeitgemäßer Betrachtung. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben im Begriff der plastischen Kraft erkennbar. Wir selbst sprechen vom Plastischen, wo etwa eine Skulptur, ein Relief wohlbestimmte Konturen aufweist, wo ein Mensch in seinem vielfältigen Tun ein markantes Profil ausprägt oder auch, wo eine Nation in einer allein ihr eigenen Weise Vielfalt zur Einheit einer bestimmten Lebensform ausbildet. Aber dafür, daß etwas nicht ins Konturenlose zerfließt, daß jemand nicht nur einfach flach wirkt, daß die Ansammlung von Menschen nicht zur breiigen Masse wird, bedarf es eben einer bestimmten Formkraft. Es ist allgemein die „Kraft eines Menschen, eines Volkes, einer Kultur [...] jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen" Ist der Wille

zur

es

(KSA 1, 251).

Als geheimes Zentrum der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung ist der Begriff der plastischen Kraft mindestens aus drei Gründen aufschlußreich. Erstens nutzt Nietzsche ihn als Gegenbegriff zu seiner Zeit. Diese ist es nämlich, die die Historie zur Wissenschaft

erhebt, die alles historisiert, die, indem die Heranwachsenden „durch alle Jahrtausende gepeitscht" und mit historischem Wissen überhäuft werden (KSA 1, 299), sie ihrer Lebensform entfremdet, sie aber eben dadurch auch ihrer eigentlichen Lebenskraft beraubt.

Zum zweiten findet Nietzsche in der plastischen Kraft diejenige Gestaltungskraft, durch welche frühere Zeiten und Kulturen in ihrem Verhältnis zur Geschichte Unhistorisches, Historisches und Überhistorisches vereinigen konnten. Beschränkt in ihrem Horizont und gerechtfertigt durch Kunst und Religion vermochten die alten Lebensformen durch ihre plastische Kraft die Historie in den Dienst ihrer eigenen Lebenspraxis zu stellen. Die Grie-

16

W. Kaufmann, Nietzsche. Philosoph Psychologe Antichrist, da, Darmstadt 1982. -

-

aus

dem Amerik. übers. v.J.

Salaquar-

Der Wille

zur

Macht

251

chen gelten Nietzsche dabei als „Gleichnis für jeden Einzelnen von uns", weil sie sich nicht chaotisch verzettelten, sondern kraft der eigenen Kraft das Vielfältige zu einen, „das Chaos zu organisieren" verstanden (KSA 1, 333). Und drittens ist der Begriff der plastischen Kraft wegweisend, weil Nietzsche schon das Äußerste einer solchen Kraft zu denken versucht. „[...] dächte man sich die mächtigste und ungeheuerste Natur, so wäre sie daran zu erkennen, daß es für sie gar keine Grenze des historischen Sinnes geben würde [...]; alles Vergangene, eigenes und fremdestes, würde sie an sich heran, in sich hineinziehen und gleichsam zu Blut umschaffen." (KSA 1, 251) Der Grenzwert alles Historisierens ist paradoxerweise die schlechthinnige Überbietung aller Grenzen, auch wenn Nietzsche das im Anschluß an jenes Zitat mit dem Topos des Vergessens wieder zu relativieren sucht. Das Äußerste liegt über alle Perspektiven hinaus in der Einverleibung und so in der Aufhebung aller Perspektiven. Ist die plastische Kraft (bzw. der zu dieser Zeit begrifflich noch nicht freigesetzte, aber in dem Begriff implizierte Wille zur Macht) in sich selbst schon geschichtlich, weil wir „als Baumeister der Zukunft" aus der höchsten Kraft der Gegenwart" die Vergangenheit je jetzt für uns deuten (KSA 1, 293 f.), so ist sie eben damit natürlich auch geschichtsbildend. Deshalb ist über das Verhältnis der Lebensformen zu ihrer Geschichte hinaus nun ihr Verhältnis zueinander in der geschichtlichen Abfolge, wie Nietzsche sie denkt, zu skizzie„

ren.

Nietzsche hat zunächst ein triadisches Geschichtsmodell. Als Verlängerung der Geschichte des Organischen, als machtvolle Weiterführung der Tiergeschichte gilt Nietzsche der Anfang der Menschheitsgeschichte in der höheren Kultur.17 In dieser ersten Phase, der „prähistorischen" oder „vormoralischen Periode" herrschen die schlechthin Starken, „Raubmenschen, noch im Besitz ungebrochener Willenskräfte und Machtbegierden". Diese Phase wird von der „historischen Zeit" bzw. der „moralischen Periode" abgelöst. Gebildet wird sie von der Geschichte der decadence und des ressentiments und d.h. durch die Ansetzung einer lebensfeindlichen platonisch-christlichen Wertewelt. Als eine solche Geschichte ist sie aber zugleich die Geschichte des Nihilismus als die Entwertung der obersten Werte durch ihre Entlarvung als Nichts und als bloße Projektion. Nietzsches Behauptung „Gott ist tot" markiert diese weltgeschichtliche Situation, die für Nietzsche zugleich die Schwelle zur dritten und neuen, der „außermoralischen Periode" bildet. Von dieser Schwelle her kann die Geschichte auch als im Grunde nur zweiphasig angesehen werden. Denn angesichts der Zukunft rückt alles Bisherige zu einer Phase zusammen, zur Geschichte als einem Würfelspiel des Zufalls nämlich.18 Aber mag die vergangene Geschichte auch eine Geschichte des Unsinns, des Nichtsinns, jedenfalls etwas ohne inneres oder äußeres Ziel sein, so hat der Mensch doch seinen Willen und die Freiheit eigener Zielsetzung. Sie ermöglicht, dem an sich Sinnlosen Sinn einzuhauchen und der Geschichte ein Ziel allererst zu geben.19 An dieser Schwelle zu einem Neuanfang sieht sich Nietzsche selbst stehen. Seine Philosophie ist ihm „Wendepunkt der Geschichte" (GA, Nachlaß XIV, 264). Er selbst fühlt sich „stark genug dazu, die Geschichte der Menschheit

17 18 19

Hierzu und zum Folgenden siehe bes. F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (32), KSA 5, 50 f. Vgl. Geschichte als Würfelspiel des Zufalls schon in der Historienschrift: KSA 1, 262; s. auch nächste Anm. Vgl. F. Nietzsche, KSA 5, 126, JGB 203, das neue geschichtliche Programm des Willens des Menschen, das Erfordernis „einer neuen Art von Philosophen und Befehlshabern", „um damit jener schauerlichen Herrschaft des Unsinns und Zufalls, die bisher .Geschichte' hieß, ein Ende zu machen."

252

Ralf Elm

in zwei Stücke zu zerbrechen". ° „Erst von mir an", sagt er im Ecce homo, „gibt es auf Erden grosse Politik" }x Diese aber verlangt eine Umwertung aller Werte. Was dies bedeutet, läßt sich indessen erst wirklich ermessen, führt man Nietzsches Hermeneutik des Lebens und d.h. den Rückgang auf die Geschichtlichkeit der plastischen Gestaltungskraft mit seiner Auffassung des Geschichtsverlaufs selbst zusammen. Eine echte Umwertung kann nämlich nur über einen radikalen Rückgang auf das wertende und alles andere perspektivisch auf sich hin interpretierende Leben, auf seinen plastischen Willen zur Macht gedacht werden, der nun, seiner selbst gewiß werdend, Geschichte machen kann. Eine solche aber muß in der Steigerung des Willens zur Macht liegen. In ihrer höchsten Form ist die Steigerung des Willens zur Macht die Steigerung des Menschen zum Übermenschen, welcher seinerseits seine höchste Macht in dem uneingeschränkten Ja zur „ewigen Wiederkehr des Gleichen" bezeugt. Und auch der Gedanke der ewigen Wiederkunft wird im Horizont der Geschichte verstanden: „Von dem Augenblick an, wo dieser Gedanke da ist, verändert sich alle Farbe, und es gibt eine andere Geschichte." (GA, Nachlaß XII, 65) Im Gegensatz etwa zu Baeumler, der zwischen dem Willen zur Macht und dem Übermenschen einerseits und der ewigen Wiederkehr andererseits eine unüberbrückbare Kluft gesehen hat,22 aber auch im Unterschied zu Löwith, der zwischen Nietzsches Lehren vom Übermenschen und der ewigen Wiederkehr einen unaufhebbaren Widerspruch zu erkennen meinte,23 schließe ich mich in gewisser Weise der Position Heideggers, Finks,24 MüllerLauters und anderer an. Denn ihr zufolge sind die Lehren des Willens zur Macht, des Übermenschen und der ewigen Wiederkehr als ein sich fordernder Gedankenzusammenhang zu interpretieren. In dieser Perspektive scheint mir Nietzsche weitestgehend Tiefenpsychologe und Tiefenphilosoph in einer Person zu sein. Meiner Auffassung nach erfordert der Wille zur Macht, eben weil er in sich geschichtlich ist und weil er, allein schon um sich zu erhalten, von vornherein auf Machtsteigerung ausgerichtet ist, in seinen komplexeren Formen den Übermenschen. Dieser aber muß seinerseits in seinem Macht- und also Herrschaftswillen darum bemüht sein, über alle ihn abhängig machenden Bedingungen verfügen zu wollen. Deshalb ist er als Übermensch notwendigerweise an dem Setzen und Durchsetzen seines Willens unter seinen Bedingungen, also an seinem Machen zukünftiger Geschichte interessiert. Aber er muß auch die Bedingungen, denen er sich in seinem Werden verdankt, gleichsam nachträglich in seine Gewalt bekommen. Der Grenzwert des Machtstrebens des Übermenschen ist die totale Herrschaft über alle Bedingungen der Geschichte. Deshalb erfordert der Wille zur Macht als primär geschichtlicher den Übermenschen und dieser die ewige Wiederkehr des Gleichen. Sieht man den Zusammenhang so, denke ich, daß die Gegensätzlichkeit, die MüllerLauter seinerseits im Willen zur Macht angelegt sieht, nur begrenzter Natur ist und hier unterscheide ich mich wieder von seiner Position. Die Grundspannung des Willens zur Macht ergibt sich für Müller-Lauter aus Nietzsches Auffassung der Wirklichkeit, die sich zum einen aus einer Vielfalt von miteinander im Kampf liegenden Machtwillen konstituiert, -

20 21 22 23 24

Brief an Strindberg vom 8.12.1888. F. Nietzsche, „Warum ich ein Schicksal bin", Abs. 1, in: Ecce homo, KSA 6, 366. A. Baeumler, Nietzsche, der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931, 80. K. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, 3. Aufl., Hamburg 1978, 64, 66 f. u. ö. E. Fink, Nietzsches Philosophie, Stuttgart 1960.

Der Wille zur Macht

253

die sich dadurch aber zum anderen ständig wandelt. Dementsprechend muß für MüllerLauter25 ein jeder Wille immer zwei Bedingungen genügen: Erstens ist er zur Verabsolutierung seiner Perspektive unter Ausschluß aller anderen gezwungen, weil er eben nur so als plastische Gestaltungskraft Vieles zur Einheit organisieren kann. Zweitens ist er aber zugleich zur Bereitschaft der Modifikation seiner Perspektive angehalten, weil er nur so dem unablässigen Wirklichkeitswandel Rechnung tragen kann. Die Schwierigkeit liegt auf der Hand: Wie kann ein Wille zur Macht gleichzeitig die „Absolutierung seiner jeweiligen Perspektive und deren Nichtabsolutierung"26 sein? Dieses Problem schlägt nun auch auf die Lehren vom Übermenschen und der ewigen Wiederkehr durch. Denn nach Müller-Lauter führt die doppelte Anforderung an den Willen zur Macht zu zwei miteinander unvereinbaren Typen des Übermenschen. Einmal führt sie zum Typus des Starken, der sein Ideal unter Zerbrechen aller anderen Ideale durchsetzen will. Zum anderen führt sie zum Typus des Weisen, der alles durch Summierung und Synthetisierung gelten läßt. Hinzu kommt, daß der Übermensch als Überwinder des lebensverneinenden Nihilismus schlechthin lebensbejahend ist. Unüberbietbar ist sein Ja aber erst dann, wenn es alles in größter Intensität und ausnahmslos in unendlicher Wiederkehr will. Aber eben das wird nach Müller-Lauter von den zwei Typen unterschiedlich gedacht. Das uneingeschränkte Ja des Übermenschen der Stärke meint die unbedingte Bejahung seines Ideals bei Unterwerfung aller anderen; die Uneingeschränktheit des Ja des Übermenschen der Weisheit ist wiederum grenzenlose Anerkennung von überhaupt allem. Aber, so möchte ich erstens fragen, ist die Ausgangsvoraussetzung des Gegensatzes von der Verabsolutierung einer jeweiligen Macht-Perspektive und ihrer Aufhebung Nietzsche wirklich angemessen? Sie scheint mir in gewisser Weise deshalb unangemessen, weil sie m. E. Nietzsches Voraussetzung nicht mehr teilt, daß der Machtwille des Übermenschen stets Machtsteigerung will. Müller-Lauter sieht den Übermenschen vor die ausschließliche Alternative gestellt, entweder seinen Machtwillen rigoros durchsetzen zu wollen, was aber Erstarrung (und damit späteres Gebrochenwerden) zur Folge hat, oder immer wieder einen Perspektivenwechsel vorzunehmen, was jedoch schließlich den Verlust der Formkraft mit sich bringt. Bei dieser Alternative hätte unter Nietzsches Voraussetzung immer intendierter Machtsteigerung aber überhaupt kein Machtwille irgendeine Chance der Machtsteigerung. Denn der Alternative zufolge müßten angesichts ständigen Wirklichkeitswandels sowohl das Festhalten als auch das Loslassen meines spezifischen Willens zur Macht gleichermaßen zum Machtverlust führen. Mit anderen Worten: Die Alternative wird Nietzsches Voraussetzung der Machtsteigerung nicht gerecht, die Nietzsche sich grundsätzlich vom Übermenschen erwartet hat. Nietzsche meint immer mehr als eine nur den Wandel der Wirklichkeit berücksichtigende (Reaktions-)Änderung von Perspektiven. Ob ein Perspektivenwechsel destruktiv oder integrativ erfolgt, ist nachgeordnet, da er für Nietzsche in jedem Falle eine Machtsteigerung durch Einverleibung anderer Positionen (oder auch zurückliegender -

-

Epochen) bedeutet. Daraus ergibt sich

mit Blick auf die Geschichte eine zweite Frage. Wenn wir mit Nietzsche die den beiden Übermenschentypen immanente Machtsteigerungstendenz voraussetzen, schließen die beiden Typen sich in jeder Hinsicht aus oder ist ihre Gegensätzlichkeit auch nur begrenzt?

25 P. Kouba hat sich hier einerseits angeschlossen, aber andererseits andere Konsequenzen daraus gezogen. 26 W. Müller-Lauter, Nietzsche, 115. Zum Folgenden siehe bes. das letzte Kapitel. -

Ralf Elm

254

Einer Nachlaßnotiz zufolge war, als Zarathustra das Bild des Übermenschen schuf, für ihn sowohl die Zerstörung aller bisherigen Menschenbilder notwendig als auch die Bewahrung von all dem, was der bisherige Mensch in seiner Geschichte erworben hat; nichts konnte entbehrt werden (GA, Nachlaß XII, 362 f.). Diese Überlegungen sind sprechend für das In-eins-gehen von Zerbrechen und Bewahren, für das In-eins-gehen des Starken und Weisen. Gemeinsam ist beiden nämlich ihr Wille zur Macht als „Herr-werden-wollen-über ...". Indem Herrseinwollen nun primär ein Verfügenwollen über die Mittel und Wege, überhaupt über die Möglichkeiten der eigenen Machtsteigerung besagt, laufen der Machtwille des Starken wie der des Weisen zuletzt in eins zusammen. Denkt man das Herrseinwollen des Starken als Willen zu fortwährender Machtsteigerung von einem zukünftig immer weitergehenden Verfügen über andere Machtwillen her, in das dann auch die geschichtlich bewältigten Perspektiven einverleibt sind, dann liegt der Grenzwert dieses Machtwillens auf der Hand. Der Limes dieser Art der Machtsteigerung durch Befehlen, Setzen und Durchsetzen liegt beim schlechthin starken Übermenschen in der Verfügung über alle Möglichkeiten der Machtl Und eben dies trifft auch auf den Übermenschen vom Typus des Weisen zu. Unter Nietzsches Voraussetzung der unabdingbaren Machtsteigerung muß sich diese so vollziehen, daß ich wirklich alles in der Zeit Mögliche, selbst die Widersprüche, summierend und synthetisierend aufnehme. Denn hier gilt: „Jedes Erlebnis, in seine Ursprünge zurückverfolgt, Ein Faktum gut heißen, heißt Alles bilsetzt die ganze Vergangenheit der Welt voraus. ligen!" (GA, Nachlaß XIII, 74) Damit ist der Limes erneut, daß sich mir zuletzt nichts mehr entzieht, keine Möglichkeit mehr ausgeschlossen ist, ich zum Schluß Herr und Verfüger über alles bin und es in meiner größten Macht der Annahme der Wiederkunftslehre genauso, „wie es war und ist, wieder haben will, in alle Ewigkeit hinaus, unersättlich da capo rufend, nicht nur zu sich, sondern zum ganzen Stücke und Schauspiele" (KSA 5, 75, JGB 56). Vom totalen Herrsein- und Verfügenwollen her gesehen wird im Weisen dasselbe wie im Starken -

gedacht.

Damit nimmt Nietzsches Verständnis der Geschichte noch einmal eine andere Gestalt an. Ursprünglich war sie ja von der Geschichtlichkeit der plastischen Kraft des Lebens selbst her verstanden. Kraft dieses lebensimmanenten Willens zur Macht sollte dann innerhalb des Geschichtsverlaufs zur Überwindung des Nihilismus eine Umwertung aller Werte vorgenommen werden. Als Träger dieses weltgeschichtlichen Geschehens war der kommende Übermensch gedacht. Als Übermensch muß dieser Herr über alles werden bzw. sein. Sein Herrschenwollen muß über die Bedingungen zur Durchsetzung des in die Zukunft hineingerichteten Willens ebenso verfügen wollen wie er zum Schluß alles Bisherige als Bedingung des Jetzigen und Künftigen, d. h. die ewige Wiederkehr des Gleichen unbedingt wollen muß. So aber erfährt das einst aus der radikalen Zukünftigkeit her lebende Programm des Übermenschen einen eigenartigen Umschlag. Die beanspruchte totale Machbarkeit der Zukunft schlägt über das in der Machtsteigerungstendenz als Grenzwert liegende Einholen und Bejahen aller Bedingungen um in das Konfrontiertwerden mit der totalen Gemachtheit der Dinge, wie es in der Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen zum Ausdruck kommt. Die Geschichtlichkeit des Willens zur Macht wird unter der Hand durch das Wollen des immer schon Vorweg-Gewollten aufgehoben, aber nicht weil die ewige Wiederkehr kosmisch ausgelegt werden kann, sondern weil der Wille zur Macht in seiner höchsten geschichtlichen Steigerung sich überhaupt nichts mehr geben lassen darf, sondern alles je schon unter seine Herrschaftskontrolle gebracht haben muß, was überhaupt gewollt werden kann. Eine aus dem Willen zur Macht als ,Ur-faktum der Geschichte' konzipierte Geschichte

Der Wille

führt

m.

zur

255

Macht

E., weil alles in die eigene Gewalt gebracht werden soll, zwangsläufig

zu

einer

Geschichtslosigkeit des je schon Vorweg-Gewollten. Ähnliches scheint mir auch dann zu gelten, wenn man den Gedanken der ewigen Wiederkunft als neues Schwergewicht existentiell interpretiert. Denn hier würde Geschichtlichkeit in das Beherrschenwollen des Augenblicks, damit gleichsam in instantané Augenblicklichkeit aufgehoben. versucht Heidegger nicht die Geschichte sondern diesen aus der Geschichte heraus zu verstehen.

Demgegenüber

dem Willen -

aus

zur

Macht,

3. Die Macht der Geschichte als Macht des Seins bei Heidegger Auf den ersten Blick weist der Heidegger von Sein und Zeit mehr Gemeinsamkeiten mit als Unterschiede zu Nietzsche auf. Gemeinsam ist beiden zunächst die Auffassung, daß die Bemühung, Geschichte in der Geschichtswissenschaft zu suchen, am Geschichts-Phänomen vorbeizielt. Auf diese Weise würde „Geschichte grundsätzlich immer nur als Objekt einer Wissenschaft zugänglich"27 und damit, wie Nietzsche sagt, zu einem „Neutrum", das niemanden mehr existentiell betrifft (HL, KSA 1, 284). Daraus ergibt sich eine zweite Gemeinsamkeit. Dem Rückgang auf den immer auch geschichtlichen lebensimmanenten Willen zur Macht bei Nietzsche entspricht bei Heidegger der Rekurs auf eigentlich geschichtliches Leben bzw. Dasein. Denn so wie Nietzsche ,nur als Baumeister der Zukunft' das Vergangene gedeutet wissen will, sieht es auch Heidegger. Allein „aus der Zukunfi" kann das Dasein durch die Wiederholung dagewesener eigentlicher, .monumentaler' Existenzmöglichkeiten eine echte historische Erschließung der Vergangenheit, nur so eine Überlieferung des Erbes und nur mit ihm eine Kritik der Gegenwart geben.28 Wie man unschwer erkennen kann, ist das die „,Geburt' der Historie" in ihren drei Arten im Sinne Nietzsches. Heidegger greift sie zustimmend auf. Nur habe Nietzsche es versäumt, die Dreifachheit der Historie auf den Grund ihrer Einheit, d. h. auf die Zeitlichkeit des Daseins zurückzuführen.29 Mit der Betonung der Zeitlichkeit deutet sich eine fundamentale Differenz zwischen Nietzsche und Heidegger an. Denn die Zeitlichkeit und darüber die Geschichtlichkeit sind bei Heidegger vollkommen anders als bei Nietzsche insbesondere durch die Phänomene der Angst, des Gewissenhabenwollens sowie durch den Tod vermittelt, durch Phänomene der Endlichkeit also. In Sein und Zeit schillert das Verständnis der Endlichkeit noch. In ihrer metaphysischen Tiefendimension wird sie erst in Heideggers Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? von 1929 gedacht. „Da-sein heißt: Hineingehaltenheit in das Nichts. Sich hineinhaltend in das Nichts ist das Dasein je schon über das Seiende im Ganzen hinaus. Dieses Hinaussein über das Seiende nennen wir die Transzendenz."30 Anders als in der Tradition gelangt der Mensch in seinem Transzendieren bei Heidegger nicht zu etwas

27 28 29 30

Heidegger, Sein Vgl. M. Heidegger, M.

und Zeit, 375. Sein und Zeit, 394 ff. und 382 ff.

Ebd., 396. M.

Heidegger, „Was

ist

Metaphysik?",

in:

Wegmarken,

114.

Ralf Elm

256

Positivem. Er ist vielmehr hineingehalten ins Nichts. Heidegger denkt an ein solches Nichts, wie es einem in der Angst offenbar wird. Denn in der Angst entzieht sich einem alles Seiende ins Nichts hinein aber zugleich wird einem angesichts des Nichts von diesem selbst her ein neues Verhältnis zu dem Seienden eröffnet.31 Und genau diese Struktur eines über das Nichts vermittelten Geschehens der Abkehr (der Dinge ins Nichts) und Zukehr der Dinge (aus dem Nichts) ist es, die Heidegger interessiert. In der Angst wird der unmittelbare Umgang mit den Dingen derart aufgebrochen, daß es über die Erfahrung des Nichts zu einem neuen Verhältnis zu allem kommt. In Grenzen ist diese Erfahrung damit vergleichbar, daß uns erst der Verlust von etwas über dessen Kostbarkeit belehrt. Für Heidegger hat jene Geschehensstruktur ontologische Bedeutung, weil über das Nichts, in das wir grundsätzlich hineingehalten sind, das wir aber in der Regel verdecken, überhaupt erst unser Verhalten zu dem Seienden möglich ist. Das Nichts ist ontologischer Ermöglichung sg rund all unseres Verhaltens. Aber wie mir schon die Angst widerfährt und mich überkommt, so wenig vermag ich über das Nichts zu verfügen. Da es mein Verhalten zu den Dingen allererst ermöglicht, kann ich niemals Herr dieses Nichts sein, es niemals entwerfen, weil es eben selbst unverfügbarer Grund allen Entwerfens und Seinsverhältnisses ist. „So endlich sind wir, daß wir gerade nicht durch eigenen Beschluß und Willen uns ursprünglich vor das Nichts zu bringen vermögen."32 Heidegger bleibt indessen nicht bei der Erfahrung der Ohnmacht im Nichts stehen. Denn wenn der Mensch „sich als Subjekt überwunden hat und d. h., wenn er das Seiende nicht mehr als Objekt vorstellt", dann ist das Nichts „das Sein selbst".33 Überwunden haben wir uns als Subjekt für Heidegger dann, wenn wir erstens einsehen, daß nicht wir der Grund von allem sind, und wenn wir zweitens dementsprechende Begründungsversuche aufgeben. Das geschieht kraft jener angstvermittelten Doppelerfahrung einerseits unserer Endlichkeit, andererseits eines Getragenseins durch etwas, was über das Seiende hinausgeht, aber uns eben so als Sein ein Verhältnis zum Seienden ermöglicht. Die Endlichkeit und ihr Verhältnis zum sie tragenden Sein lassen sich von Sein und Zeit her bis hin zu Heideggers Nietzsche-Deutung auch noch einmal im Hinblick auf die Geschichte fassen. Endlichkeit des Daseins ist hier zunächst das Geworfensein des Daseins nicht nur einfach in eine Welt, sondern damit auch in eine ganz bestimmte geschichtlichepochale Situation. Und diese ist es, die mit ihren aus der Vergangenheit herkommenden Möglichkeiten jeden Lebensentwurf, und sei er noch so entschieden und eigentlich aus dem Vorlaufen zum Tod entworfen, immer schon begrenzt. Niemals ist in einer Situation alles möglich. Aber welche Möglichkeiten einer Epoche zugespielt und zugeschickt werden, liegt nicht in der Reichweite des menschlichen Verfügens, weil sie diesem je vorausgehen. So stehen die Geworfenheit des Menschen in ein jeweils epochales In-der-Welt-sein wie auch die Hineingehaltenheit des Daseins ins Nichts für eine gewisse Entmächtigung des Daseins. Weil ihm immer etwas gegeben werden muß, sagt Heidegger später auch, „daß alles Wollen im Lassen gründen soll".34 Zuerst sieht es zwar so aus, als würde Heidegger -

Vgl. zu dieser Thematik insbesondere W. Schulz, „Über den philosophiegeschichtlichen Ort Martin Heideggers", in: Philosophische Rundschau 1 (1953) 54, 65-93 und 211-232; wiederabgedruckt in: O. Pöggeler (Hg.), Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werkes, Königstein/Ts. 1984, 95 ff. 32 M. Heidegger, „Was ist Metaphysik?", 117. 33 M. Heidegger, „Die Zeit des Weltbildes", in: Holzwege, 104. 34 M. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, 5. Aufl., Tübingen 1987, 16.

31

Der Wille

zur

257

Macht

mit der Zurückführung auf das Nichts und die Geschichte in alter Manier erneut begründen wollen. Aber in Wahrheit führt Heidegger in der Tendenz philosophischen Begründenwollens die Brechung eben dieses Willens eigenmächtiger Begründung vor. Denn weder liegt die angstvermittelte Erfahrung des Nichts bzw. Seins in unserer Macht. Noch haben wir unsere geschichtlichen Seinsmöglichkeiten in der Hand, muß uns doch das, wofür wir uns entscheiden, zuvor bereits eröffnet sein. Das aber schließt für Heidegger grundsätzlich aus, daß unser Wille zur Macht, in welcher Form auch immer, die letztentscheidende Instanz ist. Daraus ergibt sich nun auch notwendig Heideggers metaphysikgeschichtliche NietzscheDeutung. Obwohl es für Heidegger entscheidend wäre, sich darauf zu besinnen, wie sich vom Nichts und Verborgenen her das Sein und Unverborgene zeigen, obwohl sich ferner darauf zu besinnen wäre, wie das dem Menschen unverfügbare Seinsgeschehen je geschichtlich-epochale Möglichkeiten entzieht und andere eröffnet, stellt er fest, daß die Metaphysik von Piaton bis Nietzsche eine solche Besinnung versäumt hat. Statt nach dem Woher ihres Seinsverständnisses selbst zu fragen, waren sie an dem Seienden in seinem Sein orientiert, das sie wiederum auf ein höchstes Seiendes zurückführten. Piaton etwa galten die unwandelbaren, in sich beständigen und also ewigen Ideen als eigentliche Wirklichkeit, welche ihrerseits von der höchsten Idee, der Idee des Guten verstanden wurde. Und in der Neuzeit wurde das Sein der Dinge in ihrer Vorgestelltheit gesehen und auf das vorstellende Subjekt zurückgeführt. Über Leibniz' Verständnis der „Subjektivität als strebendes Vorstellen",35 über Kants Willensbestimmung als „unbedingte Selbstgesetzgebung",36über Fichtes Willen der Tat,37 über Schellings Willen der Liebe, über Hegels Bestimmung des absoluten Geiso Heidegger stes als Sichselbstwissenwollen38 hat Nietzsche schließlich diese Metadas in seiner als indem er Seiende Wirklichkeit vollendet, physikgeschichte eigentlichen Willen zur Macht bestimmte. Nietzsche markiert das Ende, weil sich der Wille zur Macht per definitionem nicht mehr in etwas anderes gründen läßt, das dann ja mächtiger als er selbst wäre, sondern der kraft seiner eigenen Macht schlechterdings sich selbst auf sich selbst derart gründen will, daß er als Willen zum Willen39 sich selbst als ewig wiederkehrend in dieser Ständigkeit will. Aber mitnichten denkt Heidegger den Willen zur Macht als metaphysisches Prinzip. Nietzsches metaphysikgeschichtliche Grundstellung spricht für ihn vielmehr eine geschichtlich-endliche Ausprägung einer Seinsmöglichkeit aus, wie sie sich in unserer Technik-Welt zeigt, deren ganze Wirklichkeit auf Bemächtigung des noch nicht Bemächtigten, auf Aufhebung aller von der Natur gesetzten Schranken hinausläuft. Natürlich sieht Heidegger eine Pluralität der Machtwillen, was immer wieder an seiner Redeweise von „Widerständen" erkennbar ist. Macht „entfaltet sich dort ins Höchste, wo Widerstände sind"; derartige „Hindernisse" sind als solche, „auch wenn noch nicht .genommen', doch schon wesenhaft von der Bemächtigung übergriffen. Deshalb gibt es für das Seiende als Willen zur Macht keine Ziele außerhalb seiner, zu denen es fort- und wegschreitet" .40 Nur weil die Vielzahl von Machtwillen immer im Einflußbereich der Macht liegt, meint Heidegger allgemein von -

35 36 37 38 39 40

M.

Heidegger, Nietzsche, Bd. II, 298. Ebd., Bd. II, 299. Vgl. M. Heidegger, Heraklit, in: Gesamtausgabe, Bd. 55, 384. M. Heidegger, Nietzsche, Bd. II, 299. Siehe dazu z. B. das Nachwort von „Was ist Metaphysik?" sowie Holzwege, 216. M. Heidegger, Nietzsche, Bd. II, 284 f.

-

258

Ralf Elm

ihrem Willen sprechen zu können. Natürlich ist ihm klar, daß in jedem Willen zur Macht stets etwas bestimmtes gewollt ist und nicht nur Macht an sich. Aber wenn wir etwa, so heißt es in der Heraklit-Vorlesung,41 in Oslo einen Vortrag halten wollen und dafür den Wagen oder das Flugzeug benutzen, so wollen wir natürlich die Macht der PS dieser Verkehrsmittel. Und wenn wir analog heute etwas schreiben oder sonstige konkrete Absichten verfolgen, dafür aber die weltweite Computer-Vernetzung der PC's nutzen, so wollen wir natürlich in eins mit dem Konkreten die Macht seiner Erfüllung, überdies die immer weitergehende Aufhebung noch verbleibender Grenzen. Angesichts dieser Situation ist Heidegger um eine neue Offenheit bemüht, indem er radikal zeigt, daß der Wille zur Macht eben hinsichtlich seines Ursprungs und geschichtlichen Werdens seiner selbst überhaupt nicht mächtig ist. Und interessanterweise drückt sich das auch in bestimmten Äußerungen Nietzsches, ja sogar in diesbezüglichen Überlegungen Müller-Lauters aus. Am Ende seines Aufsatzes über Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht zitiert er Überlegungen Nietzsches, nach denen der „Ursprung der Gedanken uns selbst verborgen bleibt", und führt dazu aus: „Der Mensch ist eine so komplexe Machtorganisation, daß er nicht mehr erfahren kann, was ihn ,im Grunde' treibt. Er ist Interpretation, aber als ,Wille des Menschen' ohnmächtier wird interpretiert. Er ist Wille zur Macht, aber ger Wille zur Macht hinsichtlich seiner Selbstkonstitution",42 so daß nur noch die Wendung zum „amor fati" bleibt. Dann aber kann der Wille zur Macht so meine These weder das Ur-faktum der Geschichte noch überhaupt das letzte Faktum sein, zu dem wir herunterkommen wie Nietzsche es ursprünglich beansprucht hat -, sondern der Wille zur Macht selbst unterliegt der Macht der Geschichte als dem Sein in seiner Geschichtlichkeit, das das ,im Grunde' treibende ist. -

-

-

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-

41 42

M. Heidegger, Heraklit, 106. W. Müller-Lauter zit. nach J.

Salaquarda (Hg.), Nietzsche,

Darmstadt 1980,

234-287, hier 281.

Rainer Otte

auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend ..." Körper und Sprache in Nietzsches Netz der Aufklärung „...

Keine Zeitung und kein Fernsehmagazin läßt sich heute die Geste des Alles- oder Besserwissers entgehen, wenn der Körper in das Netz der Aufklärung eingespannt wird. Längst ist der medizintechnische Blick auf seine inneren Strukturen und Abläufe zum Allgemeingut geworden. Vor den Bildschirmen nehmen wir teil an den Wunderwelten neuer Technologien. Wie U-Boote bewegen sich stecknadelkopfgroße Ultraschallsonden und Miniaturkameras durch die Labyrinthe des Leibes. Nuklearmedizinische Großgeräte blättern ihn auf wie ein Buch ohne sieben Siegel. Der Text der Gene kann entziffert, kopiert und umgeschrieben werden. Je mehr die High-Tech-Medizin weiß, um so unsicherer werden viele. Was haben diese technischen Glanzleistungen mit dem Wunsch nach einem erfüllten, selbstbestimmten Leben zu tun? Lassen sich diese Aufklärungen überhaupt in einem Atemzug nennen mit dem Ausdruck von Schmerzen, Hoffnungen, Gefühlen und Inspirationen? In der Wissenschaft scheint alles in ein klares, sachliches Licht gerückt, nur die Laien stehen zumeist in seinem Schlagschatten. Ihr Befinden ist nicht unbedingt identisch mit dem Befund des Arztes. Aber was ist es dann ein subjektiver Irrtum mehr in einer Welt der objektiven Aufklärungen? Oder erhält sich der Leib gar Rudimente einer eigenen Sprache, vielleicht sogar einer eigenen Vernunft, die mit den Apparaten Versteck spielen? Diese aktuellen Bilder und Fragen mögen sich aufdrängen, wenn man heute nach dem Verhältnis fragt, das die Aufklärung zum Körper finden kann. Nietzsche ist nicht unser Zeitgenosse, er weiß nicht, was eine Kernspintomographie ist, und die Ärzte seiner Zeit hätten an ein Wunder geglaubt, hätten sie dieses Instrument zur Diagnostik des Patienten Friedrich Nietzsche einsetzen können. Der Blick zu Nietzsche ist dennoch mehr als ein archivarischer Rückblick. Er ist Diagnostiker von Weichenstellungen, die sowohl die Entwicklung der Medizin als auch des Verhältnisses von Leib und Aufklärung zum Thema machen. Womöglich kennzeichnen seine Einsichten und Fragen immer noch ein Stück Zukunftsphilosophie, ein Versuchen des Kommenden. Da das lateinische Wort für Versuch, exagium, in der Absichtserklärung der Essayistik steckt, ist auch dieser Text ein Essay. -

Die Träume der Harmonie Die

Epoche der Aufklärung hat ein Denken und eine Lebenspraxis vorbereitet, die ihre Dignität zumeist in einer Frontstellung gegen die Leidenschaften und die Leiblichkeit des Menschen entfaltet haben. Legitimiertes Wissen distanzierte sich von unmittelbarer Erfah-

260 rung;

Rainer Otte es

wurde methodisch gewonnen und theoretisch firmiert. Eine technizistische An-

thropologie, die ihr Heil in Quantifikationen suchte, umklammerte den Leib. Doch trotz aller Distanzierungsversuche im Zeichen von Definitionen und Deduktionen ist der Leib ein bedrohlicher Kern geblieben. Seine irritierenden Äußerungen, in der Aufklärungsphilosophie oft genug als unkontrollierbar und unbewußt beschrieben, zeigten eine Grenze der Beherrschbarkeit auf. Friedrich Nietzsche sollte

zum

kritischen Theoretiker dieser fehlschla-

genden Domestizierung werden.1

In der besten aller Welten leben Menschen aus Fleisch und Blut nicht, resümiert Nietzsche. Ginge der Traum des Gottfried Wilhelm Leibniz, der über allen widerstreitenden Kräften die unsichtbare Hand der moralischen Harmonie walten sah, für Nietzsche in Erfüllung, so wäre nicht einzusehen, warum dieser die „Jasager" gerade unter den Immoralisten suchte und von „Schluckern und Muckern", den Repräsentanten einer moralisch domestizierten Welt,2 nichts hielt. Konsequente Moralisten hätten stets die Welt verneint und verachtet. Ihre kranke Vernunft war so herzlos wie leibfeindlich. In scharfem Kontrast zu Nietzsches kritischen Bilanzen der Aufklärung steht Leibniz' Versöhnungswerk zwischen Moral und Physis:3 Leib und Seele folgen zwar ihren eigenen Gesetzen und sind doch wie zwei Uhren im Gleichtakt synchronisiert.4 In der Welt der prästabilierten Harmonie sollte alles einen geregelten, verständigen Gang gehen. Leibniz' System des Universums regulierte sich selbst im Sinne eines höheren Auftrages. An die Spitze dieser Bewegung traten die Seelen und dies um so mehr, als sie den Plan bewußt erkennen konnten und nicht nur unbewußt auszuführen hatten. Ihre Vereinigung in einem metaphysischen Gottesstaat erwies einem lächelnden Gott die Ehre. Leibniz konnte es sich gar erlauben, Gott die laufenden Weltgeschäfte aus der Hand zu nehmen und ihn in die wohlverdiente Pension zu schicken. Er hatte nichts mehr zu regeln. Die Ordnung der Welt brauchte keine außerterrestrischen Eingriffe oder Korrekturen. Regelverletzungen waren in diesem System der konsistenten Gesetzgebungen nicht zu befürchten. Wo sich die alles durchdringende Harmonie selbsttätig und ausgleichend realisierte, waren größere Reparaturarbeiten am Procederé des Lebens per definitionem unnötig.5 Leibniz' Optimismus blieb auch angesichts der Ergebnisse der Statistiken menschlichen Unglücks ungebrochen, deren Anlegung dieser universal gebildete Denker engagiert vorantrieb. In den Bevölkerungs-, Krankheits- und Sterbelisten wurden Leid und die gar nicht beneidenswerte Existenz der Menschheit sichtbar.6 Die Mathematik des sozialen Körpers erbrachte beunruhigende Gegenargumente, die das Harmonieversprechen der Theorie eines Schlechteren belehren konnten. Die Bearbeitung dieser Widersprüche nahm in Leibniz' Werk unter dem Stichwort der Theodizee bekanntlich eine Zentralstelle ein. -

Vgl. H. Schipperges, Am Leitfaden des Leibes. Zur Anthropologik und Therapeutik Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1975. 2 F. Nietzsche, Götzendämmerung. Moral als Widernatur, § 6. 3 G. W. Leibniz, Betrachtungen über die Lebensprinzipien, in: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Bd. II, 6. Aufl., Hamburg 1966, 65 ff. 4 G. W. Leibniz, Die Monadologie, in: ebd., 454. 5 Vgl.: G. Canguilhem, „Die Herausbildung des Konzeptes der biologischen Regulation im 18. und 19. Jahrhundert", in: Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie, Frankfurt a.M. 1979, 93. 6 G. Rosen, „Die Entwicklung der sozialen Medizin", in: H. U. Deppe u.a. (Hg.), Seminar: Medizin, Gesellschaft, Geschichte, Frankfurt a.M. 1975, 81. Vgl. ferner: W. Lepenies, „Renaturalisierung: Meteorologie und Medizin", in: Das Ende der Naturgeschichte, Frankfurt a.M. 1978, 88 ff. 1

„auf dem Rücken

eines

Tigers

in Träumen

hängend"

261

Die Rechtfertigung Gottes angesichts einer Welt der physischen Übel und Gebrechen war nicht an eine bloß argumentative Verteidigungslinie gebunden. Sie hatte ein praktisches Programm im Gefolge, das die Welt der Erniedrigten und Beleidigten ansprach, ja einen Sinn im Schlechten erhellen sollte, der es zumindest in sein denkerisches Gegenteil transformieren konnte. Leiden hatte nur dann keinen Lohn, wenn es aus schlechtem Willen selbst zu verantworten war und somit den Charakter der Bestrafung trug.7 Für moralisch integre Menschen hingegen hielt Leibniz' Philosophie verheißungsvolle Perspektiven bereit. Der Begriff der Kompensation, der später vor allem in der Psychoanalyse Alfred Adlers heimisch werden sollte, entstammt dem „argumentanven Gottesverteidigungsetat [...] der Theodizee. [...] Leibniz, ihr Erfinder, betont zum Zweck der Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel in der Welt: ,Der Schöpfer der Natur hat die Übel und Mängel durch zahllose Annehmlichkeiten kompensiert [...]'."8 Widerspruch in unterschiedlichsten Tonlagen war Leibniz' Philosophie schon während der Aufklärung gewiß. Voltaires spöttische Bemerkungen in Candide oder der Optimismus offenbarten das Harmonieversprechen als einen philosophischen Scheuklappeneffekt. Voltaire entpuppte die Ausführungen des Leibniz-Anhängers Doktor Pangloß als einen Gewaltstreich, unter dem die Würde des Individuums und die Realität einer widerspenstigen Welt zugrunde gehen mußten. Die Philosophie der prästabilierten Harmonie mißbraucht die Welt als Material für argumentative Schachzüge. Das gelehrte Resümee des Doktor Pangloß angesichts des Erdbebens von Lissabon und unzähliger kriegerischer Gewalttaten ließ nur der Verkennung der Realität Raum: Alles dies ist unerläßlich', erklärte der einäugige Doktor, ,auf dem Unglück einzelner baut sich das Wohl der Allgemeinheit auf, so daß also das Glück der Gesamtheit um so größer ist, je mehr privates Unglück es gibt'."9 Voltaire hat in dieser Erzählung den Wendepunkt charakterisiert, an dem die Philosophie der Weltharmonie in die Rechtfertigung ihres Gegenteiles umschlagen konnte. Ließ sich aus der Verteidigungsrede des Doktor Pangloß nicht geradezu eine Apologie von Mißständen herauslesen? Denker der Aufklärungsepoche wie der Marquis de Sade und Bernard Mandeville sollten die Konsequenz ziehen. Der Marquis baute sein menschenverachtendes Sodom nach dem biologischen Klassifikationssystem von Linné auf: Jede körperliche Regung der Verdammten unterliegt einer rationalen Kontrolle. Wer sich dieser fatalen Maschinerie entzieht, wird mit drastischen Strafen bedroht.10 Die Physik des Sozialen wird zur anonymen Macht, die ihre Durchsetzungskraft letztlich der Sprache verdankt. Sie schreibt Gesetze vor, sie brennt Zeichen in die Haut, sie macht sich Geist und Körper durch ein „,

rigides Regime gefügig.11

Der Arzt Bernard Mandeville ein erfahrener Diagnostiker von Hypochondrien und gab die Losung aus, daß private Laster und öffentliche Tugend zwei Seiten derselben Medaille sind. „Sittenreine und hochanständige Menschen" verfolgen nur das Ziel, die Wirkungen des Naturtriebes im Körper zu verdrängen. Daraus resultiert eine fatale und

Hysterien

-

-

7

8

9 10 11

G. W. Leibniz, Die Theodizee, 2. Aufl., Hamburg 1968, 143. O. Marquard, „Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts", in: Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, 43. Voltaire, Candide oder der Optimismus, in: Sämtliche Romane und Erzählungen, Bd. I., 2. Aufl., Birsfelden/Basel 1982, 191. Vgl. R. Barthes, Sode, Fourier, Loyola, Frankfurt a.M. 1974, 27. T. W. Adorno u. M. Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, 6. Aufl., Frankfurt a.M. 1979, 86.

Rainer Otte

262

andauernde physiologische Selbstdestruktion.12 Mandevilles Diagnosen zeigen eine überraschende stilistische und inhaltliche Nähe zu Nietzsches Einsichten, der in der herrschenden Moral die Tendenz zur Verneinung des Lebens brandmarkte.13 Diese Dialektik der Aufklärung, als deren herausragende Therapie die Psychoanalyse Freuds anzusehen ist, ist keine Erfindung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Ihre Traditionslinien verlaufen zurück in die Selbstthematisierung der Aufklärung, freilich nicht ohne sich Nietzsches Diagnosen zum Vorbild zu nehmen. Erstaunlicherweise hat Leibniz in Friedrich Nietzsche, der den Lobgesang der prästabilierten Harmonie stets mit Dissonanzen anzureichern wußte, keinen strengen Kritiker gefunden. Nietzsche sah in Leibniz vor allem den Denker, dessen „vorausfliegender Argwohn" den Begriff des Unbewußten in seine Rechte eingesetzt hat.14 „.Unsere innere Welt ist viel reicher, umfänglicher, verborgener', so empfinden wir mit Leibniz [...]."1S Zwar schmälerte Nietzsche Leibniz' Ruhm dadurch erheblich, daß er ihn in die Reihe der „unbewußten Falschmünzer"16 einordnete. Dennoch gebührt Leibniz in der Geschichte der Lehre des Unbewußten und damit ebensogut in der Genese der Psychoanalyse ein Ehrenplatz. Im April 1687 schrieb dieser an Arnauld: „Es wäre in der Tat zu wünschen, daß die Mediziner es sich zur Aufgabe machten, diese Art von verworrenen Empfindungen, die wir von unserem Körper haben, genauer zu untersuchen."17 Leibniz verankert die Idee, die Aufklärung des Unbewußten sei ein integraler Bestandteil der Heilkunde, in seinen medizinischen Programmen. Er, der auf methodische Strenge durchaus große Stücke hielt, legte in Hinsicht auf die medizinische Forschung ein auf den ersten Blick verwirrendes Programm vor, das die Bezeichnung „Polypragmatismus" verdient: Instrumente wie das Mikroskop und das Thermometer sind zu benutzen. Medizinalstatistiken stellen methodisch reflektierte Erfahrungswerte zur Verfügung und bilden die Grundlage der Anamnese. Die habituelle Lebenspraxis der Patienten muß untersucht werden. Der Arzt soll ein Musterbeispiel an bewußten Sinneswahrnehmungen sein; er trainiert seinen Körper zu höchster Sensibilität. Das vorhandene Heilwissen soll gesammelt und bewertet werden, wobei frei nach Paracelsus auch Marktschreier und „alte Weiber" zu hören sind. „Man muß den menschlichen Körper mit allen minutiis auffs aller gnauste nach poussiren laßen. Umb allezeit gleichsam eine lebendige anatomi vor sich zu haben. Were weit beßer als die gemalde zu Copenhagen und Helmstädt."18 Aufklärung, die sich dem lebendigen Leib nähert, scheint zunächst ihre theoretische Stringenz in Frage stellen zu müssen. Selbst die Angebote der Quacksalber könnten ja noch das sprichwörtliche Quentchen Wahrheit enthalten. Die Grundlegung dieser Empfehlungen entwickelte Leibniz in der Monadologie. Den Körper konzipierte er als ein Konglomerat von Topologien, die sich verschränken, überlagern und selbsttätig ordnen. Der Blick durch das Mikroskop stand Pate bei der Entwick-

-

12 13 14 15 16 17 18

B. de Mandeville, Die Bienenfabel, hg. v. E. Euchner, Frankfurt a.M. 1980, 185. F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie. Versuch einer Selbstkritik, § 5. F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, § 354. Ebd., § 357. F. Nietzsche, Ecce homo. Der Fall Wagner, § 2. G. W. Leibniz, Brief an Arnauld vom April 1687, in: Hauptschriften, 234. F. Hartmann, M. Krüger, „Directiones ad rem Medicam pertinentes", in: StudiaLeibnitiana, Bd. VIII, Wiesbaden 1976, 53. Vgl. auch: K. H. Weimann, Leibniz und die medizinischen Strömungen seiner Zeit (Studia Leibnitiana, Sonderheft 7), Wiesbaden 1978, 143 ff.

„auf dem Rücken

eines

Tigers

in Träumen

263

hängend"

dieser neuen philosophischen Sichtweise. Leib und Seele sind in vielfältigen Relatiomiteinander verbunden. Wahrnehmen und Handeln bauen auf einer Vernetzung auf, die sowohl in theoretischer als auch in pragmatischer Hinsicht letztlich undurchschaubar bleibt:

lung nen

„Man sieht hieraus auch, daß die Perzeptionen unserer Sinne, selbst dann, wenn sie klar sind, notwendig eine Art verworrener Empfindung einschließen müssen, denn da die Körper des ganzen Universums miteinander in Verbindung stehen, so empfängt der unsre Einwirkungen von allen andren, und wenngleich unsre Sinne sich auf alles beziehen, so ist

es

doch nicht

möglich,

daß

unsre

Seele auf alles im besonderen achthaben

kann."19

Die Monaden haben keine Fenster nach außen. Sie erzeugen die ganze Welt in einem System innerer Vorstellungen, bewegt durch den Trieb. Ihre Interaktionen sind hierarchisch gegliedert: Wenn eine Monade eine andere mit gesteigerter Klarheit perzipiert und damit auch repräsentiert -, so gewinnt sie dadurch eine überlegene Stellung. Der Zusammenschluß von Monaden zu organischen Einheiten verdankt sich eben dieser Leistung, da Leibniz eine direkte physische Verkettung als Erklärungsgrund ablehnt. Gesteigertes Bewußtsein bedeutet insofern gesteigerte Macht- und Integrationschancen. An einer qualitativen Hierarchie der leibgebundenen Affekte, wie sie Nietzsche später zu entwickeln versucht, ist Leibniz wenig gelegen. Die Rollen sind bereits verteilt. Trieb und Leib agieren zwar auf der Bühne, Hauptrollen haben sie indes nicht. Trotz der eingestandenen Autonomie dieser Subsysteme bleiben sie im Falle des geglückten Lebens nur Beiträger zum Erkenntnisheil der Seele. Unschwer lassen sich bei Nietzsche Ansätze finden, die darauf aus sind, die Dramaturgie des Leibnizschen Schauspieles vom Kopf auf die Füße zu stellen. In seinem berühmten Aphorismus aus Jenseits von Gut und Böse verknüpft er die Lehre von Leibniz mit einer kritisch gewendeten Einsicht Schopenhauers: „Unser Leib ist ja nur ein Gesellschaftsbau vieler Seelen [...] Bei allem Wollen handelt es sich schlechterdings um Befehlen und Gehorchen auf der Grundlage, wie gesagt, eines Gesellschaftsbaues vieler .Seelen' [...]."20 An die Stelle der Steigerung des Bewußtseins, die Leibniz in einer Graduierung vom bloßen Dahindämmern über verworrene Vorstellungen bis hin zum klaren Bewußtsein Gottes entwickelt, treten bei Nietzsche Befehle und Gehorsam kurz Machtverhältnisse. Auch geistige Kommandos werden bei ihm das verräterische Muskelzucken nicht los. Diese kritische Konvergenz offenbart beileibe nicht das einzige Thema, das Nietzsche mit Leibniz teilt. Leibniz ist wie Nietzsche der Denker der Perspektivität. Vereinzelte Monaden fokussieren Weltbezüge. Der Philosoph des Rationalismus spielte, wie Karl-Otto Apel aufgewiesen hat, zeitweilig durchaus mit der Idee eines „Leib-Aprioris". Seine verstreuten Ansätze, ein pluralistisches Universum auf dieser Basis zu denken, gerieten allerdings in Widerspruch mit der theologischen Fundierung seiner Philosophie. Leibniz konzipierte nach der Analyse Apels sein System der Monadologie letztlich von einem exzentrischen Standpunkt her.21 Helmuth Plessner kennzeichnet dieses Spannungsverhältnis mit den Worten: -

-

19 20 21

G. W. Leibniz, Metaphysische Abhandlung, in: Hauptschriften, 182. F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, § 19. K.-O. Apel, „Das Leibapriori der Erkenntnis", in: H.-G. Gadamer u.a. Bd. 7., 2. Teil, Stuttgart 1975, 269.

(Hg.),

Neue

Anthropologie,

264

Rainer Otte

„Diese Idee [des Absoluten als Weltgrund] aufgeben, heißt aber die Idee der Einen Welt

aufgeben. Selbst Leibniz vermochte den Gedanken des Pluralismus nicht völlig konsequent auszugestalten und den Begriff einer Zentralmonade zu entbehren."22 In seiner Auseinandersetzung mit der Philosophie des Unbewußten greift Nietzsche wiederholt auf die Inhalte der Debatten der Aufklärung und somit auch auf die Fragen des Werkes von Leibniz zurück. Er läßt seine Leser allerdings im unklaren darüber, ob sich seine eigenen Ansätze in der Auseinandersetzung mit den Aufklärungsphilosophien gebildet haben oder eher dem Umkreis der Schopenhauer-Kritik zugehörig sind. Nietzsche formuliert sein kongeniales Gegenprojekt bereits in der Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne:

„Was weiß der Mensch eigentlich von sich selbst! Ja, vermöchte er auch nur sich einmal vollständig, hingelegt wie in einen erleuchteten Glaskasten, zu perzipieren? Verschweigt die Natur ihm nicht das allermeiste, selbst über seinen Körper, um ihn, abseits der Windungen der Gedärme, dem raschen Fluß der Blutströme, den verwickelten Fasererzitterungen, in ein stolzes, gauklerisches Bewußtsein zu bannen und einzuschließen! Sie warf den Schlüssel weg; und wehe der verhängnisvollen Neubegier, die durch eine Spalte einmal aus dem Bewußtseinszimmer heraus und hinabzusehen vermöchte, und die jetzt ahnte, daß auf dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend. Woher, in aller Welt, bei dieser Konstellation der Trieb zur Wahrheit?"23 In Nietzsches Metapher vom Hängen auf dem Tiger droht der Körper dem Geist einen unsanften Untergang an, vor allem, wenn es ein Leibnizscher Geist ist, der auf die harmonische Integration seiner Subsysteme blind vertraut. Nietzsches Philosophie der Brüche und der Diskontinuitäten destruiert die Anmaßung der Seele, im eigenen Haus Herr sein zu können, um es sich nach Lust und Laune gemütlich einzurichten. Es ist hier nicht einmal klar, ob der verstohlene Blick auf den Körper im Glaskasten überhaupt wünschenswert ist. Dagegen verdeutlicht Nietzsche mit starken Worten, daß selbst die Position des Reiters, der ja immer noch Richtungen vorschreiben kann, obsolet ist; auf dem Tiger hängt man nur

schlapp, apathisch, ausgeliefert.

-

Nietzsche wiederholt nun in seiner Metaphorik ein Denkexperiment, das Leibniz in der Monadologie beschrieben hat. Auch der rationalistische Philosoph wagte den Abstieg der Philosophie in den Körper. Gemäß der Grundlegung der zeitgenössischen Mechanik sah Leibniz überall Röhren, die Druck führen, Zahnräder, die unablässig Bewegung weitergeben, und feste Teile, die in einer verwirrenden Komplexität interagieren.24 Der Betrachter findet keinen Ruhepunkt. Er kann kein Zahnrad herausnehmen und gesondert untersuchen, ohne die ganze Bewegungskette mit tödlichem Effekt zu unterbrechen. Das Spiel der Wiederholungen, Schichtungen, Transformationen und Distributionen enthüllt ihm nicht, wel-

22 23 24

H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin 1975, 346. F. Nietzsche, „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne", in: Unzeitgemäße Betrachtungen, 6. Aufl., Stuttgart 1976, 607. Vgl. G. W. Leibniz, Die Monadologie, 439 und: G. W. Leibniz, Betrachtungen über die Lehre von einem einigen, allumfassenden Geiste, in: Hauptschriften, 58.

„auf dem

Rücken eines

Tigers

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hängend"

265

chem Ziel die Ordnungen dienen. Die Einsicht in die Zweckbestimmung muß aus anderer Quelle fließen. Vor allem jedoch ist es ein folgenreicher Punkt, auf dem Leibniz insistiert: Der Ursprung der Triebenergie, die alles bewegt, bleibt dem Blick verborgen. Zur Selbsterkenntnis des Beobachters trägt das Gedankenexperiment der Reise durch den aufgeklärten Körper nicht viel bei. Das Bewußtsein und der Trieb lassen sich aus der Sichtung der Maschinerie nicht erklären.25 Bedeutet dies nicht, daß der Mensch im unklaren über seine untergründig wirkenden physiologischen Bezüge gelassen wird und daß somit jegliche Hoffnung auf Erkenntnis zugrunde geht, wenn die Existenz der Leibnizschen Hauptmonade Gott sich im Angesicht der Kritik als eine Erfindung erweist, die dem Leben übel gesonnen ist? -

In

wessen

Namen

lügen wir?

Die kleine Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne greift in die Auseinandersetzungen im Gefolge der Philosophie der Aufklärung ein. Nietzsche schlägt sich bereits in seinem Auftaktakkord auf die Seite von Voltaire. Seine Eingangssätze entfalten eine Kosmologie in nuce:

„In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahlreichen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der ,Weltgeschichte': aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben."26 Die Fabel ist nicht ohne historisches Vorbild. Voltaire läßt seine „naturphilosophische Erzählung" Mikromegas mit den Worten beginnen: „Auf einem der Planeten, die um den Fixstern Sirius kreisen, lebte ein geistig hochbegabter junger Mann. Ich hatte die Ehre, ihn

auf seiner letzten Reise nach unserem kleinen Ameisenhaufen kennenzulernen."27 Seine körperliche Existenz wird zum Anlaß, alle Wissenschaften und Künste der Zeit aufzubieten: Acht Meilen ist er groß. Voltaire macht sich einen satirischen Spaß daraus, die Algebraiker die Größenordnungen seiner Umwelt berechnen und die Künstler ihre Proportionen gestalten zu lassen. Der quantifizierende Aspekt der Aufklärung erleidet einen ironisch inszenierten Schiffbruch. Natürlich weiß der Planetenbewohner viel und hat, ähnlich wie Nietzsches kluge Tiere, „gar manches selbst erfunden".28

25

Vgl. G. W. Leibniz, „Von dem, was jenseits der Sinne und der Materie liegt. Brief an die Königin Sophie Charlotte von Preußen" [1702], in: Hauptschriften, 421: „Ebenso unmöglich ist es, das Bewußtsein aus irgendeiner Maschinerie, welcher Art sie auch sein möge, zu erklären."

Nietzsche, „Über Wahrheit", 605. Voltaire, Mikromegas, in: Sämtliche Romane und Erzählungen, 138. Zur Verknüpfung von Nietzsches Text mit Vorbildern der Aufklärungsphilosophie vgl. G. Ungeheuer, „Nietzsche über Sprache und Sprechen, über Wahrheit und Traum", Nietzsche-Studien 12 (1983), 181 ff. 28 Voltaire, Mikromegas, 139.

26 27

F.

Rainer Otte

266

Nun verschlägt es den Riesen auf die Erde. Zu seinem Erstaunen sieht er, wie die mikroskopisch kleinen Wesen, die Menschen, miteinander sprechen. „Um sprechen zu können, muß man denken, jedenfalls beinahe denken. Dachten die Stäubchen aber, so mußten sie so etwas wie eine Seele haben; und so etwas wie eine Seele dieser Gattung zuzuschreiben, erschien ihm reichlich albern."29 Bei der Entdeckung der Menschen durchleben Mikromegas und sein Begleiter vom Planet Sirius ein wahres Wechselbad der Gefühle. Er bewundert ihre Klugheit und steht fassungslos vor ihren Kriegen. „Mich kommt wahrlich die Lust an, drei Schritte zu machen und mit drei Fußtritten diesen ganzen Ameisenhaufen lächerlicher Mordgesellen zu zerstampfen. „Geben sie sich nicht die Mühe", lautet die Antwort, „sie arbeiten selbst genug an ihrem Untergang".30 Aus Mitleid befragen die Besucher die Weisen der Welt. Sie jedoch wissen auf die Frage, wie die Seele ist und woher die Gedanken kommen, nur die Lehren von Aristoteles, Descartes, Malebranche, Leibniz und Locke zu zitieren. Philosophische Positionen werden aufgeboten, nach Thomas von Aquin sei das ganze Universum nur zu Nutz und Frommen der Menschen da. „Bei dieser Bemerkung fielen unsere beiden Reisenden einer auf den anderen. Sie erstickten beinah vor nicht zu unterdrückendem Lachen, das nach Homer das Erbteil der Götter ist."31 Nietzsche lacht mit. Auch er stellt seiner Schrift einen extraterrestrischen Prolog voran, der allerdings nicht mehr, wie in Goethes Faust, ein Prolog im Himmel genannt werden kann. Die Dimensionen seiner Fabel sind erdgebunden, die daraus entwickelte Einsicht ist es ebenfalls. Im Spiel der Dimensionen nimmt Nietzsche keine Zuflucht zu Voltaires Blick durch das Fernrohr oder zu Leibniz' mikroskopischen Betrachtungen. Der menschliche Körper wird ihm zur tragenden Größendimension. Doch er rückt nicht in die Position des Musters aller Werte oder gar zum archimedischen Punkt des Universums: „Könnten wir uns aber mit der Mücke verständigen, so würden wir vernehmen, daß auch sie mit diesem Pathos durch die Luft schwimmt und in sich das fliegende Zentrum dieser Welt fühlt."32 Wie sähe der philosophische Kosmos aus, wenn Leibniz eine Mücke gewesen wäre? Nietzsche unterstellt den Mücken geradezu eine Vorliebe für die perspektivische Philosophie von Leibniz, die sich durchaus nicht scheut, den Leib als „point de vue" in der Mitte der Weltentwürfe zu postieren. Nietzsches stilistisch glanzvolle Einleitung läßt erwarten, daß sich eine Auseinandersetzung anschließt, in der sich alles um das Verhältnis zwischen Natur und Vernunft, und damit um das Zentralthema der Aufklärungsphilosophie, dreht. Doch diese Debatte führt er nicht; die Namen Leibniz und Voltaire fallen nicht. Die kosmologische Perspektive, mit der Schopenhauer die Ergänzungen zum ersten Buch von Die Welt als Wille und Vorstellung eröffnet, klingt bei Nietzsche zwar an, wird jedoch ebenso links liegen gelassen. Schopenhauer schreibt: „Im unendlichen Raum zahllose leuchtende Kugeln, um jede von welchen etwan ein Dutzend kleinerer, beleuchteter sich wälzt, die inwendig heiß, mit erstarrter, kalter Rinde überzogen sind, auf der ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat: dies ist die empirische Wahrheit, das Reale, die Welt."33 "

-

-

29 30 31 32 33

Voltaire, Mikromegas, 152. Ebd., 157. Ebd., 160. F. Nietzsche, „Über Wahrheit", 605. A.

Schopenhauer,

Die Welt als Wille und

Vorstellung,

Bd.

2, Wiesbaden 1972, 3.

„auf dem

Rücken eines

Tigers

in Träumen

hängend"

267

Nietzsche hält es nicht für nötig, die narzißtische Kränkung der Menschheit von neuem begründen. Er setzt sie mit der Eingangsfabel in Szene. Die wortreiche Vorgeschichte dieser Desillusionierung ist lediglich indirekt, im Charakter der Verweise, aufweisbar. Nietzsche verzichtet ebenfalls darauf, den Voltaireschen Sarkasmus gegen Leibniz' prästabilierte Harmonie ins Feld zu führen oder sich explizit unter das Dach von Schopenhauers Willensmetaphysik zu stellen. Der junge Denker will kein Prophet eines neuen Weltmodells sein, das schöner, wahrer und besser als die früheren wäre. Kritiker will er sein, und das eben in einem höchst eigenwilligen Sinne. Die „Unwahrheit als Lebensbedingung"34 wird zum Grundstein seines polemischen Essays. Allein diese Entscheidung entlastet ihn von philosophischen Pflichtübungen auch wenn der Leser sich daran erinnert fühlt, daß sich der Spruch „Alle Kreter lügen" nicht gut im Munde eines Kreters macht. Müssen wir lügen? Nietzsche beginnt seinen Essay durchaus im Sinne frommer Traktate. Da wird dem Intellekt die Neigung zur eitlen Täuschung und zur schamlosen Verstellung zugeschrieben, wenn es um die Sicherung des eigenen Vorteiles geht. Doch die seit Piaton endlos kolportierte Antithese, doch einfach die Wahrheit vorzuziehen, auch wenn sie schmerzhaft ist und Verluste bringt, greift nicht mehr. Am Wendepunkt seines Textes beruft sich Nietzsche nicht auf das Treppchen des Geistes, das vom Körper weg direkt in den Himmel der Ideen oder der Metaphysik führt und für entgangenen Gewinn in metaphysischer Münze reich entschädigt. Entscheidend ist, daß Nietzsche eine neue Betrachtungsebene einführt, in der die festgefügten Metaphern, die ungedeckten Wechsel der Sprache, die großen Täuschungen soufflieren: zu

-

„Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind ,.."35 Nietzsches Radikalität kann trotz der stilistischen Originalität keinen Anspruch darauf erheben, als Geniestreich in die philosophischen Annalen einzugehen. In Leibniz' Werk tritt uns eine inhaltsreiche Sprachphilosophie entgegen, die sehr wohl in der Lage ist, diese prekären Leistungen der Sprache zu analysieren. Die Zeichen der Sprache disziplinieren die leibgebundene Einbildungskraft. Aus dieser Aufgabenstellung resultieren mannigfaltige Anfechtungen. Leibniz' Monaden sind durch Vorstellung und Streben definiert. Ein unbewußtes, gar triebhaftes Streben kann die Ordnung der Sprachzeichen durcheinanderbringen, indem es symbolisch-assoziativen Verkettungen folgt und damit die Souveränität der bewußten

Sprache untergräbt.

Worten begreift Leibniz als Fälschung eines Wechsels.36 Diese Verschiebungen und Vertauschungen ordnet er in einer Typologie:

Den Mißbrauch

unbewußten

34 35 36

von

F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, § 4. F. Nietzsche, „Über Wahrheit", 611. Vgl. G. W. Leibniz, Unvorgreifliche Gedanken, schen Sprache, in: Hauptschriften, 521.

betreffend die Ausübung und Verbesserung der teut-

268

Rainer Otte

„Zu dieser Sprachverwirrung hat auch das affektierte Streben nach Eleganz und gutem Ausdruck viel beigetragen; denn um die Gedanken auf eine schöne und angenehme Weise auszudrücken, trägt man kein Bedenken, den Worten, vermöge einer Art Tropus, einen Sinn zu geben, der von dem gewöhnlichen etwas abweicht: einen Sinn, der entweder allgemeiner oder eingeschränkter ist, was man Synekdoche nennt, oder durch den die Beziehungen der Dinge, deren Namen man wechselt, verändert werden, was man, wenn es sich um eine Beziehung der Verknüpfung handelt, Metonymie, wenn es sich um eine Beziehung der Vergleichung handelt, Metapher nennt [...]. Diese Beziehungen wendet man für derlei Veränderungen an, wenn man sie bemerkt: aber man bemerkt sie nur sel-

ten."37

Der letzte Satz hat

es in sich. Einen sicheren Grund für die Einkleidung legitimer Erkenntnisse versprach sich Leibniz von akademisch geprägten Kunstsprachen; der Alltagssprache traute er aus den genannten Gründen nicht über den Weg. Diese Skepsis durchzieht die gesamte deutsche Aufklärungsphilosophie. Die Worte sind nicht mit den Dingen identisch und führen um so mehr auf Abwege, je stärker sie von triebhaften Strebungen dominiert werden. Diese Debatte ist eine der philosophiehistorischen Konstanten von Leibniz bis zu Kant; lediglich schwärmerische Außenseiter wie Swedenborg liebäugeln mit einer „Sprache der Engel", in der Menschen ohne jegliche Distanz und Täuschung miteinander kommunizieren können.38 Bei Immanuel Kant rücken die Irrungen und Wirrungen der Sprache in eine bemerkenswerte Nähe zur Problematik der Einbildungskraft. Sie ist dafür verantwortlich, daß Sachen und Zeichen verwechselt werden.39 Die Worte stehen zwischen der Sinnlichkeit und dem Verstand, sie sind zufälligen Ursprungs und werden höchst ungleichmäßig und unzuverlässig gebraucht.40 Leerstellen der Bestimmbarkeit öffnen dem leiblich geprägten Begehren Tür

und Tor.

Verläßliches Wissen ist deshalb nicht auf die Alltagssprache zu gründen; Kants Transzendentalphilosophie verstand sich im Gegensatz zu heutigen Bemühungen im Anschluß an Habermas und Apel eben nicht als eine sprachbezogene Theorie. Dimitrios Markis spricht in diesem Zusammenhang von einer unbewußten Sehnsucht Kants nach einer vor-diskursiven Bildersprache.41 Die Sprachphilosophie der Aufklärung führt, was bislang sträflich vernachlässigt wurde, auf die Leiblichkeit des Menschen, auf die möglicherweise lustbestimmte Einbildungskraft und auf die sich daraus ergebenden Unscharfen der Diskurse zurück. Arthur Schopenhauer hat mit der ihm eigenen rhetorischen Brillanz diese Tradition radikalisiert. Für den eifrigen Schopenhauer-Leser Friedrich Nietzsche dürften die folgenden Sätze aus der Schrift Über den Willen in der Natur folgenreich gewesen sein:

„In sehr vielen, vielleicht in allen Sprachen wird das Wirken auch der erkenntnislosen, ja der leblosen Körper durch Wollen ausgedrückt, ihnen also ein Wille vorweg beigelegt; G. W. Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Leipzig 1915, 279. 38 Vgl. H. Böhme u. G. Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a.M. 1983, 250-270. 39 I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, A 112. 40 I. Kant, Über die Deutlichkeit der Grundsätze, A 74. 41 D. Markis, „Das Problem der Sprache bei Kant", in: B. Scheer u. H. Wohlfart (Hg.), Dimensionen der Sprache in der Philosophie des Deutschen Idealismus, Würzburg 1982, 133. 37

„auf dem Rücken

eines

Tigers

in Träumen

269

hängend

niemals ein Erkennen, Vorstellen, Wahrnehmen, Denken [...]. Die Sprache dieser unmittelbarste Ausdruck unserer Gedanken, giebt Anzeige, daß wir genöthigt also, sind, jeden innern Trieb als ein Wollen zu denken; aber keineswegs legt sie den Dingen auch Erkenntniß bei."42

hingegen

Schopenhauer destruiert die Idee, eine reine transzendentale Subjektivität könne diesem Wollen und dessen unmittelbarem Ausdruck in der Sprache entkommen. Er beruft sich auf den hier zitierten Seiten vor allem auf Denker und Rhetoriker der Antike. In diesem Zusammenhang sollte man nicht übersehen, daß Friedrich Nietzsche im Wintersemester 1872/73 Vorlesungen über antike Rhetorik gehalten hat; nur zwei fachfremde Zuhörer waren ihm allerdings nach der vernichtenden Kritik an seiner Geburt der Tragödie geblieben. Nietzsche legt in Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne dem Seelensucher der Aufklärung mit dem ihm eigenen „Willen zur Wahrheit" den Körper in den Weg, läßt ihn in die Abgründe des Unbewußten stolpern und droht ihm mit der triebhaften Dynamik, die uns auf dem Rücken des Tigers hängen läßt. Die philosophische Rechtfertigung für eine eigenständige Philosophie des Leibes, jenseits des Dualismus von Körper und Geist, kann er schon aus seiner Schopenhauer-Lektüre reklamieren.43 Was folgt daraus aber für seinen Text? Nietzsche nimmt seinen „Leitfaden des Leibes" in diesem Essay als Präludium auf, legt ihn aber überraschenderweise sogleich wieder beiseite wohl im Vertrauen darauf, daß seine drastische Leibmetaphorik ausreicht, um eingebildete Geistesgröße und angemaßten Erkenntnisadel zu beschämen. Um die kritische Destruktion der tradierten Wahrheiten in Gang zu setzen, legt er die Grundlagen einer konfliktträchtigen Sprachphilosophie. Es scheint, als wollte Nietzsche die Aufklärer, die auf der Reinheit der intelligiblen Welt inmitten eines Meeres der kompromittierten Sprache bestehen, in ihrem Versteck aufspüren. Der Sprache und allem, was in ihr lebt, kann sich niemand entziehen. Bei der Entstehung der Sprache geht es, ähnlich wie Leibniz und Kant schreiben, nicht logisch zu. Ihre Gesetzgebung predigt den Kompromiß um des lieben Friedens willen. Gleiche Worte, gleiche Weltbilder, gleiche Gesetze: So wollen Menschen voreinander sicher sein und sich gegenseitig in Schach halten. Dieser pragmatische Friedensschluß läßt keine „Wahrheit", sondern Konventionen erblühen, die gern als „Erkenntnisse" mißverstanden werden. Den zuvor mit der Betrachtung von Kosmos, Körper und Mensch angeschlagenen Saiten gibt Nietzsche in seiner Sprachphilosophie einen neuen Resonanzraum. Kommt er aber sporadisch auf die Leibphilosophie im engeren Sinne zurück, so unterlaufen ihm -

merkwürdige Inkonsequenzen. Einerseits verschweige die Natur dem Menschen das Allermeiste über seinen Körper. Andererseits aber trumpft Nietzsche mit einer Sprachphilosophie auf, die sich betont physiologisch und aufklärerisch gebärdet: „Was ist ein Wort? Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten."44 Im Zusammenspiel von Nervenreizen, Bildern und Sprachlauten entstehen zwei Formen von Metaphern: „Ein Nervenreiz, zuerst übertragen in ein Bild! Erste Meta-

Schopenhauer, Über den Willen in der Natur, in: Kleinere Schriften, Bd. 1, Zürich 1977, 290 u. 293. 43 Zur Verbindung von Nietzsches und Schopenhauers Leibphilosophie siehe: J. Salaquarda, „Leib bin ich ganz und gar Zum .dritten Weg' bei Schopenhauer und Nietzsche", in: H.-M. Gerlach, R. Eichberg u. H. J. Schmidt (Hg.), Nietzscheforschung, Bd. 1, Berlin 1994, 37-50. 44 F. Nietzsche, „Über Wahrheit", 608. 42

A.

...

270

Rainer Otte

pher. von

Das Bild wieder

nachgeformt

in einen Laut! Zweite

Metapher."45 Das Konglomerat

Nervenreiz, Bild und Sprachlaut ist ein ebenso fensterloses Konglomerat wie die Vor-

stellungen der Monaden in der Philosophie von Leibniz. Die Aufkündigung der physischen Verbundenheit von Subjekt und Objekt potenziert die Trennung von Mensch und Welt. Für

Nietzsche wird sie in dieser Schrift zu einem undefinierbaren X, das sein Unwesen treibt. Die Berufung auf den Nervenreiz sucht wohl bewußt die metaphorische Nähe zu den zeitgenössischen neurologischen Studien. Sie versprechen, den Materialismus auf eine solide naturwissenschaftliche Basis zu stellen. Paul Broca lokalisiert im Jahre 1861 das motorische Sprachzentrum in der linken Gehirnhälfte. 1874, ein Jahr nach der Niederschrift von Nietzsches Essay, kann Carl Wernicke die neurologische Lokalisation der Sprachfunktionen bedeutend erweitern und präzisieren. Das Credo der neuen naturwissenschaftlichen Objektivität formulierte Emil Du BoisReymond 1842 in einem Brief:

„Brücke [Der Lehrer Freuds am Wiener Physiologischen Institut] und ich, wir haben uns verschworen, die Wahrheit geltend zu machen, daß im Organismus keine anderen Kräfte wirksam sind, als die gemeinen physikalisch-chemischen; daß, wo diese bislang nicht zur Erklärung ausreichen, mittels der physikalisch-mathematischen Methode [...] im konkreten Fall gesucht werden muß."46 Die Absichtserklärung war unmißverständlich, auch wenn sich die Physik bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erst mühsam den Status einer Leitwissenschaft erobern mußte; für die zeitgenössische Medizin galt sie als eine Hilfswissenschaft.47 Doch die Nobilitierung der Physik und vor allem ihrer theoretisch-experimentellen Komponenten wird zum Mainstream der Wissenschaftsentwicklung. Auch Sigmund Freuds Frühschrift Entwurf einer Psychologie ist Ausdruck des materialistischen und mechanistischen Denkens und Forschens.48 Freuds Werk aus dem Jahre 1888 ist deshalb von Bedeutung, weil es den so fundamentalen wie ungebrochenen Einfluß Schopenhauers auf die mechanistische Neurologie, Anatomie und Physiologie vor Augen führt. Seine Philosophie geht allerdings über die Konzeption eines Universums kausaler Verknüpfungen weit hinaus. Freuds Modell, wonach Nervenzellen im völligen Verlöschen ihrer Energie Befriedigung finden, ist eine Hommage an Schopenhauers „Nichts", die später noch unter der Terminologie des „Null-Prinzips" oder „Nirwanaprinzips" die Psychoanalyse bestimmen sollte. Die Orientierung an Schopenhauerschen Theoremen wie die Entgegensetzung eines verstandesmäßigen Kausalitätsprinzips und einer Willensmetaphysik setzt bereits mit den Werken des Physikers und Physiologen Hermann von Helmholtz ein.49 In seiner berühmten Rede „Über die Entwicklungsgeschichte der neueren Naturwissenschaften" aus dem Jahre 1869, gehalten auf der Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte, betont Helmholtz, daß die Kausalität der Naturgesetze von unserem Wollen unabhängig sei, wobei sich allerdings, „durch Worte

45 46 47 48

49

F. Nietzsche, „Über Wahrheit", 609. E. du Bois-Reymond, Jugendbriefe an Eduard Hallmann, Berlin 1918, 108. Vgl. A. Fölsing, Wilhelm Conrad Röntgen. Aufbruch ins Innere der Materie, München/Wien 1995. Vgl. T. v. Uexküll u. W. Wesiack, Theorie der Humanmedizin. Grundlagen ärztlichen Denkens und Handelns, München/Wien/Baltimore 1988, 216. Vgl. J. Laplanche, Leben und Tod in der Psychoanalyse, Olten/Freiburg i. Br. 1974, 86 ff.

„auf dem Rücken

eines

Tigers

in Träumen

hängend"

verdeckt", alte vitalistische Theorien noch immer einer ungerechtfertigten Beliebtheit

271 er-

freuen.50 Das Erbe Schopenhauers ist durch und durch unbequem. Vitalistische Theorien, denen Schopenhauer durchaus Sympathien entgegenbringt, stoßen bei Helmholtz auf rigorose Ablehnung. Das wird in seinen Polemiken gegen Liebigs Terminologie deutlich; Helmholtz greift etwa dessen Lehre von der Entstehung physiologischer Wärme als vitalistisch an. Schopenhauer indes beruft sich in seinem „Linguistik-Kapitel" in Der Wille in der Natur gerade auf diese Liebigsche Terminologie, die Worte wie „Begierde" für die Bindungskraft von Säuren benutzte.51 Seine eigenen bahnbrechenden Forschungen zur physiologischen Optik zusammenfassend, konstatiert Helmholtz in der oben genannten Ansprache, daß die Qualitäten der Sinnesempfindungen keinerlei Rückschlüsse auf ihre äußeren Objekte zulassen.52 Der später als Reichskanzler der Physik titulierte Physiker hält die Auslöschung subjektiver Unscharfen geradezu für geboten, wenn die experimentelle Physik ein intersubjektiv gültiges Wissen begründen soll.

Nietzsche hatte Helmholtz' Buch Die Lehre von den Tonempfindungen am 9.11.1870 und dessen Handbuch der physiologischen Optik am 5. April 1873 aus der Basler Universitätsbibliothek ausgeliehen. Hubert Treiber hat das umfangreiche Bildungsgut Nietzsches recherchiert und kommentiert, das ein bezeichnendes Licht auf seine Informationsbedürfnisse und Quellen in Sachen Medizin wirft. Nietzsches Freund Paul Rée hat sich in seinem Studium intensiv der Anatomie und Physiologie gewidmet. Sein Berliner Lehrer Robert Hartmann, ein Schüler des Physiologen Johannes Müller und des philosophierenden Pathologen Rudolf Virchow, hatte sich ebenso wie der letztere mit kulturanthropologischen Arbeiten hervorgetan. In Nietzsches Freundschaft mit Heinrich Romundt, der sich in Basel für das Fach Philosophie habilitieren wollte und mit Nietzsche zusammen eine Wohnung bezog, entstanden folgenreiche gemeinsame Interessen. Nach Curt Paul Janz' Darstellung ordnet sich Romundt mit seinem ausgeprägten Wissensdurst in den Naturwissenschaften und der Medizin dem jungen Professor Nietzsche

bereitwillig unter.53

Romundt leiht sich ab dem Sommer 1872 aus der Basler Universitätsbibliothek Bücher aus, deren Inhalte für Nietzsches Schriften relevant sind. Die Auswahlliste, die Hubert Treiber zusammengestellt hat, beinhaltet beispielsweise medizinische Werke von Hermann von Helmholtz, Johannes Müller, Wilhelm Wundt, François Xavier Bichat und anderen.54 An philosophischer Literatur, die eine Hinwendung zur Philosophie der Aufklärung und des Rationalismus im Kontext der Lektüre medizinischer Werke nahelegt, seien hier in einer unvollständigen Aufzählung genannt: René Descartes, Meditationes de prima philosophia, René Descartes, Principia philosophia, Kuno Fischer, Geschichte der neueren Philosophie,

v. Helmholtz, „Über die Entwicklungsgeschichte der neueren Naturwissenschaften", in: H. Autrum (Hg.), Von der Naturforschung zur Naturwissenschaft: Vorträge, gehalten auf Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Arzte, Berlin/Heidelberg/New York 1987, 47. 51 Vgl. A. Schopenhauer, Über den Willen in der Natur, 292. Zum Dissens zwischen Helmholtz und vitalistischen Theoretikern siehe: Y. Alkana, „Helmholtz' Kraft: eine Betrachtung über fließende Begriffe", in: Anthropologie der Erkenntnis, Frankfurt a.M. 1986, 136. 52 H. v. Helmholtz, „Über die Entwicklungsgeschichte", 55. 53 C. P. Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie, Bd. 1, München 1981, 204. 54 Siehe H. Treiber, „Zur Genealogie einer .Science positive de la Morale en Allemagne'", NietzscheStudien 22 (1993), 196 ff.

50

H.

Rainer Otte

272

Bd. II: Leibniz und seine Schule, Thomas Hobbes, Opera philosophica, Julien Offray de la Mettrie, Œvres philosophiques, Gottfried Wilhelm Leibniz, Opera philosophica, Baruch Spinoza, Sämtliche Werke.55 Descartes, Leibniz, Hobbes, Lamettrie und Spinoza haben bekanntlich bedeutende Ansätze zur Philosophie des Leibes und der Medizin vorgelegt. Heutige Interpreten sind geneigt, die Positionen Nietzsches zum Problem des Unbewußten auf die Ausführungen Schopenhauers oder Eduard von Hartmanns zu beziehen. Die Philosophie der Aufklärung und des Rationalismus zu übergehen hieße allerdings, eine folgenschwere Unterlassungssünde auf sich zu nehmen. Das Werk von Thomas Hobbes gibt bedeutende Hinweise über die unbewußte Produktivität des Leibes, die sich im Traum äußert und der es in diesem unkontrollierbaren Freiraum gelingt, die verpflichtenden Masken des sozialen Lebens abzulegen.56 Die weitreichenden Passagen zur Philosophie des Unbewußten nehmen im Werk von Spinoza eine systematische Debatte auf, die man seit langem zur Vorgeschichte der Psychoanalyse rechnen darf.57 Spinoza entwickelt in der Ethik, die ursprünglich den für Nietzsche und seine Freunde Paul Rée und Heinrich Romundt gewiß attraktiven Titel „Medizin" tragen sollte, eine Psychosomatik der Affekte,58 um zu einer

grundlegenden philosophischen Therapeutik

zu

kommen.59

René Descartes ist nicht allein der Vordenker einer strikten Trennung von Leib und Seele, als den ihn die Philosophiegeschichte bis auf den heutigen Tag gerne präsentiert. Er nennt die „gänzlich vom Körper Getrennten" schlichtweg „Melancholiker"60 und bemerkt in den Meditationen: „Ich konnte mich nämlich niemals von ihm [dem Körper] trennen wie von übrigen Körpern, alle Begierden und Affekte empfand ich in ihm und für ihn, und schließlich nahm ich den Schmerz und den Kitzel der Lust in seinen Gliedern, nicht aber in anderen außer ihm befindlichen Dingen wahr."61 Der abschließende Hinweis auf Lamettrie, der für den von Nietzsche hochgeschätzten Friedrich Albert Lange von großer Bedeutung ist,62 soll eine Spur legen, die sich bis in Nietzsches Werke weiterverfolgen läßt. Der Mediziner und Philosoph Lamettrie erweist den Maschinenmodellen, auf die sein Lehrer Hermann Boerhaave die Medizin verpflichten wollte, eine ungewöhnliche Referenz. Lamettries Radikalität besteht in dem Sakrileg, den Geist aus dieser Körpermaschine nicht mehr auszunehmen. Gerade durch diese materialistische Konzeption gelingt es ihm, Grundlagen für eine psychosomatische Theorie zu entwikkeln, in der auch introspektive Beobachtungen, sensomotorische Empfindungen, Rauschzustände und Fiebervisionen ihren Platz haben. Lamettrie wirft dem „Mann des Studiums" vor, melancholische Grillen zu züchten und etwa der Freude, die uns eine gute Mahlzeit macht, nicht mehr sensibel und bewußt begeg-

55 Vgl. H. Treiber, „Zur ,Logik' des Traumes bei Nietzsche", Nietzsche-Studien 23 (1994), 36-41. 56 T. Hobbes, Vom Körper. Elemente der Philosophie, Bd. 1, 2. Aufl., Hamburg 1967, 142-146. 57 So schreibt Freud am 28.6.1931 an den Psychoanalytiker Lothar Bickel: „Meine Abhängigkeit von den Lehren

Spinozas gestehe

ich

bereitwilligst zu"; Israel Annals of Psychiatry 13 (1967), 3. Unvernunft. Das Problem der Rationalität in Spinozas

58 R. Wiehl, Die Vernunft in der menschlichen

Affektenlehre, Göttingen 1983, 12 ff. 59 Vgl. R. Otte, Die Ordnungen des Leibes in der Aufklärung. Immanuel Kants Anthropologik und ihre historischen Voraussetzungen (Phil. Diss.), Tübingen 1987, 53 ff. 60 R. Descartes, Briefe 1629-1650, hg. v. M. Bense, Köln 1949, 318. 61 R. Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg 1960, 68. 62 F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, Bd. 1, Leipzig 1902, 134-148. Die Erstausgabe dieses Werkes erschien 1865; 1872 hat Nietzsche intensiv Friedrich Albert Lange gelesen.

„auf dem Rücken

eines

Tigers

in Träumen

273

hängend"

können.63 Lange fordert in seinem Namen im ersten Band der Geschichte des Materialismus: „Das Glück des Traumes, ja selbst das eines glücklichen Wahnsinns, ist daher als ein wirkliches Glück anzuerkennen, zumal unser Wachen oft nicht viel mehr ist, als ein Traum. Geist, Wissen und Vernunft sind oft unnütz zum Glück, bisweilen schädlich."64 nen zu

Nietzsches Attacken gegen den Nietzsche hat sich in seinen Attacken gegen den

Aberglauben

„Aberglauben"

gern auf zwei

berufen, nämlich auf die Philologie und auf die Medizin.65 Das paßt gut

Disziplinen Zeitgeist,

zum

aber außerordentlich schlecht zu seiner Metaphorik des Tigers, auf dessen Rücken wir in Träumen hängen. Aufklärerische Einsichten gesteht Nietzsche dem Träumer nicht zu. Seine Täuschungen sind nicht die vermeidbaren Fehler, die es klug zu verhindern gilt, sondern die Wahrheit einer ungemütlichen conditio humana. Ungereimtheiten treten besonders dort zutage, wo Nietzsche anmerkt, daß es die Sprache sei, die Mensch und Tier unterscheidet: „Alles, was den Menschen gegen das Tier abhebt, hängt von dieser Fähigkeit ab, die anschaulichen Metaphern zu einem Schema zu verflüchtigen, also ein Bild in einen Begriff aufzulösen."66 Darf man auf diesen Akt der Weltverflüchtigung stolz sein? Kann die Neurophysiologie der Rettungsanker in der dahinschwindenden menschlichen Souveränität sein? Die Desillusionierung knüpft immerhin einen Ariadnefaden für das Labyrinth. Nietzsches Sprache selbst wird zum Ausdruck dieses Hindernislaufes durch Irrwege, auf den er sich an den Leitfaden der referierten Kontexte begibt. Man fragt sich, in welchen Käfig der Tiger eingesperrt wurde. Geistert er nun in der Physiologie oder in der Sprache herum? Wenn er überhaupt in der kargen neurologischen Sprache noch geistern kann. Auch sie kann natürlich nicht mehr bieten als Begriffe, in denen Bilder aufgelöst wurden. Nicht zuletzt spricht Nietzsche mit der Metapher des Tigers Wertungen aus, die aggressive Vorstellungen evozieren, die in der neurologischen Literatur der Zeit kein Heimatrecht genießen. Warum ist der Körper ein Raubtier? Könnte er nicht ebensogut ein Kaninchen sein, berühmt wegen ausufernder Sexualität und reicher Nachkommenschaft? Argumente, die Pia Daniela Volz in ihrem Buch Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit gesammelt hat, sprechen dafür, daß sich im Bild des Tigers Nietzsches Leben spiegelte, geplagt von extremer Kurzsichtigkeit, furchtbaren Migräne-Attacken, anhaltender Schlaflosigkeit und später, aufgrund des unverantwortlichen Gebrauchs von Chloralhydrat, auch quälenden Magenschmerzen. Nietzsches Suche nach der passenden Diagnose und Therapie führt ihn durch ein Labyrinth von medizinischen Lehrmeinungen, Außenseitermethoden und schier endlosen Spekulationen.67 Die zeitgenössische Medizin aller Spielarten ist letztlich

J. O. de la Mettrie, Der Mensch ist eine Maschine, Leipzig 1909, 13. Nietzsches Bemerkung in Ecce homo, der deutsche Geist resultiere aus betrübten Eingeweiden, knüpft Verbindungen, die sich bereits in diesem Werk von Lamettrie finden; vgl. F. Nietzsche, Ecce homo. Warum ich so klug bin, § 1. 64 F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, 144. 63

65 66 67

F.

Nietzsche, Der Antichrist, § 47.

F, Nietzsche, „Über Wahrheit", 612. P.D. Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Eine medizinisch-biographische

Würzburg 1990.

Untersuchung,

274

Rainer Otte

nicht der Rettungsring im Meer des „Aberglaubens". Nietzsches Polypragmatismus wendet die Leibnizschen Strategien ins Tragische, denn Wohl und Wehe des Autors selbst sind der Einsatz im Spiel. Nur im tanzenden Leib, in der bewegenden Erfahrung von Krankheit und Inspiration, letztendlich in der Sprache der „großen Vernunft des Leibes" kann sich die Welt für Nietzsche spiegeln. Der Körper, den Nietzsche in der Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne metaphorisch im erleuchteten Glaskasten vor dem Leser ausgebreitet hat, kommt im Fortgang des Essays zu unerwarteten Ehren, während die naßforsche materialistische Metaphorik der Nervenreize wieder in der Rumpelkammer der Argumente verschwindet. Der Mensch braucht die Sprache als Anker, um nicht von des Lebens furchtbaren Mächten hinweggeschwemmt zu werden. Aus dem „Trieb zur Metaphernbildung" entstehen nicht allein die starren Begriffe der Welt. Überschäumend bricht er sich Bahn, sucht sich andere Flußbetten in den Mythen, in der Kunst, im fröhlichen Chaos, im Traum.68 Ein eigenartiger Anker, zu dessen Tugenden die Wanderlust gehört. Immerhin sondiert Nietzsche sein Terrain, vielleicht ohne endgültige Seekarten, dafür allerdings ausgerüstet mit einem Kompaß, einem Lieblingsinstrument der Aufklärer. Ein fundamentaler Wechsel der Betonung ist mit der physiologischen Grundierung von Nietzsches Ausführungen verbunden. Die Interpretation von Malcolm Pasley, die für Nietzsches Gebrauch medizinischer Worte bis zum Jahr 1875 lediglich einen figurativen Sinn reklamieren will, führt in die Irre.69 Angesichts der intensiven Rezeption aktueller medizinischer Literatur in Verbindung mit der Aufklärungsphilosophie, die sich in der Entstehungszeit von Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne nachweisen läßt, ist die Einschätzung von Barbara Neumann plausibler: „Den Weg von der Emotion über das Bild zum Begriff, den er [Nietzsche] in der ,GT' als den notwendigen Weg sprachlicher Äußerungen entfaltet, beschreibt er hier kritisch, indem er die Sprünge von einem sinnlichen Material zum anderen als .metaphorische Sprache' bezeichnet."70 Die Aufklärung soll für Nietzsche ihr Paradestück spielen, nämlich den Bruch mit der Anhänglichkeit an Vorurteile. Sie soll mit der Aufkündigung folgsamer Loyalität Freiräume gewinnen. Richard Wagner ist der ungenannte Adressat. Nietzsche gewinnt in der Zeit der Konzeption von Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne einen für die Lesart des Autors wohltuenden Abstand von der Absorption durch die Familie Wagner und ihr Bayreuth. Er löst sich von der gelegentlichen Vorliebe, Natur und Kunst ineinander übergehen zu lassen. In Menschliches, Allzumenschliches ist, wie Volker Gerhardt in den Nietzsche-Studien ausführte, der Bruch endgültig geworden; „Kunst wurde zur vermenschlichten Natur."71 Der hier behandelte Essay ist darüber hinaus Zeugnis der trügerischen Hoffnung Nietzsches, auf einen vakant gewordenen Lehrstuhl für Philosophie in Basel überwechseln und einen Neubeginn ins Auge fassen zu können.

68 69 70 71

F. Nietzsche, „Über Wahrheit", 618. M. Pasley, „Nietzsche's Use of Medical Terms", in: M. Pasley (Hg.), Nietzsche: Imagery and Thought. A Collection of Essays, London 1978, 129. B. Neumann, „Nietzsches Sprache ,aus der Natur'", Nietzsche-Studien 14 (1985), 142. V. Gerhardt, „Von der ästhetischen Metaphysik zur Physiologie der Kunst", Nietzsche-Studien 13 (1984), 383.

„auf dem Rücken

Was

es

eines

Tigers

in Träumen

hängend"

bedeutet, ein Experiment

275

zu

wagen

Meine wiederholt eingeschmuggelte Behauptung, bei Nietzsches Text handele es sich um einen Essay, bedarf der Klärung. So unterschiedliche Interpreten Nietzsches wie Karl Jaspers, Walter Kaufmann und Gilles Deleuze haben argumentiert, Nietzsche sei ein Freund von Antinomien und habe weitaus weniger Angst vor einem ,pluralistischen Universum' als die systematisch orientierte Philosophie.72 Kaufmann präzisiert dies mit den Worten: „So gesehen ist Nietzsches aphoristischer Stil ein interessanter Versuch, durch das Labyrinth der Begriffe und Meinungen hindurch zu den Gegenständen selbst vorzudringen. Methodisch dient der ,Stil der décadence' dem .Experimentalismus' Nietzsches. Experiment und Versuch sind Schlüsselbegriffe, die Nietzsche oft verwendet. Versuch gebraucht er nicht nur im Sinne von .Probe', sondern auch im Sinne von: naturwissenschaftliches .Experiment'."73 Vom lat. exagium leitet sich seit Bacon und Montaigne die Essayistik als ein philosophischer Versuch ab, der eine sensible Interpretation einfordert. Im Essay wird der Denkende zum Schauplatz. Die Offenheit eines Essays besteht in der Kontur seines Fortganges, er betreibt die Aufkündigung angestrengter Theorie und bewegungsloser Begrifflichkeit. Für dieses Verständnis der Essayistik hat Theodor W. Adorno geworben. Er vergaß nicht den Hinweis, daß der Essay seine Begriffe unmittelbar, „umstandslos" einführt. „Unterm Blick des Essays wird die zweite Natur ihrer selbst inne als erste."74 In der Auseinandersetzung mit konkreter Realität gewinnt der Essay eine unauslöschbare Farbigkeit. Adorno schwebten Texte vor, die dicht, konzentrisch und transparent sind und denen es gelingt, wie ein Spinnweben flüchtige Metaphern ohne Gewalttat des

Subjektes einzubinden.75

Adornos Sätze über den

Essay helfen, Nietzsches Denk- und Schreibstil zu rekonstruiepositivistischen Gestus, der Zitatbelege für jegliche seiner Geistesregungen einfordert, nicht in jedem Fall zu scheuen. Glenn W. Most hat für die oben erwähnten Rhetorikvorlesungen Nietzsches im Wintersemester 1872/73 nachgewiesen, daß der Basler Professor sich in großem Stil an Exzerpten aktueller Nachschlagewerke orientiert hat. „Für viele Behauptungen der Rhetorik-Vorlesung und etlicher ren; sie brauchen die Konfrontation mit einem

anderer „Nietzsche"-Texte ist Nietzsche nicht so sehr als Autor anzusehen, sondern vielmehr als kritisch zustimmender Leser, der die Ideen und Formulierungen aus dem ihm vorliegenden Schrifttum gerade deswegen aufgreift, weil er sie ebenso interessant findet wie wir."76 Bekannt ist etwa die Bedeutung von Gustav Gerbers Die Sprache als Kunst; Paraphrasierungen finden sich häufig in Nietzsches Texten aus dieser Zeit. Nietzsches Versuchswerkstatt mißachtet Fachgrenzen, die heutige Leser als unhintergehbar voraussetzen. Nietzsches polyphone Inhalte entstammen mehreren Wissenschaften, die

72

K. Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, 4. Aufl., Berlin 1974; W. Kaufmann, Nietzsche. Philosoph Psychologe Antichrist, 2. Aufl., Darmstadt 1988, 84-111; G. Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, München 1976, 86 ff. W. Kaufmann, Nietzsche, 99. T. W. Adorno, Der Essay als Form, in: Noten zur Literatur, Bd. IV (Gesammelte Schriften 11), Frankfurt a.M. 1974, 29. Vgl. T. W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt a.M. 1982, 108. G. W. Most, „Friedrich Nietzsche zwischen Philosophie und Philologie", Ruperto Carola 2 (1994),

Vgl.

-

73 74 75 76

24.

-

276

Rainer Otte

sich unter Ausgrenzung ihres Kommunikationszusammenhanges zunehmend spezialisierten und gegeneinander abschotteten. Diese Diagnose stellt Nietzsche beispielsweise der Medizin im 1. Buch von Menschliches, Allzumenschliches: „Ein guter Arzt bedarf jetzt der Kunstgriffe und Kunstvorrechte aller anderen Berufsklassen."77 Nietzsche bezieht Erkenntnisse in seinen Essay ein, die signifikante Beziehungsgeflechte eingehen. Seine Methode übernimmt jedoch nicht allein Begriffe, sondern auch deren kontextuelle Lebenszusammenhänge.78 Er weicht diesen Konstellationen nicht aus und hat, hierin vielen Essayisten der Moderne verwandt, wenig Bedenken, daß die beschriebenen Inkongruenzen seinen eigenen Text destruieren. Brüche und Diskontinuitäten sind kein Argument gegen die Redlichkeit seines essayistischen Textes, wenn ihnen keine Gedankenlosigkeit oder das Bestreben zugrunde liegt, eine Verarmung der Traditionen durch den Prozeß ihrer banalisierenden Herbeizitierung zu betreiben. Eher schon würden sie die Redlichkeit der Interpreten in Frage stellen, die, ohne einen zweifelnden Blick auf die Legitimation der Entwicklung der Wissenschaften verschwenden zu wollen, harmonistische Interessen zugrunde legen.

77 78

Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, I. Buch, § 243. Vgl. L. Wittgenstein, Über Gewißheit, Frankfurt a.M. 1979, 36: „Das System Ausgangspunkt, als das Lebenselement der Argumente." F.

ist nicht

so

sehr der

III. Aufsätze

Peter Poellner

Der frühe Nietzsche und die der Natur

Verklärung

I Nietzsches frühe Schriften nehmen in der Geschichte der Rezeption seines Werkes einen eigenartigen Platz ein. Unter den kritischen Reaktionen zu ihnen begegnen wir solchen wie Karl Schlechtas, der sie kurzerhand als „uneigentlich" apostrophiert und mithin als irrelevant für ein angemessenes Verständnis der Anliegen des späteren, des „eigentlichen" Nietzsche.1 In scharfem Gegensatz hierzu und einen grundlegend anderen Stil der Nietzsche-Interpretation inaugurierend unternimmt Paul de Man eine Analyse des Textes der Geburt der Tragödie, welche keinerlei wesentliche Diskontinuitäten zwischen dem, was de Man als den „prinzipiell ironischen" Sinn von Nietzsches Erstlingswerk versteht, und den späteren Schriften des Philosophen erahnen läßt.2 Keiner dieser beiden Ansätze, die, wenngleich extrem, im Grundsätzlichen durchaus nicht untypisch sind, scheint mir den Eigenheiten und der Bedeutsamkeit von Nietzsches frühem Denken gerecht zu werden. Letztere wird nur unangemessen erfaßt, interpretiert man die Frühphilosophie etwa als geringfügig modifizierten Schopenhauerianismus, oder aber als die noch unentwickelte Ausdrucksform eines Denkens, das dann weitgehend bruchlos ins Spätwerk übergehe. Ich möchte im folgenden einige Überlegungen zu Nietzsches frühen, bis zum Jahr 1876 verfaßten, Schriften anstellen und sie als Manifestationen eines Ethos und einer ihm korrespondierenden Metaphysik zu begreifen suchen, welche einem bedeutenden Strang des europäischen Modernismus seinen eigentümlichen Charakter verliehen.3 Was für diese Strömung des Modernismus besonders kennzeichnend ist, ist eine bestimmte Konzeption des „Ästhetischen" als in Nietzsches berühmter Formulierung der „eigentlich metaphysischen Thätigkeit des Menschen" (GT, „Selbstkritik", 5, KGW 111/1, 12). In dieser Sicht, die häufig das menschliche Leben in seiner Gesamtheit, falls es auf entsprechende Weise gelebt wird, der „Kunst" assimiliert, meint dieser Begriff die bewußt angestrebte mythopoetische Verklärung der Wirklichkeit. -

-

-

-

1 K. Schlechta, „Nachwort" zu seiner Ausgabe von Nietzsches Werken, Bd. 3, München 1966, 1433 f. 2 P. de Man, Allegories of Reading, New Haven/Conn. 1979, 82-102. 3 Ich verwende die Bezeichnung „Modernismus" hier in Anlehnung an „modernism" im anglophonen literatur- und kulturhistorischen Diskurs, also als Oberbegriff für die mannigfaltigen kulturellen Strömungen in der Epoche von etwa 1890 bis zum zweiten Weltkrieg, deren Vertreter in verschiedenster Weise einen tiefgehenden Bruch mit den Konventionen der vorangegangenen europäischen Kunst oder der europäischen Kultur im allgemeinen initiierten, oder deren Anstrengungen weithin in diesem Sinne interpretiert wurden.

Peter Poellner

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Die „Kunst" in diesem Sinne soll eine Auflehnung, einen Protest gegen das darstellen, was der junge Nietzsche aufschlußreich die „Tyrannei des Wirklichen" nennt (KGW III/l, 307, HL 8). Besonders klar konturierte Versionen dieses Ethos und der damit verknüpften metaphysischen Vorstellungen finden sich bei Autoren wie Thomas Mann und W. B. Yeats; doch selbst der Existenzialismus eines Albert Camus mit seinem Gedanken einer „metaphysischen Revolte" kann als ihr Abkömmling wenigstens im Hinblick auf manche seiner zentralen Voraussetzungen und Bestrebungen angesehen werden. Ich werde versuchen zu zeigen, daß die Nietzsches Frühphilosophie beherrschende Ideenkonstellation Spannungen erzeugt, die zwar anderer Art, aber innerhalb ihrer Grenzen ebenso unbewältigbar sind wie die Schopenhauers metaphysisch-ethisches Projekt durchziehenden, und daß ihr aus diesem Grund eine gewisse systematische Instabilität innewohnt. Ein genaueres Verständnis dieses Umstandes eröffnet die Möglichkeit, Nietzsches Entwicklung nach den Unzeitgemäßen Betrachtungen nicht einfach und unerhellend als einen Perspektiven Wechsel, als radikal neuen Aufbruch, zu deuten, sondern vielmehr als Versuch, tiefliegende Konflikte in seinem frühen Denken zu überwinden, die aber weder aufgelöst noch akkommodiert werden konnten ohne die Preisgabe gewisser Grundthesen jener Philosophie. Die Bedeutsamkeit dieser vorläufig nur behaupteten Tatsache scheint mir über die Belange der Nietzsche-Interpretation im näheren Sinne hinauszureichen. Denn wenn es in der Tat plausibel ist, einen engen ideellen Zusammenhang speziell zwischen Nietzsches irw/zphilosophie und einer der wichtigsten Strömungen des Modernismus in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts herzustellen, dann könnte das Schicksal jener Philosophie geeignet sein, Licht auf einen der Gründe für die historische Instabilität dieses kulturellen Phänomens und die Dynamik seiner Verdrängung aus seiner ehemals dominanten Stellung in der europäischen Geisteswelt zu werfen. -

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II Es wäre unergiebig, Nietzsches Frühwerk ohne Berücksichtigung der philosophischen Hinterlassenschaft Schopenhauers zu untersuchen. Die Präsenz Schopenhauers in diesen Schriften ist schon oft gewürdigt worden, aber die genauere Natur jenes fortwährenden Einflusses bleibt nicht selten unklar. Außer Zweifel steht, daß Nietzsche zur Zeit der Niederschrift der Geburt der Tragödie Schopenhauers metaphysische Thesen im einzelnen nicht mehr akzeptiert, ungeachtet des Schopenhauerschen Idioms dieses Buches. Bereits 1868 unterzieht er die metaphysischen Doktrinen seines philosophischen Lehrmeisters einer detaillierten Kritik.4 Nach den Maßstäben, die man bei Nietzsche anzulegen gewohnt ist, stellt dieses Fragment ein einzigartiges Dokument dar, bewegt es sich doch völlig innerhalb der traditionellen Rhetorik philosophischer Argumentation. Nietzsche analysiert hier den fundamentalen Satz der Schopenhauerschen Metaphysik, den er so paraphrasiert: „Der grundlose erkenntnißlose Wille offenbart sich, unter einen Vorstellungsapparat gebracht, als [phänomenale] Welt." (ZS, 353) Bei Schopenhauer, so lesen wir, bekommt ,,[d]as Ding an

4 F. Nietzsche, „Zu Schopenhauer", in: Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 3, hg. v. H. J. Mette u. K. Schlechta, München 1933 ff., 352-361; im folgenden wird die Sigle „ZS" für dieses Aufsatzfragment verwandt.

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sich [...] eine seiner möglichen Gestalten. Der Versuch ist mißlungen" (ZS, 352). Unter Nietzsches Gründen für diese kategorische Behauptung sind hier zwei von besonderer Bedeutung. Zum einen sei Schopenhauers Ineinssetzung des Dinges an sich mit einem unindividuierten, nicht objektivierbaren „blinden Drang" dem metaphysischen „Willen" logisch arbiträr: „Selbst aber Schopenhauers Berechtigung zugegeben, auf jenen gefährlichen Pfad Kant zu folgen, so ist dasjenige, was er an Stelle des Kantischen X setzt der Wille, nur mit Hülfe einer poetischen Intuition erzeugt, während die versuchten logischen Beweise weder Schopenhauer noch uns genügen können." (ZS, 354) Zum anderen weist Nietzsche die spezifischen Prädikate zurück, die Schopenhauer, wenn auch nur in analoger Bedeutung, dem Ding an sich beilegt: Wendungen wie eben „Wille", „blinder Drang", aber auch „entschiedene Bestrebung", „dumpfes Treiben" und ähnliche mehr. Diese Ausdrücke konnotieren eine ziellose affektive Energie, und diese Konnotation war wohl zu einem nicht geringen Teil für die zeitgenössische Popularität von Schopenhauers Philosophie verantwortlich. Aber Nietzsche fragt hier richtig, ob denn irgendetwas Verständliches von der ursprünglichen Bedeutung jener Termini bleibe, sobald man sie nicht mehr auf körperliche, raum-zeitliche Individuen anwendet, sondern auf eine Dimension der Wirklichkeit, von der behauptet wird, sie falle nicht unter das principium individuationis von Raum und Zeit. Schopenhauers Methode bestehe darin, daß „ein durchaus dunkles unfaßbares x mit Prädikaten wie mit bunten Kleidern behängt wird, die einer ihm selbst fremden Welt, der Erscheinungswelt entnommen sind. Die Forderung ist nachher, daß wir die umgehängten Kleider nämlich die Prädikate für das Ding an sich ansehn sollen" (ZS, 357).5 Nietzsche hält es auch für fraglich, ob Schopenhauer wie übrigens auch Kant denn berechtigt sei, eine von der Erscheinungswelt ihrem Wesen nach verschiedene noumenale Realität anzunehmen. Gewiß, „es kann ein Ding an sich geben", und ,,[d]ies mögliche Ding an sich kann der Wille sein", aber doch „in keinem andern Sinn als auf dem Gebiete der Transscendenz eben alles möglich ist, was jemals in eines Philosophen Hirn ausgebrütet ist" (ZS, 354 f.). -

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III Wenden wir

der Geburt der Tragödie zu, die ja nur wenige Jahre nach jenem stellen wir fest, daß eine von lediglich zwei Stellen, an denen dieser Text ausdrücklich mit Schopenhauers metaphysischen Lehrmeinungen im weiteren Sinn Übereinstimmung bekundet, sich im vielzitierten 18. Abschnitt befindet, wo Nietzsches „Erzieher" zusammen mit Kant als triumphierender Überwinder der theoretischen Kultur Einzug hält : [G]rosse allgemein angelegte Naturen [haben], mit einer unglaublichen Besonnenheit, das Rüstzeug der Wissenschaft selbst zu benützen gewusst, um die Grenzen und die Bedingtheit des Erkennens überhaupt darzulegen und damit den Anspruch der Wissenschaft auf universale Geltung [...] entscheidend zu leugnen." (KGW 111/1, 114, GT 18) Friedrich uns nun

Fragment entstand,

so



5 Es erhebt sich ferner die verwandte Frage, die Nietzsche allerdings selbst nicht stellt, ob Schopenhauer in Anbetracht seiner These, daß keines der Gesetze der klassischen Logik auf die Wirklichkeit wie sie was immer das hier heißen mag an sich ist, Anwendung fände, überhaupt auf eine so „beschaffene" Wirklichkeit referieren kann. Siehe dazu: P. Poellner, Nietzsche and Metaphysics, Oxford 1995, 289-291. -

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Albert Langes Geschichte des Materialismus folgend, deutet Nietzsche den transzendentalen Idealismus hier als eine Form des metaphysischen Skeptizismus.6 Und dennoch wartet Die Geburt der Tragödie bekanntermaßen mit einer kunstvollen metaphysischen Narration auf, deren Schopenhauersche Provenienz augenfällig ist und die dem erstaunten Leser das offenbart, was Nietzsche den „Mythos der Tragödie" nennt. Sein Rekurs auf den Begriff des Mythos im 17. und 23. Abschnitt scheint mir von großer Wichtigkeit für ein adäquates Verständnis der metaphysischen Geschichte, die dieser Text erzählt. Zwei Bedeutungen des Wortes „Mythos" werden hier hervorgehoben. Erstens: Ein Mythos ist eine Erzählung (oder ein „Weltbild"), welche eine angenommene Verknüpfung des zeitlichen Fluxus der Erscheinungen mit einem ihn fundierenden ontologischen Grund abbilden will und welche diesen Grund, wie auch die Relation zwischen ihm und der empirischen Realität, als der rationalen Erklärung nicht (oder nicht vollständig) zugänglich darstellt. Zweitens und im gegenwärtigen Zusammenhang besondere Beachtung verdienend bezieht eine derartige Geschichte oder Abbildung, ihrer Intention nach, namentlich die ephemeren Erlebnisse des Menschen teleologisch auf einen zweckhaften, nicht-zeitlichen Wirklichkeitsbereich und betrachtet sie somit in einem bestimmten Sinne sub specie aeterni. Nietzsche bekennt sich nachdrücklich zu dieser entsäkularisierenden Funktion des Mythos: -

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„Und gerade nur so viel ist ein Volk wie übrigens auch ein Mensch werth, als es auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken vermag: denn damit ist es gleichsam entweltlicht und zeigt seine unbewusste innerliche Ueberzeugung von der Relativität der Zeit und von der wahren, d. h. der metaphysischen Bedeutung des Lebens. (KGW III/l, 144, GT 23; vgl. KGW III, 32 [68]) -

-

"

Aber noch in einem dritten Sinn fungiert die Rede vom Mythos in Nietzsches Text, nämlich eine irrige, d.h falsche Geschichte bezeichnend: Mythos als „Illusion" oder „Wahn". Diese Alltagsbedeutung des Wortes spielt hier eine zentrale Rolle, was deutlich wird, wenn wir bedenken, daß Die Geburt der Tragödie tatsächlich zwei Mythen enthält. Zunächst den tragischen Mythos, den Nietzsche in bewußt freizügigem Umgang mit der Historie den vorsokratischen Griechen zuschreibt: die Weltsicht also, oder besser, den Erlebnismodus, der in der griechischen Tragödie als Bestandteil einer spezifischen, in einer bestimmten historischen Gesellschaft angeblich dominierenden Lebenseinstellung und Praxis verkörpert ist. Die wesentlichen Inhalte dieses Mythos charakterisiert Nietzsche, bezugnehmend sowohl auf seine apollinischen wie auch auf seine dionysischen Komponenten, als „eine über die Dinge gebreitete Illusion" (KGW III/l, 111, GT 18). Auf diesen sehr wichtigen Punkt werde ich sogleich noch zurückkommen. Aber das Buch entfaltet auch einen Mythos zweiter Ordnung, Nietzsches eigene Metanarration, die es ihm unter anderem erlaubt, dem tragischen Mythos der Griechen eine solchermaßen exaltierte Stellung in der Kulturgeschichte zuzuweisen. Jener ist es auch, der Nietzsches Polemik gegen die alexandrinische oder theoretische Kultur zugrundeliegt und die Erhöhung der „Kunst" konzipiert als Schöpfung mythischer „Wahngebilde" über das sokratisch-rationale Streben nach der Wahrheit motiviert und legitimiert. Die entscheidende Frage, die wir hier zu stellen haben, lautet deshalb: Ist der erwähnte dritte Sinn von „Mythos" Mythos als falsche Geschichte auf Nietzsches eigene Metanarration anwendbar -

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6

Vgl.

F. A.

-

Lange, Geschichte

des

Materialismus, Iserlohn 1866,

z.

B. 482

u.

499.

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oder nicht, ohne m jedem dieser Fälle das Projekt sowohl der Geburt der Tragödie als auch der Kulturpolemik der Unzeitgemäßen Betrachtungen aus den Angeln zu sprengen? Soeben wurde die nicht unkontroverse Behauptung aufgestellt, der den Griechen des tragischen Zeitalters zugeschriebene Erlebnismodus sei illusorisch in Hinsicht auf seine apollinischen wie auch auf seine dionysischen Elemente. Die Traum-Welt der apollinischen Kunst, die sich in ihrer relativ reinsten Form in der griechischen Epik und Plastik manifestiert, aber in untergeordneter Rolle auch in der Tragödie in Erscheinung tritt, konstituiert sich offenkundig in „Wahnbildern". In ihr präsentiert sich die Realität raum-zeitlich partikularisierter Phänomene, einschließlich des menschlichen Individuums, in verklärter Form unter dem Aspekt des Schönen. „Was ist das Schöne?" fragt Nietzsche in einer Arbeitsnotiz und antwortet:

,,[E]ine Lustempfindung, die uns die eigentlichen Absichten, die der Wille in einer Erscheinung hat, verbirgt. Wodurch wird nun die Lustempfindung erregt? Objektiv: das Schöne ist ein Lächeln der Natur, ein Überschuß von Kraft und Lustgefühl des Daseins [...]. Was ist nun eigentlich jenes Lächeln, jenes Verführerische? Negativ: das Verbergen der Noth, das Wegstreichen aller Falten und der heitre Seelenblick des Dinges. [...] Das Ungestüme, die Gier, das Sichdrängen, das verzerrte Sich-ausrecken darf nicht bemerkbar sein [...] wie ist dies möglich? Bei der schrecklichen Natur des Willens? Nur durch eine Vorstellung, subjectiv: durch ein vorgeschobenes Wahngebilde [...]." (KGW III, 7 [27]) Aber während den Traum-Bildern der apollinischen Kunst offensichtlich ein verklärender Illusionscharakter zueigen ist, gilt dies ebenso, wenn auch weniger augenfällig, für die verzückten Rauschzustände, welche die authentisch dionysische Kunst, unter deren Ägide die griechische Tragödie ihre apollinische Bilderwelt vorführt, zu induzieren pflegt. Denn alle Elemente der von Nietzsche so genannten „Mysterienlehre der Tragödie": nämlich die Überzeugung, alles Seiende sei in gewissem Sinne Eins; die Individuation sei der Ursprung des Übels und des Leids (KGW 111/1, 68 f., GT 10); auch das Wähnen der dionysisch berauschten Schwärmer, mit dem nicht-objektivierten, unindividuierten Seinsgrund vereint zu sein, von dem sie glauben, er sei im der Individuation gegenüber originären Zustand „unermessliche [...] Urlust", unzerstörbar und ewig (KGW 111/1, 105, GT 17); dies alles wird im 18. Abschnitt als Illusion deklariert. Für den frühen Nietzsche, in scharfem Gegensatz zu Schopenhauer, ist die Individuation eben gerade nicht der Ursprung von Übel und Leid. Ausdrücklich hält er in einer Notiz fest:

„Das Leidende, Kämpfende, sich Zerreißende ist immer nur der eine Wille: er ist der vollkommene Widerspruch als Urgrund des Daseins. Die Individuation ist also Resultat des Leidens, nicht Ursache." (KGW III, 7 [117]) Hier sind wir bei jenem Meta-Mythos angelangt, in den Nietzsches Exposition der Mysterienlehre der Tragödie eingelagert ist. Und gerade hier gewärtigt der Leser die fortdauernde Präsenz Schopenhauerscher Gedanken. Aber wie schon eingangs angedeutet wurde, erfüllt sich diese Erwartung nur sehr partiell. Gewiß, die zugrundeliegende Dichotomie hat ihren Ursprung bei Schopenhauer: die empirische, raum-zeitliche Welt als bloßes Phänomen, als Illusion, einem Traum analog, in der sich eine essentiell andere, nicht-gegenständliche, unräumliche Realität auf mysteriöse Weise „objektiviert" oder zur Erscheinung bringt.

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Gleichwohl divergieren hier die Details, die dieses Grundschema ausfüllen, beträchtlich vom Schopenhauerschen Präzedens. Während Schopenhauers „Wille" ein nicht-personaler, unbewußter und dennoch affektiver „blinder Drang" sein sollte, wird das „Ureine" der Geburt der Tragödie wiederholt als personal und empfindungsfähig charakterisiert: als „Urschmerz" (KGW III/l, 35, GT 4), als „Urkünstler der Welt" und als „das eine wahrhaft seiende Subjekt" (KGW III/l, 43 f., GT 5). In seinen Notizen spricht Nietzsche immer wieder vom „Urintellekt" (siehe z. B. KGW III, 5 [79]). Die Relation zwischen den Phänomenen und ihrem Grund, die Schopenhauer einerseits als kausale denken mußte, andererseits genau das aber nicht zulassen konnte, wie seine Kritik an Kant in diesem Punkt zeigt ein Zwiespalt, der für einige der krassesten Widersprüchlichkeiten seines Systems verantwortlich ist -, diese Beziehung artikuliert Nietzsche in kreationistischer Terminologie: Die Erscheinungswelt wird zur „Schöpfung" des „Urkünstlers" (vgl. GT 5, KGW III/l, 43). In der 1886 hinzugefügten Paraphrase des Grundgedankens der Geburt der Tragödie spricht er ganz explizit von einem „unmoralischen Künstler-Gott, [...] der sich, Welten schaffend, von der Noth der Fülle und Ueberfülle, vom Leiden der in ihm gedrängten Gegensätze löst" (GT, -

„Selbstkritik", 5).

Was nun die in Nietzsches Metamythos enthaltene Ästhetik betrifft, so hat diese Schopenhauers kognitiv-mimetischen Kunstbegriff demzufolge die Aufgabe der Kunst, je nach Kunstgattung, in der Offenbarung des Wesens der Partikularvorstellungen oder aber des metaphysischen Willens selbst besteht zugunsten einer illusionistischen Kunstauffassung hinter sich gelassen. Die Kunst wird hier nicht mehr als Abbildung der Natur oder ihres Grundes verstanden, sondern als ihr Supplement, „zu deren Ueberwindung neben sie gestellt" (KGW III/l, 147, GT 24). Da Nietzsche den ästhetischen Zustand als einen solchen definiert, in dem das Individuum seinem Willen entsagt und der Künstler im besonderen zum Medium für die schöpferische Tätigkeit des „einen wahrhaft seienden Subjekts" sich verwandelt, wird die Kunst zur Auto-Illusion der Gottheit. Während im Christentum Gott, selbst Mensch werdend, den Menschen von der Sünde befreit, erlöst der Geburt der Tragödie zufolge der Mensch den Gott, dadurch nämlich, daß er im verklärenden Wahn des ästhetischen Zustandes zum Mittel von des Gottes Selbsttäuschung transmutiert: -

-

,,[W]ohl aber dürfen wir von uns selbst annehmen, dass wir für den wahren Schöpfer [jener Kunstwelt] schon Bilder und künstlerische Projektionen sind und in der Bedeutung von Kunstwerken unsere höchste Würde haben -" (KGW III/l, 43, GT 5; vgl. GT 3, 33 f. und KGW III, 7 [27]) Es wäre

verzeihlich, wenn man diese „Artisten-Metaphysik" für „willkürlich, müssig, phantastisch" hielte, wie Nietzsche selbst das ja in späteren Jahren tut (GT, „Selbstkritik", 5). Zweifellos betrachtet er sie als willkürlich, als logisch arbiträr, schon zum Zeit-

punkt ihrer Entstehung. Was für ihn allerdings weder willkürlich noch phantastisch und gewiß nicht müßig ist, das ist das allgemeine man könnte sagen: formale Schema, welches von dieser Metaphysik erfüllt und exemplifiziert wird. Es ist das Schema des Mythos in der zweiten oben skizzierten Bedeutung: eine Narration also, die intendiert, vergängliche menschliche Erlebnisse zu einer zweckhaften, die Zeit transzendierenden Wirklichkeitsebene in Beziehung zu setzen. Wie auch Nietzsche erkennt, gibt es kein geschichtlich lebensfähiges und wirkkräftiges reines Mythosschema ebenso wie ein entsprechendes, jeder spezifischen mythologischen Inhalte entleertes Religionsschema sich wohl kaum dauerhaft in der Kultur etablieren könnte (KGW 111/1, 113, GT 8). Doch jede materia-

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le „Erfüllung" eines solchen Schemas, einschließlich der von Nietzsche entworfenen, erscheint unter rationalen Gesichtspunkten als arbiträr ihre eventuelle Wirksamkeit kann nicht mehr sein als eine Funktion der Resonanzen, die sie im Kontext vorgegebener kultureller Traditionen und Prädispositionen zu erzielen vermag. Aber es gibt natürlich noch einen weiteren Aspekt des Metamythos der Geburt der Tragödie, der für Nietzsche keineswegs „willkürlich" ist: die Schopenhauersche Vision der naturhaften, unverklärten conditio humana, wie sie den Kindern „des Zufalls [...] und der Mühsal" aus dem Mund des Silen verkündet wird (KGW 111/1, 31, GT 3). Sie besteht im Leiden an den „Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins" (KGW 111/1, 31, GT 3), und die Weltsicht, in der das Dasein in der Tat als schrecklich und entsetzlich erscheint, ist die nie hinterfragte Voraussetzung und das Problem, dessen Lösung das Ziel von Nietzsches Artisten-Metaphysik darstellt. Was aber sind jene Schrecken? Es wäre naiv, wollte man die das Frühwerk durchziehende Betonung des „Leids" als Ausdruck eines Eudaimonismus oder gar Hedonismus manqué konstruieren. Wir kommen ihrer Bedeutung wahrscheinlich näher, wenn wir den Nachdruck auf dem Wort „Zufall" in der Rede des Silen gebührend beachten. Der Schrecken des unverklärten, naturhaften Daseins ist für den frühen Nietzsche wesentlich dadurch bestimmt, daß dieses „zufällig" sei, das heißt außerhalb jedweder ideologischen Ordnung von der Art, wie sie der Mythos der Geburt der Tragödie exemplifiziert. Und trotzdem sagt Nietzsche auch, daß ein Volk oder ein Individuum -, sofern es „auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken vermag", „seine unbewusste innerliche Ueberzeugung von der Relativität der Zeit und von der wahren, d. h. der metaphysischen Bedeutung des Lebens", zum Ausdruck bringe (KGW 111/1, 144, GT 23; meine Hervorhebung). Wenn man dieses Diktum nicht selbst als My them in unserem dritten Sinn interpretieren will als Element einer falschen Geschichte -, dann scheint es in unversöhnlichem Widerspruch zur Schopenhauerschen Weisheit des Silen zu stehen, die Nietzsche ohne Zweifel weiterhin für wahr hält. Doch wenn es selbst als Bestandteil eines mythischen Illusionsgebildes zu deuten wäre, wie könnte es dann unverändert das entsäkularisierende, verklärende Vorhaben der Geburt der Tragödie motivieren? -

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-

IV Das Dilemma, das ich bislang nur grob umrissen habe, ist im wesentlichen implizit in Nietzsches erstem Buch gegenwärtig, aber in den Unzeitgemäßen Betrachtungen und in den Arbeitsnotizen zu diesem Werk rückt es sehr viel deutlicher ins Blickfeld. Was dem aufmerksamen Leser dieser Texte auffällt, ist die durchgängige Verwendung und Bekräftigung ohne Ironie oder distanzierende Gänsefüßchen des herkömmlichen Vokabulars ethischer Wertung. Wir hören hier vieles über Gut und Böse und zum Lobe der Moral und der -

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Tugend:

„Denn rede

man von

welcher

Tugend

man

wolle,

von

der

Gerechtigkeit, Grossmuth,

der Weisheit und dem Mitleid des Menschen überall ist er dadurch dass er sich gegen die Tyrannei des Wirklichen empört und sich Gesetzen unterwirft, die nicht die Gesetze jener Geschichtsfluctuationen sind." (KGW 111/1, 307, HL 8)

Tapferkeit, tugendhaft,

von

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Die Geschichte, konstatiert Nietzsche, sei ein „Compendium der thatsächlichen Unmoral" (KGW III/l, 306, HL 8). Wohin man auch in ihr blicke, man finde zu „viel Falsches, Rohes, Unmenschliches, Absurdes, Gewaltsames" (KGW III/l, 292, HL 7), als daß man offenen Auges der Erkenntnis sich entschlagen könne, „der Gang der menschlichen Dinge [werde] durch Gewalt, Trug und Ungerechtigkeit bestimmt" (KGW IV/1, 24, WB 4). „Die Geschichte der Staaten ist die Geschichte vom Egoismus der Massen und von dem blinden Begehren, existieren zu wollen." (KGW III, 29 [73]) In seinen Notizen preist Nietzsche denn auch als den höchsten und dauerhaften Wert der Philosophie Schopenhauers ihre Warnung „vor dem Verkleinern und Vernebeln jener tauben unbarmherzigen, ja bösen Urbeschaffenheit des Daseins" (KGW III, 34 [21]). Wie schon bei Schopenhauer, ist man versucht zu glauben, das Adjektiv „böse" bezeichne hier (zumindest) jedwede Ursachen menschlichen Leidens. Nietzsches Interpreten sind dieser Versuchung bisweilen erlegen, aber man sollte ihr widerstehen. Das Leiden ist auch beim frühen Nietzsche nie per se etwas Schlechtes im Gegenteil, in einem Fragment erklärt er es sogar zum „Sinn des Daseins" (KGW III, 32 [67]; vgl. KGW III/l, 368, SE 4). Das Problem, mit dem er ringt, ist ja gerade, daß die Massen und die „Bildungsphilister" nicht so leiden, wie sie leiden sollten. Im 3. Abschnitt der Geburt der Tragödie mutmaßt er, es bedürfe eines „genialen" Volkes wie der vorsokratischen Griechen, um gewissermaßen in der rechten Weise und an den rechten Dingen zu leiden (KGW III/l, 32, GT 3; vgl. GT 18, 112). Und die wichtigsten von diesen, so wiederholt er unermüdlich, seien zwei. Zum einen der Zufälligkeitscharakter des Daseins, also die Abwesenheit einer zweckhaften Ordnung des Typus, den der Metamythos der Geburt der Tragödie veranschaulicht.7 Zum zweiten die affektive Struktur des naturhaften Menschen, die er in einen für das neunzehnte Jahrhundert charakteristischen, also gar nicht unzeitgemäßen Terminus faßt: „Egoismus". Alle natürlichen Bestrebungen des Menschen seien, wie selbstverständlich auch Schopenhauer behauptet hatte, wesentlich eigenbezüglich: das jeweilige Subjekt oder seine potentiellen Zustände figurierten in jeder korrekten und vollständigen Deskription dessen, was je angestrebt werde. Aus dem Text geht klar hervor, daß diese Tatsache selbst, unabhängig von etwaigem Leid, welches anderen daraus erwachsen mag, für Nietzsche das mitkonstituiert, was er die „böse Urbeschaffenheit des Daseins" nennt. Seine Beschreibung derselben erinnert nicht nur an die Gedanken, sondern auch an die Sprache Luthers: -

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„Christlich ausgedrückt: so ist der Teufel der Regent der Welt und der Meister der Erfolge und des Fortschrittes; er ist in allen historischen Mächten die eigentliche Macht [...] ob es gleich einer Zeit recht peinlich in den Ohren klingen mag, welche an die Vergötterung des Erfolges und der historischen Macht gewöhnt ist. Sie hat sich nämlich -

gerade darin geübt die Dinge neu zu benennen und selbst den Teufel umzutaufen. Es ist gewiss die Stunde einer grossen Gefahr: die Menschen scheinen nahe daran zu entdecken, dass der Egoismus [...] zu allen Zeiten der Hebel der geschichtlichen Bewegungen war; zugleich ist man aber durch diese Entdeckung keineswegs beunruhigt, sondern man 7 Siehe hierzu z. B. den folgenden Auszug aus einem im Jahr 1875 entstandenen Fragment: „Vermöchte jemand gar ein Gesammtbewußtsein der Menschheit in sich zu fassen, er bräche unter einem Fluche gegen das Dasein zusammen. Denn die Menschheit hat keine Ziele. Folglich kann in Betrachtung des Ganzen der Mensch, selbst wenn er dessen fähig wäre, nicht seinen Trost und Halt finden: sondern seine Verzweiflung. Sieht er bei allem was er thut auf die letzte Ziellosigkeit der Menschheit, so bekommt sein Wirken in seinen Augen den Charakter der Vergeudung." (KGW IV, 9 [1], 255)

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decretirt: der Egoismus soll unser Gott sein. Mit diesem neuen Glauben schickt man sich an, mit deutlichster Absichtlichkeit die kommende Geschichte auf dem Egoismus zu errichten: nur soll es ein kluger Egoismus sein, ein solcher, der sich einige Beschränkungen auferlegt, um sich dauerhaft zu befestigen [...]." (KGW HI/1, 317, HL 9; vgl. KGW III, 19 [93]) Aber die Natur der Wille zum Leben kann transzendiert oder, mit Nietzsche zu sprechen, „von sich selbst erlöst" werden in der Person des Genius. Für das Genie dient das Leiden dazu, „seinen Eigenwillen zu ertödten und jene völlige Umwälzung und Umkehrung seines Wesens vorzubereiten, zu der zu führen der eigentliche Sinn des Lebens ist" (KGW 111/1, 367, SE 4). Formulierungen dieser Art zeigen sehr deutlich den scharf dualistischen Charakter von Nietzsches Konzeption des Ich in den Unzeitgemäßen Betrachtungen. Das naturhafte Ich, mit Schopenhauers Willen zum Leben und dessen „egoistischen" Begehrungen in eins gesetzt, wird mit einem „höheren", „eigentlichen" oder „wahren" Ich kontrastiert, das aktualiter vorrangig dem Genius eigne, aber, wie es scheint, zumindest potentiell auch in der übrigen Menschheit anzutreffen sei. Anders als bei Kant konstituiert aber nicht die reine praktische Vernunft dieses „höhere Ich", sondern eine Form des Eros} In der Liebe „verachtet" das Individuum sich selbst (d. h. seine „egoistischen" „Leidenschaften"), „sehnt sich über sich selbst hinaus" (KGW 111/1, 365, SE 4) und empfindet das eigene Leben „fast nicht mehr individuell" (SE 5, 378 f.). Wir verstehen hier „nicht mehr das Wort 'ich' [...]; es liegt jenseits unseres Wesens etwas, was in jenen Augenblicken zu einem Diesseits wird" (SE 5, 379). Der finale Gegenstand, den der Eros dieser Art intendiert, ist „etwas Höheres" als das Selbst (SE 6, 381), und jenes Höhere wird als „das Vollkommene und Rechte" (KGW m/1, 292, HL 7) oder als „das Ideal" aufgefaßt (KGW IV, 3 [75]). Die Liebe ist eine Eigenschaft des Genius (KGW III, 5 [80]), der „den Sinn seiner Thätigkeit als einen metaphysischen, aus Gesetzen eines anderen und höheren Lebens erklärbaren und im tiefsten Verstände bejahenden [empfindet]: so sehr auch alles, was er thut, als ein Zerstören und Zerbrechen der Gesetze dieses Lebens erscheint" (KGW 111/1, 368, SE 4). Das Objekt des Eros scheint also letzten Endes nicht von dieser, der naturhaften Welt raum-zeitlicher Individuen und Einzeldinge zu sein. Aber das heißt jedenfalls für Nietzsche noch nicht, daß es deshalb einer realen anderen Welt zuzugehören habe der frühe Nietzsche ist weder Platoniker noch Lutheraner. In Vom Nutzen und Nachteil der Historie versieht er ausdrücklich zumindest die Gegenstände des Eros und möglicherweise den erotischen Zustand selbst mit dem Index des Illusorischen: ,,[N]ur in der Liebe aber, nur umschattet von der Illusion der Liebe schafft der Mensch, nämlich nur im unbedingten Glauben an das Vollkommene und Rechte." (KGW 111/1, 292, HL 7; meine Hervorhebung) In einem Arbeitsheft heißt es dazu konziser: „Das ,Ideal' eine [...] Wahnvorstellung." (KGW III, 5 [25]) Die strukturelle Analogie dieser Gedanken zum Mythos der Geburt der Tragödie tritt hier deutlich zutage. Dort hatte jedweder Wert seinen Ort in Illusionszuständen, vor allem im rauschhaften Wahn des dionysischen Schwärmers, d. h. in der autogenen, verklärten -

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8 Der Dualismus tritt sehr klar hervor in Passus wie diesem: „Alle Rechtschaffenheit und alles Recht [...] kommt aus einem Gleichgewicht der Egoismen: gegenseitige Anerkennung sich nicht zu schädigen. Also aus Klugheit. [...] Liebe und Recht Gegensätze: Kulminationspunkt Aufopfern für die Welt. Das Vorausnehmen von möglichen Unlustempfindungen bestimmt die Handlung des rechtlichen Menschen [...] Dagegen ist die christliche Ethik der Gegensatz: sie beruht auf dem Identificiren seiner selbst mit dem Nächsten [...] Liebe ist mit einer Begierde zur Einheit verbunden." (KGW III, 19 [93])

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Selbst-Gewahrwerdung des Künstler-Gottes, vermittelt in nicht ganz durchsichtiger Weise über den verwandelten Bewußtseinsmodus des Menschen in seiner Konfrontation mit denjenigen Schöpfungen, deren Urheberschaft wir (eigentlich fälschlich) dem Künstler-Genius zuschreiben. Hier, in den Betrachtungen, liegt jeder Wert, soweit ein solcher überhaupt im oder durch den Menschen realisierbar ist, entweder in dessen aktualer Beziehung auf ein illusorisches „Ideal", in welcher der Eigen-Wille alltäglichen Begehrens „verneint" wird, oder ist in intentionalen Erlebnissen dieser Art fundiert. Man könnte deshalb sagen, daß die Liebe nicht Werte entdeckt, sondern sich jeweils einen illusorischen Wert als ihren Gegenstand schafft „Eros" bezeichnet somit die künstlerische Tätigkeit par excellence. Einigen Textstellen zufolge ist es eine Bedingung seiner Möglichkeit, daß seine künstlerische Qualität ihm verborgen bleibe die Liebe kann also nicht bewußte Mythopoesis sein.9 Das geht auch aus Nietzsches Anspielungen auf darwinistische Theorien hervor, die seinem Verständnis nach die Möglichkeit nicht-ichbezüglicher, d. h. „unegoistischer", Bestrebungen ausschließen:10 Das seien „Lehren, die ich für wahr, aber für tödtlich halte" (KGW III/l, 315, HL 9), denn, nochmals, „nur umschattet von der Illusion der Liebe schafft der Mensch, nämlich nur im unbedingten Glauben an das Vollkommene und Rechte" (HL 7, 292; meine Hervorhebung). Trotzdem begegnen wir hier einer merkwürdigen Zweideutigkeit. Nietzsche selbst, der in die „Wahrheit" der von ihm bekämpften Doktrinen Initiierte, hält unbeirrt an eben den Wertungen fest, die angeblich für denjenigen, der diese Lehren für wahr hält, nicht mehr möglich sind. Vom Eros in dem prägnanten Sinn, den Nietzsche intendiert, wird behauptet, er sei unmöglich, und doch hört der Philosoph selbst nicht auf zu insistieren, nur durch die Liebe könne Wert am Menschen realisiert und die Natur „von sich selbst erlöst" werden. Die daraus sich ergebende Exigenz mag Aufforderungen wie etwa die folgende erklären: ,,[V]ersuche es nur einmal, den Sinn deines Daseins gleichsam a posteriori zu rechtfertigen, dadurch dass du dir selber einen Zweck, ein Ziel, ein ,Dazu' vorsetzest, ein hohes und edles ,Dazu'. [...] ich weiss keinen besseren Lebenszweck als am Grossen und Unmöglichen, animae magnae prodigus, zu Grunde zu gehen." (KGW III/l, 315, HL 9) In den Notizbüchern finden wir Eintragungen, die diesem Appell inhaltlich genau entsprechen: „Eine [selbst-]verneinende Moral höchst großartig, weil wundervoll unmöglich." (KGW III, 19 [205]) Eine derartige Moral wäre sogar „besonders rein [...], wenn im Wesen der Dinge dem Moralischen nichts entspräche" (KGW III, 19 [185]). Nimmt man diese Überlegungen ernst, dann gibt es in der Tat objektiv nichts, was Wert besäße das „Ideal" ist fiktiver Gegenstand eines Irrglaubens -, aber menschliche Größe besteht darin, zu handeln, als ob es etwas diesem Glauben Korrespondierendes gäbe. Sie liegt, anders ausgedrückt, in der unermüdlichen Rebellion wider die „Tyrannei des Wirkli-

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„Liebe" meint deshalb für den frühen Nietzsche etwas anderes als dasjenige Phänomen, für das manche Autoren den traditionellen Begriff „Agape" gebrauchen. Dieser soll einen „souveränen", „unmotivierten", nicht-evozierten Akt bezeichnen, der nicht als wertentdeckend, sondern als an seinem jeweiligen Objekt wertschaffend zu denken sei. Siehe z. B. A. Nygren, Agape und Eros, Bd. 1, Gütersloh 1930, 185 ff. Vgl. SE 5, KGW III/l, 374: „So lange jemand nach dem Leben wie nach einem Glücke verlangt, hat er den Blick noch nicht über den Horizont des Thieres hinausgehoben, nur dass er mit mehr Bewusstsein will, was das Thier im blinden Drange sucht. Aber so geht es uns Allen, den grössten Theil des Lebens hindurch: wir kommen für gewöhnlich aus der Thierheit nicht heraus, wir selbst sind die Thiere, die sinnlos zu leiden scheinen."

Der frühe Nietzsche und die

Verklärung

der Natur

289

chen", in der heroischen Suche nach Zeichen des Numinosen, die keine Aussicht auf Erfolg hat es sei denn in der Sphäre mythopoetischer Selbsttäuschung. Dieses Ethos ist es, das, wie ich eingangs bemerkte, für eine wichtige Strömung des europäischen Modernismus -

bestimmend wurde. Abschließend möchte ich einige seiner problematischen Aspekte beleuchten, die wahrscheinlich zur historischen Instabilität dieses bedeutenden, die Lebenswelt des frühen zwanzigsten Jahrhunderts prägenden kulturellen Phänomens beigetragen haben. Für Schopenhauer stellte sich das Problem, wie denn der Wille zum Leben sich selbst negieren könne. Er beschrieb diese Selbstverneinung als ein „Paradoxon" „unmöglich und doch wirklich". Wendungen dieser Art sind natürlich nicht dazu angetan den Verdacht zu beseitigen, daß man es hier mit einer inkonsistenten metaphysischen Position zu tun hat. Wenn sich der Wille zum Leben selbst verneinen kann, ist er dann vollständig oder adäquat als Wille zum Leben charakterisiert? Wie wir oben sehen konnten, scheint Nietzsche wenigstens manchen Textstellen zufolge dieses Problem zu vermeiden. Der Wille zum Leben kann sich nicht selber verneinen, aber er kann sich die Illusion schaffen, dies zu tun. Was wir „Kultur" nennen, wird von Nietzsche als der Bereich definiert, in dem solche erotischen Illusionen erzeugt werden. Ist es möglich, weiterhin in diesen „Wahnvorstellungen" zu leben, nachdem man sie als realiter objektlos erkannt zu haben meint, sobald man also Nietzsche zustimmt, daß im „Wesen der Dinge" ihrem scheinbaren intentionalen Gerichtetsein „nichts [entspricht]"? Eigentlich stellen wir damit zwei Fragen, deren eine das Wesen des erotischen Zustandes selbst betrifft, während die andere auf dessen intentionales Objekt abzielt. Die analoge Beziehung zwischen Menschen veranschaulicht diese Unterscheidung. Wir können z. B. von einer Person fragen, ob ihre scheinbare Liebe zu einer anderen Person wirklich das ist, was sie meint, und wir können fragen, ob die scheinbaren Eigenschaften ihres „Gegenstandes", d. h. der anderen Person, wirklich das sind, wofür sie sie hält. Im Hinblick auf die analoge Relation, die Nietzsche beschreibt, wären beide Fragen nach manchen seiner Aussagen negativ zu beantworten. Betrachtet man nun aber die qualitative Unterscheidung des erotischen Zustandes selbst von den ichbezüglichen Begehrungen des naturhaften Selbst als falsch, dann ist Nietzsches dualistische Position evidentermaßen nicht aufrechtzuerhalten, und damit würde auch seine Rede von einer „Erlösung" der Natur von sich selbst, von einer völligen „Umwälzung und Umkehrung" des menschlichen Wesens (SE 4, 367) und ähnlichem mehr, ihres Fundamentes beraubt. Ebenso verlöre das heroische Pathos seiner (und des Modernismus) Rhetorik jede Berechtigung, denn dieses Pathos legitimiert sich aus der Annahme eines unauflöslichen Gegensatzes zwischen der gewöhnlichen Natur einerseits und den Tugenden des heroischen Genius andererseits, der gegen jene aufbegehrt im Namen von etwas, das der Natur gegenüber radikal transzendent ist oder wäre, falls es existierte. Lehnt man also die Behauptung einer derartigen Dualität selbst als irrtümlich ab, gibt man eo ipso das für Nietzsches Frühphilosophie kennzeichnende Paradigma preis, sich damit gleichzeitig dem Denkansatz von Menschliches, Allzumenschliches annähernd, wo ja bekanntlich die früheren dualistischen Thesen emphatisch widerrufen werden.11 Wie aber, wenn wir Nietzsches Rede von „Illusion" und „Wahn" als nur auf den erotischen Gegenstand bezugnehmend auslegen: also auf jene ideale „andere Weltordnung" (KGW III, 29 [8]), deren unablässige Beschwörung und Anrufung sich durch den Text der -

-

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11

Vgl. Nietzsches zahlreiche Attacken auf die Annahme „unegoistischer" in Menschliches,

Allzumenschliches,

z.

Emotionen und B. MA I, 57, 133, 137; MA II, 37, 96.

Begehrungen

290

Peter Poellner

Unzeitgemäßen Betrachtungen hindurchzieht? Jene andere Ordnung tritt dort immer wieder als letzter, intrinsischer Wert im Sinne einer realistischen, materialen Wertontologie auf: d. h. er ist als ein dem Subjekt Anderes zu denken als von ihm ontologisch unabhängig und als seine Anerkennung fordernd. Die verwandelte Natur des Genius, in der affektiven Orientierung auf ein „jenseits" seines Ich gelegenes Ideal wiedergeboren (KGW IV, 5 [22]), empfängt ihren Wert aus der (scheinbaren) Werthaftigkeit ihres Gegenstandes. Streng gesprochen gibt es in den Betrachtungen nichts von intrinsischem Wert außer jenem numinosen Gegenstand. Wie kann dieser aber dann weiterhin Nietzsches evaluative Unterscheidungen und die „Suche" des Genius motivieren, nachdem er klaren Auges als illusorisch durchschaut worden ist als subjektive künstlerische Schöpfung? Er scheint unfähig, dies zu tun, denn sowohl der spezifische Modus, in dem er das Subjekt scheinbar affiziert, als auch der exaltierte Wert, den Nietzsche ihm zuschreibt, hat zur Bedingung, daß er dem Individuum ursprünglich als „anders", als „jenseits" seiner selbst, gegeben sei. Um dies deutlicher zu sehen, ist es hilfreich zu rekapitulieren, warum der Kunst, in einem sehr weiten Sinne als mythopoetische Verklärung der Natur verstanden, in Nietzsches Frühwerk ein derart herausgehobener Status zuerkannt wird. Der Grund dafür liegt darin, daß die „unerlöste" Natur wertlos sei. Sie ist, wenn man so will, entzaubert, denn sie ist das Reich des „Zufalls", dessen Bewohner ihr ephemeres Dasein ausnahmslos in der Botmäßigkeit des Willens zum Leben fristen. Wert besäße für den frühen Nietzsche eine nichtichgerichtete, affektive, intentionale Beziehung des Individuums auf einen numinosen Gegenstand, den er „das Ideal" oder „das Vollkommene und Rechte" nennt. Die prinzipielle Enttäuschung dieser „Sehnsucht" nach dem Ideal durch die Wirklichkeit erweckt die Forderung nach einer „Überwindung" von deren „Tyrannei" mittels des Mythos. Der Leser sieht sich allerdings hier gezwungen zu fragen, was Nietzsche in die Lage versetzt, jenes erotische Bezogensein auf einen Gegenstand „jenseits" des naturhaften Ich als ein Gut zu erkennen. Es ist nicht leicht einzusehen, wie er es als ein solches erfassen könnte, wenn es nicht, entweder in propria persona oder in Gestalt eines Analogon, ihm „gegeben" wäre. Nicht wenige Philosophen haben neuerdings daran erinnert, daß eine apriorische Verknüpfung zwischen dem generischen Begriff des Wertes und demjenigen affektiver Akte oder Zustände besteht.12 Ein Wesen, das der hier relevanten spezifischen Reaktionen der entsprechenden „Gefühle" also nicht fähig wäre, hätte auch keinen adäquaten Zugang zu den Begriffen der Werte, die deren jeweilige objektive Korrelate darstellen.13 Möglicherweise könnte ein solches Wesen verstehen, daß ihm gewisse Handlungen vorgeschrieben oder befohlen sind, gesetzt den Fall, es gelänge, diese wertfrei zu charakterisieren d. h. es könnte vielleicht über einen einigermaßen verkümmerten Pflichtbegriff verfügen -, aber das wäre noch keineswegs einem Verstehen dieser Handlungen oder ihrer Ziele oder Folgen als -

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12

13

Vielbeachtete Formulierungen dieses Gedankens in der jüngsten englischsprachigen Philosophie findet man bei J. McDowell, „Values and Secondary Qualities", in: T. Honderich (Hg.), Morality and Objectivity, London 1985, und bei D. Wiggins, Needs, Values, Truth, Oxford 1987, Kap. 3. Das Wesen dieser „Objektivität" ist Gegenstand anhaltender Kontroversen. Ich verwende den Begriff hier in einer minimalistischen Bedeutung, wonach jedes intentionale Objekt eines intuitiven (z. B. sinnlichen) intentionalen Zustandes das „objektive" Korrelat dieses Zustandes ist. In diesem weiten Verständnis von „objektiv" vertritt sogar David Hume eine objektivistische Werttheorie, wenn er vom „taste" als „gilding or staining all natural objects with [...] colours borrowed from internal sentiment" spricht. (Enquiry Concerning the Principles of Morals, 1. Anhang)

Der frühe Nietzsche und die

Verklärung

der Natur

291

äquivalent.14 Was Nietzsche betrifft, ist es jedoch evident, daß er glaubt, sowohl die von ihm privilegierten affektiven Erlebnisse als auch deren intentionale Gegenstände also die Qualitäten, auf die jene Akte gerichtet sind als Werte erkannt zu haben. In der Tat, was sind seine Panegyriken auf die Eigenschaften des naturerlösenden Genius anderes als der vor allem Schopenhauers und Wagners, wie er sie zu sehen wünscht Ausdruck einer affektiven Beziehung, die derjenigen des Genius selber zum numinosum absconditum, dem abwesenden „Ideal", analog ist? Das würde aber nun bedeuten, daß die Qualitäten, die den auf sie gerichteten subjektiven Akten jene vorzügliche Dignität verleihen, exemplifiziert und erfahrbar sind, was wiederum zur Folge hätte, daß die empirische Welt Werte nach Nietzsches eigenen Kriterien, aber entgegen seinen Schlußfolgerungen enthielte. In diesem Falle aber wäre die Notwendigkeit einer radikalen „Überwindung" der Natur oder ihrer „Erlösung" von sich selbst durch mythische „Wahngebilde", die von ihren Schöpfern als solche erkannt werden, nicht mehr einzusehen. Entweder gibt es intramundane Werte, und erlösende Illusionen im prägnanten Sinn Nietzsches werden obsolet, oder es gibt sie nicht; in letzterer Eventualität könnte auch niemand ihrer gewahr werden und sich (oder uns) zu heroischen Anstrengungen in ihrem Namen verpflichten. Zugespitzt wäre diese Situation so auszudrücken: Eine notwendige Bedingung der psychologischen Möglichkeit, Nietzsches Forderung nachzukommen, selbstverneinend zu handeln, als ob es intrinsische Werte jenseits des Ich gäbe, ist der Glaube, daß es sie in der Tat gibt. Es scheint deshalb, daß die Glorifizierung der Illusion in Nietzsches Frühschriften in jeder Deutung, die einer Überprüfung an den Texten standhält systematische Spannungen erzeugt, die innerhalb der Grenzen der Frühphilosophie weder zu akzeptieren noch aufzulösen sind. Seine Preisgabe jener Philosophie wird deshalb vielleicht am angemessensten als Konsequenz aus dieser Einsicht interpretiert.

wertbehaftet

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14

Etwas als Verpflichtung oder als (von außen) Befohlenes in der hier relevanten Bedeutung zu betrachten, heißt offensichtlich noch nicht, es als Kantsche Pflicht zu verstehen. Man erinnere sich, daß nach Kant der Gegenstand der Pflicht, das moralische Gesetz, durch das Gefühl der Achtung als Wert erkennbar ist. Der frühe Nietzsche weist aber auch Kants Meinung, das Bewußtsein der Pflicht sei wertentdeckend, zurück: „Eine Pflichthandlung ist ethisch werthlos als P/ïic/imandlung". (KGW III, 5 [80], 116)

Jon Stewart

Hegel and Nietzsche on the Death of Tragedy and Greek Ethical

Life1

One of the great unexplained themes in the development of German philosophy is the question of Hegel's influence on or relation to Nietzsche.2 Despite the laudable recent work of Houlgate3 and others,4 there are still many details of the Hegel-Nietzsche relation which remain unexplored. Although Hegel's name and many of the key terms characteristic of his philosophy occur throughout Nietzsche's works, it is far from clear to what extent Nietzsche made a systematic study of Hegel's philosophy and to what extent his understanding of Hegel and Hegelianism was second-hand or derived through the filter of Schopenhauer's animosity.5 It is still an open question whether Nietzsche actually issued carefully considered criticisms of Hegel's thought or whether he, lacking the genuine familiarity with Hegel's philosophy, simply got in a few digs based on a sort of strawman which had been carefully cultivated by Hegel's opponents. The preponderance of the evidence seems to support the view that Nietzsche never read Hegel's texts carefully, if at all, although there is a minority view, defended most notably by Deleuze, according to which Nietzsche was thoroughly familiar with Hegel's writings.6 Deleuze argues that Nietzsche's own philosophy is a selfconscious criticism of Hegel based on a solid understanding of the thought of his predecessor. It has been suggested that some of these discrepancies might be accounted for by the fact that Nietzsche gradually emancipated himself from the influence of Schopenhauer and accordingly from Schopenhauer's critical stance toward Hegel. This would explain that while the early works seem markedly anti-Hegelian, the later works beginning in the 1880's seem to represent something of a rapprochement toward Hegel if not a full acceptance of some of Hegel's doctrines.7

1 I would like to express my gratitude to the Alexander von Humboldt-Stiftung for a generous research grant during the 1994-1995 academic year which enabled me to perform the research for this essay at the Humboldt-Universität zu Berlin. 2 This problem was first expressed by K. Joel in his Nietzsche und die Romantik, Jena 1905, 294. Cf. R. F. Beerling, „Hegel und Nietzsche", Hegel-Studien 1 (1961), 229-246. 3 S. Houlgate, Hegel, Nietzsche and the Criticism of Metaphysics, Cambridge 1986. 4 D. Breazeale, „The Hegel-Nietzsche Problem", Nietzsche-Studien 4 (1975), 146-164. 5 Cf. S. Houlgate, Criticism of Metaphysics, Chapter 2: „Nietzsche's View of Hegel", 24-37. 6 G. Deleuze, Nietzsche et la philosophie, Paris 1962, 9, 223. 7 S. Houlgate, Criticism ofMetaphysics, Chapter 2: „Nietzsche's View of Hegel", 31-37. Cf. also S. Blasche, „Hegelianismus im Umfeld von Nietzsches ,Geburt der Tragödie'", Nietzsche-Studien 15 (1986), 70.

294

Jon Stewart

Although in the final analysis it is difficult to judge how well Nietzsche knew Hegel's texts, the question of influence might be adjudicated in another manner. Instead of analyzing the passages in which Nietzsche treats Hegel's philosophy directly, it might be more productive to seek out common themes or discussions and then to use them as a common basis for comparison. In this way, we would not be obliged to have recourse to speculation about Nietzsche's understanding or knowledge of Hegel's thought per se, but instead we might simply try to assess the degree to which certain central themes in Hegel's philosophy influenced Nietzsche's philosophical agenda. If we can determine that Nietzsche, in fact, was concerned with a number of the same fundamental issues as Hegel, then it would be clear that it is safe to talk about influence of some sort, even if that amounts to vague claims about certain ideas being in the air at a certain time. Moreover, a comparison of the two philosophers in terms of a specific theme might well be revelatory for an understanding of their respective methodologies and philosophical approaches. In fact, upon careful examination, Nietzsche's texts reveal a number of points of contact with Hegel's philosophy in the form of similar discussions and themes. Despite their radically different conceptions of philosophy as a discipline and their different intellectual backgrounds and temperaments, Hegel and Nietzsche nonetheless shared many philosophical concerns, and the result of this is that they treat a number of the same issues, each in his own way and in accordance with his own methodology. In what follows, I would like to examine one of these important, yet hitherto neglected, points of overlap, specifically Hegel's view of the collapse of Greek ethical life and Nietzsche's account of the death of tragedy by the introduction of Socratic logic and rationality into dramatic art via the works of Euripides. It is not readily apparent in what way these two analyses can be seen as treating the same subject, and for this reason I would like here at the start to say a word about it in addition to mentioning a few methodological caveats. We must be wary of unceremoniously extracting a given argument or analysis from the works of Hegel and Nietzsche since discussions which treat the views of these philosophers according to a specific topic, such as Greek tragedy, tend to distort the views in question precisely by placing them in a new context which is foreign to the thought of the philosopher in question. This is particularly misguided with respect to a thinker such as Hegel who consistently insisted on the systematic or speculative nature of philosophy. He tells us explicitly that to extract individual concepts or analyses out of their systematic context is to render them unintelligible since their meaning lies precisely in their systematic relation to other concepts. In the Encyclopaedia, for example, he says, „Apart from their interdependence and organic union, the truths of philosophy are valueless, and must then be treated as baseless hypotheses, or personal convictions."8 In the famous preface to the Phenomenology, Hegel insists that philosophical knowledge must of necessity be systematic: „knowledge is only actual, and can only be expounded, as Science or as system."9 Hegel's insistence on the systematicity of philosophy is nowhere better illustrated than with the example

8 G. W. F. Hegel, Hegel's Logic. Part One of the Encyclopaedia of the Philosophical Sciences, translated by William Wallace, Oxford 1975, § 14, dt.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, in: Gesammelte Werke, Bd. 19, hg. v. d. Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1968 ff., 41. 9 G. W. F. Hegel, Phenomenology of Spirit, translated by A. V. Miller, Oxford 1977, § 24, dt.: Phänomenologie des Geistes, in: Gesammelte Werke, Bd. 9, 21.

Hegel

and Nietzsche

on

the Death

of Tragedy

and Greek Ethical

Life

295

at hand, i.e. his views on tragedy. Thus, if we are to appreciate Hegel's treatment of Greek tragedy, we must locate his various analyses in the context in which they appear. Despite a number of views to the contrary, Hegel never had a theory of tragedy per se. He discusses tragedy in a number of different passages throughout his philosophical corpus, and on the basis of this one might try to reconstruct a theory, as some commentators have done, but we must first of all recognize that this is the artificial construct of the commentators and not something intrinsic to Hegel's own philosophical agenda. Moreover, if we are not to lose sight of Hegel's intentions entirely, we must first try to come to terms with the respective contexts in which he discusses tragedy. The most famous passage that is usually pointed to when evoking Hegel's purported theory of tragedy is the section „Ethical Action" from the „Spirit" chapter of the Phenomenology of Spirit. There Hegel gives his famous account of Sophocles' drama Antigone. It is, however, a grave mistake to regard Hegel's analysis there as a theory of tragedy per se since when we look at the role that this section is supposed to play in the „Spirit" chapter and in the Phenomenology as a whole, it becomes all too clear that Hegel's discussion of drama there is in a sense only incidental and that what is, in fact, under examination is the historical collapse of the Greek polis. Indeed, when Hegel treats the same issue in his Lectures on the Philosophy of History, he does not use the Sophoclean drama as an example at all. Far from providing us with a general aesthetic theory of the nature of Greek drama in the „Spirit" chapter, Hegel merely uses the tragedy, Antigone, to exemplify a historical conflict in the form of art. For Hegel, the ethical conflict represented by the characters Creon and Antigone in the drama is provocative for Sophocles and the Greek audience of the day not because it is a profound aesthetic experience but rather because it was a genuine historical conflict which led to the destruction of the polis as a viable form of life. The „Spirit" chapter of the Phenomenology is dedicated to examining the course of world history according to its Notion or Concept (Begriff). Hegel begins with an account of the Greek world and then, as in his Lectures on the Philosophy of History, goes on to treat the Roman Empire, Medieval Europe, the Enlightenment and

the French Revolution, which leads him more or less up to his own day. It is thus in the context of history that his account oí Antigone appears. Therefore, in the section „Ethical Action" he is not primarily concerned with the isolated issue of the nature of tragedy but rather with the much larger question of the destruction of the Greek polis and the Greek world generally. When we view Hegel's corpus as a whole, we can see that there are other discussions that have a much more plausible claim to being Hegel's official account of tragedy per se.10 One of these is the section „The Spiritual Work of Art" in the „Religion" chapter of the Phenomenology in which Hegel discusses the literary arts in the Greek world, treating in order epic, tragedy and comedy. For reasons given below this is one of the sections which I wish to examine in some detail. Nietzsche discusses Greek drama in a number of passages throughout his corpus, but the most complete statement on the subject is clearly his early work, The Birth of Tragedy. Although his views may have changed in the course of his literary career, I will concentrate on the analysis given there. Nietzsche was not a systematic thinker in the same way Hegel was, and for this reason extracting his analyses from various places in his corpus is probably somewhat less distorting than is the case with Hegel. But nevertheless, as the Nazi misap-

finally

10 There

are

ausgabe),

corresponding sections in the Vorlesungen über die Aesthetik, in: Sämtliche Werke (JubiläumsBd. 12-14, hg. v. Hermann Glockner, Stuttgart 1927-1940, III, 479-524.

296

Jon Stewart

propriations of his work all too clearly demonstrate, grave interpretive dangers still lurk in the arbitrary excerpting of passages from their original context. There are, moreover, other interpretive hazards that we must be wary of in our treatment of Nietzsche's thought. Many interpreters of The Birth of Tragedy have concentrated on the work simply as a theory of tragedy and have failed to recognize fully Nietzsche's sweeping analysis of Greek culture that it contains. To be sure, Nietzsche gives there his famous theory of how Greek tragedy arose from the Bacchic choral revelries and was dominated by the Dionysian and Apollinian principles, but in addition he gives an account of what he calls „the death of tragedy"11 and the setting loose of an entirely new and destructive principle in Greek life with the rise of Socratic logic and rationality. Thus, he gives an account of the demise not only of Greek tragedy but also of an entire form of Greek sensibility and art. Thus, Nietzsche's discussion in The Birth of Tragedy is much broader than it is often construed as being, and his account of the destruction of Greek tragedy is, upon examination, remarkably similar to Hegel's account of the destruction of the Greek polis. In this essay I would like to argue that there are a number of striking, yet heretofore unexamined, similarities in the respective views of Hegel and Nietzsche on Greek drama and the collapse of the Greek world. I wish to claim that the middle section of the „Religion" chapter of the Phenomenology, entitled „Religion in the Form of Art", contains the basic conceptual structure of The Birth of Tragedy. There Hegel anticipates among other things the dialectical opposition between the Apollinian and the Dionysian, the hallmark of Nietzsche's famous treatment of tragedy. In the section „Religion in the Form of Art" Hegel discusses the various forms of Greek art and their portrayals of the divine. This section is divided into three subsections: „The Abstract Work of Art", „The Living Work of Art" and „The Spiritual Work of Art." This account culminates in the destruction of Greek drama which, for Hegel, as for Nietzsche, signals the demise of Greek culture and the Greek world. I wish to argue that Hegel's analysis in „The Abstract Work of Art" corresponds to Nietzsche's conception of the Apollinian, while the analysis in „The Living Work of Art" corresponds to Nietzsche's account of the Dionysian aspect. Finally, the section „The Spiritual Work of Art" brings both of these aspects together and culminates in drama, just as for Nietzsche the Dionysian and the Apollinian together constitute Greek tragedy. The striking similarities between „Religion in the Form of Art" and The Birth of Tragedy have been heretofore overlooked due to the fact that most Hegel commentators have concentrated their attention solely on Hegel's analysis of Antigone from the „Spirit" chapter in their account of his theory of tragedy, thus neglecting this crucial analysis in the „Religion" chapter. The goal of the present essay is to correct this oversight. In the three discussions in the section „Religion in the Form of Art", various aspects of the religion and culture of the ancient Greeks are examined. Hegel's analysis covers the Greeks' achievements in among other things the plastic arts, epic and drama, and he explores other elements of Greek life which do not seem, strictly speaking, relevant to the account of religion which is the express object of study here. According to Hegel's account, all of these forms of Greek art are ultimately manifestations of religion. Hegel's intention by including Greek art in this context is to examine the way in which the divine is conceived and represented by the Greeks, and he uses their art works as an invaluable source of 11

F. Nietzsche, The Birth of Tragedy and The Case of Wagner, translated by Walter Kaufmann, New York 1967 [= BT], § 14, dt.: KSA 1, GT 94.

Hegel

and Nietzsche

on

the Death

of Tragedy and Greek Ethical Life

297

information in this regard. Thus, in this section he is not interested in art as such but only in the way in which various art forms are used to represent the divine. Although Hegel's account of drama here in „Religion in the Form of Art" is not a theory of drama per se, nevertheless it does have a better claim to being one than does the account of Antigone in the „Spirit" chapter. Since Antigone is used solely to illustrate a specific historical moment, it is merely an example which could just as well be replaced by other examples as, in fact, it is in the parallel account of the Greek world in the Lectures on the Philosophy ofHistory. By contrast the account of drama in „Religion in the Form of Art" is a constitutive part of the content of the dialectical movement. Hegel's analysis of drama here takes place in the context of the development of the Greek religion, but this does not mean that the account here is something foreign to an account of tragedy. On the contrary, Hegel understands along with tragedy a number of aspects of Greek culture as manifestations of Greek religious life. Indeed, it is characteristic of the specialization of our own contemporary world to see art, religion and custom as separate spheres. Thus, it is only from a modern, secular perspective that the account of tragedy here seems out of place. Hegel's analysis of epic and drama in „The Spiritual Work of Art" therefore can be taken as his official view on these

subjects.

I. The Abstract Work of Art and the

Apollinian

The realm of the religious consciousness of ancient Greece is that in which the individual comes to see himself in the divine which he represents in the form of a self-conscious subject. In „The Abstract Work of Art", the first of three analyses of Greek religious consciousness, self-consciousness no longer has natural entities for its object, but rather „Spirit brings itself forth as object."12 Self-consciousness examines itself and conceives of the divine as a being like itself. In order to understand the Greeks' conception of the divine, Hegel examines various forms of Greek art in which the divine is manifested. He writes of the Greek sculpture which constitutes the Notion here: „The first work of art, as immediate, is abstract and individual."13 A word about the meaning of the term „abstract" in this context is in order since Hegel's use of it here is somewhat at odds with current usage in the field of art. By „abstract art" Hegel means the idealized human forms that we find in Greek sculpture. These forms are abstract since one must abstract from the actual natural forms and their imperfections in order to arrive at them. Although in Greek sculpture the gods have human form, it is not a natural human form, but rather a perfected, idealized one. The self-conscious god is in the object of the sculpture. Although the divine is conceived as a self-conscious subject, it is still represented in the form of an object. This is the general Notion here in „The Abstract Work of Art." The characteristic of Greek religion for Hegel is that religious consciousness tries to see the divine in the form of a self-conscious human subject. Here the divine is self-consciously represented by the sculptor in the form of a statue that resembles a human being. The artist is wholly aware of his actions and self-consciously attempts to represent the divine in this 12 13

G. W. F.

Hegel, Phenomenology of Spirit, § 703 (Phänomenologie des Geistes, 377).

Ebd., §705 (378).

Jon Stewart

298 medium. The creation of the sculpture is considered to be artist originating from the god:

pathos of the

a

divinely inspired

act

with the

„The concrete existence of the pure Notion into which Spirit has fled from its body is an individual which Spirit selects to be the vessel of its sorrow. Spirit is present in this individual as his universal and as the power over him from which he suffers violence, as his pathos, by giving himself over to which his self-consciousness loses its freedom. "14 The god chooses specific individuals and makes artists out of them by inspiring them with the knowledge and skill to create. The inspired artist uses natural materials and, under the influence of the god, tries to shape them into forms of the divine: „This pure activity, conscious of its inalienable strength, wrestles with the shapeless essence. Becoming its master, it has made the pathos into its material and given itself its content, and this unity emerges as a work, universal Spirit individualized and set before us."15 In the creative act, the sculptor is united with the divine from which he receives inspiration. A unity is also attained in the sculpture itself which, as a sculpture of a self-conscious divinity, has a universal element which is represented in natural materials in the concrete sphere of perception. This harmony stands at the center of the Notion which is treated here in this section. The god, portrayed in the form of a statue, is thus an object or an individual entity in the realm of immediacy. Hegel describes this as follows, „The first mode in which the artistic Spirit keeps its shape and its active consciousness farthest apart is the immediate mode, viz. the shape is there or is immediately present simply as a thing."16 The artist creates a statue of the god, and thus gives the divine an immediate reality. The essence of the god is recognized in the idealized form of the statue. The perfection of the lines and figure of the statue of the god constitutes an abstract form, i.e. abstracted from natural instantiations:

„the Notion strips off the traces of root, branches, and leaves still adhering to the forms and purifies the latter into shapes in which the crystal's straight lines and flat surfaces are raised into incommensurable ratios, so that the ensoulment of the organic is taken up into the abstract form of the Understanding and [...] its essential nature incommensurability is preserved for the Understanding."17 -

-

In contrast to the Notions of „Natural Religion", according to which the god was domiciled in natural shapes, the divine here is purged of its natural forms and, now liberated, comes forth in its true human form: „The human form strips off the animal shape with which it was blended; the animal is for the god merely an accidental guise; it steps alongside its true shape and no longer has any worth on its own account."18 The divine is no longer only half-human, like the Sphinx in the section „The Artificer" but rather is wholly human in form. The mysterious god which for the artificer dwelt in the sphere of the inner is now seen in the light of day, accessible to all. This purging of the natural or individual element

14 15 16 17

18

G. W. F. Hegel, Phenomenology Ebd. Ebd., § 706 (378). Ebd. Ebd., § 707 (378 f.).

of Spirit, § 704 (Phänomenologie des Geistes, 378).

Hegel and Nietzsche

on

the Death

of Tragedy and Greek Ethical Life

299

represents the sublation of nature and the appropriation of the object by self-consciousness: „Nature [is] transfigured by thought and united with self-conscious life. The form of the gods has, therefore, its Nature-element within it as a transcended moment, as a dim memo-

ry."19 This constitutes the ultimate sublation of natural religion.

The idealized statue of the god, however, does not express the true essence of the artist who creates it. The statue is a universal, idealized form which cannot reflect the individual idiosyncrasies of the individual artist. Thus, although the artist may have created a beautiful statue, he does not see himself as an individual reflected in it. Hegel describes this as follows: „What belongs to the substance, the artist gave entirely to his work, but to himself as a particular individuality he gave in his work no actual existence: he could impart perfection to his work only by emptying himself of his particularity, depersonalizing himself and rising to the abstraction of pure action."20 The artistic work was performed by the particular sculptor with his hands and skill. But yet the true work is that which is inspired by the divine and in which the individuality of the particular artist plays no role. The artist must „declare the work of art to be in its own self absolutely inspired, and [...] forget himself as performer."21 The recognition of the beauty of the sculpture by the general public is merely testimony to its divinely inspired nature and is in no way conceived as a refection of the skill and discipline of the individual artist.22 The work is considered only from its divine and not from its human side. Since the artist is alienated from his project and realizes that „in his work [...] he did not produce a being like himself",23 he must now search for another medium more appropriate for expressing and portraying the divine. This account of sculpture as the abstract work of art corresponds in many aspects to Nietzsche's characterization of the Apollinian. In a sense the similarity here is obvious since Nietzsche defines the Apollinian explicitly as the „art of sculpture."24 But this superficial similarity becomes more profound when we examine Nietzsche's further characterization of the Apollinian principle. For Nietzsche the principle characteristic of the Apollinian is that it represents the principle of individuation: „We might call Apollo himself the glorious divine image of the principium individuationis."25 The Apollinian distinguishes and separates, sunders wholes and analyzes the individual parts. This aspect constitutes one of the chief points of contrast with the Dionysian, which eliminates all distinctions and all individuality and dissolves everything into a primal unity without distinction. As we have seen, the aspect of individuation is precisely the characteristic that Hegel underscores in his account of the

19 20 21 22

23 24

G. W. F. Hegel, Phenomenology Ebd., § 708 (379).

of Spirit, § 707 (Phänomenologie des Geistes, 379).

Ebd., §708 (380). In his Lectures on the Philosophy of Religion, Hegel describes this as follows: „If the work of art is the self-revelation of God and the revelation of the productivity of man as the positing of this revelation by the abrogation of his particular knowledge and will, on the other hand, the work of art equally involves the fact that God and man are no longer beings alien to one another, but have been taken up into a higher unity." (G. W. F. Hegel, Lectures on the Philosophy of Religion, translated by E.B. Speirs and J. Burdon Sanderson, Bd. II, London/New York 1962, 1968, 1972, 256, dt.: Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Bd. 15-16, in: Sämtliche Werke, Bd. II, 126). G. W. F. Hegel, Phenomenology of Spirit, § 709 (Phänomenologie des Geistes, 380).

BT§1,GT25.

25 BT§1,GT28.

Jon Stewart

300

sculpture: „The first work of art, as immediate, is abstract and individual."26 The specific sculpture is a concrete empirical entity in the realm of perception, and it is constructed with specific materials. It is thus an individual thing despite its idealized or „abstract" form: „[...] the shape is there or is immediately present simply as a thing. In this mode, the shape is broken up into the distinction of individuality [...] and of universality."27 The individual empirical aspect of the sculpture represents its essential characteristic for Hegel. This aspect contrasts with its universality, i.e. the abstract, idealized figure of the sculpture. The empirical object of the sculpture is individual, while its form is a universal. Thus, Nietzsche's characterization of the Apollinian as the principle which separates and divides is in a sense prefigured by Hegel's analysis of the individuality of the particular sculpture. There is another area of overlap in the two accounts. For Nietzsche, the Apollinian is also the principle of dreams or illusion which hides the essential suffering of existence: „The joyous necessity of the dream experience has been embodied by the Greeks in their Apollo."28 The Apollinian seeks to disguise the suffering of human existence with illusions. A part of the charm of Greek tragedy is this aspect of illusion in which the audience takes delight. For Hegel, sculpture of the abstract work of art overcomes the natural and hides the natural elements which were so prevalent in the previous modes of religious consciousness. In fact, this stage is called the abstract work of art precisely because it abstracts from the natural elements: „The form of the gods has, therefore, its nature-element within it as a transcended moment, as a dim memory. The chaotic being and confused strife of the freely existing elements, the unethical realm of the Titans, is conquered and banished to the fringes of an actuality that has become transparent to itself."29 In sculpture the final elements left over from natural religion are now purged. Now the Titans as natural entities are eliminated, and a new divinity comes about which takes on an idealized human form. This purging of the natural elements corresponds to Nietzsche's understanding of the Apollinian as the principle which disguises and denies the realm of nature, death, cruelty and suffering.

The abstract work of art represents an ideal and as such an illusion. This as well constitutes another part of the commonality in the respective analyses of the two philosophers. A third similarity can be noted in the notion of lucidity or self-reflective consciousness. For Nietzsche, lucidity, cogency and discursive thought are important characteristics of the Apollinian. „Apollo, the god of all plastic energies", he writes, „is at the same time the soothsaying god. He, who (as the etymology of the name indicates) is the ,shining one', the deity of light, is also ruler over the beautiful illusion of the inner world of In contrast to the Dionysian, which is immediate and unreflective, the Apollinian represents self-conscious reflection and action for Nietzsche. Hegel characterizes the abstract work of art in precisely the same terms. For Hegel this kind of art is „pervaded with the light of consciousness."31 Although he is divinely inspired, nonetheless the sculptor must selfconsciously set about his work and create his object. On his view, the sphere of immediacy

fantasy."30

26 27 28 29 30 31

G. W. F. Hegel, Phenomenology Ebd., § 706 (378).

of Spirit, §

705

(Phänomenologie des Geistes, 378).

BT§1,GT27. G. W. F. Hegel, Phenomenology of Spirit, § 707 (Phänomenologie des Geistes, 379). BT§ 1, GT27. G. W. F. Hegel, Phenomenology of Spirit, § 707 (Phänomenologie des Geistes, 378).

Hegel and Nietzsche

on

the Death

of Tragedy

and Greek Ethical

Life

301

has been overcome, and this is the realm of „lucid, ethical spirits of self-conscious Nations."32 We see here another point of contact between the two analyses. These areas of overlap should suffice to establish the claim that Hegel's analysis of the abstract work of art contains some of the essential elements of Nietzsche's conception of the Apollinian. This thesis concerns merely the content of the two analyses and does not pretend to make any claims about the question of the influence of this Hegelian text on Nietzsche's thought. Although at first glance this discussion in the Phenomenology has little to do with Nietzsche's account in The Birth of Tragedy above all since Hegel does not mention Apollo in this context at all, nonetheless when we examine the actual analysis we find that in fact there are striking similarities. As we shall see, the further development of Hegel's discussion of „Religion in the Form of Art" will bear out these similarities and develop them further.

II. The

Living

Work of Art and the

Dionysian

god, as self-conscious other, finds a more satisfactory incarnation in a living human subject than in an inanimate statue. Since the statue proved to be an inadequate representation of the divine, now in the section „The Living Work of Art" the living human body replaces the motionless marble as the medium in which the divine manifests itself, and thus the very person of the believer becomes the vessel of divine agency. In the experience of consciousness, the divine inhabits the body of the individual in two different contexts. At first the god is thought to possess his devotees unconsciously in their practice of the Bacchic rites, and then in the second moment the divine is thought to dwell in the person of the athlete who, in the cultivated perfection of his body, evinces the work of the divinity. It is the first moment which will be of primary interest for our purposes. As Hegel explains in his account of the cult, the divine is thought to inhabit the objects of nature. Here a change comes about, and the object of the cult is transformed from the products of nature to the body of the believer himself. The believer eats the meat of the The

sacrificial animal and drinks the sacrificial wine:

„Coming down from its pure essential nature and becoming an objective force of nature and the expressions of that force, it is an outer existence for the „other", for the self by which it is consumed. The silent essence of self-less nature in its fruits attains to that stage where, self-prepared and digested, it offers itself to life that has a self-like nature. In its usefulness as food and drink it reaches its highest perfection; for in this it is the possibility of a higher existence and comes into contact with spiritual reality."33 Now in the sacrifice and consumption of these objects, the believer, who nourishes himself with these gifts of the gods, is unified with the divine. It is thus in the appropriation, consumption and enjoyment of the fruits of nature that the god enters the very body of the believer which it grants strength and nourishment, and in this way, „self-consciousness [...]

32 33

G. W. F. Hegel, Phenomenology Ebd., § 721 (386).

of Spirit, § 707 (Phänomenologie

des

Geistes, 379).

302

Jon Stewart

comes forth from the cult satisfied in its essence, and the god enters into it as into its habitation."34 Through this metamorphosis from the objects of nature, the god comes out of the beyond and reveals himself in the body of the believer: „For the mystical is not concealment of a secret, or ignorance, but consists in the self knowing itself to be one with the divine Being and that this, therefore, is revealed."35 In the consummation of the fruits of nature and the objects of desire, the initiate in the cult can immediately feel his unity with the divine. Just as in „The Truth of Self-Certainty" consciousness had to destroy the object of its desire in order to confirm its own conception of itself, so also here religious consciousness must destroy the object of nature in order to confirm its sublime relation to the divinity: „[...] as a thing that can be used it [sc. divine Being] not only has an existence that is seen, felt, smelt, tasted, but it is also an object of desire, and by being actually enjoyed becomes one with the self and thereby completely revealed to the self and manifest to it."36 Thus, in the Greek religion, as in the Christian religion, god is revealed. The first form of „The Living Work of Art" concerns the initiates of the cult of Bacchus. As we have seen, the god enters into the body of the believer via the fruit and wine and other natural products which are conceived as gifts which the god provides. The divine „at first enters into the objective existence of the fruit, and then, surrendering itself to selfconsciousness, in it attains to genuine reality and now roams about as a crowd of frenzied females, the untamed revelry of nature in self-conscious form."37 In the Bacchic revelries the god is thought to possess the bodies of the individual revelers. Like the statue of the divine from „The Abstract Work of Art", the body is that of a self-conscious human form, but here it is an animated living self and is thus a higher representation of the divine: „Man thus puts himself in the place of the statue as the shape that has been raised and fashioned for perfectly free movement, just as the statue is perfectly free repose. "38 This new representation of the divine has life and motion, both of which were absent in the unmoving -

statue.

Despite its improvements over the statue, this conception is nevertheless still inadequate since the divine is revealed only partially and in its immediate existence as a natural object which it inhabits: „But what is disclosed to consciousness is still only absolute [i.e. abstract] Spirit, which is this simple essence, not Spirit as it is in its own self; in other words, it is only immediate Spirit, and the Spirit of nature."39 What is not revealed is the divine in its universality. The divine possesses the bodies of the initiates, but in their revelries the initiates are utterly incoherent and seemingly driven by a maddening force. The god is clearly at work in the bodies of the individual revelers but not the god as a coherent, selfconscious subject. The essential self-conscious element of the divine is still missing in this incarnation. Although the believer thought he could attain the universality of the divine through the act of sacrifice, the divine, as self-consciousness, is not in the product of nature, and thus by consuming the objects of nature, the believer may become possessed by some

34 35 36 37 38 39

G. W. F. Hegel, Phenomenology Ebd., § 722 (386). Ebd. Ebd., § 723 (387).

Ebd., §725 (387). Ebd., § 724 (387).

of Spirit, §

721

(Phänomenologie des Geistes, 386).

Hegel

and Nietzsche

on

the Death

of Tragedy

and Greek Ethical

Life

303

aspect of the divine but not by the essential self-conscious aspect: „[...] its self-conscious life is only the mystery of bread and wine, of Ceres and of Bacchus, not of the other, the

strictly higher, gods whose individuality includes as an essential moment self-consciousness as such. Therefore, Spirit has not yet sacrificed itself as self-conscious Spirit to self-consciousness."40 What is sacrificed is a physical, natural object, and this is not the essential selfconscious element of the god. The second moment tries to conceive of the divine in the cultivated body of the athlete. For the Greeks, the human body itself, as a product of nature, was an artistic medium to be shaped and formed. The body is to the athlete what the stone is to the sculptor or a canvas to the painter. In the Lectures on the Philosophy of History, Hegel refers to this cultivation of the body as „The Subjective Work of Art": „This is the subjective beginning of Greek art in which the human being elaborates his physical being, in free, beautiful movement and agile vigor, to a work of art."41 The Greeks practiced, so to speak, a cult of the body, which took the form of organized athletic contests and festivals. These events were the immediate occasion at which the divine reveals itself in the individual subject. During the festival, there was singing, dancing, games and contests, all of which evidence the divine in human form: „Man shows his spiritual and bodily ability and skill, his riches; he exhibits himself in all the glory of god, and thus enjoys the manifestation of god in the -

individual

himself."42

Despite the fact that the divine appears in the body of the believer and thus takes on a living form, this is still an inadequate representation since there is still lacking the inward aspect of the divine, namely, language. Just as in the cult a part of the god remains in the sphere of the divine and does not become incarnated in the natural world, so also here „still there yet remains for consciousness a ,beyond'."43 The divine can be observed in the living body of the athlete, but this living representation of the divine is still incomplete. There is no inward, divine aspect in the coherent speech of the athlete. „The moment of subjectivity", Hegel writes, „does not appear as infinite subjectivity, it is not Spirit as such which is contemplated in the objective forms."44 The self-conscious Spirit, i.e. the divine as a selfconscious subject, is not revealed in the body of the athlete. Just as with the Bacchic revelers, so also here with the athlete it is precisely this self-conscious side which is still mis-

sing.

Even at first glance Hegel's account of the living work of art is remarkably similar to Nietzsche's conception of the Dionysian. In fact, both thinkers analyze the same phenomethe Bacchic rites. The cult member in his ecstasy is Hegel's first example of the non work of art, and this corresponds straightforwardly to the Dionysian in Nietzsche, living which is characterized by singing, dances, intoxication and revelries. For Nietzsche it is the satyric chorus which represents the irrational Dionysian principle. As we have just seen, for Hegel, the living work of art is characterized by nature coming forth and manifesting itself in the cult „as a crowd of frenzied females, the untamed revelry of nature in self-conscious -

40 41

G. W. F. G. W. F.

42 43 44

Ebd., 274(143).

Hegel, Phenomenology of Spirit, § 724 (Phänomenologie des Geistes, 387). Hegel, The Philosophy of History, translated by J. Sibree, New York 1944, 242, lesungen über die Philosophie der Geschichte, Bd. 11, in: Sämtliche Werke, 317. G. W. F. Hegel, Philosophy of Religion, 273 (Philosophie der Religion, 141). Ebd., 274(142).

dt.: Vor-

Jon Stewart

304

form."45 Here conventions and laws are put into abeyance, and free reign is given to natural

impulses.

We have noted that in the previous discussion, Hegel combines aesthetics and religion since to his way of thinking these were two elements that could not be separated from Greek ethical life as a whole. For Hegel, the living work of art is a higher manifestation of the divine since a living human body is a more realistic portrayal of the living god than an inanimate sculpture. For Nietzsche as well religion and art are mixed in the origin and development of Greek tragedy. He too understands the Dionysian reveler not merely as a manifestation of a religious act but also as a work of art. The body of the Dionysian reveler is described by Nietzsche in the same terms as in Hegel's analysis, as a work of art: „he is no longer an artist, he has become a work of art [...]. The noblest clay, the most costly marble, man, is here kneaded and cut."46 Both Hegel and Nietzsche emphasize the fact that the human body itself is used as the raw material for the work of art, and this constitutes the first similarity in the two accounts. The Dionysian principle is one in which the differences collapse and individuals coalesce into a primal unity. The Dionysian dwells in the primal energy of untamed emotions of primal human existence without the veil of illusion. For Nietzsche the original unity of man with man and of man with nature is represented by the Bacchic revelries: „Under the charm of the Dionysian not only is the union between man and man reaffirmed, but nature which has become alienated, hostile, or subjugated, celebrates once more her reconciliation with her lost son, man."47 Only when the Apollinian element of individuation was introduced was this original unity destroyed. Hegel describes the activity of the cult in the same way. It contains an „essence [...] which is immediately united with the self."48 The divine possesses the body of the cult member, and thus all individuality disappears. But yet it is a single god which possesses all the cult members, and thus a higher community is established. Hegel distinguishes the universality of this communal feeling from the individuation and alienation of the sculpture. He characterizes the higher community as „the night of substance" which is „no longer the tense individuality of the artist."49 For Hegel, the divine dissolves the individuality of the cult members just as for Nietzsche the Dionysian dissolves the individuality of the members of the satyric chorus. Nietzsche sees the Dionysian as representing the realm of immediate, original nature. The satyric chorus represents the primal unity that existed prior to the introduction of differentiation and alienation that came with the various aspects of civilization. In a similar fashion, Hegel characterizes the living work of art as representing „pure essential nature and becoming an objective force of nature and the expressions of that force."50 What is manifested in the body of the athlete or the cult member are natural forces which represent the individual gods, each of which rules over his or her own natural sphere. There are thus a number of striking similarities between Nietzsche's account of the Dionysian and Hegel's account of the living work of art.

45 46 47

48 49 50

G. W. F. Hegel, BT § 1, GT 30. BT § 1, GT29. G. W. F. Hegel,

Phenomenology of Spirit, §

723

(Phänomenologie des Geistes, 387).

Phenomenology of Spirit, §

720

(Phänomenologie des Geistes, 385).

Ebd., §721 (386). Ebd.

Hegel

and Nietzsche

on

the Death

of Tragedy

and Greek Ethical

Life

305

indicates that the two moments that we have examined in „The Abstract Work of Art" and „The Living Work of Art" will come together in the Notion of the next section, „The Spiritual Work of Art." Now what is required is something that unites these two previous moments the Bacchic revelries and the sculpture each of which alone is inade-

Hegel

-

quate:

-

„In the Bacchic enthusiasm it is the self that is beside itself, but in corporeal beauty it is essence. The stupor of consciousness and its wild stammering utterance in the former case must be taken up into the clear existence of the latter, and the non-spiritual

spiritual clarity

of the latter into the inwardness of the

former."51

On the one hand, the divine, yet incoherent, speech of the Bacchic revelers must be transformed into the coherent speech of a true self-conscious agent. On the other hand, the coherence and lucidity of the sculpture must be invested with a divine element or „inwardness." The two sides are brought together in literature which constitutes the subject of the next section. It is only in literature that speech displays „a lucid and universal content."52 In the aspect of lucidity, the divine, as represented in literature, evinces a cogent self-conscious form, and in the aspect of universality, its divinity and spiritual depth. Something similar happens according to Nietzsche's account. Tragedy as a form of art is born out of the interaction of the two principles of the Dionysian and Apollinian. The reveling satyric chorus develops into the sober art of tragedy when individuals separate from the chorus and enter into a dialogue with it. Tragedy thus transforms the incoherent and chaotic revelries of the satyric chorus into something lucid and coherent. Thus, for both Hegel and Nietzsche, the two principles combine and bring forth something higher. For Nietzsche, as for Hegel, the two principles stand in a dialectical relation to one another and develop in this relation into various forms.53 The claim that Nietzsche had a dialectical methodology contradicts above all Deleuze's thesis that Nietzsche's philosophy is „resolutely anti-dialectical."54 As other critics have noted, Deleuze seems to ignore wholly Nietzsche's description of the relation of the Apollinian to the Dionysian.55 There are a number of passages in The Birth of Tragedy which contradict Deleuze's claim fairly straightforwardly. For instance, Nietzsche writes, „These two different tendencies run parallel to each other, for the most part openly at variance; and they continually incite each other to new and more powerful births."56 Later Nietzsche traces a cursory history of Greek culture in terms of this movement:

„Up to this point we have simply enlarged upon the observation made at the beginning of this essay: that the Dionysian and the Apollinian, in new births ever following and mutually augmenting one another, controlled the Hellenic genius; that out of the age of ,bronze', with its wars of the Titans and its rigorous folk philosophy, the Homeric world

51

G. W. F. Hegel, Phenomenology of Spirit, § 726 (Phänomenologie des Geistes, 388). 52 Ebd. 53 S. Blasche, „Hegelianismus", 59-71. 54 G. Deleuze, Nietzsche et la philosophie, 223. 55 Cf. D. Breazeale's criticism: „The Hegel-Nietzsche Problem", 153-162. 56 BT § 1, GT 25.

Jon Stewart

306

developed under the sway of the Apollinian impulse to beauty; that this ,naive' splendor was again overwhelmed by the influx of the Dionysian; and that against this new power of the Apollinian rose to the austere majesty of Doric art and the Doric view of the world."57 According to this passage, it is in the interaction of the two principles of the Apollinian and the Dionysian that the Greek cultural world develops. It would be obtuse to demand a detailed account of the implicit concept of dialectic that is at work here in order to compare it with Hegel's explicit statements on the subject. The claim is not that Nietzsche had a worked-out dialectical methodology which corresponds in every aspect to Hegel's, but rather that there are aspects of a dialectical method at work in Nietzsche's account here. Whatever the differences might be, the similarity exists in the fact that the two principles do not simply mutually negate each other, but instead each stimulates a change or modification in the other and both together constitute a single dialectical unit which develops in time. Thus, Nietzsche uses an explicitly recognized Hegelian mechanism the dialectic to explain the relation of the two terms to one another. In addition, the culmination of the dialectical movement for Hegel is the same as for Nietzsche. For Nietzsche, it is the unity of the two artistic principles which produces Greek drama: „[...] they appear coupled with each other, and through this coupling ultimately generate an equally Dionysian and Apollinian form of art Attic tragedy."58 He writes -

further,

-

-

„If amid the strife of these two hostile principles, the older Hellenic history thus falls into four great periods of art, we are now impelled to inquire after the final goal of these developments and processes, lest perchance we should regard the last-attained period, the period of Doric art, as the climax and aim of these artistic impulses. And here the sublime and celebrated art of Attic tragedy and the dramatic dithyramb presents itself as the common goal of both these tendencies whose mysterious union, and after many and long precursory struggles, found glorious consummation in this child at once Antigone and

Cassandra."59

As

-

have seen, Hegel's analysis traces the form of religious Spirit from sculpture to the of body the cult member and culminates in Greek drama. According to his account, Greek drama unites conceptually the preceding moments and raises them to a higher level. Just as the living body replaced the static sculpture as a more satisfying representation of the divine, so also now drama replaces the body of the cult member or the athlete. At each stage, the self-conscious divine manifests itself more adequately. Thus, although Hegel's organizational principle is the conceptual self-development of Spirit, which is a principle entirely foreign to Nietzsche, nonetheless Nietzsche sees the development of the two principles and their conclusion in essentially the same way.

57 58 59

we

BT BT BT

§ 4, GT41. § 1, GT 25 f. § 4, GT 42.

Hegel

and Nietzsche

on

the Death

of Tragedy

and Greek Ethical

307

Life

III. The Spiritual Work of Art: Tragedy and and the Collapse of the Greek World

Comedy

In the third and final section of „Religion in the Form of Art", entitled „The Spiritual Work of Art", Hegel treats what he sees as the highest representation of the divine conceived by the Greek Spirit the divine in the form of the literary arts. His analysis here prefigures some of the central theses in The Birth of Tragedy. In this section it is language in its various forms which is the medium in which the divine finds expression. Stories are told and enacted which portray the gods in anthropomorphic form and in constant interaction with human affairs. The portrayal of the divine in the medium of language constitutes a higher representation than the divine represented in the form of the plastic arts or in the body of the cult member. In the stories of literature and drama, the gods are conceived as living entities in contrast to the motionless statue in „The Abstract Work of Art. Moreover, the living representations are endowed with the gift of coherent speech in contrast to the Bacchic revelers in „The Living Work of Art." Here the gods resemble self-conscious human subjects more than ever before. Hegel calls this discussion „The Spiritual Work of Art" since for the first time the divine is portrayed in a medium that is pure Spirit and wholly devoid of nature. We no longer need marble or stone or even the body of the believer or athlete to portray the divine since now language alone is sufficient. Greek tragedy constitutes after epic the second moment of the representation of the divine in the medium of language.60 This representation is „higher"61 than epic since, instead of a simple narrative told by a single bard, now there are living actors who play the various characters and act out the events: „[...] these characters exist as actual human beings who impersonate the heroes and portray them, not in the form of a narrative, but in the actual speech of the actors themselves."62 Now the heroes are not abstract universal beings who dwell only in the sphere of language and in the imagination of the auditors but instead are concrete, empirical individuals on the stage. The actor replaces the bard, and his living representation of the divine is more real than that of his predecessor and is more like Spirit or a true human being. At this stage there is a dialectical movement of knowledge and ignorance into which the tragic heroes invariably fall. The knowledge of the hero is always one-sided and based on his own essential character as a hero: „He takes his purpose from his character and knows it as an ethical essentiality; but on account of the determinateness of his character he knows only the one power of substance, the other remaining for him concealed."63 It is the other side, the one which remains hidden from view, which brings the tragic conflict to a head when it asserts its right. In the hero's action and its results, he sees that his purpose and the principle for which his character stands are one-sided and partial: „Consciousness disclosed this antithesis through action; acting in accordance with the knowledge revealed, it finds out that knowledge is deceptive; and being committed as regards the content of that knowledge -

"

60 Cf. G. W. F. Hegel, Hegel's Aesthetics. Lectures on Fine Art, Bd. II, translated by T. M. Knox, Oxford 1975, 1193 ff. (Aesthetik, 526-533). 61 G. W. F. Hegel, Phenomenology of Spirit, § 733 (Phänomenologie des Geistes, 392). 62 Ebd. 63 Ebd., § 737 (394).

Jon Stewart

308

of the attributes of substance, it violated the other and so gave it the right as against itself."64 Thus, the tragic conflict is not between a virtuous hero battling the forces of injustice, but rather, as m Antigone, between two principles which are legitimate and which both claim their right: „The truth, however, of the opposing powers of the content [of the knowledge] and of consciousness is the result that both are equally right, and therefore in their antithesis, which is brought about by action, are equally wrong."65 For Hegel, the two-world split at this level is represented in picture-thinking as „the revelatory god" Apollo and „the Furies who keep themselves concealed."66 Together these two principles constitute the entirety of this sphere. Here we see explicitly the analogue in Hegel to the Apollinian-Dionysian dualism in Nietzsche. Hegel mentions Apollo explicitly with the appellation, „Phoebus", and with the Furies describes a principle virtually identical to what Nietzsche understands by the Dionysian. Of the visible side of the dichotomy Hegel writes, „The one is the aspect of light, the god of the oracle who, in accordance with its natural moment, has sprung from the all-illuminating sun, knows all and reveals all Phoebus and Zeus who is his father."67 This side, the visible truth, is, however, necessarily misleading and deceptive since it is only one side of the whole. For this reason, this aspect is simultaneously the negative aspect represented by the Furies: to one

-

„The action itself is this inversion of the known into its opposite, into being, is the changing-round of the Tightness based on character and knowing into the Tightness of the very opposite with which the former is bound up in the essential nature of the substance converts it into the Furies who embody the other power and character aroused into hostili-

ty."68

For Hegel, while Apollo represents reflection and knowing, the Furies represent immediacy and „not-knowing",69 both of which are characteristics of the Dionysian for Nietzsche. It is the law of the nether world, „the power that conceals itself and lies in ambush."70 The known and the unknown, the visible and the invisible are thus dialectically related and constitute a single concept. This representation of the divine ultimately proves to be inadequate due to the tension caused by the fact that the divine is responsible for both knowledge and ignorance, for what lies open and for what remains hidden. In epic the gods were compelled to recognize fate as a power that stood above them, and now here in tragedy, they gradually melt away into this impersonal concept. As we have just seen, the dialectical movement of knowing and ignorance represented by Apollo and the Furies was what led to the tragic downfall of the hero who only knows or recognizes partial truths without seeing the whole. These two principles are simply two sides of the same concept. Knowledge in its incompleteness is ignorance. This is represented in picture-thinking by the belief that Zeus stands for both 64 65

66 67 68 69 70

G. W. F. Hegel, Phenomenology of Spirit, § 740 (Phänomenologie des Geistes, 395). Ebd., § 740 (396). Cf. G. W. F. Hegel, Philosophy of Religion, 264 f. (Philosophie der Religion, 133 f.). G. W. F. Hegel, Phenomenology of Spirit, § 739 (Phänomenologie des Geistes, 395). Ebd., §737 (394). Ebd., §738 (395). Ebd., § 739 (395). Ebd., § 737 (394).

Hegel

and Nietzsche

on

the Death

of Tragedy

and Greek Ethical

Life

309

Zeus is on the one hand „the father of the particular that is taking and is also „the Zeus of the universal, of the inner being dwelling in concealment."71 Given that these concepts stand in opposition to one another and lead to the tragic fall of the hero, they are conceived impersonally as necessity or fate, which is once again associated with Zeus: „But self-consciousness, the simple certainty of self, is in fact the negative power, the unity of Zeus, of substantial being and of abstract necessity."72 Thus, instead of the gods bending to a higher necessity as in epic, here Zeus and necessity coalesce into one. But since necessity is seen as something alien, the individual is alienated from both Zeus and the divine sphere as a whole. Despite the anthropomorphic representation of the divine, the individual sees the blind force of fate and thus Zeus as something alien and terrifying: „Necessity has, in contrast to self-consciousness, the characteristic of being the negative power of all the shapes that appear, a power in which they do not recognize themselves but, on the contrary, perish."73 The Notion of the divine ceases to be a self-conscious subject and is transformed into the impersonal, unconscious force of fate which is indifferent to the passions and sufferings of individuals. The individual is still alienated from the world and from god, and „the true union, that of the self, fate, and substance, is not yet present."74 This contradiction in the Notion of the divine spills over into a contradiction in the person of the actor himself. In the role that he is playing, the actor stands apart from the chorus and the public and is united with the divine which is bound up in his actions. But yet, as an actual person, the actor, like the chorus and the public, is separated and alienated from the divine and fate. There is thus a contradiction between the actor himself and the role he is playing, and in the end tragic acting becomes

Apollo and the Furies. shape in the knowing"

„a

hypocrisy."75

While tragedy is still caught up in the dualism of the hero on the stage and the actor who represents him in the performance, this inconsistency is overcome in comedy.76 In tragedy, the actor, while on the stage, is not who he truly is: „The hero who appears before the onlookers splits up into his mask and the actor, into the person in the play and the actual self."77 In comedy by contrast the individual can, by means of jokes and ironic self-reference, step out of the particular role he is playing and come forth as the individual who he really is. As a part of the humor, he is able to strip off his mask and reveal that he is the same as the spectators: „The self, appearing here in its significance as something actual, plays with the mask which it once put on in order to act its part; but it as quickly breaks out again from this illusory character and stands forth in its own nakedness and ordinariness, which it shows to be not distinct from the genuine self, the actor, or from the spectator."78 The actor portraying a hero or a god, as a part of the humor, shows that he is in fact an ordinary human being. Thus, even the gods are brought down to earth and made the subject

G. W. F. Hegel, Phenomenology of Spirit, § 741 (Phänomenologie des Geistes, 396). 72 Ebd., §742 (397). 73 Ebd. 74 Ebd. 75 Ebd. 76 Cf. G. W. F. Hegel, Hegel's Aesthetics, 1199 ff. (Aesthetik, 533 ff.). 77 G. W. F. Hegel, Phenomenology of Spirit, § 742 (Phänomenologie des Geistes, 397). 78 Ebd., § 744 (398). Cf. ebd., § 745 (398): „The divine substance unites within itself the natural and ethical essentiality." 71

meaning of

Jon Stewart

310 of satirical

criticism,

and the contradiction between their divine

comportment is consciously brought to the fore. With respect to the realm of Spirit, comedy criticizes the

sublimity and their childish

state and its institutions by of constant contrast between the state's universal pretensions and its particular finite existence. The state „is constrained and befooled through the particularity of its actual existence, and exhibits the ludicrous contrast between its own opinion of itself and its immediate existence, between its necessity and contingency, its universality and its commonness."79 The civic institutions and customs are subjected to critical scrutiny with a humorous result. With this critical view towards Spirit, self-consciousness reduces everything to laughter and sets itself up as the ultimate judge: „In comedy there comes before our contemplation, in the laughter in which the characters dissolve everything, including themselves, the victory of their own subjective personality which nevertheless persists self-assured."80 Here in comedy everything is negated when it becomes the object of satire and criticism, and in this way „the comic subjective personality has become the overlord of whatever appears in the real world."81 Hegel's account of the role of comedy in Greek culture here contains similarities with Nietzsche's account. Nietzsche as well sees the move from tragedy to comedy as a symptom of the general demise of Greek culture. According to Nietzsche, Euripides was a key transitional figure in this movement: „[...] it was Euripides who fought this death struggle of tragedy; the later artistic genre is known as New Attic Comedy. In it the degenerate form of tragedy lived on as a monument of its exceedingly painful and violent death."82 Like Hegel, Nietzsche understands comedy as the result of the new critical thinking and logical reasoning: „One could even learn from Euripides how to speak oneself [...] from him the people [...] learned how to observe, debate, and draw conclusions according to the rules of art and with the cleverest sophistries. Through this revolution in ordinary language, he made the new comedy possible."83 The result of the universal application of critical reasoning was a levelling effect on every opinion and belief. No longer did any given belief enjoy a inviolable status; instead, everything was able to be drawn into doubt. According to Nietzsche, the same levelling effect took place with respect to content in the transition from tragedy to comedy since in comedy the heroes are slaves and ordinary citizens and not princes, kings or nobles as in tragedy: „[...] the Aristophanean Euripides prides himself on having portrayed the common, familiar, everyday life and activities of the people."84 Not only did the content of drama change, but also its form was altered as comedy moved away from music and singing. For Nietzsche, comedy represents the ultimate death of Greek drama since it no longer makes any real use of the Dionysian element of music: „In the new Attic Comedy, however, there are only masks with one expression: frivolous old men, duped panders, and cunning slaves, recurring incessantly. Where now is the mythopoetic spirit of music? What still remains of music is either excitatory or reminiscent music, that is, either a stimulant means

Hegel, Phenomenology of Spirit, § 745 (Phänomenologie des Geistes, 398). Hegel, Hegel's Aesthetics, 1201 (Aesthetik, 536). G. W. F. Hegel, Hegel's Aesthetics, 1199 (Aesthetik, 533).

79

G. W. F.

80 81

Ebd., 1202 (537).

82 BT§11,GT76. 83 BT§11,GT77. 84 BT§11,GT77.

Cf. G. W. F.

Hegel

and Nietzsche

on

the Death

of Tragedy

and Greek Ethical

Life

311

for dull and faded nerves or tone-painting."85 As we have seen, for Hegel, comedy represents the final phase of the Greek world with respect to religious thought in the Phenomenology. It is comedy which brings about the spiritual destruction of the Greek world at that level. Thus, both thinkers understand comedy as a part of the same force that destroyed tragedy, and thus both attribute to it more or less the same status, although for Hegel comedy represents a higher conceptual level than tragedy. It is, according to Hegel, the Spirit of „rational thinking"86 of Socrates and the sophists which makes possible the criticism of the theretofore accepted institutions and practices, which is the primary characteristic of comedy. Socratic rationalism posits abstract ideas of the Good and Justice and demands that finite human institutions justify themselves in terms of this lofty standard. There then arises a new sphere of the divine the Platonic Ideas in which the gods of picture-thinking lose their individuality and dissolve: „With the vanishing of the contingent character and superficial individuality which imagination lent to the divine Beings, all that is left to them as regards their natural aspect is the bareness of their immediate existence; they are clouds, an evanescent mist."87 The gods thus lose their colorful personalities and collapse into the world of abstract thought. Such ideas, however, are empty and devoid of any empirical content and collapse into the dialectical sophistry which, in the words of Plato, „make the weaker argument the stronger." In the midst of this sophistry and relativism, the individual ultimately becomes the true standard in accordance with the sophists' maxim: „[...] man is the measure of all things." Thus, the divine and the dreaded forces of fate are replaced by the rational self-conscious human subject: -

-

„The individual self is the negative power through which and in which the gods, as also their moments, viz. existent nature and the thoughts of their specific characters, vanish [...] the individual self is not the emptiness of this disappearance but, on the contrary, preserves itself in this very nothingness, abides with itself and is the sole actuality."88 Personal conviction and individuality take on a meaning theretofore unknown and prove to be destructive to existing institutions and forms of life. What originally began as a new representation of the divine in the form of comedy grows out of control and turns on itself. Thus, the very principle of critical rationality that is necessary for comedy proves also to be its destruction. With an analysis similar to that here in „The Spiritual Work of Art", Hegel in his Lectures on the Philosophy of History attributes the introduction of reflection and critical thinking into Greek life straightforwardly to the sophists and Socrates. „With the Sophists", he writes, „began the process of reflection on the existing state of things, and of ratiocination."89 The sophists undermined the traditional political debates by reducing all positions to a kind of relativism since they were able to make a plausible case for any

given position:

85 86 87 88 89

BT§17, GT114. G. W. F. Hegel, Phenomenology of Spirit, § Ebd., §746 (398 f.). Ebd., §747 (399). G. W. F.

Hegel,

The

Philosophy of History,

745

(Phänomenologie des Geistes, 398).

268

(Philosophie der Geschichte, 349).

312

Jon Stewart

„It was the Sophists [...] who first introduced subjective reflection, and the new doctrine that each man should act according to his own conviction [...]. Instead of holding by the existing state of things, internal conviction is relied upon; and thus begins a subjective independent freedom, in which the individual finds himself in a position to bring everything to the test of his own conscience, even in defiance of the existing

constitution."90

However, the expression of rational thought and reflectivity reached its apex in the figure of Socrates: „He taught that man has to discover and recognize in himself what is the Right and Good, and that this Right and Good is in its nature universal. Socrates is celebrated as

a teacher of morality, but we should rather call him the inventor of morality. The Greeks had a customary morality; but Socrates undertook to teach them what moral virtues, duties, etc. were."91 Thus, for Hegel, Socrates was a key figure in the historical movement of critical reflection, which ultimately proved to be the undoing of Greek ethical life. For Nietzsche as well the ultimate collapse of Greek tragedy is due to the rise of Socratic rationality. According to Nietzsche the Greek tragedy of Aeschylus and Sophocles was dominated by the poetic principle of the irrational, the Dionysian. The later tragedy of Euripides introduced a new principle which destroyed the Dionysian tragedy as a form of art in Greek life. For Nietzsche, Euripides was only a literary spokesman for a deep philosophical principle represented by the figure of Socrates: „Even Euripides was, in a sense, only a mask: the deity that spoke through him was neither Dionysus nor Apollo, but an altogether newborn demon, called Socrates."92 Nietzsche argues that Socratic rationality ultimately destroys the poetry and spontaneity of all art. Socrates called everything into question and demanded of his fellow Athenians that they provide rational justifications for their beliefs and institutions. For a given belief or practice to be sound, it must survive the Socratic elenchus. To know only by instinct was ultimately inadequate.93 Socrates put stock in knowledge and self-conscious awareness of the truth. According to Nietzsche, Euripides took the Socratic methodology and applied it to tragedy, that is, to a context in which it was profoundly out of place. Nietzsche writes, „Now we should be able to come closer to the character of aesthetic Socratism, whose supreme law reads roughly as follows, ,To be beautiful everything must be intelligible' as the counterpart to the Socratic dictum, ,Knowledge is virtue'."94 The introduction of critical and discursive thought proved to be destructive to the nature of all art since drama had never previously required this justification of itself and it unknowingly destroyed itself in the misguided attempt to meet this requirement: „The poetic deficiency and degeneration, which are so often imputed to Euripides in comparison with Sophocles, are for the most part products of this penetrating critical process, this audacious reasonableness."95 For Euripides, the poet must be lucid and sober,

90 G. W. F. Hegel, The Philosophy of History, 253 (Philosophie der Geschichte, 330 f.). 91 Ebd., 269(350). 92 BT § 12, GT 83. 93 BT § 13, GT 89. 94 BT § 12, GT 85. 95 BT § 12, GT 85. Cf. BT § 14, GT 95: „Optimistic dialectic drives music out of tragedy with the scourge of its syllogisms; that is, it destroys the essence of tragedy, which can be interpreted only as a manifestation and projection into images of Dionysian states, as the visible symbolizing of music, as the dream-world of a Dionysian intoxication."

Hegel

and Nietzsche

on

the Death

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and Greek Ethical

Life

313

and his art work must reflect this transparent sobriety. But according to Nietzsche, the unconscious spontaneity and intoxication constitutes the essential aspect of artistic creation, and it is precisely this which is lost in discursive thought. The result of the collapse of the Greek world for Hegel is the movement to the atomistic individualism of the Roman world. Hegel sees the fall of the polis and the rise of the world empire as a result of subjective freedom and the introduction of critical and reflective thought. By the term „subjective freedom", Hegel means the idea that it is the domain and prerogative of the individual to adjudicate what is correct and valid and that this subjective judgment is preferred over that of established custom or tradition. He writes,

„Instead of holding by the existing state of things, internal conviction is relied upon; and

begins a subjective independent freedom, in which the individual finds himself in a position to bring everything to the test of his own conscience, even in defiance of the existing constitution. Each one has his .principles', and that view which accords with his private judgment he regards as practically the best, and as claiming practical realization."96 thus

When reflection and criticism come about, the immediate harmony of the state and the identification of the individual with it are shattered, and the result is the alienation which Hegel sees as characteristic of the modern age. Thus, subjective freedom is the principle of the modern world. He writes, „Subjectivity, comprehending and manifesting itself, threatens the existing state of things in every department [...]. Thought, therefore, appears here as the principle of decay decay, viz. of substantial morality; for it introduces an antithesis, and asserts essentially rational principles."97 Thought itself is seen to have an inner logic which takes root in Greek ethical life itself. Once reflection comes about, one cannot return to the prereflective or „immediate" harmony of Greek life. Socratic rationality destroys immediacy and the immediate identification of the individual with the social whole, and this gives rise to a new form of life, the world state and the conception of the legal person with citizenship rights. For Hegel, the dualism between immediacy and individualism, characteristic of the ancient and the modern world, runs through the entire history of Western thought, and it is the task of his political philosophy to bring the two together. Hegel attempts to create a state which gives the individual his ethical life and identity but which at the same time allows for a clear sphere of subjective freedom. For Nietzsche as well, the destruction of Greek tragedy through Socratic rationality has far-reaching implications for Western civilization as a whole. For Nietzsche, all of Western science and technology ultimately have their origin in Socratic rationality. Like Hegel, Nietzsche sees the development and ultimately the destruction of Greek tragedy not as an isolated phenomena but as representative of a cultural movement in the Greek world as a whole. This cultural movement is in part the Western heritage which the Romans, medieval Europe and the modern world have inherited. Socratic rationality and logic replace the traditional ancient virtues such as strength and bravery. Consistency and -

96 97

G. W. F. Hegel, The Philosophy of History, 253 (Philosophie der Geschichte, 331). Ebd., 267 (348). Cf. ebd., 252 (330): „That very subjective freedom which constitutes the principle and determines the peculiar form of freedom in our world [...] could not manifest itself in Greece otherwise than as a destructive element."

Jon Stewart

314

the ability to argue became the characteristics of the new hero: „Consider the consequences of the Socratic maxims: ,Virtue is knowledge; man sins only from ignorance; he who is virtuous is happy. For now the virtuous hero must be a dialectician; now there must be a necessary, visible connection between virtue and knowledge, faith and morality."98 For Nietzsche, this same spirit of Socratic logic gave rise to the natural sciences and has spread to dominate the Western world:

„Once we see clearly how after Socrates, the mystagogue of science, one philosophical school succeeds another, wave upon wave; how the hunger for knowledge reached a never-suspected universality in the widest domain of the educated world, became the real task for every educated person of higher gifts, and led science onto the high seas from which it has never again been driven altogether; how this universality first spread a common net of thought over the whole globe, actually holding out the prospect of the lawfulness of an entire solar system; once we see all this clearly along with the amazingly high pyramid of knowledge in our own time we cannot fail to see in Socrates the one turning point and vortex of so-called world history."99 -

Here Nietzsche uses explicitly Hegelian language by referring to „so-called world history." Like Hegel, he sees Socrates as playing a role of world-historical importance in that it was Socrates who initiated a movement which destroyed all immediate and unreflected action and gave rise to our modern scientific and technological age. Although Socrates claimed to be searching for the good life and moral virtue with constant reflection and critical crossexamination, in fact, according to Nietzsche, he introduced a way of thinking that ultimately proved to be a destructive force. Nietzsche sees this form of Socratic thinking as characteristic of much of our own impoverished modern age: „Here we knock, deeply moved, at the gates of present and future: will this .turning' lead to ever-new configurations of genius and especially of the Socrates who practices musicl Will the net of art, even if it is called religion or science, that is spread over existence be woven even more tightly and delicately, or is it destined to be torn to shreds in the restless, barbarous, chaotic whirl that now calls itself ,the present'?"100 Nietzsche views with scepticism the prospects of true art and music in a technical, rationalistic age. As this analysis has demonstrated, there are an astonishing number of heretofore unseen similarities between these two thinkers on the issue of Greek culture and art. Let us briefly review our conclusions: (1) Hegel anticipates Nietzsche's distinction between the Apollinian and the Dionysian in his analyses of the abstract work of art and the living work of art respectively. (2) Hegel employs his celebrated dialectical methodology in order to understand the relation of the two terms to one another, a methodology which can be found in Nietzsche's account as well. (3) The culmination of the dialectical interaction of these terms

98 BT § 14, GT 94. 99 BT § 15, GT 100. Cf. ebd.: „And since Socrates, this mechanism of concepts, judgments, and inferences had been esteemed as the highest occupation and the most admirable gift of nature, above all other capacities [...]. Anyone who has ever experienced the pleasure of Socratic insight and felt how, spreading in ever widening circles, it seeks to embrace the whole world of appearances, will never again find any stimulus toward existence more violent than the craving to complete this conquest and to weave the net

impenetrably tight."

100 BT § 15, GT 102.

Hegel

and Nietzsche

on

the Death

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and Greek Ethical

Life

315

is the same for both thinkers Greek tragedy. (4) The role of comedy in the development of Greek drama is understood in substantially the same terms. (5) The destruction of Greek tragedy is attributed to the same causes by both thinkers critical self-reflection and Socratic rationality. (6) For both Hegel and Nietzsche the result of the collapse of Greek tragedy and the Greek world has far-reaching implications for the development of Western culture and is a formative factor in the creation of the modern world as we know it. These similarities have been for the most part overlooked in the secondary literature, which is particularly surprizing when we consider that Nietzsche himself recognizes his debt to Hegel, albeit in terms which can hardly be considered flattering. When, reflecting on The Birth of Tragedy in his autobiographical Ecce Homo, he says that „it smells offensively Hegelian."101 Although his statement is vague with respect to exactly what of Hegel has been made use of, we have now been able to gain something of an overview with respect to the points of overlap. From this analysis it is fairly clear that Hegel in the section „Religion in the Form of Art" anticipates a number of Nietzsche's best known theses in the Birth of Tragedy including the Apollinian-Dionysian distinction, for which the book is known. Once again, this Hegelian text has not been taken up heretofore by commentators seeking to establish a link between Hegel and Nietzsche. This thesis should not be taken to imply that there is nothing whatsoever original in Nietzsche's account of Greek tragedy or that there are not significant differences between the two analyses. Nietzsche's account of the satyric chorus, for instance, has no precedent in Hegel's analysis. Another essential difference between the two thinkers can be found in their respective normative appraisals of the origin and development of tragedy. Nietzsche often speaks with a nostalgic or almost romantic tone when he discusses the „mystic feeling of oneness"102 or the „primal unity"103 that originally existed in the Dionysian revelries and which was forever destroyed by the Apollinian principle of individuation. Humans were once at home in the world and existed in a harmony with nature, and then reflectivity and alienation set in, and mankind was exiled forever from this happy state. In the „Attempt at a Self-Criticism" which was appended in 1866, Nietzsche refers to the Birth of Tragedy as „sentimental"104 and has an imaginary critic ask, „what in the world is romantic if your book isn't?"105 Thus, there is in Nietzsche by his own admission a sense of regret and a yearning for the past before the world had become corrupted by Socratic rationality and before true art was destroyed by discursive thinking. For Hegel, on the other hand, there is no sense of romanticism or nostalgia; in fact, he consistently criticizes just these kinds of sentiments in his contemporaries. According to his view, since the movement that he traces both at the level of world history and the history of art or religion is a necessary one, it contains its own immanent rationality. It would be an error to think that the original state is a happy one. He criticizes, for instance, the Biblical story of the Garden of Eden which has so often been the symbol of a harmonious unity between man and nature: „the state of innocence, the paradisiacal condition, is that of the brute. Paradise is a park, where only -

-

101 F. Nietzsche, Ecce Homo, translated by Walter Kaufmann, New York 1967, 270, dt.: EH, KSA 6, 310. 102 BT § 2, GT 30. 103 BT § 4, GT 39. 104 BT, „Attempt at a Self-Criticism", § 3, GT 14. 105 BT, „Attempt at a Self-Criticism", § 7, GT 21.

316

Jon Stewart

not men, can remain."106 To be in an immediate harmony with nature is to be an animal without an autonomous will. To be human is necessarily to be separated from the immediacy of nature. Thus, the conception of a „primal unity" or a harmonious paradise is not one whose loss is to be lamented and which later ages should continually pine for: „The disunion that appears throughout humanity is not a condition to rest in. But it is a mistake to regard the natural and immediate harmony as the right state. The mind is not mere instinct: on the contrary, it essentially involves the tendency to reasoning and mediation."107 The paradisiacal state of nature is instead a moment of Spirit which by virtue of its conceptual necessity must be sublated in order that true human freedom and fulfillment can be realized. In this we find perhaps the fundamental difference in disposition between the two thinkers. This difference is, however, much less striking and much less surprizing than the similarities sketched here. Most commentators have taken Nietzsche's critical rhetoric vis-à-vis Hegel at face value without looking behind it to see what the actual differences are in the philosophical positions at issue. The result of this has been the general notion among scholars that Nietzsche and Hegel represent the antipodes of German thought with nothing whatsoever in common. Although it is by no means established to what degree Nietzsche knew the Phenomenology or specifically the section „Religion in the Form of Art", nonetheless many of the essentials of Nietzsche's own analysis of Greek tragedy and culture can be found there. With the analysis given, we can perhaps gain some small insight into the troublesome connection in the history of philosophy which will help us to forge a hitherto unseen link between classical German idealism and later existentialism. We are now in a position to appreciate the fact that, for all of his polemics, Nietzsche has more in common with Hegel than he would like to admit.

brutes,

106 G. W. F. Hegel, The Philosophy of History, 321 (Philosophie der Geschichte, 412 ff.). 107 G. W. F. Hegel, Hegel's Logic, § 24, Addition; Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in Bänden, Bd. 8, Frankfurt a.M. 1970, 68 f.

zwanzig

Kurt Anglet

Friedrich Nietzsches Deus absconditus

Der Name Nietzsches ist untrennbar mit der Leugnung Gottes verknüpft. Der Aphorismus Der tolle Mensch (Fröhliche Wissenschaft, § 125) gehört inzwischen zum Gemeingut philosophischer Bildung nicht so eine Textvariante, auf die hier näher eingegangen werden soll: Wohin ist Gott? (KGW V/2, 529 f.) Sie verbindet Nietzsches Lehre vom Tode Gottes mit der Todesperspektive der Menschheit; mit jener „Verfinsterung der Vernunft", von der auch der Originaltitel der amerikanischen Ausgabe von Max Horkheimers Kritik der instrumentellen Vernunft kündet: Eclipse of Reason. Gehört es doch zu den Naivitäten eines atheistischen Humanismus' zu glauben, die menschliche Vernunft bleibe von der Verneinung Gottes unberührt. Nicht erst Nietzsches „toller Mensch" läuft gegen die metaphysische Indifferenz seiner Zeitgenossen Sturm. Schon Kant hat in der Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft auf den Zusammenhang von Verfinsterung und Selbstbefangenheit eines zeitgenössischen Indifferentismus, der sich zur Endfigur aufgeklärten Bewußtseins aufspreizt, verwiesen: -

„Jetzt, nachdem alle Wege (wie man sich überredet) vergeblich versucht sind, herrscht Überdruß und gänzlicher Indifferentismus, die Mutter des Chaos und der Nacht, in Wissenschaften, aber doch zugleich der Ursprung, wenigstens das Vorspiel einer nahen Umschaffung und Aufklärung derselben, wenn sie durch übel angebrachten Fleiß dunkel, verwirrt und unbrauchbar

geworden."1

Letzteres aber ist

weniger die Voraussetzung als vielmehr die Folge eines metaphysischen Indifferentismus. Mochte Kant in ihm das „Vorspiel einer nahen Umschaffung und Aufklärung" der Wissenschaften erblicken, so bedeutet er nicht mehr als das traurige Nachspiel eines Geistes, der mit dem Wahrheitsanspruch metaphysischen Denkens zugleich den Vernunftanspruch einer wissenschaftlichen Selbstkritik preisgegeben hat. So fraglos wie das Einverständnis über den Tod Gottes in Nietzsches tollem Menschen, so gegenstandslos erweist sich für die geborenen Indifferentisten im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert das Kantische Interesse an einer vernünftigen Ordnung der Welt. „Der moderne Atheismus ist nicht die Negation Gottes. Es ist die absolute Indifferenz der Traurigen Tropen. Meines Erachtens ist dieses Buch das am meisten atheistische Buch, das in unseren Tagen geschrieben wurde, das absolut desorientierteste und desorientie-

1

I. Kant, Kritik der reinen

Vernunft, hg.

v.

R.

Schmidt, Hamburg 1956,

6.

318

Kurt

rendste Buch. Es bedroht das Judentum ebensosehr wie die

gische Geschichtsauffassung."2

Anglet

Hegeische und die soziolo-

Und nicht allein das Judentum; denn die Beschwörung naturgeschichtlicher „Strukturen", die unauslöschlich scheinen wie Tätowierungen in die menschliche Haut, die zum Inventar modischer Selbststigmatisierung gehören, dementieren das Pathos der Freiheit und Emanzipation, das dem Selbstbewußtsein jenes Indifferentismus innewohnt. Steht in der jüdisch-christlichen Tradition das Bewußtsein der Freiheit am Ende eines langen Weges, des Exodusgeschehens, das zum Paradigma menschlicher Befreiung wurde, so kokettiert der moderne Indifferentismus nicht von ungefähr mit der Bilderwelt der Mythen: Dem Gestus der Empörung, der Revolte gegen die eigene Überlieferung liegt der Traum zugrunde, sein Leben in einer geschlossenen Naturwelt zu enden; wenn es schon keinen Gott gibt, dann muß die eigene Vorwelt vergöttert werden, damit ein Abglanz von ihr auf das verfinsterte Leben fällt. Auch der moderne Fatalismus kommt nicht aus ohne einen Glorienschein. Nietzsches Aktualität verdankt sich nicht zuletzt seiner Doppelrolle als Zerstörer des Vernunftdenkens und als Künder des amor fati, die den nihilistischen Instinkten dieses Zeitalters schmeichelt. Gleich den Zeitgenossen des „tollen Menschen" steht es jedoch einer anderen Doppelrolle Nietzsches gegenüber: der des Gottesleugners und des von Gott Geschlagenen. Dürften doch „die Schlingen, die mich im Kampf darniederziehn", nicht allein biographischer Natur sein, obschon er in seiner Jugend wie die Griechen auf dem Areopag Dem unbekannten Gott3 einen Altar in Gestalt eines Gedichts errichtete. Es beschreibt visionär seine Mission und sein persönliches Scheitern, mag er es später, in der Klage der Ariadne (vgl. KGW VI/3, 396-399) wie im Lied des Zauberers im Zarathustra (vgl. KGW VI/1, 309-313), im Zuge seiner dionysischen Selbstzerfleischung mit Dionysos im Zusammenhang bringen. Gleichwohl ist ihm Dionysos von Anbeginn, von der Geburt der Tragödie an, nie ein „unbekannter Gott" gewesen, sondern allzu vertraut aus der griechischen Mythologie. Nietzsches Deus absconditus aber ist kein Wesen der Vorzeit. Er weist den Weg in eine unabsehbare Zukunft, heraus aus jener Historia abscondita,4 die nicht im Geschichtsbild einer abgeklärten Menschheit aufgeht. Zu ihr heißt es abschließend: „Es ist gar nicht abzusehen, was Alles einmal noch Geschichte sein wird. Die Vergangenheit ist vielleicht immer noch wesentlich unentdeckt! Es bedarf noch so vieler rückwirkender Kräfte!" (KGW V/2, 78) Mag Nietzsche hier an ihre historische Erschließung denken, so dürften es nicht etwa spätere archäologische Funde sein, die manche Überraschung mit sich bringen. Vielmehr ist es das messianische Licht, das auf ihre Abgründe und ihren Verlauf fällt ein Licht, das nicht von ihren Anfängen, sondern vom Ende her erstrahlt. Empfangen doch sowohl das Fragment Wohin ist Gott? als auch Nietzsches Hinwendung zum „unbekannten Gott" vom Ende her ihre Brisanz, von der Vision des Untergangs. Nietzsches Versuch, ihn als Übergang zu deuten in der Phantasmagoric der ewigen Wiederkehr wie des Übermenschen sind ebenso gescheitert wie die Bestrebungen des sogenannten nachmetaphysischen Denkens, der Geschichte allein von ihrer Archäologie her eine Bedeutung abzugewinnen. Mag es sich an ihren vergangenen Strukturen wie an der Exotik der „Traurigen Tropen" delektieren, als wären diese Arkadien nicht erst die Verwüstung der äquatorialen Regen-

-

-

-

-

-

-

2 E. Lévinas, Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt a.M. 1992, 153. 3 Vgl. F. Nietzsche, Frühe Schriften, Bd. 2: Jugendschriften 1861-1864, München 1994, 428. 4 So der Titel von § 34 der Fröhlichen Wissenschaft (KGW V/2, 78).

Friedrich Nietzsches Deus absconditus

319

wälder setzt der Beschwörung der Vorzeit ein Ende. Der ökologischen Verödung geht die Verödung eines Bewußtseins voraus, auf die Nietzsche im Schlußteil des Zarathustra verweist: „Die Wüste wächst: weh Dem, der Wüsten birgt!" (KGW VI/1, 376) Der metaphysische Indifferentismus, in dem Kant ein Vorspiel zum Prozeß der Selbstkritik der Vernunft erblickte, leitet in Wahrheit ihr Endspiel ein, das sich bereits in Hegels Konzeption des spekulativen Geistes ankündigte: „Alles wird zur Vergangenheit; wie eine Sandwüste erscheint das endliche Leben; sie ist das Bewußtsein der Freiheit und Wahrheit."5 In deren Negation durchdringen sich etwa im poststrukturalistischen Denken Foucaults Selbstbefreiung und Selbstauslöschung des Subjekts,6 dessen Bedeutung sich wie die ausgestorbener Adelsgeschlechter in seiner eigenen Genealogie erschöpft. Nicht allein das endliche Leben, ebenso sein Freiheits- und Wahrheitsbewußtsein erscheint als ein Rudiment der Vergangenheit, in der sich die Spuren menschlicher Identität samt ihres göttlichen Ursprungs verlieren. -

-

I.

Gottesferne

Anders als seine Nachfahren, die sich mit ihrem Identitätsverlust ebenso wie mit der Abwesenheit Gottes in ihrem Weltbild zu arrangieren wissen, stellt sich Nietzsche die Frage, die eine Vielzahl von Fragen nach sich zieht:

„Wohin ist Gott? Was haben wir gemacht? haben wir denn das Meer ausgetrunken? Was das für ein Schwamm, mit dem wir den ganzen Horizont um uns auslöschten? Wie brachten wir dies zu Stande, diese ewige feste Linie wegzuwischen, auf die bisher alle war

Linien und Maaße sich zurückbezogen, nach der bisher alle Baumeister des Lebens bauten, ohne die es überhaupt keine Perspektive, keine Ordnung, keine Baukunst zu geben schien? Stehen wir denn selber noch auf unseren Füßen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und gleichsam abwärts, rückwärts, seitwärts, nach allen Seiten? Haben wir nicht den unendlichen Raum wie einen Mantel eisiger Luft um uns gelegt? Und alle Schwerkraft verloren, weil es für uns kein Oben, kein Unten mehr giebt? Und wenn wir noch leben und Licht trinken, scheinbar wie wir immer gelebt haben, ist es nicht gleichsam durch das Leuchten und Funkeln von Gestirnen, die erloschen sind? Noch sehen wir unsren Tod, unsere Asche nicht, und dies täuscht uns und macht uns glauben, daß wir selber das Licht und das Leben sind aber es ist nur das alte frühere Leben im Lichte, die vergangne Menschheit und der vergangne Gott, deren Strahlen und Gluthen uns immer noch erreichen auch das Licht braucht Zeit, auch der Tod und die Asche brauchen Zeit! Und zuletzt, wir Lebenden und Leuchtenden: wie steht es mit dieser unserer Leuchtkraft? verglichen mit der vergangner Geschlechter? Ist es mehr als jenes aschgraue Licht, welches der Mond von der erleuchteten Erde erhält?" (KGW V/2, 529 f.) -

-

Hegel, Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bd. 3: Vorlesungen über die Philosophie der Religion, hg. v. W. Jaeschke, Hamburg 1983, 62. 6 Vgl. M. Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie", in: 90 Jahre Nietzsche-Rezeption, hg. v. A. Guzzoni, Königstein 1979, 108-125. 5 G. W. F.

Kurt Anglet

320

Das Bewußtsein, daß das eigene Lebenslicht nur mehr dem fahlen Abglanz eines Verschwundenen entspricht, überschattet das Licht einer radikalen Aufklärung, die von Gott nicht viel mehr als einen Schatten der Vergangenheit, des Aberglaubens früherer Geschlechter übrig ließ. Und selbst da, wo man an ihm festhält, entzieht er sich der menschlichen Vorstellung. Man kann sich nicht nur was dem Menschen ja ohnehin untersagt ist ein Bild von ihm machen. Er wirkt nicht allein bilderlos, sondern auch namenlos, gewissermaßen als fideistischer Restbestand einer Überlieferung, die sich selbst überlebt hat. Ihr Schattendasein färbt auf den in ihr verehrten Gott ab: -

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„Überall wo verehrt, bewundert, beglückt, gefürchtet, gehofft, geahnt wird, steckt noch der Gott, den wir todt gesagt haben er schleicht sich allerwegen herum und will nur nicht erkannt und bei Namen genannt sein. Da nämlich erlischt er wie Buddha's Schatten in der Höhle er lebt fort unter der seltsamen und neuen Bedingung, daß man nicht mehr an ihn glaubt. Aber ein Gespenst ist er geworden! Freilich!" (KGW V/2, 524) -

-

wirkt allerdings nicht nur seine Verehrung, sondern auch seine Verneinung, das Licht, das der Welt nach dem „Tode Gottes" leuchten soll, nur Abglanz einer vergangenen Lichtquelle ist. Nietzsche ist sich des Problems durchaus bewußt geworden. In dem Aphorismus Inwiefern auch wir noch fromm sind, im fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft, findet sich das bekannte Eingeständnis, „dass auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato's war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist" (KGW V/2, 259). Jenem Eingeständnis ist allerdings folgender Einwand, gleichsam Nietzsches Credo, beigesellt: „Aber wie, wenn dies gerade immer mehr unglaubwürdig wird, wenn Nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn der Irrthum, die Blindheit, die Lüge, wenn Gott selbst sich als unsre längste Lüge erweist? (KGW V/2, 259) Es handelt sich mitnichten um ein Credo, da Nietzsche seinen Einwand in die Gestalt einer Frage kleidet. Mit dem Glauben an die Wahrheit verliert auch ein Denken seine Gewißheit, das seine Herkunft aus der christlichen und griechisch-abendländischen Tradition nicht verleugnen kann, obwohl ihr christliches und platonisches Element keineswegs so bruchlos ineinander aufgehen, wie es Nietzsche suggeriert. Das Fragen, das kritische Hinterfragen, bildet ein Grundelement der philosophischen abendländischen Tradition. Das Grundelement der jüdisch-biblischen Überlieferung bildet die prophetische Weisung; ihre Sprache ist die göttlicher Offenbarung. Selbst wo der Mensch Gott fragt, wie Mose bei der Sinaioffenbarung nach dem Namen Gottes (vgl. Ex 3,13), ist die Frage eine eher indirekte, auf die Begründung des göttlichen Auftrags zielende, nie aber eine Frage menschlicher, geschweige eine göttlicher Selbstbegründung.7 Nietzsches Fragen aber drehen sich nie auch

Gespenstisch

wenn

"

-

-

-

7 Diesen Unterschied gilt es zu beachten, insofern die Auffassung Gottes als eines sich selbst denkenden Wesens geradezu zwangsläufig zu einem gnostischen Gottesbild führt. Denn wie die Gnosis eine Selbstentzweiung Gottes kennt, so findet sich darauf ein Hinweis beim frühen Nietzsche. So notiert er in einer Aufzeichnung vom Frühjahr/Sommer 1878: „Als Kind Gott im Glänze gesehn", um anschließend zu vermerken: „Erste philosophische Schrift über die Entstehung des Teufels (Gott denkt sich selbst, dies kann er nur durch Vorstellung seines Gegensatzes). Schwermüth[iger] Nachmittag Gottesdienst in der Capelle zu Pforta, ferne Orgeltöne." Nicht nur von biographischem Interesse erscheint folgende Anmerkung, die an die Herkunft von Nietzsches geistigem Enkel, den Neo-Gnostiker Emile Cioran denken läßt: -

Friedrich Nietzsches Deus absconditus

321

nicht in dem oben zitierten Fragment um Gott, sondern um die Gegenwart des Menschen in einer gottfernen Zeit. Nicht von Gott erwartet Nietzsche Weisung, vielmehr will er selbst ein Zeichen sein und den Menschen Weisung geben; Zarathustra ist sein Sprachrohr und sein Schatten, ist seine eigene Schöpfung, wie Nietzsche der Gedanken einer göttlichen Schöpfung und Erlösung fremd ist.8 Dennoch ist das Göttliche für Nietzsche damit keineswegs abgetan; der „wurschtige" Atheismus seines Freundes Rohde erscheint ihm anstößig. Indem nämlich, wie er bereits in jenem Jugendfragment postuliert, „das Höchste immer nur ein Symbol eines noch Höhern sein muß" (vgl. KGB 1/1, 202), stellt sich Nietzsche die bange Frage, was bleibt und was kommt, wenn Gott aus dieser Welt verschwunden ist. Heißt es doch schon in der Schopenhauerschrift eher wehmütig als triumphalistisch über eine zusehends säkularisierte Welt: -

„Niemals war die Welt mehr Welt, nie ärmer an Liebe und Güte. Die gelehrten Stände sind nicht mehr Leuchtthürme oder Asyle inmitten aller dieser Unruhe der Verweltlichung; sie selbst werden täglich immer unruhiger, gedanken- und liebloser. Alles dient der kommenden Barbarei, die jetzige Kunst und Wissenschaft einbegriffen. (KGW III/l, "

362)

Mehr als ein halbes Jahrhundert vor Paul Valérys Standortbestimmung zur Krise des Geistes hat Nietzsche die schweren Erschütterungen registriert, die der Zusammenbruch der alten auf Gott gegründeten Ordnung zeitigt. Denn mit seinem Schwinden geht nicht allein jedwede horizontale Perspektive verloren; es gibt auch keinerlei Architektonik gesellschaftlicher und politischer Ordnung mehr. Die kosmische Perspektive, die sich vor den Menschen, die buchstäblich nach den Sternen greifen, auftut, setzt sie dem Universum aus, in dessen Weite sie sich verlieren. Und wenn Nietzsche fragt: „Stürzen wir nicht fortwährend?", so scheint er das Weltverständnis von Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus zu antizipieren, demzufolge die Welt alles sei, was der Fall ist. Nur daß Nietzsche nicht nur die Dinge so sieht, wie sie sind, vielmehr sieht er sie, wie sie im Fall begriffen sind. Die Evidenz, die ein Wittgenstein aus der Methodik der modernen Naturwissenschaften schöpft, gibt keinen Aufschluß über den Prozeß der Selbstauflösung menschlicher Ordnung; sie stellt nicht mehr dar als den Reflex überkommener Wahrheit, die das Wissenschaftsdenken aus seiner Selbst-

„Als Verwandter von Pfarrern früher Einblick in geistige und seelische Beschränktheit Tüchtigkeit Hochmuth Decorum." (Alle Zitate KGW IV/3, 363) Es lassen sich hieraus leicht die Facetten von Nietzsches Bild christlicher Überlieferung erraten. Zu Nietzsches Verständnis des Teufels vgl. etwa KGW VII/1, 28 und öfters; ist es doch der „schwermüthige Teufel" (KGW VI/1, 366), der ihn in an seiner Rolle als advocatus diaboli und als teuflischer Versucher der Menschen Gefallen finden läßt. 8 Zur Schöpfung als einer creatio humana vgl. etwa KGW V/2, 522 f. Zu seiner eigenwilligen Auffassung des Christentums, insbesondere des Inkarnationsgedankens vgl. das Brieffragment an die Jugendfreunde Krug und Pinder vom 27. April 1862: Bereits hier, in den Aufzeichnungen eines Siebzehnjährigen (!), findet sich sein Unverständnis der christlichen Erlösungs- und Gnadenlehre festgehalten, etwa im Gedanken, „sich mit Entschiedenheit selbst sein Loos zu schaffen" (KGB 1/1, 201 f.). Es erscheint lediglich als eine Frage der Zeit, bis der titanische Moralismus des jungen Nietzsche, der kein Gnadenhandeln Gottes in der menschlichen Natur kennt, in einen nicht weniger titanischen Immoralismus umkippt, der den alten „Kinderglauben" der Religion aus dem Weg räumt. Wie ein Omen zur künftigen Philosophie Nietzsches klingt bereits der Schlußsatz: „Unter schweren Zweifeln und Kämpfen wird die Menschheit männlich: sie erkennt in sich ,den Anfang, die Mitte, das Ende der Religion'." (KGB 1/1, -

-

202)

322

Kurt

Anglet

reflexion ausschließt. Nietzsche hingegen schließt sie ein: in Parenthesen, die den Duktus seiner Ausführungen unterbrechen, als wollte er einen Augenblick lang im crescendo seiner Fragen innehalten. Diese syntaktische Besonderheit kommt nicht von ungefähr; vermerkt er doch in einem Brief an seine Schwester vom 20. Mai 1885: „Alles, was ich bisher geschrieben habe, ist Vordergrund; für mich selber geht es erst immer mit den Gedankenstrichen los." (KGB III/3, 53) Denn wie der moderne Geist nur allmählich begreift, daß er von den sittlichen Prinzipien seiner eigenen Überlieferung zehrt, von der er sich zu emanzipieren sucht, so braucht er noch mehr Zeit, um die Gefahren ihres drohenden Untergangs zu erkennen: „auch das Licht braucht Zeit, auch der Tod und die Asche brauchen Zeit". Selbst wenn dem kommenden Zeitalter, das in den Zeiten des Kalten Krieges als Atomzeitalter bezeichnet wurde, das Schlimmste erspart wurde so nicht der Tod und die Asche, das Vermächtnis der Kriege und Krematorien. Deshalb erstrahlt eine vollends säkularisierte Welt nicht etwa im kosmischen Glanz, sondern im nächtlichen Zwielicht des Mondes. -

II.

Dem unbekannten Gott

Obschon Nietzsche die Verfinsterung menschlichen Daseins im Zustand seiner Gottesferne erkannt hat, scheint es verfehlt, seine Philosophie als so etwas wie eine Theologie des Todes Gottes zu begreifen, wie dies Theologen in den sechziger Jahren versucht haben. So wie für Nietzsche Schopenhauer „vor allem kein Theolog!" (Vgl. KGW VII/3, 179) war, war auch er selbst keiner. „Theologie geht uns nichts an" (KGW VIII/2, 269), bemerkt er in einem Fragment aus dem Winterhalbjahr 1887/88. Und er gesteht in einem Fragment vom Herbst 1887, er „habe nie einen Augenblick die compromittirende Mittelmäßigkeit des Protestantismus, seiner Theologen und Prediger verkannt" (vgl. KGW VIII/2, 161). Daher sein Eingeständnis, er „begreife es nicht, wie man Theolog sein kann. Ich möchte nicht gern gering von dieser Art Menschen denken, welche doch nicht nur Erkenntniß-Maschinen sind" (vgl. VIII/1, 10), vermerkt er in einer Notiz aus der Mitte der achtziger Jahre. In keiner Weise täuscht er sich über das Unding einer säkularisierten Theologie, über die Ethisierung des Christentums als Ersatztheologie, bei der so manche Theologen, denen der eigene Glaube abhanden gekommen ist, Zuflucht suchen. „Wenn man den christlichen Glauben aufgiebt", registriert er in einem Fragment vom Herbst 1887, „zieht man sich das Recht zu den moralischen Werturtheilen des Christenthums unter den Füßen weg" (KGW VIII/2, 217). Die Abkehr vom christlichen Glauben führt geradezu zwangsläufig zu einem Bruch mit den überkommenen christlichen Wertvorstellungen. Man kann daher in Nietzsche nicht so etwas wie einen christlichen Häretiker sehen; bekennt er doch selbst in einer Aufzeichnung aus dem Winterhalbjahr 1887/88: -

„Ich bin nicht eine Stunde meines Lebens Christ gewesen: ich betrachte alles,

was

ich

gesehen habe, als Christenthum, als eine verächtliche Zweideutigkeit der Worte, eine wirkliche Feigheit vor allen Mächten, die sonst herrschen. Christen der allgemeinen Wehrpflicht, des parlamentarischen Stimmrechts, der Zeitungs-Cultur und zwischen dem Allen von ,Sünde' ,Erlösung' Jenseits' Tod am Kreuz redende

-:

wie kann

VIII/2, 338 f.)

man

in einer solchen unsauberen Wirthschaft

es

aushalten!" (KGW

Friedrich Nietzsches Deus absconditus Die

Durchsetzung

christlicher

323

Theologoumena

mit

politischen Haltungen ergeben jene

Mixtur, die man als „bürgerliche Religion" bezeichnet hat für Nietzsche ein Verwirrspiel,

dem heraus er sich nicht etwa in die Theologie oder in eine religiöse Innerlichkeit flüchtete, sondern dem Christentum, ja dem Gottesglauben den Rücken kehrte. Denn jene „verächtliche Zweideutigkeit der Worte", die er in jungen Jahren empfand, führte nicht allein zu einer Entfremdung vom kirchlichen Leben seiner Zeit; ebensowenig zu einer tieferen Glaubenskrise. Vielmehr schreitet Nietzsche in seiner Abkehr vom Christentum voran bis zur Leugnung Gottes. „Das ist es nicht", gesteht er im Antichrist, -

aus

„was uns abscheidet, dass wir keinen Gott wiederfinden, weder in der Geschichte, noch in der Natur, noch hinter der Natur, sondern dass wir, was als Gott verehrt wurde, nicht als .göttlich', sondern als erbarmungswürdig, als absurd, als schädlich empfinden, nicht nur als Irrthum, sondern als Verbrechen am Leben Wir leugnen Gott als Gott Wenn man uns diesen Gott der Christen bewiese, wir würden ihn noch weniger zu glauben wissen. In Formel: deus, qualem Paulus creavit, dei negado." (KGW VI/3, 223) -

...

...

-

Ob die Kenosis, die Lehre von der Selbstentäußerung Gottes, ob das Sühneleiden Christi am Kreuz, ob das Wirken von der Gnade Gottes in Schwachheit all das erscheint Nietzsche widernatürlich, ja widergöttlich, ist für ihn „der Einschlag des Judain eine Rückbildung in überwundene Formen" (vgl. KGW VIII/2, 424). Nietzsches Polemik erscheint nicht sonderlich originell; sie bewegt sich im Gefolge Renans, auf den er sich wiederholt bezieht, auf der Ebene der Klischees der historistischen Kirchen- und Theologiekritik des neunzehnten Jahrhunderts. Jesus wird gegen Paulus, die christliche Liebesreligion gegen die paulinische Gerichtsreligion mit ihrer „jüdischen Eschatologie", gleichsam dem Erbe der jüdischen Gesetzesreligion, ausgespielt. Trotz seiner zahlreichen Invektiven gegen das Kreuz Christi gegen Ende der achtziger Jahre läßt er in Aufzeichnungen zu einer eigenen Theorie vom Typus Jesus" durchblicken: „Der Verbrecher-Tod Christi als Räthsel." (Vgl. KGW VIII/2, 417)9 Ist ihm doch der Gedanke, daß Gott die Menschen lieben könnte, nicht weniger fremd als der Gedanke der Gottesliebe der Menschen, wie sie dem Schema Israels zugrundeliegt.10 Genau hier aber liegt der neuralgische Punkt von Nietzsches Gottesleugnung: in seiner geradezu pathologischen Widerspenstigkeit, sich als leidende Kreatur im Zustand seiner unabweisbaren menschlichen Schwäche von Gott geliebt zu wissen. Aus seiner Feder könnte Ciorans lakonische Bemerkung stammen: „Keinem hilft es, Kreatur zu sein."11 Nicht nur zeugen Nietzsches Briefe von der Leidensgeschichte eines chronisch Kranken, in der sich bis ins Alter hinein eine geradezu kindliche Abhängigkeit von den engsten Familienangehörigen und eine unmenschliche Einsamkeit miteinander verbinden. Ebenso gehen aus ihr zwei widerstrebende, kaum miteinander zu vereinende Neigungen hervor: ein unbändiges Unabhängigkeitsbedürfnis, das sich jeglicher menschlichen Zuwendung widersetzt, und ein Glücksverlangen, dem kein Mensch, ja nicht einmal ein Gott genügen kann erscheint doch -

-



-

9

Ebenso räumt er gegenüber denen, die das Christentum durch die modernen Naturwissenschaften überwunden glauben, in einem Fragment vom Herbst 1885 Herbst 1886 ein: „.Christus am Kreuze' ist das erhabenste Symbol immer noch." (KGW VIII/1, 106) So heißt es in einer Aufzeichnung vom Sommer/Herbst 1882: „Ein Gott, der liebt, ist es nicht würdig, sich lieben zu lassen, lieber will er noch gehaßt werden." (KGW VII/1, 100) E. M. Cioran, Dasein als Versuchung, Stuttgart 1983, 149. -

10 11

-

324

Kurt Anglet

Zuwendung, die „Gnade" Gottes nicht als ein Akt der Befreiung, sondern der Besiegelung des eigenen Schicksals. Deshalb gibt Nietzsche (in einem Fragment vom Herbst 1883) die Devise aus: „Nicht an Gott glauben." Mit der Begründung: „Folglich gehen die Dinge nicht, wie Gott will. (Gegen die feige Ergebenheit, die die Menschen schwach gemacht hat: dagegen lehre ich ein tiefes Mißtrauen.)" (KGW VII/1, 581) Als ob mit Nietzsches Lehre das Problem gleichsam per decretum aus der Welt geschafft wäre. Eher scheint sich Nietzsche selbst Mut zusprechen zu wollen, wenn er später (in einem Fragment vom Herbst die

-

1887) schreibt: „Der Mensch ist nunmehr stark genug dazu, um sich eines Glaubens an Gott schämen zu dürfen: er darf jetzt von neuem den advocatus diaboli spielen." (KGW VIII/2, 133)

-

spricht keineswegs ein Anflug von Koketterie. Wie ernst es Nietzsche ist, zeigen Anfangssätze von Warum ich ein Schicksal bin, dem Schluß teil des Ecce homo:

Daraus

die

„Ich kenne mein Loos. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen, an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefe Gewissens-Collision, an eine Entscheidung heraufbeschworen gegen Alles, was bis dahin -

geglaubt, gefordert, geheiligt (KGW VI/3, 363)

worden

war.

Ich bin kein

Mensch, ich bin Dynamit."

Selbst wem Nietzsches Selbsteinschätzung angesichts solch apokalyptischer Ungeheuer wie Hitler oder Stalin überzogen dünkt, im Vergleich zu denen er eher einen „Hanswurst" (KGW VI/3, 363) abgeben mag immerhin verdient er es allein wegen seines Schicksals, beim Wort genommen zu werden. Mag er auch nicht der Urheber der künftigen Entwicklung sein, als den er sich sieht, so lassen seine Worte allein wegen der weiteren Chronologie der Geschichte aufhorchen: „[...] es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat. Erst von mir an giebt es auf Erden grosse Politik. -" (KGW VI/3, 364) Ist Nietzsche auch, wie gesagt, niemals als deren Urheber anzusehen, so spricht sich in seinem Anspruch die künftige verhängnisvolle Tendenz aus, alles um des einen Namens willen auf das Spiel zu setzen; kein Gesetz über sich anzuerkennen, was für die Kantische Philosophie noch so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz war. Denn die Fatalität, alles auf sich, auf seinen Namen gründen zu wollen, ist für den Einzelnen weitaus fataler als jeglicher Fatalismus: Er zieht nicht nur die Anderen in den eigenen Untergang hinein, sondern er baut sein eigenes Leben geradezu auf seinem Untergang auf. „Es giebt etwas Unbelehrbares im Grunde: einen Granit von fatum, von vorausbestimmter Entscheidung im Maaße und Verhältniß zu uns, und ebenso ein Anrecht auf bestimmte Probleme, eine eingebrannte Abstempelung derselben auf unseren Namen." (KGW VIII/1, 52)12 Was ansonsten in den Augen der Nachwelt als Ruhm gilt, wird hier zum Stigma. Denn was ein Mensch hier anscheinend Großes lehrt, das ehrt ihn nicht, sondern es richtet ihn. „Immer", bemerkt Cioran, „geht man durch das Ich zugrunde, das man sich zulegt. Einen Namen tragen heißt auf eine ganz bestimmte Art von Zusammenbruch Anspruch erheben".13 Welcher Art Nietzsches Zusammenbruch war, wissen wir aus seiner Biographie. Freilich erlaubt eine bestimmte biographische Begebenheit noch längst keine Rückschlüsse auf das Werk eines Philosophen. Wenn wir an Aristoteles oder Kant denken, ließe sich bei einer -

12 13

Nachgelassenes Fragment E. M.

vom

Herbst 1885

Cioran, Dasein als Versuchung,

7 f.

Frühjahr 1886. -

Friedrich Nietzsches Deus absconditus

325

Werkinterpretation getrost von ihrer Biographie abstrahieren nicht so bei Nietzsche, der es schon in der Schopenhauerschrift als „Forderung jeder grossen Philosophie" begreift: -

„[...] dies ist das Bild alles Lebens, und daraus lerne den Sinne deines Lebens. Und umgekehrt: lies nur dein Leben und verstehe daraus die Hieroglyphen des allgemeinen Lebens" (KGW III/l, 353). Die Entzifferung seiner Hieroglyphenschrift aber ist unweigerlich mit dem Namen Nietzsches verbunden: mit der Leugnung des Wesens Gottes und der „Abschaffung der moralischen Begriffe", worin Nietzsche „das größte Problem der kommenden Zeit" erkannte (vgl. KGW V/1, 341).14 Kann hier auch nicht näher auf Nietzsches Verneinung der Moral eingegangen werden, geschweige auf die damit verbundenen Probleme,15 so genügt ein Blick in Aphorismus 14 der Morgenröthe, der auf die „Bedeutung des Wahnsinns in der Geschichte der Moralität" verweist. Dabei überrascht weniger Nietzsches Auffassung des Wahnsinns als Wegbereiter künftiger Kulturgüter denn das Gebet um Wahnsinn der Gesetzestöter am Ende, in dem Nietzsche in beklemmender Weise sein eigenes Schicksal antizipiert. Es allein psychologisch werten zu wollen, als Skrupel eines Einsamen, hieße die Problematik seiner Negation zu verkennen, derer er sich durchaus bewußt war. So weist er in einem Fragment vom Juni/Juli 1883 derartige voreilige Exkulpationsversuche von sich: zu „Wie leicht nimmt man die Last einer Entschuldig[ung] auf sich, so lange man nichts " verantworten hat." Und er betont mit Nachdruck: „Aber ich bin verantwortlich. (KGW VII/1, 383)

Wie sollte ausgerechnet der sich verantwortlich fühlen, mag man fragen, der seinen Ehrgeiz daran setzt, „mit aller Kraft den Schuldbegriff und Strafbegriff aus der Welt wieder zurückzuziehen"? (Vgl. KGW VIII/3, 219)16 Ja, der sich selbst „ein Vorrecht auf schwere Schuld" (vgl. KGW VI/3, 268) attestiert und schon zu Lebzeiten mit einer Höllenexistenz kokettiert: „Mein Pathos: das entsetzliche Leid des Sündengefühls nachempfinden." (KGW V/1, 592)17 Und obschon dem Neuheiden Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft Sünde als „ein jüdisches Gefühl und eine jüdische Erfindung" (vgl. KGW V/2, 164) gilt, hat er es bis an sein Lebensende nicht in sich auslöschen können: „So ist es mir zum Beispiel noch nicht Eine Stunde aus dem Gedächtnisse weggeblieben, daß mich meine Mutter eine Schande

für das Grab meines Vaters genannt hat" (KGB III/l, 326),'8 bekennt er an Overbeck in einem Brief vom 10. Februar 1883. „Dämonion warnende Stimme des Vaters" (KGW IV/3, 363), lautet eine Notiz Nietzsches aus dem Sommerhalbjahr 1878, also aus einem Zeitraum, bevor er mit Schriften wie der Morgenröthe und der Fröhlichen Wissenschaft zu den entscheidenden Schlägen gegen Christentum und Moral ausholt. Das Echo der väterlichen Stimme klingt nach: „das nichtfertig-werden mit dem Christenthum" (vgl. KGW VIII/1, 167), wie Nietzsche zwischen Herbst 1885 und Herbst 1886, nach Abfassung des Zarathustra, notiert. Zwar mochte sie sowenig an Nietzsches philosophischem Werk zu ändern wie die mütterliche Klage doch ihre rein psychologische Bestimmung führt nicht allzu weit. Steht doch Nietzsches Name -

-

Nachgelassenes Fragment, Anfang 1880. So vermerkt er selbstkritisch zu seinen eigenen Überlegungen: „Jenseits von Gut und Böse: dergleichen macht Mühe. Ich übersetze wie in eine fremde Sprache, ich bin nicht immer sicher, den Sinn gefunden zu haben. Alles etwas zu grob, um mir zu gefallen." (KGW VIII/1, 54) 16 Nachgelassenes Fragment vom Frühjahr 1888. 17 Nachgelassenes Fragment vom Herbst 1880. 18 Auf die „mahnende Stimme des Vaters" kommt Nietzsche in einem frühen Lebensrückblick (Sommer 1875) zu sprechen (KGW IV/1, 270). 14 15

326

Kurt

Anglet

nicht allein für die Leugnung Gottes und die Verneinung der Moral, vielmehr implizieren beide die Überwindung der letztlich menschlichen Skrupel. Auch wenn man es in der gegenwärtigen Nietzsche-Rezeption nicht gern wahrhaben will19 sein Name steht, was er durchaus geahnt hat, für das Schicksal der ihm folgenden Epoche, die nicht am eigenen Leiden genug hatte, sondern im Pathos der Vernichtung, in der Zufügung des Schmerzes alles Frühere in den Schatten stellte. Völlig ungeniert propagiert Nietzsche, „was zur Grosse gehört" (so der Titel von Aphorismus 325 der Fröhlichen Wissenschaft): -

„Wer wird etwas Grosses erreichen, wenn er nicht die Kraft und den Willen in sich fühlt, grosse Schmerzen zuzufügen? Das Leidenkönnen ist das Wenigste: darin bringen es schwache Frauen und selbst Sclaven oft zur Meisterschaft. Aber nicht an innerer Noth und Unsicherheit zu Grunde gehn, wenn man grosses Leid zufügt und den Schrei dieses Leides hört das ist gross, das gehört zur Grosse." (KGW V/2, 233) -

Nietzsche hat damit

jedem KZ-Schlächter ein Denkmal gesetzt. Denn welches moralische nach seiner Philosophie, einen Menschen nicht zu Tode zu quälen? wohl Argument gäbe Dem Gewissenlosen ein gutes Gewissen zu bereiten, widerspricht nicht allein der christlichen Tradition, so degeneriert sie sich Nietzsche in der zweiten Hälfte des neunzehnten es

Jahrhunderts auch darstellen mochte. Sie setzt dem von ihm propagierten Humanismus ein Ende in der Vision nicht einer künftigen, sondern bereits geschehenen Barbarei. War es doch noch für Nietzsche ein „Problem: Wo sind die Barbaren des 20. Jahrhunderts?" (vgl. KGW VIII/2, 260),20 so bedeutet es für die Nachwelt ein Problem, der Barbarei ohne ein sittliches Fundament standzuhalten. Ihr zu trotzen bildet keine geringere Herausforderung, als sich dem Gott zu stellen, von dem sich Nietzsche abwandte, als würde mitten im Paganen das Glück lauern, um das er sich von seiner christlichen Umwelt betrogen fühlte. Ihr zu entrinnen ist freilich leichter als dem Anspruch des Gottes, den Nietzsche zwar nicht kannte, dem er aber wie die Griechen auf dem Areopag schon in seiner Jugend einen Altar errichtete mit der Aufschrift: Dem unbekannten Gott

Noch einmal eh ich weiter ziehe Und mein[e] Blicke vorwärts sende Heb ich vereinsamt mein[e] Hände Zu dir empor, zu dem ich fliehe, Dem ich in tiefster Herzenstiefe Altäre feierlich geweiht Daß allezeit Mich seine Stimme wieder riefe.

Vor allem seit Walter Kaufmanns Nietzsche-Buch (Nietzsche. Philosoph-Psychologe-Antichrist, Darmstadt 1982) kehrt sie den dezidierten „Anti-Antisemiten" und „guten Europäer" hervor, um Nietzsche zu einem Humanisten ersten Ranges zu stilisieren. Nietzsche-Interpretationen, wie ich sie in meiner Dissertationsschrift Zur Phantasmagorie der Tradition. Nietzsches Philosophie zwischen Historismus und Beschwörung (Würzburg 1989) in Anlehnung an Walter Benjamins Nietzsche-Deutung vorlegte, vermochten nicht gegen den herrschenden Trend anzugehen, obwohl die Affirmation vernichtender Gewalt in Nietzsches Schriften nicht zu leugnen ist. Eine Trendwende dürfte in dieser Hinsicht markieren B. Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Eine Studie über Nietzsches politische Philosophie und ihre Folgen, Hamburg 1989. 20 Fragment aus dem Winterhalbjahr 1887/88. 19

327

Friedrich Nietzsches Deus absconditus Darauf erglühet tiefeingeschriebe[n] Das Wort: Dem unbekannte[n] Gotte: Sein bin ich, ob ich in der Frevler Rotte Auch bis zur Stunde bin gebliebe[n] : Sein bin ich und ich fühl' die Schlinge[n], Die mich im Kampf darniederziehn Und, mag ich fliehn, Mich doch zu seinem Dienste zwinge[n]. -

Ich will Dich kenne[n] Unbekannter, Du tief in mein[e] Seele Greifender, Mein Leben wie ein Sturm durchschweifender Du Unfaßbarer, mir Verwandter! Ich will dich kennen, selbst dir diene[n].21 Nietzsches Dienst für einen Unbekannten, Verleugneten fällt zusammen mit seiner Flucht in die Immanenz einer Welt, die jeden Sinn für die Transzendenz Gottes verloren hat. „Gottes Transzendenz ist gefallen. Aber er ist nicht tot," bemerkt Walter Benjamin in dem Fragment Kapitalismus als Religion, „er ist ins Menschenschicksal einbezogen. Dieser Durchgang des Planeten Mensch durch das Haus der Verzweiflung in der absoluten Einsamkeit seiner Bahn ist das Ethos das Nietzsche bestimmt."22 Sein Pathos freilich ist das eines Verzweifelten, der nicht weiß, wem er dient: zu tief ist sein Leben und Denken der Unwahrheit seiner Epoche verhaftet. Gleichwohl ist der Gott, dem sich der junge Nietzsche anempfehlen will, so fern nicht, wie es aus der Sicht des späteren Gottesleugners scheint. Denn „ins Menschenschicksal einbezogen" zu sein, bedeutet, an der Einsamkeit dessen, der seiner Verzweiflung selbst sein Menschsein zu opfern bereit ist, teilzuhaben. Nietzsche hat sich sehr früh von der christlichen Gemeinschaft seines Vaterhauses abgewandt, um der Einsamkeit einer christlichen Existenz zu entgehen, der sich Kierkegaard verschrieben hatte. Doch Kierkegaards Einsamkeit reicht nicht an diejenige Nietzsches heran, mag sich zuweilen auch ihr melancholisches Wesen berühren.23 Allenfalls durchmißt Nietzsches Einsamkeit diejenige Blanquis, mit dem ihn die Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen verbindet.24 Ist diese aber bei Blanqui Ausgeburt seiner späten Gefangenschaft, so resultiert der Wiederkunftsgedanke bei Nietzsche gewissermaßen aus einem Ausbruchsversuch aus der vorgegebenen Ordnung. Endet der Versuch ihres Umsturzes bei Blanqui im Gefängnis, so der von Nietz-

F. Nietzsche, Werke und Briefe. Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Bd. 2, hg. v. H. J. Mette, München 1933-40, 428. 22 W. Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. VI, hg. v. R. Tiedemann u. H. Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1985, 101. 23 So vermerkt Nietzsche im Tonfall Kierkegaards in einer Aufzeichnung vom Herbst 1881 : „So wie ich vom Leben und der Welt denke: sitze ich gleichsam inmitten eines tragischen Hausraths, und wohin ich blicke, sind Anreizungen, Tragödien zu dichten ja kaum kann ich verhindern, daß diese feierlichen und leidenschaftlichen Masken nicht selber Tragödie spielen und mich in ihr Spiel hineinlocken: ein solcher Drang ist um mich jetzt." (KGW V/2, 537) 24 Vgl. etwa die Lesenotiz vom Herbst 1883 „A. Blanqui [] l'éternité par les astres [] Paris 1872" (KGW 21

-

VII/1, 588).

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328

Anglet

sches Umwertung ihrer Werte im Hospital.25 Dem Hochmut, den Nietzsche bis an den Rand der Umnachtung in seinen Schriften bewies,26 kontrastiert in seiner jugendlichen Selbstübereignung an den unbekannten Gott eine Demut, wie man sie selbst aus den persönlichen Aufzeichnungen des kranken Nietzsche nicht kennt: Seine Gottesverleugnung erweist sich am Ende als Selbstverleugnung als die Selbstverleugnung eines verwaisten Menschenkindes. -

25

Auf Nietzsche, der sich in der Dichter-Rolle gefiel, mag auch im übertragenen Sinne zutreffen, was Hölderlin in seinem denkwürdigen Brief vom 12. November 1898 an Neuffer vermerkt: „Es gibt [...] einen Hospital, wohin sich jeder auf meine Art verunglückte Poet mit Ehren flüchten kann die Philosophie." (F. Hölderlin, Sämtliche Werke, Bd. 6, hg. v. F. Beissner, Stuttgart 1965, 311) Erst sein wildes Pamphlet Todkrieg dem Hause Hohenzollern sowie die Letzten Erwägungen (vgl. KGW VIII/3, 457 ff.), die letzten schriftlichen Zeugnisse am Rande des Wahnsinns, bezeugen eine Wende: „Hellsichtig sieht Nietzsche die Katastrophe des Ersten Weltkrieges heraufziehen, als würden ihn von diesem nicht 25 Jahre, sondern lediglich 25 Tage trennen. Erst die Konfrontation mit der realen Geschichte der Menschen durch den eigenen Wahnsinn, der alle Formeln entschärft, hat bewirkt, daß dem blinden Seher die Augen geöffnet werden." -

26

IV. Berichte und Informationen

Hans-Joachim Koch

1995 der Stiftung Nietzsche-Haus in Sils Maria Schwerpunktthema: „Die fröhliche Wissenschaft"

Herbst-Kolloquium

Die Sensibilisierung der Hörer war durchweg gelungen: Unter der motivgeschichtlichen Anleitung Christiaan Hart Nibbrigs (Lausanne), dem jüngsten Mitglied des neu konstituierten Stifungsrates, war das Auditorium Ohr und Stimme Nietzsches in seinen Texten begegnet wie selten zuvor. Das Gehör war für Nietzsche „gar ein zärtlich Ding" (NF, Sommer 1882, 21 [9]), und virtuos zeigte Nibbrig, wie man die Chladnischen Klangfiguren geschriebener Nietzsche-Metaphern quasi tönend noch um die Ecke wahrnehmen könnte, freilich vorausgesetzt, daß es Ohren gebe für den Widerhall dionysischer Rhetorik aus der Einsamkeit. „Nietzsche" in Anführungszeichen erschien hier als persona, als Hindurchtönen von Stimmen durch Subjektmasken. Wahrheit als Darstellungsspiel in der Verkleidung der Gegensätze: rhetorische Versicherung von Kraft zuweilen dionysisch überrumpelnd, zuweilen

asketisch „auf Taubenfüssen!" Stimme des marternden Gedankens, der sich einschreibt ins Herz der Ariadne, die den Schmerz herausschreit an den „Räuber" und „Wegelagerer", der sie als Lösegeld fordert und sich selbst als ihr „Ohr" (ihr Innenohr-La¿>yr¡'«r/z) definiert: Stimme und Ohr, die sich im Selbstgespräch dessen vertauschen, der sich selbst hinter der Urhebermaske mit männlicher wie weiblicher Stimme sprechen hört. So kann Text zur Klage seiner eigenen Genese Stimme bekommen. (NF, Sommer 1883, 12 [1] 47) Wenn im Vortrag Renate Reschkes (Berlin) von Mediokrem und Mitte in den Texten die Rede war, dann sah man plötzlich, daß Nietzsche als Angelpunkt zwischen abendländischer Metaphysik und Postmoderne nicht nur der Mann ist, der die großen Ausnahmen predigt, sondern daß es da auch in der parodierten „Weltklugheit" des kulturell Gewohnten und Erwarteten „als Schutzschicht gegen rationale und religiöse Anmaßung" einen Gegenpol gibt (FW, Vorr. 1 u. 4, § 6 u. § 20). Zur Bewertung der Moderne und der Massen gehört Nietzsches Urteil über deren Denkvermögen. Nach Gracian (1601-1658), Nietzsche kannte ihn von Schopenhauer her, sehen „Dummköpfe [...] in den Dingen nie nur die Hälfte von dem, was eigentlich da ist." Mit der weltklugen Apotheose der Mitte zwischen Metaphysik, neuem Wahn und Freigeisterei dynamisiert Nietzsche sie zur unersetzlichen Lebensenergie des Individuums. Aus der Verwechslung von Mitte und Mittelmäßigkeit resultierte für ihn der schleichende Untergang der Kultur. Sie verzichtet auf die Höhe als ihre Lebenskraft (NF 1888, 14 [182], „Warumdie Schwachen siegen"). Die Sekundärliteratur hatte diesen Akzent von Nietzsches Kulturkritik bisher so noch nicht formuliert. Im Verlauf der Tagung lernten die Teilnehmer die Fröhliche Wissenschaft (FW) durch Marco Brusotti (Berlin) als ein Werk des Übergangs kennen: Übergang von der „Leidenschaft der Affekte" zwischen Nietzsches Allzumenschliches (1878) und Morgenröthe (1881) zur Leidenschaft der Erkenntnis und als weiteren Übergang zu Also sprach Zarathustra die Kategorie der Ganzheit (FW IV). Diese Übergangsrolle ist nicht nur eine thematische, -

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sondern schlägt sich auch in der Anlage und in der Veränderung des Buches von der ersten zur zweiten Auflage der FW nieder. Jörg Salaquarda (Wien) machte auf vier Entwicklungsphasen im Textkörper der FW aufmerksam: auf 1. den zunächst irritierenden Wiederkunftsgedanken und die Erfahrungen mit Lou Salomé; 2. die Überwindung der „Freigeisterei" durch Studium und Fortführung der Analyse und der Einstellung der Aufklärung bis zur Moral- und Ideologiekritik, die bei sorgfältig gelesenem Kontext die präfaschistoide Rolle Nietzsches widerlegt; 3. Relativierung wissenschaftlicher Wahrheit durch den leidenschaftlichen Mut zu eigenen Empfindungen und Wertungen in einer Welt, „die den Menschen Etwas angeht" (FW, § 301); dazu gehört auch das Reifen der Verantwortung für ein Leben nach dem Tode Gottes (FW, § 341) durch „immer mehr lernen und das Nothwendige an den Dingen als das Schöne sehen" (FW, § 276); und 4. in der ewigen Wiederkehr des Gleichen ein unvermeidliches Mittel zur Bejahung des widerspruchsvollen Lebens zwischen „Türkenfatalismus" (MA II, 61) und „Amor fati" (FW IV, 276) zu sehen. Um sich nicht in ein labyrinthisches Verwirrspiel bei Nietzsche zu verlieren, legte Wolfram Groddeck (Basel) anhand der „zweiten Ausgabe der FW" von 1887, insbesondere des Fünften Buches, ausführliche Rechenschaft über das methodische Lesen von Nietzschetexten ab. Er zeigte, warum ihm persönlich die topologische gegenüber der genealogischen Lektüre wichtig ist. Es geht um den Formgedanken des wo und wie Gesagt. Hätte man diese Unterscheidung schon früher geübt, wäre möglicherweise die Blindheit der oft traurig-peinlichen Rezeptionsgeschichte der letzten hundert Jahre verhindert und der parodistische Gehalt in Nietzsches Werk genauer zugeordnet und erkannt worden. Denn Scherz, Parodie und Witz dröhnte bereits aus dem Epilog der FW (§ 383) als „koboldigstes Lachen" hervor und nach dem Zarathustra wurde das noch deutlicher. Wenn Waltraut Wiethölder in einer Arbeit über Jean Paul den Witz in bezug auf die Sprache und ihre Grammatik einmal einen Häretiker genannt hat, der den Glauben an sie verloren bzw. nie geteilt habe, dann trifft das erst recht bei Nietzsche zu (Witzige Illumination, München 1979). Gert Mattenklott (Berlin) meinte, man müsse sich bei der FW auf die Erfahrungen der Aphorismen einlassen, indem man die Fragen aufzudecken versuche, aufweiche die apodiktischen Antworten passen könnten. Nietzsche trete in weiten Teilen seines Werkes der Fliehkraft moderner Wissensanhäufung strategisch medial nicht inhaltlich mit musikalischen Metaphern entgegen, als da sind Intonation, Takt, Rhythmus, Melodik, Harmonik, Instrumentierung und Vortragsweise. Solche alternativen Formfiguren machen Nietzsches artistische Aphorismen bis heute gegen gestaltloses „Wissen" so beständig. Diese Aphorismenpoetik halte ihre Thesen und Antithesen unvermittelt für jede Assoziation offen, ohne ihre ästhetische Evidenz aus dem Wissen zu begründen. „Diese Figuren des geradezu physiologischen Ausballancierens" bewahren deren dominierende Heiterkeit und Witz und erleichtern im entspannenden Sich-Besinnen notwendige Musse. Damit „Ohr und Auge" beim Denken „mit der Uhr in der Hand für die Melodie der Bewegung" nicht zu Grunde -

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gingen! (FW, § 329) Während Nibbrig auf die Tempi beim „hörenden Lesen" zu achten bat, zielte Gert Mattenklott (Berlin) „am Leitfaden des Leibes" auf den Taktschlag des langsamen Geistes, der im Ohr als „philosophischem Organ" diagnostiziert werden kann. Und wenn in den Workshops Fragezeichen im Text nicht mehr nur als Interpunktion, sondern als Problem vernommen wurden, dann begrüßte Karl Pestalozzi (Basel) als Präsident des Stiftungsrats in dieser eine Frucht des '95. geradezu Kolloquiums „Veränderung"

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Biographischen Charakter hatte der Beitrag William H. Schabergs (Fairfield, USA) über „Nietzsche's Publication History as an Insight into the Philosopher and his Works", der die

kontextlichen Zusammenhänge für das Werkverständnis und die eigenartige Publikationsgeschichte aufdeckte. Leider konnte der von Albi Rosenthal in bestem Oxford-Englisch verlesene (und den Hörern vorliegende) Text wegen Abwesenheit des Autors nicht diskutiert werden. Dafür entschädigte der humorvolle Beitrag René Stockmars als Mitarbeiter der Nietzsche-Edition in Basel, der die Probleme mit der wissenschaftlich legitimierten Indiskretion besprach, die sich einstellen kann, wenn man neugierig und indiskret Nietzsches Briefe zur Hand nimmt. Nicht zuletzt war auch zu lernen, was das Editorisch-Kaufmännische an Nietzsches Produktion für diese Produktion selber bedeutete. Stockmars launige Denk- und Leseanstöße dienten der Schärfung der Leser-Aufmerksamkeit, wie sie auch Iso Camartin charakterisierte. Doch zuvor versuchte die Literaturwissenschaftlerin Marianne Schuller (Hamburg), wenngleich mehr sich als das Auditorium, im Kontext der Beziehung von Psychiatrie und Nietzsche in Texten von der Geburt der Tragödie bis in die DionysosDithyramben hinein über die Aussagemodi von Frage- und anderen Zeichen kundig zu machen. Zur Verdeutlichung der Verwirrung, welche Nietzsche mit seinem „kalkulierten Spiel des Aufschubs und Verbergens" stifte, indem er in alle Texte Fragezeichen zur Stilisierung hysterischer Verrätselung verteile, zog sie den späten Dionysos-Dithyrambus Zwischen Raubvögeln heran, welcher von einem „Fragezeichen" als „müdes Rätsel für Raubvögel" redet, das „zwischen zwei Nichtse eingekrümmt" ist. Hier würde „mit der irreversiblen Nietzscheanischen Zeichendämmerung [...] der Signifikant zum Schicksal des Nichts", nämlich alles in „totalisierte Zeichen" aufgelöst. Nietzsche beschwere damit sein Werk genau mit der Crux der Moderne, die uns alle angehe: das Sich-selbst-Setzen in Zeichen. Sie mache praktisch jeden Dialog zunichte. Problematisch wurde der Argumentationsgang Frau Schullers, da wo ihre etwas hilflos gewordene Rhetorik sich an den umstrittenen und oft geradezu Nietzsche verfälschenden Paul de Man als Kronzeugen für ihre Thesen klammerte.

Iso Camartin (Zürich) pointierte das ausklingende Kolloquium ebenso artistisch wie humorvoll mit einem Feuerwerk dell'arte di leggere bene Nietzsche. Es gipfelte in der Frage nach dem, worüber die Experten in diesen drei Tagen Training in Fröhlicher Wissenschaft eigentlich nicht geredet hätten: wie ein „ungeschützter Leser" der Gefahr entgehen könne, durch Nietzsche-Lektüre einem Zitat zufolge toll und einsam zu werden. Dante und Diderot rieten als Therapeuten dem geschundenen Leser: nimm dir, was dir Vergnügen schafft, schön und nützlich ist, was dich neu sehen läßt, dich nicht traurig und deshalb nicht böse macht! Darf man so lesen, fragte Camartin: Nietzsche eine Lagerstätte samt Sondierstollen, um extreme Gefühle und tollkühne Gedanken aufzulesen? Leggere als das Zusammenlesen von allem, wofür man gerade Verwendung hat, ist es das? Für wen sei Nietzsche überhaupt Lektüre? Im Epilog zur Fröhlichen Wissenschaft präsentiert und parodiert Nietzsche die „Tugenden des rechten Lesens" in einem zugleich: „Was ihr zu hören bekommt, ist wenigstens neu; und wenn ihr's nicht versteht, wenn ihr den Sänger missversteht, was liegt daran!" Als Leser für seine Texte kommen (§ 366) keine literarischen Bildungsschmarotzer, sondern nur buckelige Spezialisten und Naturburschen oder Gelehrte in Frage, die aber nicht auf das Ganze der Wahrheit, sondern mit Heißhunger auf das Schauen und Hören, selbst noch des Unvollkommenen, aus sind (§ 79). Er zieht hier gleichzeitig die Schranken für diejenigen, von denen er nicht verstanden werden will. Seine Texte seien nach Art eines Trampolins

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voller Spannung, mit deren Kraft es gelte, zum eigentlich Gesuchten hinaufzuspringen. Das idealste aller Modelle gebe die Sternenfreundschaft (§ 279) ab, bei der man sich wie eines von zwei Raumschiffen selbst einbringen muß, um sich zeitweilig freundschaftlich und dann vielleicht nie mehr zu begegnen. Damit schälte sich in der lebhaften Diskussion das Resümee heraus: Nietzsche habe mit der Sternenfreundschaft eine tragbare Form für viele Beziehungsschwierigkeiten angegeben, in denen wir uns heute noch erkennen. Nietzsche ist weder eine Hausapotheke noch ein Trampolin für Behagliche. Seine Texte sind eine Entdeckungsfahrt für kritische und individuelle Ansprüche. Eine attraktive Neuheit des 95er Kolloquiums waren die Workshops, in denen die Teilnehmer über die Diskussionen nach den Vorträgen hinaus noch intensiver in das Gesamtprogramm eingebunden werden konnten. Ausgewählte Abschnitte aus Die fröhliche Wissenschaft von 1882 wurden in Gruppen zu den Themenkreisen 1. Archäologie des Wissens und Genealogie des Willens zur Wahrheit (mit G. Kohler, Zürich), 2. genealogische Betrachtung (mit K. Pestalozzi, Basel), 3. Perspektivismus der Weltinterpretation (mit Annemarie Pieper), und 4. Wahrheitsproblematik (mit T. Böning, Freiburg i. Br.) über zwei Stunden hinweg gelesen und, wie ich meine, mit Gewinn durchgearbeitet. Nietzsche hat bei weitem nicht alle Fragen, die er gestellt hat, beantwortet (NF 1880-81, 8 [67]). Das wurde auch auf diesem Kolloquium wieder klar. Aber hat er sie nicht meist schärfer durchdacht als irgend jemand vor ihm? So rundete Karl Pestalozzi den Ertrag der Veranstaltung in Sils-Maria ab. Nietzsche hat die Fragen nicht nur schärfer, sondern so oft es nur ging wohl auch noch fröhlicher durchdacht. Und wo der nuancenreiche Humor Nietzsches letztlich in aggressive Ironie und Satire umschlug, da mögen gar manche seiner Leser (so wie Tarmo Kunnas in Nietzsches Lachen, München 1982) wohl die bis zur Unerträglichkeit wachsenden Lasten verstehen oder erahnen, unter denen der sensible Denker „die Absurdität der Zeiterscheinungen mit steigender Empfindsamkeit erspürt und bis zum Ende seines bewußten Lesens die versöhnende Kraft des Humors verzweifelt sucht" (158). Eindrucksvolle Dia- und Textdarbietungen aus dem jüngst erschienenen Bildband Spurensuche (Hg.: Roland Dreßler, Hermann Josef Schmidt u. René Wagner) auf den frühen Stationen von Nietzsches Jugend in Röcken bis zu seinem Aufenthalt in Schulpforta, die Joachim Jung (Nietzsche-Haus Sils-Maria) zu den Diapositiven vortrug und Peter André Bloch (Mulhouse) mit Erni- und Nietzsche-Kompositionen unterlegte, unterstrichen den Rückblick Karl Pestalozzis auf die Verdienste des im Vorjahr verstorbenen Dr. Daniel Bodmer, vormaliger Präsident der Stiftung Nietzsche-Haus. Die sinnlich berührenden Wortund Klangbilder hinterließen einen nachhaltigen Eindruck aus Nietzsches Lebenswelt; den Zuhörern, die Thüringen in der Zeit vor oder nach der „Wende" 1989 schon besucht hatten, wurde das Erlebte nochmals gegenwärtig. -

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Bericht über The Friedrich Nietzsche Society's Fifth Annual Conference „Nietzsche and the future of the human" 16./17. September 1995 Die internationale Konferenz der englischen Nietzsche Society stand 1995 unter der Schirmherrschaft der University of Hertfordshire, auf deren idyllisch gelegenem Campus, unweit von London, sich die Teilnehmer einfanden, mit Empfang in „Wall Hall" : einer ehemaligen Klosteranlage, deren Ursprünge bis ins 13. Jahrhundert zurückreichen und die, nach bewegter Geschichte, während des Zweiten Weltkriegs u. a. auch als Trainingsort für den Geheimdienst diente. Nicht der schlechteste Ort demnach für Versuche, die Zukunft des Menschlichen aufzuspüren selbst gesetzt, das Thema enthalte, wie Keith Ansell Pearson gleich im ersten Vortrag zu bedenken gab, eine gedanklich nicht faßbare Partie transhumaner, oder überhumaner, Anteile, weshalb es sich beim Konferenzthema um eine völlig offene Frage handle. Nietzsche/Zarathustra-Brüdern bzw. -Schwestern auf dem Weg zu einem neuen Adel durchaus gemäß, ausersehen als „Zeuger und Züchter und Säemänner der Zukunft" (KSA 4, 254), ging das Gedenken der Referenten tatsächlich nicht bloß, wie dasjenige des Pöbels, zurück bis zum Großvater: Kathleen Marie Higgins ließ noch am ersten Tagungstag mit ihrem in freier Rede gehaltenen Vortrag, „Waves of Uncountable Laughter", bzw. „Zarathustra Strikes Again" (so der Titel des entsprechenden Kapitels aus einem work in progress), diese Gestalt aus ferner Zeit einschlagen, diesen Mythos unwiderstehlicher, vitaler Präsenz und Anmut im physischen Sinne eines Emerson. Sie eruierte Spuren des iranischen Religionsgründers in Nietzsches Werk, zeigte Parallelen und Gegensätze auf, fragend: Warum „Zarathustra"? Einige ihrer Antworten: Der Iraner, dessen Lehre Judentum und Christentum beeinflußte, betont und bejaht die Gegebenheit von Konflikten und Interaktionen zwischen verschiedenen Mächten/Kräften, lehnt Blutopfer ab, ist unbedingter Verfechter von Wahrhaftigkeit, seinerzeitiger Pionier in der Umwertung von Werten und erwirbt nunmehr bei Nietzsche mit seiner expliziten Wendung hin zum Perspektivismus bei allem TragödienErnst auch die Fähigkeit zur Ironie, zur Parodie und Komödie, zur fröhlichen Wissenschaft und Philosophie der Zukunft, Plato und Aristoteles weit abgeschlagen hinter sich lassend. Und Laurence Lampert gab anschließend vierundfünfzig aus Nietzsches Texten gesammelte „God jokes", „human jokes" inklusive „levity in gravity "-Bonmots zum besten (von: „God's only excuse is that he doesn't exist" bis zu: „,Are there any German philosophers? Are there any good German books?' People ask me this abroad. I blush.") Alexander Nehamas stellte sich in seinem Vortrag „Life as Literature and the Art of Living" die Frage, warum Nietzsche denn nicht Sokrates die ihm entsprechende Ehre erwiesen habe: als (so Nehamas' These) dem Vater der über Montaigne, Pascal, Kierkegaard und Nietzsche hin zu Foucault u. a. reichenden philosophischen Tradition einer Lebenskunst; als einer der wirklich individuellen, großen Persönlichkeiten der Welt was man bzw. Nietz-

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sehe auch sonst von ihm halten mag. Sich im wesentlichen auf Plato stützend und auf Ciceros Beschreibung zurückgreifend, habe Nietzsche aber über Sokrates rigoros so den Stab gebrochen: krank, dekadent, mit anarchischen Trieben, derer dieser Philosoph mit dem „Tyrannen" Vernunft Herr zu werden suchte. Um selber der zu werden, der er war, um sich ebenfalls zu einem einzigartigen Individuum und zu einem echten Philosophen, einem Philosophen der Zukunft zu stilisieren, habe Nietzsche absolut alles, Zufälle, Gesundheit wie Krankheit bzw. eingestandene eigene Décadence, bewußte wie unbewußte Entschließungen, gewonnene wie verlorene Freundschaften, vollendete wie unvollendete Werke, zu einem Ganzen umschaffen müssen, welches er ganz und gar zu bejahen vermochte und das sich auf signifikante Weise von allen anderen, von allem Bisherigen unterscheiden sollte; was, wie im Falle des (im übrigen und in auffallendem Kontrast zu Nietzsche physisch unverwüstlichen) Sokrates, nicht ohne das Brechen von allgemein und scheinbar seit je geltenden Regeln, Prinzipien und Praktiken realisierbar ist. Nehamas zitierte abschließend einen Passus aus Jenseits von Gut und Böse, welcher Sokrates doch als Beispiel für einen solchen Philosophen präsentiere, und stellte schließlich die Vermutung in den Raum, Nietzsche sei sich seiner Emanzipation von Sokrates nie ganz sicher gewesen, ebensowenig wie der Originalität seines eigenen philosophischen Projekts. Nehamas' versteckte Warnung: Wie Sokrates habe es auch Nietzsche nicht in der Hand, ein Kollabieren seiner Konzepte in ihr Gegenteil, in den Dogmatismus, zu verhindern. Daniel W. Conway verwarf hingegen mit Verve „Nietzsche's Dangerous Game", welches dieser Philosoph im Unterschied zu Odysseus nicht im Luxus einer ausschließlich mythischen Existenz gespielt habe, zu dem er eben doch nicht „clever" genug gewesen sei und das er daher verloren habe: durch Generieren von falschen Lesern und „philosopher-commanders", Zeugung von Monstern, „lawgivers manques, political bullies and thugs, and papier mâché Übermenschen". Für jeden Stefan George oder Thomas Mann die Conway unter die Décadence-Künstler plaziert (sich selber zählt er ebenfalls zur Spezies mißratener Nachfolger) habe Nietzsche eine Legion von „graffiti artists, hack playwrights, and adolescent songwriters" inspiriert: eine Leserschaft nach seinem eigenen, abgründig dekadenten und von Ressentiment, Romantik, Größenwahn usw. geprägten Bilde, dem er sich nie wirklich gestellt habe; dafür, zum Auffinden seiner blinden Flecke, brauche Nietzsche unsere Hilfe. Typisch sei seine Überzeugung, man könne die Auswirkungen der eigenen Décadence kontrollieren oder neutralisieren, sei der Mangel an selbst-reflexivem kritischen Geist. Höchstens als ihr Märtyrer, nicht aber als aus dem Übervollen Schenkender, beschleunige Nietzsche die Selbstüberwindung der christlichen Moral und womöglich die Entstehung eines neuen, tragischen agon an der Jahrtausendschwelle. Hätte er sich tatsächlich eine Leserschaft nach seinen Wünschen geschaffen, so wäre seine anti-christliche Rebellion, meinte Conway, gescheitert. In seinem Vortrag über „Nietzsche, Wagner and Stendhal: the Holy Trinity of Decadence" präsentierte Brian Domino Nietzschesche Gedanken zu Stendhals Anti-DécadenceStrategie. Unter der Verwendung von Begriffen aus dem Bereich der Ökonomie definierte er zunächst Gesundheit als die Fähigkeit einer Person, ihre Willenskräfte oder affektive Energie so einzusetzen, daß daraus ein Gewinn resultiert. Ein Décadence-Betroffener dagegen tätige instinktiv schlechte Investitionen oder mache aufgrund einer Fragmentierung seiner Persönlichkeit, gleichfalls instinktiv, so viele Investitionen, daß sich kein Gewinn ergibt. Während Wagner, ein zunehmend verfallender und verzweifelnder Décadent, plötzlich unterging (nachdem er beim Rückgang in stärkere Zeiten bzw. zu nordischen Sagen diese christianisiert und schopenhauerisiert hatte), während Nietzsche von periodischen -

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Décadence-Anfállen heimgesucht wurde, sei Stendhal aufgrund einer geschickten Strategie gesund geblieben: Trotz seiner Übererregbarkeit begibt sich Stendhal auf eine Reise zurück in die Renaissance, nämlich zu den atemberaubend schönen Kunstwerken von Florenz, stürzt dort in eine existentielle Krise, verfallt angesichts der Erkenntnis, selber nicht all das schaffen zu können, was er vor sich sieht, in einen Nihilismus der die Décadence in ihm vernichtet. Stendhal erholt sich daraufhin, vermag die Gedanken Dantes zu denken, sich mit Herrschern des 14. Jahrhunderts wie Castracani zu ergehen und mehrere Werke zu schaffen. Nietzsche dagegen habe sich seine Willenskräfte bestenfalls erhalten, sich dann aber, weil nicht gesund genug, bei der Schaffung seines Zarathustra-^'erkes verausgabt. Dominos Schluß: Stendhals Kunstwerke strotzen vor psychologischem Realismus, den wir Heutigen auszuhalten und uns einzuverleiben vermögen, ja der uns Desillusionierte der Spätmoderne „fruchtbar" machen könne. Wohl setzte Gary Banham in „Dissonance and the Humanity of the Future" auf die ästhetische Wirkungskraft. In Nietzsches Umkehrung des Piatonismus sei der Wille, Schönheit zu schaffen, gleichzusetzen mit dem Willen zur Ewigkeit; dabei entstehe aber hie der letzte Mensch sowie z. B. die Kunst Wagners, da der Übermensch sowie z. B. die Kunst Bizets. Allerdings habe Nietzsche ebensowenig wie Heidegger, trotz des ihnen gemeinsamen Glaubens an die gesetzgeberische Natur der Kunst, einen klaren Weg hin zu einem Gesetz für die Zukunft des Menschlichen gesehen. David Midgley legte dar („Speculating in Human Futures: Reflections of Nietzsche's Thought in German Modernist Literature"), daß Gottfried Benn zwar die ganze Erfahrung des Nihilismus auf sich genommen, seine Antwort jedoch im Rahmen einer ästhetischen Rechtfertigung des Lebens auf eine heroische Pose beschränkt habe: auf die existentielle Aufgabe, immer wieder neue, ästhetisch faszinierende Wortkonstellationen, d. h. Poesie, hervorzubringen. Hingegen habe das Interesse Robert Musils Nietzsches Erforschung der Moral und dem Umwertungsprojekt gegolten; speziell der unvollendet gebliebene Roman Der Mann ohne Eigenschaften präsentiere entsprechende Gedankenexperimente oder „Utopien" rechtschaffenen Lebens in nihilistischer Zeit. Aviezer Tuckers Ausführungen über „Nietzsche as the Philosopher of the 20th Century: His Reception in the Czech Lands" vermittelten einen Eindruck ziemlich konkreter Bemühungen um eine heroisch-aristokratische Haltung innerhalb der Dissidenten-Szene der ehemaligen Tschechoslowakei. Tuckers Interesse galt vor allem Jan Patocka, Husserl-Schüler sowie Autor und Mitbegründer der Charta 77 (mit Vaclav Havel), einem Philosophen, der die Krise der Moderne via Nietzsche, Heidegger und Dostojewski anging und eine Überwindung des Nihilismus durch die Rückkehr zu Authentizität aufgrund von Opfererfahrung erhoffte eine Vision, die er mit der Art seines eigenen Zugrundegehens, seinem im Tod kulminierenden Dissidentenschicksal erfüllte. Die Reaktion der Tschechen auf die Krisen von 1938, 1948 und 1968 habe, Patocka zufolge, dagegen ihre Sklavenmoral offenbart. Maudemarie Clark betonte in ihrem Vortrag, „The Future of Morality", Nietzsches neuer Entwurf gelte auch für die Masse und entwickle sich aus dem alten; wesentliche Elemente alter Werte blieben dabei erhalten, fungierten aber unter den Auspizien einer neuen Weltauslegung. David Owen beleuchtete in „Inhuman, Human and Overhuman: Nietzsche and the Problem of Noble Ethics" ausgehend von Nietzsches Selbstidentifikation mit Napoleon, einer Synthese von Unmensch und Übermensch, die Bezüge zwischen seinen drei Titelbegriffen in den Texten nach Zarathustra (mit den Zuordnungen: inhuman animal; human bad conscience, morality; overman good conscience), wobei auch er die Notwendigkeit eines Hindurchgehens durch das asketische Ideal hervorhob. -

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Nicholas Martin verdeutlichte in seinen Ausführungen über „Nihil obstat: Zarathustra as Prophet of the Future Human", wie Nietzsche-Zarathustra seine Botschaft an den Leser/ Hörer zu bringen sucht: mit ironischen und parodistischen Vermittlungsmustern und Strategien zur Überwindung des Nihilismus und der (Selbst-)Erschaffung eines „new human animal", des Übermenschen; d. h. zur Verwirklichung von Autonomie. Thomas H. Brobjer beantwortete die sich ihm stellende Frage: „Nietzsche's Philosophy of the Future A Return to Past Ideas?" in dem Sinne, daß in einer von Nietzsche propagierten zukünftigen Epoche, in einem gesünderen „Paradigma", es sich bei Werten, insbesondere moralischen, um charakterbezogene, aristokratische Werte handeln wird, ähnlich wie in der frühen Zeit der Griechen oder auch in der Renaissance. Richard Beardsworth wagte sich schließlich vor zu Gedanken über „Nietzsche and the Contemporary Fate of the Democratic State" in einer Welt zunehmender Technisierung und Globalisierung. In Absetzung von Kant und dessen Gesetzesbegriff gelangte er zum Nietzscheschen Tier, das trotz unerwarteten Ereignissen und Schicksalsschlägen (die es zu „verdauen" weiß) versprechen kann, bzw. zur Frage nach dem Recht des Menschen, Versprechen zu machen: der Frage nach der Zukunft der Demokratie. Dem Leitbild eines „Caesar mit Christi Seele", dem Rückruf des Voltaireschen Geistes der Aufklärung und einer „progressive evolution" fügte Beardsworth schlußendlich das Postulat hinzu: Nietzsches (Beardsworth zufolge) biologische und physiologische Simplifizierungen (wie z. B. die Philosophie der Verdauung!) sei durch eine freudianische bzw. tiefenpsychologische Perspektive zu ergänzen, welche die menschliche Sexualität einbeziehe und der unbewußten Evolution von „spirit and spiritualization" gerecht werde. In ihren Ausführungen über „The Ethics of the Abyss" überraschte Debra Bergoffen mit der Interpretation Nietzsches einerseits als Erbe des Erasmus, speziell seiner 1534 von der Sorbonne offiziell verdammten Schrift In Praise of Folly (Erasmus bezeichnet dort die Wahrheit als Frau, nennt sie Folly), insofern er also einen unterschlagenen, vergessenen Zug des Humanismus anspricht; und andererseits als posthum geborener Zeitgenosse Lacans, welcher auf das im Rahmen des ödipalen Dramas wirksame Verlangen nach Wahrheit aufmerksam gemacht hat, bzw. als postmoderner Antihumanist. Nietzsche verbinde die symbolischen Ordnungen, die der wissenschaftliche Humanismus trennt, indem der Philosoph die Welt zur Fabel macht; er erkläre, wir könnten unser unmögliches Verlangen leben, indem wir die Peitsche niederlegen, das Beherrschungsprojekt aufgeben, den Possenreißer spielen und „folly" bzw. den Abgrund/das Ding lieben und preisen. Keith Ansell Pearson postulierte in seinem bereits eingangs erwähnten Vortrag („Nietzsche's Inhuman Futures: Of Monstrous Thoughts"), ohne in einen vagen und inkohärenten Mystizismus z. B. des Erhabenen oder Tragischen verfallen zu wollen, das Übermenschliche sei durchaus nicht, wie dies Adorno sowie Heidegger getan haben, als gefährliche Apotheose innerhalb des Subjektivismus der aufgeklärten Moderne zu interpretieren; der Übermensch lasse sich nicht in den menschlichen Umrissen ausmachen oder modellieren und entstehe sowohl innerhalb als auch außerhalb der Geschichte. Im übrigen sei für ihn Nietzsche heute kein Lehrer mehr, da seine Konzepte wie Übermensch oder ewige Wiederkehr noch mit „human feelings" und „moral garbage" überladen seien. Jim Urpeth zeigte in „A .Pessimism of Strength': Nietzsche and the Tragic Sublime" zudem, unter Bezugnahme auf Deleuze, daß die Berücksichtigung der Unterschiede zwischen Kants und Nietzsches Konzept des Erhabenen für die Humanismus/Antihumanismus-Debatte außerordentlich wichtig ist. Hinsichtlich der Nietzscheschen Konzeption sei die dionysische Auflösung des Gegensatzes Mensch/Natur, die edle Lösung des Pessimismusproblems via -

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griechische Tragödie, und insbesondere Nietzsches späterer Begriff des Dionysischen („Versuch einer Selbstkritik") zentral, mit welchem er eine durch seine „Umwertung aller Werte" kritisch fundierte Alternative zum Humanismus präsentiere. Möglicherweise, so gab Urpeth

Ende zu bedenken, bedeute schon die Frage nach der Zukunft des Menschlichen einen Verrat an Nietzsches Denken und ein Verhaftetsein in einer Art von Willen, welcher die Philosophie für zwei Jahrtausende an eine militaristische Agenda gefesselt habe. Die Bejahung des „tragic sublime" aber impliziere „to enter into a process of becoming-impersonal, to overcome any sense of alienation other than that arising from the enforced containment within the neurotic and claustrophobic confines of the human subject and the sacrifice of essential multiplicity and otherness this entails." „Gesetzt aber nun [...] daß wir entschlossen sind, zu leben so wollen wir [auch] mit dieser Scheinbarkeit der Dinge nicht unzufrieden sein" (in dieser Hinsicht ist z. B. Ernst Jünger äußerst bemerkenswert) „und nur daran festhalten, daß Niemand zu irgend welchem Hintergedanken in der Darstellung [auch] dieser Perspektivität stehen bleibt." (KSA 11, 649) So wollen wir also auf eine gute Verdauung dieser anläßlich der von John Lippitt umsichtig organisierten Konferenz dargelegten unterschiedlichsten und bedenkens- sowie bemerkenswerten Perspektiven hoffen bzw. für eine solche sorgen auf daß es (weiterhin) Tiere gebe, die versprechen dürfen, bzw. eine zukünftige Vielfalt von ,,Caesar[en] mit Christi Seele", die sich von einem Mussolini und insbesondere Schlimmerem doch deutlich unterscheiden. am

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V. Rezensionen

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Rezensionen Claus Zittel, Selbstaufhebungsfiguren bei Nietzsche, 1995, 112 S., 28,-DM.

Würzburg: Königshausen und Neumann,

Einen nihilistischen Nietzsche präsentiert Claus Zittel in seiner kleinen, prägnanten Studie über Selbstaufhebungsfiguren.1 Der Autor hält das Selbstaufhebungskonzept für „einen Grundzug des nietzscheanischen Denkens", für „die konsequenteste Kritikstrategie Nietzsches ", für „ein Schlüsseltheorem für die Bewertung des Status der unterschiedlichen Einzelaussagen Nietzsches", für den Ansatzpunkt der Klärung vermeintlicher Paradoxien und Selbstwidersprüche bei Nietzsche und „für das sich durch alle Werkphasen ziehende Prinzip der tragischen' Philosophie Nietzsches" (10 f.). Mit solch starken Thesen antretend, bemängelt Zittel die fehlende oder unzureichende Würdigung des Selbstaufhebungskonzepts in der Nietzsche-Literatur und möchte es auch nicht verwechselt sehen mit anderen Konzepten Nietzsches, wie der Selbstzerstörung oder der Selbstüberwindung, die der Verfasser höchstens als Illustrationen, als Metaphern der Selbstaufhebungsprozesse gelten lassen möchte (Anm. 4). So wird in dieser Studie nicht versucht, die Selbstaufhebung als die grundlegende Figur in Nietzsches Denken gegen andere mögliche Kandidaten zu behaupten, sondern Zittel nimmt die Perspektive der Selbstaufhebung ein, um diese Perspektivität seiner Untersuchung wissend, und zieht die sich in dieser Perspektive eröffnende Interpretationslinie durch Nietzsches Werk hindurch. Zurückhaltend spricht der Verfasser von Figuren der Selbstaufhebung und nicht etwa von der „Logik" oder der „Formel" der Selbstaufhebung. Dies sei „Ausdruck einer im Umgang mit Nietzsches Texten grundsätzlich gebotenen, doch selten eingehaltenen Vorsicht gegenüber dem jeweiligen Status einer Aussage" (11). Diese philologische Maxime führt im Laufe der Durchführung des Gedankens der Selbstaufhebung freilich nicht dazu, daß Zittel den jeweiligen Aussagestatus benennt oder diskutiert, sondern er zitiert wie üblich aus veröffentlichtem Werk und nachgelassenen Aufzeichnungen, wobei er ersterem das eigentlich, d. h. philologisch, selbstverständliche Vorrecht einräumt, und hält sich in Zitation und Analyse an die Chronologie von Nietzsches Schaffen. „Alle grossen Dinge gehen durch sich selbst zu Grunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung" (GM III 27). Diese Äußerung Nietzsches, die Zittel der Einleitung seiner Schrift vorangestellt hat, drängt die Frage auf, ob es umgekehrt ein Signum der Größe ist, an sich selbst und nicht an etwas anderem zugrundezugehen. Vielleicht fällt einem auch der Seiltänzer aus dem ersten Teil von Nietzsches Also sprach Zarathustra ein, der durch einen bunten Gesellen zum Absturz kommt und der von sich nur glaubt, er sei „nicht viel mehr als ein Thier, das man tanzen gelehrt hat" (Z I, Zarathustra's Vorrede 6), worauf Zarathustra dem Zerschmetterten widerspricht, denn dieser habe die Gefahr zu seinem Beruf gemacht und sei an seinem Beruf zugrundegegangen. Von daher erscheint der Seiltänzer nicht mehr als dressiertes Tier, sondern als großes Individuum im Sinne schon des frühen Nietzsches, d.h. als heroischer Einzelner, der nach seinem inneren Gesetz lebt. Ist das Zugrundegehen ein Einwand gegen den Wert des sich Aufhebenden, und was kann hier noch das Wort „Widerlegung" bedeuten? Solche das Individuum und die Praxis der Wertschätzung betreffenden Fragen, wie sie Nietzsche schon in seiner Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen und in den Unzeitgemäßen Betrachtungen beschäftigt haben, interessieren Claus

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Es handelt sich um die überarbeitete arbeit.

Fassung einer bei Frau Prof. Dr. B.

Scheer eingereichten

Magister-

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Zittel in seiner Studie über Selbstaufhebungsfiguren zunächst nicht. Er möchte erst einmal die Figur der Selbstaufhebung, wie sie sich in den verschiedenen Bereichen von Nietzsches Denken zeigt, hervorheben. Im Durchgang durch diese verschiedenen Bereiche werden die unterschiedlichen Formen, die die Selbstaufhebung annehmen kann, deutlich, wie auch ihre allgemeine „Logik" und Notwendigkeit, die sich durch die Individuen und durch Gebilde wie Kultur und Staat hindurch vollzieht und wohl letztlich im Nichts landen wird. Zittel hat seine Abhandlung in drei Teile gegliedert, von denen sich der erste dem frühen Nietzsche, der zweite der Zeit nach der Tragödienschrift und der dritte der Selbstaufhebung der Moral widmet. Innerhalb der Geburt der Tragödie unterscheidet Zittel zunächst zwischen zwei Varianten der Selbstaufhebungsfigur, der dionysischen und der apollinischen. Die beiden Grundtriebe, die Zittel als bekannt voraussetzt, spielen nach Nietzsche im Menschen und dessen Produktionen zusammen; die Selbstaufhebungsfiguren ergeben sich Zittel zufolge durch eine Aufhebung oder Zerstörung des Gleichgewichts beider Kräfte. Im Falle der dionysischen Selbstaufhebung geschieht dies durch die Selbstvergessenheit, durch die Sprengung des apollinischen Individuationsprinzips in der rauschhaften Vereinigung mit allem und damit mit dem Ur-Einen oder in der Tragödie, wo in der Gesamtwirkung ein Übergewicht des Dionysischen erreicht wird. Dies beschränkt allerdings nicht, wie Zittel meint, Nietzsches Auffassung der Tragödie als Synthese beider Kunsttriebe, sondern im Gegenteil ist es ihre Vollendung. Sie ist die Synthese von apollinischer Bändigung des Dionysischen und dionysischer Sprengung des Apollinischen. So spricht Nietzsche von einem „Bruderbund beider Gottheiten": „Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schließlich die Sprache des Dionysus" (GT 21). Insofern handelt es sich bei der Tragödie um eine wechselseitige Aufhebung des Dionysischen und des Apollinischen. Die dionysische Selbstaufhebung wird von Nietzsche entgegen der Ansicht des Autors keineswegs „klar positiv besetzt" (21), sondern nur im Falle der griechischen Kultur bejaht. In bezug auf die dionysischen Barbaren spricht Nietzsche von einer „abscheulichen Mischung von Wollust und Grausamkeit"

(GT 2).

Die apollinische Variante der Selbstaufhebung besteht Zittel zufolge in der „Zerstörung des eigenen Fundaments via Verselbständigung" (22), wofür ihm „der Selbstmord der Tragödie" das erste Beispiel ist. Anlaß für diesen ist das optimistische Element des Apollinischen in der sokratischen Dialektik. „In dieser Mutation erlangt das Apollinische das Übergewicht über seinen dionysischen Widerpart und zerstört damit die Tragödie, was, da diese ja vom apollinischen Prinzip mitkonstituiert war, eine Selbstaufhebung ihrer ist" (24). „Es ist interessant, daß Nietzsche diese Selbstaufhebung als sukzessive Überwucherung, als inwendigen Auflösungsprozeß durch Isolierung einzelner Teilbereiche und deren Verselbständigung faßt, die die einheitsstiftende Gesamtanlage unvermerkt aus den Fugen geraten und zugrunde gehen läßt." (24) Dies geschieht in einem ersten Schritt bei Sophokles durch eine Einschränkung des Chores, also der dionysischen, musikalischen Kraft, und in einem zweiten Schritt durch Euripides, mit dem das in der Dialektik verselbständigte Apollinischen in die Tragödie eindringt. Bei Euripides soll das Kunstwerk verständig sein, womit das Dionysische, da nicht rational, ausgeschieden werden muß; „die Tragödie in ihrer euripideischen Form schneidet infolge falscher Idealbildung selber die eigenen Wurzeln ab" (25). Gegenüber der Interpretation Zittels muß hier betont werden, daß die Tragödie „infolge eines unlösbaren Konfliktes, also tragisch" (GT 11) verschied. Apollinisches und Dionysisches sind in der euripideischen Tragödie nicht mehr Brüder, sondern das Apollinische kämpft gegen das Dionysische. Demnach kann es sich hier nicht einfach um ein Übergewicht des mutierten Apollinischen, das seine Basis verliert, handeln, sondern um eine

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Katastrophe, die durch den Konflikt ungebundener Kräfte entsteht. Das Apollinische kann das Dionysische nicht besiegen und eliminieren; es kommt nicht zur Ruhe (vgl. GT 12). Apollo kann ohne Dionysos nicht sein. Es sei hier der Darstellung Claus Zittels hinzugefügt, daß sich der Selbstmord der Tragödie im „Todessprunge in's bürgerliche Schauspiel" (GT 14) ereignet. Die Tragödie hebt sich so in einer anderen Kunstform auf. Der Verfasser beschäftigt sich in der Folge mit Sokrates, in dem sich die Selbstaufhebung des Griechentums vollziehe. „Die Kultur hat durch Sokrates selbst ihren Untergang herbeigeführt." (27) Zugleich jedoch stelle der Sokratismus ein retardierendes Moment in der Selbstaufhebung der griechischen Kultur dar, insofern sich diese auf ihn stütze. Mit dem Sokratismus hebe sich auch der Mythos selbst auf. Der metaphysische Trieb finde auf den niederen Stufen keine Verklärungsform mehr (s. GT 23). Daß der Mythos durch den Sokratismus „immer tiefsinniger und großartiger" werde, wie es Nietzsche in seinen nachgelassenen Notizen noch formulierte, stellt deshalb Zittel zufolge keine „Repristination des Mythos", sondern eine „Wiederkehr des Verdrängten" dar (29). In weiteren Schritten untersucht Zittel Selbstaufhebungsfiguren des Sokratismus, d. i. die Selbstaufhebung der Wissenschaft, die systematisch als „Folge der durch Selbstreflexion des Erkennens entlarvten Unvereinbarkeit zwischen Erkenntnisanspruch und Erkenntnisprämissen" zu deuten sei und historisch „als Ausdruck und Verstärkung physiologischer Schwäche" erschiene (35). Die Selbstaufhebung der Erkenntnis sei ein tragisches Ereignis und „keine neue Selbstvergewisserung" (34). Der Wille zum Wissen sei an sich ein Wille zum Tode, zur Weltvernichtung. Für Nietzsches Hoffnungen auf eine neue tragische Kultur sieht Zittel keinen Raum, sie „sind rein spekulativ und widersprechen seinen eigenen Analysen" (Anm.19).

In den anschließend rekonstruierten Selbstaufhebungen des Staates und der Kultur beim frühen und beim späteren Nietzsche sieht der Verfasser ebenfalls in dem immanenten Widerspruch den Grund des Scheiterns. In einem Exkurs werden Freud und Nietzsche bezüglich der Verinnerlichung von Grausamkeit als kulturbildendes Element und der Funktion des Gewissens verglichen. Dann wendet sich die Untersuchung wieder der Selbstaufhebung der Wissenschaft zu, nun in den Schriften nach der Tragödienschrift. In dieser Phase werde Nietzsche keineswegs positivistisch, sondern er „rückt sich selbst in die Position des tragischen Helden. Er vollzieht eine Selbstanwendung seiner Philosophie, er gestaltet sie als Tragödie des eigenen Denkens, und sie wird damit ästhetisch" (57). Und in diesem Sinne entwickele Nietzsche ein Konzept der Selbstaufhebung als Selbstopfer. Das eigene Leben wird heroisch einer höheren Sache geopfert. So sieht der Autor hier doch noch die Möglichkeit einer heroisch-tragischen Haltung als gegeben an, die er, wenn auch nicht für eine ganze Kultur, so doch für Nietzsche selbst bzw. dessen Selbstdarstellung gelten läßt. Das Erkennen hebe sich überdies durch die Schwächung des Lebens und auch durch sich selbst auf, in dem es die eigene Herkunft aus dem Irrationalen erkenne und damit seinen Geltungsanspruch verliere. Zuletzt hebt sich noch die Freigeisterei tragisch auf. In der Sprache findet Zittel anhand der Schrift Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne weitere Selbstaufhebungsfiguren, die z. B. aus dem Konflikt zwischen individuellem Ausdrucks- und allgemeinem Mitteilungswillen entstehen. Mit der Sprache hebe sich das Bewußtsein auf, das seine eigene Oberflächlichkeit erkenne. Die Bewußtwerdung sei tödlich. Dies liege schon in der Metaphorizität der Sprache begründet, denn die Metapher sei bereits die erste Fixierung, die erste Gleichmacherei. Im dritten Teil beschäftigt sich der Verfasser mit der Selbstaufhebung der Moral, die ebenfalls an ihrer inneren Widersprüchlichkeit zugrundegehe. Aus Moralität, so Nietzsche,

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werde der Moralität das Vertrauen gekündigt. Damit ordne Nietzsche seine eigene Position „in das .objektive' Vollzugsgeschehen der Selbstaufhebung der Moral ein und arbeitet daran, dieses in sich zum Abschluß zu bringen." (93) „Nietzsche ist daher als letzter und radikalster Vollstrecker der Aufklärung anzusehen, er steht weder außerhalb ihrer, noch hat er sie hinter sich gelassen, schon gar nicht fällt er hinter sie zurück. Aber er hat in ihr, da seine Kritik wesentlich Vollzugsgeschehen ist, das seine eigene Basis auflöst, auch nicht einen neuen sicheren Standpunkt ermöglicht." (ebd.) Deshalb kritisiert Zittel alle diejenigen Nietzsche-Interpreten, die bei Nietzsche Ansätze einer Selbstüberwindung der Moral hin zu einer höheren Moral sehen. Dem Autor zufolge geht es bei Nietzsche eben nicht primär um Selbstüberwindung, sondern um Selbstaufhebung, an deren Ende, so ein Zitat des späten Nachlasses, stehe: „Die nihilistische Katastrophe, die mit der irdischen Cultur ein Ende macht". (94) Der rigoristische Nihilismus von Claus Zittels Nietzsche-Interpretation hebt sich allerdings selbst auf. Nietzsche ist als tragischer Heros der erkennenden Selbstaufhebung bereits selbst die Verkörperung einer nachchristlichen Moral. Zudem ist das Weltende noch nicht erreicht, und damit stellt sich die Wertfrage für jeden einzelnen weiterhin. Und dazu hat Nietzsche viel zu sagen. Es finden sich bei Nietzsche durchaus Ansätze einer neuen, einer „dionysischen" Moral. Sollte auch deren theoretische Fixierung sich selbst aufheben, so würde das noch nicht automatisch gegen den Wert dieser Moral sprechen. Die vom Verfasser perspektivisch weggedrängte praktische Seite des Themas kehrt derart wieder. Die Betrachtung Nietzsches aus der Perspektive der Selbstaufhebung erscheint so am Ende selbst als Musterfall theoretischer Fixierung, der sich Nietzsche doch gerade in dem reflektierten Facettenreichtum seines Denkens und der bewußten literarischen Gestaltung zu entziehen suchte. Angelica Horn Anne Tebartz-van Eist, Ästhetik der Metapher. Zum Streit zwischen Philosophie und Rhetorik bei Friedrich Nietzsche, Freiburg/München: Alber 1994, 237 S., 74,- DM.

Immer wieder wurde seit den frühen siebziger Jahren der Versuch gemacht, Nietzsches Verhältnis zur Rhetorik zu klären, jedoch ohne daß ein befriedigendes Resultat erzielt wurde.1 Anne Tebartz-van Eist versucht nun in ihrer Bonner Dissertation über den Weg einer Klärung der Metapherntheorie Nietzsches das Verhältnis von Philosophie und Rhetorik neu zu bestimmen. Im Gegensatz zu älteren Studien, die zumeist Nietzsche im Lichte der rhetorischen Tradition zu begreifen suchten, betont Tebartz-van Eist Nietzsches Kritik an den metapherntheoretischen Reflexionen der Rhetoriktheorien und unterstreicht die positiven Aspekte, welche sich durch Nietzsches verändertes Rhetorikverständnis eröffnet hätten. Die Arbeit besticht durch die Gründlichkeit, mit welcher die Verfasserin die einzelnen Aspekte und Facetten ihrer Thematik herausarbeitet und diese jeweils mit zahlreichen anderen Nietzsche-Deutungen konfrontiert, wenngleich die sukzessive Entfaltung ihres 1

Z. B. W. Barner, Barockrhetorik, Tübingen 1970; J. Goth, Nietzsche und die Rhetorik, Tübingen 1970; G. Rupp, Rhetorische Strukturen und kommunikative Determinanz. Studien zur Textkonstitution des philosophischen Diskurses bei Nietzsche, Bern 1976; P. de Man, Allegorien des Lesens, Frankfurt a.M. 1988; P. Gasser, Rhetorische Philosophie, Bern 1992; s.a. J. Kopperschmidt (Hg.), Nietzsche oder die Sprache ist Rhetorik, München 1994.

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Grundgedankens und seine stetige Diskussion anhand vermeidbaren Wiederholungen führt. Im wesentlichen sei

der Sekundärliteratur des öfteren

zu

zwei Gründen das Verhältnis von Philosophie und Rhetorik es, nachdem „der Begriff der absoluten Wahrheit obsolet geworden ist, [...] keinen archimedischen Punkt mehr, von dem aus das Rhetorische ohne weiteres als bloßer Schein abgetan werden könnte" ; zweitens hätte sich die Einsicht in die Sprachlichkeit des Denkens mit dem linguistic turn durchgesetzt und nun könne die Wahrheitsfrage nicht mehr ohne Berücksichtigung der „rhetorischen Aspekte der Sprache untersucht werden" (12). Damit tritt sie, und dies kann bei aller folgenden Kritik nicht genug begrüßt werden, den, wie sie ausführlich belegt, immer noch in der Nietzsche-Literatur verbreiteten Auffassungen entgegen, die Nietzsches Denken nicht als Philosophie anerkennen, sondern als Dichtung, als Produktion von Neo-Mythen oder bloße Rhetorik aburteilen. Ihnen will sie durch den Aufweis begegnen, daß es Nietzsche nicht primär um eine Destruktion der Vernunft gegangen ist, sondern darum, die fundamentale Dimension des Ästhetischen bewußt zu machen (13). Nicht mehr dürfe dann die Metapher dem traditionellen Metaphernverbot der Philosophie verfallen, denn sie zeige sich jetzt als ein „sprachliches Verfahren, auf dem qua Bedeutungswandel die Möglichkeit der ,Neubeschreibung' der Welt und damit der Erweiterung unserer Erkenntnis beruht" (14). Hierbei ginge es nicht nur um eine Umkehrung des Piatonismus so werde die ästhetische Revolution Nietzsches in der Nietzscheforschung gesehen -, sondern radikaler: um die Bestreitung der Gegensätzlichkeit von Sein und Schein, und damit um eine Überwindung des traditionellen Dualismus (14). Die Verfasserin setzt zunächst mit einer Darstellung des Metaphernproblems in der Nietzscherezeption ein (Kap 1.1), wobei sie zum einen deren Schwierigkeiten beim Umgang mit der Vieldeutigkeit des metaphorischen Diskurses vorführt, zum andern aber auch auf einzelne Ansätze hinweist, welche in Nietzsches Metaphorologie einen Ausweg aus den Aporien seiner Sprachkritik zu finden versuchen. Über diese Ansätze sei jedoch hinauszugehen, denn es gelte die kognitive Funktion der Metapher anzuerkennen. Zu diesem Zweck versucht sie „Erkenntnisse der modernen Metapherntheorie für die Nietzsche-Interpretation fruchtbar zu machen" (22) und wählt als methodisches Verfahren eine Applikation der Metapherntheorie Ricœurs auf Nietzsches Philosophie. Dies sei zu rechtfertigen, daRicceur mit seiner Unterscheidung zwischen „.semantischer Innovation' auf der Ebene des metaphorischen Sinns und .metaphorischer Referenz'" (22 f.) zentrale Gedanken Nietzsches weiterführe. So kenne auch Nietzsche, insbesondere bei seinem Interpretationsbegriff, die aus dieser Differenzierung resultierende Vorstellung eines „geregelten Schaffens", welches den „Zusammenhang des Schöpferischen mit der Regel" zum Ausdruck bringe. (Zu dieser Vorgehensweise sei gleich vorab angemerkt, daß sie nicht unproblematisch ist: Ricœurs [sowie Blacks] weder neue noch unbekannte und aufgrund ihrer hermeneutisch-ontologischen Ausrichtung schon gar nicht selbstverständliche Metapherntheorie wird in der Folge in extenso vorbuchstabiert und die dazu passenden Nietzsche-Stellen erneut

zu

befragen:

aus

erstens

gebe

-

gebracht.)

Tebartz-van Eist verfolgt ihr Ziel in vier Schritten. 1. Zunächst wird Nietzsches Kritik der „metaphysischen Rationalität" dargestellt (Kap. 2), deren Irrtümer Nietzsche jeweils auf „Verführungen der Sprache" zurückführe. Seine Philosophie sei daher als Sprachkritik angelegt, doch folge aus ihr kein Relativismus oder Skeptizismus. Entsprechende Deutungen werden von der Verfasserin zurückgewiesen (43 ff.). Nur auf den ersten Blick erscheine Nietzsches Rückführung der Urteilswahrheit auf Glaubenssätze als Sieg der Rhetorik über die Philosophie. So bedeute Nietzsches Rede von

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der

„Begriffsdichtung" nicht einfach eine Abwertung der Begriffe, sondern bezeichne deren ästhetisches Fundament (48 ff.) und bereite die „Einsicht von der grundlegenden Metaphorizität der Sprache" vor. Nietzsche mache auf diese Weise den Anteil des Ästhetischen bei jedweder symbolischen Aneignung von Welt deutlich, sei es in den Wissenschaften, der Philosophie, der Religion, der Künste oder der alltäglichen Rede" (53). Darüber hinaus offenbare sich aus der Metaphernperspektive der begrenzende Charakter des Glaubens an die Begriffe, und die damit einhergehende Erschütterung dieses Glaubens erweise sich „als Weg in die Freiheit, als Emanzipation der Vernunft" (59). Um zu zeigen, daß dies keine Emanzipation von der Vernunft ist, muß die „vernünftige" Dimension der Metapher aufgewiesen werden. Brückenglied dafür ist die Analogie, da sich sowohl Begriffe wie Metaphern einem Wahrnehmen von Ähnlichkeitsbeziehungen verdanken. Die Verfasserin zeigt auf, daß Nietzsche hierin den „Zusammenhang zwischen der Einbildungskraft und den grammatischen Strukturen der Sprache gesehen hat", wobei diese nicht apriorisch (J. Simon), sondern funktional verstanden werden müßten, da „die grammatischen Schemata im konkreten Sprachgebrauch analogisch aufgebaut" würden und sich daher stets wandelten (73). 2. In einem zweiten Schritt (Kap. 3) versucht die Verfasserin mit Hilfe einer Parallelisierung von Humboldts Konzeption der „Sprache als Weltansicht" und Nietzsches „Perspektivismuslehre" den Nachweis zu erbringen, daß Nietzsche das adäquationstheoretische Modell der Sprache durch ein analogisches ersetzt hat. Über Humboldt hinausgehend, habe Nietzsche jedoch die ästhetische Dimension der Sprache an die Bedingungen und Vollzüge des Lebens geknüpft (83). Eine wichtige Frage ist nun, wie sich aus Sicht der Lebensperspektive die metaphorische und begriffliche Symbolsprache zueinander verhalten. Da beide auf dem gleichen ästhetischen Fundament ruhten und beide per Abstraktion zustande kämen, aber dennoch offenkundige Unterschiede aufwiesen, seien diese auf das Vergessen der ästhetischen Dimension zurückzuführen. Eine positive Wendung von Nietzsches Metaphysikkritik könne daher nur durch ein Wiedererinnern und Bewußtmachen der schöpferischen Vermögen in der Sprache erreicht werden (93). Die sich somit abzeichnende „metaphorische Wahrheit" wird zunächst gegen das negative Rhetorik-Verständnis in Schutz genommen (94 ff.). Nietzsches Intention sei „das rhetorische Fundament der Philosophie aufzudecken, um deren Geltungsanspruch zu überprüfen und vor den Irrtümern und Gefahren einer Philosophie zu warnen, die absolute Geltung beansprucht" (95). Mit Hilfe der Metaphern ließen sich jedoch die sprachlichen Gewohnheiten aufbrechen, welche beim „festen" Gebrauch von Wörtern dazu verleiten, Absolutsetzungen vorzunehmen, und so könnten die auf der sprachlichen Bedingtheit des Denkens beruhenden Täuschungen positiv in Richtung einer „Ästhetik der Metapher" hintergangen werden (100). 3. Eine solche „Ästhetik der Metapher" entwirft Tebartz-van Eist im vierten Kapitel ihrer Arbeit. Nietzsche ginge, so ihre Hypothese, „implizit von der prädikativen Struktur der Metapher" aus (109), so wenn er z. B. den metaphorischen Prozeß als Vorgang beschreibt, in dem „etwas als gleich" behandelt werde, „was man in einem Punkte als ähnlich erkannt hat" (KSA 7, 498). „Verschiedenes als gleich behandeln" bedeute aber „Prädikationen zu verwenden" (110). Da jede Prädikation auf ein „außersprachliches Wirkliches als ihren Referenten ziele", werde, gleich welchen ontologischen Status man diesem zuweise, der „Übergang vom Sinn zur Referenz" (110) erzwungen. Der Metapher komme somit eine epistemische Funktion zu, keinesfalls dürfe sie zu einem bloßen Spiel erklärt werden: „Die Metapher beschreibt Wirklichkeit neu" (110). Die von der metaphorischen Referenz eröffnete „metaphorische Wahrheit" unterscheide sich von der „metaphysischen Wahrheit" durch ihren

„Spannungs-Charakter" (111).

Sie

nutze

die

Mehrdeutigkeit der Metapher positiv und

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erkenne in ihr die geeignete sprachliche Form für die Perspektivenvielfalt. Zwei Funktionen der Metapher bei Nietzsche seien dabei zu unterscheiden: Erstens die rhetorische Funktion (112 ff.), welche darin bestehe, durch Veranschaulichung den Gedanken deutlicher zu machen und diesen zugleich auf innovatorische Weise in neuem, ungewöhnlichen Licht zu zeigen. Durch sie bliebe auch die sinnliche Dimension der Erkenntnis aufbewahrt und werde durch eine Beteiligung möglichst vieler Affekte bei der Erkenntnisarbeit ein Pluralismus der Perspektiven erzeugt, der eine größere Vollständigkeit in der Darstellung einer Sache ermögliche (118); zweitens die poetische Funktion (120 ff.), die vor allem anhand der Geburt der Tragödie als „Mimesis" mit „ursprünglichem Wirklichkeitsbezug" (133) bestimmt werden könne. Der Dichter versuche, „die Wahrheit vermittels der Fiktion, der Fabel, des tragischen Mythos zu sagen" (120), er will daher immer über das von ihm Geschaffene hinaus zur „dionysischen Wahrheit", welche sich nun zeige als ein ewig schöpferisches Wirken, das zum ständigen Wechsel von Aufbauen und Zerstören führe (126). Nietzsche beziehe damit im alten Streit um die Alternative zwischen deskriptiver und emotionaler Sprache eine neue Stellung: Dichtung sei nicht referenzlos, sondern hätte einen Wirklichkeitsbezug, der in der symbolischen Aneignung von Welt bestünde (129), und diese finde ihre Vollendung, wenn „die Allgemeinheit und Unbestimmtheit der dionysischen Anschauung in die Besonderheit und Bestimmtheit der konkreten Symbole ,übertragen' wurde" (131). Dies sei im Unterschied zum Wirklichkeitsbezug der Wissenschaften aber eine schöpferische Mimesis (135). Die beschriebenen Merkmale des Mythos seien jedoch auch die der Metapher, denn diese sei die „sprachliche Einheit, in der sich Aufbauen und Zerstören von Sinn und Referenz gleichsam verdichtet ereignen" (139). Tebartz-van Eist spricht daher von einem „doppelten Spiel der Metapher" (141 ff.). Sie sei Instrument der Sprach- und Begriffskritik und erfinde zugleich über die Verletzung der gewohnten Regeln neue Ordnungen (146). Damit werden die Übergänge zwischen Metapher und Begriff fließend (150). Begriffe entstehen, wenn in Folge von Gewöhnung Ähnlichkeiten in Identitäten umgedichtet werden. Nietzsche selbst bezeichne sie daher als „usuelle Metaphern" (KSA 7, 491). Die lebendigen Metaphern hingegen erinnern daran, daß die Begriffe nur „von Menschen gesetzte und als solche endliche Orientierungen sind" (152). Offenkundig gelangt man nun an einen Scheideweg: es erhebt sich die Frage, ob man den traditionellen Streit zwischen Dichtung und Philosophie dahingehend lösen soll, daß man der Dichtung die Leistungen des Begriffs zuerkennt, oder ob man die Philosophie ins Reich der Dichtung hinüberziehen soll. Tebartz-van Eist entscheidet sich mit dem Festhalten an der Referenz auf „Wirklichkeit" für die erste Variante (von der zweiten wird noch die Rede sein), doch zeigt sie, daß Nietzsche diese im Unterschied zu Ricceur, der eine Binnendifferenzierung von metaphorischer und deskriptiver Referenz vornimmt, stets ästhetisch faßt (182). Wissenschaft sei unter der Optik der Kunst zu betrachten, womit Nietzsche in letzter Konsequenz behaupte, daß jeder Weltbezug ein dichterischer ist (183 ff.). 4. Damit ergibt sich folgendes Problem: zum einen kann es nach Nietzsches Sprachkritik keine sinnvolle Rede von Wahrheit mehr geben, zum anderen stünde dazu in scheinbar offenkundigem Widerspruch Nietzsches „Bestimmung von Wahrheit als eines processum in infinitum", die suggeriere, „daß .Wahrheit' für ihn ein sinnvoller Begriff" sei. Der Begriff der „metaphorischen Wahrheit" sei daher weiter zu präzisieren. Nietzsches Wahrheitsbegriff sei „doppeldeutig" (193), denn auf der einen Seite bedeute er „Entdeckung, Auffindung, auf der anderen Seite aber Poiesis" (194). Die erste Leistung bestünde im pragmatischen Zurechtmachen der Welt und entspreche dem wissenschaftlichen Weltumgang, die zweite Leistung sei mit Nietzsches Interpretationsbegriff angezeigt. „Interpretation" sei hierbei als

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„schöpferische Mimesis" zu verstehen, vermöge deren eine Erweiterung „der Horizonte menschlichen Denkens und Erkennens" vorgenommen werde (195). Aus der Perspektive des Lebens betrachtet, sei das wissenschaftliche Erkennen zwar auch ein Interpretieren, doch ein den Perspektivenreichtum beschränkendes und somit verarmtes, das zum „passiven Nihilismus" führe (198). Die „unter dem Zeichen schöpferischer Mimesis" stehende „perspektivische Wahrheit" (199) bezöge sich, sprachphilosophisch expliziert, „nicht darauf, was ist, sondern wie etwas ist" (200). Für den Interpretationsbegriff ergebe sich somit als entscheidendes Merkmal nicht die Machterweiterung (Abel), sondern das „Hinausschieben von Grenzen" (207). Damit müsse aber kein Relativismus einhergehen, da es „doch mehr oder weniger plausible

Interpretationen" (208 ff.) gebe. Mit Hilfe von Kaulbachs Begriff der „Sinnwahrheit", welche sich aus der Zuwendung „zur Sinn-Autarkie der perspektivischen Vernunft der leiblich-sinnlichen Phantasie" (211) eröffne, sei eine Einsicht zu gewinnen, die als Basis für eine ästhetische Wende der Philosophie dienen könne. Die Metapher werde, wie Tebartz-van Eist am Ende ihrer Untersuchung resümiert, „zum Ort der Emanzipation, der Befreiung von der neuzeitlichen Vernunft", welche Natur nur instrumenteil betrachte und würde so zum „Schauplatz menschlichen Wahrheitsstrebens, in dem Schaffen und Entdecken in einer unaufhebbaren Spannung zueinander stehen in einer Spannung die nach Nietzsche zu den Grundbedingungen des Lebens gehört und zum Leben verführt" (212). Ohne Frage werden von Tebartz-van Eist wichtige und bislang unterbelichtete Aspekte der metapherntheoretischen Überlegungen Nietzsches aufgezeigt, doch ist fraglich, ob sich durch ihre Systematisierung schon ein philosophisches Programm für eine „positive Philosophie", für welche Nietzsches „Perspektivismuslehre und seine Philosophie des Willens zur Macht" Zeugnisse seien (15) begründen läßt. Über die punktuelle Betrachtung von Nietzsches Ausführungen über die Metapher hinaus müßten dafür jeweils die thematischen und historischen Kontexte, in welchen sie stehen, mitbedacht werden. Dann wäre über den Aufweis der kognitiven Funktion der Metapher hinaus zu fragen, was denn nun mit ihr erkannt wird und wie dieses Erkannte, auf die Erkenntnisinstanz rückbezogen, sich wiederum auf deren kognitiven Status auswirkt. Schließlich war es nicht Nietzsches primäres Anliegen, Blacks oder Ricceurs Metapherntheorie „anzukündigen" (146). Bedauerlicherweise wird auch der metaphorische Text selber auf seine kognitiven Möglichkeiten hin nicht analysiert, der Zarathustra z. B. nur wenige Male kurz erwähnt, und in einem Fall mit dem negativen, geradezu absurden Befund, daß er gemäß der Blackschen Metapherntheorie kein metaphorischer Diskurs sei. Black zufolge habe man bei den jeweiligen Worten zwischen einem metaphorischen und einem wörtlichen Sinn zu unterscheiden, wobei im Satz der „wörtliche Teil" als „Rahmen" (frame) für die Metapher, die Metapher umgekehrt als „Fokus" für den Satzrest fungiere. Daher sei die „Symbolik von Nietzsches Schrift Also sprach Zarathustra kein Fall der Metapher; denn hier läßt sich nicht mehr in der dargestellten Form zwischen Fokus und Rahmen unterscheiden" (145). Diese Einsicht -

darf nicht einfach en passant konstatiert werden: die Erkenntnis, daß der Zarathustra sich nicht der Theorie fügt, da in ihm kein stabiler wörtlicher Rahmen jeweils zugrundegelegt werden kann, sollte Konsequenzen für die Theorie selbst haben. Der behauptete Spannungscharakter zwischen metaphorischer und wörtlicher Interpretation wäre nicht mehr zu halten. Die Arbeit gerät so eher zu einem Beitrag zur Metapherntheorie Ricceurs und Blacks als zu einer Nietzsche-Interpretation.

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Weiterhin ist die Annahme eines Transzendieren-Könnens der Sprache hin auf den Willen Perspektivismuslehre (15) problematisch. Er verdankt sich bei Tebartzüblichen, aber dennoch ungenauen Lektüre (39, 184, 198, bes. des berühmten Diktums aus der Vorrede zur Geburt der Tragödie, man habe „die 84) Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der Optik des Lebens ..." (KSA 1, 14). Übersieht oder übergeht man die Pünktchen am Satzende, kann man die Lebensperspektive als letzte setzen und gelangt so zu einer unkritischen Verwendung des Lebensbegriffs. Der Sieg über die rhetorischen Funktionen der Metapher erscheint mir insgesamt als zu leicht errungen, denn das Auflösen der aus der Sprachkritik sich ergebenden komplexen Aporien in das simple Einerseits-Andererseits des Zerstörens und Schaffens in der Rede von einem „doppelten Spiel" oder „doppelten Wahrheit" der Metapher kann nicht befriedigen. Das Modell dieser Lösung ist zu dem primär an der Geburt der Tragödie und den ihr zeitlich benachbarten Nachlaß-Fragmenten gewonnen, da dort die Rede von einer „poetischen Wahrheit" noch Sinn macht und es mit dem Dionysischen und Apollinischen ein Zugleich zweier gegenstrebiger Kräfte gibt (aber auch dort mit letztlich dionysisch-zerstörerischem Übergewicht), keinesfalls darf es jedoch für die Zeit nach der Aufgabe der Artistenmetaphysik gelten. Fällt das „Ureine" als Ort der Wahrheit und mit ihm jede Hinterwelt, ist die Mimesis um ihren außersprachlichen Bezugspunkt gebracht, es kann sich je nur auf Interpretationen bezogen werden und damit gibt es einen Primat des Rhetorischen. Dabei dementiert der rhetorische Sprachgebrauch immer schon die Wahrheit einer den Schein transzendierenden Mimesis: „Die seiende Welt ist eine Erdichtung." (KSA 11, 44) Dies ist ein kritischer Punkt für Tebartz-van Elsts Untersuchung, denn die von ihr klar aufgezeigte Überwindung des Schein- und Sein-Dualismus bringt mit sich, daß für Nietzsches „positiv-ästhetische" Vorschläge das Kriterium nicht nur für die Abwertung, sondern auch für deren Validierung fehlt. Setzt man den Willen zur Macht oder die PerspektivismusLehre" als neues ontologisches oder ästhetisches Fundament, etabliert man die alten Dualismen. Die jeweiligen Beschreibungsvorschläge Nietzsches dürfen daher nur als Konstruktionen fiktiver Zentren und damit als Resultate rhetorischer Operationen verstanden werden. Sie sind Setzungen durch Sprache und daher nicht transzendent. Dies hat Rainer Warning in bezug auf Nietzsche luzide dargelegt: „Indem der poetische Text ein Vokabular der Substanz und Präsenz nicht deklarativ, sondern rhetorisch gebraucht, verweist er auf seine eigene Literarität, produziert aber zugleich das Mißverständnis, daß der von der Fiktion gesetzte Ursprung ihrer selbst nicht als struktureller, sondern als genetischer, das heißt ihr zur Macht und der van Eist letztlich einer zwar



chronologisch vorausliegender gelesen wird."2 Tebartz-van Eist hingegen nimmt an, daß es eine Metaphern-Referenz auf „Wirkliches" gebe, sie ziele als Prädikation auf „ein außersprachliches Wirkliches, das sein Referent ist" (157). Diese metaphorische Referenz bringe dann aufgrund ihrer Unbestimmtheit den Vorteil mit sich, sie jeweils unterschiedlich ausdeuten zu können. Damit wird jedoch die traditionelle Opposition von Rhetorik und Erkenntnis beibehalten, nun als Opposition von Rhetorizität und Metaphorizität. Die Einsicht in die Rhetorizität jedweder sprachlicher Manifestation führt hingegen zu einer Bestreitung des Rechts der traditionellen Entgegensetzung. Nicht-Rhetorizität gibt es nicht, nur unterschiedliche Grade 2 R. Warning, „Imitatiound Intertextualität", in: W. Bd. 2, Paderborn 1982, 172.

Oelmüller(Hg.), Kolloquium Kunst und Philosophie,

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Eingestehen bzw. Verleugnen ihrer. Diejenige

Position ist dann die aufgeklärteste, die ihren rhetorischen Status weiß, sich ihren fiktiven Charakter eingesteht und somit nicht mehr naiv gläubig dem Ideal wissenschaftlicher Objektivität oder dichterischer Wahrheit verfallen ist. Eine solche naive dichterische Wahrheit wäre zu glauben, der „metaphorische Sinn" würde stets auf den „Trümmern des .wörtlichen Sinns'" (147) wieder neu entstehen und die Basis für eine neue, anders geartete logische Ordnung bilden. Nur durch die Verengung der Perspektive auf die Metapher allein, genauer: durch das Absehen von der Wahrheitsproblematik und von der Kulturtheorie kann die Verfasserin zur Nietzsche verharmlosenden Ansicht gelangen, man brauchte einfach die vergessene metaphorische Basis wiedererinnern und alles würde wieder gut. So ist etwa ein dafür ausgeblendetes Problem, das der einverleibten und lebensnotwendig gewordenen Irrtümer, durch welches dem ästhetischen Optimismus Tebartz-van Elsts eine tragische Sicht entgegengestellt wird: „Wir werden am letzten den ältesten Bestand von Metaphysik los werden, gesetzt daß wir ihn loswerden können jenen Bestand, welcher in der Sprache und den grammatischen Kategorien sich einverleibt und dermaassen unentbehrlich gemacht hat, daß es scheinen möchte, wir würden aufhören denken zu können, wenn wir auf diese Metaphysik Verzicht leisteten." (KSA 12, 237) Gerade weil die Metapher Normen durchbricht, wird sie gefährlich: „Die reichsten und complexesten Formen [...] gehen leichter zu Grunde: nur die niedrigsten halten eine scheinbare Unvergänglichkeit." (KSA 13, 317) Claus Zittel um

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Joachim Köhler, Friedrich Nietzsche und Cosima Rowohlt 1996, 205 S., 32,- DM.

Wagner. Die Schule der Unterwerfung, Berlin:

Dieser Band aus der Reihe „Paare" stellt zwei Personen vor, deren sonderbare Verbindung schon durch das kleine „und" im Titel und ihr Konterfei auf dem Titelblatt, durch Gedankenstriche getrennt, symbolisiert wird. War das Verbindende bei diesem Un-Paar tatsächlich die „gemeinsame Leidenschaft für einen Dritten", wie der Klappentext suggeriert, oder die geheime Verwandtschaft in der Wollust des Leidens? Der 24jährige Altphilologie-Professor Friedrich Nietzsche lernte die 32jährige Cosima von Bülow, hochschwanger, in wilder Ehe mit Wagner lebend, im Mai 1869 in Tribschen kennen und war alsbald vom Lebensstil des Paares fasziniert. Der gehörnte Ehemann von Bülow verriet Nietzsche seine privatmythologische Deutung der bitteren Geschichte: war Cosima ihm Ariadne, so er Theseus, Wagner jedoch Dionysos. In weithin in Werk und Briefen verstreuten Andeutungen hat Nietzsche den Ariadne-Faden dann in seinem Liebestextlabyrinth weitergesponnen. Auch in seinem Privatmythos steht die Prinzeß Ariadne im Mittelpunkt, bis er selbst schließlich die Rolle des göttlichen Bräutigams Dionysos einnimmt. Eine Notiz zu Ecce homo (1888) lautet: „[...] im Verhältnis zu mir, habe ich ihre Ehe mit Wagner immer nur als Ehebruch interpretiert der Fall Tristan", und der Ausspruch im Krankenjournal der Jenaer Klinik vom März 1890 lautet gar: „Meine Frau Cosima Wagner hat mich hierher gebracht". Natürlich ist die Identifizierung von Cosima alias Ariadne in der Nietzsche-Literatur oft nachvollzogen worden, einschließlich der Warnung vor einem eingleisigen Biographismus, wie sie zuletzt Wolfram Groddeck aussprach, doch ist der Gesamtkomplex noch nie so schlüssig dargestellt worden wie in dieser Neuerscheinung. ...

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In der Unterwelt des Irrenhauses beginnend und im Hades des Wahnsinns endend, folgt Köhler, Autor des Nietzsche-Biographie Zarathustras Geheimnis (1989), der labyrinthischen Struktur der „Wahnfried-Welt" und schafft das Kunststück, aus einer profunden Kennerschaft der Materie heraus, die intimen Details dieses Kampfes um Leben und Tod fesselnd und unbelastet von philosophischen Theoremen oder psychologischen Diskursen, zu erzählen. Das

Vorspiel führt in die abgründige Welt des sagenumwobenen Labyrinths mit seinen vielspurigen Überlieferungsschichten. So besagt eine Variante des Ariadne-Mythos, daß die Unglückliche nach ihrer heiligen Hochzeit mit Dionysos, vom Pfeil der Artemis getroffen, in den Hades verbannt wurde. In Nietzsches Dionysos-Dithyrambus Klage der Ariadne bäumt sich die Unglückselige in einer Art hysterischem Anfall, getroffen vom „Folter-Stachel" des göttlichen Phallus, auf, und ihr Lamento wird durch des Dionysos Hinweis auf die Liebe als Todhaß der Geschlechter geendigt. Wer jenseits konkretistisch zu verstehender sexueller sado-masochistischer Rituale die Lust am Schmerz im Leben perpetuiert, ist meist ein früh Traumatisierter. Oft genug ist die Wirkung des frühen Todes von Vater und Brüderchen für den vierjährigen Nietzsche als das Kindheitstrauma schlechthin betont worden, seltener jedoch die Bedeutung dieses Ereignisses für die Herausbildung seines destruktiven Narzißmus, der mangels klarer Identität zur bereitwilligen Unterwerfung unter fremde Erwartungen führte. Von der Nachtseite der Kindheit her wird verständlich, warum Wagner, dessen eigene Herkunft verrätselt genug war, als Vaterersatz-Idol bei Nietzsche fungierte. Cosimas Kindheit war zwar nicht todesüberschattet, stand aber als Folge ihrer unehelichen Geburt im Zeichen der Verlassenheit. Aufgezogen von der Großmutter Anna die Mutter Marie d'Agoult wurde totgeschwiegen erwies sich die Stiefmutter Carolyne Wittgenstein als Alp. Cosima, voller melancholischer Selbstbezichtigungen bis hin zum Rand des Selbstmords, von Musik ekstatisch und somnambul bis zur Trance hingerissen, rivalisierte mit der Stiefschwester Magnolette um Wagners Gunst. Der Abschied vom Vateridol Liszt schien nur durch Überwechseln zum Vateridol Wagner möglich. So ließen traumatische Kindheitserfahrungen dem Opfertier-Prinzeßchen und dem jungen vaterlosen Theseus-Nietzsche den Weg ins Tribschener und Bayreuther Labyrinth verlockend erscheinen, in dem Wagner-Minotaurus, dieses Monstrum an Zweideutigkeit, mit zerstörerischer Lust seinen Tribut forderte. Wo das Gesetz des Vaters verinnerlicht und als Über-Ich erneut aufgerichtet wird, steht der freie Geist mit schwachem Ich erst recht in der Gefahr der Verirrung und Bedrohung, „vereinsamt und stückweise von irgend einem Höhlen-Minotaurus des Gewissens zerrissen" (JGB) zu werden. Spannend weist Köhler auf, wie der von Wagner als „Erbe" und „Sohn" titulierte Nietzsche in seinen Unzeitgemässen Betrachtungen in den antisemitischen Kulturkampf verstrickt wird (wobei statt des Kampfbegriffs Judentum Deckbegriffe wie „Sokratischer Optimismus" und „Bildungsphilister", z. B. in David Strauss der Bekenner und Schriftsteller [1876] fungierten). Neben der geistigen Unterwerfung wurden auf Tribschen-Naxos auch liebesdienerische Botengänge und Beschaffungen aller Art verlangt (bis hin zu seidener Unterwäsche), während zugleich der humorlose Novize Nietzsche mit „Sargino, d. h. der Zögling der Liebe", dem Held einer italienischen Oper, spöttisch verglichen wurde. So führt Köhler auch die anonyme Zusendung der Voltaire-Büste an Nietzsche (im Mai 1878) als Beispiel einer durch Wagner veranlaßten Foppung ins Feld. Er tritt zudem dem Vorurteil entgegen, erst der späte Nietzsche sei abtrünnig geworden: bereits in der UZB Richard Wagner in Bayreuth (1876) zeigt Nietzsche kritische Distanz, -

-

354

Rezensionen

indem er unter dem Deckmantel der Verehrung den idealisierten Meister mit dessen eigenen Worten enttarnt. Als sich der Lehrling Nietzsche zusehends geistig emanzipiert und zudem von der Bayreuther Festspielpraxis enttäuscht abwendet, geht die Gegenseite zum Angriff über. Der Proselyt wird bloßgestellt: Nietzsche von Wagner als pervers, von jüdischen Freunden (wie Rée) geistig infiziert, als Onanist und Päderast (im Sinne der zeittypischen Konnotation als Männerfreund) bezeichnet. Das Gift der tödlichen Beleidigung wirkt. Nietzsche, in der Rolle des Sohnes, der nicht gefügig genug zu machen war, wünscht dem Übervater den Tod und will doch lieber sich selbst abschaffen. Die Loslösung beim Sorrentiner Allerseelengespräch empfindet er als „Gehen ins Nichts". Doch schon die Tragödienschrift ist durchweht vom Wissen um die Symbolik des Labyrinths als tödlich-göttliches Opferritual mit der möglichen (Spiral)Wendung am innersten Punkt der äußersten Gefahr zu Umkehr und Wiedergeburt. Das Hervorbringen von Zarathustra als eigenem Sohn erweist sich dergestalt nicht als Trauerspiel („Incipit tragödia"), sondern als Trauerabwehr und Überlebensstrategie: als eine Art Dionysos redivivus ist er der Pseudotriumph des überlebenden Jüngeren. Rachsucht, Neid, Rivalität, kurzum die tödliche Feindschaft der ödipalen Situation, wurde nicht in offenem Duell ausgelebt, sondern in Worten den Waffen des Ohnmächtigen. Auch Cosima verstand es, im Briefwechsel mit ihrem Getreuen unter die Gürtellinie zu zielen: so zieh sie Nietzsche der kränklich weichlichen Kraftlosigkeit und nannte seine Bücher „Spasmen der Impotenz". Erst mit dem Mute des Wahnsinns hat sich dann der „Sohn" ermannt, ist an die Stelle des Vaters getreten auf dessen Frau göttlichen Anspruch erhebend. Der Reiz dieses Buches liegt in den Einzelheiten und im Vermögen, die psychischen Probleme der Protagonisten in den größeren Rahmen der Zeitläufe zu stellen. Manchen Aspekt hätte man sich noch vertieft gewünscht: inwiefern z. B. Cosima Nietzsches faible für den französischen esprit verstärkte oder inwieweit sein Bild von der Muse Melancholie als grausamer Frau und Mère mortifière von der Muse Cosima inspiriert wurde. Jedenfalls macht die Lektüre mächtig gespannt auf die angekündigte Richard-Wagner-

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Biographie.

Pia Daniela Volz

VI.

Bibliographie

Nietzsche-Literatur Eine Auswahl der Neuerscheinungen

aus

den Jahren

1995 und 1996

Aufgeführt werden hier nur selbständig erschienene Arbeiten (keine Zeitschriftenaufsätze, Sammelwerkbeiträge etc.), vorwiegend aus dem deutschen Sprachraum. Aufgenommen sind auch noch nicht erschienene Publikationen, die angekündigt sind. Alle Angaben ohne Gewähr und ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

I

Nietzsche-Ausgaben

Nietzsche, Friedrich. „Die nachgelassenen Fragmente". Eine Auswahl. Hg.

v. Günter Wohlfahrt. Stuttgart: Reclam 1996. Nietzsche, Friedrich. Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Berlin/New York: De Gruyter 1995. (CD-ROM Version für Windows und MAC.) Nietzsche, Friedrich. Werke. Kritische Gesamtausgabe. I. Abt., Bd. 1: Nachgelassene Aufzeichnungen Anfang 1852 Sommer 1858. Hg. v. Johann Figl. Berlin: De Gruyter 1995. Nietzsche, Friedrich. Wie man wird, was man ist: Ermutigungen zum kritischen Denken. Hg. v. Ursula Michels-Wenz. Frankfurt a.M.: Insel 1995 (Tb). -

II Nietzsche-Sekundärliteratur Albert, Karl. Lebensphilosophie: Lukács.

von

den

Anfängen

bei Nietzsche bis

zu

ihrer Kritik bei

Freiburg: Alber 1995. Angenvoort, Elisabeth. Das dionysische Ja. Nietzsche und das Problem des schöpferischen Leidens (Dt. Hochschulschriften 1066). Hänsel-Hohenhausen 1995. Aschheim, Steven E. Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults. Stuttgart: J. B.

Metzler 1996. Beyer, Lisa B. Friedrich Nietzsche fürjedermann undjedefrau. Münster: Wal 2000 1995. Bishop, Paul. The Dionysian Self. C. G. Jung's Reception of Friedrich Nietzsche (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung 30). Berlin/New York: De Gruyter 1995. Borchmeyer, Dieter (Hg.). Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Nietzsche und die Erinnerung in der Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996 (stw 1261).

358

Bibliographie

Diethe, Carol. Nietzsche's Women: Beyond the Whip (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung 31). Berlin/New York: De Gruyter 1996. Erkme, Joseph. Nietzsche im „Zauberberg" (Thomas Mann-Studien 14). Frankfurt a.M.: V. Klostermann 1996.

Figl, Johann (Hg.). Von Nietzsche zu Freud: Übereinstimmungen Differenzen. Wien: WUV-Universitäts-Verlag 1996. Friedrich Nietzsche (1844-1900). Beiträge zur Nietzsche-Forschung anläßlich des Jubiläumsjahres (Nietzscheana 4). Von Peter J. Ciaessens, Hans J. Koch u.a. 2. erw. Aufl. Cuxhaven: Junghans 1995. Gentsch, Lutz. Wahnsinn oder Philosophie Friedrich Nietzsche? Eine meistens methodologische Analyse. Frankfurt a.M.: Lang 1995. -

-

Gerhardt, Volker. Friedrich Nietzsche. 2. unveränd. Aufl. München: Beck 1995 (Beck'sehe Reihe Grosse Denker 522). Gerhardt, Volker. Vom Willen zur Macht: Anthropologie und Metaphysik der Macht am

exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung 34). Berlin/New York: De Gruyter 1996. Zugl. Univ. Münster Habil. Sehr. 1983. Haar, Michel. Nietzsche and Metaphysics. Albany: State University of New York Press

1996. Halle, Friedrich. Sonnentau: Verfall einer Verfallsreligion; mit Nietzsche über den Silser hinaus (Nietzscheana 5). Cuxhaven: Junghans 1996. Härtle, Heinrich. Nietzsche und der Nationalsozialismus. Zürich: Kohler 1996 (Reprint). Heidegger, Martin. Gesamtausgabe. Abt. I: Veröffentlichte Schriften (1910-1976). Bd. 6.1: Nietzsche 1 (1936-1939). Hg. v. Brigitte Schillbach. Frankfurt a.M.: V. Klostermann 1996. Himmelmann, Beatrix. Freiheit und Selbstbestimmung: zu Nietzsches Philosophie der Subjektivität. München/Freiburg: Alber 1996 (Alber-Reihe praktische Philosophie 50). Zugl. Gießen: Univ. Diss. 1994/95. Hubbert, Joachim. Der Augenblick des Schönen: philosophisch-literarische Untersuchungen. Bochum: Brockmeyer 1996. Kiowsky, Hellmuth. Der metaphysische Aspekt des Mitleids (Europäische Hochschulschriften 20, 486). Frankfurt a.M.: Lang 1995. Klugkist, Thomas. Glühende Konstruktion. Thomas Manns „Tristan" und das „Dreigestim": Schopenhauer, Nietzsche und Wagner. Würzburg: Königshausen & Neumann 1996 (Epistemata Reihe Literaturwissenschaft 157). Kreis, Rudolf. Nietzsche, Wagner und die Juden. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995. Krell, David F. Infectious Nietzsche. Indiana University Press 1996. Krell, David F. Nietzsche: a Novel. Albany: State University of New York Press 1996. Kuttnig, Beat. Die Nietzsche-Aufsätze des jungen Alfred Döblin: eine Auseinandersetzung über die Grundlagen von Erkenntnis und Ethik. Frankfurt a.M.: Lang 1995. Zugl. Zürich: Univ. Diss. 1993. Lampert, Laurence. Leo Strauss and Nietzsche. Chicago/London: The University of Chicago Press 1996. Lehrer, Ronald. Nietzsche's Presence in Freud's Life and Thougt: on the Origins of a Psychology of Dynamic Unconscious Mental Functioning. Albany: State University of New York Press 1995. Liébert, Georges. Nietzsche et la musique. Paris: Presses Univ. de France 1995.

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Bibliographie Mader, Johann. Zur Aktualität Nietzsches. Wien: Picus 1995.

Malwida. Nietzsche. Schutterwald/Baden: Wiss. Verlag 1996. Daniel. Wider die Vernunft in der Sprache. Zum Verhältnis von Sprachkritik und Müller, im Sprachpraxis Schreiben Nietzsches. Tübingen: Narr 1995. Nehamas, Alexander. Nietzsche Leben als Literatur. Göttingen: Steidl 1996 (unveränd.

Meysenbug,

Neuaufl.).

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Nietzsches vierte Unvollendete: „Wir Philologen". Hg.

-

-

führungen). Steilberg, Hays Alan. Die amerikanische Nietzsche-Rezeption von 1896 bis 1950 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung 35). Berlin/New York: De Gruyter 1996. Stingelin, Martin. Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs ": Friedrich Nietzsches Lichtenberg-Rezeption im Spannungsfeld zwischen Sprachkritik (Rhetorik) und historischer Kritik (Genealogie). München: Fink 1996 (Figuren 3). Tepe, Peter. Nietzsche/Erkennen (Kleine Arbeiten zur Philosophie 40). Essen: Die blaue „

Eule 1995.

Thorgeisdottir, Sigridur. Vis creativa. Kunst und Wahrheit in der Philosophie Nietzsches. Würzburg: Königshausen & Neumann 1996 (Epistemata Reihe Philosophie 180).

Thumfahrt, Stefan. Der Leib in Nietzsches Zarathustra: zur Überwindung des Nihilismus in seiner R. 20,

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(Tb des Wissens 6589).

Bibliographie

360

Vogel, Max Werner. Nietzsches Hinterkopf: Meditationen über Friedrich Nietzsche. 5 Vorträge für den Nietzsche-Kreis München (Kleine Arbeiten zur Philosophie 39). Essen: Die blaue Eule 1995.

Wilson, John E. Schelling und Nietzsche. Zur Auslegung der frühen Werke Friedrich Nietzsches (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung 33). Berlin/New York: De

Gruyter 1996. Zapata-Galindo, Martha. Triumph des Willens zur Macht: zur Nietzsche-Rezeption im NSStaat. Hamburg: Argument 1995 (Edition Philosophie und Sozialwissenschaften 33). Zugl. Berlin: Freie Univ. Diss. 1993. Zittel, Claus. Selbstaufhebungsfiguren bei Nietzsche (Nietzsche in der Diskussion). Würzburg: Königshausen & Neumann 1995. Aus dem Umfeld:

Grupp,

Peter.

Harry Graf Kessler 1868-1937. Eine Biographie. München: Beck 1995. u. Günter Schnitzler (Hg.). Harry Graf Kessler: Ein Wegbereiter der Freiburg i. Br.: Rombach 1995.

Neumann, Gerhard Moderne.

zusammengestellt

von

Pia Daniela Volz

Personenverzeichnis

Abusch, A. 43, 45 Adelman, F. I. 38 Adler, A. 261 Adler, M. 38 Adorno, T. W. 20, 31, 176, 191, 261 f., 275, 338

Agoult, M. d. Aischylos 312

353

Albinus, J. G.

116 231 Algermissen, K. 42 Alkana, Y. 271 Allemann, B. 169, 177, 180 Althaus, G. 40 Annuzio, G. d. 38 Apel, K.-O. 263, 268 Archilochus 96, 178 Aristophanes 310 Aristoteles 50, 93, 176, 247, 266, 324, 335 Arnauld, A. 262 Assmann, A. 99 Assmann, J. 99 Autrum, H. 271 Alcibiades

Baader, F. X. v. 59 Bach, A. M. 116 Bach, J. S. 107,211 Bachofen, J. J. 39, 231 Bacon, F. 275 Baeumler, A. 38-40, 50, 53, 57, 62, 64, 66, 231, 252 Balzac, H. d. 225 f. Banham, G. 337 Barner, W. 346 Barthel, E. 42 Barthes, R. 261 Bartsch, F. 107 Bastian, A. 226 Bataille, G. 66 Bauermann, R. 31

Beardsworth, R. 338 Becher, J. R. 24,61,74

Beerling,

R. F.

293

Beethoven, L. v. 211 Behler, E. 38, 87 f. Beissner, F. 183, 328 Bell, D. 22 Benjamin, W. 20, 31, 176, 228, 326 f. Benn, G. 45 f., 64, 74, 103 f., 180, 184, 188, 228, 337 Benn, I. 188 Benoist, A. d. 22, 24 Bense, M. 272

Bergmann, H. 19 f. Bergoffen, D. 338 Bergson, H. 45 Bering, D. 34 Bertram, E. 116, 195, 198, 200, 208, 215 f. Bichat, F. X. 271 Bickel, L. 272 Bildt, P. 164 Bischoff, F. W. 172 f. Bismarck, O. v. 29, 43 Bizet, G. 337 Black 347, 350

Blanqui,

A.

327 f.

Blasche, S.

293, 305 Bloch, E. 20, 31, 56-59, 64, 176 Bloch, P. A. 334 Bodmer, D. 334 Bodmer, J. J. 103 Boerhaave, H. 272 176

Boethius

Böhme, G. 268 Böhme, H. 268 Bohnen, K. 112 f., Boie, H. C. 103 Bollnow, F. 66 Boltzmann, L. 26

Böning,

T.

334

115

362

Personenverzeichnis

Borchardt, R. 225 Brandes, G. 134 Breazeale, D. 293, 305 Brecht, B. 20, 27, 162, 172 Bredow, H. 172 Bremer, D. 229 Brentano, M. v. 40 Breuer, D. 196, 200

Brobjer,

T. H.

338

Broca, P. 270 Bröcker, W. 46, 55 Brod, M. 178 Brücke, E. W. v. 270 Brusotti, M. 331 Buber, M. 176 Bubner, R. 247 Bücher, R. 177 Büchner, G. 201 Buchwald, W. 84 Buddha

320

Bülow, H. v. 211 f. Burckhardt, J. 215

Bürger, Bürgin,

G. A. 103 H. 44 Burnham, I. 61 Burrichter, C. 58 Byron, G. G. N. 73,110,211,213

Calderón, P. 209 Camartin, I. 333 Camus, A. 66, 280

Canguilhem,

G.

260 Carus, C. G. 226 Cäsar 48, 209, 338 f. Cassius 209 Castracani 337 Celan, P. 74, 175-192 Celan-Lestrange, G. 175 f. Chalfen, I. 175 Cicero 336 Cioran, E. 320, 323 f. Clark, M. 337 Claudius, M. 103, 116 Colli, G. 67, 73 Conrad i, H. 150 Conway, D. W. 336 Cramer, J. A. 117 f. Curtius, E. R. 226

Dante, A. 333, 337 Darwin, C. 26 Deesz, G. 166 Dehmel, R. 150 Deleuze, G. 130 f., 275, 293, 305, 338

Demokrit 203 Deppe, H. U. 260 Derrida, J. 235 Descartes, R. 176, 241, 266, 271 f. Dewey, J. 235 Diderot, D. 333 Dietzel, U. 32 f. Dietzsch, S. 30 Dilthey, W. 211 Dinesen, R. 183 Dix, O. 150 Domino, B. 336 f. Dorfmüller 86 Dostojewski, F. 225, 337 Dreßler, R. 334 Du Bois-Reymond, E. 270

Eckermann, J. P. 209 Eggebracht, A. 42 Eichberg, R. 73, 269 Eichendorff, J. v. 213 Einstein, A. 66 Eisner, K. 148 Elm, L. 21 Emerson, R. W. 335

Emge, C. A. 45 f. Empedokles 208 Enderling, P. 161, Engels, F. 26, 35, Epikur 85

171 59

Erasmus 338 Erni 334

Euchner, E.

262

Euripides 310, 312,

344

Fedier, F. 176 Feuerbach, L. 57 f. Fichte, J. G. 40, 176, 257 Fietz, R. 158 f., 166 Figl, J. 106, 108 Fink, E. 52,66,231,252 Fischer, K. 271 Flakes, O. 42 Flaubert, G. 209, 225 Fleischer, M. 97

Fleming, P. 103 Fölsing, A. 270

Fontane, T. 125 Förster-Nietzsche, E. 28, 40, 55, 65, 135, 150 f., 160, 169 Foucault, M. 31, 236, 319, 335

Fourier, C. 261 Franke, G. 110 Franke, R. 149

Personenverzeichnis Freud, S.

363

244, 262, 270, 272, 345

Hartmann, F. 262 Hartmann, N. 176 Hartmann, R. 271 Haßler, H. L. 121 Havel, V. 337 Havelock, E. A. 99 f.

Friedrich d. Große 29 Friedrich von Preußen 120 Fritz, F. P. 80 Fromm, E. 21 f., 24, 34 Fuhrmann, M. 93 Fulda, F. C. 120

Haydn, J. Hegel, G.

39 f., 57, 59, 176, 226, 227, 257, 293-316, 318 Heidegger, M. 39 f., 49-52, 54, 63, 66, 176, 190, 221, 233, 236, 241, 247-250, 252, 255-258, 337 f. Heine, H. 73, 177, 199, 200 f., 213 Heise, W. 29 f., 61, 64-66 Helmholtz, H. v. 270 f. Heraklit 204, 208, 222, 226, 228, 257 f. Hermand, J. 150, 196 Hermann, N. 122 Hermlin, S. 29, 33 f.

Gadamer, H.-G. 136, 247, 263 Gasser, P. 346 Gasset, J. O. y 45, 62, 229 Gast, P. 78, 82 f., 215 Geibel, E. 103 Geliert, C. F. 103, 117. 120 George, S. 64, 73 f., 150, 228, 336 Gerber, G. 275 Gerber, M. 18 Gerhardt, P. 120 f. Gerhardt, V. 10, 236, 274 Gerlach, H.-M. 17, 31, 269 Gerok, K. 103

Gerold-Tucholsky,

M.

Hesiod

157

100 f.

Görres, J. 59 Goth, J. 346 Gottsched, J. C.

103 K. 101 Gracian, B. 331 Grassi, E. 226 Grau, G. G. 46 Gregor, C. 108 Groddeck, W. 137, 139-142, 195 f., Grotewohl, O. 45 Grundlehner, P. 137, 146, 195 Gryphius, A. 103 Günther, H. 27 Günzel, E. 74, 187, 192 Gurst, K. 30 Guzzoni, A. 319

Gough,

Habermas, J. 235, 268 Hadot, P. 231 Hagedorn, F. v. 112 Halefeldt, H. O. 170-172 Hallmann, E. 270 Hamacher, W. 179, 235 f. Hamann, J. G. 176 Harichs, W. 17, 19, 26, 29-33, 61 Hartmann, E. v. 226, 272

223 K. M. 335 Hitler, A. 31, 40, 43, 45 f., 150 f., 324 Hobbes, T. 272 Hödl, H. G. 106, 114 Hofmannsthal, H. v. 228 Hölderlin, F. 73, 176, 183, 190, 211, 213, 226, 328 Hölscher, U. 229 Hölty, L. H. 103, 114 Holz, H. H. 177 Homer 78, 96, 209, 266 Honderich, T. 290 Hörburger, C. 162 Hörisch, J. 195, 201 Horkheimer, M. 261 f., 317 Houlgate, S. 293 Humboldt, W. v. 348 Hume, D. 290 Hunerfeld, P. 176 Huppert, H. 179 Husserl, E. 176, 190, 221, 337

Higgins,

Gide, A. 66 Glockner, H. 295 Goch, K. 74, 109 f., 198 Goethe, J. W. v. 73 f., 78, 162, 172, 201, 207-216, 222, 226, 266

Goody, J.

211 W. F.

332, 352

Jaeschke, W. 319 Janz, C. P. 198, 271

Jarry, A. 182 Jaspers, K. 41, 44, 46-49,

53 f., 63, 66, 131-134, 176, 275 Jean Paul 103, 332 Jesus 47 f., 106, 118, 120, 122, 205, 231, 323 Joel, K. 293 Jung, C. G. 42, 58, 226

Jung, J. 334 Jünger, E. 64, 339 Jünger, G. F. 45 f.

Personenverzeichnis

364 Kafka, F. 176-178, 182, 192 Kaiser, G. 198, 203 Kant, H. 33 Kant, I. 39, 239, 243, 257, 268 f., 272, 281, 284, 287, 291, 317, 319, 324, 338 Kapferer, N. 40, 44 f. Kappstein, T. 164 f. Kaufhold, B. 61-64, 66 Kaufmann, W. 250, 275, 296, 315, 326 Kaulbach, F. 350 Keller, G. 27 Kerényi, K. 229 Kessler, H. Graf 150, 152 Kierkegaard, S. 46, 48, 50, 59, 61, 176, 327, 335

Kittler, F.

158, 198

Kjaer, Jergen 10, 74, 127, 130, Klages, L. 57 f., 64, 222

132

f., 139 f.

Kleist, H. v. 87 Kline, G. L. 38

Klinger,

M.

150

Klinkicht, M. 24 Klossowski, P. 236 Knox, T. M. 307 Koch, M. 26 f. Koestler, A. 61 Kohler, G. 334 Köhler, J. 78, 195 f., 198, 352 f.

Kopperschmidt,

J.

346

Korff, H. A. 64 Köselitz, H. 135 Köster, P. 38 Kouba, P. 249, 253 Krause, J. 152 Kretschmar, H. 22 f. Kretschmer, E.

Lepenies, W. Lessing, G. E.

260 103 Levenstein, A. 160 Lévinas, E. 318 Liebig, J. 271 Liebknecht, K. 29 Lindemann, K. 195 Linné, C. v. 261 Lippmann, W. 158 Lippnitt, J. 339 Lisson, F. 74 Liszt, F. 353 Locke, J. 266 Loerke, O. 178 f., 182 Löwith, K. 46, 49, 53-56, 66, 176, 229, 241, 252 Loyola, I. v. 261 Luhmann, N. 154-156 Lukács, G. 16 f., 24, 38 f., 44 f., 57, 59-61, 66, 176 Luther, M. 29, 119 f., 122

Mahler, G.

150, 227

Malebranche Malorny, H. Man, P. d.

24, 26 279, 333, 346

266

Mandeville, B. 261 f. Mann, H. 27, 59 Mann, T. 27, 44, 59, 64, 103, 105, 280, 336

103

Krieck, E. 40 Krieger, A. 153

Krug, G. 321 Krüger, M. 262

Krummel, R. F. 153 Kublik, S. 103 Kunnas, T. 334 Künneth, W. 42 Lacan, J. 338 Lämmert, E. 206

Lampert, L. 335 Landgrebe, L. 46 Lange, F. A. 272 f., Lange, H. 19 Laplanche, J. 270

Lekker, M. 90 f. Lenin, W. I. 34 Lenz, J. M. R. 103, 191, 203

281 f.

Leaman, G. 39 Leibniz, G. W. 176, 257, 260-269, 272

Marcuse 172 Maria 79 Marinetti, F. T. 38 Markis, D. 268 Marquard, O. 261 Marquardt, M. 17 Martens, G. 195 Martin, A. v. 42 Martin, N. 338 Marx, K. 35, 48, 57, 59, 176 Mattenklott, G. 332 Matthisson, F. v. 103 McDowell, J. 290 McLuhan, M. 158 Mehring, F. 21, 24, 38 f. Mende, G. 61 Mendelssohn Bartholdy 211 Menninghaus, W. 179 Menthon, F. d. 40 Methyma, A. v. 113 Mette, H. J. 55, 203, 231, 280, 327 Mettrie, J. O. d. 1. 272 f.

365

Personenverzeichnis Meuthen, E.

Ortlepp,

234 f.

Meyer, CF. 74 Meyer, R. 74 Meyer, T. 167 f. Middell, E.

27 f. D. 337 Miller, A. 132, 136, 144 Miller, A. V. 294 Moeller v. d. Brück, A. 64 Mohler, A. 22 Molière, J. B. 110 Molina, T. d. 110 Montaigne, M. d. 176, 275, 335 Montinari, M. 38 f., 67, 88, 114, 196 Morgenstern, C. 74 Moses 191 Most, G. W. 275 Mozart, W. A. 110,211 Mühlmann, G. 74 Müller, H. 32 f. Müller, J. 271 Müller, O. 103 Müller, R. G. 73 f., 114 Müller-Lauter, W. 18, 38, 88, 249 f., 252 f., 258 Munch, E. 150 Musil, R. 27, 337 Mussolini, B. 46, 339

Midgley,

Napoleon

337

Nehamas, A. 335 f. Neumann, B. 274

Nibbrig, C.

H.

331 f.

Niekisch, E. 40, 43

Niemeyer,

C

Nietzsche, Nietzsche, Nietzsche, Nietzsche,

Auguste 116 Carl Ludwig 106,

238

Erdmuthe Franziska

117

116, 124 106-109, 112, 117 f.,

123 f.

Nietzsche, Friedrich August Engelbert Nietzsche, Rosalie 116 f., 123 f. Nikolaus

von

Cusa

Noelle-Neumann, E. Nohl, H. 233 Novalis

Nygren,

Odujew,

59 B. A.

190

155, 158

116

E.

73 f.

Otte, R. 272 Otto, W. F. 229 Overbeck, F. 168, 176, 325 Owen, D. 337 Paracelsus 176, 262 Pareto, V. 62 Pascal, B. 176, 335 Pasley, M. 274 Patocka, J. 337 Patzer, A. 229 Paulus 323 Pearson, K. A. 335, 338 Pepperle, H. 17 Pestalozzi, K. 332, 334 Pestlin, J. 74 Pfeiffer, E. 224 Pfeiffer-Belli, W. 150 Pfotenhauer, H. 195, 201 Piel, E. 172 Pieper, A. 10, 334 Pinder, W. 321 Pippin, R. B. 10 Platen, A. v. 73 Platon 40, 50, 84, 85, 117, 127, 146, 176, 222, 228 f., 235 f., 241-243, 247, 257, 267, 311, 320, 335 f. Plessner, H. 263 f. Plotin 176 Poellner, P. 281 Poincaré, H. 26 Pöggeler, O. 256 Puphal 153 Puster, R. W. 247

Racine, J.-B. 209 Raddatz, F.-J. 157 Rammstedt, O. 149 Rée, P. 224, 271 f., 354 Reichert, S. 177 Reschke, R. 10, 32, 236, 331 Ricœur, P. 347, 349 f. Ries, W. 222 Rilke, R. M. 176, 190, 228

Rodemeyer,

288

S. 21 Oehler, D. E. 109 f., 114 f. Oehler, M. 103 f., 117, 160 Oehler, R. 160 Oelmüller, W. 351 Olde, H. 150

Rohde, E. 321

Romundt, H.

F. K.

166 f.

116, 133, 135, 195-198, 201, 205, 271 f.

Röntgen, W. C. 270 Rorty, R. 131,235 Rosen, G.

Rosenberg, Rosenthal,

260 A. 38-40, A. 333

43, 46, 66, 148

Personenverzeichnis

366 Ross, W. 73,78,211 Rousseau, J. J. 130

Schütz, E. 231 Schwarz, F. A. 231

Rupp, Rupp,

Schweppenhäuser, Schweppenhäuser,

F. G.

165 346

Sachs, N. 183 Sade, Marquis d. 261 Salamun, K. 44 Salaquarda, J. 242, 248, 250, 258, 269, 332 Salomé, Lou 134, 224, 332 Sander, H.-D. 22 Sanderson, J. B. 299

Sappho

81

Sartre, J.-P. 176 Sauckel, F. 148

Schaberg,

W. H.

333 Scheer, B. 268, 343 Scheler, M. 176, 221 Schelling, F. W. J. 59, 61, 103, 226, 257 Schiller, F. 73, 97, 140, 178, 207 Schinkel, A. 74 f. Schipperges, H. 260 Schlaffer, H. 100 f. Schlechta, K. 55 f., 64 f., 67, 203, 279 f. Schlegel, A. W. 103 Schlegel, F. 59, 103 Schleiermacher, F. D. E. 103 Schmeitzner, E. 77 Schmidt, H. J. 74, 77, 85, 125, 136, 139 f., 142, 146, 269, 334 Schmidt, L.-H. 130, 146 Schmidt, R. 317 Schmueli, H. 176, 187, 189 Schneeberger, G. 176 Schneider, Erich 45 Schneider, Eulogius 109, 110 Schneider, R. 34 Scholem, G. 176 f. Scholtz-Klink, G. 148 Schöne, A. 199 Schopenhauer, A. 57, 59-61, 64, 93, 97, 116, 135, 176, 182, 204, 207 f., 221, 226, 263 f., 266-272, 280-287, 289, 291, 293, 321 f., 325, 331 Schrader, M. 74 Schreiter, J. 39 Schröder, R. X. 15 f. Schubert, F. 211 Schuller, M. 333 Schulz, J. A. P. 116 Schulz, R. 62 Schulz, W. 256 Schumann, R. 212 Schuster, G. 103, 188

G. H.

235 327

Serra, M. 38 Shaw, G. B. 59 Sibree, J. 303 Siewert, E. 45 Simmel, G. 149, 176 Simon, J. 348 Sokrates 9, 222, 228, 231, 242 f., 311 f., 314, 336, 345

Sophie Charlotte von Preußen 265 Sophokles 209, 295, 312, 344 Sorel, G. 62

Specht, R. 247 Speirs, E. B. 299 Spengler, O. 21,22,38,42,45,64 Sperber, A. M. 175 Spiekermann, K. 234 f., 237 Spinoza, B. d. 176, 208, 272 Spitzer, L. 116 Staeuble, I. 40 Stalin, J. 324 Steffen, H. 169

Stegmann,

J.

118

Stein, F. 112 Steinbüchel, T. 42 Stendhal 225, 336 f. Stirner, M. 43

Stoph,

W. 32 D. 353 R. 150, 227 Strindberg, A. 252 Sulzer-Tunk, M. 114 Sweet, D. 18 Szarlitt, B. 151 f. Sziklai, L. 39 Szondi, P. 191

Strauss, Strauss,

Taureck, B. Tebartz-van

326

Eist,

A.

346-352

Teichmüller, G. 233 Telemann, G. P. 111 f.

Terpander 179 Thaies 85 Themistios 247 Theokrit 78, 80 f., 209 Thomas von Aquin 176, 266 Thomasberger, A. 193 Thönges, B. 232 Tieck, L. 113 Tiedemann, R. 327 Tolstoi, L. N. 21, 225

Personenverzeichnis 150 M. 197 Treiber, H. 271 Triebenecker, F. 74 Trunz, E. 78 Tucholsky, K. 157 Tucker, A. 337 Türcke, C. 242 f. Turgenjew, I. 225

Weber, A. 41 f., 62 Weber, M. 62 Weimann, K. H. 262

Uexküll, T.

Wiedemann, B. 184 Wiehl, R. 272 Wieland, C. M. 103 Wieland, W. 247 Wiethölder, W. 332

Tönnies, F.

Trampedach,

Urpeth, J.

Valéry,

P.

Velde, H.

Vergil

v.

270 338 f.

v.

321 d. 152

80

Virchow, R. 271 Vivarelli, V. 10 Volkmann-Schluck, K. H. 46 Voltaire 43, 261, 264, 266 f., 338, 353 Volz, P. D. 130, 273

Vulpius, M. Wagner, Wagner, Wagner,

118

C. 352, 354 René 334 Richard 21, 27, 57, 60, 114, 116,

135, 144, 152, 195, 197-202, 205-209, 211, 227, 238, 262, 274, 291, 296, 336 f.,

52-354 Wallace, W. 294 Warning, R. 351 Watt, I. 101

Wellershoff,

D.

180

Weite, B. 46 Wenzel, H. 38, 88

Wenzl, A. 42 Wernicke, C. 270 Wesiack, W. 270

Weylann-Weihe,

W.

Wiggins, D. Wittgenstein, Wittgenstein,

46

290 C. 353 L. 176, Woesler, W. 195 Wohlfart, H. 268 Wotling, P. 10 Wundt, W. 271 Wurm, F. 177 Würzbach, F. C. 160

Yeats, W. B.

276, 321

280

Zahn, P. v. 42 Zeller, H. 195 Ziemann, R. 73 f., 205 Zinzendorf, N. v. 108 Zittel, C. 74, 343-346

Autorenverzeichnis

Kurt Anglet Schloßstr. 68 14059 Berlin

Renate G. Müller Postfach 102731 44027 Dortmund

André Schinckel Pfälzerstr. 5 06108 Halle/Saale

Ralf Elm

Christian Niemeyer Technische Universität Dresden Institut für Sozialpädagogik und Sozialarbeit

Dietrich Schubert Universität Heidelberg Seminarstr. 4 69117 Heidelberg

Fichtenweg 14 58730 Frondenberg Klaus Goch

Königsbergerstr.

2

32312 Lübbecke Elke Günzel Ottoschacht 5 49124 Kloster Oesede

Angela

Horn Grafstr. 77 60486 Frankfurt a.M.

Kapferer Schaperstr. 10 Norbert

10719 Berlin

Joergen Kjaer Opkearsvej 4 True, DK-8381

Mundelstrup

Hans-Joachim Koch Auf der Ziehmark 13 25075 Gladenbach-Sinkershausen Frank Lisson Unterer Katzenbergweg 10 97084 Würzburg

5 01217 Dresden

Jon Stewart Seren Kierkegaard

Uschi Nussbaumer-Benz Unterbühlenstr. 32a CH-8610 Uster b. Zürich

vod Kobenhavns Universitet Kabmagergade 44-46 1150 Kabenhavn K Denmark

Rainer Otte Ottoschacht 5 49124 Kloster Oesede

Jungfernstieg

Weberplatz

Gerd Franz Triebenecker 16a 18937 Stralsund

Jörn Pestlin Winsstr. 61 10405 Berlin

Pia Daniela Volz

Peter Poellner University of Warwick Dpt. of Philosophy CV4 7 AL Coventry U K

Rüdiger Ziemann Hegelstraße 80

Renate Reschke Schmollerstraße 9 12435 Berlin

Wiebrecht Ries Innstr. 14 30519 Hannover

Forskning-

scenteret

Fünf-Bäume-Weg

142/2

89081 Ulm

06114 Halle/Saale

Claus Zittel Bornheimer Landstr. 18 60316 Frankfun a.M.