Negativität: Kunst, Recht, Politik [Originalausgabe ed.] 3518298674, 9783518298671

Gegen die verbreitete Vorstellung, dass Negativität im Interesse von mehr Selbstverwirklichung, Produktivität und Positi

864 200 1MB

German Pages 487 [488] Year 2018

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Negativität: Kunst, Recht, Politik [Originalausgabe ed.]
 3518298674, 9783518298671

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I Die Kunst der Negation
Verneinung der Kunst durch die Kunst: Das Unmögliche an der Kunst. Boris Luries
Entfremdung affirmieren. Eine Modernefigur
Alienation und Affirmation. Die Komödie der Negativität in Heiner Müllers Hamletmaschine
Der Traum von der Allmacht. Notizen über Tyrannei und Theater
Menkes »Nicht« und die Kritik der widerstrebenden Vernunft
Never but. Little void. Becketts Negativität, Adornos kleinste Differenz
Ellipsen der Grammatologie. Derridas schöne Stellen
Negative Beispiele geben. Eine Lektüre von Kleists »Allerneuester Erziehungsplan«
Bilder im Wartestand. Vorspiel zu einer kritischen Philosophie der Geschichte und der Kunst
II Das Recht des Negativen
»Sei eine Person«. Überlegungen zum Nichtinstituierbaren
Herr, Knecht und Maschine in der künftigen Rechtsphilosophie
Das Recht der Negativität
Als Ob! Der Philosoph als wahrer Revolutionär des Rechts
Metaphysik ohne Bodenständigkeit
Autonomie im Konflikt. Bemerkungen zum Problem der Einheit der Person im Handeln
Die soziale Natur der Normativität
Von Autonomie zu Spontaneität. Menke und Arendt
III Die Politik der Negativität
Gegen-Politik. Zur Negativität der Demokratie
Der Wechsel auf die Zukunft. Negativismus und die Wahrheit der Revolution
Gegenhegemoniale Gewöhnung. Modelle zur Transformation der zweiten Natur
Die Negativität der Revolution. Selbstreflexivität und Selbstbegrenzung jenseits des Liberalismus
Gegenrevolution
Entfremdung bei Schiller
Eine andere Antigone. Kritische Anmerkungen zu Christoph Menkes Theorie der Individualität
Die Realität des Tragischen
IV Die Negativität des Denkens
Idealismus und Anti-Idealismus. Die Unendlichkeit des Denkens und radikale Endlichkeit
Die innere Negativität des Denkens
Versionen der Negativität konstellativen Denkens
Die Negativität des Wissens
Menkes Gegenstoß
Von der Kraft der Negativität zur Anti-Philosophie und zurück
Zu den Autorinnen und Autoren

Citation preview

Negativität Kunst, Recht, Politik Herausgegeben von Thomas Khurana, Dirk Quadflieg, Francesca Raimondi, Juliane Rebentisch und Dirk Setton suhrkamp taschenbuch wissenschaft

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2267

Gegen die verbreitete Vorstellung, dass Negativität im Interesse von mehr Selbstverwirklichung, Produktivität und Positivität überwunden oder begrenzt werden muss, eröffnet dieser Band eine andere Perspektive. Er geht den verschiedenen Formen des Negativen in Kunst, Recht und Politik nach, um zu zeigen, dass es nicht allein eine Negativität gibt, die dem Gelingen im Weg steht oder zu dessen sicher beherrschtem Mittel wird. Die Beiträge des Bandes erweisen Negativität vielmehr als eine Kraft der Befreiung, die ein Gelingen anderer Art ermöglicht. Thomas Khurana lehrt Philosophie an der University of Essex und ist Heisenberg-Stipendiat an der Yale University. Dirk Quadflieg ist Professor für Kulturphilosophie und -theorie an der Universität Leipzig. Francesca Raimondi ist Juniorprofessorin für Philosophie an der Kunstakademie Düsseldorf. Juliane Rebentisch ist Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung Offenbach. Dirk Setton vertritt derzeit die Professur für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung Offenbach.

Negativität Kunst – Recht – Politik Herausgegeben von Thomas Khurana, Dirk Quadflieg, Francesca Raimondi, Juliane Rebentisch und Dirk Setton

Suhrkamp

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2267 Erste Auflage 2018 © Suhrkamp Verlag Berlin 2018 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim Printed in Germany ISBN 978-3-518-29867-1

Für Christoph Menke

Inhalt Thomas Khurana, Dirk Quadflieg, Francesca Raimondi, Juliane Rebentisch, Dirk Setton Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11

I. Die Kunst der Negation

Gertrud Koch Verneinung der Kunst durch die Kunst: Das Unmögliche an der Kunst. Boris Luries NO!Art und der Kanon  . . . . . . .  45 Rüdiger Campe Entfremdung affirmieren. Eine Modernefigur  . . . . . . . . . . .  53 Katrin Trüstedt Alienation und Affirmation. Die Komödie der Negativität in Heiner Müllers Hamletmaschine  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  65 Carl Hegemann Der Traum von der Allmacht. Notizen über Tyrannei und Theater  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  80 Penelope Deutscher Menkes »Nicht« und die Kritik der widerstrebenden Vernunft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  95 Anselm Haverkamp Never but. Little void. Becketts Negativität, Adornos kleinste Differenz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   113 Alexander García Düttmann Ellipsen der Grammatologie. Derridas schöne Stellen  . . . . .   123 Bettine Menke Negative Beispiele geben. Eine Lektüre von Kleists »Allerneuester Erziehungsplan«  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   132

Lydia Goehr Bilder im Wartestand. Vorspiel zu einer kritischen Philosophie der Geschichte und der Kunst  . . . . . . . . . . . . . .   147 II. Das Recht des Negativen

Catherine Colliot-Thélène »Sei eine Person«. Überlegungen zum Nichtinstituierbaren    169 Christoph Möllers Herr, Knecht und Maschine in der künftigen Rechtsphilosophie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   184 Rainer Forst Das Recht der Negativität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   196 Andreas Fischer-Lescano Als Ob! Der Philosoph als wahrer Revolutionär des Rechts  .   207 Raymond Geuss Metaphysik ohne Bodenständigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   220 Beate Rössler Autonomie im Konflikt. Bemerkungen zum Problem der Einheit der Person im Handeln  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   233 Stefan Gosepath Die soziale Natur der Normativität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   247 Terry Pinkard Von Autonomie zu Spontaneität. Menke und Arendt  . . . . .   261

III. Die Politik der Negativität

Martin Saar Gegen-Politik. Zur Negativität der Demokratie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   281

Hauke Brunkhorst Der Wechsel auf die Zukunft. Negativismus und die Wahrheit der Revolution  . . . . . . . . . .   293 Daniel Loick Gegenhegemoniale Gewöhnung. Modelle zur Transformation der zweiten Natur  . . . . . . . . . .   311 Robin Celikates Die Negativität der Revolution. Selbstreflexivität und Selbstbegrenzung jenseits des Liberalismus  . . . . . . . . . . . . . .   329 Axel Honneth Gegenrevolution  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   341 Eva Geulen Entfremdung bei Schiller  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   349 Dieter Thomä Eine andere Antigone. Kritische Anmerkungen zu Christoph Menkes Theorie der Individualität  . . . . . . . . . . . .   357 Lutz Ellrich Die Realität des Tragischen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   374

IV. Die Negativität des Denkens

Robert Pippin Idealismus und Anti-Idealismus. Die Unendlichkeit des Denkens und radikale Endlichkeit     391 Sebastian Rödl Die innere Negativität des Denkens  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   401 Martin Seel Versionen der Negativität konstellativen Denkens  . . . . . . . .   424 Andrea Kern Die Negativität des Wissens  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   435

Frank Ruda Menkes Gegenstoß  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   451 Christiane Voss Von der Kraft der Negativität zur Anti-Philosophie und zurück  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   464

Zu den Autorinnen und Autoren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   485

Thomas Khurana, Dirk Quadflieg, Francesca Raimondi, Juliane Rebentisch, Dirk Setton Einleitung Nein. Ich bin nicht einverstanden. Bertolt Brecht, Der Neinsager

Dass Geist ohne Negativität nicht zu haben ist, ist spätestens seit Hegels Phänomenologie des Geistes und Goethes Faust eine ebenso vertraute wie kontroverse Einsicht der philosophischen und literarischen Reflexion. Geist kann sich nur setzen, indem er sich vom bloß Gegebenen unterscheidet, und er tut dies wesentlich durch die Operation der Negation – eine Operation, die sich dadurch auszeichnet, dass sie sich auch auf sich selbst beziehen und gegen sich selbst richten kann. Geist ist so nicht durch einen vorgefundenen Unterschied zu anderem gegeben, sondern konstituiert sich erst durch eine Selbstunterscheidung, durch die er zugleich immer schon über sich hinaus ist. Die Hervorbringung einer Welt geistiger Gegenstände und Taten erfordert eine komplexe Arbeit des Negativen, durch die der Geist das unmittelbar Vorhandene negiert und eine Wirklichkeit eigener Art gewinnt, die von Negativität ganz durchdrungen ist. Nach Hegel würde selbst das Leben Gottes und das göttliche Erkennen ohne diese Arbeit des Negativen fad.1 Der Raum der Gründe, die Sphäre des Geistes, das Feld des Sinns oder wie immer man das nennen will, was durch die Operation der Negation konstituiert wird, ist mithin kein geschlossener Kreis von Positivitäten, sondern immer auch: Reich der Schatten (Schiller), Nacht der Welt (Hegel), Spur der Auslöschung der Spur (Derrida). Bei Hegel und Goethe war dies durchaus noch als beunruhigender Befund gemeint: Der Geist, der stets verneint, hat bei Goethe sein eigentliches Element im Bösen. Die Negation, durch die der Geist sich und das ihm Gegebene konstituiert, stellt der frühe Hegel als einen Akt der Benennung vor, der das Benannte zugleich »als 1 G.  W.  F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Werke, Bd. 3, Frank­furt/M. 1986, S. 24.

11

Seiende[s] vernichtet«.2 Und der Gedanke der absoluten Negativität zielt nicht auf einen Geist, der sich vermittels Negativität ruhig erhält, sondern der sich nur als Negativität seiner selbst verwirklichen kann und darum nicht nur über sich hinaus, sondern zugleich stets schon hinter sich zurückgefallen ist. Die Antwort auf den Mythos des Gegebenen ist daher keine Besinnung auf ein selbstgewisses geistiges Vermögen zur Negation, vielmehr ein sich vollbringender Skeptizismus, der nur in der Ruhelosigkeit der Negativität selbst seinen rückhaltlosen Halt findet. Die Idee der Negativität des Geistes scheint in der Theoriediskussion der letzten Jahrzehnte in bestimmter Hinsicht äußerst erfolgreich gewesen zu sein, allerdings nur um den Preis ihrer entschiedenen Entdramatisierung. Gegenwärtig besteht kaum Dissens, dass es den Mythos des Gegebenen zu vermeiden gilt, jedoch erhebliche Uneinigkeit, wie radikal die Konsequenzen sind, die man dafür in Kauf zu nehmen hat. Auf ganz unterschiedliche Weise hat sich so in den verschiedenen Strömungen der zeitgenössischen Philosophie ein Verständnis von Sprache und begrifflichen Fähigkeiten durchgesetzt, nach dem diese immer schon auf irreduzible Weise auf Negativität verwiesen sind. Weder begriffliche Bestimmtheit überhaupt noch das für begriffliche Fähigkeiten kennzeichnende Vermögen zur reflexiven Distanzierung scheinen ohne eine strukturelle Negativität geistiger Operationen verständlich. Die strukturelle Natur und Allgegenwart der Negativität scheint vielen zeitgenössischen Autor*innen allerdings zugleich die Vermutung nahezulegen, dass die Konsequenzen so dramatisch dann wohl doch nicht sein können – oder sollten. Die differentielle Negativität, durch die etwas als etwas konstituiert werden kann, die »materiale Inkompatibilität«,3 durch die Sätze allein bestimmten Gehalt gewinnen, und die Fähigkeit, sich selbst negieren zu können, verschwinden hinter ihrem jeweiligen Resultat: der dadurch konstituierten Positivität, dem so bestimmten Gehalt und der so erreichten Entlastung von der dauernden Inanspruchnahme dieses kritischen Vermögens. Nicht zufällig ist die pauschale Konzession von Negativität darum gegenwärtig mit einem zunehmenden Ver2 G.  W.  F. Hegel, Jenaer Systementwürfe I, Hamburg 1986, S. 201; vgl. hierzu eingehend Maurice Blanchot, Die Literatur und das Recht auf den Tod, Berlin 1982. 3 Vgl. hierzu Robert Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, Berlin 2015, insbes. Kap. 7, 9.

12

blassen der Sprache der Negativität verbunden. Dass Adam die Tiere durch ihre Benennung als Seiende »vernichtete«, dass das Vermögen der Negativität jederzeit zu einer »Furie des Zerstörens« oder des »Verschwindens« werden kann und dass der Geist sich selbst als »Schädelstätte« darzustellen hat,4 erscheint der zeitgenössischen Diskussion wohl als eine eklatante, ja irreführende Übertreibung. Es überrascht vor diesem Hintergrund nicht, dass Negativität dort, wo sie überhaupt noch einen expliziten Auftritt hat, als etwas erscheint, was es im Sinne der positiv zu erreichenden Leistungen zu beschränken und zu zügeln gilt. Mit zu viel Negativität schadet man sich bekanntlich selbst und verhindert die Entfaltung der eigenen Potentiale. Dieser Entschärfung und Einhegung von Negativität werden gegenwärtig verschiedene Strategien entgegengesetzt, die auf dem an der Negativität ursprünglich hervorgetretenen Moment von Unterbrechung und Befreiung bestehen und dessen Tragweite auf unterschiedliche Weise neu entfalten wollen: durch Ausweitung und Radikalisierung, durch Überschreitung und Preisgabe oder aber durch eine Vertiefung und Komplizierung des Denkens der Negativität. Die erste Strategie behauptet, dass wir unseren Begriff der Negativität radikalisieren müssen, indem wir ihn auch auf Nichtgeistiges ausdehnen und indem wir die Negativität des Geistes im Gegenzug noch negativer deuten: als »weniger als Nichts«.5 Die zweite Strategie entgegnet, dass diese Überbietung unzureichend bleibt: Wir müssen die Dialektik der Negativität vielmehr ganz hinter uns lassen und stattdessen auf Affirmation der Differenz und Treue zum Ereignis setzen, wenn wir tatsächlich das freilegen wollen, was das Denken der Negativität letztlich eher verstellt als gedacht hat.6 Die dritte Strategie schließlich sagt: Um einer beschränkten Ökonomie 4 Vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke, Bd. 7, Frank­ furt/M. 1986, § 5A, S. 50, sowie Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 436, 591. 5 Vgl. Ray Brassier, Nihil Unbound. Enlightenment and Extinction, New York 2007; Slavoj Zizek, Weniger als Nichts. Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus, Berlin 2014. 6 Vgl. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München 2007; Alain Badiou, Das Sein und das Ereignis, Berlin 2005, S. 185-198; Alain Badiou/John Van Houdt, »The Crisis of Negation. An Interview«, in: Continent 1:4 (2011), S. 234-238. Foucaults »nicht-positive Affirmation« ist ein Grenzfall zwischen zweiter und dritter Strategie: vgl. Foucault, »Vorrede zur Überschreitung«, in: Dits et Écrits I, Frank­ furt/M. 2001, S. 320-341.

13

der Negativität zu entkommen, die sich selbst entschärft, weil sie die Negativität zu einer positiven Produktivkraft im Dienste des Bestehenden macht, hilft es nicht, den Begriff der Negativität vermeintlich zu überbieten oder preiszugeben. Wir müssen vielmehr das Verhältnis von Negativität und Positivität, Negation und Affirmation neu verstehen und die strukturellen Konsequenzen der Negativität unbeirrter verfolgen.7 Diese Strategie will Negativität also nicht steigern oder überschreiten, sondern das Denken der Negativität vielmehr auf eine neue Weise vertiefen und komplizieren. Sie setzt sich der Entschärfung der Negativität entgegen, indem sie herausarbeitet, inwiefern Negativität kein bloßes Mittel der ruhigen Erhaltung und Bewahrung normativer Ordnungen darstellt, sondern Normativität nur so ermöglicht, dass sie diese immer schon fundamental infrage stellt. Christoph Menke, dem dieser Band gewidmet ist, ist einer der entschiedensten Vertreter dieser dritten Strategie. Dieser Band befragt in ihrem Sinne das Verhältnis von Negativität und Normativität, indem er die Negativität der Kunst, des Rechts und der Politik untersucht und bis in die Implikationen für die Negativität des Denkens hinein verfolgt. Schon eine ganz oberflächliche Betrachtung macht deutlich, dass Normativität ohne Negativität nicht zu denken ist. Eine Norm bestimmt, wie etwas zu tun ist oder zu sein hat, und entsprechend, wie es nicht zu sein hat. Die Norm unterscheidet ihre Erfüllung von ihrer Verfehlung. Diese Unterscheidung ist nicht neutral: Die Norm unterscheidet nicht einfach zwei mögliche Zustände, sie zeichnet einen Zustand gegenüber dem anderen aus. Die Norm sagt Ja zu ihrer Erfüllung und Nein zu ihrer Verletzung. Wenn sie verletzt wird, wird die Norm nicht außer Kraft gesetzt, ihre Unterscheidung nicht gelöscht; die Norm wiederholt vielmehr im Moment ihrer Verletzung ihr Ja zu sich selbst. Sie hält gegen die Art, wie es ist, an dem fest, wie es sein sollte. Normen, die sanktionsbewehrt sind, tun das mit besonderem Nachdruck: Die Norm wiederholt angesichts ihrer Verletzung nicht einfach ihr Ja und ihr Nein, sie bekräftigt es durch die Folgen, die sie denjenigen auferlegt, die sie verletzen. Die Norm sagt somit nicht einfach still für 7 Siehe Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frank­furt/M. 1966; Jacques Derrida, »Von der beschränkten zur allgemeinen Ökonomie«, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frank­furt/M. 1972, S. 380-421.

14

sich Ja zu ihrer Erfüllung und Nein zu ihrer Verfehlung, sie verlangt, dass man ihr darin folgt. Die Norm verlangt Einverständnis. Sie fordert ihre Bekräftigung durch die Normierten, wenn nicht durch ihre Erfüllung, dann wenigstens durch die Akzeptanz der von ihr auferlegten Folgen. Auf welche Weise aber kann man sich dem Einverständnis, das die Norm verlangt, ja das sie auf gewisse Weise ist, entziehen oder ihm etwas entgegensetzen? Auf welche Weise kann man Nein sagen zu der Art und Weise, in der die Norm Ja zu ihrer Erfüllung und Nein zu ihrer Verfehlung sagt? Kunst, Recht und Politik scheinen zum einen normative Ordnungen wie andere auch zu sein: Sie sind komplexe, dynamische Gebilde von Normen, die auf vielfache Weise Erfüllung von Verfehlung unterscheiden, Ja zur Erfüllung und Nein zur Verfehlung sagen und Einverständnis zu diesem Jasagen und Neinsagen verlangen. Sie sind darin aber zugleich solche Formen normativer Ordnung, die es auf unterschiedliche Weise möglich machen sollen, den bestehenden Normen unser Einverständnis zu entziehen und zu verweigern und andere Normen, Normen anderer Art zu verwirklichen. Kunst erlaubt die Suspension der Normen, die das praktische Gelingen bestimmen, Rechte begrenzen das Ausmaß, in dem uns Normen Einverständnis auferlegen können, Politik stellt die bestehenden Normen in die Disposition des politischen Streits. In Kunst, Recht und Politik erweist sich Negativität so nicht als bloßes Mittel der Erhaltung einer normativen Ordnung, sondern als Weg der Suspension, der Begrenzung und Transformation des Zwangs normativer Ordnungen. Moderne Kunst, Recht und Politik zeichnen sich dabei auf besondere Weise dadurch aus, dass sie nicht bloß mit Hilfe von Operationen der bestimmten Negation ihre jeweilige Struktur und Ordnung zu realisieren suchen, sondern dass sie sich um ein Moment radikaler Negativität herum organisieren – ein Moment, das je nach theoretischer Einstellung entweder als radikale Unbestimmtheit oder als innerer Widerstreit gefasst wird, die oder der in ihnen als treibende Kraft wirkt: die Unbestimmtheit des ästhetischen Zustands oder der Widerstreit von Regel und Spiel; das vom modernen Recht als unbestimmt vorausgesetzte Subjekt der Rechte oder der Widerstreit von Beschränkung und Freiheit; die radikale Unbestimmtheit der Gleichheit oder der Widerstreit von Institution und Revolution. Vor dem Hintergrund einer solchen 15

produktiven Unbestimmtheit oder eines solchen fundierenden Widerstreits stellt sich die Frage nach der Rolle von Negation auf neue Weise: Wie gestaltet sich in diesen innerlich negativen Ordnungen das Verhältnis verschiedener Formen der Negation – von der abstrakten über die bestimmte bis zur absoluten Negation? In welcher Beziehung stehen in ihnen die verschiedenen Leistungen der Negation – von der Generalisierungsleistung8 über die Determination9 bis zur Potentialisierung?10 Und inwiefern können Negation und Negativität die Kritik und Transformation normativer Ordnungen zugleich ermöglichen und blockieren? Um hier zu neuen Klärungen zu kommen, behandeln die Beiträge dieses Bandes eine große Spannweite von Gestalten der Negativität – von Fehler und Irrtum bis zu Verstoß und Verletzung, von Verneinung und Entfremdung bis zu Verdrängung und Verwerfung, von Transformation und Konflikt bis zu Revolution und Kollision, von Epoché und Ellipse bis zu Annihilation und Auflösung, von Differenz und Andersheit bis zu Widerspruch und Gegenstoß, von Ironie und Selbstdifferenz bis zu Tragik und Widerwille. Im Folgenden stehen somit nicht nur ganz unterschiedliche Felder, sondern auch ganz unterschiedliche Figuren des Negativen im Zentrum. Trotz dieser Diversität teilen die folgenden Beiträge in der Analyse dieser Figuren ein dreifaches Interesse: ein Interesse an einem nichtinstrumentellen Verständnis der Negativität, an der Komplikation des Verhältnisses von Negativität und Positivität sowie an einer Neubestimmung von Negativität als Kraft. Die Beiträge zeichnen nach, dass Negativität unterschätzt wird, wo sie als ein bloßes Mittel gedacht wird. Negativität ist nicht tief genug verstanden, wenn sie bloß als eine Zwischenphase oder als ein Instrument auf dem Weg der Wiederherstellung der Positivität in den Blick kommt. Das heißt zugleich, dass das Verhältnis von Negativität und  8 Niklas Luhmann, »Über die Funktion der Negation in sinnkonstituierenden Systemen«, in: Poetik und Hermeneutik VI. Positionen der Negativität, hg. v. Harald Weinrich, München 1975, S. 201-218.  9 Mit gegenläufiger Stoßrichtung: Spinoza, »Brief an Jarig Jelles, 2. Juni 1674«, in: ders. Briefwechsel, hg. v. W. Bartuschat, Hamburg 2017, S. 193-195; G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik I, in: Werke, Bd. 5, Frank­furt/M. 1986, S. 121. 10 Dirk Baecker, »Was leistet die Negation?«, in: Friedrich Balke, Joseph Vogl (Hg.), Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie, München 1996, S. 93-102, hier S. 93 f.; Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frank­furt/M. 2002, S. 59.

16

Positivität überdacht werden muss. Von entscheidender Bedeutung ist dafür die Frage, wie man die Selbstbezüglichkeit der Negation denkt und die Positivität versteht, die durch die Negation der Negation gestiftet wird. Wenn die Negation der Negation einfach die Position unbeschadet restaurieren würde, wäre das Verhältnis der Negation zur Position abstrakt: sie hätte keinen Anteil an ihr. Wenn die Negation ihrer selbst im Gegenteil allein die Verselbstständigung und Verabsolutierung der Negativität leisten würde, in der sie sich als ewige Ironie ihrer selbst nur auf sich selbst bezöge, führte sie auf andere Weise zu einer abstrakten Positivität zurück.11 Es gilt stattdessen ein Verhältnis zu denken, das über eine abstrakte Reduktion oder Entgegensetzung von Negativität und Positivität hinausführt. Die folgenden Beiträge zeichnen sich drittens durch das Interesse an einer Form der Negativität aus, die dem durch sie Negierten tatsächlich etwas anhaben kann.12 Negativität muss in diesem Sinne als eine Kraft verstanden werden, und zwar nicht allein als eine Produktivkraft im Dienste des Bestehenden, sondern als Kraft der Befreiung, die ein Gelingen anderer Art ermöglicht.13 Wie die folgenden Beiträge zur Negativität der Kunst, des Rechts, der Politik und des Denkens zeigen werden, gibt es mithin nicht nur eine Negativität, die dem Gelingen im Weg steht, und eine Negativität, die zu dessen sicher beherrschtem Mittel wird. Es gibt überdies Negativitäten, die ein Gelingen ganz anderer Art ermöglichen: die Negativität der Kraft, die Negativität der Befreiung, die Negativität der Unbestimmtheit, die Negativität des Fests. Um die Konturen dieser Negativitäten und die ihnen eigene Art des Gelingens hervortreten zu lassen, stecken wir im Folgenden die Felder der ästhetischen Negativität (I), der Negativität des Rechts (II), der 11 Hegel nennt diese Form der Negativität eine »positive Negativität« und identifiziert sie mit dem Bösen. Ihr steht eine »absolute Negativität« gegenüber, die Hegel Tugend nennt und die »an ihr selbst Entgegensetzung und Bekämpfung« ist (G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik II, in: Werke, Bd. 6, Frank­furt/M. 1986, S. 72). 12 Für die These, dass Verneinung im logischen Sinne dem Verneinten gerade nichts anhaben kann, vgl. Gottlob Frege, »Die Verneinung«, in: ders., Logische Untersuchungen, hg. v. G. Patzig, Göttingen 41993, S. 54-71, hier S. 59. Die Verneinung gleicht für Frege einer »Hinrichtung in effigie«, die der Gedanke unbeschadet überdauert. 13 Vgl. Christoph Menke, Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frank­ furt/M. 2008.

17

Politik (III) und des Denkens (IV) ab und geben zugleich Fingerzeige auf die Beiträge, in denen die hier nur angedeuteten Formen, Figuren und Probleme der Negativität näher untersucht werden. I. Die Kunst der Negation

Das Feld der modernen Ästhetik ist wesentlich geprägt durch ein Denken der Negativität, zumindest dann, wenn man die Ästhetik von der Poetik absetzt. Denn die Poetik bestimmt das Kunstwerk als das Produkt einer Tätigkeit, die die Regeln der Kunst beherrscht. Dabei erscheint das Können der Künstler*innen ebenso wie die Kennerschaft der das Kunstwerk beurteilenden Zuschauer*innen und Kritiker*innen in der Perspektive einer geteilten sozialen Praxis. In diese Praxis müssen die an ihr Teilnehmenden eingeübt werden, bevor sie es zu einer Könner- oder Kennerschaft bringen können, die in der Kunstfertigkeit der Künstler*innen, im Geschmack des Publikums oder der Urteilsfähigkeit der Kritiker*innen allgemeine soziale Anerkennung findet. Die Ästhetik hingegen versteht die Kunst als Effekt und Ursache einer Erfahrung, in der das Subjekt gerade in eine Distanz zu seinen sozial erworbenen Vermögen gerät und damit auch zu all dem, was es selbst – als Teilnehmer*in an einer sozialen Praxis – ausmacht. Es erfährt sich stattdessen in einer Dimension, die der Möglichkeit, überhaupt ein Vermögen ausbilden zu können, vorausgesetzt ist und deren Potentialität deshalb zugleich jedes bestimmte Vermögen, jede bestimmte soziale Identität übersteigt. Christoph Menke nennt diese Dimension mit Herder »Kraft«. Diese Grundüberlegung ästhetischer Anthropologie hat eine Resonanz in den Weisen, wie die Ästhetik die künstlerische Tätigkeit, den Geschmack und das Urteil gegen die Poetik versteht – nämlich in Figuren der Negativität: als ein Können des Nichtkönnens,14 als einen Geschmack gegen den Geschmack,15 als ein Urteilen, das das Urteil in Frage stellt.16 Dass die Produktion von Kunst nicht gelingt, wenn sie allein nach den von der Poetik ausbuchstabierten Regeln der Kunst erfolgt, ist ein Motiv, das sich, wenn auch mit je etwas anderen 14 Vgl. ebd., S. 113. 15 Vgl. Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, Berlin 2013, S. 146 f. 16 Vgl. ebd., S. 65.

18

Pointen, durch die Tradition der Ästhetik verfolgen lässt. So findet es sich in den Genieparagraphen von Kants Kritik der Urteilskraft ebenso wie in Nietzsches Insistenz auf dem dionysischen Zustand als einer dem Prinzip des Apollinischen widerstreitenden Quelle künstlerischer Schöpfung, in Adornos Beschreibung der künstlerischen Tätigkeit als einer eher passiv denn aktiv erfolgenden Öffnung der Könnerschaft auf die Eigenlogik des Materials ebenso wie in Lyotards Konzeption der künstlerischen Produktion als eines nicht aus etablierten Prinzipien ableitbaren und deshalb stets vom Scheitern bedrohten Ereignisses des Unbestimmten. Zum Gelingen von Kunst, darin sind sich die unterschiedlichen Positionen einig, gehört nicht nur eine Dimension, die sich als ihr Konzept, ihre Idee, ihr Prinzip verallgemeinern lässt, sondern ebenso ein Zug, der über diese Dimension hinausweist und sich solchen Verallgemeinerungen sperrt. Erst durch diesen zweiten Zug, mit dem das Werk der Rückführung auf ein Prinzip widerstreitet, gewinnt es jene Qualität des Singulären, die für seinen ästhetischen Status entscheidend ist. Beispiele geben die Kunstwerke demnach vor allem für die konstitutive Beispiellosigkeit der Kunst, wodurch sie womöglich beispielhaft für das generelle Paradox des Exempels sind, nur als Ausnahme von einer Klasse von Fällen für diese Klasse exemplarisch sein zu können (→ Bettine Menke). Die konstitutive Singularität der Werke ist zugleich der Einsatz eines nachidealistischen Verständnisses von Kunst, nach der diese ihre Würde aus dem Widerstand bezieht, den sie gegen jeden Versuch ihrer Normierung oder Konventionalisierung leistet. Deshalb ist das Kunstschöne in der Moderne kein Schönes mehr – es wendet sich gegen die glatte Oberfläche, die bruchlose Form, die harmonische Schließung, durch die sich das Schöne so lange über sein Anderes erhoben hat. In diesem, insbesondere von Adorno auch ethisch-politisch akzentuierten Zusammenhang stehen die (nicht mehr schönen) Künste und der Kanon notwendig in einem Spannungsverhältnis (→ Gertrud Koch). Im Zeichen dieses Widerstands zieht sich die Kunst, wie Adorno und Lyotard diagnostiziert haben, »ins Moment des Erhabenen zusammen«17 – wobei dieses umgekehrt nun »latent«,18 nämlich als Operation einer Formlosigkeit im 17 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frank­furt/M. 1970, S. 293. 18 Ebd., S.  294.

19

Herzen der Form zum strukturbestimmenden Merkmal aller Kunst wird. Wie auch immer die ästhetische Negativität theoretisch konkretisiert wird – ob in Termini eines latent gewordenen Erhabenen, eines begrifflich nicht einholbaren Rätselcharakters, eines Moments des Unbestimmten oder Unbegrifflichen –, entscheidend ist, dass sie in keinem äußerlichen Gegensatz zur poetischen Positivität verstanden werden kann. Vielmehr sind ästhetische Negativität und poetische Positivität in ihrem spannungsvollen Wechselspiel zu denken. Künstlerisches Tun ist kein blindes Machen, kein den Regeln der Kunst gegenüber ignoranter Dilettantismus, nicht schieres Wirken der Kraft. Ohne spezialisierte Könnerschaft, ohne intime Kenntnis der Regeln der Kunst, ihrer Konventionen und Formate, wären künstlerisch ambitionierte Produktionen letztlich nichts als »originaler Unsinn«,19 sagt Kant; ohne die apollinischen Formgebungen käme der dionysische Rausch der »Barbarei« gleich,20 sagt Nietzsche (und sagt → Carl Hegemann); ohne ein geradezu verranntes Spezialistentum, ohne den obsessiven Wunsch nach Materialbeherrschung erschöpfte sich die Kunst in einem »unverbindlichen Ungefähr«,21 sagt Adorno (mit Valéry); ohne eine mikrologische Strenge in der Abarbeitung an den Beständen und Bestandteilen der Kunst gäbe es anstelle eines Ereignisses des Unbestimmten bloß »Geräusch«,22 sagt Lyotard. Mit der Akzentverschiebung von der Poetik zur Ästhetik, von der Didaktik zur Erfahrung, von der Frage, wie Kunst zu machen sei, zu der, was es heißt, sie zu erfahren, ändert sich nicht nur das Verständnis künstlerischer Produktion, sondern auch das der Rezeption. Wo sich im einen Fall die Bedeutung des künstlerischen Könnens durch das letztlich alles entscheidende Moment ändert, das gerade nicht im eigentlichen Sinne gekonnt werden kann, ändert sich im anderen die Bedeutung der Kunsterfahrung 19 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 5, Berlin 1903, § 46, S. 308. 20 Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. 1, hg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, München u. a. 1988, S. 32. 21 Theodor W. Adorno, »Der Artist als Statthalter«, in: ders., Noten zur Literatur, Frank­furt/M. 1974, S. 114-126, hier S. 124. 22 Jean-François Lyotard, »Das Erhabene und die Avantgarde«, in: Merkur 38:2 (1984), S. 151-164, hier S. 164.

20

so, dass auch sie sich deutlich von ihrem traditionellen Verständnis abstößt. Denn hier kehrt sich das Moment der Negativität gegen die Vorstellung einer vollen und erfüllten Kunsterfahrung (→ Anselm Haverkamp), und zwar gerade auch im Hinblick auf sogenannte »schöne Stellen« (→ Alexander García Düttmann). Die ästhetische Erfahrung – und das heißt: die Erfahrung ästhetischer Negativität – ist demgegenüber »widersprüchlicher«, nicht zuletzt hinsichtlich ihrer Ökonomie der Empfindungen von Lust und Unlust »zwiespältiger«:23 Sie ist konstitutiv auf ein negatives Moment bezogen, auf eine sich entziehende Bedeutung, auf eine Zersetzung des automatischen Verstehens. Oder noch einmal anders: Nur wo das unmittelbare Verstehen »irritiert ist, beginnt ästhetisches Erfahren«,24 denn erst durch diese Irritation gerät das Kunstwerk ästhetisch in Bewegung. Jede interpretativ angelegte Bedeutung muss sich immer wieder in die Materialität des Kunstwerks zurücknehmen, die dadurch umgekehrt erst in besonderer Weise hervorzutreten vermag und zu neuen Verstehensvollzügen anreizt. Weil das Kunstwerk ästhetisch allein in dieser Bewegung ist, gibt es zu sehen, zu hören und zu lesen, was sehen, hören und lesen lässt – und nicht einfach das, was sichtbar, hörbar, lesbar ist. Sofern das Kunstwerk jede abschließende Identifikation verwehrt, ist auch klar, dass sich um seine Erfahrung herum kein sensus communis zu stabilisieren vermag. Die Erfahrung ästhetischer Negativität richtet sich vielmehr gegen die Ideologie des bürgerlichen Geschmacks, nach der die Subjekte in ihren Urteilen wie von selbst mit den sozialen Normen übereinstimmen, in die man sie zuvor eingeübt hat. Und diese Frontstellung gilt auch noch im Blick auf die Gestalt, die diese Ideologie in den spätkapitalistischen Gesellschaften angenommen hat, wo sich die Geschmackssubjekte in ihren Urteilen wie von selbst als flexibel und kreativ erweisen.25 Denn in der Erfahrung ästhetischer Negativität kann sich das Subjekt in seiner Beziehung zum Gegenstand nicht selbst aneignen. Weil die Kunstwerke ein Moment der Fremdheit auch noch ge23 Vgl. ebd., S. 153, 160. Lyotard bringt freilich ebendiesen Umstand erneut mit der Ästhetik des Erhabenen (der mit ihr verknüpften Theorie vermischter Empfindungen) in der Linie von Burke, Mendelssohn und Kant in Verbindung. 24 Christoph Menke, Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, Frank­furt/M. 1991, S. 79. 25 Vgl. Menke, Die Kraft der Kunst, hier bes. S. 134-143.

21

genüber ihren subtilsten Interpretationen bewahren, wird sich das Subjekt in seinem aneignenden Welt- und Selbstverhältnis, wird es sich als Geschmackssubjekt vielmehr selbst fremd. Das ästhetische Urteil kann dann nicht als ein weiteres Urteil über etwas, sondern muss vielmehr als Ausdruck von etwas verstanden werden; als Ausdruck einer Erfahrung nämlich, die die Selbstgewissheit des Urteilens gerade unterläuft. Wenn es im so verstandenen ästhetischen Urteil einen impliziten Bezug auf Gemeinschaft gibt, weil es den »Beitritt anderer erwartet«,26 so wäre es die Gemeinschaft derer, denen die evaluativen Selbstverständlichkeiten ihres eigenen Weltund Selbstverhältnisses suspekt geworden sind; eine Gemeinschaft, die sich selbst auf die Möglichkeit der genealogischen Infragestellung ihrer normativen Grundlagen hin überschreitet (→ Penelope Deutscher). Es ist sicher kein Zufall, dass sich die ästhetische Negativität häufig mit einer Kunst der Negation verbindet, die sich in die Negativität der gesellschaftlichen Verhältnisse hineinschraubt, die also die Entfremdung künstlerisch so affirmiert (→ Rüdiger Campe, Katrin Trüstedt), dass diese aus ihrer Normalität heraustreten kann. Dabei enthält sich eine derartige Kunst jedoch nicht nur der positiven Vision einer besseren Welt, sondern entzieht sich auch ihrer direkten Lesbarkeit als Kritik. Gerade aufgrund dieser Zurückhaltung aber entfaltet die Kunst der Negation die Kraft ästhetischer Negativität. Sie höhlt das Bestehende aus und öffnet es so auf ein anderes. Dadurch allein hält sie der Möglichkeit eines nicht beschädigten Lebens die Treue (→ Lydia Goehr). Heute legt sich demgegenüber der Eindruck nahe, dass der Hass, den einst die Avantgarden als Agenten einer künstlerischen Negation auf sich zogen, in der Beflissenheit nachlebt, mit der sich weite Teile der Gegenwartskunst gesellschaftlich nützlich zu machen bestrebt sind. Die Relevanz ästhetischer Negativität ergibt sich jedoch nicht obwohl, sondern weil sich ihre gesellschaftliche Akzeptanz nicht von selbst versteht.

26 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 8, S. 216.

22

II. Das Recht des Negativen

Weshalb sich auch das moderne Recht im Kern durch Figuren der Negativität auszeichnet, lässt sich mit Verweis auf die neuzeitliche Vorstellung von individueller Freiheit erklären, die, wie schon Hobbes festhält, »nach der eigentlichen Bedeutung des Wortes die Abwesenheit äußerer Hindernisse« meint.27 Für den bürgerlichen Staat ist diese rein negative Bedeutung von Freiheit sowohl Begründungsfigur als auch eine bleibende Herausforderung, da der Staat nun als diejenige Organisationsform auftritt, die eine gleiche Entfaltung des freien Willens aller Bürger*innen ermöglichen soll. Dem Recht kommt dabei die paradoxe Aufgabe zu, die Freiheit der Individuen vor den Übergriffen anderer zu schützen, indem es Freiheiten beschränkt, damit sie nicht in einen Konflikt miteinander geraten. Die Form, in der das Recht die negative Bedeutung der Freiheit aufnimmt, sind subjektive Rechte, die es den Einzelnen selbst überlassen, die jeweiligen Berechtigungen oder Befugnisse in Anspruch zu nehmen oder nicht.28 Sofern subjektive Rechte Freiräume gewähren, von denen die Individuen nach eigenem Dafürhalten Gebrauch machen können, lassen sie sich als eine Institutionalisierung und in diesem Sinne als eine Positivierung von Negativität begreifen. Die historische Umstellung des Rechts und vor allem der rechtlichen Semantik auf subjektive Rechte, die sich auf die negative Freiheit des Individuums stützen, geht indes mit einer Reihe von Schwierigkeiten, insbesondere in Bezug auf die Legitimation des Rechtsgrunds im Subjekt einher, das nun an die Stelle vormals theologischer Letztbegründungen tritt (→ Raymond Geuss).29 Die neuzeitliche Tradition des Naturrechts sucht den Ursprung der Freiheit in einem wie immer auch fiktiven Naturzustand, in dem 27 Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. v. Iring Fetscher, übers. v. Walter Euchner, Frank­furt/M. 1984, S. 99. 28 Zum Freiheitspotential der Wendung »oder nicht« vgl. Christoph Menke, »Subjektive Rechte. Zur Paradoxie der Form«, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 29:1 (2008), S. 81-108, hier S. 90. 29 Ausführlich dazu vgl. Niklas Luhmann, »Subjektive Rechte. Zum Umbau des Rechtsbewußtseins für die moderne Gesellschaft«, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Frank­ furt/M. 1981, S. 45-104.

23

die Einzelnen, wie es bei Hobbes heißt, ein »Recht auf alles« haben.30 Der natürliche Zustand einer absolut gleichen Freiheit bzw. gleichen absoluten Freiheit soll dann mittels eines Gesellschaftsvertrags so reguliert werden, dass die Freiheiten friedlich nebeneinander bestehen können. Von Hobbes bis Rousseau dient das Konstrukt des Gesellschaftsvertrags dazu, einen Übergang von der natürlichen zur bürgerlichen Freiheit herzustellen. Es ist jedoch ebendiesem begründenden Rückgriff auf die Natur geschuldet, dass die naturrechtliche Vorstellung eines ursprünglichen Vertrags eine in sich widerwendige bleibt: Das bürgerliche Recht beruft sich auf eine natürliche und unbegrenzte Freiheit der Menschen, die es jedoch zugleich aufgrund seiner normierenden Funktion notwendigerweise einschränken muss. Auf diese Weise gerät das bürgerliche Recht, das den Subjekten gleiche Freiheiten unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Stand garantiert, tendenziell in einen Widerspruch zu ebenjener Natur, aus der es seine Legitimation erhalten sollte. Schon Rousseau versucht daher, den Eintritt in den Gesellschaftsvertrag nicht als bloße Beschränkung, sondern als eine Aufgabe der natürlichen Freiheit und ihre Wiedergewinnung in ganz anderer Gestalt zu denken. Die rechtliche Normierung entspricht dann einem allgemeinen Willen, der aus einem Akt der freiwilligen Unterwerfung hervorgegangen ist und dem zu folgen heißt, meinen eigenen Gesetzen zu gehorchen. Es war Kant, der diesen Weg weiterverfolgt und eine für die Moderne insgesamt richtungsweisende Lösung des Problems vorgeschlagen hat, wie Freiheit und Normierung zusammengehen können. Er verlegt die Begrenzung der Freiheit bereits in das Subjekt des Willens selbst und reaktiviert dafür den antiken Begriff der Autonomie, den er wörtlich als Selbstgesetzgebung versteht.31 Freiheit als Autonomie geht über die negative Bestimmung, nicht in seinem Handeln gehindert zu werden, hinaus, indem sie die Möglichkeit rationalen Handelns intern an die Bestimmung durch selbstgegebene Gesetze oder Normen bindet. Die bloße Abwesenheit äußerer Hindernisse, so lautet hier das Argument, ist für sich genommen noch kein hinreichender Grund, um von einer freien Ausübung des Willens auszugehen. Handlungen, die nur aus will30 Hobbes, Leviathan, S. 99. 31 Vgl. Christoph Menke, »Autonomie und Befreiung«, in: Thomas Khurana, ders. (Hg.), Paradoxien der Autonomie, Berlin 2011, S. 149-184, hier S. 155 f.

24

kürlichen Antrieben oder Neigungen geschehen, mögen äußerlich ungehindert sein, müssen aber dennoch als unfrei gelten. Eine freie Ausübung des Willens besteht nicht darin, völlig wahllos zunächst jenes und dann dessen Gegenteil zu tun, sondern verlangt, dass dem Willen eine selbstbestimmte gesetzmäßige Form und Einheit gegeben wird. Immer wichtiger wird nun der Begriff des Willens, den Kant so versteht, dass er gar nicht ohne eine Regel oder Maxime, die seine Äußerungen leitet, gedacht werden kann.32 Sofern Freiheit im Sinne der Autonomie bedeutet, das eigene Handeln einer selbstgegebenen Maxime zu unterstellen, also zugleich an ein Gesetz gebunden und Autor*in des Gesetzes zu sein, überwindet der Autonomiebegriff den scheinbaren Gegensatz von Normierung und Freiheit. Eine Antwort auf die notorische Schwierigkeit der Vertragstheorien, wie die verschiedenen Willen der Einzelnen zusammenkommen können, ohne sich wechselseitig ihre Freiheit zu nehmen, kann der Autonomiebegriff aber natürlich nur dann geben, wenn es hier nicht allein um solche Maximen geht, denen jeweils Einzelne unter Absehung von allen anderen nur für sich folgen. Es müsste vielmehr eine Form der Maximenbildung gefunden werden, die das Miteinander der verschiedenen freien Willen ermöglicht (→ Stefan Gosepath). Bekanntlich ist genau das die zentrale Forderung des kategorischen Imperativs, der die Maximen des eigenen Handelns darauf verpflichtet, »jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten« zu können.33 Auf diese Weise soll die Autonomie der Einzelnen intrinsisch mit der aller anderen verklammert werden. Die allgemeine Normierung des Willens stellt dann keine Einschränkung der individuellen Freiheit dar, sondern wird im Gegenteil die Bedingung der Möglichkeit seiner freien Entfaltung. Es ist nun aber die Frage, ob diese Lösung durch die Figur der Autonomie wirklich überzeugen kann. Das gilt auf mindestens drei Ebenen: Zum einen stellt sich die Frage, inwiefern die Figur der Selbstgesetzgebung nicht selbst durch ein sie fundierendes Paradox gefährdet ist, das Freiheit und Normativität wieder auseinandertreten lässt, sobald wir uns mit der Szene der Einsetzung des Gesetzes 32 Vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 4, Berlin 1903, S. 446. 33 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 5, Berlin 1903, § 7, S. 30.

25

konfrontieren (→ Terry Pinkard). Wenn das Gesetz nur in dem Maße Geltung hat, wie ich es, ohne in irgendeiner Weise gebunden zu sein, mir selbst gegeben habe, dann scheint das Gesetz der Autonomie seinerseits in bloßer Willkür zu gründen. Wenn ich mir das Gesetz hingegen nicht grundlos, sondern geleitet durch bereits bestehende normative Kriterien gebe, dann bin ich durch Gründe gebunden, die ich mir nicht selbst gegeben habe, und Autonomie bleibt an ihrem Grund von Heteronomie abhängig.34 Auf einer zweiten Ebene stellt sich die Frage, in welcher Weise die Negativität der Freiheit, deren Entfaltung zu einer positiven Form die Autonomie zu sein beansprucht, in ihr noch auf angemessene Weise zur Geltung kommt. Wenn Autonomie im kantischen Modell wesentlich die Unterwerfung unter die Gesetze der Vernunft ist, wie ist die Selbstdifferenz des Subjekts zu denken, die ihm eine radikale Freiheit auch gegenüber den etablierten Gestalten seiner praktischen Identität und Rationalität verschaffen kann (→ Beate Rössler)? Auf einer dritten Ebene stellt sich die Frage, inwiefern die Figur der Autonomie, die Kant selbst zunächst verwendet, um die Konstitution des moralischen Subjekts zu verstehen, tatsächlich dazu dienen kann, auch die Normativität und Negativität des Rechts angemessener zu begreifen. Kant selbst unterscheidet bekanntlich scharf zwischen Moralität und Legalität. Während allein die ethische Gesetzgebung das Subjekt als ein bis in seine Triebfedern hinein autonomes Wesen konstituiert, sieht die juridische Gesetzgebung von den ethisch entscheidenden Triebfedern des Handelns explizit ab und zielt zunächst nur darauf, dem Subjekt seine Willkür in den Grenzen zu sichern, in denen sie mit der Willkür aller anderen »nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit« zusammen bestehen kann.35 So überzeugend also die Richtung sein mag, in der Kant die grundlegende Verbindung von Freiheit und Gesetz mit Hilfe des Autonomiebegriffs avisiert, so unklar bleibt, wie genau wir den Autonomiebegriff zu verstehen haben, auf welche Weise er die Negativität der Freiheit zu rekonstituieren vermag und wie genau im Ausgang von ihm eigentlich die rechtliche Instituierung von Frei34 Vgl. Terry Pinkard »Das Paradox der Autonomie. Kants Problem und Hegels Lösung«, in: Khurana/Menke (Hg.), Paradoxien der Autonomie, S. 25-59. 35 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 6, Berlin 1914, S. 230.

26

heit zu denken ist. Hier stellt sich nicht zuletzt die Frage, wie sich, mit Habermas gesprochen, »private« zu »öffentlicher Autonomie« verhält.36 Das führt zurück in die Entwicklung rechtlicher Institutionen im engeren Sinne, in denen die Privatautonomie, also die Willensfreiheit der Bürger*innen, ihren Ausdruck in subjektiven Rechten gefunden hat. Diese modernen Freiheitsrechte sind, wie bereits erwähnt, ihrerseits negativ verfasst, da sie lediglich Bereiche definieren und schützen, in denen sich die Einzelnen frei betätigen können, wobei es ihnen selbst überlassen bleibt, ob und wie sie diese Freiräume in Anspruch nehmen wollen. Wie Luhmann gezeigt hat, löst diese moderne Rechtsfigur alte Reziprozitätsbeziehungen des Rechts ab, die noch wie von Ferne in Kants moralisch grundiertem Autonomiebegriff und dessen internem Bezug auf die Allgemeinheit lesbar sind.37 Auch wenn es in den aktuellen Debatten durchaus umstritten bleibt, inwiefern die negativen Freiheitsrechte der Einzelnen intern auf eine allgemeine, positive Struktur der Reziprozität verweisen (→ Rainer Forst), verblasst die Verankerung der Individualrechte in sozialen Beziehungen der Gegenseitigkeit zumindest historisch gesehen immer mehr. Schon Hegel hatte deshalb sowohl den Fortschritt als auch die Gefahr des bürgerlichen Rechts in seiner Fähigkeit zur Abstraktion gesehen: Während es auf der einen Seite alle Individuen unabhängig von ihrer sozialen Stellung gleichermaßen als Personen anerkennt, reduziert es auf der anderen Seite die Willensäußerungen der Einzelnen auf die Beziehung zu Sachen (→ Catherine ColliotThélène, Christoph Möllers). In der Folge erscheint die Willensbildung der Person als etwas rein Privates, das abgekoppelt von allen sozialen oder sittlichen Grundlagen geschieht. Das abstrakte Recht, so Hegel, »beschränkt sich aus demselben Grunde seiner Abstraktion auf das Negative, die Persönlichkeit und das daraus Folgende nicht zu verletzen«.38 Damit weist Hegel keineswegs den negativen Kern der individuellen Freiheit zurück, sehr wohl aber deren Vereinseitigung durch das bürgerliche Privatrecht. Die eigentümliche Positivierung der negativen Freiheit, die sich historisch im Privatrecht vollzieht, zeitigt aus seiner an Kant geschulten Sicht insofern 36 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zu einer Diskurstheorie des Rechts, Frank­furt/M. 1992, S. 123. 37 Vgl. Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frank­furt/M. 1993, S. 484 f. 38 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 38.

27

paradoxe Konsequenzen, als in der tatsächlichen Durchsetzung subjektiver Rechte nun genau jene Vorstellung von einer natürlichen und unbegrenzten negativen Freiheit der Person wiederkehrt, die bereits den Theoretiker*innen des Gesellschaftsvertrags als problematisch erschien und die mit dem Autonomiebegriff überwunden werden sollte. Marx greift die bei Hegel angelegte Kritik negativer Freiheitsrechte auf und weitet sie auf die allgemeinen Formen aus, die Freiheit und Gleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft annehmen. Für ihn installieren die »sogenannten Menschenrechte« tatsächlich nur die Rechte »des egoistischen Menschen, des vom Menschen und vom Gemeinwesen abgetrennten Menschen«.39 In Marx’ radikalisierter Kritik der subjektiven Rechte wird deutlich, dass diese nicht aufgrund ihrer negativen Verfasstheit problematisch werden, sondern weil sie in der Zuschreibung negativer Freiheitsrechte zugleich ein Menschenbild postulieren und naturalisieren, das die Individuen als rein interessengeleitete und voneinander unabhängige »Monaden« vorstellt.40 Die Folge dieser Naturalisierung des egoistisch handelnden und monadisch existierenden Menschen, die das bürgerliche Recht betreibt, ist eine Entpolitisierung: Was als bürgerliche Revolution begonnen hatte, in deren Zuge sich das politische Gemeinwesen als neues Subjekt der Selbstregierung von der absolutistischen Herrschaft emanzipiert, endet schließlich in einer »Ermächtigung des unpolitischen Menschen«.41 Folgt man Marx’ Kritik der bürgerlichen Rechte, dann lässt sich die darin angelegte Entpolitisierung durch Naturalisierung gerade nicht im Rückgriff auf andere positive Normen überwinden, sondern nur durch eine kritische Selbstreflexion des Rechts, und das heißt durch eine Selbstdistanzierung, die die negative Kraft des Rechts konsequent gegen sich selbst wendet (→ Andreas FischerLescano). Eine Revolution der subjektiven Rechte müsste den Positivismus des Gegebenen, der ihnen eingeschrieben ist, nach Christoph Menkes Formulierung in einem fortgesetzten »negative[n] Prozess der Vermittlung« durchbrechen, oder kurz: diese Form der Naturalisierung durch Politisierung überwinden.42 39 Vgl. Karl Marx, Zur Judenfrage, in: MEW, Bd. 1, Berlin 1981, S. 364. 40 Ebd. 41 Christoph Menke, Kritik der Rechte, Berlin 2015, S. 8. 42 Ebd., S.  380.

28

III. Die Politik der Negativität

Auch der Raum der Politik ist von seinen Anfängen an durch Operationen der Negation und des Negativen gekennzeichnet. In der Antike wird Politik ausdrücklich durch Differenz und Ausschluss bestimmt: durch die Differenz zwischen Stadt und Haus, Regierung und Verwaltung, Freien und Sklaven (oder anderen Unfreien wie den Frauen). Aus Notwendigkeit hervorgehend, so Aristoteles, etabliert sich Politik schließlich als ein eigener Raum, der durch Freiheit und Gleichheit charakterisiert ist, dem aber nicht alle angehören:43 Nur Einige können regieren und sind deshalb frei und gleich, während alle anderen regiert werden müssen oder gar nicht erst dazugehören. Dieser exklusive und negativ abgegrenzte Raum der Politik bringt das Leben in eine Distanz zu sich selbst, indem er einige Lebensformen ermächtigt, andere unterwirft. Deswegen wird Politik in ihrer antiken Theorie als eine fragile Praxis aufgefasst, fragiler als das Recht, weil ständig in der Gefahr, ihre »gute« Gestalt zu verlieren und in ihr Anderes umzuschlagen, in Tyrannei, in Verwaltung, in Sklaverei – oder in Demokratie, die Platon und Aristoteles in die Nähe von Sklaverei und Tyrannei rücken.44 Die politische Moderne interveniert durch ein revolutionäres »Nein« in diese bis in den Feudalismus herrschende Auffassung, dass die ausschließende Negation für Politik unabdingbar sei. Es liegt nahe, so sieht es jedenfalls Rousseau kurz vor der Französischen Revolution, die neue Politik im Gegensatz dazu als eine affirmative Praxis zu konzipieren, die auf Volkssouveränität, Selbstbestimmung und Autonomie als positiven Figuren aufruht.45 Aus der Negation der Negation hervorgehend, mündet die moderne Politik jedoch nicht nur in eine neue Positivität. Gerade die Prinzipien, Ideen und Handlungsformen der modernen Politik sind vielmehr zugleich durch sich wandelnde, überbietende und teilweise auch widerstreitende Formen der Negativität gekennzeichnet. Die revolutionäre Infragestellung der Ausschlüsse und Hierarchisierungen der klassischen Politik affirmiert in ihrem ersten Zug nicht so sehr eine positive Grundlage als vielmehr eine Unbestimmtheit, die 43 Vgl. Aristoteles, Politik, Reinbek bei Hamburg 22003, insbes. 1252a-1255b. 44 Vgl. Platon, Staat, 555b-562a; Aristoteles, Politik, 1318b-1320a. 45 Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, Stuttgart 1986, S. 16-21.

29

selbst ins Zentrum des politischen Gefüges rückt. Die doppelte Negation der modernen Politik führt so nicht auf eine nun inklusive, aber ebenso bestimmte und stabile Grundlage, sondern vielmehr zu einer Vielzahl von neuen Formen politischer Negativität – und zu einem Streit um diese. Die Negativität der revolutionären Politik manifestiert sich zunächst an der sie leitenden Idee der Gleichheit. Diese die moderne Politik und Moral gleichermaßen prägende Idee resultiert aus der Entgrenzung der bedingten, exklusiven Gleichheit und gewinnt dabei, wie Christoph Menke gezeigt hat, eine jede Ordnung herausfordernde Unbestimmtheit: »Mit der Idee der Gleichheit hat sich die Revolution eine Verpflichtung auferlegt, der kein politisches Handeln und keine politische Einrichtung jemals werden genügen können.«46 Diese Perspektive ergibt sich, wenn man die moderne Gleichheit nicht als metaphysisches oder gar substantielles Prinzip, sondern als politische Operation versteht, die wesentlich negativ verfährt, weil sie ihre Bestimmung aus der Zurückweisung von jeweils konkreten Verhältnissen der Ungleichheit, der Ungerechtigkeit und des Leidens gewinnt. So verstanden, ist moderne Gleichheit nicht das Fundament einer neuen Gesellschaft, sondern vielmehr ihre innere (politische) Bewegung: Ihre Verwirklichung vollzieht sich durch »Brechungen und Spiegelungen«,47 da Gleichheit – selbst wesentlich unbestimmt – erst in der Begegnung mit und der Reibung an individuellen Ansprüchen und situativen Begebenheiten Bestimmung erlangt. Ähnlich negativistisch lässt sich auch die in den revolutionären Bewegungen erneuerte Form der modernen Demokratie verstehen: Sie ist keine schon gegebene Regierungsweise, nicht auf ein schon bestehendes Kollektiv gegründet und auch keine bereits definierte Politik, sondern der Konflikt um die Bestimmung der Regierungsweise, des Kollektivs, der Politik (→ Martin Saar). In dieser Lesart sind die moderne Gleichheit und mit ihr die Demokratie aufgrund der ihnen eigenen Negativität reflexiv: Ihre Realisierung impliziert auch ihre fortgesetzte Selbst-Infragestellung. Diese politische Dynamik kann sich schließlich auch auf das Recht übertragen, insbesondere dort, wo es selbst revolutionären 46 Christoph Menke, Spiegelungen der Gleichheit. Politische Philosophie nach Adorno und Derrida, Frank­furt/M. 2004, S. 133. 47 Ebd., S.  VIII.

30

Ursprungs ist, wie im Falle der Erklärung der Menschenrechte. Es waren vor allem deren Kritiker*innen, die als Erste die eigentümliche Negativität dieser Rechte festgestellt haben (konservativ Burke, Bentham, Tocqueville – progressiv de Gouges, L’Ouverture, Marx): Die erklärte rechtliche Gleichheit (und Freiheit) bewegt sich performativ unentscheidbar zwischen Feststellung und Forderung; ihre Behauptung ist zugleich Aufforderung zur künftigen Verwirklichung.48 Als Kreuzungspunkt politischer und rechtlicher Negativität haben die Menschenrechte jedoch eine bestimmte Dynamik: Wenn sie als politische Instrumente der Gleichheit subversiv immer wieder auch von Gruppen angeeignet werden konnten, die mit der Erklärung zunächst nicht gemeint waren (von Frauen, Sklaven in den Kolonien etc.) und eine grundlegende Neuinterpretation ebendieser Rechte bewirkten, bleibt ihre politische Effektivität als Menschenrechte notwendiger Weise begrenzt. Wie Marx gezeigt hat, ist dem subjektiven Recht ein Naturalismus eingeschrieben, der die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die politische und rechtliche Ungleichbehandlung verankert ist, unangetastet lässt und die (berechtigten) Subjekte daher auf neue Weise beherrscht und entpolitisiert.49 Die beschränkte Politisierbarkeit der Rechte führt daher zurück zu einer erneuten Befragung des nicht auf Rechte allein festgelegten politischen Wandlungsprozesses und zu dessen Anbindung an soziale Prozesse. Ein angemessenes Verständnis politischen Wandels ist nicht allein in den politischen Prinzipien und Institutionen der Moderne zu suchen, sondern in der Reflexion auf jenes Handeln, das diese Prinzipien und Institutionen hervorbringt, nämlich das revolutionäre. Dabei steht gerade die Negativität des revolutionären Handelns im Fokus eines praktischen und theoretischen Deutungsstreits. Denn Revolutionen haben sich seit dem Anbruch der Moderne nicht nur in einer Vielzahl von Formen ereignet, auch 48 Zu weiteren politischen Deutungen der Menschenrechte vgl. auch Claude Lefort, »Menschenrechte und Politik«, in: Ulrich Rödel (Hg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frank­furt/M. 1990, S. 239-280; Etienne Balibar, »›Menschenrechte‹ und ›Bürgerrechte‹. Zur modernen Dialektik von Freiheit und Gleichheit«, in: ders., Die Grenzen der Demokratie, Hamburg 1993, S. 99123; Jacques Rancière, »Wer ist das Subjekt der Menschenrechte?«, in: Christoph Menke, Francesca Raimondi (Hg.), Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Berlin 2011, S. 474-490. 49 Vgl. Menke, Kritik der Rechte, insbes. Abs. III.

31

stellen sie jeweils für sich keine einheitlichen Ereignisse dar und wurden daher in ihrem Verlauf, ihrer Reichweite und ihren Effekten unterschiedlich gedeutet.50 Hegel sieht in den revolutionären Entgrenzungen der Französischen Revolution vor allem eine »Furie des Zerstörens« am Werk, die zwar ein notwendiger Durchgang in der Verwirklichung einer neuen Freiheit darstellt, sich aber in ihrer Radikalität schließlich selbst aufheben musste.51 Kants Reaktion fällt dadurch anders aus, dass er den Enthusiasmus und also die Affirmation ihrer (deutschen) Zuschauer mit einbezieht.52 Andere, zunächst ablehnende Reaktionen auf die Revolution, wie etwa die von Burke, wurden wiederum selbst als revolutionär gedeutet und führten zu einer Reformulierung des Revolutionsbegriffs (→ Axel Honneth). Die praktische Pluralität revolutionärer Ereignisse und die Vielfalt negativer Handlungsformen, die die Revolution umfassen kann, sei es Widerstand oder Exodus, Nichtstun oder Erschöpfung, machen deutlich, dass Revolution nicht in einer einzelnen negativen Handlungsstrategie aufgeht. Das revolutionäre Tun ist kein bestimmtes Tun dieser oder jener Art, sondern die Eröffnung einer anderen Weise des Tuns: »Die Revolution fängt das Anfangen an.«53 Sie eröffnet einen Raum, der in der Infragestellung überkommener Herrschaft ohne ein gesichertes Fundament eine neue, freiere und gerechtere Ordnung hervorzubringen versucht. Revolutionen sind deshalb kein zeitlich eindeutig terminierbarer Bruch, sondern ein komplexer Prozess, der auf unterschiedlichen Ebenen spielt und sich selbst stets wieder erneuern muss (→ Robin Celikates). Damit erschließt die revolutionäre Veränderung der Gesellschaft ihre eigenen Modalitäten erst allmählich und niemals mit eindeutiger Sicherheit. Die Verwirklichung einer Freiheit und 50 Bini Adamczac spricht diesbezüglich auch von einem »Missverständnis der Revolution«, um die falsche Unterstellung ihrer Einheitlichkeit zurückzuweisen. Vgl. dies., Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende, Berlin 2017, S. 56-76. 51 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 5A, S. 50; zur Französischen Revolution und ihrer zerstörerischen Freiheit vgl. auch ders., Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Werke, Bd. 12, Frank­furt/M. 1986, S. 532-540. 52 Vgl. Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 7, Berlin 1917, S. 85-87. 53 Christoph Menke, »Die Möglichkeit der Revolution«, in: Merkur 69:7 (2015), S. 53-60, hier S. 59.

32

Gleichheit aller geht nicht in rechtlicher Gleichstellung und politischer Partizipation auf, sondern verlangt genauso sehr die revolutionäre Befreiung von Elend und Entfremdung (→ Eva Geulen) wie die Etablierung neuer Lebensweisen, Gewohnheiten und Öffentlichkeiten in der Gesellschaft. Hannah Arendt sieht in der für die Französische Revolution im Vergleich zur Amerikanischen weitaus drängenderen »sozialen Frage« den Grund ihres Scheiterns. Das Elend der Massen, so Arendts Unterstellung, kennt keine politische Lösung, sondern allenfalls eine kriegerische und gewaltsame. Zum Elend lässt sich keine Distanz einnehmen, und ebendeshalb verschließt dieses Problem die unabdingbaren Spielräume der Politik, die eine Aushandlung und Integration verschiedener Perspektiven erst erlauben.54 Richtig an dieser Diagnose ist die Einsicht, dass die soziale Frage der Befreiung das Verständnis von Politik und insbesondere auch den Sinn ihrer Negativität grundlegend tangiert. Den Prozess der Befreiung (von Elend oder Entfremdung) als vorpolitisch aufzufassen, verkennt jedoch, dass die Negativität, die Arendt für die Sphäre der Politik so sehr in Anspruch nimmt, sich gerade dort zu formieren und wirksam zu werden beginnt, wo soziale Missstände als Effekt der gesellschaftlichen Organisation, ihrer Arbeitsteilung, der etablierten sozialen Rollen etc. erkannt werden. Die Befreiung der Gesellschaft, so die Perspektive, die Marx entfaltet hat, muss und kann nur da ansetzen, wo die Gesellschaft am unfreiesten ist, also im Elend. Sie wird aber nur erfolgen, wenn sie sich in die verschiedensten Bereiche der Gesellschaft hinein verlängert, in ihre Arbeitsstätten und Küchen, in die Bildungsanstalten und Krankenhäuser, in ihre Techniken und Medien, in die Wahrnehmung und die Kunst (→ Hauke Brunkhorst). Dabei verlangt die Frage nach den Modalitäten der Emanzipation und der Veränderung von Gewohnheiten (→ Daniel Loick) eine kritische Auseinandersetzung mit Prozessen sozialen Wandels im Hinblick auf ihre eigene Politizität.55 Ist das Gelingen einer Revolution selbst eine umstrittene Frage, so nicht zuletzt deshalb, weil die Negativität der Revolution auch ein anderes Verhältnis zu ihrem Scheitern eröffnet. Scheitern ist 54 Vgl. Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1974, S. 177-183. 55 Zu einem gescheiterten Versuch der negativen Absetzbewegung und Umgewöhnung vgl. Christoph Menke, »Breaking Bad. Versuch über die Befreiung«, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 13:2 (2016), S. 3-24.

33

dem Ereignis (oder besser den Ereignissen) der Revolution nicht rein äußerlich, sondern immanent. Nicht nur aus dem naheliegenden Grund, dass eine revolutionäre Bewegung, eben weil sie revolutionär ist, scheitern kann, sondern auch, weil nicht ohne Weiteres ausgemacht ist, wann und wodurch eine Revolution praktisch gelingt und welche Umwege oder Irrwege dafür nötig sind. Daher gibt es auch einen inneren Zusammenhang zwischen Revolution und Tragödie. Die Revolution ist ein möglicher Ausweg aus dem tragischen Schicksal ebenso wie die Tragödie ein potentieller Ausgang der Revolution bleibt. Die Revolution beginnt, bevor sie als Revolution überhaupt bewusst werden kann. Sie entspringt inmitten des Vollzugs des Alten, das sich allmählich unwillentlich und unwissentlich überschreitet. Das revolutionäre Handeln tut damit zunächst mehr, als es weiß, und etwas anderes, als es meint – darin gleicht es der tragischen Ironie (→ Dieter Thomä). Doch die Revolution führt dort über das tragische Schicksal hinaus, wo die Differenz zwischen Wissen und Tun, einmal bewusst geworden, zu einem neuen Tun und einem neuen Wissen führt, die gerade darin neu sind, dass sie sich wechselseitig immer wieder erneuern können. Die Revolution ist daher notwendigerweise prekär und genötigt oder geneigt, sich an etwas Anderes anzuschmiegen, zu überoder untertreiben, zurückzufallen und zwischendurch verloren zu gehen. Vielleicht ist gerade das eine oder andere davon nötig, um sie glücken zu lassen. Womöglich muss sogar die Tragödie (→ Lutz Ellrich) gestreift werden, um gerade nicht in ihr zu enden. IV. Das Denken der Negativität

In ihrem spezifisch modernen Verständnis lassen sich Kunst, Recht und Politik demnach so beschreiben, dass sie von einer radikalen Negativität gezeichnet sind: einem Moment der Unbestimmtheit oder einem inneren Widerstreit. Auf diese Weise erfasst der Begriff der Negativität aber nicht nur einen Strukturaspekt, sondern er charakterisiert zugleich eine Eigenart ihres Selbstbezugs oder ihrer Selbstreflexion. Die historische Bewegung, die von der Poetik zur Ästhetik, vom Gesetz zu den Rechten und von einer Politik des Ausschlusses zu einer Politik der Gleichheit führt, sollte in diesem Sinne nicht schlicht als Ersetzung oder Ablösung eines alten Para34

digmas durch ein neues Paradigma gelesen werden. Die Modernität von Kunst, Recht und Politik zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass deren »alte« Formen in ihnen fortdauern – allerdings so, dass sich in der Kunst die Ästhetik der Poetik, im Recht die Rechte den Gesetzen und in der Politik die Gleichheit dem Ausschluss entgegensetzen. Negativität wird damit zur Struktur des Selbstbezugs: Das ästhetisch verstandene Kunstwerk ist ein solches, das sich in sich selbst gegen seine poetische Bestimmung wendet; das moderne Recht ist ein solches, das sich in der Figur subjektiver Rechte und in der Form der Berechtigung der Regulierung durch Gesetze einschränkend entgegensetzt; und die revolutionär hervorgebrachte Politik ist eine solche, die durch die Kraft einer unbestimmten Gleichheit ihre eigenen institutionalisierten Ausschlüsse infrage stellt. Die moderne Wirklichkeit der Kunst, des Rechts und der Politik lässt sich gewiss auch so beschreiben, dass sie den Charakter ästhetischer Negativität, die Form rechtlicher Selbstreflexion oder den revolutionären Sinn der Bewegung der Gleichheit verliert – dass sie in Spektakel, Naturalisierung oder Entpolitisierung mündet und sich von der Praxis der bürgerlichen Gesellschaft absorbieren lässt. Aus dieser Beobachtung folgt aber nicht nur, dass die Formen der Negativität, durch die sich Kunst, Recht und Politik auf sich selbst beziehen, instabil und umkämpft sind; es zeigt sich zudem, dass diese Formen zugleich Modi beschreiben, in denen jene sich selbst überhaupt erhalten und allein gelingen können: Indem sie sich gegen sich selbst wenden, ihre bloß bürgerlichen Gestalten verneinen, bejahen sie sich als ästhetische Kunst, als dialektisches Recht oder als demokratische Politik der Gleichheit. Wenn es stimmt, dass in den Selbstverständnissen, die für die dezidiert modernen Formen der Kunst, des Rechts und der Politik charakteristisch sind, jeweils ein Denken der Negativität prägend geworden ist, so ließe sich fragen, inwiefern darin auch Momente einer Negativität des Denkens selbst aufscheinen – ob also das Denken in der ästhetischen Erfahrung, in der Dialektik des selbstreflexiven Rechts oder in der revolutionären Gleichheit einer Gestalt seiner eigenen Negativität begegnet. Inwiefern aber ist Denken selbst eine grundlegend negative Tätigkeit und in welchem Sinne ist gerade der Selbstbezug des Denkens ein wesentlich negativer? Folgt man Kant, so kann das Denken als derjenige Aspekt der Erkenntnis betrachtet werden, den er »Spontaneität« nennt: Den35

ken beschreibt eine »Erkenntnis durch Begriffe«.56 Das bedeutet jedoch nicht, dass das Denken allein durch seine Rolle in der Erkenntnis bestimmt ist: »Sich einen Gegenstand denken, und einen Gegenstand erkennen, ist […] nicht einerlei«.57 Während die Spontaneität der Erkenntnis bei Kant als die selbstbewusste Aktivität gefasst wird, sinnlich empfangene Vorstellungen durch begriffliche Bestimmungen auf einen Gegenstand zu beziehen, besteht die Eigenart des Denkens gerade darin, auch ohne Bezug auf sinnliche Erfahrung operieren zu können. Als Denken tritt das Denken somit erst dann hervor, wenn es seine engere Rolle als anschauungsbezogenes Urteilen verlässt und sich eigens auf sich selbst bezieht: etwa als systematisches Nachdenken über die Voraussetzungen gegenständlicher Erkenntnisse, die es über die Erfahrungsgrenze hinaustreiben; als logische Analyse der allgemeinen Gesetze des Begreifens, Urteilens und Schließens unter Abstraktion von den Gegenständen des Denkens; oder als metaphysische Erkenntnis der allgemeinen Bestimmungen seiner Gegenstände, die aus bloßen Begriffen erfolgt und dabei über alle Gegenstände der Erfahrung hinausgeht. Seiner eigentümlichen Negativität wird sich das Denken aber erst dort bewusst, wo es seine Selbstreflexion auf die Bedingungen und Grenzen der Erkenntnis selbst lenkt: als transzendentale und dialektische Untersuchung der allgemeinen Denkbestimmungen, die der Erkennbarkeit von Gegenständen im Allgemeinen zugrunde liegen (→ Robert Pippin). Auf diese Weise erhebt sich das Denken zum »reinen Denken«, sofern es nicht nur die Eigenart des erfahrungsbezogenen Wissens begreift, sondern dabei auch seine eigene Überschreitung der empirischen Erkenntnis – in den Vorhaben der systematischen Vereinheitlichung, der Logik oder Metaphysik – kritisch reflektiert. In dieser Art der Selbstreflexion erfasst das Denken seine eigene Negativität auf drei Ebenen, die zugleich drei Schritte der reflexiven Vertiefung von Negativität sind: auf der Ebene seines begrifflichen Gegenstandsbezugs; auf der Ebene seines methodischen Verfahrens der Selbstreflexion; und auf der Ebene einer darin liegenden Selbsterfahrung des Denkens. Auf der ersten Ebene geht es um eine Reflexion der grundlegenden logischen Vollzugsform, in der das Denken operiert: der 56 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1998, A 69. 57 Ebd., B 146.

36

Form des gegenstandsbezogenen Urteilens. Im Fall empirischen Urteilens, in dem sich das Denken durch Wahrnehmungen auf ein Objekt bestimmend bezieht, »negiert« es zugleich den sinnlich vermittelten Gegenstand in seiner bloßen Gegebenheit. Es ist, in Hegels Worten, »wesentlich die Negation eines unmittelbar Vorhandenen«,58 weil es den Gegenstand in seinem Urteil nicht einfach als »Positives« aufnimmt, sondern sich darauf festlegt, was der Fall ist. Damit geht sogleich eine zweite Art der Negation einher, die dieses Mal nicht auf den Gegenstand, sondern direkt auf das Urteilen selbst bezogen ist. Dadurch, dass ein Urteil eine Selbstfestlegung des urteilenden Subjekts zum Ausdrucks bringt, setzt es sich a priori der Möglichkeit der Revision durch andere Urteile, das heißt der »Selbstverneinung« aus.59 Diese potentielle Negativität im Selbstbewusstsein des Urteilens entspricht weder dem Ausschluss konträrer Urteile, die mit einem Urteil inkompatibel sind, noch einer Haltung des Selbstzweifels oder der Zögerlichkeit, die den Urteilsvollzug permanent begleiten würde. Sie lässt sich auch nicht durch die Fallibilität des Urteilens erläutern, also durch den Umstand, dass alles empirische Wissen endlich ist und sich durch zukünftige Erkenntnisse oder neue Daten als falsch erweisen könnte. Es handelt sich vielmehr um eine Möglichkeit, die dem Urteilen aufgrund seiner eigenen logischen Form inhärent ist:60 Die Revidierbarkeit des Urteilens liegt nicht in seiner Endlichkeit, sondern in seiner »Unendlichkeit« (→ Andrea Kern). Diese Negativität, die das Denken potentialisiert und somit in den Raum einer unendlichen Selbstinfragestellung versetzt, verweist uns zugleich auf die apriorischen Denkbestimmungen oder Kategorien, die dem Urteilen selbstbewusste Einheit und objektive Bestimmbarkeit verleihen. Weil das Denken »Negation des Vorhandenen« ist, kann der Grund des Urteilens nicht bloß im rezeptiv vermittelten Gegenstand liegen, sondern muss zugleich a priori im Denken selbst gesucht werden. Daher stellt sich die 58 G.  W.  F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, in: Werke, Bd. 8, Frank­furt/M. 1970, S. 57. 59 Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes I, in: Gesammelte Werke, Bd. 25.1, Hamburg 2008, S. 417. 60 Siehe auch Robert B. Pippin, »Brandom on Hegel on Negation«, unpubliziertes Manuskript, 〈https://uchicago.app.box.com/s/x6ifoq7bqmzqcvae8rtgpp97gdfdj pnw〉, letzter Zugriff 2. 6. 2018.

37

kantische Frage nach der objektiven Gültigkeit jener apriorischen Denkbestimmungen des Erkennbaren, deren Geltung sich nicht im Rekurs auf ein Außerhalb des Denkens klären lässt. Mit dieser Frage erreichen wir eine zweite Ebene der Negativität, die mit dem Verfahren des reinen Denkens zusammenhängt: Die dialektische Methode der Selbstreflexion geht nicht mehr bloß von der konstitutiven Möglichkeit, sondern von einer Notwendigkeit der inneren Negativität des Urteilens aus. Das dialektische Verfahren der Entdeckung und Auflösung von Gegensätzen beruht auf der Voraussetzung, dass sich das Denken nicht bloß zufällig oder durch logische Fehler, sondern unvermeidlich und durch logische Konsequenz in Widersprüche verwickelt. Kant zufolge ergeben sich »Antinomien« und »Paralogismen« des reinen Denkens an der Stelle, an der es die apriorischen Denkbestimmungen, die aller endlichen Erkenntnis zugrunde liegen, im Rahmen einer Erkenntnis des Unbedingten zur Anwendung bringt.61 Weil diese Anwendung sowohl notwendig ist als auch zu Widersprüchen führt, insistiert Kant darauf, dass es sich um eine »natürliche und unvermeidliche Dialektik der reinen Vernunft« handelt.62 Diese Dialektik gibt es, weil das reine Denken zwei strukturell unterschiedene, aber untrennbar zusammenhängende Arten des Denkens enthält, die Kant als »Verstand« und »Vernunft« bezeichnet (als endliche Erkenntnis und Erkenntnis des Unbedingten). Diese Divergenz macht verständlich, inwiefern sich das Denken notwendig in Widersprüche verstrickt: Weil es untrennbar Verstand und Vernunft ist, wendet es sich (als Vernunft) gegen sich selbst (als Verstand).63 61 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A vii f. 62 Ebd., A 298. 63 Während Kant noch davon ausgeht, dass die transzendentale Logik einerseits, die die grundlegenden Kategorien des Denkens aufdeckt und ihre objektive Geltung nachweist, und die Dialektik als Auflösung der unvermeidlichen Widersprüche des reinen Denkens andererseits unterschiedene Projekte der Vernunft darstellen, behauptet Hegel ihre notwendige Einheit: Die objektive Gültigkeit reiner Denkbestimmungen muss sich im Zuge einer kritischen Prüfung ihrer Fähigkeit erweisen, das reine Denken für das reine Denken selbst verständlich zu machen. An dieser Stelle, an der sich die Kategorien des Verstandes in der Selbstreflexion des Denkens bewähren müssen, geraten diese in einen notwendigen »Selbstwiderspruch«: »Der Widerstreit zwischen verschiedenen Bestimmungen des Verstandes […] ist recht verstanden nur ein Ausdruck für den ›notwendi-

38

Die Auflösung der inneren Widersprüche des Denkens führt allerdings nicht zum Verschwinden dieser Widersprüche. Man kann an dieser Stelle (mit Kant) für eine kritische Aufrechterhaltung oder (mit Hegel) für eine idealistische Aufhebung des Unterschieds zwischen dem »An-sich« und »Für-uns« der Gegenstände der Erkenntnis argumentieren. In beiden Fällen aber bildet das Element der negativen Selbstbeziehung das (kritisch bewusst gehaltene oder in »negativer Einheit« aufbewahrte) Signum des reinen Denkens. Der tiefere Grund aber, weshalb die innere Dialektik des Denkens unendlich ist, der in beiden Auffassungen mehr oder weniger implizit bleibt, lässt sich mit Adornos Neubestimmung der Dialektik als einer »negativen« akzentuieren. Wir erreichen damit eine dritte Ebene in der Vertiefung der Negativität des Denkens, die sich als eine »materialistische« Wendung der Dialektik deuten ließe. Adornos Einsatz könnte man im Ausgang von Hegels Einsicht verstehen, der zufolge die Unterscheidung zwischen dem Gegenstand, wie er sich dem Denken darstellt, und dem Gegenstand, wie er »an sich« ist, dem Denken selbst angehört und seine dialektische Bewegung in Gang setzt.64 Adorno wendet diese Einsicht gegen das, was er Hegels »Identitätsdenken« nennt: Der Unterschied zwischen dem Objekt selbst und dem Denken des Objekts, der dem Denken immanent ist, läuft vielmehr auf die Einsicht in den materialistischen »Vorrang des Objekts« und eine damit einhergehende Anerkennung der Abhängigkeit des Denkens von seiner eigenen Kontingenz und Andersheit hinaus,65 die mit Kants Beharren auf der Negativität des Dings an sich nicht identisch ist. Diese reflexive Vertiefung der Negativität kommt noch einmal auf die erste Ebene zurück – die Ebene der Negation der bloßen sinnlichen Vorhandenheit des Gegenstandes. Nach Adorno kann es hier allerdings nicht um eine Negation von Rezeptivität überhaupt gehen. Die Vermittlung des Sinnlichen mit dem Denken, durch die das Sinnliche in seiner positiven Vorgegebenheit negiert wird, gen Widerstreite der Bestimmungen mit sich selbst‹« (Christoph Menke, »Der ›Wendungspunkt‹ des Erkennens. Zu Begriff, Recht und Reichweite der Dialektik in Hegels Logik«, in: C. Demmerling, F. Kambartel [Hg.], Vernunftkritik nach Hegel. Analytisch-kritische Interpretationen zur Dialektik, Frank­furt/M. 1992, S. 9-66, hier S. 39). 64 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 77. 65 Adorno, Negative Dialektik, S. 185.

39

bringt Rezeptivität nicht zum Verschwinden, sondern verändert vielmehr die Weise, in der die Rezeptivität des Sinnlichen in der Spontaneität des Denkens selbst zur Geltung kommt. Die Pointe dieser Überlegung ließe sich mit Christoph Menke so formulieren, dass Rezeptivität sich hiermit nicht bloß als die aufzuhebende Materie des Begriffs darstellt, sondern vielmehr als das Moment einer vorbegrifflichen und affektiven Evidenz erscheint, das im Urteilen selbst wirksam ist66 – nicht als dessen positiver Grund, sondern als ein Moment von »Kraft, Unruhe oder Negativität«.67 Das Denken »reflektiert« derart Rezeptivität in sich – und erfährt sich als das Andere seiner selbst. Weil sinnliche Rezeptivität das Andere des Denkens, aber mit dem Denken dialektisch vermittelt ist, wird das Denken durch sich selbst über sich hinausgetrieben – es transzendiert seine Vollzugsform des Urteilens, des propositional artikulierten Aussagens und Schließens. Darin besteht das »Negative« der negativen Dialektik: Dass sie diese Andersheit als eigenes Moment und Kraft des Denkens – als »Gegenstoß« des Denkens gegen sich selbst68 (→ Frank Ruda) und als sein eigentümliches Leben (→ Christiane Voss) – anerkennt und zum notwendigen Aspekt seines Verfahrens macht (→ Martin Seel), das nach Adorno in der »Anstrengung« besteht, »über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen«.69 Es nimmt nicht wunder, dass das reine Denken in diesem Sinne einer sich unendlich auf sich selbst beziehenden Negativität der »natürlichen« Einstellung weltzugewandter Rationalität suspekt erscheinen muss. Auch wenn die »Arbeit des Negativen« in den dialektischen Volten des Denkens ein produktives Prinzip darstellt: Für den empirisch orientierten Verstand und für die durch die Grenzen der formalen Logik beschränkte Vernunft stellt sich die endlos negative Selbstbeziehung des Denkens als eine unproduktive Verausgabung dar, die sich nicht mehr durch »positive« Resultate in der wissenden Durchdringung der Welt amortisieren lässt. Man hat das Gefühl, dass die Sprache hier »feiert« (→ Sebastian 66 Vgl. Menke, Kritik der Rechte, S. 378 f. 67 Ebd., S.  381. 68 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 59, sowie dazu Menke, »Der ›Wendungspunkt‹ des Erkennens«, S. 60. 69 Adorno, Negative Dialektik, S. 27.

40

Rödl).70 Dass dieser Festcharakter nicht gegen das reine Denken sprechen muss, sondern vielmehr eine entscheidende Weise bezeichnet, in der es sich zu sich selbst verhält und sich durch seine Negativität hindurch selbst affirmiert, wird deutlich, wenn man erkennt, dass das Fest eine Gestalt seiner »Freiheit« ist.71 * Dieser Band erscheint zum 60. Geburtstag von Christoph Menke, der das Denken der Negativität in Kunst, Recht und Politik wie kein zweiter vertieft hat. Ohne dass Negativität das Losungswort aller seiner Arbeiten wäre, scheinen sie doch genau darin vereint, dass sie die Irreduzibilität der Negativität auf eine neue Weise gedacht haben. Dies gilt von der Souveränität und der Kraft der Kunst, die den Charakter ästhetischer Negativität neu bestimmt haben, über Die Tragödie im Sittlichen, Spiegelungen der Gleichheit und Die Gegenwart der Tragödie, die Gestalten eines tragischen Widerstreits im Sittlichen und Politischen aufgewiesen haben, bis hin zu Recht und Gewalt und Kritik der Rechte, die die besondere Negativität der Rechte und die Gefahr ihrer Selbstverstellung nachzeichnen. Es handelt sich um ein Denken der Negativität, das sich nicht daran festmachen lässt, dass es ständig nein oder selten ja sagt, sondern das sich an der Weise zu erkennen gibt, in der es das Verhältnis von Negation und Affirmation kompliziert und im Neinsagen die Möglichkeit eines anderen Jasagens eröffnet. Der Neinsager in Brechts Schuloper, der sich dem großen Brauch widersetzt, mit dem er sich einverstanden erklären und dem zufolge er ins Tal hinabgestürzt werden soll, erläutert, dass sein Nein zum bestehenden Brauch ein Ja zu einem Brauch anderer Art, einer anderen Sorte von Einverständnis ist: Ich brauche, so der Neinsager, »einen neuen großen Brauch, den wir sofort einführen müssen, nämlich den Brauch, in jeder Lage neu nachzudenken«.72 Die Herausgeber*innen dieses 70 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe, Bd. 1, Frank­furt/M. 101995, S. 225-580, hier S. 260. 71 Vgl. Hegel, Enzyklopädie I, S. 187: »Die höchste Form des Nichts für sich wäre die Freiheit, aber sie ist die Negativität, insofern sie sich zur höchsten Intensität in sich vertieft und selbst, und zwar absolute, Affirmation ist.« 72 Bertolt Brecht, Der Jasager und der Neinsager, hg. v. P. Szondi, Frank­furt/M. 1966, S. 49.

41

Bandes hatten die Freude, mit Christoph Menke zusammenzuarbeiten und daher mit ihm gemeinsam »in jeder Lage neu nachzudenken«. Ein entschiedenes Ja zu diesem Brauch eint auch die hier versammelten Beiträge.73

73 Die Herausgeber*innen danken Jan Beuerbach, ohne den die Fertigstellung dieses Bandes nicht möglich gewesen wäre, sowie Philipp Linstädter für die umsichtige Einrichtung des Manuskripts. Eva Gilmer, Philipp Hölzing und Jan-Erik Strasser sei für die umfassende Unterstützung dieses Bandes herzlich gedankt.

42

I. Die Kunst der Negation

Gertrud Koch Verneinung der Kunst durch die Kunst: Das Unmögliche an der Kunst.  Boris Luries NO!Art und der Kanon Der Kanon definiert ein System von Regeln, er fungiert als Richtschnur, als verbindliche Ordnung, die zugänglich und wiederholbar ist. Das kanonische Recht, das Recht der römisch-katholischen Kirche, umfasst das Regelwerk der Institution. Es liegt in Form eines Kodex vor. Der Kodex ist wiederum ein Medium des Aufschreibens, das einmal die Schriftrolle ablöste und die Buchseite konstituierte. Er ist eine Sammlung loser Blätter, die, gebunden zusammengefasst, nun leicht untereinander abgestimmt und verglichen werden können. Im Medium des Kodex wird der Kanon verbreitet und nun von verschiedenen Lesern auslegbar. Der Kodex nimmt als Medium der Verbreitung des Kanons also bereits eine ähnliche Funktion wie das gedruckte Buch ein: Der kanonische Text selbst wird seiner Einmaligkeit beraubt und nun mit und ohne Schreib- oder Druckfehler zu einem Objekt, das eine zerstreute und mehr oder weniger dezentrierte Lektüre und Auslegung nach sich zieht. In der Musik basiert der Kanon genau auf den zeitlichen Verschiebungen, mit denen eine musikalisch gegebene Klangform nacheinander einsetzt, so dass auch hier der Kanon keineswegs eine mechanische Wiederholung und Kopie anstiftet, sondern als Varianten der Aufführung in der Zeit und meist eben auch mit unterschiedenen Stimmen, Instrumenten etc. zur Aufführung gelangt. Der Kanon, so könnte man argwöhnen, war also nie ganz das, für das ihn seine konservativen Befürworter und seine Kritiker halten, denn er war immer auch ein Verfahren, das auf Variation und Vergleich aufbaut. Der Kanon ist also eine Zeitform – und die daran anschließende Frage ist die, ob er sich durch die Zeit hindurch im Wesentlichen stabil hält und seine Form konserviert oder ob er sich in seiner Dauer verändert und zu einem geänderten Kanon führt. Für beide Positionen lassen sich gute Argumente finden, beide Argumente verbleiben jedoch in der logischen Figur des Kanons als Regelwerk, das ausgeführt werden muss, also einen performativen 45

Aspekt hat, der sowohl zur Abweichung wie zur Verstetigung führen kann. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass am Anfang kanonischer Änderungen oft neue Paradigmen der Kunst stehen, die ihrer Codierung harren, und zwar sowohl auf Seiten der Künstler wie auf Seiten der Kritiker und des Publikums. Dagegen steht die radikale Opposition zum Kanon in einem anderen Zeitmodell, nämlich eben nicht in jenem des in der Zeit verlaufenden Kontinuums und seiner quasi reformistischen, kleinen, schrittweisen Veränderungen, die sich am Ende in neuen Auslegepraktiken summieren mögen. Nein, die radikale Gegenposition zum Kanon als Modell der Herausbildung von Regelwerken, Urteilen etc. ist die des Bruchs, des radikalen Anfangs, des abrupten Endes. Dieses Zeitmodell, das vom Aussetzen der Zeit, vom Aussetzen der Katastrophen ausgeht, will das Kontinuum unterbrechen, das variierende Einstimmen und sukzessive Umstimmen des Kanons abbrechen. Seine Form sind Medien der Zurückweisung und Ablehnung, seine Form ist das Manifest, das Pamphlet, kurz: die Geste der Unterbrechung. Von einem hermeneutischen Standpunkt aus gesehen, gibt es aus den Zirkeln der Rezeption kein Entkommen und die Möglichkeit zur Kanonbildung hat große Chancen, sich auch noch hinter dem Rücken der Akteure durchzusetzen – aber das letzte Wort ist nicht immer das Interessanteste, abgesehen davon, dass es zu einem Selbstwiderspruch innerhalb der hermeneutischen Zirkel führen muss. Also gibt es doch zumindest die Geste des Pamphlets, der Unterbrechung. Historisch war 1945 eine solche Unterbrechung, die von vielen als Zäsur gesehen wurde – von Adorno bis Deleuze war die Wahrnehmung und Reflexion auf den Riss in der Geschichte zentral, wenn auch mit ganz unterschiedlichen Konsequenzen. Während Deleuze das gerissene sensomotorische Band zur Welt im Kino, in einigen Filmen wieder zumindest als Phantom entstehen sah, verbannte Adorno jeden Gedanken eines belastbaren Bandes in das ungewisse Schicksal der Flaschenpost der Kunst. Diese Geste des Verschließens der Kunst ist keine vereinzelte gewesen, ohne dass aus ihr ein Kanon ableitbar geworden wäre, außer in der philosophischen Ästhetik, wo Adornos Ansatz durchaus kanonische Züge trägt. Dagegen kann die Kunst wiederum außer- und unterhalb des Kanons operieren, auf den hin Experten sie zu beziehen versuchen. 46

Auf die Frage hin, ob er sich vorstellen könne, im Katalog einer geplanten Ausstellung von Boris Lurie, einem der Vertreter der NO!Art-Gruppe, einen Beitrag zu schreiben, antwortete mir ein guter Kenner der modernen und zeitgenössischen Kunst, dass er das nicht könne. Nicht dass er Lurie etwa nicht kennen oder gar ablehnen würde, aber die Ausstellung, die er mit seinen Sachen einmal gesehen habe, habe ihn verstört und ratlos zurückgelassen, also wohl auch wort- und schriftlos. NO!Art, deren Gründung Ende der fünfziger Jahre stattfand und die bis in die siebziger Jahre hinein neben Fluxus und in massiver Absetzung von den warholschen Pop-Imperien präsent war, hat sich durch die Geste einer radikalen Verneinung hervorgetan. In einem Katalogtext aus dem Jahr 2011 heißt es: NO! Die schiere Lust am Wort selbst, das so relativ selten im öffentlichen

Diskurs und doch so beständig in unserem Alltag verwendet wird. No, no, no, no! Die Schönheit des Wortes in all seinen formalen Aspekten, seine Einfachheit und Eleganz, diese beiden Buchstaben, die im Alphabet aufeinander folgen, die eng verbundenen lexikalischen Nachbarn, hier isoliert und unterbewertet, allein stehend in all ihrer stolzen Verachtung, minimaler Kick. Welche anderen angrenzenden Buchstaben des Alphabets bilden ein so resonantes und starkes, ein so wesentliches Wort?1

Ist Luries Programm einer ›NO!Art nach Auschwitz‹ also erfolgreich gewesen? Dafür spräche, dass es offenbar schwierig ist, an einen vorhandenen Diskurs anzuknüpfen, aus dem heraus das seltsame Werk Luries erschließ- und diskutierbar würde. Noch bevor also dessen Qualitäten bestimmbar werden, entzieht sich das Werk in das große »NO!«. Während die Manifeste, die das Ende der Kunst ausrufen, meist in den Kreislauf einfahren, lediglich die Kunst anders zu bestimmen und keineswegs die Kunstpraxis abschaffen zu wollen, wird die radikale Verneinung hier offenbar beim Wort genommen. Auch das stimmt jedoch nur zum Teil, Lurie und die NO!Artisten arbeiteten weiter im Raum der Kunst und sind insofern nie aus der Kunst herausgekommen. Dennoch bleibt ihre programmatische Qualität genau die Unterbrechung eines Kanons, denn auch die Versuche, 1 Adrian Dannatt, »JUST SAY«, in: NO! Boris Lurie, Katalog der Ausstellung des Chelsea Art Museum und der Boris Lurie Foundation, New York 2011, S. 25 [Übers. G. K.].

47

Lurie als ›Auschwitz-Kunst‹ zu kanonisieren, versagen darin, dass seine Werke sich auf keine repräsentative Ebene einlassen, sondern im merkwürdigen Gewusel von objets trouvés zwischen Pornobildchen und KZ-Zeichen eine Art Wimmelbild schaffen, in dem Motive, Formen und Verfahren sich gegenseitig paradoxieren. In den Minima Moralia beschreibt Adorno zur inneren Aushöhlung des Kanons: In der Tradition stehen hieß: das Kunstwerk als ein bestätigtes, geltendes erfahren; in ihm teilhaben an den Reaktionen all derer, die zuvor es sahen. Fällt das einmal fort, so liegt das Werk in seiner Blöße und Fehlbarkeit zutage. Die Handlung wird aus einem Ritual zur Idiotie, die Musik aus einem Kanon sinnvoller Wendungen schal und abgestanden. Es ist wirklich nicht mehr so schön.2

Adorno meinte damit die Operette Die Fledermaus, deren Besuch dem Knaben einmal die Schwelle in den Kanon der Erwachsenen bedeutete. Und so geht es mit Lurie: »Es ist wirklich nicht mehr so schön«, die Collagetechniken der Moderne mit KZ- und Pornomotiven verbunden zu sehen. Die surrealistische Verschmelzung von Gewalt und Sexualität entbehrt der anarchistischen Unschuld des Verschworenen der Kenner, die im Kanon freudscher Kulturtheorie die Zeichen zu lesen wussten. Der Einbruch anderer, auf banale Weise direkter Bildwelten und historischer Erfahrungshorizonte in Luries Collagen ist ein Akt der Aufdeckung, dass das Skandalon in der Kunst darin besteht, dass sie »nicht mehr so schön« ist. Adorno hatte sich die Aufhebung des Kanons nur dialektisch vorstellen wollen, wenn er in der Ästhetischen Theorie schreibt: »Das involviert einen negativen Kanon, Verbote dessen, was solche Moderne in Erfahrung und Technik verleugnet; und solche bestimmte Negation ist beinahe schon wieder Kanon dessen, was zu tun sei.«3 Luries Fall lässt sich in diesem Sinne so beschreiben, dass wir es mit dem Beginn eines Kanons der Kunst zu tun haben, die keine mehr sein will – und es doch bleibt. Lurie konnte nach seiner Präsenz in den siebziger Jahren mehr als zehn Jahre lang keine Ausstellungen mehr machen, bevor er 1988, genau zehn Jahre später, wieder 2 Theodor W. Adorno, »In nuce«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 4: Minima Moralia, hg. v. Rolf Tiedemann, Frank­furt/M. 2003, S. 255. 3 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, hg. v. Rolf Tiedemann, Frank­furt/M. 2003, S. 57.

48

zurück in die Zeitgenossenschaft von Kunstrichtungen geriet, die den Impetus teilen, Kunst zu negieren, ohne aufzuhören, Kunst weiter zu machen. Aus der Krise, mit der die radikale Verneinung einhergeht, ist nun aber die Krise eines bestimmten Kunstverständnisses geworden, das sich immanent erschöpft hat. Es ist also eine Krise der Ästhetik und weniger eine der Geschichte. Lurie bricht in diesen neuen Kanon der Gegenwart von zwei Seiten ein: von der immanenten Seite einer Verneinung der Kunst als Kanon und von der externen Seite einer neuen Kanonbildung zur historischen und gegenwärtigen Bezugnahme auf Realität. In seiner Entgegnung auf einen Kritiker, der die Geste der Verneinung, mit der die NO!Art-Gruppe sich bemerkbar machte, altklug als kindische Verweigerungshaltung gegenüber den Zumutungen einer Welt ridikülisieren wollte, die konstruktive Kritik erfordere und nicht die Spielereien alter und neuer Avantgarden, betonte Lurie das Gewaltsame und Rohe der Zäsuren, die er keineswegs als geschichtsfremd ansieht, sondern als in die Geschichte eingelassen: »Die NOs sind also keine Neuigkeit«, sagt der Autor und zitiert das spätrömische Theater, das gegen gesellschaftliche Tabus verstoßen hat, und die »Boulevardiers von Paris, die das Dada-Manifest vor über einem halben Jahrhundert eingerahmt und gefeiert haben«. Die Muster durchbrechende Kunst ist seit dem Höhlenmenschen immer wieder aufgetaucht und wird auch weiterhin wieder auftreten – und sie wird bei jedem Wiederauftreten eine Neuigkeit sein, denn diese Wiederholungen sind selten und immer gewalttätig, aber nie kapriziös!4

Der eigentümliche Wettlauf historisch-realer und künstlerischer Gewaltausbrüche schafft einen Resonanzraum, in dem die Kunst als nachträgliche Stimme die Ausweitung des Kanons realer Gewalt zu kommentieren scheint: nicht als Repräsentation oder Nachahmung, sondern als Echo der Schreie, als karikaturhafter Schatten, den die realen Leichenberge werfen. Das surrealistische Bild des weiblichen Körpers, das als Doppelzeichen der psychoanalytisch abgeleiteten Konvergenz von Eros und Todestrieb fungiert, kann in der NO!Art nicht mehr zum Mythos werden. »Es ist nicht mehr 4 Boris Lurie, »Violence Without Caprice in ›No-Art‹«, in: Leonardo 7:4 (1974), S. 343 f., hier S. 344 [Übers. G. K.].

49

so schön« – statt der Erotisierung des Todes folgt die Abtötung des Eros: Die aufgespreizten Schenkel der Frauenkörper auf den schwarzweißen Pornofotos, die zusammengequetschten Brüste, die totenkopfartigen Grimassen, die sich zum Betrachter hin öffnen und ihn mit erloschenen Augen fixieren, gerinnen zu Chiffren von Körpern, die nichts mehr zu versprechen scheinen. Sie sind ausgelaugt, und die zur Schau gestellte Sinnlichkeit wirkt wie eine Verrenkung, eine Deformation des Begehrens, das irreal geworden ist. Die obszönen Partien in Luries Bildern sind keine frivolen oder gar »kapriziösen« Vorzeichen der Erotisierung, sondern Zeichen von deren Aussetzung. Ein weiteres NO! im Bild, das den pornographischen Rahmen, dem sie entstammen, entleert. Dennoch wäre es verfehlt, diesem vielfachen NO! (adressiert an den NS, an den Kapitalismus etc.) seine Eigenständigkeit abzustreiten. Es sind auch dialektische Verneinungen im Sinne von Adornos Kanon des Ausgeschlossenen. Ausgeschlossen ist der sensomotorisch mit der Person verbundene Körper, die holistische Einheit von Körper und Kopf wird durchtrennt. Diese zwanghafte Kappung jener Verbindung zwischen Sprache und »Eiern«, die den vitalen Strebungen des sinnlichen Körpers zustrebt, wird von Lurie in einem seiner seltsamen Prosagedichte »Geschwör an Heinrich Heine« als der Pfad der »Hirnestür« beschworen: Mein Vater, möge er gut ruhen, sagte pensive zu sich, in meiner Anwesenheit jedoch, damit es meine Eier rühre: »S’ist alz a Cholem«. (Traum) Er folgte nie dieser apathetischen Versündigung, er war, wie er sagte: »GrossFabrikant«. Er irrte sich. Was ist geschehen-und-gewesen, das verschwindet nie. Das lebt forever darling, auf unerreichbaren Höhen oder tief, in dem Seelenschmiehl. Und kommt immer zurück und klopft schön an der Hirnestür. Und falls gerade nicht bei mir, dann bei Dir-und-Dir, und dem verwesten Dir-und-Dir-und-Mir. Soviel denn für »verstehen«, nicht verstellen.5

Der Schlemihl wird zum Seelenschmihl, dessen Seele noch weiterverfolgt wird, auch wenn der Vater alles zum Traum erklärt, um die Eier seine Sohnes zu rühren – aber auch das existiert nur in der Verneinung, in der Abwesenheit.6 Anstatt an die Eier zu rühren, klopft 5 Boris Lurie, »Geschwör an Heinrich Heine«, in: 〈http://text.no-art.info/de/luriegeschriebigtes/texte-1985.html〉, letzter Zugriff 6. 4. 2018. 6 In der Jewish Encyclopedia wird die Figur des Schlemiehls folgendermaßen defi-

50

es immer an die »Hirnestür« (statt an die ›Hintertür‹ der erotischen Verdrängungen). Lurie bricht mit dem Kanon des Pornographischen ebenso wie mit dem Erotismus des Surrealismus. Die obszönen Posen der Frauenkörper, die abjekten Anteile in den Bildern sind Teile jener Schattenwelt, die weder erreichbar noch verstehbar ist. In diesem Extrem einer negativen Welt beziehen sich Kunst und KZ auf merkwürdige Weise aufeinander. Man mag zwar im Einzelnen darüber streiten, ob das Werk Luries von durchgehender Qualität ist, wie man dies bei jedem Werk kann und muss, aber unbestreitbar hat sich Lurie mit seinem Programm einer NO!Art als JewArt einem Programm negativer Ästhetik verschrieben, das den Kanon selbst thematisiert, der sich mit ihr seit Adornos Negativer Dialektik verbindet. Dort wird nicht weniger enigmatisch und nicht weniger radikal als in Luries Bildern eine Kultur vorgeführt, in der Weimar und Buchenwald zwanglos koexistierten – in jenen ›Buchen/wäldchen‹ (Lurie), von denen Adorno schrieb: Theoretisch zu widerrufen wäre die Integration des physischen Todes in die Kultur, doch nicht dem ontologisch reinen Wesen Tod zuliebe, sondern um dessentwillen, was der Gestank der Kadaver ausdrückt und worüber deren Transfiguration zum Leichnam betrügt. Ein Hotelbesitzer, der Adam hieß, schlug vor den Augen des Kindes, das ihn gern hatte, mit einem Knüppel Ratten tot, die auf dem Hof aus Löchern herausquollen; nach seinem Bilde hat das Kind sich das des ersten Menschen geschaffen. Daß das vergesniert: Beliebte jiddische Bezeichnung für eine unglückliche Person. Es kommt auch in der Form Schlimmilius vor. Nach Heine (»Jehuda-ben-Halevy«) ist es vom biblischen Namen »Shelumiel« deshalb abgeleitet, weil die Person, die vom Speer des Pinehas aufgrund von Unkeuschheit mit der Moabiterin durchbohrt wurde, aus Versehen getötet wurde. Andere leiten den Begriff von einer Verfälschung des Ausdrucks »schlimm mazzal« (unglücklicher Stern) ab. Viele der populärsten Anekdoten des Ghettos beziehen sich auf die Erfahrungen von Menschen, die ohne eigenes Verschulden bis zum Ende vom Unglück verfolgt werden und es ohne Murren ertragen. Sie ähneln in jüdischen Volksmärchen den Gothamiten oder »Schildbürgern« der englischen und deutschen Folklore. Chamisso verwendete den Ausdruck als Namen des Helden seiner volkstümlichen Geschichte »Peter Schlemihl«, aber ohne Bezug auf seine jüdische Bedeutung. Er könnte den Begriff durch den Berliner Bankier Itzig gehört haben, dem Heine für seine Interpretation des Wortes verpflichtet war. (Cyrus Adler, Joseph Jacobs, »SCHLEMIHL«, in: The Jewish Encyclopedia. A Descriptive Record of the History, Religion, Literature, and Customs of the Jewish People from the Earliest Times to the Present Day, Bd. XI, New York 1905, S. 102 [Übers. G. K.]).

51

sen wird; daß man nicht mehr versteht, was man einmal vorm Wagen des Hundefängers empfand, ist der Triumph der Kultur und deren Mißlingen.7

Denn in der Kultur wird ihre tödliche Gewalt verleugnet, wie das Beil im Haus des Henkers: »Sie perhorresziert den Gestank, weil sie stinkt; weil ihr Palast, wie es an einer großartigen Stelle von Brecht heißt, gebaut ist aus Hundsscheiße. Jahre später als jene Stelle geschrieben ward, hat Auschwitz das Mißlingen der Kultur unwiderleglich bewiesen.«8 Und so wird »alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran«, »Müll«.9 Und in diesen Müll schließt Adorno auch die Kritik ein, also sein eigenes Werk. Eine Figur radikaler Verneinung, die sich auf sich selbst bezieht. Über die darin enthaltene Paradoxie ist viel geschrieben worden, in Vielem gilt die in ihr enthaltene Ambivalenz auch für Luries Werk: Kunst und Müll bedingen sich gegenseitig.

7 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, hg. v. Rolf Tiedemann, Frank­furt/M. 2003, S. 359. 8 Ebd. 9 Ebd.

52

Rüdiger Campe Entfremdung affirmieren.  Eine Modernefigur 1. Die suggestive Kraft, die von Georg Lukács’ Essay »Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats« auf das Denken und die Sensibilität des zwanzigsten Jahrhunderts ausgegangen ist, kommt aus der Gewissheit, die sich der Essay vorgibt. »Es ist keineswegs zufällig«, heißt es am Anfang, »daß beide großen und reifen Werke von Marx, die die Gesamtheit der kapitalistischen Gesellschaft darzustellen und ihren Grundcharakter aufzuzeigen unternehmen, mit der Analyse der Ware beginnen.«1 Mit der »Analyse der Ware« meint Lukács die grundlegenden Kapitel über Warenform und Warenfetischismus zu Beginn der Kritik der politischen Ökonomie und des Kapital. Beide sind aber »ein spezifisches Problem unserer Epoche, des modernen Kapitalismus«.2 Darum spricht der erste Satz des Essays mit großer Betonung von der »Gesamtheit« der kapitalistischen Gesellschaft: Warenform und Warenfetischismus ziehen sich geschichtlich nämlich nicht durch alle »Entwicklungsstufen der Gesellschaft« hindurch; aber erst in der Zeit von Warenform und Warenfetischismus wird der Kapitalismus, dessen Geschichte man erzählen wird, als Gesamtheit fassbar. Das ist zwar »nicht zufällig«, wie Lukács mit Blick auf Marx’ »reife Werke« sagt. Aber es folgt auch keiner hergebrachten Art geschichtsphilosophischer Evidenz. Die Phase, von der die Gesamtheit der Geschichte pars pro toto geprägt ist, ist hier weder der Ursprung noch der Zielpunkt. Es ist »unsere Epoche«: die Moderne; eine Zeit, die in den Geschichtsphilosophien seit Schiller als Durchgang galt zwischen den frühen Zeiten, in denen die Welt noch anders aussah, und einer Zukunft, die der Vergangenheit wieder ähnlicher sein wird als unserer Zeit. Unsere Zeit ist die der Entzweiung, der Entfremdung, in der zerfal1 Georg Lukács, Die Verdinglichung, in: Werkauswahl in Einzelbänden (WiE), Bd. 3, hg. v. Rüdiger Dannemann, Bielefeld 2015, S. 13. 2 Ebd., S.  14.

53

len ist, was ganz war und wieder ganz sein wird. Der Sache nach ist »unsere Epoche« auch in Lukács’ Rückgang auf Marx’ reife Werke eine Zeit der Entfremdung und Entzweiung. Aber mit dem Wort »Verdinglichung« hebt Lukács hervor, »wieweit der Warenverkehr und seine struktiven Folgen das ganze äußere wie innere Leben der Gesellschaft zu beeinflussen fähig sind«.3 Unter dem Namen und in der Perspektive der Verdinglichung wird die Entfremdung »struktiv«. Sie wird die Form und die Formel des Ganzen. Ohne die Gegenwart unserer Zeit wüssten wir nicht, was die Gesamtheit der Geschichte ist, von der wir ein Teil sind. Es wäre lohnend, die Problemgeschichte einer solchen Geschichte in Angriff zu nehmen: einer Geschichtsform, die in ihrer Mittelphase, dem Hier und Jetzt der Entzweiung, das ganzheitsund strukturbildende Zentrum hat. Man müsste sich dann damit beschäftigen, dass Marx’ Ausgangspunkt in der Kritik von Hegels Rechtsphilosophie lag, und das bedeutet nach Maßgabe der Phänomenologie des Geistes: in der Auseinandersetzung mit der Mitte und dem Ort der Entfremdung. Man hätte sich also damit zu beschäftigen, dass Marx seinen Ansatz nicht im Streit mit der sinnlichen Gewissheit oder dem absoluten Geist entwickelte, sondern mit Gesetz, Bildung und Institutionen, die Hegel unter der Überschrift des objektiven Geistes erörtert hatte. Entfremdung ist bei weitem nicht das erste und systematisch tiefste Auftreten der Negativität in Hegels Werk in der Funktion dessen, was man die felix culpa der Verneinung nennen könnte.4 Aber sie ist der Augenblick, wo die Negation in der Rolle der glücklichen Schuld des auseinandersetzenden Selbstbezugs erstens für die Eigengeschichtlichkeit des Geistes im Ganzen strukturbildend wird und zweitens an die Oberfläche des sozialen Verkehrs tritt. In einer Problemgeschichte der aus der Mitte ihrer jeweiligen Entfremdung heraus bestimmten Geschichten würde Max Weber und dem Theorem der Rationalisierung eine besondere Rolle zufallen. Die Zeit der Entfremdung, von der her die Gesamtheit der Geschichte, deren Teil sie ist, sich erst erschließt, erhält mit Webers Die protestantische Ethik und der 3 Ebd. 4 Christoph Asmuth, »Negativität. Hegels Lösung der Systemfrage in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes«, in: Synthesis Philosophica 43:1 (2007), S. 19-32; Wolfgang Bonsiepen, Der Begriff der Negativität in den Jenaer Schriften Hegels, Hegel-Studien, Beiheft 16, Bonn 1977.

54

Geist des Kapitalismus die zugespitzte Form der Konversion. Rationalisierung ist ein Säkularisat nicht nur dieser oder jener ethischen Forderung, sondern der Setzung und Durchsetzung ethischer Normen. Im Moment der Rationalisierung und Modernisierung sieht das gesellschaftliche Subjekt – wie in der Konversionsgeschichte das individuelle – auf sein bloß dahingelebtes Leben als vergangenes zurück, es bricht damit und setzt sich selbst als bestimmte und bestimmende, handelnde Figur – als »Person« oder »Akteur« – an den Anfang dessen, was von jetzt an Leben heißen soll. Aber auch wenn man die Frage kleiner ansetzt und sich an Lukács’ eigene Entwicklung hält, hat man genügend Arbeitsfelder und Evidenzen vor sich, um den eigenen, begründenden Sinn zu erfassen, den Entfremdung im letzten Jahrhundert angenommen hat. Hervorragender Gegenstand der Überlegungen ist dann die dem Verdinglichungsaufsatz vorausgehende Theorie des Romans. Dass die transzendentale Obdachlosigkeit des Romans und seiner geschichtlichen Epoche der Verdinglichung nahe ist, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt der Entfremdung betrachtet, ist offensichtlich. Es verdient aber mehr Aufmerksamkeit, dass auch in der Theorie des Romans die Mitte der Geschichte – »unsere Epoche« – auffallend betont und auf unerwartete Weise analysiert wird. Rahmen und Anlage der Theorie des Romans lassen den Leser eine schillersche oder schlegelsche Geschichte als Grundlage seiner Lektüre annehmen: Die Zeit des Epos nimmt von der Vertrautheit des Individuums mit der Welt, in der es lebt, den Ausgang. Und das Ende des Buchs stellt eine Art Wiederkehr des Epos in Aussicht, in der unter neuen Bedingungen eine andere Vertrautheit mit der Welt wiederkehren wird. Das Leben der Person im Roman ist dagegen eines der strukturellen – »transzendentalen« – Heimatlosigkeit. An diesem Schema geschult, wird der Leser aus dem Gleis gebracht, wenn er liest: »Jede Kunstform ist durch die metaphysische Lebensdissonanz definiert, die sie als Grundlage einer in sich vollendeten Totalität bejaht und gestaltet.«5 Wenn die Dissonanz die metaphysische Verfasstheit des Lebens ist und die Kunst gestaltend und bejahend als Formanstrengung darauf antwortet, dann kann die antike Welt, in der der epische Held sich wie in der angestammten Heimat bewegte, nicht mehr der maßgebende 5 Georg Lukács, Theorie des Romans, in: WiE, Bd. 2, Bielefeld 2009, S. 55.

55

Ursprung sein. Sie ist eher die Welt heiterer Selbsttäuschung. Ihre geschlossene Welt ist selbst schon eine epische Kunstform gewesen, in die sich das eigentliche Epos wie ein Teil dieser Welt einfügt, deren Vorbild und nicht Nachahmung es ist.6 Der Roman, die Form der transzendentalen Obdachlosigkeit, ist nicht die problematische Form einer Moderne, die das Durchgangsstadium der Geschichte bildet, sondern die Strukturform, von der her die Geschichte der Epik zu konstruieren ist. Die Theorie des Romans bietet mit dem Einsprengsel der Form, die dem Leben abgerungen ist, aber auch ein Element, das der Geschichte der hegelschen und marxschen Entfremdung nicht zugänglich war: das Moment der »Bejahung« und »Gestaltung«. Formung des dissonanten Lebens ist wie für Nietzsche ursprüngliche Affirmation – ein Ja, das im Blick auf Dissonanz gesagt ist, ohne sich an ein Gegenüber zu binden. Was die Theorie des Romans und den Verdinglichungsaufsatz verbindet, ist nicht nur die Diagnose der Entfremdung, die als transzendentale Heimatlosigkeit und Verdinglichung jeweils anders ausgearbeitet wird. Entscheidend ist, dass Entfremdung in beiden Zusammenhängen das strukturelle und überhaupt erst strukturbildende Zentrum der Analyse ist. Wenn man diese Vergleichbarkeit sieht, muss man allerdings auch den Unterschied anerkennen. Form, die bejaht und gestaltet wird, ist etwas anderes als »struktive[] Folgen«, die »das ganze äußere wie innere Leben der Gesellschaft zu beeinflussen fähig sind«. Erst die Verdinglichung, die in der Warenform liegt, ist in der Lage, Einheitsbildung auf eine dauerhafte Grundlage zu stellen. Lukács zeigt eindrucksvoll den aus der inneren Struktur der Warenform folgenden expansiven, sich selbst verstärkenden Charakter, den Entfremdung als Verdinglichung gewinnt. Dagegen ist es schwer zu sehen, wie die Formanstrengung der Kunst, die punktuell und werkgebunden bleiben muss, die Aufgabe bewältigen kann, die Lukács ihr als Antwort auf die metaphysische Verfasstheit des Lebens zumutet. So gesehen, gelingt erst der Verdinglichung, was die transzendentale Heimatlosigkeit und die ihr inhärente Formanstrengung leisten sollte. Aber das struktive Gelingen ist kein affirmatives Glücken, das dem Individuum 6 Mein Versuch dazu: Rüdiger Campe, »›Die tiefste Bestätigung des Daseins der Dissonanz‹. Émile Boutroux und Georg Simmel in der Theorie des Romans«, erscheint in: Rüdiger Dannemann u. a. (Hg.), Hundert Jahre »transzendentale Obdachlosigkeit«. Georg Lukács’ Theorie des Romans neu gelesen, Bielefeld 2018.

56

ein – gutes oder schlechtes, falsches oder richtiges – Leben in der sich selbst setzenden, ausbreitenden und bekräftigenden Struktur gibt. Es führt zum Tod des Individuums in der Struktur. Die in jedem Werk neu ansetzende Bejahung und Gestaltung der Form ist demgegenüber eine Affirmation, die der strukturellen Selbsterfüllung der Verdinglichung in – wenn man so formulieren kann – radikaler Parodie entgegentritt. Anstatt der Entfremdung Bilder ganzheitlicher Welten aus Anfängen oder in Zukünften vorzuspiegeln, wiederholt die Formanstrengung die Bedingungen der trans­ zendentalen Heimatlosigkeit in einer Weise, die sie ihrer Selbstverständlichkeit entkleidet und sie vor- oder nachspielt. Aber von einer Bejahung und Gestaltung der Entfremdung kann man auch nur dann sprechen, wenn man über die Theorie des Romans hinausgegangen ist und in ihr eine vorweggenommene Stellungnahme zu Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats sieht. Nur eine Formanstrengung und affirmative Geste, die Lebensdissonanz dann auch als Verdinglichung in Rechnung stellen kann, wäre der Entfremdung als einer gesellschaftlichen Struktur gewachsen.

2. Unter den vielen, die von Max Webers und manchmal mehr, manchmal weniger von Georg Lukács’ Refokalisierung der Entfremdung geprägt worden sind, stehen obenan Walter Benjamin und die Autoren der Frank­furter Schule auf der einen Seite und die Phänomenologen mit Husserl und dem Heidegger von Sein und Zeit auf der anderen Seite. Eine in diesem Zusammenhang interessante Stelle bei Benjamin findet sich im Trauerspielbuch. Sie steht am Ende des ersten Teils über die Souveränität und ihre Theorie als Grundform des barocken Trauerspiels und im Übergang zum zweiten Teil über die Allegorie, die die leitende Ausdrucksform des Trauerspiels ist. Unter Benjamins Schriften, die ja nicht nur ganz unterschiedliche Themen behandeln, sondern auch in disparaten Genres über sie sprechen, ist das einer der wichtigen Verdichtungspunkte. Bevor Benjamin auf Dürers Melancholia zu sprechen kommt, bringt er Stücke einer Theorie des »Traurigseins« ins Spiel. Traurigsein meint »Distanz von der Umwelt bis zur Entfremdung vom eigenen 57

Körper«.7 Das erste wichtige Stück einer solchen Theorie weist auf Max Webers Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus hin. Benjamin gibt der These vom Übersprung der religiösen Prägung in die soziale Norm eine überraschende Wendung. Er betont in der protestantischen und vor allem calvinistischen Kritik an der Werkgerechtigkeit nicht die Hinwendung zur Arbeitsethik, sondern den Relevanzverlust der Welt, in der man sich durch Werke bewegen und beweisen könnte. »Etwas Neues entstand: eine leere Welt.«8 Es ist nun völlig richtig gesehen, dass auch bei Weber die Entleerung der Welt, in der wir immer schon gelebt haben, der Einrichtung der Arbeit als Eingriff und Umgestaltung der Umwelt vorausgeht und zu Grunde liegt. Man muss die Welt, in der man lebt und Werke tut, zurückgelassen oder in Benjamins Sinn entleert haben, um als Mensch der Arbeit und der Modernisierung auf sie zurückzukommen. Rationalisierung hat bei Weber beide Seiten: die Entleerung und die neue, planerisch-umbauende Neubesiedlung. Benjamin betont im Kontext der Trauer die eine Seite, ohne die andere aus dem Blick zu verlieren. Genauer gesagt, ist Trauer als Haltung eine der möglichen Antworten auf die Lage der leeren Welt. Die eine Antwort ist die »Moral der kleinen Leute«.9 Diese Moral – ob sie ein Werk der »kleinen Leute« ist oder andere sie für die »kleinen Leute« erfunden haben, sagt Benjamin nicht – lehrt das Genügen an kleinen Aufgaben und Rechtschaffenheit im vorgegebenen Rahmen. Dieser barocken Version der Kleinbürgertheorie steht eine Art von Elitenprojekt gegenüber, das im Traurigsein des Trauerspiels zum Ausdruck kommt. Die Traurigen imaginieren die entleerte Welt als »Trümmerfeld halber, unechter Handlungen«. Mit einer Heidegger vorwegnehmenden Diktion sagt Benjamin: Die Traurigen »sahen sich in das Dasein« als in ein solches Trümmerfeld »hineingestellt«.10 Das Trauerspielbuch ist Benjamins Modernetheorie und seine Antwort auf Lukács’ Theorie des Romans. Noch deutlicher wird das in einem anderen Stück seiner Theorie des Traurigseins, das  7 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Gesammelte Schriften, Bd. I.1, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frank­furt/M. 1974, S. 202-430, hier S. 319.  8 Ebd., S.  317.  9 Ebd., S.  318. 10 Ebd.

58

Benjamin eine »Phänomenologie« nennt. Trauer ist das Gefühl, das der Welt, die entleert ist, entgegengebracht wird. Genauer gesagt – und mit dieser Präzisierung begründet Benjamin die Rede von einer Phänomenologie –, das Gefühl erhält vom Gegenstand seine Prägung. Es empfängt seine Bestimmung vom »gegenständlichen Aufbau der Welt«.11 Im Fall der Trauer, so war gesagt worden, ist dieser gegenständliche Aufbau der Welt der Aufbau einer entleerten Welt oder sogar die Arbeit des Aufbaus als etwas, das die Entleerung der Welt als seinen ersten Arbeitsschritt unternimmt. Im Zusammenhang dieser Passage ist es klar, dass Benjamin im realen und im metaphorischen Sinn an den Aufbau des Schauplatzes, die Bühne, denkt. Wie er in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt hatte, ist der Schauplatz seit der Renaissance zuerst eine leere Bühne, die mit Requisiten gefüllt werden kann und auf der Personen auftreten. Diese Bühne ist nicht nur der Ort, an dem sich die Moderne der leeren Welt zeigt, sondern auch das technische Mittel eines solchen Zeigens. »Trauer und Ostentation« lautet Benjamins Formel.12 Man könnte mit Blick auf den viel späteren Aufsatz über die technischen Medien der gegenwärtigen Moderne sagen: Hier zeigt sich die Technik der Moderne als Moderne der Technik. Wichtig ist, dass Traurigsein die Rezeptivität des Gefühls, das vom Aufbau der leeren Welt geprägt ist, mit einem aktiven Moment versetzt. Gefühle »erwidern« dem Aufbau der Welt »als motorisches Gebaren«. Sie sind eine »motorische Attitüde«. Trauer ist eine »Gesinnung«.13 In dem intentionalen Moment der Gefühle im Allgemeinen und der Trauer im Besonderen liegt der Ansatzpunkt zu einer Art von Affirmation. Deutlich wird das in der berühmten Formulierung, in der das stärkste Wort dieser Reihe – das Wort von der Gesinnung – steht: »Trauer ist die Gesinnung, in der das Gefühl die entleerte Welt maskenhaft neubelebt, um ein rätselhaftes Genügen an ihrem Anblick zu haben.«14 In der Gesinnung, so kann man das verstehen, erhalten die Sinne eine Grundlage der eigenen Beteiligung und Bestätigung. Diese rezeptive Affirmation ist verhaltener und sie ist subtiler als Lukács’ produktionsästhetisches »Bejahen« und »Gestalten«. Sie ist Affirmation der leisen Art. 11 Ebd. 12 Ebd., S.  319. 13 Ebd., S.  318. 14 Ebd.

59

Der Zuschauer, dessen Beteiligung am Schauspiel das Modell des Traurigseins als eines tätigen Vollzugs ist, hat die leere Welt, auf der die Personen auftreten, weder gewollt noch erschaffen. Aber er ist bereit, seine motorischen Antriebe dem Anblick des Aufbaus und des Aufgebauten auszusetzen. Hier wird Benjamin später im Aufsatz über die technische Reproduzierbarkeit weiterdenken. Mit dem Paradigma »Gebaren – Attitüde – Gesinnung« umspielt Benjamin im Hinblick auf Gefühle das, was die Phänomenologen mit Husserl eine Einstellung nennen. In der Einstellung öffnet sich das Bewusstsein (auf eigenen Antrieb hin oder auch einem kulturell gegebenen Verhaltensstil Folge leistend) in einer bestimmten Weise auf die Welt. Durch seine Theorie der Einstellungen, ihrer systematischen Unterschiede und ihres kulturellen Wandels, hat Husserl auf ganz eigene Weise dem Rechnung getragen, was in der Linie von Weber zu Lukács als Frage der Entfremdung, Rationalisierung und Verdinglichung aufgetreten war. Die kurze Anleihe Benjamins bei phänomenologischer Theoriesprache legt einen Seitenblick auf Husserl nahe. In einer typischen Formulierung der späten, im Umkreis der Krisis der europäischen Wissenschaften ausgearbeiteten Fassung der Theorie der Einstellungen lautet sie so: Einstellung, allgemein gesprochen, besagt einen habituell festen Stil des Willenslebens in damit vorgezeichneten Willensrichtungen oder Interessen, in den Endzwecken, den Kulturleistungen, deren gesamter Stil also damit bestimmt ist. In diesem bleibenden Stil als Normalform verläuft das jeweilig bestimmte Leben. Es wechselt die konkreten Kulturgehalte in einer relativ geschlossenen Geschichtlichkeit. In irgendeiner Einstellung lebt die Menschheit (bzw. eine geschlossene Gemeinschaft wie Nation, Stamm usw.) in ihrer historischen Lage immer.15

Mit der Einstellung stellt Husserl einen Begriff bereit, der wie ein Gelenk zwischen dem »Willensleben« und bestimmten Kulturund Wissenschaftsprojekten in ihren jeweiligen idealen Teleologien fungiert. Der Historismus oder Kulturalismus, die Gleichgültigkeit der Einstellungen ist nur eine Seite. Es ist die Seite, die den Begriff für die Geschichte verschiedenartiger »Stile« verfügbar macht. Auf der anderen Seite steht eine Geschichtlichkeit, die wie Webers 15 Edmund Husserl, »Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie«, in: Husserliana, Bd. 6, Haag 21976, S. 314-364, hier S. 326.

60

Rationalisierung nur zwei mögliche Zustände kennt. In Husserls Sprechweise sind das die beiden Geschichtlichkeit skandierenden Positionen der natürlichen und der theoretischen Einstellung. Mit ihnen ist in die Gleichartigkeit aller möglichen Einstellungen eine grundsätzliche Asymmetrie eingeführt: Die theoretische Einstellung macht in der Setzung des Stils, auf den sie sich richtet, die Negation des natürlichen Stils zur Voraussetzung. Die »theoretische Einstellung« bezieht sich »in ihrer Neuartigkeit zurück auf eine vorgängige, eine früher normale Einstellung, sie charakterisiert sich als Umstellung«.16 Es ist die Umstellung, die das Wesen der theoretischen Einstellung und sogar der Einstellung im Allgemeinen zum Ausdruck bringt. Jede theoretische Einstellung weist auf die Umstellung einer früheren Einstellung zurück; aber von einer früheren Einstellung zu sprechen macht nur Sinn – wird nur thematisch, wie Husserl sagt –, wenn man sich mit einer theoretischen Einstellung und darum mit der in ihr wirksamen Umstellung beschäftigt. Husserl unterscheidet, um diese Analyse möglich zu machen, Bewusstseinsfähigkeit und tatsächliches – »thematisches«  – Bewusstmachen. Jede Einstellung, auch die natürliche, kann bewusst gemacht werden. Wäre das nicht der Fall, könnte man nicht von Einstellung und dem Stil eines jeweils verfolgten Kulturtyps sprechen. Aber eine thematisch gemachte natürliche Einstellung gibt es nur im Moment ihrer Negation, in der Umstellung. »Das natürliche Leben charakterisiert sich […] als naiv geradehin in die Welt Hineinleben, in die Welt, die als universaler Horizont immerfort bewußt da ist, aber dabei nicht thematisch ist.«17 Die Umstellung, die das innere Antriebsmotiv der Einstellung ist, verbindet in exemplarischer Weise Negation und Position. Jede theoretische Einstellung ist Umstellung gegenüber einer natürlichen Einstellung; und jede neue Einstellung ist ihrer Art nach Umstellung gegenüber einer Einstellung, die dadurch im Rückblick als natürliche Einstellung bewusst wird. Das heißt nicht, dass die theoretische Einstellung in einem konstruktivistischen Sinne das dahingelebte Leben erfindet. Dieses Leben hat es immer gegeben, aber unthematisch und damit in seiner Verfassung als Einstellung sich selbst verschlossen. Insofern die Einstellung ein »habituell feste[r] Stil des Willenslebens« ist, gibt es also keine Einstellung ohne das negierende Moment in 16 Ebd. 17 Ebd., S.  327.

61

der Umstellung. Versteht man das Verlassen des selbstverständlichen Lebens in eine eigens gesetzte Kulturform und ein bestimmtes Wissenschaftsprojekt mit seinen anhängenden Idealitäten als Entfremdung vom dahingelebten Leben, dann trägt jede Einstellung als Umstellung Entfremdung in sich. Versteht man weiter das Thematischwerdenlassen eines festen Stils im Willensleben als dessen Affirmation, dann ist in Husserls Theorie der Einstellungen eine rein funktionale und durch neue Umstellungen jederzeit revidierbare Affirmation der Entfremdung enthalten.

3. Man kann sich keinen größeren Kontrast denken als den zwischen den beiden vorgestellten Beispielen: auf der einen Seite die stoische Affirmation der Trauer, die am Anblick der in ihrer technischen Zurichtung entleerten Welt ein eigentümliches Genügen hat;18 auf der anderen Seite die theoretische Einstellung, die im technischen und funktionalen Akt der Umstellung den Abschied vom Dahinleben thematisch macht und damit die Welt der ursprünglichen Selbstverständlichkeit darangibt und als nun bloße Umwelt hervortreten lässt. Im ersten Fall gilt die Affirmation der Hinnahme der Entfremdung (mit einem »Genügen«, das nicht mehr ästhetischer Art im engeren Sinn ist); im zweiten Fall gilt die Bejahung dem Vollzug der Entfremdung (mit dem Versuch, dessen Folgen in der höherstufigen Fortführung der Umstellungen in einer »phänomenologischen Einstellung« wieder einzufangen).19 Aber in beiden 18 Benjamin spricht im Anschluss an die besprochene Stelle ausdrücklich über den Neostoizismus des 17. Jahrhunderts: »Von der stoischen απαθεια zur Trauer ist nur ein Schritt […]. […] Die Ertötung der Affekte, mit der die Lebenswellen verebben, aus denen sie sich im Leibe erheben, vermag die Distanz von der Umwelt bis zur Entfremdung vom eigenen Körper zu führen.« (Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 319) 19 Husserl versucht die theoretische Einstellung durch eine neue Selbstthematisierung mit der Entfremdung zu versöhnen: »Denn sei sogleich gesagt, daß […] noch von keiner endgültigen ›Abschnürung‹ des theoretischen Lebens vom praktischen die Rede ist, bzw. von einem Zerfallen des konkreten Lebens des Theoretikers in zwei zusammenhanglos sich durchsetzende Lebenskontinuitäten […]. Denn es ist noch eine dritte Form der universalen Einstellung möglich […].« (Husserl, »Die Krisis des europäischen Menschentums«, S. 329) In der späteren

62

Fällen sind Bejahung und Gestaltung der Formanstrengung – um Lukács’ Worte zu gebrauchen – mit dem Abbruch der Beziehung zum dahingelebten Leben in eins gesetzt. Gibt es eine dritte Möglichkeit – ein Verhalten zur Entfremdung, das nicht stoische Hinnahme und nicht technischer Vollzug der Umstellung ist, sondern ein Hinabreichen in den Grund der Entfremdung; eine Möglichkeit, die mit Entfremdung verfährt, ohne ihren Vollzugsmoment zu affirmieren? Der Erzähler in Thomas Manns Zauberberg zögert, Hans Castorp einen Durchschnittsmenschen zu nennen.20 Wenn man davon ausgeht, dass der Roman ein Roman der Institution, des Sanatoriums, ist, wo Hans Castorp eine neue Lebensform antrainiert wird,21 dann bleibt die Frage, ob und in welchem Sinn er Held und tragende Person der Geschichte sein kann. Darauf antwortet der Erzähler für die Figur, wenn er über Castorps Durchschnittlichkeit nachdenkt. Weder das Urteil, Hans Castorp sei durchschnittlich, noch das gegenteilige Urteil sei – so der Erzähler – eine Frage der Bildung oder Intelligenz. Es gehe um das Verhältnis zwischen »dem einzelnen Menschen«, dem »mancherlei Ziele, Zwecke, Hoffnungen, Aussichten vor Augen schweben, aus denen er den Impuls zu hoher Anstrengung und Tätigkeit schöpft«, und dem »Unpersönliche[n]«, das Zeichen der Zeit – der gegenwärtigen Zeit  – sei.22 Durchschnittsein wäre es, als einzelner Mensch dem Unpersönlichen zu unterliegen. Das Unpersönliche ist nicht nur die Negation der besonderen Ziele, Zwecke, Hoffnungen und Aussichten einer Person, sondern die Negation, als Individuum Ambitionen zu haben. Zuerst lehnt es der Erzähler ab, Castorp als durchschnittlich einzuschätzen. Castorp habe es nicht nötig gehabt, sich im Realgymnasium bei Erledigung der Aufgaben zu überanstrengen. Ausarbeitung der Krisis heißt die dritte Einstellung dann die phänomenologische Einstellung. In einem nicht ableitbaren Willen zur Konversion fasst diese dritte Einstellung die Theorie in ihrer Beziehung zur Praxis in den Blick. 20 Thomas Mann, Der Zauberberg. Roman, Frank­furt/M. 172004, S. 49-51. 21 Rüdiger Campe, »Body and Time. Thomas Mann’s Magic Mountain«, in: Stefan Börnchen u. a. (Hg.), Thomas Mann. Neue kulturwissenschaftliche Lektüren, München 2012, S. 213-232. 22 Mann, Zauberberg, S. 50.

63

[A]ber dies zu tun, wäre er auch ganz bestimmt unter keinen Umständen und um keines Gegenstands willen geneigt gewesen: weniger aus Furcht, sich weh zu tun, als weil er unbedingt keinen Grund dazu sah oder, richtiger gesagt: keinen unbedingten Grund; und eben darum vielleicht mögen wir ihn nicht mittelmäßig nennen, weil er das Fehlen solcher Gründe auf irgendeine Weise empfand.23

Gleich darauf stellt der Erzähler die Frage noch einmal in umgekehrter Weise. Wenn die Zeit, in der der einzelne Mensch lebt, »auf die Frage Wozu? eine befriedigende Antwort nicht weiß«, erfordere es »eine sittliche Einsamkeit und Unmittelbarkeit […] oder eine sehr robuste Vitalität«, eine außerordentliche Leistung zu erbringen.24 Das sei bei Castorp nicht der Fall, weshalb er für den Erzähler doch zum Mittelmaß zählt. Das Nebeneinander beider Diagnosen ist keine Unentschiedenheit. Die Gründe für das Zu- und das Absprechen des Mittelmaßes, denen zufolge die Hauptperson Hans Castorp dem Unpersönlichen »unserer Zeit« unterliege, widersprechen sich nicht. Das Eigene und Unbedingte, das unter der entfremdenden Herrschaft der Unpersönlichkeit für Castorp als Grund für die Tat unerreichbar bleibt, kann ihm dennoch als Empfindung für das Fehlen des Grundes gegeben sein. Dass er in einer Zeit, die »auf die Frage Wozu? eine befriedigende Antwort nicht weiß« »das Fehlen solcher Gründe auf irgendeine Weise empfand«, macht Hans Castorps Leben auf dem Berghof zur indirekten Affirmation einer Entfremdung, die sich ihm als Fehlen des Unbedingten anzeigt.25 Der Einsatz des Erzählers und seines Verhältnisses zur epischen Figur – und damit die Möglichkeit des Romans – ist das Fehlen der unbedingten Gründe und die Zugänglichkeit ihrer Unzugänglichkeit. Nur Erzähler wissen das von ihren Figuren. Nur erzählte Personen haben einen, der das für sie sagt. Das ist der Kernsatz der Theorie eines Romans, den Lukács zu der Zeit, als er seine Abhandlung schrieb, noch nicht lesen konnte, in dem er aber als Person vorkommt. 23 Ebd., S.  49. 24 Ebd., S.  50. 25 Der Erzähler nimmt die Diskussion noch einmal auf, wenn sich Castorp Claudia Chauchats »durch die Krankheit […] noch einmal zum Körper gemachter Körper« aufdrängt. Sexuelle Erregung tritt an die Stelle des »unbedingten Grundes«, nach dem zu fragen die Epoche ihm nicht erlaubt (ebd., S. 319).

64

Katrin Trüstedt Alienation und Affirmation.  Die Komödie der Negativität in Heiner Müllers Hamletmaschine OPHELIA: Willst Du mein Herz essen, Hamlet. Lacht.

Heiner Müller, Hamletmaschine

Entgegen der Tendenz, Heiner Müller als Tragiker und seine Hamletmaschine als Tragödie zu deuten, will ich diese im Folgenden als eine spezifische Form von Komödie lesen – eine Komödie, die dabei gleichzeitig eine bestimmte Gegenwart der Tragödie in sich enthält. Müller selbst wollte sein Stück in erster Linie als Komödie verstanden wissen: »Wenn man die HAMLETMASCHINE nicht als Komödie begreift, muß man mit dem Stück scheitern.«1 Wenn die Hamletmaschine hier als Komödie gelesen werden soll, dann aber gerade als eine solche, die eine innerliche Beziehung zu einer Tragödie unterhält, die als vergangene im Stück gegenwärtig bleibt. Das Stück setzt ein mit den Ruinen Europas, die diesem die Bühne bereiten: »Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa.«2 Die Hamletmaschine beginnt also in einem spezifischen Zustand nach der Tragödie, der Tragödie, die Hamlet gewesen sein wird: »Ich war Hamlet.« Statt eine erneute Tragödie nach der Tragödie aufzuführen, findet mit der Hamletmaschine eine Komödie der Tragödie (eben der von Hamlet) statt; der europäischen Tragödie wird eine Komödie des europäischen Theaters selbst gegenübergestellt. Wenn das griechische Theater an die Stelle des Rituals getreten ist, um im Heraustreten aus dem Ritual gleichzeitig dessen Stelle zu vertreten, so scheint hier auf ähnliche Weise eine Komödie an die Stelle der Tragödie und ein Theaterexperiment an die Stelle des Theaters zu treten, die sie ersetzen und als Vergangene gleichzeitig noch ein1 Heiner Müller, Gesammelte Irrtümer. Interviews und Gespräche 1, Frank­furt/M. 1986, S. 115. 2 Heiner Müller, Hamletmaschine, in: ders., Werke 4. Stücke 2, Frank­furt/M. 2001, S. 549-551, hier S. 545.

65

mal hervorbringen. Dieses Experiment einer Komödie macht den Versuch, die Negation und Alienation der Tragödie aufzugreifen und trotzdem – gerade im Angesicht von und durch Negation und Alienation hindurch – ein Theater der Affirmation zu ermöglichen. Wenn die Hamletmaschine als Komödie verstanden werden soll, dann als eine Komödie, die eine Affirmation der Negativität selbst auf die Bühne bringt. Das Stück spielt, so meine Lektüre, drei Arten einer Affirmation der Negativität, einer Bejahung der Entfremdung durch und setzt sie auf der Bühne ins Verhältnis: zum einen »Hamlet« als die Treue zur verlorenen Tragödie (»Ich war Hamlet«3); zum zweiten »Ophelia« als Bejahung der Zerstörung (»Nieder mit dem Glück der Unterwerfung. Es lebe der Haß, die Verachtung, der Aufstand, der Tod«4); und schließlich das »Scherzo«, das als komisches Spiel mit diesen beiden Modi und ihren Möglichkeiten als Theater gleichzeitig über sie hinausgeht. Im Sinne dieser drei Spielarten kann man Müllers Hamletmaschine als Versuch einer Antwort auf die Frage verstehen, wie Negativität selbst affirmiert werden kann – wie man Negativität nicht nur als Mittel oder Übergang zur Positivität funktionalisieren, sondern selbst bejahen und dadurch gleichzeitig aus dem Verhängnis des Negativen, der Vorstellung von der Negativität als Verhängnis lösen kann. Während Hamlet (bzw. der Hamletdarsteller) in seiner Treue zur Negativität sie nur so zu affirmieren versteht, dass er resignativ in ihr verharrt, bejaht und steigert Ophelia die Negativität bis zum Punkt ihrer Selbstauslöschung. »Hamlet« und »Ophelia« führen also zwei je verschiedene Formen einer Affirmation der Negativität vor, die letztlich aporetisch bleiben, ohne die Negativität durch ihre Affirmation gleichzeitig wenden zu können. Das Scherzo bezieht sich so auf diese beiden Figuren der resignativen und der destruktiven Affirmation, dass es möglich wird, sich in der Negativität selbst noch zu bewegen; Negativität durch ihre Affirmation nicht zu überwinden, aber zu überschreiten; sie also so zu affirmieren, dass sie freigesetzt und das heißt: auch sich selbst gegenüber frei wird. Müllers Hamletmaschine zelebriert eine Affirmation der Negativität, die in der Affirmation von ihr ablassen kann, ohne sie hinter sich zu lassen. 3 Ebd, S. 545, Hervorhebung K.T. 4 Ebd., S.  554.

66

I. »Hamlet« oder die Treue zur verlorenen Tragödie HAMLETDARSTELLER: Ich bin nicht Hamlet.

Ich spiele keine Rolle mehr. Heiner Müller, Hamletmaschine

Die Hamletmaschine setzt mit der Markierung einer Vergangenheit ein: »Ich war Hamlet.« Sie setzt Hamlet in diesem Sinne als Tragödie voraus – genauer: als eine Tragödie der Reflexion, die die Tragik zwar durch Reflexion distanzieren kann, aber dadurch zu neuer Tragik führt.5 Vor diesem Hintergrund ist Müllers Hamlet die tragikomische Figur, die diese Konstellation nicht mehr spielen, ihr aber auch nicht entrinnen kann. Wenn Hamlet die Tragik aussetzt, indem er reflexiv mit ihr spielt und sie spielend ausstellt, womit er als Skeptiker neue Tragik produziert, so scheint Müllers Hamlet/Hamletdarsteller nicht mehr spielen zu können oder zu wollen, eben dies aber als Theaterspiel vorzuführen: Der Hamletdarsteller kann nicht Hamlet spielen, er kann aber auch nicht nicht Hamlet spielen – das ist seine »Tragödie«, die gleichzeitig immer wieder dazu tendiert, in eine Komödie zu kippen. HAMLETDARSTELLER: […] Mein Drama findet nicht mehr statt. Hinter

mir wird die Dekoration aufgebaut. Von Leuten, die mein Drama nicht interessiert, für Leute, die es nichts angeht. Mich interessiert es auch nicht mehr. Ich spiele nicht mehr mit. […] Mein Drama hat nicht stattgefunden. Das Textbuch ist verlorengegangen. Die Schauspieler haben ihre Gesichter an den Nagel in der Garderobe gehängt. In seinem Kasten verfault der Souffleur. Die ausgestopften Pestleichen im Zuschauerraum bewegen keine Hand. Ich gehe nach Hause und schlage die Zeit tot, einig / Mit meinem ungeteilten Selbst.6

Wenn Hamlet (bzw. der Hamletdarsteller) »nicht Hamlet« ist, so ist er doch auch nicht »nicht Hamlet«, denn er ist nichts anderes Bestimmtes – er spielt keine andere Rolle, ist weder Frau noch Ma5 Vgl. Christoph Menke, Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, Frank­furt/M. 2005, S. 161-178. 6 Müller, Hamletmaschine, S. 549-551.

67

schine (was er im Scherzo sein beziehungsweise werden will), zeigt aber auch nicht etwa den privaten Schauspieler hinter der Rolle. Der Hamletdarsteller spielt die Rolle Hamlet ebenso wenig, wie er ihr als Hamletdarsteller entrinnen kann. So bleibt er der Figur Hamlet, die er nicht mehr spielt, die aber in sich bereits die Spannung dieser Konstellation trägt, letztlich doch treu: eine Affirmation der Tragödie, keine Tragödie mehr zu haben. Tragödie heißt nach Hegel, ein bestimmtes Schicksal zu haben, einseitig und blind. Für die Moderne nimmt das die Form an, durch den eigenen Charakter schicksalhaft festgelegt zu sein, wofür gerade Hamlet und Macbeth exemplarisch einstehen sollen. Komödie dagegen bedeutet nach Hegel, seine Rolle wie eine Maske abnehmen, reflektieren und wechseln zu können. Wenn Hamlets Tragödie bereits darin besteht, nicht einfach, wie Hegel meint, einem Charakter – und sei es dem eines Zweiflers – als Schicksal ausgeliefert zu sein, sondern durch Reflexion die Tragik der Einseitigkeit auszusetzen, dadurch aber neue (verschärfte) Tragik zu schaffen, dann ist es genau diese Konstellation, die dazu führt, dass der Hamletdarsteller nicht mehr spielen kann und will, ohne dadurch der Tragödie Hamlets entkommen zu können. Der Darsteller scheint das Schicksal Hamlets noch zu überbieten, da er einer anderen Rolle aus einem anderen Stück (nämlich Shakespeares Hamlet), die er nicht spielen und nicht nicht spielen kann, dennoch schicksalhaft verbunden bleibt. Diese besondere und verschobene Art einer Gegenwart der Tragödie tendiert bereits dazu, ihre komödienhafte Innenseite hervorzukehren. Einsprengsel wie das anfängliche BLABLA unterbrechen und verlängern einen Diskurs von Vergänglichkeit und Vergeblichkeit, Resten und Ruinen auf eine Weise, die selbst resignativ-depressiv, aber gleichzeitig auch komisch wirken kann. Noch dieser Effekt des BLABLA verweist zurück auf Shakespeares Hamlet und dessen Reflexion auf die Medialität der Literatur selbst (»POLONIUS […] Was leset Ihr, mein Prinz? HAMLET Worte, Worte, Worte.«7). Müllers Hamlet ist, wie Shakespeares, nicht nur tragische Figur, sondern auch Clown (»ZWEITER CLOWN IM KOMMUNISTISCHEN 7 William Shakespeare, Hamlet, übersetzt v. August Wilhelm von Schlegel, Stuttgart 1969, hier II.2.191 f.

68

FRÜHLING«8). Es ist gerade das Clowneske Hamlets, das auf die Bedingungen der Möglichkeit des Theaters selbst reflektiert. Dies gilt nicht nur bereits für Shakespeares Hamlet, sondern in anderer Weise auch für Heiner Müllers Philoktet, von dem Müller schreibt: »Komik in der Darstellung provoziert die Diskussion seiner Voraussetzungen [des Ablaufs, K. T.]. Nur der Clown stellt den Zirkus in Frage. Philoktet, Odysseus, N ­ eoptolemos: drei Clowns und Gladiatoren ihrer Weltanschauungen.«9 Als Clown ist Hamlet kein individueller Held einer Tragödie, gebunden an sein Schicksal (das in der modernen Tragödie sein individueller Charakter wäre), sondern ein Typus, der darüber hinaus Teil einer Serie ist (ZWEITER CLOWN). Hamlets Rosencrantz und Guildenstern könnten jeweils ZWEITER CLOWN sein, die in guter Komödientradition immer im Doppelpack auftauchen (siehe etwa auch die Narrenfiguren der Commedia dell’Arte) und die Hervorhebung des individuellen Helden der Tragödie unterlaufen. Müller hatte die beiden im Scherzo in seinem Manuskript unter »Universität der Toten« aufgeführt.10 Als besondere moderne Tragödie, die darin liegt, keine Tragödie mehr zu haben und ihr doch nicht entkommen zu können, birgt Hamlet also bereits die Komödie in sich, als Spiel, mit Benjamin: als »reine[r] Spaß«, »die obligate Innenseite der Trauer, die ab und zu wie das Futter eines Kleides im Saum oder Revers zur  8 Müller, Hamletmaschine, S. 545.  9 Heiner Müller, »Drei Punkte [Material zu Philoktet]«, in: ders., Mauser, Berlin 1978, S. 72 f., hier: S. 73. Vgl. hierzu auch Menke, Gegenwart, S. 204: »Die Figuren in Philoktet sind nicht nur ›Gladiatoren‹, die einander für ihre Ziele und Werte bis zum Tod bekämpfen. Sie sind ebenso ›Clowns‹, die genau das (nur) vorspielen – dramatische Realisierungen des schauspielenden Bewußtseins.« Und weiter: »Die Haltung der Reflexivität, die sie beide [Odysseus wie Philoktet, K. T.] gewonnen haben, bringt aber die Konflikte zwischen ihnen nicht zum Verschwinden. Im Gegenteil: Zwischen ihnen bricht ein Konflikt hervor, der sich strukturell von dem der traditionellen Helden unterscheidet, der ihn an tragischer Ausweglosigkeit aber noch überbietet. Denn der Konflikt zwischen Odysseus und Philoktet ist ein Konflikt durch, ja, aus Reflexion. Die Tragik ihres Konflikts ist mithin ein Resultat ebenderjenigen Haltung, die, gespeist aus der Kraft spielerischen Selbstbewußtseins, die Tragik von Konflikten auflösen sollte.« (ebd., S. 208) 10 Heiner Müller, Manuscrits de Hamlet-machine, transkrib. v. J. Bernhard, übers. v. J. Jourdheuil, H. Scharzinger, Paris 2003, S. 62.

69

Geltung kommt«,11 oder mit Müller: als die »Farce im ›Bauch‹ der Tragödie«.12 II. »Ophelia« oder die Bejahung

der Zerstörung

Man muss einfach radikalisieren. Heiner Müller, auf einer Probe von Hamletmaschine am DT, 14. 2. 199013

Während der Hamletdarsteller in der Vergangenheitsform spricht (»Ich war Hamlet«; »Ich war Macbeth«14), tritt Ophelia im Präsens und in aktiver Form in Erscheinung: »Ich bin Ophelia«; und später: »Hier spricht Elektra.«15 In ihrer Rede dominieren die aktiven Verben: ich verwandle, ich ersticke, ich begrabe. Wildharrend / In der furchtbaren Rüstung / Jahrtausende Tiefsee. Ophelia im Rollstuhl. Frische Trümmer Leichen und Leichenteile treiben vorbei. Ophelia während zwei Männer im Arztkittel sie und den Rollstuhl von unten nach oben in Mullbinden schnüren: Hier spricht Elektra. Im Herzen der Finsternis. Unter der Sonne der Folter. An die Metropolen der Welt. Im Namen der Opfer. Ich stoße allen Samen aus, den ich empfangen habe. Ich verwandle die Milch meiner Brüste in tödliches Gift. Ich nehme die Welt zurück, die ich geboren habe. Ich er­ sticke die Welt, die ich geboren habe, zwischen meinen Schenkeln. Ich begrabe sie in meiner Scham. Nieder mit dem Glück der Unterwerfung. Es lebe der Haß, die Verachtung, der Aufstand, der Tod. Wenn sie mit 11 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Gesammelte Schriften, Bd. I.1, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frank­furt/M. 1980, S. 203-409, hier S. 304. 12 Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiografie, Köln 1992, S. 344. 13 Martin Linzer, Peter Ullrich (Hg.), Regie: Heiner Müller. Material zu Der Lohndrücker 1988, Hamlet/Maschine 1990, Mauser 1991, Berlin 1993, S. 112. 14 Müller, Hamletmaschine, S. 545, 552. 15 Ebd., S. 547, 554.

70

Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen. Männer ab. Ophelia bleibt auf der Bühne, reglos in der weißen Verpackung.16

Ophelia gilt als aktiver Revolutions-Gegenpart zum resignativen Intellektuellen Hamlet, gespeist von so unterschiedlichen Hintergrundfiguren wie Rosa Luxemburg oder Ulrike Meinhof. Aber auch »Ophelia« – weit davon entfernt, eine bestimmte individuelle Rolle mit Innenleben zu sein (es ist »OPHELIA [CHOR / HAMLET]«, die sagt [oder die sagen]: »Ich bin Ophelia«) – bejaht aktiv vor allem die Negation. Statt der Gewalt eine dialektische Rolle des Mittels in der Erreichung einer (dann gewaltlosen) Welt zuzuschreiben, scheint sie vielmehr die Gewalt und den Akt der Negation selbst zu bejahen: Die Befreiung und der Aufstand drücken sich als Zerstörung des Glücks der Unterwerfung aus und enden mit der Affirmation des Todes: »Nieder mit dem Glück der Unterwerfung. Es lebe der Haß, die Verachtung, der Aufstand, der Tod.« Auch die parataktische Form der Aneinanderreihung von fragmentierten Hauptsätzen, die Ophelias Rede bestimmt, scheint nicht auf eine Entwicklung hin zu etwas anderem zu verweisen. Robert Wilsons Hamburger Inszenierung der Hamletmaschine unterstreicht diesen Effekt unter anderem durch mechanisches Sprechen und erstarrende Gesten. Im Aufbegehren gegen die Unterwerfung erschafft Ophelia/ Elektra keine neue Welt, Ophelia/Elektra nimmt vielmehr buchstäblich die Welt zurück und greift damit einen bekannten Zug von Müllers Frauenfiguren auf (»Ich nehme die Welt zurück, die ich geboren habe«17). Die Sprecherin, als Teil jener Welt, nimmt sich damit nicht nur performativ selbst zurück, sondern macht damit noch die Bedingung der Möglichkeit, diesen Satz zu sprechen, zunichte. Die Paradoxie einer solchen Affirmation hat Thomas Schestag mit Blick auf Kant und dessen Lektüre von Hiob als eine bestimmte Art von Komik beschrieben: Wenn sich Gott an Hiob wendet – »dich – den ich gemacht habe – zu töten« –, dann spricht er sich das unumschränkte Vermögen zu töten zu, das in dem unmöglichen Satz »ich habe mich getötet« gipfeln muss, ein Satz, zu dem er erst autorisiert wäre, wenn er ihn nicht mehr sagen könn16 Ebd., S. 553 f. 17 Ebd., S.  554.

71

te. »Komische Authentizität« nennt Schestag dies.18 Ophelias Satz Ich nehme die Welt zurück, die ich geboren habe, der sich auf eine ähnliche Paradoxie zubewegt, vollzieht die unmögliche Bewegung des Zurücknehmens selbst, die aktive Bewegung der Negation der eigenen Sprecherposition. Dass es sich hierbei um einen Akt des Sprechens auf der Bühne handelt, der dabei wiederum gerade nicht vollzogen, sondern »nur« gesprochen wird, vertieft die (potentiell komische) Paradoxie. Mit der Rache-Figur Elektra – wird sie von Ophelia gespielt? von der Opheliadarstellerin? ist Ophelia Elektra? – übernimmt die Frau den Stab und verkehrt die tradierte Rollendynamik der Geschlechter. Sie schreibt die Tragödie von Ophelia um, die, wie man sagen könnte, von Hamlet instrumentalisiert wurde, um sich in einer noch »tieferen« geistigen Reflexion über die Nichtigkeit der Welt ergehen zu können. Hier übernimmt nun Elektra/Ophelia die Regie und zeigt Hamlet und uns, wie eine Affirmation der Negation aussehen könnte, die nicht dialektisch in ihr Anderes übergeht, sondern auf der Negation insistiert. Mit Ophelias Verkehrung der Gender-Verhältnisse und der Rolle der Gewalt gehen weitere Umkehrungen einher. Elektras »Im Herzen der Finsternis« zitiert Joseph Conrad und scheint mit »Unter der Sonne der Folter« (ein Zitat von Jean-Paul Sartre aus dessen Vorwort zu Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde19) eine Art Theater der Grausamkeit der Kolonisierten des globalen Südens zu eröffnen. »An die Metropolen der Welt« scheint implizit vom Standpunkt der – von den Metropolen ausgeblendeten – Kolonien aus zu sprechen: »Im Namen der Opfer«. Mit dieser Position nimmt Ophelia/Elektra nicht nur dem Mann, sondern dem europäischen Intellektuellen Hamlet den Stab aus der Hand und kehrt die etablierte Besetzung und Dynamik von Subjekt/Objekt, aktiv/ passiv um.20 Selbst die reglose Pose Ophelias, mit der das Stück endet, wird zu Beginn des letzten Aktes mit dem hölderlinschen 18 Thomas Schestag, »Komische Authentizität«, in: Ralf Simon (Hg.), Theorie der Komödie – Poetik der Komödie, Bielefeld 2001, S. 141-156, hier S. 147. 19 Vgl. Jean Jourdheuil, »Die Hamletmaschine«, in: Hans-Thies Lehmann, Patrick Primavesi (Hg.), Heiner Müller Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart 2003, S. 221-227, hier S. 226. 20 Vgl. dazu Georgina Paul, Perspectives on Gender in Post-1945 German Literature, Rochester, NY 2009, S. 189-200.

72

»Wildharrend« als exzessiv noch in der Passivität gekennzeichnet. Mit ihrer Exzessivität feiert Ophelia/Elektra die Negation und tanzt – im Scherzo buchstäblich – den Tanz der toten Frauen, in der Universität der Toten. Die Komödie zeigt sich bei Ophelia anders als bei Hamlet weniger in komischen Einsprengseln als vielmehr in der Überschüssigkeit und Feier einer sich selbst widersprechenden radikalen Affirmation von Negation. Während Hamlet sich in sein geteilt-ungeteiltes Selbst zurückzieht, das er nicht einfach einnehmen, aber auch nicht einfach verlassen kann, überschreitet Ophelia sich selbst. Als Elektra feiert sie eine exzessive Bejahung der Verneinung, über sich und vermeintliche Ziele einer Revolution hinausschießend. Auch Ophelia reiht sich damit in eine Komödientradition ein, die von zügellosem Spiel, unproduktiver Feier und leerem (ziellosem) Spektakel gekennzeichnet ist. »An die Metropolen der Welt« zielt neben einer (post-)kolonialen Konnotation auch auf den Effekt einer überschüssigen Adressierung und größenwahnsinnigen Selbstermächtigung. Die hyperbolische Adressierung impliziert dabei gleichzeitig eine auditive Technik (eines Tele- oder Megaphons), die die lebendige gesprochene Stimme im Hier und Jetzt – Organ des Theaters par excellence – vermittelt, entkörpert und als lebendige technisch wiedergibt.21 Die Form der unspezifischen Bejahung (von Verneinung) scheint damit auch die mediale Technik des Theaters selbst zu affirmieren, die einerseits die lebendige gesprochene Stimme im Hier und Jetzt scheinbar unvermittelt zelebriert, die die Teilung des Raumes überwindet; die dabei andererseits immer schon vermittelt ist, wenn eine Schauspielerin nicht als und für sie selbst, sondern einen geschriebenen Text eines Anderen spricht und dieses Sprechen sich potentiell immer wieder (in anderen Aufführungen) wiederholen kann. Ophelias Affirmation scheint das Theater in diesen seinen Bedingungen gleichzeitig zu bejahen und potentiell in ihrer Exzessivität momenthaft zu sprengen. Als mediale Theaterstimme findet Ophelia anstelle der Feier der Götter statt und feiert die menschliche – endliche wie mediatisierte – Stimme als Organ des Theaters als neuen Ort einer – menschlichen, endlichen und mediatisierten – Gemeinschaft,22 21 Vgl. Bettine Menke, Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, München 2000. 22 Vgl. Jean-Luc Nancy, »Theaterereignis«, in: Nikolaus Müller-Schöll (Hg.), Er-

73

die auf einem gemeinsamen Hier und Jetzt ebenso beruht wie auf der Trennung und Differenz zwischen Bühne und Zuschauerraum, Schauspieler und Rolle, der Zeit des gespielten Dramas und der Theaterzeit. Ophelias Stimme scheint diese Differenzen ebenso zu markieren wie zu überschreiten. III. Scherzo Die Monologe sind das Drama, dazwischen Witze Heiner Müller zu Hamlet23

Wenn die Struktur des Stückes aus einer Abfolge von Monologen besteht, die vom Scherzo unterbrochen werden (Hamlet – Ophelia  – Scherzo – Hamletdarsteller – Ophelia/Elektra), so scheint darin einerseits eine Bewegung von Hamlet zu einem Nach der Tragödie – der Komödie Ophelias? – angelegt zu sein. Die Hamletmaschine wäre eine weitere Maschine der Überwindung der Tragödie, wie sie auf unterschiedliche Weise von Hegel, Nietzsche, Benjamin und anderen beschrieben wurde. In der tradierten Lesart bedeutete dies eine Bewegung von Negation (oder Resignation) hin zu Affirmation (oder Revolution), von Widerstreit (oder Kollision) zu Fest (oder Versöhnung), wobei diese Positionen selbst jeweils in sich bereits kompliziert sind und das jeweils andere schon in sich tragen können. Die Struktur des Stücks hat andererseits aber auch eine zyklische Anmutung, womit die Überwindung der Tragödie nicht das letzte Wort behielte, sondern von Neuem zur Tragödie zurückführen würde: Gegenwart der Tragödie. Vor allem aber gerät in dieser Lesart aus dem Blick, dass die Struktur um das Scherzo herum organisiert ist, das als Herzstück der Hamletmaschine die Abfolge der Monologe Hamlet – Ophelia – Hamletdarsteller – Ophelia/Elektra unterbricht und verbindet, verbindet und unterbricht. Wenn Hamletmaschine aus Monologen besteht, ist das Scherzo nicht etwa ein Dialog zwischen Hamlet und Ophelia, sondern eher ein Witz (»Die Monologe sind das Drama, dazwischen Witze«, so Müller). Das Scherzo ist damit eignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien, Bielefeld 2003, S. 323-330. 23 Linzer/Ullrich, Regie: Heiner Müller, S. 89.

74

so etwas wie die shakespearesche Mausefalle (deren Platz in Müllers eigener Hamlet-Inszenierung die ganze Hamletmaschine eingenommen hatte). Als ein Spiel-im-Spiel ist das Scherzo in diesem Sinne ausgestellte Theatralität. Es erprobt eine dritte Form der Affirmation, die über die resignative oder destruktive Affirmation der Negativität, »Hamlet« oder »Ophelia«, hinausführt. Das Scherzo vollzieht eine Affirmation ebenjener Alienation, die in der Paradoxie Ophelias der Spaltung Hamlets gegenüberstand, und affirmiert dabei gleichzeitig das Theater selbst auf eine nochmals neue Weise. Als Scherzo kehrt das Mittelstück des Spiels nicht nur die Komödie hervor, die dem ganzen Stück schon wie eine Innenseite einbeschrieben ist. Es lässt sich gleichzeitig auch als eine Art MetaKommentar des Stückes selbst und seiner Beziehung zur Theatergeschichte im Allgemeinen und zu Hamlet im Besonderen verstehen. Hans-Thies Lehmann, Jean-Luc Nancy und andere haben beschrieben, wie die griechische Tragödie aus dem Kultus herausgetreten und an dessen Stelle stattgefunden hat, die Abwesenheit der Götter sowohl verdeckend als auch heraushebend. Auf eine verwandte Weise scheint die Hamletmaschine anstelle von Hamlet (wie von Elektra) stattzufinden: an seinem Ort (dem Theater) die Abwesenheit der dramatischen Personae (wie auch das Fehlen der anderen Elemente des dramatischen Theaters) gleichzeitig zu verdecken wie auszustellen. Das Scherzo als Spiel-im-Spiel scheint die Hamletmaschine als diejenige Komödie, die an-stelle der Tragödie stattfindet, aus ihr heraustritt und sie gleichzeitig evoziert, selbst noch einmal eigens zu verkörpern. Es ist diese ebenso verdeckende wie exponierende Stellvertretung, die das Scherzo selbst auf die Bühne bringt. Galerie (Ballett) der toten Frauen. […] OPHELIA Willst Du mein Herz essen, Hamlet. Lacht. HAMLET Hände vorm Gesicht: Ich will eine Frau sein. Hamlet zieht Ophelias Kleider an. […] Der Tanz wird schneller und wilder. Gelächter aus dem Sarg.24

Scherzo ist ein aus dem mittelhochdeutschen Wort »›scherzen‹ (= fröhlich springen, sich vergnügen; Herkunft unsicher)« abgeleitetes italienisches Lehnwort,25 das im musikalischen Kontext einer24 Müller, Hamletmaschine, S. 548. 25 Uwe Harten, Rudolf Flotzinger, Art. »Scherzo«, in: Österreichisches Musiklexi-

75

seits für einen schnellen Mittelsatz in Instrumentalzyklen als auch andererseits als Bezeichnung für einen Modus beziehungsweise als Interpretationsanweisung verwendet wurde (Scherzo, Scherzando und Ähnliches = scherzend).26 Dabei dominiert eine »tänzerisch ›hüpfende‹ Bewegung, mit der Zeit nehmen rhythmische Eigenwilligkeit, Tempo und charakteristische Ausprägung (meist im 3/4bzw. 3/8-Takt) zu«.27 Scherzo evoziert also einerseits einen Einschub – die komischen Einsprengsel, die puns der shakespeareschen Hamlet-Tragödie (als Witze »zwischen den Monologen«), die Lazzi der Commedia dell’Arte – und andererseits einen bestimmten Modus: komödienhaft, leicht, verspielt, dynamisch und eigenwillig, der – wie die Innenseite der Trauerspiele – als Potential immer gegenwärtig ist und einen Umschlag aus der Tragödie in die Komödie ermöglicht. Beide Strukturmomente – der Charakter des Einschubs und der (Wechsel des) Modus – entsprechen dem zentralen Platz des Scherzo innerhalb der Serie von Monolog-Fragmenten von Hamlet und Ophelia. Die Abfolge der Monologe, unentschieden zwischen wiederholter Entwicklung und Zyklus, hinterlässt das Stück ohne eindeutige Entwicklungsrichtung. Im parataktischen Nebeneinander von Hamlet und Ophelia sieht das Stück stattdessen in seiner Mitte ein eigenes Fragment vor, das dem Umschlagen selbst gilt. Das Scherzo, so die These, führt nicht einfach eine Komödie auf, es zelebriert das Theater als Komödie. Im Scherzo sagt Hamlet, dass er eine Frau sein will, wird als Frau verkleidet und tanzt; im Scherzo ertönt Gelächter aus dem Sarg, und der Tanz wird schneller und wilder; und im Scherzo lacht Ophelia. Die Komödie, die in diesem Scherzo gefeiert wird, ist die Komödie der Negativität, die in Hamlet und Ophelia eine resignative und eine destruktive Gestalt angenommen hat. Das Lachen des Scherzo wendet sich von der Negativität des Schicksals und der des Aufstands, vom Glück der Unterwerfung und vom Totentanz des Aufstands nicht einfach ab; aber es stellt diesen Affirmationen der Negativität eine andere kon online 〈https://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_S/Scherzo.xml〉, letzter Zugriff 1. 5. 2018. 26 Vgl. Heinrich Christoph Koch, Musikalisches Lexikon, Frank­furt/M. 1802, Sp. 1296. 27 Harten/Flotzinger, »Scherzo«; vgl. hierzu auch den Eintrag zu »Scherzo« in: Ludwig Finscher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Kassel u. a. 2003, Sp. 1054-1063.

76

Affirmation zur Seite: eine Affirmation der Alienation von »Hamlet« und »Ophelia«, »Hamletdarsteller« und »Ophelia/Elektra«, ein überschüssiges Spiel mit ihrer entfremdeten und geteilten Kondition, die im Lachen gleichzeitig gehalten und gelöst wird. Ophelias Lachen im Scherzo scheint die Stimme des Theaters auf spezifisch komödienhafte Weise zu intensivieren: Reine Affirmation ohne Inhalt und ohne dass es klarerweise etwas zu lachen gäbe, reine Bejahung auch noch einer potentiellen Gewalt. Ophelia impliziert, wie das Scherzo allgemein, durchaus Gewalt (»Willst Du mein Herz essen, Hamlet«), und scheint Hamlet hier auch auszulachen. Das Lachen, das in der Komödie traditionellerweise vom Publikum als Reaktion erwartet wird, tritt hier jedoch als reine Möglichkeit des Theaters selbst auf die Bühne: Lachen als Ereignis der Komödie schlechthin.28 Ophelias Lachen reiht sich ein in eine lange Reihe weiblichen Gelächters, von der Magd des Thales (auch sie lacht einen Intellektuellen aus29) bis zu Molly Bloom, deren spezifisches oui-rire nach Derrida eine leere Affirmation (Affirmation der Affirmation) darstellt und diese gleichzeitig unterläuft.30 Ophelias Ja-zum-Nein-Lachen setzt auf die Paradoxie dieser reinen (weil leeren) Affirmation: ein Lachen, das mit Batailles Lektüre von Hegel (sowie Foucaults und Derridas Lektüre von Bataille) als eine überschüssige Negativität verstanden werden kann, die nicht mehr als Arbeit des Negativen dialektisch im System aufgehoben und funktionalisiert werden kann – »komisches Tun«,31 das nicht auf die »Wiederaneignung« der Negativität zielt, sondern sie freisetzt und »vorbehaltlos« macht.32 In Robert Wilsons schlagender Inszenierung gehört das letzte 28 Nikolaus Müller-Schöll, »Das Komische als Ereignis. Zur Politik (mit) der Komödie zwischen Molière, Marivaux und Lessing«, in: ders., Ereignis, S. 299-322. 29 Vgl. Hans Blumenberg, Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie, Frank­furt/M. 1987. 30 Jacques Derrida, »Ulysses Grammophon. Ja-hören-sagen von Joyce«, in: ders., Ulysses Grammophon. Zwei Deut für Joyce, Berlin 1988, S. 41-116, hier S. 91 f. 31 Georges Bataille, »Méthode de méditation«, in: ders., L’expérience intérieure, Paris 1967, S. 287; vgl. hierzu Jacques Derrida, »Von der beschränkten zur allgemeinen Ökonomie«, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frank­furt/M. 1972, S. 380421, hier S. 417; vgl. Michel Foucault, »Vorrede zur Überschreitung«, in: Dits et Écrits I, Frank­furt/M. 2001, 320-341, der mit Blick auf Bataille von einer »nichtpositiven« Affirmation spricht. 32 Derrida, »Von der beschränkten zur allgemeinen Ökonomie«, S. 389, 392.

77

Wort (und das heißt hier: die letzte Bewegung) einer Clownsfigur. Eine leicht zu übersehende, sprach- wie namenlose Figur, die sich doch durch die goldene Farbe und die distinkte, nämlich spärliche Bekleidung auszeichnet, begleitet das Stück als eine Rand- oder Nebenfigur, die aber zum Schluss im Zentrum steht und buchstäblich den Raum teilt. Nachdem alle anderen Figuren zu einer Pose gekommen sind, in der sie verharren, beginnt der Clown (der ZWEITE CLOWN IM KOMMUNISTISCHEN FRÜHLING?) auf einem Bein zu hüpfen. Im Verein mit der Schlussmusik, und doch auch zu ihr versetzt, hüpft der Clown durch den Bühnenraum, während alle anderen Figuren regungslos in ihren Posen verharren, und springt auf den diagonal gestellten Tisch, der den Raum teilt. Auf dem Tisch macht er noch einen Hüpfer, um dann – plötzlich – von der vertikalen Position mit dem Oberkörper und einem Bein in eine Horizontale zu kippen, die Arme ausgestreckt. Dieser letzte Sprung gibt auch das Stichwort für den Abbruch der Musik (auf ähnliche Weise, wie dies zuvor in der Inszenierung spezifische Holzklänge taten, die als Stichwortgeber der Bewegungen zu fungieren schienen). Somit beendet der Clown das Stück. In seiner distinkten goldenen Kleidung, die ihn von allen anderen Figuren abhebt, erscheint er weniger als eine eigenständige Figur denn vielmehr als eine Verkörperung des clownesken Aspekts33 und des Theaters selbst: »Der Auftritt des Clowns ist ein Auftritt vor jedem – bestimmten – Auftritt: der Auftritt des Auftritts, das Spielen des Spielens.«34 Der Clown teilt den Bühnenraum in zwei überkreuzte diagonale Richtungen (die Arme bilden die eine Achse, Bein-Oberkörper die andere) und deutet so auf die Ecken der Bühne und die Funktion 33 Vgl. Adorno zum Albernen: »Die von keinem Kunstwerk zu schlichtende Divergenz des Konstruktiven und des Mimetischen, gleichsam die Erbsünde des ästhetischen Geistes, hat ihr Korrelat an dem Element des Albernen und Clownshaften, das noch die bedeutendsten in sich tragen und das nicht zuzuschminken ein Stück ihrer Bedeutung ist.« (Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frank­ furt/M. 1973, S. 180 f.) Vgl. auch Hans-Thies Lehmann, Genia Schulz, »Protoplasma des Gesamtkunstwerks. Heiner Müller und die Tradition der Moderne«, in: Gabriele Förg (Hg.), Unsere Wagner. Joseph Beuys, Heiner Müller, Karlheinz Stockhausen, Hans-Jürgen Syberberg, Frank­furt/M. 1984, S. 75 f. 34 Christoph Menke, Gegenwart, S. 213; zum Auftreten vgl. auch Bettine Menke, »Suspendierung des Auftritts«, in: Juliane Vogel, Christopher Wild (Hg.), Auftreten. Wege auf die Bühne, Berlin 2014, S. 249-275, hier S. 254 f.

78

des Vorhangs oder Bühnenrands, der den Raum des Theaters zwischen Zuschauern und Bühne teilt, verbunden in einer geteilten Gegenwart und doch gespalten in die Welt des gespielten Theaters und die des Zuschauerraums. Als Schwellenfigur, nach deren Auftritt der Vorhang, der die Rückwand der Bühne gebildet hatte, reihum nach vorne gezogen wird, markiert er das Theater als diesen besonderen Raum einer neuen, anderen Gemeinschaft, der man gerade durch seine Trennung von den anderen zugehören kann, wie Nancy und Cavell auf unterschiedliche Weise gezeigt haben.35 Wenn der Clown in der letzten Pose, die das Stück sowohl beendet als auch über es hinausweist, – wildharrend? – zittert, so bleibt ununterscheidbar, ob es sich dabei um die Rolle oder den Schauspieler handelt.36 Der Clown markiert schließlich auch das Scherzo als Kippmoment zwischen Hamlet und Ophelia,37 das wie das Lachen Ophelias als ein Ereignis der Komödie den Lauf des Stückes unterbricht und die Grenzen (zwischen Hamlet und Ophelia, zwischen Darsteller und Rolle) sowohl ausstellt als auch überschreitet. Mit diesem clownesken Schluss, der das Scherzo aufzugreifen scheint, zelebriert Wilsons Hamletmaschine eine reine Affirmation der Negativität, die dem Theater selbst eingeschrieben ist: Fermate der Komödie als nachhallendes Theater-Ereignis.

35 »[O]ur separateness […] is the unity of our condition.« (Stanley Cavell, »The Avoidance of Love. A Reading of King Lear«, in: ders., Must We Mean What We Say? A Book of Essays, Cambridge, Mass. 1976, S. 339) 36 Giorgio Agamben schreibt in seinem Buch zu Pulcinella, dem lächerlichen Commedia dell’Arte-Charakter, dass es diese Figur auszeichnet, als eine bestimmte Haltung, als Modus zu überleben, auch wenn die eigene Zeit vorbei ist, als »Trotzdem« (Giorgio Agamben, Pulcinella ovvero Divertimento per li regazzi, Rom 2015, zit. nach der unveröffentlichten Übersetzung von Ariane Müller und Verena Kathrein, Teil der Präsentation Then I wanted to make a happy end for once, Starship, Berlin, 29.-30. 12. 2017). 37 Das Scherzo gleicht in dieser Hinsicht der »ausstellenden Wiederholung«, die man als einen »komische[n] Zug bei Müller« verstehen kann, welcher »der Unterscheidung in die Gattungen Tragödie oder Komödie noch vorausgeht«. (Nikolaus Müller-Schöll, »Tragik, Komik, Groteske«, in: Lehmann/Primavesi, Heiner Müller Handbuch, S. 82-88, hier: S. 86)

79

Carl Hegemann Der Traum von der Allmacht.  Notizen über Tyrannei und Theater Allmacht ist ein zu blasses Wort, um dem Ideal des Königtums voll gerecht zu werden. Es vermittelt nicht genug von dem traumhaften, poetischen Lebensgefühl, dem keinerlei Grenzen und Restriktionen gesetzt waren, von dem Bewusstsein, in einer Welt zu leben, in der es keine Gesetze der Moral und gegen Inzest gab, nicht einmal ein Schwerkraftgesetz, in der zwischen Wunsch und Tat kein Schatten stand, in der es keine Mäßigung und kein Maß gab, kein »Realitätsprinzip«, eine Welt in der der eigene Wunsch für jeden anderen Befehl ist und in der man sich über die Realität erheben kann. Nichts ist verboten. Den heftigsten Wutausbrüchen folgen freigebige Beweise der Großzügigkeit. Alle Frauen der Welt – mit einer einzigen Ausnahme – sind Freiwild für den sexuellen Appetit, ein Kopfnicken und jeder andere muss sterben. Eli Sagan, Tyrannei und Herrschaft1

I.

Was ist die schönste Zeit im Leben eines Menschen? Margaret Mahler, eine der Begründerinnen der psychoanalytischen Entwicklungstheorie, behauptet, dass diese schönste Zeit schon sehr früh beginnt, ungefähr im zehnten Lebensmonat, und spätestens nach acht Monaten schon wieder unwiederbringlich vorbei ist. »Während dieser kostbaren 6 bis 8 Monate«, berichtet Mahler, »gehört dem Kleinkind die Welt, […] und das Kind scheint von seinen Fähigkeiten und der Größe seiner Welt wie berauscht.«2 In dieser kurzen »Allmachtsphase« wird dem Kind noch jeder Wunsch erfüllt, es braucht nur zu schreien. So kann es gar nicht anders, als sich wie der Mittelpunkt der Welt vorzukommen. Leider oder auch Gott 1 Eli Sagan, Tyrannei und Herrschaft. Die Wurzeln von Individualismus, Despotismus und modernem Staat. Hawaii – Tahiti – Buganda, Reinbek 1987, S. 359. 2 Margaret S. Mahler, Die psychische Geburt des Menschen. Symbiose und Individuation, Frank­furt/M. 1980, S. 94.

80

sei Dank kann diese Phase vermeintlicher Allmacht nur von kurzer Dauer sein. Noch vor dem Ende des zweiten Lebensjahres muss das Kleinkind erkennen, dass es nur ein Wesen unter vielen anderen ist, dass andere Leute auch Wünsche haben und dass es im Vergleich zu anderen, auch und gerade zu seinen Eltern, eine sehr schwache und hilflose Existenz ist. Kaum hat es sich in seiner Allmacht eingerichtet, ist es auch schon wieder vorbei mit ihr, und es beginnt die Disziplinierung, das schmerzhafte Lernen von Ein- und Unterordnung. Die schreckliche Erfahrung, dass es eben nicht allmächtig, sondern ohnmächtig ist, können dem Kind auch die liebevollsten Eltern nicht ersparen. Der ganze Sozialisationsprozess ist Einübung in diese Ohnmacht, Anpassung an ein übergeordnetes System, an ein Leben in der Beschränkung unter der Fuchtel jener, die die Macht haben. Dieser Verlust der Allmacht in der frühen Kindheit bleibt, zumindest in Mahlers Erzählung, als lebenslanges Trauma bestehen, als vage Erinnerung an eine Zeit umfassender und radikaler Bedürfnisbefriedigung ohne Triebaufschub, als Sehnsucht nach einer Zeit, in der man jeden Morgen begeistert und sorglos aufwachte, an die Zeit, bevor sich das Omnipotenzgefühl in Angst verwandelte und das Kind in der Wiederannäherungsphase oder ‑krise seine Abhängigkeit und Ausgeliefertheit gegenüber seinen Bezugspersonen begreift. II.

Eli Sagan glaubt in seinem Standardwerk Tyrannei und Herrschaft herausgefunden zu haben, dass es einige privilegierte Menschen gab, bei denen es anders lief – Menschen, die die glückliche Allmachtsphase nie verlassen mussten, weil sie ihr Leben lang wie ein Kleinkind behandelt wurden. Sie wurden nicht unsanft herausgerissen aus diesem Zustand, sondern immer weiter darin bestärkt, sie seien alles und die Welt sei nichts ohne sie, während die gegenläufige Erfahrung, dass die Welt alles und sie selber nichts sind, sich außerhalb ihres Horizonts befand. Die Könige in sogenannten komplexen Stammesgesellschaften, die den archaischen Sippenverbänden folgten, werden in Sagans Untersuchung als Personen dargestellt, die in der Allmachtsphase stecken geblieben sind oder festgehalten werden und die sich mit Zustimmung ihrer Umwelt alles 81

erlauben dürfen, genau wie das Kleinkind auf dem Höhepunkt seines Narzissmus – und zwar mit der Gewissheit, dass ihnen das nicht nur erlaubt ist, sondern sogar von ihnen erwartet wird. Alles ist für sie da, sie dürfen rücksichtslos und unbefangen alle subjektiven Wahrheiten aussprechen, ihre Mitmenschen quälen und beleidigen, sie brauchen nur mit dem Finger zu schnipsen und jeder ihrer Wünsche wird erfüllt, sie dürfen mit jedem Menschen schlafen, wenn ihnen danach ist, sogar mit der eigenen Schwester (nur mit der Mutter nicht). Das wichtigste in den Augen ihres Volkes ist es, dass sie töten dürfen, wen sie wollen und wann sie wollen. »Er allein hat das Recht, uns die Augen auszustechen«, erklären die Anhänger des Königs dem Forscher.3 Und wenn ein König nicht mehr tötet, machen sich seine Untertanen Sorgen … Für Sagan gibt es »zwei Indizien, die darauf hindeuten, dass der Drang nach Allmacht in der frühen Kindheit entstanden ist. Man verwöhnte diese Kinder unmäßig und erlaubte ihnen die zügellosesten Wutanfälle.«4 Und das setzte sich im erwachsenen Leben der Könige fort. Zum königlichen Hofstaat gehörten zahlreiche persönliche Diener, die streng auf die Befriedigung auch der kleinsten seiner Bedürfnisse achteten. Die Nahrung des Königs, der Tabak des Königs, die Milch des Königs, der Nachttopf des Königs, der Speer des Königs – für alle diese Utensilien sorgte ein besonders beauftragter Beamter. Manche Könige wurden sogar im Schlaf überwacht, anderen war es nicht erlaubt, selbst zu essen, sie mussten von Dienern gefüttert werden. […] Auch in sexuellen Dingen musste der König sich – anders als sonst Erwachsene – nicht übermäßig anstrengen, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Er brauchte nur den kleinen Finger zu heben und zu verkünden »Ich will«.5

Sagan identifiziert dieses Phänomen mit der »Phantasie des Kleinkindes von der uneingeschränkt nachgiebigen Mutter« und ergänzt: »Die Wutausbrüche des einundzwanzig Monate alten Kleinkinds waren für die Könige der komplexen Gesellschaft ein Gebot strenger Etikette. Wenn du nicht bekommst, was du willst, 3 Samuel M. Kamakau, Ruling Chiefs of Hawaii, Honululu 1961, S. 252, zit. nach Sagan, Tyrannei und Herrschaft, S. 361. 4 Sagan, Tyrannei und Herrschaft, S. 366. 5 Ebd.

82

dann schlage wild um dich.«6 Sagan zeigt aber nicht nur, dass die angehenden Könige auf ihr Amt vorbereitet wurden, indem man sie im Sozialisationsprozess nicht aus der Allmachtsphase entließ, sondern auch, dass sie die Sehnsucht derer verkörpern, die diese Zeit der glücklichen Allmacht schon lange hinter sich haben. »Ein großer Teil der himmelschreienden, sadistischen Grausamkeiten in komplexen Gesellschaften war das Ergebnis der Tatsache, dass dem König nicht nur erlaubt war, Wutausbrüche zu haben, sondern dass man das sogar von ihm erwartete.«7 Vom Volk unterstützt war es ihm also aufgegeben, seine Macht fortwährend im höchsten Maße zu missbrauchen. Solche allmächtigen Könige, die nur so lange gute Herrscher waren, wie sie sich asozial und gewalttätig verhielten, und die in den Teppich bissen, wenn sie ihren Willen nicht bekamen, sind heute offenbar – bis auf wenige Ausnahmen, die sich möglicherweise in Nordkorea und in den USA als Karikaturen finden lassen – ausgestorben. An ihre Stelle sind kultivierte Sozialbürokraten getreten, die sich im Rahmen strenger Etikette zur Höflichkeit und Tugend verpflichtet fühlen. Jeden irrationalen Eigenwillen versuchen sie zu unterdrücken, sie leben solche etwaigen Seiten nicht öffentlich, sondern höchstens privat und im Geheimen aus. Es gibt in unserer Gesellschaft niemanden mehr, der unsere Sehnsucht nach der »schönsten Zeit« stellvertretend für uns ausleben könnte. Und es gibt für Menschen, bei denen die Überwindung der Allmachtsphase nicht geglückt ist – weil Elternteile zum Beispiel ihrerseits in der Symbiose mit dem Kind stecken blieben –, keinen Ort, wo sie ihre tyrannischen und narzisstischen Tendenzen nutzbringend einsetzen könnten. Denn selbst die größten Chefs und die reichsten Milliardäre müssen sich an die Gesetze und sozialen Konventionen halten und dürfen niemals öffentlich demonstrieren, dass sie über ihnen stehen. III.

Mit dem Ende der allmächtigen Herrscher scheint der Traum von der Allmacht ausgeträumt – in Europa spätestens mit der Französischen Revolution. Die Enthauptung Ludwigs XVI. im Januar 6 Ebd. 7 Ebd.

83

1793 markiert drastisch das Ende der verlängerten Allmachtsphase als Herrschaftsform. Die nachfolgenden Diktatoren und Alleinherrscher widerlegen das nicht, sondern bestätigen es eher, denn sie können sich nicht mehr auf ihre Gottgleichheit berufen, sondern müssen ihre Herrschaft mittels großer Ideale legitimieren, die beispielsweise nationalistisch oder sozialistisch (oder beides) sein können. Die Anfälligkeit der Menschen für totalitäre Herrschaft ist deshalb allerdings keineswegs aus der Welt – und die Trauer über den Verlust der Allmacht offenbar immer noch nicht überwunden. Vielleicht ist ein Ende der Trauer auch gar nicht möglich, solange die Menschen ihre schönste Zeit zwischen dem ersten und zweiten Lebensjahr verbringen. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Aufwertung, die das Ästhetische und die Kunst nach dem Ende des absoluten Königtums erfahren haben. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Friedrich Schiller 1795, also zwei Jahre nach dem Tod des Königs auf der Guillotine, in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen den Versuch gemacht hat, den Traum von der Allmacht zu retten, und zwar in der Kunst und durch die Kunst, die nach der Revolution und im Zuge der Aufklärung nicht mehr als Repräsentation von weltlicher und göttlicher Macht betrachtet wurde, sondern, wie es bei Schiller heißt, als »eine Tochter der Freiheit«.8 Mitten in der Welt der physischen Zwänge, die wir nicht beseitigen können, und der menschlichen Gesetze, die wir uns zwar selbst gegeben haben, die uns aber ebenfalls streng beschränken, forderte er ein »fröhliches drittes Reich«, das der »ästhetische Bildungstrieb«,9 den er gerne auch »Spieltrieb« nannte,10 hervorbringen sollte, ein Reich, in dem den Menschen »die Fesseln aller Verhältnisse« abgenommen und sie »von allem, was Zwang heißt, sowohl im physischen als im moralischen« entbunden sind.11 Das klingt nach Allmachtsanspruch und nicht nach der »moralischen Anstalt«, die man mit Schiller gerne verbindet. Schiller fordert eine Freiheit für die Kunst, die sich durch nichts beschränken lassen muss. Dieser  8 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 8, Frank­furt/M. 1992, S. 556676, hier 2. Brief, S. 559.  9 Ebd., 27. Brief, S. 673. 10 Ebd., 14. Brief, S. 607. 11 Ebd., 27. Brief, S. 673.

84

Gedanke ist bis heute entscheidend für die Kunstpraxis geblieben: »Kunst zu machen bedeutet zu verfügen, dass die Dinge so und nicht anders sein sollen – und zwar ohne jede ›objektive‹ Begründung«, schreibt Boris Groys in seinem Kommunistischen Postskriptum.12 Was Schiller wie Groys für die Kunst einfordern, scheint exakt »dem traumhaften, poetischen Lebensgefühl, dem keinerlei Grenzen und Restriktionen gesetzt waren«,13 zu entsprechen, das Sagan bei den frühen Königen gefunden hat – allerdings mit einem wichtigen Unterschied. Wollte Schiller den allmächtigen Herrscher mittels Kunstpraxis wieder einführen? Haben Hitler und Stalin Schiller so verstanden? Der Staat als Kunstwerk? Ist Schiller der Vorläufer und Ideengeber für die totalitären Verhängnisse des letzten Jahrhunderts? Es gibt Leute, die seine Briefe tatsächlich so verstehen wollen (zum Beispiel Paul de Man). Dazu muss man den Staat nur als Kunstwerk und den oder die Herrschenden als Künstler betrachten. Aber einen solchen Ansatz zur Legitimation von totalitärer Herrschaft gibt es in Schillers Vorstoß zu einer freien Kunst gerade nicht (und bei Groys auch nicht). Denn in demselben Brief, dem 27. und letzten, in dem Schiller diese Freiheit von allen physischen und moralischen Zwängen, von der Schwerkraft und von jeder allgemeinen Gesetzgebung fordert, macht er auch klar, dass dieses Reich der Kunst das Physische und das Sittliche nicht vereinigen oder ersetzen kann und soll. Die Auflösung des Widerspruchs und die totale Freiheit sollen nur als ästhetische stattfinden, und zwar in einer Scheinwelt, die von den Künstlern und den Rezipienten auch als solche wahrgenommen wird. Das ist der Unterschied zur Allmacht der Könige. Was Schiller vorschwebt, könnte man als Musterbeispiel für eine Heterotopie ansehen, wie sie Foucault später beschrieben hat: als abgeschlossenen Ort, der zwar ein Teil der Welt ist, an dem aber alles das erlaubt und möglich ist, was in der Welt sonst verboten und unmöglich ist, ein Ort also, wo dieses sonst Verbotene oder Unmögliche sich autonom entfalten kann. Die Autonomie der Kunst ist auf diesen Ort beschränkt, nur dort kann sie sich als »Spiel« realisieren – in einer Sphäre des »ästhetischen Scheins«. Sie darf sich nicht mit der wirklichen oder wirkenden Welt verwechseln oder mit ihr verwechselt werden. Das Verbotene wird nur gespielt, 12 Boris Groys, Das kommunistische Postskriptum, Frank­furt/M. 2006, S. 78. 13 Sagan, Tyrannei und Herrschaft, S. 359.

85

die Allmacht der Künstler ist nur ästhetischer Schein, und alle, die daran teilnehmen, der Stab und die Schauspieler, aber auch die Zuschauer, wissen wie Schiller, dass das Menschenleben beschränkt und ohnmächtig ist und dass wir, solange wir leben, keine ganzen Menschen sein werden. Wenn Schiller also behauptet, »der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt«,14 dann heißt das, dass es die vollständige Realisierung seines Wesens in der wirklichen physischen Welt sterblicher Menschen nicht geben kann, sondern nur im Spiel, nur als ästhetisches Ereignis. Das ist die Tragik der Kunst und speziell des Theaters, seine offensiv vertretene Nutzlosigkeit und Zweckfreiheit hat hier ihren Grund. Nichts, was auf der Bühne passiert, nichts, was ein Künstler als Kunst generiert, greift funktional in die Prozesse des täglichen Lebens ein. Schiller wird nicht müde zu betonen, dass der ästhetische Schein in der wirklichen Welt nichts zu suchen hat und dass die wirkliche Welt als Funktionssystem nichts in der Kunst zu suchen hat. Die ästhetischen Freiheiten des schönen Scheins zum politischen Programm zu erklären, um die Welt nach ästhetischen Kategorien zu perfektionieren, ist kein Weg zur Befreiung, sondern der Einbruch totalitärer Gewalt. Gerade im Theater herrscht deshalb ein verschärftes Gewaltverbot. Weil man sich im Spiel auf menschliche Abgründe, auf ungebändigte Natur, auf unwahrscheinliche Sensationen einlässt und das, was einem sonst einfach passiert, autonom produziert, bedarf es großer Sachlichkeit und Nüchternheit bei der Herstellung dieser Kunstwerke. Gewaltexzesse und Psychoterror, Intimität und Verrat auf die Bühne zu bringen, ist leichter, wenn außerhalb der Bühne und bei der Herstellung des Kunstwerks (bei den Proben) Vorsicht und Rücksicht herrschen, auch wenn sich Parallelen zwischen Kunst und Leben nicht immer fein säuberlich trennen lassen. Die Exzesse der Kunst und speziell des Theaters lassen sich nur diszipliniert und möglichst unabhängig von der eigenen Triebstruktur realisieren, das unterscheidet sie strukturell von den Exzessen der Könige, die Sagan beschreibt. Die Auseinandersetzung mit dem Unbekannten, das man selbst ist, ist für die Akteure des Ästhetischen eine große Herausforderung und führt zu starken physischen und psychischen Belastungen, die als solche normalerweise nicht Teil des Kunstwerks sind. Ein Regisseur, der Unwahrscheinliches 14 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 16. Brief, S. 614.

86

produziert, kann häufig nicht erklären und begründen, was er auf der Bühne oder vor der Kamera sehen will – und erst recht nicht, warum er es sehen will. Das muss keine Unfähigkeit sein, sondern mag gerade an der Fähigkeit des Künstlers liegen, etwas zu können, was sonst keiner kann. Das »Können des Nicht-Könnens«, wie Christoph Menke in seiner Theorie ästhetischen Handelns deutlich macht,15 das, wofür es (noch) keine Gebrauchsanweisung und -begründung gibt, dieses Segeln im Unbekannten macht die Arbeit in der Kunst so reizvoll und gefährlich. Sie für den persönlichen Machterwerb in der wirklichen Welt auszunutzen, ist arm und kunstfeindlich. (Und – ist es wirklich nötig, das zu sagen? – niemand sollte sich das gefallen lassen, sosehr er auch bereit ist, auf der Bühne und in der Kunst sich in Ausnahmezustände und psychische wie physische Gefährdungen zu begeben.) Die lebendige Kraft, die jenseits von Gut und Böse ist, die einfach ohne unser Zutun da ist, noch vor jeder Bestimmung – das Vorsubjektive, das Nicht-Identische, das Reale, das Dunkle oder wie man sie auch nennen will  –, können wir in den Spiel- und Scheinwelten der Kunst ans Licht bringen, und dies ist wiederum nur dann möglich, wenn die Rahmenbedingungen rational geregelt sind und nicht mit dem Produkt verwechselt werden. Exzess und Disziplin bedingen einander. Das wusste schon Hölderlin: »Da wo die Nüchternheit dich verlässt, da ist die Grenze deiner Begeisterung.«16 Wer sich im Theater und in der Kunst auf seine Abgründe einlässt, braucht eine Verankerung, die es ihm ermöglicht, auch wieder herauszukommen. Je stärker diese Verankerung ist, desto tiefer kann er sich auf die Abgründe einlassen. Riskant bleibt es trotzdem, Kunst zu machen oder sich zum Material der Kunstpraxis eines anderen zu machen, denn auch ein Regisseur, der kein Despot ist, muss im Umgang mit dem Material möglichst unbeschränkt sein können, man erwartet von ihm, dass er tut, was er will – sogar ohne Begründung –, aber auch, dass er diese Freiheit auf das Spiel beschränkt. Letzteres bedeutet allerdings nicht, dass dadurch die Probebühne zum safe space würde. Die Herausforderungen der ästhetischen Praxis, die sich mit dem Leben beschäftigt, 15 Vgl. Christoph Menke, Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frank­ furt/M. 2008, S. 113. 16 Friedrich Hölderlin, »Reflexion«, in: Sämtliche Werke, Bd. IV, Stuttgart 1962, S. 243-247, hier S. 243.

87

auch mit dem eigenen, können auch ohne Übergriffigkeiten und Machtmissbrauch tiefgehende seelische und körperliche Belastungen hervorrufen. IV.

Die dunklen lebendigen Kräfte, die unbestimmt und unerwartet und unbegründet aus uns hervorbrechen, bedürfen sozialer praktischer Vermögen, die sie einschränken und konterkarieren, wie Christoph Menke in seinen beiden Büchern über den ästhetischen Kraft-Begriff gezeigt hat. Für Menke befinden sich lebendige Kraft und soziales Vermögen in einem Verhältnis wechselseitiger Negativität, und nur in dieser wechselseitigen Verneinung gelangen sie zu ihrer positiven Existenz. Die unbestimmte Kraft, die uns bestimmt, und die bestimmenden Vermögen, die der Kraft eine Form geben, sind wechselseitig voneinander abhängig und einander entgegengesetzt. Das führt bei Menke zu der »Einsicht, dass das, was das Vermögen ermöglicht, [nämlich das Spiel dunkler Kräfte], es zugleich unmöglich macht«.17 So befinden sich Kräfte und Vermögen permanent in einem nicht beendbaren Konflikt. Nur in der Kunst können sie ihn abstellen und eine widerspruchslose Einheit bilden, aber die ist als solche immer fiktiv: ästhetischer Schein. In dieser in ihren Grundzügen auch bei Fichte, Hölderlin und Schiller zu findenden Konstruktion ist eine Absage an die Möglichkeit menschlicher Allmacht genauso enthalten wie die Absage an jede Art von Erlösung bei lebendigem Leibe. Wir können weder in den Mutterleib noch in die kindliche Allmachtsphase zurück, wir sind auf die Beschränktheit angewiesen; selbst die ästhetische Schönheit, die wir erfahren und sogar herstellen können, ist abhängig von unserer Beschränktheit, von Grenzen, die wir erweitern, aber nicht überwinden können. Hölderlin hat das zur gleichen Zeit wie Schiller in einem paradoxen Satz zum Ausdruck gebracht: »Am Tage, da die schöne Welt für uns begann, begann für uns die Dürftigkeit des Lebens.«18 So sieht es aus. Schönheit und Vollkom17 Menke, Kraft, S. 105 f. 18 Friedrich Hölderlin, Hyperion, in: Sämtliche Werke, Bd. III, Stuttgart 1957, »Die metrische Fassung« aus den handschriftlich überlieferten Bruchstücken, S. 185198, hier S. 193.

88

menheit sind an Armut und Mangel gebunden. Die Wahrheit des unbeschränkten Subjekts, seine grenzenlose Freiheit, ist immer nur eine Fiktion, nur im Schein können wir zu ganzen Menschen werden, als lebendige Wesen sind wir konstitutiv auf unsere Unfertigkeit und Schwäche angewiesen: letztlich auf unsere Sterblichkeit. Den ästhetischen Schein durch Anleihen an die Wirklichkeit verstärken zu wollen, ist genauso aussichtslos wie der Versuch, die Wirklichkeit durch den Schein zu verbessern. Deshalb lehnt Schiller alle Versuche ab, ästhetischen Schein durch »logischen Schein« zu ersetzen. Er bezeichnet solche Versuche als »Betrug«.19 Die Freiheit der Kunst auf das Leben in der Welt zu übertragen ist nicht nur ein Fehler, sondern auch dauerhaft gar nicht möglich, denn eine Wirklichkeit, die auf Schein, das heißt auf Lügen gebaut ist, fällt früher oder später in sich zusammen wie die Blasen in der Finanzindustrie. Künstler, Regisseure, Intendanten, die meinen, sie könnten von den unbegrenzten Möglichkeiten der Kunstfreiheit persönlich profitieren und die Unbeschränktheit, die ihnen in der Kunstpraxis erlaubt ist, auch zur Ausweitung ihrer Möglichkeiten in ihrer eigenen Lebenswelt benutzen, verwandeln das »interesselose Wohlgefallen« an der Kunst in profane Machtausübung. Das ist Missbrauch der Kunst. Das verwandelt ästhetische Allmacht in ein schmutziges Geschäft. Es schadet nicht nur der Kunst und den Opfern dieses Handelns, sondern auch denen, die diesen Machtmissbrauch praktizieren. Diese landen in einer Sackgasse, denn ihre vermeintlich berufsbedingte Allmacht ist ein Zwangszusammenhang. Man kann das sicher als sozialisationsbedingt erklären – sie sind in der narzisstischen Allmachtsphase stecken geblieben, die unendlich nachgiebige Mutter ist schuld usw. –, aber nicht als künstlerische Notwendigkeit rechtfertigen. V.

Einen Ort scheint es also noch zu geben, wo Omnipotenz und unbegrenzte Freiheit ihren Platz haben, aber dieser Ort ist eine klar begrenzte Heterotopie. In der Kunst als Kunst gibt es keine Verbote, was auf der Bühne der Kunst und des Theaters geschehen 19 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 26. Brief, S. 662.

89

darf, ist nur durch die Phantasie begrenzt. Außerhalb der Bühne, des Kunstortes, ist der Künstler allerdings den Einschränkungen genauso unterworfen wie jeder andere. Christoph Menke hat die außermoralischen lebendigen Kräfte, die uns als Menschen bestimmen, die einfach da sind und die wir nicht selbst gemacht haben, in ihrer Unbestimmtheit ebenso als Bedingungen eines »guten Lebens« analysiert wie die sozialen Kompetenzen und Vermögen, mit diesen lebendigen »vorsubjektiven« Kräften selbstbewusst umzugehen. Die Freiheit sieht er weder in der umstandslosen Hingabe an diese Kräfte, Triebregungen und Obsessionen noch in der Freiheit von ihnen, die nach Kant nur in der Befolgung des moralischen Gesetzes liegen kann. Die einzige Freiheit des Individuums resultiert aus seiner Fähigkeit, zwischen beiden zu unterscheiden und zu entscheiden. Weder die durch das Sittengesetz begründete Freiheit von den Trieben noch das freie Ausleben der Triebe ist Freiheit im emphatischen Sinn. Emphatisch ist nur die Realisierung beider Freiheiten, das heißt die Freiheit, zwischen diesen beiden Freiheiten zu wählen, das eine statt des andern tun zu können und das eine nicht ohne das andere. Das Resultat dieser doppelten Konstitution menschlichen Lebens ist die »Treue zum Gegensatz in sich selbst«.20 Die lebendigen vorsubjektiven Kräfte, die bei Schiller den Stofftrieb ausmachen, und ihre zivilisatorische Formung, der Formtrieb also, gibt es nur zusammen oder gar nicht, der Mensch ist gegensätzlich strukturiert; frei ist er nur im selbstbestimmten Umgang mit diesem Gegensatz, der sich nach keiner Seite hin auflösen lässt. Nur im Spiel der Kunst verschwindet der Gegensatz, aber eben nur zum Schein. Die Allmacht der Kunst unterscheidet sich also von jener der frühen Könige darin, dass sie scheinhaft ist, dass sie nur gespielt ist und keine unmittelbaren Folgen für das wirkliche Leben haben darf. In dem Moment, wo die Kunst mehr sein will als Schein, verlässt sie den Raum der Kunst und wird entweder zur Straftat, die juristisch geahndet werden kann, oder sie entledigt sich ihrer scheinbaren Allmacht und wird ein Teil der Gesellschaft, indem sie sich deren Funktionalität, Kalkül und Normen beugt. Diese Kunst hat dann ihre autonome Sonderstellung als Heteroto20 Christoph Menke, »Treue zum Gegensatz in sich selbst. Experiment Tannhäuser und Institution Bayreuth«, in: Clemens Risi u. a. (Hg.), Tannhäuser – Werkstatt der Gefühle, Freiburg 2014, S. 77-82.

90

pie verloren, verwandelt sich in Unterhaltung, Kunstgewerbe oder Agitation, nutzt ästhetische Elemente für Zwecke oder als pure Effekte, wird zum Serviceunternehmen, ist aber keine Kunst mehr, auch und gerade dann nicht, wenn die Zwecke, denen sie sich unterwirft, integer sind. (Dass die Kunst öfters und wahrscheinlich zunehmend in die Gefahr kommt, ihren Bereich zu verlassen, hat meist äußere – etwa ökonomische – Gründe. Weil sich Kunst aber auf Nicht-Kunst beziehen muss, um die notwendige Unwahrscheinlichkeit ihres Zustandekommens zu realisieren, hat sie auch eine immanente Tendenz, ihren Rahmen zu sprengen.) VI. Ein alter und kränkelnder Monarch war ein schreckliches Problem für eine Gesellschaft, die von den Symbolen der absoluten Macht abhängig war. In ostafrikanischen Ländern, wie Ankole und Bunyoro, wurden solche hinfälligen Inhaber der Allmacht vergiftet oder erdrosselt, und woanders vermutlich auch. Der Tod ist die große, unwiderrufliche Trennung, und der Tod ist auch die Antithese des Traums von der Allmacht, welche die Unvermeidlichkeit von Trennungen leugnet. Wie nah der König auch an die Ausübung absoluter Macht herankommen mochte, so reichte diese Macht jedoch nie aus, den Tod zu überwinden. Es mag sein, dass die Menschen sich später den Göttern und nicht mehr den Königen zuwandten, um ihre Sehnsucht nach Allmacht zu befriedigen, und zwar zum Teil deshalb, weil Götter nicht sterben. Sagan, Tyrannei und Herrschaft21

Dass die Kunst unsere Allmachtsträume und unsere negativen Bestrebungen sublimiert und ihnen zugleich einen Ort gibt, wo sie sich entfalten können, ist eine bedeutende und elegante zivilisatorische Leistung und seit der attischen Polis wohl auch ein Eckpfeiler der Demokratie. Die gegenwärtige Erosion der Demokratie verhindert sie leider nicht. Ich sehe diese Erosion nicht so sehr in der Kunstferne von Staatschefs, die sich wie Sagans frühe Köni21 Sagan, Tyrannei und Herrschaft, S. 363, 365.

91

ge verhalten und ihre infantilen Regungen nicht unter Kontrolle haben (»Mein Atomknopf ist größer als deiner!«). Ich meine die Allmachtsträume, die mit der digitalen Revolution und der Entwicklung der Gen- und Biotechnologie aufkommen und die Demokratie aus technologischen Gründen für überflüssig oder lästig erklären. Durch Verarbeitung ungeheurer Datenmengen und die komplette Durchleuchtung tendenziell aller Menschen mit Hilfe einer exponentiell wachsenden selbstlernenden künstlichen Intelligenz, die unserer eigenen in rasendem Tempo immer überlegener wird, soll es in nicht allzu langer Zeit möglich werden, Menschen so zu vervollkommnen, dass sie tendenziell unsterblich und allmächtig werden. Unter Umgehung demokratischer Kontrollmechanismen arbeitet man fieberhaft daran, einen neuen Menschen zu kreieren, der den Homo sapiens ablöst und den schönen Namen »Homo Deus« trägt, wie man dem gleichnamigen Bestseller des Historikers Yuval Noah Harari entnehmen kann.22 Nicht weniger als Omnipotenz, Allgegenwärtigkeit und Unsterblichkeit sollen die neuen Technologien ermöglichen, also alle Qualitäten Gottes. Arbeit und Leiden jeder Art sollen verschwinden, die ewige Allmachtsphase für alle soll im besten Fall dabei herauskommen. Alles, was wir uns vorstellen können, soll durch bloßes Fingerschnipsen augenblicklich erledigt werden. Die künstliche Intelligenz ermöglicht uns also angeblich, die Bedingtheit hinter uns zu lassen und zu absoluten Wesen zu werden – und das schon sehr bald. (Wahrscheinlich gilt das aber eher nicht für alle, sondern nur für einige wenige Menschen. Auf die andern wartet bestenfalls eine auf unzähligen Daten basierende Planwirtschaft, eine digitale Erziehungsdiktatur mit Feedback, die jeden zwingt, immer nur zu tun, was am besten für ihn ist, was als sein größtmöglicher persönlicher Vorteil errechnet wurde. War das nicht genau das, was Tschernyschewski und Lenin propagierten?) Die neuen Technologien sollen offenbar Möglichkeiten von der Art eröffnen, wie sie Immanuel Kant vor 220 Jahren in seiner Kritik der reinen Vernunft als »intellektuelle Anschauung« oder »anschauenden Verstand« gedacht hat: »ein Verstand, durch dessen 22 Siehe Yuval Noah Harari, Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen, München 2017, Kap. 11; vgl. auch Carl Hegemann, »Ist digitale Erlösung möglich?«, in: ders., Plädoyer für die unglückliche Liebe, Berlin 22010, S. 146 f.

92

Vorstellung zugleich die Objekte dieser Vorstellung existieren«,23 also die Fähigkeit, Gedanken ohne dazwischengeschaltete Arbeit unmittelbar gegenständlich werden zu lassen. Für Kant war diese Form des Realität setzenden Gedankens ausschließlich der »Gottheit« als »Urwesen« vorbehalten.24 Für den Menschen schien sie ihm »gänzlich unmöglich«,25 weil sie die notwendigen Bedingungen von Erfahrung zerstören würde, zu denen nach Kant gehört, dass die Formen der Anschauung und die Begriffe des Verstandes unterschiedliche Wurzeln haben. Eine Technologie, die beide Erfahrungsstränge identisch machen könnte, hielt er ebenfalls für unvorstellbar. Das wirklich Neue gegenüber Kants Zeiten besteht darin, dass es heute eine Technologie gibt, die behauptet, so etwas wie »intellektuelle Anschauung« sei machbar, die Möglichkeit für Menschen, wie Götter zu handeln, stehe unmittelbar bevor. Für einen Künstler, der in seinem Bereich an der Tücke der Objekte und des Materials regelmäßig scheitert und seine Träume oft nicht verwirklichen kann, könnte eine solche Technologie faszinierend sein, weil sie ihm absolute Autonomie verspricht. Allerdings arbeiten die Menschen im Silicon Valley und anderswo nicht an einer revolutionären Kunsttechnologie, sie wollen die Allmacht im Leben verwirklichen, die Erlösung mit technischen Mitteln auf der Erde herbeiführen. Was früher die Sozialrevolutionäre durch die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse erreichen wollten, soll jetzt durch die revolutionäre Veränderung der technologischen Möglichkeiten herbeigeführt werden. Dabei wird vergessen oder verdrängt, dass der ganze menschliche Apparat und sogar die Schönheit nicht ohne Dürftigkeit und Mangel und Endlichkeit zu haben sind, dass ohne das innere Drama, in dem sich Menschen spätestens seit dem Ende ihrer Allmachtsphase befinden, die Welt und die Erfahrungsfähigkeit, die Möglichkeit, bewusst zu handeln und zu fühlen, verschwindet, weil wir dafür auf Reibung, Gegensatz und Konflikt angewiesen sind: auf Negativität. Die künstliche Intelligenz ist auf diese Negativität nicht angewiesen, solange sie 23 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1998, § 17, B 139. 24 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 5, Berlin 1908, § 90, S. 465. 25 Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 4, Berlin 1903, hier § 34, S. 316.

93

weder fühlt noch bewusst handelt. Harari berichtet allerdings von Neurowissenschaftlern, die Bewusstsein für das »biologisch nutzlose Nebenprodukt bestimmter Gehirnprozesse« halten, für eine Art »geistiger Luftverschmutzung«, die mit dem Lärm von Düsentriebwerken vergleichbar ist, der für die Schubkraft des Aggregats keine Bedeutung hat.26 Damit wollen sie offenbar sagen, dass für die Entwicklung der Intelligenz Bewusstsein nicht nötig und vielleicht sogar störend ist … Die Kreativen, Ingenieure und Spezialisten, die an der Gottwerdung des Menschen und der Vermenschlichung künstlicher Intelligenz arbeiten, sollten mal kurz ihre Arbeit unterbrechen und sich bei Kant, Schiller und Menke über die Konstitutionsbedingungen menschlichen Lebens und Bewusstseins informieren, bevor sie das Kind mit dem Bade ausschütten. Aber wer weiß? Vielleicht hat ja künstliche Intelligenz das alles schon längst für sie erledigt.

26 Harari, Homo Deus, S. 163.

94

Penelope Deutscher Menkes »Nicht« und die Kritik der widerstrebenden Vernunft Christoph Menke hat eine verdichtete Denkfigur der Minima Moralia1 auf eine Reihe von Urteilsformen erweitert und sie auf Formulierungen des Widerwillens gebracht.2 Widerwille3 verwandelt sich in ein Philosophem, in einen umfassenden konzeptionellen Dreh- und Angelpunkt sowie eine präzise methodologische Zange, die jenes Vermögen, jene Form oder Formierung, jenes Gesetz oder jenen Vollzug erfasst, der »sich selbst hasst«.4 Variationen des Widerwillens findet man in seinen Ausführungen über diejenigen Aporien, die der Kunst, der ästhetischen Gemeinschaft und Übereinstimmung, dem ästhetischen Urteil, dem rechtlichen Urteil, der Normativität, der Kritik, der Subjektivität, der Gleichheit, den Rechten, der Befreiung und der Freiheit innewohnen. Dieser Zugriff erstreckt sich von einem sich selbst abstoßenden Kunstwerk über ein durch die ihm innewohnende anonyme Kraft gespaltenes Subjekt bis hin zu einer ähnlich verfassten Gemeinschaft. Zum einen lässt sich eine Kritik der widerwilligen Vernunft als »ein Programm philosophischer Untersuchungen« verstehen, das mit einem »genealogischen Verständnis« von Vermögen, Urteilen 1 Vgl. Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frank­furt/M. 1978, Nr. 95, S. 191: »Geschmack ist der treueste Seismograph der historischen Erfahrung. Wie kaum ein anderes Vermögen ist er fähig, sogar das eigene Verhalten aufzuzeichnen. Er reagiert gegen sich selbst und erkennt sich als geschmacklos.« 2 Siehe Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, Berlin 2013, S. 146-149, sowie ders., Recht und Gewalt, Berlin 2012, S. 102 f. 3 [Anm. d. Übers.: Im Original Deutsch. Im laufenden Text verwendet die Autorin vornehmlich das Wort »repugnance«, das in der Übersetzung je nach Kontext als »Widerwille«, »Widerstreben« oder »Abneigung« gefasst wird.] 4 Vgl. die Ankündigung zum Seminar »What is thinking? Or a taste that hates itself« auf der dOCUMENTA (13) unter 〈http://d13.documenta.de/#/programs/ the-kassel-programs/what-is-thinking-or-a-taste-that-hates-itself〉, letzter Zugriff 23. 3. 2018.

95

oder Entscheidungen einhergeht, wie es Menke hinsichtlich des ästhetischen Ereignisses beschrieben hat: »Dieses Programm fordert, in allen Bereichen der menschlichen Praxis die Selbstentzweiung des Vermögens in Vermögen und Kraft aufzuspüren und danach zu fragen, welche besondere Gestalt diese Entzweiung in jedem Bereich der menschlichen Praxis annimmt.«5 Der Fokus auf die effektiv (und affektiv) paradoxen Voraussetzungen der Rechte, Entscheidungen, ästhetischen Erfahrungen und Formen der Freiheit hat eine gewisse Affinität zu Genealogie und Dekonstruktion und dementsprechend zu den jeweiligen Überlegungen zur Haltung der Kritik. Worin besteht die Verbindung – wie schon mit Bezug auf Dekonstruktion und Genealogie gefragt wurde – mit der Gewalt6 der Verleugnung der aporetischen Voraussetzungen juristischer, ästhetischer oder erkenntnistheoretischer Ereignisse? Und wie wiederum ist die programmatische Vorliebe für Vollzüge des Urteilens, Entscheidens, Handelns oder der Praxis zu verstehen, die in Anerkennung dieser Bedingungen stattfinden können? Zum anderen lässt sich ein an Austin angelehntes »Wie man Dinge mit Widerwillen macht« neu formulieren: nicht ganz als »[Nicht] wie man Dinge mit Widerwille macht« und auch nicht als »Wie man Dinge mit Widerwillen [nicht] macht«. Und während es hilfreich ist, den Unterschied zwischen einem gelähmten oder lähmenden Unvermögen und einem möglichen Vollzug des Unvermögens zu unterstreichen,7 geraten Begriffe wie »Vollzug«, »Übung«, »Handlung« und »Praxis« unter Druck, da sie konzeptionell in Bezug auf ihr eingeschlossenes »Nicht«, ihren eigenen Selbstwiderstand, umgearbeitet werden. Damit sollen Fragen nach den Bereichen, in denen diese Haltung der Kritik besonders hilfreich sein könnte, nicht zurückgewiesen werden. Solche Fragen liegen nahe bei einem Werk, das so konsequent an der Befragung von Praxis, Vermögen, Fähigkeit, Potential, Kraft und Tun interessiert ist. Aber in Menkes Arbeiten geht es größtenteils um etwas anderes 5 Christoph Menke, Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frank­ furt/M. 2008, S. 106. 6 Zur Diskussion dieser besonderen Gewalt vgl. Menke, Recht und Gewalt. 7 Wie es Maria Acosta mit Bezug auf die Selbstreflexivität des Rechts getan hat, vgl. dies., »Between Law and Violence. Towards a Re-thinking of Legal Justice in Transitional Justice Contexts«, in: Christoph Menke, Law and Violence. Christoph Menke in Dialogue, Manchester 2018, S. 79-95, hier S. 82.

96

als um eine sich vollziehende – und noch weniger um eine ausführende – Fähigkeit. Deshalb könnte eine invertierte Formulierung vorzuziehen sein: Was kann man [nicht] mit Selbstreflexivität, Recht, Urteil tun – und vor allem: was kann man [nicht] mit Kraft, Potentialität und Depotenzierung tun? Was kann man [nicht] mit dem »Nicht« machen?8 In einer eleganten Formulierung hat Menke vorgeschlagen: »der Künstler kann das Nichtkönnen«.9 Wenn ich das Nichtkönnen könnte, wäre dies nur insofern so, als Ersteres auch unser Verständnis von Letzterem verschöbe. In anderen Worten: Das Nichtkönnen zu können wäre ein Vermögen ganz anderer Art, das die Bedingungen des Fähigseins direkt in Frage stellt, da ich nur in einem eigenwilligen Sinn von Fähigkeit unfähig sein kann. Zudem bringt es einen Überschuss hervor: einen unerwarteten Rest an damit verbundenem Affekt. Dieser Überschuss kann sich bemerkbar machen, auch wenn er für die Art des Widerwillens, um die es hier geht, zunächst irrelevant erscheint. Warum? I. Begrenzte Kompetenz oder »Wie ein Kunstwerk [nicht] beurteilen«10

Es ist kein Zufall, dass die Überlegungen zur Ästhetik in Kraft mit einem Moment der kartesianischen Zurückweisung beginnen.11 Es gibt für Descartes Bereiche jenseits der Vernunftvermögen. Dazu gehört das Ästhetische, weil den Sinnen die Erkenntnisfähigkeit fehlt und weil all das, was wir als schön erfahren können, kein »bestimmtes Maß« hat und sich daher der Bestimmbarkeit durch das Subjekt entzieht. Ganz gleich, ob dies eine verworfene oder versperrte Dimension ist, es ist, als ob dieses philosophische Subjekt die ästhetische Untersuchung aus seinem Geltungsbereich ausschließen würde:  8 Die Verwendung des »[Nicht]« findet sich im Untertitel des Abschnitts über Neo Rauch in Christoph Menke, »The Aesthetic Critique of Judgment«, in: Daniel Birnbaum, Isabelle Graw (Hg.), The Power of Judgment. A Debate on Aesthetic Critique, Berlin, New York 2010, S. 8-29, hier S. 24.  9 Menke, Kraft, S. 113. 10 Vgl. Menke, »The Aesthetic Critique of Judgment«, S. 24. 11 Vgl. ebd., S. 11.

97

Ich mache mich selbst zu dem Boden, auf dem ich bauen kann, indem ich mich zum Akteur und meine Gedanken zu meinen Handlungen mache: zu einem Vollzug, der in jedem seiner Schritte von mir getan, also von mir kontrolliert wird. Das kann ich aber nur im Feld des Verstandes.12

Mehrere mögliche Verständnisse von Widerwillen sind hier denkbar. Zunächst schließt diese Verbindung zwischen dem, was die Vernunft ablehnt, und dem, was sie sicherstellen kann, an Foucaults Erläuterung des kartesianischen Ausschlusses des Wahnsinns und Derridas These vom hyperbolischen kartesianischen Zweifel an. Allen gemeinsam ist die Beschreibung der kartesianischen Vernunft als Verkörperung einer konstitutiven Grenzziehung, einer Einhegung des Widerwillens. Im Rahmen einer hypothetischen Genealogie großer Momente der Verachtung in der Geschichte der Philosophie könnte man darüber hinaus eine Reihe von Revisionen rationaler Selbstversicherung anführen, nach denen die Vernunft der Anmaßung, des Ressentiments, der Selbstverleugnung, des Instrumentalismus, der Quarantäne, der Deformierung oder der grammatischen Verwirrung fähig ist, die einen Täter hinter die Tat projiziert. Doch was ist die Alternative zur Pseudo-Souveränität des urteilenden Subjekts? Wie bricht der kritische Vollzug der widerwilligen Vernunft den Rahmen dieser scheinbaren Alternativen: autoritäres Urteil, autoritäre Entscheidung und Handlung gegen den Zweifel und das schwächliche Urteilsvermögen?13 Betrachten wir die Erläuterungen zu jener starken Reaktion auf die These eines ungenannten deutschen Philosophen: »So ein Unsinn!«14 Was Menke im Einklang mit der Besonderheit seines Philosophems identifiziert, ist eine unzureichende Abneigung15 – was einer Unzulänglichkeit im Urteilsprozess gleichkommt. Die hier fehlende Operation des Widerwillens wäre jene Gegenkraft, die darauf besteht, dass das eigene Argument nicht den Status eines 12 Ebd. 13 Siehe auch Isabelle Graw, »Judging: Yes, But How?«, in: Birnbaum, Graw (Hg.), The Power of Judgment, S. 37-42, hier S. 39. Auf S. 37 formuliert Graw diese Frage auf folgende Weise: »Während ich den Begriff eines Urteils zu schätzen weiß, das auch sich selbst in Frage stellt, […] unterschätzt Menke nicht Situationen, in denen es angemessen oder sogar notwendig ist, eine starke Behauptung oder ein starkes Urteil zu formulieren, ohne einen Zweifel zu erlauben?« 14 Menke, Die Kraft der Kunst, S. 61. Siehe auch Menke, The Power of Judgment, S. 12. 15 Siehe Menke, Die Kraft der Kunst, S. 77.

98

abschließenden Urteils erhalten wird, das im Speicher abgeschlossener Gedankens aufbewahrt ist. Diese Gegenkraft könnte sich in einer möglichen Konfrontation mit dem aporetischen Grund von Rechtfertigungs- oder Verfahrensprinzipien oder in der Antizipation von Alternativen ankündigen, die mit dem Leben der Kritik einhergehen, von überraschenden neuen Entwicklungen, die Denkgewohnheiten mit dem Glück (wie auch dem Unbehagen) des Unvorhergesehenen verdrängen. In diesem Sinne ist der Widerwille die Antizipation seiner eigenen Unvollständigkeit. Wenn dies fehlt, würde sich eine mögliche Kritik der widerstrebenden Vernunft stattdessen in der flachen, statischen, aufgelösten Landschaft des abgeschlossenen Denkens mit so wenig Widerstand wiederfinden, dass man sogar einen »Groll« auf den Philosophen oder das Argument (beziehungsweise den Maler, das Kunstwerk) verspürt: Der Grund des Urteils hat mich nicht über das Urteil hinausgetrieben, er hat mich nicht vom Urteil abgehalten. […] Der verfehlte Satz hatte nicht die Kraft, mich zu einem Denken zu nötigen, das mich von meiner allerersten urteilenden Reaktion losgerissen, sie vielleicht sogar in Frage gestellt hätte. Ich möchte sagen: Ich habe auch nur geurteilt, aber nicht Kritik geübt. Das ist es, was ich dem bekannten deutschen Philosophen am meisten übelnehme.16

Anstatt sich auf die Widerständigkeit des Objekts oder auf das Vermögen eines Subjekts zu reduzieren, betrifft die Kraft des Gegenwiderstands das Potential beider, sich sowohl gegenseitig umzugestalten als auch den weiteren Austausch zwischen diesem besonderen Objekt und diesem besonderen Subjekt zu ermöglichen. Es wird hier also für etwas anderes als ein zögerliches, selbstzweifelndes Urteil plädiert. II. Der Künstler: Das Nichtkönnen können

An einer anderen Stelle in Kraft der Kunst veranschaulicht ein Zitat von Susan Sontag über die Spaltung von Kunst und Leben den Unterschied zwischen Selbstzweifel und dem Ausgesetztsein an 16 Ebd., S.  62.

99

einen Widerwillen, das heilsam (wenn auch manchmal schmerzhaft) dem Hinausgetriebenwerden vorangeht. Sontag schreibt: »Als Schriftstellerin toleriere ich Fehler, schlechte Leistung, Misserfolg. Was soll’s, wenn ich manchmal scheitere.«17 Sie kann im aktiven Verstehen und Bejahen der unbequemen Möglichkeit schreiben, dass sich ihre Arbeit als enttäuschend erweisen könnte. Auch dies ist kein Plädoyer für das Schreiben im Zustand des Selbstzweifels. Es handelt sich auch nicht in erster Linie um ein Verhältnis der Nachsichtigkeit gegenüber sich selbst. Es heißt vielmehr, in der Erwartung von unerwarteten und sich entfaltenden Möglichkeiten zu schreiben. Sontag schreibt mit der Haltung, »das Vehikel, das Medium, das Instrument einer Kraft jenseits meiner selbst zu sein. Ich erlebe das Schreiben als mir gegeben – manchmal fast wie diktiert. Ich lasse es kommen, versuche es nicht zu stören«.18 Dies ist kein Plädoyer für Passivität. Um Menkes charakteristisches »Nicht« in diesem Zusammenhang anders zu erläutern, können wir annehmen, dass Sontag [nicht] versucht, gut zu schreiben. Natürlich hofft sie, das zu tun, aber Schrift und Hoffnung müssen durch das Wissen vermittelt sein, dass man nur versuchen kann zu schreiben. Man kann auch nicht gut schreiben, indem man die vermeintlich schlauere Methode einsetzt, zu versuchen, es nicht zu tun, oder nicht zu versuchen, es zu tun. »Nur wer sich dem Zufall, dem lebendigen Spiel der Kräfte aussetzt, dem kann in seinem Handeln etwas wahrhaft glücken«.19 Sontag – die wir uns so imaginieren können, dass sie diese Formel bejaht – könnte nur sicher sein, nicht gut zu schrei­ben, indem sie versucht, gut zu schreiben. Die Potentialität des Schreibens kann nicht direkt durch Bestreben erreicht werden, was eher einen Kurzschluss erzeugen würde. Dass es keinen instru­mentellen Zugang zum Zufall geben kann, ist auch ein Punkt von Sontag, dem sie in ihren Bemerkungen eine weit reichende Bedeutung gibt. Sontag 17 Susan Sontag, As Consciousness is Harnessed to the Flesh. Journals & Notebooks 1964-1980, New York 2012, S. 37 f., zitiert in: Menke, Die Kraft der Kunst, S. 102 Fn. 18 Ebd. 19 Menke, Kraft, S. 128. Wie Menke in der Diskussion Nietzsches weiter ausführt: »Zwar können auch die Künstler das lebendige Wirken ihrer Kräfte nicht umwillen des Glückens ihres Handelns vollziehen; denn es kann gar nicht vollzogen werden« (ebd., S. 127).

100

reflektiert auf den Unterschied oder das Ungleichgewicht zwischen ihrer Fähigkeit – die wir »Un-fähigkeit« nennen (oder für die wir anderweitig eine Grammatik der negativen Fähigkeit finden) müssten –, vom drohenden Versagen beim Schreiben heimgesucht zu werden, einerseits, und dem Sex andererseits (oder zwischen Kunst und Leben, wie Menke ihre Gegenüberstellung charakterisiert20). Hier finden wir den besten und treffendsten Ausdruck des [Nicht] in seinem ganzen vitalen (Un)Vermögen. In Bezug auf ihr heilsames (Un)Vermögen im Schreiben bezeichnet sich Sontag selbst als unfähig zum sexuellen Äquivalent: Sie ist zu sexuellem (Nicht)Verhalten nicht fähig. Wir brauchen das [Nicht], denn Sontags Standpunkt beruht auf dem folgenden Kontrast: Was sie erkennt, im Schreiben tun zu können (das heißt, was sie [nicht] tun kann, um dabei das vergebliche Ziel der Abwendung des Scheiterns oder der Sicherstellung des Erfolgs zu vermeiden), das erkennt sie so, dass sie es in jenem anderen Bereich nicht tun kann: »Es ist einfach diese Einstellung, die ich zum Sex nicht habe. Ich dulde keinen Fehler, kein Versagen – deshalb bin ich von Anfang an ängstlich und daher wahrscheinlich zum Scheitern verurteilt. Denn ich habe nicht das Vertrauen, dass es manchmal (ohne mich zu etwas zu zwingen) gut sein wird.«21 Auch hier gibt es einen affektiven Überschuss in Sontags Beschreibung: in diesem Fall Reue. Und nicht nur im alltäglichen Sinn,22 sondern auch im Sinne von Menkes Philosophem gibt es hier eine leichte Selbstverachtung. Drei Arten des Widerwillens sind also in Sontags kurzem Kommentar impliziert. Erstens zeigt sich eine von Menkes Bedeutungen des Widerwillens in der willentlichen – wenn auch schmerzlichen – Bereitschaft, beim Schreiben dem Unvorhergesehenen ausgesetzt zu sein, dem, was sich gegen die eigene beabsichtigte Stoßrichtung sträubt. Zweitens handelt es sich um den scheinbar überschüssigen Affekt der Abneigung, die ich anlässlich von Sontags Wachsamkeit gegenüber dem Abstoßenden erwähnt habe: ihrer Unfähigkeit zur Unfähigkeit, wenn es im Fall des sexuellen Analogons darum geht, 20 Vgl. Menke, Die Kraft der Kunst, S. 102. 21 Sontag, As Consciousness is Harnessed to the Flesh, S. 37; zitiert in: Menke, Die Kraft der Kunst, S. 102. 22 Im alltäglichen Sinne ist Sontags Bemerkung natürlich vom sicheren Wissen durchdrungen, dass es lächerlich und abstoßend ist, der Unduldsamkeit persönlichen Versagens sexuell Ausdruck zu geben.

101

sich dem Nichtkönnen auszusetzen. Die dritte Bedeutung des Widerwillens lässt sich am besten indirekt erfassen. Wir werden seine Form entdecken, wenn wir uns klarmachen, dass Sonntag keine übertriebene sexuelle Leistung beschreibt. Sie sagt uns nicht, dass ihre Bemühungen eine Katastrophe sind, weil sie sich zu sehr bemüht. Was sie beschreibt, entspricht einem wichtigen Unterschied in der Form: ihre eigene abweisende Ablehnung, die ihrem eigenen zu starken Bemühen vorangeht, ihre Ablehnung der bevorstehenden übermotivierten Leistung. Das ist der luzide Widerwille eines Subjekts, dem im Bereich des Sexuellen eine kein Scheitern duldende Leistung unweigerlich schon sein eigenes gescheitertes Unterfangen ist. Die Klarsichtigkeit des Widerwillens gehört, mit anderen Worten, demjenigen Subjekt zu, das immer schon geahnt hat, dass die Haltung, die es beim Sex haben würde, die der Leistung ist, und in Erwartung der selbst geschaffenen Katastrophe zurückgeschreckt ist – obgleich der kompensierende Anspruch sie auch nicht abwenden kann. Nähert man sich der Sache einmal in diesem indirekten, negativen Sinn (und fragt, worauf sich die Ablehnung bezieht), könnte Sontags Erzählung sodann im Licht einer kürzlich von Sianne Ngai ausgearbeiteten ästhetischen Kategorie überdacht werden – allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen. Mit Blick auf den weiteren Sinn von Widerwillen, den ich vorschlage, ist es hilfreich, den Archetyp »Lucille Ball« als das Letzte zu betrachten, was Susan Sontag sein will. III. (Nicht) unsere ästhetischen Kategorien:

Widerwille gegen den Widerwillen

Ngai hat vorgeschlagen, dass die Hinwendung zum leicht Verabscheuenswürdigen bei der Erforschung zeitgenössischer ästhetischer Kategorien hilfreich sein kann, die entsprechend gleichermaßen in der Lage sein können, »als Lob oder Kritik zu fungieren«.23 Daher fragt sie, welche ästhetischen Kategorien der zeitgenössischen Produktion, Zirkulation und Konsumption entsprechen. Welche 23 Sianne Ngai, Our Aesthetic Categories. Zany, Cute, Interesting, Cambridge/Mass. 2012, S. 236.

102

helfen uns, »an einige der wichtigsten sozialen Dynamiken heranzukommen, die dem Leben in der spätkapitalistischen Gesellschaft heute zugrunde liegen«?24 Inwiefern hat die Hyper-Kommodifizierung und die Sättigung durch Information und Leistung auch eine Transformation der ästhetischen Erfahrung bewirkt? Als Antwort hat Ngai ein breit diskutiertes Argument für die Ergänzung des Schönen und Erhabenen durch »unsere« ästhetischen Kategorien geliefert: durch das Niedliche [the cute], das Interessante [the interesting] und das Überdrehte [the zany]. Wir finden bei Ngai außerdem weitere Formen des Widerwillens. Erstens sind diese ästhetischen Kategorien, selbst wenn sie positiv konnotiert sind, nur auf vage Weise konzessiv. Etwas als harmlos, »niedlich« zu beurteilen, ist ein wenig abwertend, und das Urteil, dass etwas »interessant« ist, kann auf einen gedämpften Enthusiasmus hindeuten. Beim Überdrehten ist dies – aus Gründen, die es weiter zu entwickeln gilt – erst recht der Fall, so dass alle drei Urteile eine Ambivalenz verkörpern.25 Darüber hinaus ist das »Überdrehte« in Ngais Überlegungen auf besondere Weise charakterisiert, da es den doppelten Status hat, sowohl zeitgenössisch als auch in einem bestimmten Sinne im Niedergang begriffen zu sein: Darüber hinaus gibt es ein spürbares Schwinden des Überdrehten als solches in der Gegenwart: sicherlich nicht als ästhetischer Stil – als Stil des Tuns oder Aufführens findet man das Überdrehte überall  –, sondern als ästhetisches Urteil oder als urteilender Sprechakt. »Überdreht« scheint also aus unserem Lexikon der gefühlsbasierten Bewertungen zu verschwinden, auch wenn »niedlich« und »interessant« es mittlerweile dominieren.26

Wenn man diesen Niedergang – begleitet von Menkes »Nicht« – weiter ausführt, dann lässt sich schlussfolgern, dass die ästhetische Erfahrung des Überdrehten zunehmend mit dem Widerwillen verschmolzen ist. Ausgehend von Ngais Schlussfolgerung ließe sich sagen, dass sich das Überdrehte auch zu einer ästhetischen Kategorie der Aversion gegen das Überdrehte entwickelt hat. Die Ablehnung des Überdrehten unterscheidet sich natürlich von der Abwesenheit 24 Ebd., S.  1. 25 Sie werden beschrieben als eine »komplexe Mischung sowohl negativer wie auch positiver Affekte, die in der ambivalenten Natur so vieler unserer ästhetischeren Erfahrungen resultieren« (Ebd., S. 2). 26 Ebd., S.  231.

103

des Überdrehten und liefert uns die folgenden Varianten: eine Abneigung gegen das Überdrehte, eine beunruhigende Nähe zu einer abgelehnten Überdrehtheit, und drittens die Aversion des Überdrehten gegen sich selbst. Das Überdrehte ist am Werk, wenn die Grundlagen der Disziplinen, wie etwa die Anforderungen der Zeit- und Terminplanung, außer Kontrolle geraten. Es ist »im Wesentlichen die Erfahrung einer Handelnden, die mit zu vielen Dingen, die auf einmal auf sie zukommen, konfrontiert ist und von diesen gefährdet wird«.27 Es kann eine »Ästhetik der Handlung sein, die in körperlich anstrengende Extreme getrieben wird (und eine Ästhetik einer intensiv wollenden und begehrenden Subjektivität) […]. [Es hat] eine gestresste, ja verzweifelte Qualität, die […] es von dem Vertrottelten [goofy] oder dem Dümmlichen [silly] unterscheidet«.28 Gehen wir von einer erfahrenen Rednerin aus, die weiß, dass sie irgendwo kurz vor dem Streben nach dem perfekten Vorbereitetsein stehen bleiben und Raum für das Unerwartete lassen muss. Das Gegenteil einer schlechten und nicht engagierten Vorlesung, der auch die Sprecherin gleichgültig gegenübersteht, ist nicht, wie man lernt, die perfekt gelieferte Darbietung, akribisch vorbereitet und voll verwirklicht. Oftmals wird eine Arbeit, die diesen Punkt erreicht, ihres eigenen Lebens beraubt – es wäre besser, sie zurückzuziehen, zu veröffentlichen oder in Ruhe zu lassen. Aber dieses wertvolle praktische Wissen kann durch ein Gefühl des Unvorbereitetseins verzerrt werden, das den ganzen Beigeschmack von Sontags Dilemma hat: Sobald die Intoleranz für das notwendige Defizit die eigene Praxis in das Register der »Angemessenheit der Leistung« verschiebt, ist das eigene Scheitern bereits im Gange. Vielleicht waren keine zwei Schreibenden weniger verzweifelt als Susan Sontag und Christoph Menke. Aber dieses praktische Wissen (das Können des Nichtkönnens) kann für sie kurzzeitig unzugänglich sein. So kann selbst der zur Gelassenheit veranlagte Gelehrte mit der plötzlichen Geschwindigkeit der Ablenkung und Bedrängung konfrontiert werden, die Akademikern und Akademikerinnen bei der Vorbereitung widerfährt: 27 Ebd., S.  183. 28 Ebd., S. 184 f.

104

[M]an hat keine Zeit und man hat es auf die hektischste Art und Weise eilig. So ist es beim Lesen eines bestimmten Textes, von dem man weiß, dass er absolut nicht aufgeschoben werden kann, denn morgen, schon morgen, muss man darüber etwas sagen, etwas fragen, – ein Lesen, das mit immer größerer Geschwindigkeit, Ablenkung und Beunruhigung vorgeht, eilt weiter, ohne dass das, was man gelesen hat, auch nur eine einzige Zeile – eine einzige, miserable kleine Zeile! – hängen bleibt, um mich in meinem Vorwärtsdrang aufzuhalten, mich zu packen, einen Gedanken in mir zu wecken […]. Das ist die totale Entfremdung, auf die der Körper noch schneller reagiert, entschiedener als der Geist; mit Nervosität, die an Übelkeit grenzt.29

Das »Nicht«, das in Sontags und Menkes Beschreibungen enthalten ist, erfasst auf unterschiedliche Weise (so mein Argument) jenes Supplement zu Ngais Darstellung, der zufolge die moderne Bedeutsamkeit des Überdrehten eine zugleich verfallende und abgelehnte ist. Erstens ist der Widerwille eine affektive Intelligenz, eine eigene Art der Vernunft. In Sontags Zurückweichen und Menkes »Nicht« ist die Erkenntnis enthalten, dass die ängstliche Anstrengung das, was sie zu erfassen versucht, formal behindern würde. Wenn (in einer Art der physiologischen Erkenntnis, von der auch Nietzsche spricht) der Ekel auf intelligente Weise widerstrebend ist, dann nimmt er nicht bloß die Möglichkeit des Scheiterns vorweg. Vielmehr handelt es sich um eine Operation der widerstrebenden Vernunft: das akute Wissen des Affekts, dass Ekel und Nervosität selbst darauf hindeuten können, dass der drohende Verlust der Unterscheidung zwischen Spiel (oder Zufall) und Arbeit (oder getriebener Leistung) beiden schadet. Zwar wird die zeitgenössische Akademikerin zunehmend auf allzu gewohnte Weise bedrängt. Aber das Philosophem weist auf die spezifisch widerstrebende Intelligenz von Menkes »Nicht« hin, die die Lächerlichkeit ihrer eigenen lockenden (und nie ankommenden) Hektik kennt und verabscheut. Während Ngai über die ästhetische Kategorie des Überdrehten spricht, wird Lucille Ball hingegen wirklich in ihren desaströsen Erfolgsversuchen bedrängt, indem sie sich auf den Taumel von Geschwindigkeit, Aktivität, Eile, Ablenkung, Übereifer und überzogene Vorbereitung einlässt.30 Natürlich 29 Christoph Menke, o. T., in: Parallax 9:3 (2003) S. 53 f., hier S. 54. 30 Natürlich sollte man in dieser Überdrehtheit ebenfalls, wie Ngai betont, die Bra-

105

sind die Bemühungen von »Lucy« unglücklich, aber ihr Überdrehtsein ist nicht weniger intelligent: Ihr Taumel verkörpert ein Wissen von der immanenten Katastrophe, ja kommuniziert und nimmt es in Anspruch. Die von Sontag und Menke beschriebenen Empfindungen der Hektik und des Leistungsdrucks sprechen für etwas anders Verfasstes. Diese andere Version des [Nicht] ist ein Widerstreben gegen den eigenen Affekt und von besonderer Art. Es ist ein ablehnendes Bewusstsein für die Gefahren des Umschlags von Tun in Leistung und gleichzeitig des grotesken Umschlags in einen Gegen-Affekt, der von jener Antizipation beherrscht wird. Die Intelligenz der Ablehnung beinhaltet auch einen milden Ekel gegen die implizierte Ablehnung und den damit verbundenen affektiven Überschuss. Denn der Schaden wird dadurch verursacht, dass ein Überdrehtsein verhindert wird, das in diesem Fall nie stattfand und nie stattfindet. Der Widerwille gegen den leichten Ekel bei Sontag umfasst auch die Gefahren der eigenen verbrieften Anspruchshaltung. Menke und Sontag argumentieren, dass der Wille zur Abwendung von Chaos und möglichen Katastrophen nicht in der Lage ist, das jeweilige Scheitern zu verhindern. Jene zusätzliche Gegen-Intelligenz (ein Widerwille gegen den Widerwillen?) ist ebenfalls am Werk. IV. Widerwillige [Nicht]Befreiung

Menkes Lektüre von Walter White31 lässt sich ebenfalls in diesen Begriffen neu denken. Einerseits findet sich die Perspektive auf seine Durchschnittlichkeit, Schmach, Erniedrigung und schließlich seinen Krebs – unterbrochen durch die Möglichkeiten, die White durch sein Todesurteil eröffnet werden, wie auch durch die Gelegenheit, Methamphetamin herzustellen. Seine Befreiung nimmt den Weg der wissenschaftlichen Kompetenz, des disziplinierten Verhaltens, eines neu gegründeten Geschäfts und der kriminellen Intelligenz. Andererseits aber grenzt seine Arbeitsmoral an das Manische, an das außergewöhnliche Crescendo aus Leistung, vour und außergewöhnliche Darbietung von Ball (der Komikerin) sehen, vgl. Ngai, Our Aesthetic Categories, S. 181. 31 Siehe Christoph Menke, »Breaking Bad. Versuch über die Befreiung«, in: Westend. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 2 (2016), S. 3-24.

106

hektischem Engagement und ikonischen Momenten: Explosionen, Implosionen, Walters Flucht in die Wüste in seinen weißen Unterhosen, seine Geschäfte mit Neonazis, sein Partner in Fesseln, der effiziente Trick mit dem Maschinengewehr im Kofferraum, und dies alles an den Grenzen zwischen Disziplin und ihrer Anlage zu einer fieberhaften Steigerung. Der Widerwille zeigt hier seine formale Dimension (denn die Bedingung der Disziplin ist die Flexibilität, die die Möglichkeit des eigenen Exzesses birgt, das »absolut elastische Subjekt – ein Subjekt, das nichts anderes als eine Reihe von Korrekturen und Anpassungen an eine Situation nach der anderen ist«32) wie auch seine affektive Intelligenz, seine SelbstZurechtweisung. Denn Whites letztendliches Geständnis – »Ich habe es für mich getan. Ich mochte es. Ich war gut darin. Ich war lebendig« – demonstriert mehr als nur das Erlangen von Klarheit oder eine befreiende Selbsterkenntnis. Seine ästhetische Qualität ist die eines leichten Widerwillens gegen sich selbst – der einen affektiven Überschuss birgt. Whites Selbstwahrnehmung wird von seinem eigenen Ekel – und dem des Publikums – begleitet. Vielleicht ist dies ein Sinnbild der Ausdrucksformen zeitgenössischer Freiheit, Gerechtigkeit und Selbsterkenntnis in einem post-psychoanalytischen, post-existenzialistischen, post-nietzscheanischen und postfoucaultschen Augenblick. Wir werden die Klarheit, die White erreicht hat, sicherlich nicht anders als abstoßend verstehen – und dies womöglich auf zweifache Weise. Genauer gesagt, können wir in ihr selbst eine Doppelung sehen: Erneut zeigt sich der Widerwille gegen den Widerwillen (wiederum sowohl formal, da die Begriffe einer Selbstkritik des Widerwillens in den Widerwillen eingebaut sind, als auch im Sinne eines Überschusses an Affekt). Damit White erkennt, dass er (im alltäglichen Sinne) abstoßend geworden ist (er hat seinen Freund und seine Familie verraten und dabei nur seine eigenen Interessen verfolgt), bedarf es ein wenig, aber nicht viel Selbsterkenntnis: Es ist ein klarsichtiges, aber kein intelligentes Bekenntnis. Ein widerstrebendes Bekenntnis dagegen bekennt sich, indem es vor sich selbst zurückweicht – nicht nur vor den eigenen Taten, sondern auch vor dem, was (vergeblich) mit dem Bekenntnis zu erreichen versucht 32 Ngai, Our Aesthetic Categories, S. 174.

107

wird (also vor den Voraussetzungen des Bekenntnisses), und in emotionaler Kenntnis dieses zusätzlichen Scheiterns. Auch das ist Teil der bekenntnishaften Transaktion zwischen Walter und Skyler. Vielleicht ist das Bekenntnis, ja sogar dessen Klarheit, unmöglich ohne den vergeblichen Wunsch, dass es Erlösung bewirken oder einen Unterschied machen könnte: Ein intelligenter Widerwille weicht in seine Wahrnehmung dieses Wunsches zurück, so dass ein leichter Ekel vor sich selbst den affektiven Überschuss verdoppeln könnte. Wenn dies als eine verdrehte Grammatik des Widerwillens erscheint, so handelt es sich um eine Grammatik, von der Nietzsche einen einfachen Gebrauch gemacht hat. Nietzsche konnte zwischen dem Ekel von denjenigen unterscheiden, die allzu menschlich sind, und der Bedeutsamkeit des Ekels gegen diejenigen, die allzu menschlich sind. Aber letzterer bringt sein Subjekt in die Nähe dessen, was es vermeiden will, und bietet kein sicheres Mittel der Abwendung von ersterem. Nietzsches fröhliche Wissenschaft ist zu fragil, um ihre eigene Bindung an die »göttlich unbeschwerte«, sorgenfreie Schwerelosigkeit der Unfähigkeit aufrechtzuerhalten, an »das, was wir im Verhältnis zu uns selbst brauchen – […] ausgelassene, schwebende, tanzende, kindliche und selige Kunst«. Stattdessen kann es in eine schrille, getriebene, manische Stimme mit »kreischender Intensität« ausbrechen.33 Wo Menke auf die Bedeutung der doppelten Affekte des dionysischen Künstlers für Nietzsche hinweist und dessen Fähigkeit betont, sich zwischen selbstbewusstem Vermögen und berauschter Kraft hin und her zu bewegen,34 spiegelt sich für Ngai in »Nietzsches Unschlüssigkeit zwischen den schweren und den leichten Affekten des Taumels und der Heiterkeit« und in der Anfälligkeit für eine hektische, bedrängte, unaufhörliche Aktivität der »affektive Widerspruch im Herzen der Ästhetik des Überdrehten deutlich wider«.35 Dass Spontaneität nicht durch eine konzertierte Leitung von 33 Ebd., S.  184. 34 Menke unterscheidet diese Fähigkeit von einer anderen Spielart des Dionysischen, dem dionysischen Barbaren, der jene Mobilität vermissen lässt und der eher mit einem rudimentären, tierhaften Zustand in Verbindung gebracht wird, der dem Auftauchen derjenigen Fähigkeiten vorausgeht, die das Hin- und Herschwingen kennzeichnen. Vgl. Menke, Kraft, S. 127. 35 Ngai, Our Aesthetic Categories, S. 187.

108

Spontaneität erreicht werden kann (Letzteres ist eher grell und alarmierend, eine Überdrehtheit à la Jim Carrey), mag zu den Gründen gehören, warum Nietzsches schrille, aufgeregte Dringlichkeit nicht ganz die freudig verkörperte Philosophie erreichen konnte, die er suchte. Sobald Subjektivität, Freiheit und Zielstrebigkeit als normative Praxis verstanden werden, die sich aus Gewohnheit und Formbarkeit, Wiederholung und Anpassungsfähigkeit, Vergleich, Hierarchie, Hinterfragung, Korrektur, Selbstkorrektur und den Anreizen der Disziplinen ergibt, werden diese Bedingungen einer anonymen Kraft ausgesetzt, die maßlos zu werden vermag, und zwar auch in dem Sinne, in dem Ngai von der »schwitzenden, umlagerten Performerin« des kompetitiven Reality-Fernsehens spricht, die der Jury mit »ihren Materialien und ihrer Ausstattung« begegnet, »während eine Uhr hinter ihr abläuft.«36 Die Kondition des modernen Subjekts, die sich in solchen Praktiken zeigt, besteht in einer Reizbarkeit, Selbststimulation und Flexibilität, die so leicht in ihren eigenen Exzess an Uhren, Zeitplänen, Materialien, Ausrüstung, Urteilen, Selbstbeurteilungen und Selbstveränderungen hineintreibt. In traurigen Kommentaren zu den Strapazen des Lebens und der Kunst charakterisieren Sontag und Menke auf indirekte Weise den formalen Widerwillen dieser Formationen gegen sich selbst. Aber natürlich handelt es sich um Formationen, die ihr affektives Supplement verkörpern: Ich habe dieses als Abneigung gegenüber dem Überschuss beschrieben und als dessen Abwehr. V. Unsere widerstrebenden Kategorien

(zwischen Menke und Ngai)

Es handelt sich hier um ein Resultat, das nicht ganz Menke und auch nicht Ngai zuzuschreiben ist, das aber im Raum zwischen ihren Arbeiten zum Vorschein kommt – eine Transformation, die zwischen der negativen Ästhetik des ersteren und den ästhetischen Kategorien der letzteren möglich wird. In diesem Raum werden auch die Beiträge von Nietzsche und Foucault rekonfiguriert – und zwar mit den folgenden Konsequenzen. Es ist auffallend, dass sich 36 Ebd., S.  237.

109

sowohl Menke als auch Ngai auf die moderne Disziplinierung des praktischen Subjekts und seine präsubjektiven und explosiven Kräfte nach Nietzsche beziehen, um die Offenheit des disziplinarischen Subjekts für seinen eigenen widerstrebenden Überschuss neu zu denken. Auffallend ist auch, dass beide wertvolle Erläuterungen des disziplinarischen Subjekts anbieten, insofern sie es in einem ästhetischen Register präsentieren, das nur selten mit Foucaults Arbeiten zur Bio-Macht verbunden wird. Man könnte daraus schließen, dass Menke und Ngai eine ganze Reihe von Einsichten über die zeitgenössische Ästhetik teilen, auch wenn sie sehr unterschiedlich konstruiert und eingesetzt werden. Dies vorausgeschickt, könnte uns eine Kritik der widerwilligen Vernunft aber auch über solche Punkte der Übereinstimmung hinausbringen. Die Übereinstimmung zu sehen ist zwar erhellend und überraschend, besonders wenn man die Unterschiede im Kontext und in den Argumentationszielen bedenkt. Aber eine Kritik der widerwilligen Vernunft ist auch im Hinblick auf ein anderes Verhalten der Kritik instruktiv: Sie erinnert uns daran, Verbindungspunkte nicht nur in Ähnlichkeiten, sondern auch in Formen der Ablehnung zu suchen. Das Subjekt der Praxis ist nach Ngai durch eine Flexibilität gekennzeichnet, die ein zermürbendes Potential für einen störenden Überschuss birgt. Für Menke handelt es sich um ein vorausgesetztes und vorpersönliches Prinzip, das sowohl die Bildung von gewohnheitsmäßigem Verhalten als auch den Bruch mit Gewohnheiten ermöglicht, die er ohne Weiteres mit der Möglichkeit einer desubjektivierenden Befreiung in Einklang bringen kann. Dieser Bruch (sein Potential, seine Überraschung, seine Bedeutung) ist eine verkörperte Form der Kritik. Dies entspräche einer Disziplin, die sich selbst verachtet, während Ngai eher von einer Disziplin, die Amok läuft, spricht. Menkes Hinweise auf das Üben von Kritik sind ebenfalls aufschlussreich. Der Punkt besteht nicht nur darin, dass wir es hier mit einer Paradoxie oder einer Aporie und der Möglichkeit einer differentiellen Grammatik des Widerwillens zu tun haben: Recht und Gewalt argumentiert für eine genealogische Praxis, die fragt, welche besondere Form die Spaltung des Vermögens (oder des Gesetzes, des Urteils, der Rechte, der Kritik, der Kunst oder der Schauspielerin) von sich selbst annimmt. Dabei können wir eine besondere Aufmerksamkeit auf eine Teil110

menge solcher Formen lenken: auf die sich selbst antagonistischen, widerstrebenden Prinzipien oder Bedingungen, die von den hier diskutierten affektiven Überschüssen begleitet sein können – subjektiv, physiologisch oder anonym. Natürlich gibt es keinen Mangel an Affektivem in den Diskussionen, die solche Protagonisten haben: Walter White, Neo Rauch, der unvermeidliche deutsche Philosoph, Schrift, Eros, Lehre, »Kunst und Leben«. Aber das heißt nicht, den affektiven Überschuss zu bestreiten, der in der Negativität abstrakter Prinzipien und Bedingungen der Möglichkeit liegt. Wenn Recht und Gewalt in der Rückkehr zum operativen Bezugspunkt, zum Widerwillen37 des ästhetischen Geschmacks nach Adorno, kulminiert, dann hat sich dessen Anwendungsbereich ­ erweitert. Es umfasst nun das »Gegen sich selbst Reagieren« des Rechts, das sich selbstreflexiv »als rechtlos erkennt«. Und das soll auch ein Recht sein, »das Widerwillen gegen sich selbst hat: dem sich die Haare gegen sich selbst sträuben«.38 Dies lässt sich der Art und Weise hinzufügen, wie die genealogische Aufmerksamkeit in diesem theoretischen Kontext analysiert wird: »immer fragend, welche besondere Form diese Teilung annimmt«. Dort, wo uns Derrida mit Bezug auf ein emanzipatorisches Recht, eine juristische Entscheidung oder auf die Menschenrechte auf die Implikation einer Unmöglichkeit und das à-venir verweist, und dort, wo Foucault auf den schwankenden Boden hindeutet, auf dem jene stehen,39 kann Menke eine anders fokussierte Aufmerksamkeit auf etwas zusätzlich Materielles richten, das ihre Form betrifft: Sie sträuben sich. Auf einer formalen Ebene sind sie mit sich selbst im Streit, sie lehnen sich ab, sie widerrufen sich und setzen sich wieder ein (während der Boden unter ihren Füßen schwankt und ihr à-venir auf unmögliche Weise vorweggenommen wird) – und einer Genealogie der widerwilligen Vernunft zufolge 37 [Anm. d. Übers.: Im Original Deutsch.] 38 Menke, Recht und Gewalt, S. 102 f. 39 Um an die Schlusspassage der Einleitung aus der Ordnung der Dinge zu erinnern: »Man versucht, diese tiefe Denivellierung der abendländischen Kultur wieder an den Tag zu bringen, und dadurch geben wir ihre Brüche, ihre Instabilität und ihre Lücken unserem schweigenden und auf naive Weise unbeweglichen Boden wieder. Von neuem gerät unter unseren Schritten diese Oberfläche in Unruhe« (Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frank­furt/M. 1974, S. 28).

111

ist es auch der Fall, dass sich das Haar des Gesetzes in ihrem Nacken sträubt. Dieses Interesse an der Form auf dem Pfad der widerstrebenden Vernunft lädt uns ein, jenseits eines formalen Prinzips die weitschweifigen und invertierten neuen Wege zu gehen, die das [Nicht] analytisch bahnt. Die damit korrespondierende Genealogie kann nämlich ihre Aufmerksamkeit auf die Konturen der Abneigung richten. Bei der Aufmerksamkeit der Genealogin für die spezifischen Konturen des Abgewehrten wird nicht vergessen, dass das, was abgewehrt wurde, auch niemals hätte statthaben können, so wie das Überdrehte bei Menke und Sontag. Doch das Haarsträuben leistet mehr, als uns daran zu erinnern, dass es ein institutionelles und prozedurales Äquivalent zum subjektiven Affekt gibt. In diesem Äquivalent, in der Form und den Institutionen des Gesetzes, der Entscheidung, der Rechte, der Kritik und der Kreation werden wir den eigentümlichen Inhalt der Negativität finden: das, was im antizipierenden Zurückweichen, in der Verteidigung und Reaktion des institutionellen Sträubens als abgewehrt entworfen wird. Nur eine falsch verstandene Ablehnung unterstellt, dass ihre aversive Form mit der Realität (der möglichen Gegenwart) dessen verbunden ist, was sie vermeidet. Die Form des Lebens, der Entscheidung und des Urteils kommt eher in den Konturen der Abneigung daher: in der Immunisierung gegen das, was niemals war und niemals ankommt. Aber in der spezifischen Form ihrer Ablehnung ist die Immunisierung instruktiv. Das ist mehr und nicht (oder nicht ganz) das, wofür Menke argumentiert, wenn er über ein Urteil – oder eine Entscheidung, die Kunst oder das Leben – spricht, das im zerrissenen Bewusstsein ihres gleichzeitig sich selbst aufhebenden und wieder einsetzenden Prinzips vollzogen wird, denn es gibt weiteren Raum für die genealogische Betrachtung der Form, wenn nicht des Inhalts, die oder der indirekt dem abgewendeten »Was wäre« verliehen wird. Das »Überdrehte« bei Sontag und Menke wird möglicherweise nie statthaben, aber es ist das Sträuben gegen die drohende Überdrehtheit, die ihrem Tun Form und Inhalt gibt. Eine Kritik der widerstrebenden Vernunft bietet umso mehr faszinierendes Potential, wie sie eine Gegen‑, eine negative Genealogie dieser Art anbietet. Aus dem Englischen von Sonja Kleinod 112

Anselm Haverkamp Never but. Little void.  Becketts Negativität, Adornos kleinste Differenz Becketts späte Prosastücke sind nicht übersetzbar im üblichen Sinne des Übersetzens, und seine Gewohnheit, sie zuerst auf Französisch, dann auf Englisch zu schreiben, belegt die Unmöglichkeit des Übersetzens im üblichen Sinne. Das ist in dieser Phase gravierender als für die frühen Romane, in denen die Narration über die darunterliegende, gründlichere Differenz der Sprachen hinwegtäuscht. Was in diesem Neu- oder Parallel-Schreiben passiert, ist nicht so leicht vorab und generell zu sagen, weil es erst sichtbar wird in dem, was in der Doppelnatur dieser Texte jeweils anders auf- und vorgeführt wird. Ich beschränke mich bei Lessness, einem der kurzen Texte, die Beckett nach der Verleihung des Nobelpreises 1965 programmatisch, wie ein Siegel auf sein der Vollendung entgegensehendes Gesamtwerk veröffentlicht hat, auf den englischen Text. Das verlagstechnische »originally published in French« ist grob irreführend; es erweckt den Eindruck, die englische Fassung sei bei aller offenbaren Titeldifferenz von Sans und Lessness sekundär.1 Ich will nicht umgekehrt behaupten, der französische Text sei nur ein Vorlauf für die englische End-Fassung; eher erscheint er im Lichte dieser wie ein Negativ zum Positiv. Was hieße, dass beide in eine weitere Sprache zu übersetzen ein Unding an Synthese erforderte. Der Grund für das in sich komplexe Verhältnis der zweisprachigen Ausführung erschließt sich erst im Rückblick von der zweiten, englischen Fassung – welche die Übersetzung der ersten nur überlagern könnte. Auf sie beschränke ich mich deshalb 1 Samuel Beckett, Sans, Paris 1969; ders., LESSNESS, London 1970 (Reihe Signature 9), im Folgenden nach Seitenzahlen dieser Ausgabe im Text zitiert. Die deutsche Übersetzung von Elmar Tophoven trägt den Titel Losigkeit und erschien als Hörspiel (Ursendung WDR 1. 1. 1971, Regie Martin Esslin), Frank­furt/M. 1971. Unbeschadet der Autorisierung trägt die deutsche Übersetzung zur folgenden Analyse nur indirekt bei. Die erfolgreiche Sammlung The Complete Short Prose 1929-1989, New York 1995, S. 197-201, normalisiert das Original durch das standardisierte Schriftbild irreführend.

113

in einem ersten Schritt, ohne die Rücksicht auf den Entwurf des französischen Sans einzuschließen. I.

Das englische Lessness, in der Originalausgabe von Calder & Boyars durch Kapitalisierung des Titels LESSNESS ent-grammatisiert, bezeichnet einen Stand gesteigerter, in und auf sich zurückgezogener Negativität durch emphatische, suggestive Unbegrifflichkeit. Es ist eine metasprachliche Geste, mit der die »Übung der Dekomposition«, die J. M. Coetzee in diesem Text erkannt hat, die protogrammatische Reduktion der Sprachmaterie in ihrer Begrenztheit überspannt und qua Überspannung in der Begrenztheit festhält.2 Dass dieses Fest-Halten (in existentialistischer Emphase ein AusHalten) den sprachlichen Schreib-Hang der Negativität als einen relativen, gemilderten, statt des üblicherweise absoluten erweist, bewahrt Lessness vor der Allegorie, in die Adorno Becketts Endgame »überspringen« sah – in einer Bewegung, die er in Benjamins Trauerspiel vorfand und die ihn in der durch die barocke Provokation geprägten Ästhetik der zwanziger Jahre – in der Ästhetischen Theorie unter dem Stichwort »Situation« verhandelt – befangen hielt.3 Die verdoppelte, in der Dekomposition zurückgespiegelte Negativität ist eine in sich zurückgenommene, in der Rücknahme zwar durchaus (quasi) dialektische Negativität, aber keine auf Fortdauer der Dialektik gestellte, sondern in der Auf-Dauer-Stellung – ohne Umschlag – festgehaltene (Benjamins »Dialektik im Stillstand«). Coetzee hat Lessness als »exercise in decomposition« formal bewiesen: als de-komponierte Form, welche die Form in der Zurücknahme gleichwohl, reduziert, bewahrt. Im Unterschied zu der für den modernen Roman insgesamt charakteristischen Tendenz zur elliptischen, auf Unendlich gestellten Öffnung der Syntax, in der minimalste Narrativität mit der alltäglichen Sprache abgleichbar 2 J. M. Coetzee, »Samuel Beckett’s Lessness: An Exercise in Decomposition«, in: Computers and the Humanities 7:4 (1973), S. 195-198. 3 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Gesammelte Schriften, Bd. I.1., hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frank­furt/M. 1974, S. 203-430, hier S. 406. Adornos Benjamin-Lektüre prägt seine Einschätzung Becketts als Summe moderner Poetik bis in die Ästhetische Theorie, Frank­furt/M. 1970, S. 36 f.

114

bleibt, exponiert, pointiert, insistiert Lessness auf einer wohlkalkulierten Endlichkeit, in der eine begrenzte Anzahl von Wörtern der ersten Hälfte des Textes in der zweiten Hälfte exakt wiederholt wird: »Die Wörter 770-1538 stellen sich als keine anderen heraus als die Wörter 1-769.«4 Wobei zu bedenken ist (deshalb bedarf es des Nachrechnens), dass die rechnerisch erste Hälfte von der zweiten in keiner Weise abgetrennt auftritt. Ihre Wiederholung ist nicht explizit markiert, sie über-pointiert nur, was im ungeschieden weiterlaufenden Text quasi ana-grammatisch unter-markiert geblieben ist, allein in zusätzlicher, forcierter Reflexion (quasi an-ästhetisch) feststellbar ist und in dieser unkenntlichen Positivität mit einer zusätzlichen, mathematischen Pointe aufwartet: 769 ist nämlich eine Primzahl. Was in Becketts früherem Werk existentielle Negativität ausstrahlte (womöglich ein Missverständnis irischen Humors), erscheint nach Imagination Dead Imagine (1965) auf einen Sprachzustand zurückgebracht, der einer phänomenologischen Reduktion gleicht. Für den Phänomenologen Wolfgang Iser indiziert sie eine Tieferlegung der allfälligen psychohistorischen Motive, die den Roman der Moderne beherrschen. Unterhalb dieser von der Menge bemühter Interpreten eruierten Motivlage in Becketts Werk brächte die späte Prosa die phänomenalen Konstitutionsbedingungen ihrer Wirkung mit an den Tag.5 So dass sich die interpretative Crux, exemplarisch die des Endspiels, auf einen Spagat ausweitete zwischen Aspekten existentieller Betroffenheit auf der einen Seite und purem aleatorischem Spiel auf der anderen Seite. In der einen Hinsicht, der bekannten Schwierigkeit, »das Endspiel zu verstehen«, lässt sich der Wirkungsmodus in allen psychoanalytischen Abschattungen nachvollziehen, in der anderen Hinsicht lässt sich die unabsehbare Menge der Möglichkeiten qua random permutation zu einem Computer-Spiel von »possible lessnesses« erweitern (was obendrein auch noch neurologische Grundlagen offenbaren können soll).6 4 Coetzee, »Samuel Beckett’s Lessness«, S. 195 [Übers. A. H.]. 5 Vgl. Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frank­furt/M. 1991, S. 416-425; ders., Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976, S. 343-347. 6 Elizabeth Drew, Mads Haahr, »Lessness. Randomness, Consciousness and Mean­ ing«, Dublin 2002, 〈https://www.random.org/lessness/paper/〉, letzter Zugriff 22. 3. 2018; die darauf beruhende Website »Possible Lessnesses« ist aus Copyright-

115

Nun lässt sich bei aller abstrakten Nachkonstruierbarkeit der in diesem Text genutzten und gegen die hergebrachten narrativen Teleologien gewandten, diese dekomponierenden Wort-Konstellationen ein beträchtlicher Aufwand an semantischen, ja sogar motivischen Resten nicht leugnen. Er überlagert die aleatorische Oberfläche und negiert den Zufall der depotenzierten Wortaufkommen zugunsten des irreduziblen Falls all-fälligen Endens. Schon die in Endgame (1958) ins Werk gesetzte »Inversion von Manifestem und Latentem« zeigte das in Imagination Dead Imagine explizit gemachte und zur Vorstellung gebrachte meta-poetische Gerüst in seiner vollen Ausprägung, wobei der »latente Grund der sich im Bewußtsein manifestierenden Vorstellungen des Zuschauers vom Ende« zum tragenden Thema geworden war.7 Lessness führt die proto-syntaktische Konstitution dieses in Endgame thematisch gemachten Hangs zur Negation als in der negierten Negation selbst liegenden, in ihr konstitutiv latenten Sprachhang vor. Latenz wäre – so das Fazit der Sprach-Übung Lessness – der proto-grammatisch manifeste Sprachhang der Negation. Doch ich greife vor. Zunächst, der kategorisch einschneidenden Maxime »Vorstellung tot, stell Dir vor« gemäß, zum Titel-Gegenstand, dem Wortbildungsrest -lessness. Schon der erste Abschnitt lässt an dem exemplarischen, der emblematischen Funktion des Titels entsprechenden Paradigma der ausgebreiteten Varianten von lessness keinen Zweifel: »All sides endlessness« steht im zweiten Satz, wobei nur wegen der Satz-Schlusszeichen (Punkte) hier überhaupt von Sätzen gesprochen werden kann. Kommata, so nötig und nützlich sie wären, kommen nicht vor. Schon die programmatische Reihung von Imagination Dead Imagine konnte nur noch in einem sehr kolloquialen Verständnis die unter ihr verblassende Syntax in Erinnerung halten; von »shattered articulation« sprach Christopher Ricks in seiner Bestandsaufnahme von Beckett’s Dying Words.8 Diese Gründen nur mit eingeschränktem Zugriff zugänglich: 〈https://www.random. org/lessness/〉, letzter Zugriff 22. 3. 2018. 7 Gabriele Schwab, Samuel Becketts Endspiel mit der Subjektivität. Entwurf einer Psychoästhetik des modernen Theaters, Stuttgart 1981, S. 111. 8 Christopher Ricks, Beckett’s Dying Words, Oxford 1993, S. 45; eine der wenigen Erwähnungen der späten Prosa. Ich zitiere Ricks’ brillante, einfallsreiche Studie, weil sie mit ihrer weithin geteilten Mainstream-Pointe auf eine charakteristische Weise in die Irre geht. Kein Wort stirbt bei Beckett, im Gegenteil, sie leben fröhlich fort.

116

Art der Dramatisierung will der mit Ricks bekannte, von ihm aber offenbar hinreichend genervte Beckett in Lessness (einem Text, mit dem Ricks seinerseits nicht viel anzufangen wusste) nicht bestätigen. Denn weder in Imagination Dead Imagine noch in Lessness wird Syntax zerstört, sondern als völlig intakte, idiomatisch mit der größten Perfektion getunte Form auf einen präzisen, phänomenologisch nachvollziehbaren Grundriss reduziert. Lessness offenbart die Reduktion im negativen Zug der phänomenologischen Operation als eine sprachliche Bedingtheit, die genauerhin proto-grammatischer, Grammatik formierender Natur ist. So hat schon das erste Wort, das emblemartig isolierte anfängliche »Ruins«, wiewohl es und indem es den Abbau thematisch in die Wege leitet, das Zeug zur ausgewachsenen Allegorie, ja es zitiert einen Inbegriff von Allegorie: Umgeben – »All sides« im nächsten, zweiten Abschnitt – von »endlessness« (S. 7, wiederholt S. 20), ruft es in wenigen Strichen die klassische Form der tota allegoria auf den Plan, um diese sodann einschließlich des ihr eigenen Endes zu destruieren. Ein wohl bekanntes Bild deutet sich an, aber die Andeutung leidet an keiner sprachlichen oder imaginären Beeinträchtigung; im Gegenteil wird sie von einer Flut von phänomenalen Merkmalen begleitet, an denen die sprachliche Seite des Bildes als ein Moment von Begriffs-Bildung fassbar wird. Dabei bleibt das Gros der übrigen Elemente des Textes ohne weitere syntaktische Hilfestellung durch Satzzeichen, besteht es kaum je in mehr als Wort-Paaren, in denen zwei minimal aufeinander bezügliche oder beziehbare Wörter die aus der Aleatorik herausragenden Komposita von lessness präparieren und durchspielen. So folgt gleich am Ende des ersten Abschnitts »issue-less«, was einen idealtypischen allegorischen Sekundärrahmen, die continuatio Quintilians, aufruft, und die daraus abgeleiteten contracta Baumgartens noch dazu (dessen wird sich Beckett kaum klar gewesen sein), nämlich: kontinuierlich durchgeführte lessness als das gegenstandsfreie Prinzip syntaktischer Verkürzung. Die gegenstandslose – issueless – Assoziation der Worte legt in der syntaktischen Verkürzung qua lessness eine unbestimmte Menge sekundärer, syntaktisch noch nicht oder nicht mehr manifester Bezüge frei: sie suggeriert latente Bezüge. Die Allegorie der EntLeerung indessen ist absolut, lückenlos und wiederholungsresistent; sie füllt sich nicht (mehr) durch quer einlaufende, seien es 117

zufällige oder strategische Manipulationen an der lexikalischen Materie. Aber der fingierte Zufall hat nicht verhindert, ja er zeigt sich nun erneut imstande (und beweist sich auf die Weise als Fiktion), dass zwei syntaktisch ergiebigere, über die durchgehende minimale Selbst-Kontextualisierung hinausführende Wort-Passagen aus dem Assoziationsfluss auftauchen und die phänomenale Spurenlese der minimalen Bild-Fragmente bei weitem übertreffen und sie womöglich hinterrücks neu motivieren. Es sind zwei unschwer aufeinander bezügliche Passagen, welche die Frage aufwerfen, wie und zu welchem Ende die aleatorisch entleerte, bis auf spärlichste syntaktische Verankerungsreste abgebaute Form der »Losigkeit« die Nachbilder allegorischer Fülle, die sie aufruft, intendiert. Adorno traute ihnen nicht, und wer wollte es noch, nachdem Becketts Ernst in der Sache – Endgame trägt diesen Ernst ostentativ im Titel – überzeugt hat. II.

Endgame ist der offenbare, qua »end-lessness« identifizierbare Bezugstext für Lessness. Eine erste der beiden kurzen (in der zweiten Hälfte unmodifiziert wiederholten) Einlagen macht den Bezug unausweichlich, indem sie ein von Stanley Cavell in Endgame erkanntes und stark gemachtes biblisches Motiv aufgreift (hätte Cavell Lessness damals gelesen, hätte er es zweifellos wiedererkannt), Noah und seine Arche: »He will curse God again as in the blessed days face to the open sky the passing deluge« – ein ausgepichter Satz, wie er im Buche steht (S. 8, wiederholt S. 20, am Ende des Abschnitts). »He« ist Noah, und die Arche das mythen-reife Paradigma des primordialen Raum-Konstrukts, das Imagination Dead Imagine als Imaginationsgrund herauspräpariert hatte. »He« – das einzige Personalpronomen im Text – bahnt den ersten zu syntaktischer Normalform gediehenen Satz an, mit dem der dritte Abschnitt von Lessness die in den beiden vorangegangenen Absätzen mit Fleiß durchkreuzte Assoziationserwartung normgerechter Satzfolgen für diesen einen Satz zurücknimmt. Nach dieser Einlage fällt der Text umgehend in die offene Wortfolge zurück, worin der manifeste Bezug auf nicht mehr als zwei Wörter schrumpft, hier: »Little body grey face […]« (ohne Zeichensetzung). Was ist Noahs Punkt, der aus der Flut der lessness auftaucht wie 118

Land nach der Sintflut? Nach Imagination Dead Imagine kann es nur die (dort ungenannte) Arche sein, deren Rolle von Hamm, ­Noahs mythischem Sohn im Endspiel, erläutert wurde. Cavell hatte in Noah den Rest einer Theodizee mit desaströsem Ausgang erkannt: »Something has happened in the ark during those days and nights of world-destroying rain and the months of floating […]. Hamm has seen something in the ark of the covenant. I imagine it this way.« Cavell, ganz kongenialer Beckett-Leser, antizipiert, extrapoliert (oder kannte doch schon) Imagination Dead Imagine aus dem selben Jahr wie seine Interpretation (1965). »The covenant is a bad bargain«, verdeutlicht er die von Hamm ad acta gelegte Theodizee, und sein Fazit ist: »What must end is the mutual dependence of God and the world: this world, and its god must be brought to a conclusion.«9 Becketts Schluss in Endgame, Hamm und mit ihm Ham-let zitierend, sei folglich phänomenologischer, transzendentaler Natur, schließt Cavell wie Iser. Imagination Dead Imagine, der Grundriss, zeitigt in Lessness eine fundamentale poetologische Konsequenz, und die wäre grammato-logischer Art. Wie diese poetologische Konsequenz sich in den grammato-logischen Weiterungen von Lessness negativ-ästhetisch entfaltet, zeigt Beckett in einer zweiten, buchstäblich (und das ist keineswegs zufällig) idyllischen Einlage: »Never but imagined the blue in a wild imagining the blue celeste of poesy« (S. 13, wiederholt S. 19). Das letzte Wort des eigenwilligen, keinesfalls unklaren Satzes, »poesy« (wie in Puttenhams Arte of English Poesie von 1589), bringt stellvertretend für alle Poetik das ewige Palaeonym poetischer Imagination in Erinnerung und dessen Wahrnehmungsgrund, das Blau des himmelblauen Himmels, das keiner Theodizee und keines Regenbogens je bedurfte. Reines celeste tönt im nächsten Satz, das Nichts der Reduktion, das Zentrum des in Imagination Dead Imagine vorgestellten Ur-Raumes: »Little void mighty light four square all white« (in vier aneinander angrenzenden Wort-Paaren). Imagination Dead Imagine ließ allerdings »no question now of ever finding again that white speck lost in whiteness.«10 Lessness erinnert mit dem  9 Stanley Cavell, »Ending the Waiting Game. A Reading of Beckett’s Endgame«, in: ders., Must We Mean What We Say? A Book of Essays, Cambridge 1969, S. 107150, hier S. 138, 140. 10 Samuel Beckett, Imagination Dead Imagine, London 1965, S. 14; vgl. Iser, Das Fiktive und das Imaginäre, S. 421.

119

Ur-Raum der Arche und der Brüchigkeit des mythischen covenant an die dieser kargen szenischen Vorgegebenheit ein-geschriebene ur-poetische Urszene von des Himmels Bläue (Hölderlins »In lieblicher Bläue«) in ihrer alt-latinaten celesten, von Puttenham neu gefassten Umprägung der Poetik.11 Never the less impliziert, naheliegend, Becketts »never but«, eine zwar ungewöhnliche, aber nicht unmögliche, hyperbolische Wort-Kombination. Genauer besehen erinnert Lessness nicht – »never but« –, sondern zitiert die schon in Endgame beschlossene, in Krapp’s Last Tape kurz darauf (ebenfalls 1958) aufgerufene, an Hölderlin anknüpfende sprachliche Erinnertheit als die entscheidende syntaktische Errungenschaft der Dichter (sie »stiften die Dichter« in Hölderlins Andenken).12 Becketts Poetik löst sie aus der kryptischen Schale, in der sie ähnlich verborgen liegt wie ihr mathematisches Analogon, die in der Krypsis der TextTeilung beschlossene Primzahl. »Little void« bringt »poesy« mit sich, zieht sie unmittelbar nach sich im nächsten Satz-Ansatz, und so erhellt sich (und zwar ohne dass man dem narrativen Sog der Assoziationen wie dem Gesang der Sirenen in der Dialektik der Aufklärung erliegen müsste, dort Urszene der Kunst) die konditionale Zeitlichkeit des syntaktisch variablen »Never but« am Anfang des Imaginations-Satzes (S. 13 und 19). Dieser lässt sich nun hinterrücks – »never but« – als in die kleine Lücke – »little void« der Latenz – zurückgetretener MusenAnruf identifizieren. Was auf der Text-Oberfläche als ein Nachbild fragmentierter Narration auftritt, offenbart an den Rändern, in den mit aufgerufenen Resten des motivischen Untergrunds, die poetologische Verankerung der Wörter in einer proto-grammatischen Synthesis, die von weit her kommt. Adorno hat auf ihr bestanden als eigengesetzlicher »Logik des Produziertseins« und sich mit der Wortwahl der »Logik« der alten prä-grammatischen Metaphorik angeschlossen, durch die sein Vorbild Valéry die Avantgarde (in der 11 In der Beckett bekannten Übersetzung des Hölderlin-Fragments aus Martin Heideggers Interpretation »dichterisch wohnet der Mensch (1951)«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 187-204 (frz. Essais et conférences, übers. v. André Preau, Paris 1958, S. 224-245), lautet der Gedichtanfang »Dans un azur délicieux«. Beckett hatte diesen Text 1951 auf Anregung von Blanchot selbst zu übersetzen versucht. In der französischen Version Sans steht unbeeindruckt davon wie im Englischen »celeste«. 12 Vgl. Dieter Henrich, Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin, München 2016, S. 29-38.

120

Beckett zu stehen kam) mit der Poetik der Alten versöhnen wollte. »Als einzige Hoffnung dämmert«, schrieb Adorno anlässlich Becketts unter dem Stichwort »Nihilismus« gegen Ende der Negativen Dialektik, »daß nichts mehr sei«. Aber, so setzte er nach: »Auch die verwirft er«.13 Das lässt sich mit dem späten Beckett genauer sagen, als es Adorno, der Lessness nicht mehr gelesen hat, konnte. Zwar hätte er Becketts »little void« unschwer als den »Spalt der Inkonsequenz« erkannt, aus dem »die Bilderwelt des Nichts als Etwas hervor[tritt], die seine Dichtung festhält.« Aber wenn im Negativen der Inkonsequenz »lautlos geschrien [werde], daß es anders sein soll«, so bezeichnet die »kleinste Differenz zwischen dem Nichts und dem zur Ruhe Gelangten« doch »die Zuflucht der Hoffnung« als ein »Niemandsland zwischen den Grenzpfählen von Sein und Nichts«. Hamlets letztes Wort »the rest is silence« (die Frage »Sein oder Nichtsein« klingt unfehlbar mit an) hatte vom »Rest« gleichlautend mit der »Ruhe« gesprochen, die er semantisch impliziert. Adorno trifft, sei es nachtwandlerisch, mit der »kleinsten Differenz« auf »the little void« von Lessness, von »lessness« als »kleinster Differenz«. Aber er schüttet das Kind mit dem Bade aus, wenn er Beckett die poetische Hoffnung, die er selbst »die einzige« nennt, doch wieder nur »verwerfen« sieht. Dass »es anders sein soll«, heißt ja nicht, dass es – »never but« – je anders sein werde (werden könne). Revolution ist proto-grammatisch, selbst grammato-logisch, nicht zu avisieren; sie ergibt sich, so oder so, nicht (ihr U-topos ist grammatisch per definitionem nicht erfasst). Adornos Negativität ist eine doppelte, aber der allegorische Kurzschluss, zu dem ihn Beckett verleitet, ist ein mit viel Kunst, und allein durch sie, durchkreuzter. Er ist nicht nur überflüssig und irreführend (irregeleitet wie die existentialistische BeckettKonjunktur insgesamt).14 Ihr im strengen Sinne Ästhetisch-Werden liegt auf einer anderen, zweiten Ebene, nicht in dem allegorische Evidenz erheischenden Schein mehr oder minder offenbarer Sozial­ verhältnisse, sondern in der als Dialektik durchkreuzten Negativität der Kunst, Beckett nennt sie Lessness. Er präzisiert Adornos ästhetische Negativität als grammatische »lessness« gegenüber aller 13 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frank­furt/M. 1966, hier und im Folgenden S. 371 f. 14 Vgl. Christoph Menke, Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, Frank­furt/M. 1988, S. 92.

121

– und das zwangsläufig – ideologisch infizierten Narrativität (die der Sirenen inklusive). Der Theorie, ästhetischer Theorie, bedarf diese Negativität als eines paradoxen Erkennens, das sich nicht als ein sokratisches, besserwissendes Nichtwissen gerieren darf, wie ­Adorno, ratlos, feststellt. Beckett gibt nicht etwa zu wissen, dass wir nicht wissen, was wir untergründig, durch Erfahrung und, zunehmend, Erfahrungsschwund (im Verlust als Verlust) wissen müssten (und also gar nicht anders als wissen können). Beckett gibt zu lesen, zwingt im Lesen nach-zuvollziehen, was in der Negativität ästhetischer Erfahrung (die deshalb keine Erfahrung mehr ist und auch das ästhetische Phantom voller, erfüllter Erfahrung in der Kunst abweist) bleibt. Der von Beckett geschätzte Hölderlin sagte: das stiften die Dichter; der von ihm zitierte (mit Hamm an-zitierte) Ham-let hinterließ: der Rest ist Schweigen. Er wird von Beckett beim letzten Wort genommen, denn das Schweigen ist die verschwiegene Implikatur des syntaktischen Grundes der Latenz, welche Lessness im »never but« (mit never the less als syntagmatischer Mitgift) offenlegt. Ästhetisch, mithin, ist die Mit-Gegebenheit der Latenz (Baumgarten), die in der Negativität, sprachlich abgeschwächt, ein- und innehält, nicht dialektisch proliferiert (Benjamin). Als »profane Erleuchtung« – »himmelblauer Himmel, nachmittags um vier« – mag sie abfärben und auf ihre geminderte Weise einen attraktiven, den erträglichsten Modus von Erfahrung mimen.15 Die poetologische Pointe dagegen, die Beckett seinem Werk in Lessness nachschickt und deren Adorno sich (Negative Dialektik hin oder her) glücklich schätzen dürfte, ist die sprachlich »gerettete Hoffnung« (Dialektik der Aufklärung geschenkt), die aus der diachronen Latenz der Sprache in der Synchronie des gegenwärtigen Sprechens die unleugbare Gegenwart der Tragödie ausmacht und die Kraft der Kunst – never but, never the less – begründet: »eine Tendenz, ein Trieb, eine Kraft, die sich gegen die Grenzziehungen richtet, auf denen die normativen Ordnungen, in den Künsten wie außerhalb von ihnen, beruhen.«16 15 Mimesis durchkreuzt den Ausdruck, dem sie auf die Beine hilft; erfahrbar ist an der »profanen Erleuchtung« nur, »daß der Eingriff durch Mimesis mißlang« (Adorno, Ästhetische Theorie, S. 169). Das archaische Palaeonym der Mimesis, dem Adorno sein durch und durch historisches Recht lassen möchte, steht für die Substitutionslogik eines »quid pro quo«, mit dem er die proto-grammatische Konstitution der syntaktischen Synthesis (kurz auch nur: die Sprache) benennt. 16 Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, Berlin 2013, S. 117.

122

Alexander García Düttmann Ellipsen der Grammatologie.  Derridas schöne Stellen In seiner Kritik und Rettung schöner Stellen in der Musik stellt Adorno fest, dass selbst dort, wo das Einzelne und das Ganze in einem musikalischen Kunstwerk so miteinander vermittelt sind, dass es eigentlich kein Einzelnes gibt, der »Augenblick der reinen Gegenwart«, das »jetzt und hier Erscheinende«, »immer eine gewisse Unmittelbarkeit [behält]«, ohne die sich »die Beziehung zum Ganzen, Vermittelten« nicht herstellt.1 Das Einzelne entpuppt sich also selbst in der vermittelnden Bewegung, die die Dialektik zeitigt, oder in den Verweisungen auf ein Vorher und Nachher, in deren Zusammenhang es steht, als tendenziell Vereinzeltes, das sich nicht in den Fortgang fügt und im Fortschritt erschöpft. Als wären Dialektik oder Verweisungszusammenhang auf eine Ellipse angewiesen, auf etwas, das, weil es aus ihnen herausfällt, sich zugleich in der gestaltlosen Gestalt einer »reinen Gegenwart« aufdrängt. So gewinnt das Einzelne, wie Adorno sagt, ein »eigenes Recht«,2 gerade indem es über das Ganze hinausschießt und nicht in ihm aufgeht. Es ist ein Detail, das sich immer schon verselbständigt hat und über das das Ganze, zu dem es gehört, nicht verfügt, ob in der Musik oder anderswo, in einem Text. Dieses Recht ist nicht mehr eines, das die Dialektik einklagen könnte: »Zuweilen neigt man dazu, darin das Beste zu suchen. Details von solcher Würde sind wie Siegel, die das Authentische eines Texts verbürgen; man könnte sie den Namen vergleichen.«3 Ebenjenes Einzelne, das sich in einer gegen alle Vermittlung wider­ spenstigen Unmittelbarkeit vom Ganzen loslöst und dadurch die Aufmerksamkeit auf sich zieht, verschwindet unmittelbar, sofort, quasi-automatisch in einer Ellipse, wird zum unauslöschlichen »Siegel« und zum bedeutungslosen »Namen«. Das Einzelne wird elliptisch zu einem »Siegel«, das, könnte man es auslöschen oder auf1 Theodor W. Adorno, »Schöne Stellen«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 18, hg. v. Rolf Tiedemann, Frank­furt/M. 1984, S. 695-718, hier S. 697. 2 Ebd., S.  700. 3 Ebd.

123

brechen, aufhören würde, etwas zu verbürgen, etwas, das dadurch, dass es verbürgt wird, immer den Zug der Authentizität annimmt. Das Einzelne wird elliptisch zu einem »Namen«, der, wäre er ein Begriff, hätte er eine Bedeutung, aufhören würde, eine Würde anzuzeigen. Die schöne Stelle ist bei Adorno also eine Stelle der »reinen Gegenwart«, die sich keinem Zusammenhang fügt und die sich als solche verweigert, aber nicht, weil sich etwas in ihr verbirgt, eine unverfälschte Fülle, die man mit der Rede von der Authentizität verbinden könnte. Denn weder kann der Name durch eine Bedeutung ersetzt werden, noch das Siegel einen beschützten Inhalt freigeben. Die »reine Gegenwart« ist das Siegel, ist der Name, ist die Ellipse, ein Mangel ohne Mangel. Dagegen entsprechen der authentische Inhalt, die besondere Bedeutung oder die eigentliche Präsenz eher dem, was ein Wunsch nach Anwesenheit und Gegenwart hervorbringt, wie Derrida ihn in der Grammatologie untersucht. Dieser Wunsch wird bekanntlich von einem ursprünglichen Entzug angetrieben, von der Schrift oder der différance. »Ohne die Möglichkeit der différance«, heißt es bei Derrida, »könnte der Wunsch nach einer Anwesenheit und nach einer Gegenwart, die nichts anderes sind als Anwesenheit und Gegenwart, keinen Atem schöpfen.«4 Schöne Stellen sind also Stellen »reiner Gegenwart« in dem Maße, in dem sie sich von einer Abwesenheit gar nicht trennen lassen, von einer Abwesenheit, die sich nicht dadurch zurücknehmen lässt, dass man die »reine Gegenwart« wiederherstellt. Schöne Stellen sind Stellen, die anrühren oder anregen, weil sie nichts vorenthalten, ihre Gabe oder Hingabe jedoch in der für jede »reine Gegenwart« wesentlichen und unaufhebbaren Ellipse liegt, ihnen ein Rest, eine Reserve, ein Überschuss zu eignen scheint. Schöne Stellen kann man nicht dingfest machen. Sie sind gelöste Rätsel, die in ihrer Lösung nichts von ihrer Rätselhaftigkeit verlieren. Ihre Schönheit ist die Erfahrung einer Intensität, in der das Schürzen, die Auslassung oder die Abwendung, eine unmittelbare Zuwendung ist, die eben anrührt oder anregt. Gibt es nun in der Grammatologie schöne Stellen? Wenn man die différance, deren Ursprünglichkeit jeden Ursprung durchkreuzt, so versteht, dass sie nichts ist als »reine Gegenwart«, »reine 4 Jacques Derrida, De la grammatologie, Paris 1967, S. 206. [Dt. Grammatologie, Frank­furt/M. 1983, S. 247 f. – hier und im Folgenden sind die Derrida-Zitate vom Verf. neu übersetzt.]

124

Gegenwart«, die als solche ihre eigene Ellipse ausmacht, ihr Siegel oder ihren Namen, muss man zunächst zwischen der »reinen Gegenwart« der différance und dem Wunsch nach »reiner Gegenwart«, nach einer Gegenwart ohne Ellipse, dem die différance Leben einhaucht, unterscheiden. Sucht man nach schönen Stellen in der Gram­matologie, muss man zwischen ihrem Text, der wie jeder Text und trotz allem Wissen um die différance von einem »blinden Fleck«5 geprägt sein soll, von den Auswirkungen der différance, und jenen Stellen unterscheiden, in denen sich die elliptische Überstürzung besonders bemerkbar macht. Dass es für solche Stellen kein gegebenes Kriterium geben kann, muss man kaum eigens hervorheben, obwohl man sich fragen muss, warum sich die différance in der Schönheit oder in der Intensität einer »reinen Gegenwart« als Ellipse besonders, mehr also als an anderen Stellen, bemerkbar machen kann, als wäre ihre Macht von einer Endlichkeit durchzogen. Macht sich die différance nicht überall gleich bemerkbar? Eine im erläuterten Sinne schöne Stelle in der Grammatologie lautet: Diese ganze Struktur taucht auf, sobald eine Gesellschaft als Gesellschaft zu leben beginnt, das heißt im Ursprung des Lebens überhaupt, wenn, auf sehr verschiedenen Ebenen der Organisation und auf sehr verschiedenen Stufen der Komplexität, es möglich ist, die Anwesenheit aufzuschieben, die Ausgabe oder den Verzehr, und die Produktion einzurichten, also die Rücklage und die Zurückhaltung im allgemeinen. Es stimmt, und man sollte diesen Umstand nicht vernachlässigen, dass das Auftauchen bestimmter Schriftsysteme vor drei- bis viertausend Jahren einen außerordentlichen Sprung in der Geschichte des Lebens darstellt. Dieser Sprung ist um so außerordentlicher, als eine gewaltige und erstaunliche Zunahme an Macht, an Macht der différance, zumindest während dieser Jahrtausende nicht auch von einer erwähnenswerten Verwandlung des Organismus begleitet wurde. Was die Macht der différance aber auszeichnet, ist gerade, dass sie das Leben um so weniger verändert, je mehr sie sich ausbreitet. Würde sie unendlich, was ihr Wesen von Anfang an ausschließt, so würde das Leben an eine undurchdringliche, unberührbare und ewige Anwesenheit oder Gegenwart ausgeliefert werden: an die unendliche différance, Gott oder den Tod.6

Die différance, so kann man dieser elliptischen Stelle entnehmen, in der etwas behauptet wird, ohne dass es näher erläutert würde, 5 Ebd., S. 234 [S. 282]. 6 Ebd., S. 190 f. [S. 229].

125

akkumuliert Macht und breitet sich aus, wobei diese Zunahme, diese Steigerung und diese Ausdehnung sich durch Grade und Grenzen auszeichnen. Sie sind endlich, sind es dadurch, dass die Konzentration der Macht und deren Zuwachs, die mit einer Ausdehnung und Ausbreitung gleichbedeutend sind, sich nicht auf alle Lebensbereiche gleichermaßen auswirken. Die Macht der différance kann einen solchen Grad erreichen, dass es zu einem »Sprung« in der »Geschichte des Lebens« kommt, der sich als Ausdehnung und Ausbreitung auswirkt. Doch findet dieser »Sprung« nicht in allen Lebensbereichen statt, nicht in allen Dimensionen des Lebens. Die anwachsende und sich ausbreitende Macht der différance äußert sich zum Beispiel in der Erfindung von Schriftsystemen, ohne dass der Organismus derer, die sich dieser Systeme bedienen und die in sie einbezogen sind, angetastet würde. Die physische, biologische Dimension bleibt ausgespart. Solche Beschränktheit ist eine Endlichkeit, wie auch schon die graduellen Unterschiede, die Derrida einführt, der Umstand, dass die différance mehr oder weniger Macht innehaben, einen »Sprung« in der »Geschichte des Lebens« verursachen oder nicht verursachen kann, eine Mutation, bereits auf eine Beschränktheit hindeutet, eine Endlichkeit. Oder ist die Aussparung der physischen, biologischen Dimension, der Dimension des Lebens, ein Beleg dafür, dass sich die différance ausbreitet, weil sie ja das Leben umso weniger verändern soll, je mehr sie sich ausbreitet, je mehr sie auf eine Unendlichkeit hin tendiert, die sich am Ende als die Unendlichkeit Gottes oder die Unendlichkeit des Todes erweist? Warum sind jedoch Zunahme, Steigerung und Ausdehnung der Macht der différance endlich? Weil ihre Unendlichkeit, die absolute Steigerung und die absolute Ausdehnung mit einer Selbstabschaffung zusammenfallen würde, mit dem Ende einer »Geschichte des Lebens«. Die Macht der différance steigert sich und breitet sich aus, erfasst mehr und mehr, was sie schon erfasst hat, ohne es zu erfassen, wenn anders die unendliche Anwesenheit Gottes oder die unendliche Abwesenheit des Todes ihr nicht vorausgehen sollen, was sie wiederum einschränken würde, nun aber so, dass diese Einschränkung wiederum auf eine Abschaffung hinauslaufen würde, auf eine Endlichkeit, die von dem Horizont einer Unendlichkeit umgeben würde. Indem sie sich mehr und mehr ausbreitet, mehr und mehr erfasst, was sie schon erfasst hat, ohne es zu erfassen, bleibt in der 126

Macht der différance gleichzeitig eine unüberbrückbare Lücke, ein unüberwindbarer Abstand, den das Paradox indiziert, dass die Macht der différance das Leben umso weniger antastet oder verändert, je mehr sie sich steigert und ausbreitet, je mehr »Sprünge« sie veranlasst. Je weniger sich etwas der différance und ihrer Macht entzieht, desto mehr entzieht sich ihr das, worin sie immer schon wirkt und worauf sie sich immer schon auswirkt, das Leben. Um sich nicht dem zu übergeben, auszusetzen und auszuliefern, was sie abschafft, Gott oder der Tod, die eine Unendlichkeit bezeichnen, in der es keinen Aufschub und keinen Unterschied mehr geben kann, muss sich die différance gleichsam selber einschränken, eine unüberbrückbare Lücke oder einen unüberwindlichen Abstand in sich zulassen, die Lücke des Todes oder den Abstand Gottes. Es ist, als würde sich die différance gegen sich selber kehren, was umso paradoxer ist, als sie ja gerade kein Prinzip ist, kein Grundsatz und kein Gesetz, die mit sich zusammenfallen. Es ist umso paradoxer, als sie nicht, um die Sprache des späteren Derrida zu bemühen, autoimmunen Effekten erliegt, sondern autoimmune Effekte erzeugt, die einen Organismus in seinem Inneren destabilisieren, und zwar in dem Maße, in dem der Organismus nicht anders kann, als sich gegen sich selber zu kehren, die Grenze zwischen Innen und Außen zu überschreiten, aus dem Innen das Außen in das Innen zu tragen. Ist die Möglichkeit von etwas auch seine Unmöglichkeit, spaltet die différance die Möglichkeit und schiebt sie auf, verkehrt sie die Möglichkeit unvermittelt in eine Unmöglichkeit, die in der Spaltung und durch die Spaltung der Möglichkeit hervortritt, so muss sich jenes, was sich der aufgespaltenen und aufgeschobenen Möglichkeit verdankt, gegen seine Unmöglichkeit verschließen, immunisieren, und kann sich zugleich nur auf sie hin öffnen. Es kann nur gegen seine Immunisierung aufbegehren, weil die Unmöglichkeit ihrerseits gespalten und aufgeschoben wird, die Möglichkeit stets woanders ist, nie dort, wo man sie vermutet. Die Autoimmunität sucht die Immunität heim wie eine »Hyperbel ihrer eigenen Möglichkeit«,7 schreibt Derrida in seinem Aufsatz über Glauben und Wissen. 7 Jacques Derrida, Foi et savoir. Suivi de Le Siècle et le Pardon (entretien avec Michel Wieviorka), Paris 2000, S. 71. [Dt. »Glauben und Wissen. Die beiden Quellen der ›Religion‹ an den Grenzen der bloßen Vernunft«, in: ders., Gianni Vattimo (Hg.), Die Religion, Frank­furt/M. 2001, S. 9-106, hier S. 76.]

127

Man muss also eine weitere Unterscheidung einführen. Einerseits generiert die différance den unerfüllbaren Wunsch nach einer Anwesenheit oder Gegenwart ohne Ellipse oder, komplementär dazu, nach einer Abwesenheit oder Gegenwartslosigkeit, die von Ellipsen frei bleiben. Dieser Wunsch ist der Wunsch nach einer unendlichen différance als Gott oder als Tod. Andererseits braucht die différance eine Lücke und einen Abstand, die sie von sich trennen, eine Lücke und einen Abstand zwischen ihrer Unendlichkeit – nichts ist von der différance ausgenommen – und ihrer Endlichkeit  – dass nichts von der différance ausgenommen ist, bedeutet, dass die différance endlich ist, sich nicht überall gleichmäßig ausbreitet. So will es scheinen, als müsste die différance in der Lücke oder in dem Abstand zwischen sich als unendlicher und sich als endlicher, in der internen Spannung, die ihre Unendlichkeit der Endlichkeit und ihre Endlichkeit der Unendlichkeit exponiert, Gott oder den Tod generieren, einen Gott oder einen Tod, die nun der Wunsch der différance als différance sind, und gleichzeitig das, was ihr von außen zustößt, was sich ihrer Macht entzieht, die von Gott und dem Tod auch erhalten wird, von der Beschränkung ihrer Unendlichkeit. Könnte man ohne einen solchen eigentümlichen Wunsch, der nicht einfach ein Wunsch ist, überhaupt verstehen, dass die différance den unerfüllbaren Wunsch nach einer Anwesenheit oder Abwesenheit ohne Ellipse, nach Gott und dem Tod, hervorbringt? Die différance generiert einen unerfüllbaren Wunsch nach einer Anwesenheit oder Abwesenheit ohne Ellipse, sie generiert den Idealismus und den Nihilismus der Metaphysik, weil sie, um als différance zu wirken, sich selbst einschränken muss, ja sich selbst einschränken lassen muss. Ist am Ende die différance genau diese Unentscheidbarkeit zwischen der endlichen und der unendlichen différance, ist sie eine différance der différance, die man dennoch nicht mit einer Meta-différance verwechseln darf, mit einer Selbstreflexion, durch die sie um sich selber ringt, um ihre eigene Selbstbehauptung? An einer anderen Stelle der Grammatologie liest man, die différance sei auch »etwas anderes als die Endlichkeit«.8 Denn die »Rückkehr zur Endlichkeit« nach dem »Tod Gottes« ist ein Schritt, den Derrida als einen ansieht, der in der Metaphysik gefangen 8 Derrida, De la grammatologie, S. 99 [S. 118].

128

bleibt, als würde er einzig deren Umkehrung vollziehen. In der Abhandlung über die Stimme und das Phänomen, die im selben Jahr wie die Grammatologie veröffentlicht wurde, steht am Ende der oft zitierte, aphoristisch anmutende Satz, die unendliche différance sei endlich.9 Dieser Satz beinhaltet, dass man sie nicht mehr von dem Gegensatz zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, Abwesenheit und Anwesenheit aus zu denken vermag. Und wenn man in der Grammatologie wiederum eine Stelle findet, wo es heißt, die Entgegensetzung von Anwesenheit und Abwesenheit werde von der différance erst ermöglicht, weil diese, der endlich-unendliche Aufschub, das endlich-unendliche Von-sich-Abweichen, den Wunsch nach einer Anwesenheit ohne Ellipse, nach einer »reinen Gegenwart« ohne Auslassung aufkommen lasse, so könnte man hinzufügen, die différance ermögliche auch erst die Entgegensetzung von Endlichkeit und Unendlichkeit. Das wäre dann der Grund, warum sie ein Denken stets wieder herausfordert, das versucht, sie mit den begrifflichen Mitteln dieser Entgegensetzung zu erschließen. Die différance wird von der Endlichkeit und der Unendlichkeit eingeholt, deren Entgegensetzung sie ermöglicht, freilich so, dass es nicht der Gegensatz ist, der sie einholt, sondern eine Unentscheidbarkeit, die man unter einem doppelten Aspekt betrachten kann: einmal unter dem Aspekt einer Unentscheidbarkeit zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, dann unter dem Aspekt einer Unentscheidbarkeit zwischen Tun und Lassen. Sie kann unter dem Aspekt einer Unentscheidbarkeit zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit betrachtet werden, weil die différance, wie deutlich geworden ist, in ihrer Endlichkeit sich von sich unterscheidet, von ihrer Ubiquität, und so, indem sie sich nicht überall ausbreitet, ihre Macht nicht so weit steigert, dass sie überall greift, indem sie ihre Ubiquität also unterbricht und sich gegen sich wendet, um nicht ihr selbst zu erliegen, eine Unendlichkeit sich behauptet, eine unendliche différance, die Gottes oder die des Todes. Die Unentscheidbarkeit kann aber auch unter dem Aspekt einer Unentscheidbarkeit zwischen Tun und Lassen betrachtet werden, weil die différance ihre Unendlichkeit, also die Unendlichkeit Gottes oder die Unendlichkeit des Todes sowohl hervorbringen als auch zulassen muss. Die Unendlichkeit der différance, Gott oder 9 Vgl. Jacques Derrida, La voix et le phénomène, Paris 1967, S. 114. [Dt. Die Stimme und das Phänomen, Frank­furt/M. 2003, S. 137.]

129

der Tod, sind ihre eigene Wirkung und ihre eigene Schranke. Denn eine Unterbrechung, die lediglich veranstaltet wäre, herbeigeführt, wäre keine Unterbrechung, keine Endlichkeit, während eine Unterbrechung, die nicht auch veranstaltet wäre, herbeigeführt, ein bezugloses Außen der différance setzen, ihre Endlichkeit und ihre Unendlichkeit einfach trennen oder ihre Unendlichkeit einfach in eine Unendlichkeit der endlichen différance und in eine Unendlichkeit der unendlichen différance aufspalten würde. Die différance holt sich mit dieser Unentscheidbarkeit, die einen doppelten Aspekt hat, selber ein, ist différance der différance, ohne sich allerdings, wie bereits angemerkt wurde, einzuholen, ohne in ihrer Selbstreflexion an und für sich durchsichtig zu werden, intelligibel. Was bedeutet das für Leben und Tod im grammatologischen Denken, was bedeutet es für die schönen Stellen der Grammatologie? Die »Organisation des Lebens« als »Ökonomie des Todes«,10 um zwei Ausdrücke zu verwenden, mit denen Derrida in der Grammatologie den Neologismus der différance gleichsam expliziert, hat ein anökonomisches Moment in dem Zustoßen des Todes als unendlicher différance, das dann wieder in ein unentscheidbares Verhältnis zu der herbeigeführten Unterbrechung oder Selbsteinschränkung tritt, die diesen Tod bringt, den Tod als unendliche différance. Die »Organisation des Lebens« als »Ökonomie des Todes« oder als différance, als stets schon durchstrichene »Selbstaffektion«,11 durch die das Lebendige lebt, etwas zu erfahren vermag, wiederholend und idealisierend, spontan eine Selbstgegenwart und eine Gegenwart der »sinnlichen Außenwelt« sich erschließt, schränkt sich ein, um eine »Organisation des Lebens« sein zu können, dem anökonomischen Tod oder der unendlichen différance nicht zuzufallen. Indem sie sich einschränkt, überlässt sie sich aber gerade auch einem solchen anökonomischen Tod oder einer solchen unendlichen différance, gibt es einen Gott der Grammatologie. Der Tod oder der metaphysische Nihilismus, der mit Gott oder dem metaphysischen Idealismus sich deckt, sind als ein bezugloses Außen die Anökonomie, auf die die »Organisation des Lebens« als »Ökonomie des Todes« angewiesen bleibt, sosehr diese Anökonomie unentscheidbar 10 Derrida, De la grammatologie, S. 100 [S. 120]. 11 Ebd., S. 236 [S. 284].

130

einer Ökonomie noch angehören mag. Der Tod im grammatologischen Denken ist stets ein aussichtsloses Außen, das unwiderruflich aus dem Leben reißt, und ein aufgeschobener Tod, ein Überleben. Wie man erkennt, ist das grammatologische Denken nichts anderes als ein Versuch, der Gegenwart oder »reinen Gegenwart« in ihrer unvermeidlichen Verdoppelung nachzugehen und den Zusammenhang oder Nicht-Zusammenhang zwischen der einen und der anderen Gegenwart aufzuweisen. Gegenwart als Ellipse ist endliche oder endlich unendliche différance, Gegenwart als Gott oder Tod ist unendliche oder unendlich unendliche différance. In dem Maße, in dem die schöne Stelle, die plötzliche Intensivierung des Textes in einer elliptischen Gegenwart, auf eine Wirkung endlich unendlicher différance zurückgeht, die endlich unendliche différance aber eben in einem Zusammenhang oder Nicht-Zusammenhang mit der unendlich unendlichen différance steht, gibt es keine schönen Stellen der Grammatologie, des Buchs, des Denkens, des Geschehens, die nicht einen Nullpunkt der Intensität erahnen ließen, einen hors-texte, der keine schönen Stellen mehr kennt. Schöne Stellen sind in diesem Sinne eben Ahnungen, Kontemplationen eines Außen oder der Humor der Dekonstruktion.

131

Bettine Menke Negative Beispiele geben.  Eine Lektüre von Kleists »Allerneuester Erziehungsplan« In Bezug auf literarische Texte wird das Operieren mit Stellen, die als Beispiele aus literarischen Texten zitiert werden, seit dem 18. Jahrhundert zurückgewiesen: als veraltete Praxis des Lesens von Stellen, die exzerpiert und zitiert wurden;1 hermeneutisch im Sinne der Verpflichtung auf ein Ganzes, das zu verstehen sei, für das jeweilige Teile repräsentativ müssten einstehen können, was beim Stellenlesen aber keineswegs gesichert sei; oder umgekehrt von Peter Szondi, der den synekdochischen repräsentativen Charakter von Stellen, die in einer philologischen Analyse herausgezogen werden, bestreitet und es mit den »Stellen« »ohne Beispiel«, dem »Einzelgänger« hält, den ein Stellenrepertoire, »in dem sich die verwandten Belege gegenseitig stützen«, »verfem[e]«.2 Diesem Vorbehalt gibt Szondi die weitergehende Form: »Denn die Texte geben sich als Individuen, nicht als Exemplare«,3 was vorrangig in jenem Feld zuträfe, dem der Pädagogik, auf das sich Heinrich von Kleists »Allerneuester Erziehungsplan« richtet, der in Teilstücken und Fortsetzungen (auch mit Unterbrechungen) seit dem 29. Oktober 1810 in den Berliner Abendblätter[n] erschien, die von Kleist herausgegeben 1 Zum hermeneutischen bashing von Stellenlektüre, die der herausgelösten Stelle nicht ihre repräsentative Qualität und damit den Bezug aufs Ganze zurückerstatte, vgl. Georg Stanitzek, »Brutale Lektüre, ›um 1800‹ (heute)«, in: Joseph Vogl (Hg.), Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 249-265. 2 Peter Szondi, »Über philologische Erkenntnis«, in: ders., Hölderlin-Studien: mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frank­furt/M. 21970, S. 9-34, hier S. 18, vgl. S. 17-24. Etwas übertrieben behaupten Stefan Willer, Jens Ruchatz und Nicolas Pethes, in der »kritischen Theorie« sei die »Aversion gegen das Beispiel« »durchgehend« (»Zur Systematik des Beispiels«, in: dies. (Hg.), Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen, Berlin 2007, S. 7-59, hier S. 26 f.). 3 Szondi, »Über philologische Erkenntnis«, S. 21. Szondi muss aber selbst Stellen heraus-stellen, »nicht als exemplarische für den Text Hölderlins«, jedoch für »Szondis Methode und Methodologie« (Stefan Willer, »Was ist ein Beispiel? Versuch über das Exemplarische«, in: Gisela Fehrmann u. a. (Hg.), Originalkopie. Praktiken des Sekundären, Köln 2004, S. 51-65, hier S. 61).

132

wurden und für die er eine Vielzahl von Beiträgen verfasste.4 Gerade das »normative Beispiel«5 müsste pädagogisch-didaktisch »Individuen« betreffen können. Auch die »Abnormität«, als die, so Szondi, »das Beispiellose« in den Naturwissenschaften, denen es bloß um »allgemeine Gesetze« zu tun sei, nur unterkomme,6 ist aber als solche exemplarisch, auf die Norm bezogen, wie das Monstrum auf die Gesetze der Natur zeigt, deren Ausnahme es sei. Als Beispiel taugt überhaupt das Exzeptionelle, das Sich-Zeigende. Das gilt gerade für das normative oder pädagogische Beispiel: Den Normalfall wird man kaum mit ›Nimm Dir ein Beispiel‹ zur Nachahmung empfehlen. »Jeder Ausnahmefall kann ›pädagogisch‹ illustrieren«, so Grubmüller,7 wobei aber in pädagogischer Absicht nicht so sehr eine mögliche vorausgehende Regel illustriert würde, sondern ein eindrücklicher Fall zum Vorbild einer Nachahmung genommen werden soll. Das Exempel, das, anders als Kant es versucht, in anderen Sprachen und älteren Traditionen nicht sinnvoll vom Beispiel geschieden werden kann, ist abzuleiten von eximere: herausschneiden, herausnehmen,8 ein Herausgesetztes, eine Ausnahme: das Erstaunliche, Exzeptionelle, Spektakuläre,9 das zugleich so präsentiert ist, dass mit dem Einzelfall die Klasse der Fälle angezeigt, genauer: konstituiert wird, auf die er – daneben – zeigt (para-digma).10 Das ist das Paradox des Exempels.11  4 Heinrich von Kleist, »Allerneuester Erziehungsplan«, in: ders. (Hg.), Berliner Abendblätter, in: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe, Bd. II/7, hg. v. Roland Reuß, Peter Staengle, Basel 1997, Bl. 25, 20. Oct. 1810, sowie Bl. 26, 27, 35, 36, S. 128 f., 133 f., 138 f., 177-179, 182-185; im Folgenden im Text mit Seitenzahl zitiert.  5 Ich rekurriere heuristisch auf die Begriffe von Willer u. a., »Zur Systematik des Beispiels«, S. 9 f., 40-55.  6 Szondi, »Über philologische Erkenntnis«, S. 20.  7 Klaus Grubmüller, »Fabel, Anekdote, Allegorese. Über Sinnbildungsverfahren und Verwendungszusammenhänge«, in: Walter Haug, Burghart Wachinger (Hg.), Exempel und Exempelsammlungen, Tübingen 1991, S. 58-76, hier S. 63.  8 Exemplum von eximere: »das aus einer Menge Gegriffene«, die »Warenprobe«, das »Muster« (engl. sample) (Gerd Dicke, »Exempel«, in: Georg Braungart u. a. [Hg.], Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Berlin u. a. 1997, Bd. 1, S. 534-537, hier S. 534 f.).  9 Vgl. Willer u. a., »Zur Systematik des Beispiels«, S. 10, 21-23, 32-34, 40-42, 44 f. 10 Zum Beispiel als paradigma vgl. Aristoteles, Rhetorik, München 1993, S. 18 f.; ­Giorgio Agamben, »Was ist ein Paradigma?«, in: ders., Signatura rerum. Zur Methode, Frank­furt/M. 2009, S. 9-40, hier S. 22-28. 11 Es ist »beispielhafte Ausnahme« (Agamben, Homo sacer, Frank­furt/M. 2002,

133

Das normative Beispiel funktionierte frühneuzeitlich – wie Beispiele im Rhetorik-Unterricht – als »exemplarische« »Replikation« nach der »Logik des Zitats«, so C. Wild,12 das herausgenommen wird und anderweitig wieder eingesetzt werden kann, das aus- und entweder individuell-modellierend oder in größeren Sammlungen zusammengeschrieben wird: für den Gebrauch bei anderer Gelegenheit. Ein Einzelfall wird exemplarisch, indem er zum Vor-Bild für die Nachahmung in einem anderen nach diesem Muster wiedererkannten Falle und derart produktiv wird. Wie aber funktionieren gegenüber der Mimesis ans Vorbild negative Beispiele, die »Allerneuester Erziehungsplan« in Vorschlag bringt? Wie negativ sind negative Beispiele?13 Und wie sind sie Beispiele? Oftmals wird dem üblichen positiven statt des negativen Beispiels das »schlechte« oder »Gegenbeispiel« entgegengesetzt, das statt in einem Analogie- oder Ähnlichkeitsverhältnis zum Redegegenstand in einem solchen der Unähnlichkeit oder des Kontrastes stehe.14 ›Geh mit schlechtem Beispiel voran‹ wäre eines der vielen möglichen Gegenstücke zu: ›Nimm Dir ein Beispiel an x.‹ Vor allem im 18. Jahrhundert kursierten die Erziehungspläne, mit denen (angehende) Erzieher um Zöglinge warben.15 Diese S. 33): »Umkehrung der Ausnahme« als »ausschließende Einschließung«, was »einzig und allein durch seine Isolierung exemplarisch« ist, herausgesetzt, »weil es seine Zugehörigkeit zur Schau stellt« (ders., »Was ist ein Paradigma?«, S. 28 f., 22; ders., Homo sacer, S. 31-33, 27-38); für Anschlüsse an Agamben vgl. u. a. Davide Giuriato, »Kleists Poetik der Ausnahme«, in: Willer u. a. (Hg.), Das Beispiel, S. 220-240, hier S. 227-230. 12 Christopher Wild, »›Weder worte noch rutten‹. Hypotypose: Zur Evidenz korporealer Inskription bei Andreas Gryphius«, in: Bettine Menke, Barbara Vinken (Hg.), Stigmata. Poetiken der Körperinschrift, München 2004, S. 215-239, hier (und das Folgende) S. 221 f. 13 Negative Beispiele im Sinne negierender Formulierungen führten bei Poetik und Hermeneutik 6: Positionen der Negativität (hg. v. Harald Weinrich, München 1975) zu einer Debatte um (linguistische) Beispielkonstitution; vgl. insbes. S. 1738, 437-439. 14 Vgl. Josef Klein, »Exemplum«, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Tübingen u. a. 1992, Bd. 3, Sp. 60-70, hier Sp. 61; Quintilian nennt die Kategorie der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit in einem Zug (Inst. Or., V 11, 5-7). 15 Vgl. Bettine Menke, Thomas Glaser, »Experimentalanordnungen der Bildung. Exteriorität – Theatralität – Literarizität. Ein Aufriss«, in: dies. (Hg.), Experimentalanordnungen der Bildung. Exteriorität – Theatralität – Literarizität, München 2013, S. 7-21, hier S. 9 f.

134

kommentiert der allerneueste »Plan«, den, wie viele Blätter später am 10. November in dessen »Beschluß« zu lesen ist, ein »C. J. Levanus, Conrector« in »Rechtenfleck« signiert (185),16 der in den Berliner Abendblätter[n] am 29. Oktober das »Publicum« adressieren durfte. »Jetzt rückt« dieser erst, kommentiert der Redakteur, »mit seinem [förmlichen] Erziehungsplan heraus«. Die Autorfiktion, wie der in Fußnoten sich ein- und hinzuschreibende Redakteur (177, 182 u.ö.), zeigt auf die textuelle Verfasstheit und Konstitution, setzt die Instanz der Aussage aufs Spiel. Der »Plan« widerstreitet nicht nur dem Modell der Erziehung durch Mimesis ans positive Beispiel, die nicht funktioniere, sondern setzt diesem einen allerneuesten Plan der Erziehung durch »›schlechte« Beispiele entgegen (der wohl auch nicht funktionieren wird): In Erwägung nun*) 1) daß alle Sittenschulen bisher nur auf den Nachahmungstrieb gegründet waren, und statt das gute Princip, auf eigentümliche Weise im Herzen zu entwickeln, nur durch Aufstellung sogenannter guter Beispiele, zu wirken suchten **); 2) daß diese Schulen, wie die Erfahrung lehrt, nichts eben, für den Fortschritt der Menschenheit Bedeutendes und Erkleckliches hervorgebracht haben ***); das Gute aber 3) das sie bewirkt haben, allein von dem Umstand herzurühren scheint, daß sie schlecht waren, und hin und wieder, gegen die Verabredung, einige schlechten Beispiele mitunterliefen; (182)17

»Levanus« zufolge verstellen die verfehlten Anstrengungen der üblichen Pädagogik durch die »guten Beispiele« die »guten Principien« – wie diese Kant zufolge, der Beispiele nur als Übungen im Urteil zulassen mag, »diejenige Anstrengung des Verstandes oft16 Dieser fiktive Autor kann motiviert werden (als metaleptischer Effekt) durch Jean Pauls Levana oder Erziehungslehre, in: Sämtliche Werke, Bd. I/5, hg. v. Norbert Miller, München 1963, S. 515-874; vgl. insbes. »Wichtigkeit der Erziehung«, »Antrittrede im Johanneum – Paulinum; oder Erweis, daß Erziehung wenig wirke«, »Abtrittrede für den Einfluß der Erziehung«, S. 533-555, wo auch eine »Anstalt« und ein Antritts-, der zum Abtrittsredner wird, fingiert ist; zur Welle der Erziehungsschriften in Deutschland vgl. S. 533, 545-547 und 549-551. 17 Auch in Levana: »sind nicht unsere jetzigen bessern Erziehanstalten ein Beweis, daß man sich aus schlechtern frei und eigenhändig zu höhern heben kann und folglich zu allen andern Anstalten desfalls?« (ebd., S. 537 f.; vgl. S. 543, 555)

135

mals schwächen, Regeln im allgemeinen, und unabhängig von den besonderen Umständen der Erfahrung, nach ihrer Zulänglichkeit, einzusehen«,18 und wie Adorno, dessen abfällige Bemerkungen zu Beispielen zunächst an Kant anschließen,19 an dessen Berufungen von praktischen Beispielen einen Beleg für dessen Angewiesenheit »auf empirischen Zuspruch« abweist.20 Dennoch sucht der »Plan« nicht auf »Principien« zurückzugehen; er detailliert vielmehr die » L a s t e r s c h u l e , […] eine g e g e n s ä t z i s c h e Schule, eine Schule der Tu g e n d d u r c h L a s t e r « (182),21 durch negative Beispiele. Montaigne, dessen intertextuelle Spuren in Kleists Text (und Texten) aufzuweisen sind, proklamierte, »von Gegenbeispielen mehr als von Beispielen, und weniger durch Nachvollziehn als durch Fliehn« zu lernen.22 Wenn die »Anleitung« negativer Beispiele (»exemplaire«), gegen den Strich (»à prendre l’instruction à 18 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1998, B173 f. Wie Kant weiter ausführt, seien Beispiele »der Gängelwagen der Urteilskraft, welchen derjenige, dem es am natürlichen Talent derselben mangelt, niemals entbehren kann«; aber sie erfüllen »nur selten die Bedingung der Regel adäquat«. 19 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frank­furt/M. 1975, S. 255, zitiert Kants Bemerkungen: »für einen philosophischen Umgang mit Regelhaftigkeiten sind sie [Beispiele] dennoch unzurechnungsfähig«. 20 »[S]eine Philosophie rächt sich an ihm dadurch, daß die Beispiele verpuffen« (Negative Dialektik, S. 225), was doch interessant sein könnte. Adorno zufolge widerstreitet Kants mit dem Beispiel-Gebrauch manifeste Angewiesenheit auf »empirischen Zuspruch« (ebd., S. 225) dem »Moment von Freiheit«, nach dem Adorno fragt (ebd., S. 226). 21 »[F]ür alle, einander entgegenstehende Laster werden Lehrer angestellt werden, die in bestimmten Stunden des Tages, nach der Reihe, auf planmäßige Art darin Unterricht erteilen: in der Religionsspötterei sowohl als in Bigotterie, im Trotz sowohl als in der Wegwerfung und Kriecherei, und im Geiz und in der Furchtsamkeit sowohl, als in der Tollkühnheit und in der Verschwendung.« (182 f.) Dass diese Lehrer »nicht bloß durch Ermahnungen, sondern durch Beispiel, durch lebendige Handlung, durch unmittelbaren praktischen, geselligen Umgang und Verkehr zu wirken suchen« (183), zitiert übliche pädagogische Vorstellung (vgl. Michael Eggers, »Die Didaktik des schlechten Beispiels und die Antipädagogik Heinrich von Kleists«, in: Willer u. a. [Hg.], Das Beispiel, S. 241-262, hier S. 243247) und hat in Levana, S. 540, ein direktes (positives) Pendant. 22 Michel de Montaigne, Essais, Gesamtübers. v. Hans Stilett, Frank­furt/M. 1998: III/8, »Über die Gesprächs- und Diskussionskunst«, S. 462-475, hier S. 462; zu »negative examples« vgl. John D. Lyons, »Montaigne and the Economy of Example«, in: ders., Exemplum. The Rhetoric of Example in Early Modern France and Italy, Princeton 1987, S. 118-153, hier S. 152 f.

136

contrepoil«) oder als »abschreckende« zu nehmen seien,23 so sind negative Beispiele nicht damit schon zureichend aufgefasst, dass ein ›schlechtes‹ Verhalten vorgestellt werde, dem – negierend – die richtige Handlungsregel abgelernt/-gelehrt würde.24 Wie macht man sich das »negative« Beispiel, das nicht als Vorbild zu imitieren ist, »zunutze«?25 Die »Gegenbeispiele« der mimetischen Übertragung, als die C. Wild die frühneuzeitlichen Strafrituale als die »dunkle Seite der [frühneuzeitlichen] Kultur des Exemplarischen« vorstellt,26 statuieren ein Exempel, indem sie den gemarterten Körper des Delinquenten in den Schauplatz der Manifestation der Rechtsgewalt, des Waltens der souveränen Gerechtigkeit transformieren. Diese Schauspiele galten mit der visuellen Insistenz des Exempels den Zuschauern, die sie durch die Erzeugung von Furcht und Schrecken überzeugen sollten: Die »Gegenbeispiele [sollen] die Kette exem­ plarischer Replikation unterbrechen und die Ausbreitung mimetischer Ansteckung unterbinden«.27 So unmittelbar visuell diese Wirkung angenommen scheint, hatte das »grausame Schauspiel von […] Tortur und Tod«28 doch sein genaues Gegenstück am Martyrium, das, so schreckend das Schauspiel des gemarterten Körpers ist, an dem die »blutigen Wunden« »die exemplarische Nachfolge [Christi]« authentifizieren, zur Imitatio der Zeugenschaft anhält.29 »Das Martyrium zitiert das Register der Abschreckung, um es in eine Aufforderung zur Nachfolge umzuwandeln, und transformiert […] den Märtyrer von einem Gegenbild in ein Vorbild.«30 Das 23 Michel de Montaigne, Essais, in: Œuvres complètes, hg. v. Albert Thibaudet, Maurice Rat, Paris 1962 (Pleïade): III/13, »De l’expérience«, S. 1041-1097, hier S. 1056; dt. Übers. in: ders., Essais, S. 537-566, hier S. 544. 24 »[I]n allen Formen religiös-lehrhafter Literatur […] erscheint neben dem E. als Vorbild auch das abschreckende negative E.« (Klein, »Exemplum«, Sp. 61). 25 »Ich bemühe mich, um so einnehmender zu sein, je mehr abweisende Leute ich zu sehn bekomme, um so höflicher, je mehr grobe, umso zuverlässiger, je mehr unzuverlässige, und um so wohlwollender, je mehr böswillige.« Das sei – so Montaigne – freilich ein »unerreichbares Ziel« (»Über die Gesprächs- und Diskussionskunst«, S. 462). 26 Wild, »›Weder worte noch rutten‹«, hier und das Folgende S. 223. 27 Ebd., S.  224. 28 Ebd., S.  222. 29 Ebd., S. 221-223, 226. 30 Ebd., S.  226.

137

Körper-Schauspiel im Strafritual muss vom anderen des martyrologischen Körpers zum einen lesend unterschieden werden,31 zum anderen bilden beide in irritierender Weise Vexierbilder voneinander.32 Wie verhält sich zur Abschreckung durchs Gegenbeispiel, dessen Überzeugungskraft sich im Abbruch der Kette der Imitationes erweist, das »Gesetz des Widerspruchs« (133), das der »Allerneueste[ ] Erziehungsplan« im Feld der Pädagogik in Anschlag bringt? In seinem Einstieg bemüht dieser Plan gleichfalls die Physis mit einem der Experimentalphysik der Elektrizität entnommenen Beispiel unmittelbarer Wirksamkeit, mit dem das Paradigma möglicher Einsichten, des Verstehens und der verstehenden Anwendung durch Zöglinge und Lehrpersonal verlassen wäre. Zitiert wird ein »Capitel« aus der »Experimental-Physik«, die die unvermittelte Wirksamkeit elektrischer, negativ oder positiv geladener Körper aufeinander zeige: Bringe man einen »neutralen« Körper in die »Atmosphäre« eines elektrisch geladenen, so nehme ersterer an dem einen Ende »die entgegengesetzte Elektricität an[…]«, so dass er sich polarisiert (128). Der geladene Körper heißt, die Potentialität der Entladung anzeigend,33 auch »schlagfertig«; wenn man einen neutralen Körper »in den Schlagraum des elektrischen [bringt], so fällt […] der Funken«, derart wird im Überspringen »das Gleichgewicht […] hergestellt, und beide Körper sind einander an Elektricität völlig gleich« (129). Zu diesen experimentellen, 31 Dismas, der reuige Delinquent am Kreuze zur Rechten des Gekreuzigten, »authentifiziert am Leibe des Delinquenten die Nachfolge« und damit – dem Erlösertod vorgreifend – die imitatio Christi; er wird als der erste Erlöste zum Vorbild für die Reue der Delinquenten genommen (ebd., S. 224-226, 235). In den Kreuzigungsszenen wären Beispiel und Gegenbeispiel in den Dieben zur Rechten (der Bekehrte) und zur Linken (der Verstockte) unterschieden (ebd., S. 224). 32 Zu den Ambiguitäten: Das Schafott wird als Altar modelliert; Strafrituale und Kreuzigungsszenen sind Kippbilder voneinander; mit Delinquenten-Überresten wird gleichsam Reliquienkult getrieben, vgl. ebd., S. 224-226. 33 Wo Kleists »Allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden« als eine elektrische Analogie zur politischen Redesituation die Kleist’sche (= Leidener) Flasche anführt, ist, so Campe, nicht so sehr die Entladung »betont«, sondern »die Potentialität dieses plötzlichen Ereignisses. Der aufrecht erhaltene Unterschied der Ladungen ist die Möglichkeit, dass es einen Funkenschlag geben kann« (Rüdiger Campe, »Verfahren. Kleists ›Allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden‹«, in: Sprache und Literatur 110 [2012], S. 2-21, hier S. 20).

138

wiederholbaren Beobachtungen34 wird als »dieses Gesetz« das »Allgemeine eines Wissens«35 überhaupt erst mit seiner übertragenden und verschiebenden Inanspruchnahme in der »moralischen Welt« nachgetragen: Dieses höchst merkwürdige Gesetz findet sich, auf eine […] noch wenig beachtete Weise auch in der moralischen Welt; dergestalt, daß ein Mensch, dessen Zustand indifferent ist, nicht nur augenblicklich aufhört, es zu sein, sobald er mit einem Anderen, dessen Eigenschaften, gleichviel auf welche Weise, bestimmt sind, in Berührung tritt: sein Wesen sogar wird […] gänzlich in den entgegengesetzten Pol hinübergespielt; er nimmt die Bedeutung + an, wenn jener von der Bedingung –, und die Bedingung –, wenn jener von der Bedingung + ist. (129)

Die physisch-moralische Analogie kann als Parodie von Goethes berühmter chemischer Gleichnisrede in den Wahlverwandtschaften gelesen werden, die in einer (vermeintlich) ernsthaften naturwissenschaftlichen Analogiebildung ein »Gesetz« menschlicher Relationen ausmache, wobei hier statt einer Kraft der Anziehung die der Abstoßung in Anspruch genommen wird.36 Statt um Qualitäten und Ähnlichkeiten handelt es sich um Kräfte aus verschiedenen Ladungsquantitäten. Deren (übliche) Übersetzung in + und – (auch heute werden so Elektronenüberschuss oder -mangel bezeichnet) 34 Vgl. Experiment zur »Electricität« ›für die Jugend‹ in: Menke/Glaser, »Experimentalanordnungen der Bildung«, S. 10 (Abb. 1). Einen Wechsel ins Experimental-Labor vollzieht mit einer gerahmten wiederholbaren Wiederholung Kleist in »Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten«, in Erläuterung des zweiten Geschehnisses (in: Berliner Abendblätter, in: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe, Bd. II/8, hg. v. Roland Reuß, Peter Staengle, Basel 1997, 18. Januar 1811, S. 42-46, hier S. 44 f.; vgl. Rüdiger Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Göttingen 2002, S. 433-435). Die Plausibilisierung durchs »Experiment«, das man »alle Tage anstellen könne«, wird hier explizit, Bl. 35, S. 177. Würde Adornos Rede von Kants Beispielen als »Gedankenexperimenten« und »moralischen Experimenten« (Negative Dialektik, S. 223, 225) fortgeführt, dann kämen Isolierung, Beobachtbarkeit, Wiederholbarkeit und mögliche Abweichungen in den Blick. 35 Das im verstehenden »Konflikt« zum »Singulären des Ereignisses« stehe (Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 429). 36 J. Hillis Miller, »Just Reading. Kleist’s ›Der Findling‹«, in: ders., Versions of Pygmalion, London, Cambridge/Mass. 1990, S. 82-140, hier S. 85-88, 93. Miller macht lesbar, dass die Analogie voraussetzt, dass bereits die vermeintlich physikalische Beschreibung anthropomorphisiert ist (ebd., S. 88).

139

funktioniert als Trick, der ermöglicht, das »merkwürdige Gesetz« als das »gemeine Gesetz des Widerspruchs«, wie es in der nächsten Lieferung (26. Bl., 133) heißen darf, dann gar im Gegensatz von Tugend und Laster aufzufassen (182). »Einige Beispiele, hochverehrtes Publicum, werden dies deutlicher machen«, die demnach bloß illustrierenden Charakter hätten, für »das Gesetz, das uns geneigt macht, uns, mit unserer Meinung, immer auf die entgegengesetzte Seite hinüber zu werfen« (133). Zum Beispiel: »Jemand sagt mir, ein Mensch, der am Fenster vorübergeht, sei so dick, wie eine Tonne. […] Ich aber, da ich ans Fenster komme, ich berichtige diesen Irrthum nicht bloß: ich rufe Gott zum Zeugen an, der Kerl sei so dünn, als ein Stecken.« (133)37 Schon der folgende Fall, der die Beispielkette nur fortzusetzen scheint, ist ein reflexiver, in dem auf dieses Gesetz des gegensätzischen Effekts selbst spekuliert wird: Der Mann wird aus dem Hause gebracht, indem ihm – der ausnahmsweise einmal zuhause bleiben wollte, »in der Regel« aber die Abende aushäusig beim Triktrak verbringt –, die Frau, die »sich, mit ihrem Liebhaber, ein Rendezvous menagirt« hatte, einen in »recht heiterer und vertraulicher Abgeschlossenheit« gemeinsam zugebrachten Abend daheim vorstellt (133). Die Erzählung gibt dem aufs »Gesetz des Widerspruchs« (133) spekulierenden Schauspiel fraglose, komische Kraft. Die reflexive Wendung, die derart schon genommen ist, ermöglicht, dass sie wieder und weiter auf sich selbst angewendet werden kann. Im folgenden Blatt 27 wird von einem »Portugiesischen Schiffskapitain« erzählt, der wohl (analog zur Ehefrau) seine Rechnung aufs Gesetz des Gegensatzes macht, wenn er angesichts einer feindlichen Übermacht »entschlossen« »einem Feuerwerker [befahl,] daß so irgend auf dem Verdeck ein Wort von Übergabe laut werden würde, er, ohne weiteren Befehl, nach der Pulverkammer gehen und das Schiff in die Luft sprengen möge« (138). Umgekehrt wird dann aber der Kapitän, als er angesichts der Vergeblichkeit des Kampfes gerade dem Feuerwerker auftragen will, »auf der Stelle den Befehl, den er ihm 37 Im 27. Bl. soll das »Gesetz, von dem wir sprechen«, auch von »Gefühlen, Affecten, Eigenschaften und Charakteren« gelten, erwiesen u. a. am Beispiel des Verfassers (als der sich Kleist selbst wohl eingeschrieben hat), der »locker und lose« die gemeinsam mit ihm wirtschaftende Schwester zur knickernden und knausernden machte; »ja, ich bin überzeugt, daß sie geizig geworden wäre, und mir Rüben in den Caffe und Lichter in die Suppe getan hätte« (139).

140

ertheilt, zu vollstrecken«, sich »auf die entgegengesetzte Seite hinüber werfen« (133): Auf die Anzeichen der vorgreifenden Erfüllung hin, als er den Feuerwerker »schon, die brennende Lunte in der Hand, […] in Mitten der Pulverkammer fand«, wird er durch »plötzlich[e]« Intervention »unter Flüchen« die Sprengung verhindern und das Schiff übergeben (138 f.). Eine mögliche Strategie (wessen?) aufgrund des Gesetzes des Gegensatzes führt derart durch dessen unkalkulierbare ›Gemeinheit‹ in die unauflösbare Ungewissheit über die Effekte, die sie zeitigen wird.38 Die offensichtliche Paradoxie einer Lehre vom Gegensatz des (mit Kleist befreundeten) Adam Müller (1804) liege, so Michael Eggers, »in der postulierten Allgemeingültigkeit des Gegensatzprinzips […], das auch auf sich selbst, als Antigegensatz, anzuwenden wäre und damit zugleich gültig und nicht gültig, bzw. in letzter Konsequenz nur relativ gültig ist.«39 Scheint mit der »gegensätzisch« verfahrenden »Lasterschule« als der planenden Erwiderung auf »alle Sittenschulen« (182) deren Negation als symmetrisch Entgegengesetztes durchgeführt, so belegen die Erzählungen nicht (bloß) den Gegensatz. Die Beispiele für das »Gesetz des Widerspruchs« (deren wiederholende Lektüre bezüglich »dies[es] Gesetz[es]« im 35. Blatt nach einer Unterbrechung von neun Tagen eigens empfohlen wird)40 machen vielmehr zweifelhaft, welche Effekte die aufgerufenen Kräfte haben werden, (unter anderem) indem in der Entgegensetzung ein (möglicher) Regress ohne Halt kenntlich wird.41 Würde die »gegensätzische« 38 Vgl. Miller, »Just Reading«, S. 90 f. 39 Eggers, »Didaktik des schlechten Beispiels«, S. 253; aber daraus ist nicht zu machen: Kleists »Argument ist eben darauf angelegt: Widerspruch zu provozieren und darin Bestätigung zu finden« (ebd.); denn bei einer solchen kommt die Bewegung nicht zum Halt. 40 Die Unterbrechung wird in Bl. 35 inszeniert, das Ausbleiben der in Bl. 27 angekündigten Fortsetzung begründet: »Die Nachlässigkeit eines Boten, der ein Blatt abhanden kommen ließ, hat uns an die ununterbrochene Mitteilung dieses Aufsatzes verhindert.« (Redaktionelle Fußnote, 177). Wie auch immer es zur Unterbrechung kam, mit dem unvermittelten Einsatz »Wer dies Gesetz recht begreift« (177) ist der Rückgriff auf die Beispielerzählungen ausgestellt. 41 Vgl. vor allem Miller: »Das Gesetz des Gegensatzes […] ist keine Grundlage für eine sichere Vorhersage. […] Man kann sich sicher sein, dass etwas geschehen wird, aber was genau […], lässt sich nicht vorhersagen.« (Eigene Übersetzung von »Just Reading«, S. 91); so Miller für die Kraft (force) der Sprache, während »Allerneuester Erziehungsplan« in der Analogie zu den elektrischen Kräften die Stelle leer lässt.

141

Strategie des »Allerneueste[n] Erziehungsplan[s]« zugleich ein Wissen von dieser Ungewissheit gewonnen haben, dann wäre die Möglichkeit jedes Plans, der sprachlich Wissen in Handeln transferieren wollte, ausgesetzt. Die Fiktion eines »Allerneueste[n] Erziehungsplan[s]« entgegnet den grassierenden Erziehungsplänen, indem sie deren Verständnis gelingender Bildungsprozesse mit ihren unverstandenen Vorannahmen konfrontiert, indem nicht nur das Modell von Beispiel und Mimesis42 anhand der negativen Beispiele und des in der figürlichen Analogie mit der »Experimental-Physik« aufgestellten »gemeine[n] Gesetz[es] des Widerspruchs« (133) widerrufen wird, sondern indem mit dem Plan einer Erziehung durchs Entgegengesetzte die Kontrollierbarkeit erzieherischer wie erzählerischer Wirkung dementiert wird.43 Die anfänglich bereits kurzerhand, kurzschlüssig in Anspruch genommene Natur-Analogie des »höchst merkwürdigen Gesetzes« (129) wird noch einmal anhand eines, von Kleist ohne Vermerk, von Montaigne beigezogenen Exempels fragwürdig: Ja, wenn man, auf irgend einem Platze der Welt, etwa einer wüsten Insel, Alles, was die Erde an Bösewichtern hat, zusammenbrächte: so würde sich nur ein Thor darüber wundern können, wenn er, in kurzer Zeit, alle, auch die erhabensten und göttlichsten, Tugenden unter ihnen anträfe./ Wer dies für paradox halten könnte, der besuche nur einmal ein Zuchthaus oder eine Festung. In den von Frevlern aller Art, oft bis zum Sticken angefüllten Kasematten, werden, weil keine Strafe mehr […] bis hierher dringt, Ruchlosigkeiten, die kein Name nennt, verübt. Demnach würde, in solcher Anarchie, Mord und Todtschlag und zuletzt der Untergang Aller die un42 Jean Pauls anders gelagerter Vorbehalt – »sollten einmal alle Gassen und Zeiten des armen Erdbodens mit matten steifen Ebenbildern aus pädagogischen Fürsten- und Schwabenspiegeln angefüllt werden, nämlich mit Konterfeien von Schulleuten, so daß folglich jede Zeit von der andern Männchen auf Männchen abgedruckt würde: was braucht’ es dazu, zu diesem langweiligen Jammer, anders weiter, als daß die Erziehung über Erwarten gelänge und ein Hof- und Schulmeister seinen Kopf wie einen gefürsteten könnte abgeprägt umlaufen lassen in allen Händen und Ecken? […] Aber wir dürfen das Gegenteil hoffen« (Levana, S. 544, vgl. S. 547) – hat ein Pendant, wenn’s funktionierte, in »Allerneuester Erziehungsplan« (184). 43 Menke/Glaser, »Experimentalanordnungen der Bildung«, S. 9 f.; zu den diese ablösenden Modellen Selbst-Bildung (und deren Paradoxie) bzw. Anpassung vgl. ebd., S. 11-13, 17-20 u.v. a.

142

vermeidliche Folge sein, wenn nicht auf der Stelle, aus ihrer Mitte, welche aufträten, die auf Recht und Sitte halten. (178)

Montaignes Beispiel von einer Verbrecher-Ansiedlung, in der »aus den Lastern« – »so wie lose Dinge, die man aufs Geratewohl in einen Sack wirft, von selber sich verbinden und auf vielfältige Weise zusammenfügen« – »eine Art politisches Gefüge« (contexture politique entre eux) hervorgetreten sei,44 wird verschoben. Denn im nächsten Satz setzt der »Erziehungsplan« statt aufs »auf der Stelle, aus ihrer Mitte« Auftretende auf eine äußere ordnungsstiftende Instanz: »Ja, oft setzt sie der Commendant selbst ein«, diejenigen, die »vorher aufsätzig waren, gegen alle göttliche und menschliche Ordnung« »in erstaunungswürdiger Wendung der Dinge« als »die öffentlichen, geheiligten Handhaber derselben, wahre Staatsdiener der guten Sache, bekleidet mit der Macht, ihr Gesetz aufrecht zu halten« (178). Statt sich durch ein Gesetz der Natur oder der Dinge zu begründen, wird Ordnung demnach von außen gesetzt durch (zufällig?) bereits bestehende Instanzen.45 Auch die als Analogien angeführten geschichtlichen Exempel Rom und die »nordamerikanischen Freistaaten« (178) beruhen auf der (grundlosen) Setzung von Unterschieden (durch Grenzsetzung), die nur begründend eingeholt wird, indem, wie in der (Selbst-)Gründungsurkunde der »nordamerikanischen Freistaaten«, die deklarative Einsetzung als gegebenen sicheren Grund in Anspruch nimmt, was es vor der Deklaration nicht gab (nation, good people), im Zirkel zwischen Konstativ und Performativ. Statt noch ein »gemeines Gesetz« des Wirksamwerdens zugrunde zu legen und zu belegen, zieht der »Plan« sich (inkohärent) auf ein Mehr oder Weniger zurück: eher ein Weniger (ein Fall) als ein Mehr (tausend Fälle): Ein Taugenichts mag, in tausend Fällen, ein junges Gemüth, durch sein Beispiel verführen, sich auf Seiten des Lasters hinüber zu stellen; tausend andere Fälle aber giebt es, wo es in natürlicher Reaction, das Polar-Ver44 Montaigne, »De la vanité«/»Über die Eitelkeit«, in: Essais III/9, frz. S. 922-980, hier S. 933; dt. S. 475-505, hier S. 480 f.; vgl. Christian Moser, »Angewandte Kontingenz. Fallgeschichten bei Kleist und Montaigne«, in: Kleist-Jahrbuch (2000), S. 3-32, hier S. 29-32, 22. 45 Vgl. ebd., S. 31, 21-23; vgl. zu den Gesetzen Montaigne, III/9, dt. S. 480 f., und deren nachträgliche »mythische Fundierung« ihrer Geltung (III/13, dt. S. 541).

143

hältniß gegen dasselbe annimmt, und dem Laster, zum Kampf gerüstet, gegenüber tritt. (178)

Der »Allerneueste[ ] Erziehungsplan« wird, statt sein »Gesetz des Widerspruchs« (133) zu sichern, jede Gewissheit über die Aktualisierung der gegensätzlichen Wirkungen entzogen, drangegeben haben. Als letzte Auffassung bleibt die beruhigende Kontingenz, die die Nachschrift jenen »Eltern [vorhält], die uns ihre Kinder nicht anvertrauen wollen, aus Furcht, sie in solcher Anstalt, auf unvermeidliche Weise verderben zu sehen«, die dadurch nur ihre »ganz übertriebene[n] Begriffe von der Macht der Erziehung« zeigen (183).46 Der Schluss ist: Unser Institut ist g’rad so gut wie alle andern. In unsrer Schule wird, wie in diesen [allen andern], gegen je Einen, der darin zu Grunde geht, sich ein andrer finden, in dem sich Tugend und Sittlichkeit auf gar robuste und tüchtige Art entwickelt; […] und was die Erfahrung von […] allen andern Virtuosen der neuesten Erziehungskunst, und ihren Anstalten sagt, das wird sie auch von uns und der unsrigen sagen: »Hilft es nichts, so schadet es nichts.« (184 f.)

Die Frage nach dem, was Beispiele tun, ist im »Allerneueste[n] Erziehungsplan« gedoppelt, da er nicht nur negative Beispiele als dem zeitgenössischen Nachahmungsprinzip der Erziehung entgegengesetztes Lehrmittel projektiert, sondern der »Erziehungsplan« auch (wie eine Reihe anderer Texte Kleists) sein allgemeines Konzept über eine Serie von (vermeintlich) belegenden Beispielen zu verdeutlichen behauptet und daher mit der fraglichen Wirksamkeit von Beispielen auch das Verhältnis von Beispielen im Text zu dessen Einsicht verhandelt. Es sind Paul de Mans Bedenken, die diese Erzählungen nur zu sehr belegt haben: »[K]ann je ein 46 So kommentiert auch der Abtrittsredner den Antrittsredner (der er vor 2 Tagen war): Wenn er »neben seinen Klagen über Unwirksamkeit der guten Erziehung doch die Klagen über Wirksamkeit der schlechten beilaufen läßt: so setzt er ja durch die Verbildsamkeit die Bildsamkeit offen voraus« (Jean Paul, Levana, S. 555); dem entgeht der »Allerneueste[] Erziehungsplan«, der mit dem einen (der Verbildsamkeit) das andere Vorurteil (der Bildsamkeit) aufkündigt, zugleich relativierend die unabsehbar vielen Einwirkungen, die »tausend Fäden« (183) anführt, wie die Levana »jede[n] Himmels- und Orden-Stern, Käfer, Fußstoß« (Levana, S. 552), die gleichfalls die Einwirkung der Erziehung unentscheidbar machen.

144

Beispiel wahrhaft einem allgemeinen Satz entsprechen? Ist nicht seine Partikularität, der es die Illusion seiner Verständlichkeit verdankt, notwendig ein Betrug an der allgemeinen Wahrheit, die es stützen und darstellen soll?«47 Die Beispiele verselbstständigen sich gegenüber der Regel, tendieren dazu, »die zu illustrierende Regel in den Hintergrund zu drängen«, »Eigengewicht« zu gewinnen, und »avancieren« »selbst zum problematischen und wissenswürdigen Gegenstand«48 oder sind näher betrachtet »enigmatisch und eigenartig«, so dass sie sich der »begrifflichen Verallgemeinerung im Gesetz des Gegensatzes« nicht fügen49 und unvermutet woanders hin streben mögen. Dass Beispiele, gerade weil im Ausgang von ihnen etwas gelernt werden sollte, zur Störgröße werden können, heißt nicht, dass sie (bloß) das Wissen oder das Gesetz negieren, sondern dass sie andere Effekte haben. Sie stimmen auch miteinander nicht überein, vollziehen jeweilige Verschiebungen in alle möglichen Richtungen. Zwar formuliert der »Allerneueste[ ] Erziehungsplan« explizit einen »Beschluß«, der anscheinend im »Plan« einer Lasterschule resultiert (182 f.), aber des Textes Einsicht wird, über die Anfügung stets weiterer Beispiele prozedierend, diese zu keiner Einstimmigkeit zusammengefasst haben; er endet nicht als »Plan« selbst, sondern mit dem Zusatz seiner Nachschrift, die die Ungewissheit bekräftigt, in der er leer ausgeht. Der Text, der, unterbrochen und fortsetzend, als »Allerneuester Erziehungsplan« in den Berliner Abendblätter[n] zu lesen war, delegiert seine Sprecher-Instanz, sie von sich distanzierend, an fiktive andere: den fiktiven Verfasser, den nachlässigen Boten, den kommentierenden Redaktor, der sich an den Rand dazu-schreibt, wodurch »auf paradoxe Weise« der »Status« der Aussagen des Erziehungsplans »zur Disposition« gestellt wird.50 Es gibt hier kei47 Paul de Man, »Ästhetische Formalisierung. Kleists Über das Marionettentheater«, in: ders., Allegorien des Lesens, Frank­furt/M. 1988, S. 205-233, hier S. 218, Übersetzung modifiziert; »immer wenn man ein Beispiel gibt, kommt man […] um das, was man sagen will« (so in der Diskussion zu ders., »Schlußfolgerungen. Walter Benjamins ›Die Aufgabe des Übersetzers‹«, in: Alfred Hirsch [Hg.], Dekonstruktion und Übersetzung, Frank­furt/M. 1997, S. 182-228, hier S. 213). 48 Giuriato, »Kleists Poetik der Ausnahme«, S. 230, 238. 49 Eigene Übersetzung von Miller, »Just Reading«, S. 89. 50 Sibylle Peters, Heinrich von Kleist und der Gebrauch der Zeit. Von der MachArt der Berliner Abendblätter, Würzburg 2003, S. 161-164. Dennoch ging dieser Abendblatt-Beitrag in die Kleist-Werkausgaben ein, unter »Kleine Schriften. Kunst-

145

ne Gewissheit über eine Instanz von Aussagen, die als wahre zur Geltung gebracht sein könnten, und keine für die Kalkulation der Intentionen oder Effekte (etwa) der parodischen Einsätze.51 Der Text liegt im Widerstreit nicht nur mit einer (möglichen) Feststellung, sondern gerade auch mit dem von John L. Austin durchs »ich kann« bestimmten performative.52 Machen die Beispiele unkalkulierbar, was an welcher Stelle als mögliche Erkenntnis des Textes zu nehmen ist, so wird auch jedes Lesen des Textes, das sich (unter anderem) zitierend, in De- und Rekontextualisierungen vollzieht, ohne dass irgend gesichert wäre, dass das Zitierte synekdochisch fungiert, mit diesen beigezogenen Textstücken teilhaben an der Störung einer möglichen philosophischen, vom Text abzuhebenden Einsicht.53

und Weltbetrachtung« etwa in die von Sembdner; zur Anonymisierung (der Texte) in den Berliner Abendblättern vgl. Peters, ebd., S. 49-56. 51 Vgl. aber die Vorstellung, dass hinter einer satirischen Fassade oder Maske eine »pädagogische[ ] Quintessenz des Textes« zu finden sei (Eggers, »Didaktik des schlechten Beispiels«, S. 251-253; generell Michael Moering, Witz und Ironie in der Prosa Heinrich von Kleists, München 1972); dagegen zur Nicht-Kalkulierbarkeit der Dissimulationen entsprechend den gegensätzlichen Wirkungen Peters, Kleist und der Gebrauch der Zeit, S. 165 f., 172. J. H. Miller spricht von der Ironie Kleists, von der fraglich ist, wohin sie treffe (»Just Reading«, S. 85 u.ö.). 52 Jacques Derrida, »Das Schreibmaschinenband. Limited Ink II«, in: ders., Maschinen Papier, Wien 2006, S. 35-138, hier S. 122. 53 F. Schleiermacher und F. Schlegel identifizieren Philologie, und zwar hinsichtlich der Störkraft der Beispiele, »als das, was irgendwie beim Philosophieren [als »auf Beispiele grundsätzlich nicht angewiesenes Denken«] stört« (vgl. Willer, »Was ist ein Beispiel«, S. 57 f.).

146

Lydia Goehr Bilder im Wartestand.  Vorspiel zu einer kritischen Philosophie der Geschichte und der Kunst L’avenir, par définition, n’a point d’image. L’histoire lui donne les moyens d’être pensé. Paul Valéry

Es ist ratsam, auf ein vollkommenes Epigramm ein treffendes Beispiel folgen zu lassen. Hier ist eines, aus dem letzten Werk von Cervantes aus dem Jahr 1617, Die Irrfahrten von Persiles und Sigismunda. Ein Pilger und Poet erzählt von einem wohlhabenden Monsignor in Rom, der das seltsamste Museum der Welt besitzt. Es handelt sich um ein Museum der Zukunft, bestehend aus leeren Tafeln, die auf Persönlichkeiten warten, bedeutend genug, um gemalt zu werden. Zwei Inschriften verweisen auf die erwarteten Personen: Es sind Dichter, die durch ihr Werk die Ankunft eines großen politischen Anführers verkünden werden, in diesem Falle Constantin (der auch ein Zweiter Moses genannt werden wird). Der eine Dichter ist Torquato Tasso; der andere Zárate. Wenn wir nun aber erfahren, dass Tasso für seinen Wahnsinn, Zárate für seinen Mangel an Talent bekannt war, scheint etwas an diesem Museum schief. Werden die Maler nicht während des Wartens auf die Dichter an Hunger sterben? Wird irgendein politischer Anführer an das Versprechen eines Dichters heranreichen? Und würde ein Bild, das im Warten begriffen ist, jemals vollendet, müsste es nicht unausweichlich Teil eines Museums der Gegenwart werden und dort ängstlich mit den unübertrefflichen Meisterwerken der Vergangenheit wetteifern? Dieser Essay untersucht die Idee von Bildern im Wartestand dadurch, dass er die Idee des Wartens in eine kritische Philosophie der Geschichte und der Kunst einführt. Es gibt nicht nur eine Sache, die mit Warten bezeichnet wird. Warten kann bedeuten, innezuhalten, zu zögern, zu verweilen, zu verzagen oder etwas ängstlich oder hoffnungsvoll zu erwarten. Es kann aber auch bedeuten, zu 147

dienen, so wie einst Kammerzofen (ladies-in-waiting) am Hof ihren Herrinnen aufwarteten oder wie Kellner (waiters) einst in Restaurants bereitstanden, ihren Gästen aufzuwarten, vielleicht gar bis zum Grad eines sartreschen Ekels, ganz und gar dazu bereit, den Bedürfnissen anderer zu Diensten zu sein. Ich habe drei Fragen zu Ehren des Werks von Christoph Menke. Die erste lautet, wie es durch eine dialektische Umkehrung dazu kam, dass Warten nun einen Dienst am Selbst bedeutet und damit eine Freiheit davon, anderen zu dienen. Die zweite fragt, warum ein beckettsches Endspiel des Wartens so oft ein Warten auf den Beginn eines neuen Spiels ist, obwohl in Wahrheit doch nur ein einziges Spiel zu spielen ist. Die dritte schließlich fragt, was wir über die kritische Arbeit der Negation lernen, wenn wir über das Warten anhand leerer Bilder nachdenken oder gar anhand von Büchern, deren Seiten noch nicht beschrieben wurden. All dies führt mich zu meinem gegenwärtigen Buchvorhaben, das mit der Idee des Anfangens selbst anfängt und dann beständig damit zu beginnen scheint, Zweifel an jedem Ende zu wecken, das behauptet, die endgültige Lösung der Aufgabe zu sein. Ich halte es mit denen, die sagen, das Schreiben eines Buches gleiche dem Malen eines Gemäldes, das zu beenden, nach einer anderen scharfsinnigen Beobachtung Valérys, stets nur bedeutet, auf dem Wege innezuhalten. Wie das Schreiben ist das Malen seit langem schon als eine endlose Aufgabe der Geduld und der Vorbereitung gedeutet worden, des wiederholten Beginnens im Angesicht falscher Anfänge, ein ständiger Versuch und Irrtum zwischen dem, was war, was ist und was hätte sein können, was Valéry Gelegenheit zu einer weiteren Bemerkung von einigem modernistischem Witz gibt: dass auch »die Zukunft nicht mehr das ist, was sie einmal war«. Um den Rahmen meines Essays abzustecken, möchte ich kurz etwas über mein neues Buch sagen. Es beginnt mit dem Gedankenexperiment, das Arthur Dantos Die Verklärung des Gewöhnlichen eröffnet. Das Experiment selbst beginnt mit einer Kierkegaard entlehnten Anekdote über einen Künstler, der, als er gebeten wurde, die biblische Passage durch das Rote Meer darzustellen, nichts weiter tat, als die Oberfläche des Bildes mit roter Farbe zu bedecken. Da dies offenkundig einer Erläuterung bedurfte, erklärte er, die Israeliten seien schon auf der anderen Seite und die Ägypter 148

bereits ertrunken. Im Ausgang von dieser Anekdote erfand Danto seine berühmte Reihe roter Quadrate, die uns einlädt, einem Gedankengang (passage of thought) zu folgen, der uns erfahren lässt, was Kunst ihrem Wesen nach ist, wenn sie uns nichts zu sehen gibt als bloße rote Quadrate. An einem Abend vor einigen Jahren, als ich Danto naiv fragte, warum es in der Geschichte der Malerei so wenige Darstellungen des Durchzugs durch das Rote Meer gebe, antwortete er, dass das Thema den Künstlern vielleicht zu einfach war, um es in Angriff zu nehmen, wenn alles, was sie dazu brauchten, eine Leinwand und rote Farbe war. Den Humor beiseitegelassen, beschäftigte ihn die Frage, was es zur Kunst mehr braucht als bloß eine leere Leinwand und rote Farbe, fünfzig Jahre lang. Sie führte ihn zu einer Emanzipationsgeschichte der Welt der Kunst: der Verkündung des Endes der Kunst durch einen Ruf nach Freiheit, der darauf zielte, eine Politik des Ausschlusses offenzulegen, die die Welt als ganze beherrscht. Es war seine Befreiungsgeschichte, gewonnen aus seinem Gebrauch der Anekdote über das Rote Meer, die mich zu meinem Buch anregte. Mein Buch, das den Titel Red Sea – Red Square. Picturing Freedom and Liberating Wit tragen wird, ist ein Passagenwerk über Passagen des Lebens, des Denkens und der Kunst. Es stellt eine Genealogie der Freiheit und eine Anatomie des Witzes (wit) vor, um mit einem schiefen Lächeln zu behaupten, dass man sich kein Bild der Freiheit machen kann, ohne zugleich den Witz zu befreien. Aber welche Art von Witz ist im Spiel, wenn dieser ein Bild hervorbringt, auf dem nichts zu sehen ist? Unter den vielen Werken, die aus der Anekdote wesentlich mehr als bloß eine Randbemerkung gemacht haben, bediene ich mich derjenigen Dantos und Kierkegaards, aber auch Giacomo Puccinis, des französischen Dichters und Dramatikers Henri Murgers und William Hogarths. In der Tat merkwürdige Bettgenossen, bis wir ihre verschiedenen Beiträge zu dem entdecken, was um 1800 zur Vorstellung eines Lebens wurde, das als la vie de bohème bekannt ist. Was hat diese Vorstellung, so frage ich in meinem Buch, mit dem Exodus zu tun, an dessen Ende die Israeliten das Meer durchquert hatten, die Ägypter aber in ihm ertrunken waren? Wir wissen, was Moses mit dem Monotheismus zu tun hatte, aber was hatte er mit der Geschichte des roten Monochroms zu tun, durch das Künstler und Denker versuchten, sich ein Bild der Freiheit zu machen und den Witz zu befreien? Die 149

Antwort darauf gibt mir meinen roten Faden an die Hand, zum Teil dadurch, dass sie erklärt, warum der Faden von allen Farben ausgerechnet rot sein musste. Hier reicht es aus, bloß von einer Variante der Anekdote über das Rote Meer zu berichten, die für das nachrevolutionäre Frankreich folgenreich war. Deren Pointe sollte nun nicht mehr darin bestehen, dass die Ägypter ertrunken waren, sondern vielmehr, dass sie noch nicht angekommen seien – Ils vont venir. Als dann danach gefragt wurde, was mit Frankreich geschehen würde, wenn die Ägypter kämen, drehte sich alles darum, wer oder was mit den Ägyptern gemeint war. Erwartete Frankreich begierig die Weisheit des einstmals großen Reichs der Pharaonen oder mit Schrecken die sogenannten minderen Ägypter, von denen unter außerordentlichen Verwirrungen der Geschichte, der Theologie und des Mythos fälschlich angenommen wurde, sie wären unter göttlicher Strafe als Vagabunden den ganzen Weg vom Roten Meer gekommen? Auf diesem langen Weg, auf dem sie als unerwünschte Emigranten angesehen wurden, zogen sich diese minderen Ägypter Namen wie Zigeuner oder Gypsies zu. In Frankreich nannte man sie les bohémiens, weil angenommen wurde, sie seien ohne Recht auf Durchreise aus der deutschen Region Böhmen gekommen. Als sie in Paris ankamen, forderten viele, sie sollten von den Straßen gefegt werden, als seien sie eine Plage, bezeichnenderweise unter dem Namen La Bohème. Was aber hatte diese Bohème mit den Künstlern, die la vie de bohème lebten, zu tun? Und warum ließ Puccini La Bohème mit einem Maler beginnen, der bei dem Versuch scheitert, das Rote Meer zu malen – Questo Mar Rosso? So fesselnd diese Fragen sind – es reicht an dieser Stelle aus, bloß auf die Verwechslungen der Reisen der minderen Ägypter mit der anderen Auswanderung hinzuweisen, die vom Roten Meer ihren Ausgang nahm: die der Roten Juden, wie sie manchmal genannt wurden, zum Teil wegen ihrer angeblichen Scham darüber, dass sie nie die träge Anbetung der Götzen abgelegt hätten, die sie von ihren versklavten Ahnen geerbt hatten. Der Punkt ist also, dass während einige glaubten, dass die Röte des Roten Meeres vom Blut der ertrunkenen Ägypter herrührte, andere das Rot eifrig den Juden zuwiesen, von denen jahrhundertelang behauptet wurde, sie seien unfähig zu verstehen, was die Freiheit im Gelobten Land wahrhaft bedeutete. Wenn sie nicht als Rote Juden bezeichnet wurden, dann wurden 150

sie zu Falschen Propheten erklärt, weil sie irrtümlich auf das Versprechen der Freiheit warteten. Ohne dass dies ein Paradox wäre, bedeutete irrtümlich zu warten sowohl zu lang zu warten als auch überhaupt nicht zu warten. Unter der Annahme, dass sie nur allzu gut wüssten, was die Zukunft bringen würde, hätten sie die Möglichkeit ausgeschlossen, dass sich ihre Prophezeiung mit der Zeit ändern könnte, was sie entweder der Zukunft gegenüber redundant oder zu einer überholten Prophezeiung der Vergangenheit machte. Die Absicht, der Zukunft Raum zu geben, die ihr angemessene Rolle zu spielen, regte die Kritiker falscher Prophezeiungen an, ein Geduldsspiel, ein Spiel des Wartens (waiting game) zu veränderten Bedingungen vorzuschlagen. Im Zentrum des Spiels sollte stehen, dass sich der Zukunft zu stellen bedeutet, nur einen begrenzten Anspruch auf sie zu erheben. Dieser Essay konzentriert sich auf die Grenze dieses Anspruchs, wie sie in einer Kritik durch die negative Forderung artikuliert wurde, dass die Leinwand der Zukunft leer, unbemalt, oder dem Blick entzogen bleiben muss. Trotz dieses Fokus bewahre ich eine rote Leinwand der Erinnerung an die blutig rote Geschichte der Verfolgung der Juden und der Ägypter-Zigeuner im Hintergrund. Entsprechend bedeutet dies, dass das Lächeln in der Befreiung des Witzes durch eine tragikomische Umkehrung auch Tränen hervorruft. Als ich vor einigen Monaten begann, über das Warten nachzudenken, glaubte ich irrtümlich, dass man sich ihm als einem philosophischen Motiv nur unzureichend gewidmet hat. Bald aber fand ich das Warten überall, in Redewendungen wie »time and tide waits for no man« oder im zögernden Geöffnetsein, das Siegfried Kracauer in »Die Wartenden« so hervorragend auf den Begriff gebracht hat. Als ein Gegenmittel verstanden, um die Anmaßungen falscher Prophezeiung und falscher Positivität bloßzustellen und ihnen Einhalt zu gebieten, haben viele das Warten als eine Aufgabe betrachtet, die an Schwierigkeit dem Leben eines befreiten Lebens gleichkommt; einige haben behauptet, es sei dieselbe Aufgabe. Eine Schwierigkeit, apropos Nietzsches unzeitgemäßen Betrachtungen, dreht sich um die Hermeneutik subjektiver Zeit, die den Verstand durch die Furcht verzehrt, dass die Zukunft nichts anderes sei als die eigene Vergangenheit oder nie eintreten werde, wodurch das 151

eigene Leben zum Liegen in einem hohlen Sarg würde. Eine andere Schwierigkeit, apropos Kafka, liegt darin, dass das Sitzen oder Stehen Vor dem Gesetz bedeutet, auf die Gleichheit zu warten, die die Idee der Gerechtigkeit verspricht, während man sich vollkommen bewusst ist, dass vollkommene Gerechtigkeit in jener Wirklichkeit, die immer schon die unsere ist, fehlt. Eine dritte Schwierigkeit, apropos Beckett, besteht darin, ob jedes Warten ein Warten auf ist. Ist es möglich, in einem intentionslosen geistigen Raum auf nichts zu warten, als sei der eigene Geist selbst eine leere Leinwand? Mit dem »Vorspiel« im Untertitel dieses Essays habe ich vor Augen, was Nietzsche erreichte, indem er seiner Philosophie der Zukunft die Bezeichnung Vorspiel voranstellte. Mit dieser Qualifizierung wollte er der Anmaßung jener den Boden entziehen, die die Zukunft nicht als Skizze begrenzter Normen und Prinzipien vorstellten, sondern mit der gefährlichen Positivität spekulativer Überzeugung und Selbstzufriedenheit. Nietzsche ging es darum, seine Leser darauf vorzubereiten, sich einem blinden Enthusiasmus für den neuen Menschen zu verschließen, der mit einem reinen Ich in Erscheinung treten sollte, nackt und befreit, um in einer Wiedergeburt dem verlorenen Geist der Menschheit einen neuen Anfang zu geben. Ein neuer Anfang gegen jene, die die Straßen bevölkerten, die der Beschreibung nach einen falschen Egoismus lebten, bestimmt durch kleinbürgerliche (oft jüdische und weibliche) Eigeninteressen. Wenn der neue Mensch für die Zukunft besser kommen sollte, so könnte die Kunde darüber nur aus dem stotternden Mund eines Zarathustra, Moses oder des spöttischen Sokrates kommen, was Nietzsche erlaubt, mit halb geöffnetem Mund zu erklären: »Wahrlich, ich lernte das Warten auch und von Grund aus«, allerdings nur, wie er hinzufügt, »das Warten auf mich«.1 »Warten auf mich« bedeutete, die eigene Ungeduld mit Blick auf den Versuch zu bezähmen, die eigene Ehre in einem Duell unter Beweis zu stellen; oder die Neigung, in der Freude des Vergessens der Gegenwart zu leben, als ob man plötzlich und zeitlos die christusgleiche Haltung einnehmen könnte, nicht von dieser Welt zu sein. Das lange neunzehnte Jahrhundert überblickend, schaute Nietzsche auf »die Kinder der Zukunft«, die den »Zukunfts-Sire1 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: KSA, Bd. 4, hg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, München, Berlin 1999, S. 244.

152

nen des Marktes« lauschten,2 gebannt von närrischen Hoffnungen, die von »Rattenfängern« verbreitet wurden: Dass das eigene elende Sklavendasein bald sein Ende finden würde, wenn man nur bereit wäre, von diesem Tag zum nächsten endlos darauf zu warten, dass »etwas von außen« käme.3 Er beschrieb, wie dieses Warten zu einem fiebrigen Durst führen kann, bis man als triumphierende Bestie aufspringt und sich selbst für bereits frei erklärt. Er warnte davor, den veralteten Gedanken derer zum Opfer zu fallen, die – mit ergrauten Haaren – bloß ein Gift anboten, um den eigenen »anzweifelnden Trieb, seinen verneinenden Trieb, seinen abwartenden […] Trieb, seinen analytischen Trieb, seinen forschenden, suchenden, wagenden Trieb, seinen vergleichenden, ausgleichenden Trieb« zu bestärken.4 Er zog einen Exodus der Arbeitermassen Europas in Betracht, deren Situation nicht eine der Möglichkeiten, sondern der Unmöglichkeit war, denn deren soziales Leiden werde, weit davon entfernt, geheilt zu werden, bloß durch falschen Trost von Anführern beschwichtigt, in deren Eigeninteresse das Fortleben des Unrechts lag, selbst wenn sie anderes behaupteten. Hatte einst eine Vision der Zukunft das Volk von einer Art der Sklaverei befreit, so begaben sich die neuen Europäer in eine andere, neue Sklaverei gegenüber den Versprechen von Prinzipien oder asketischen Idealen, die nichts damit zu tun hatten, das Leben jetzt zu leben, oder unterwarfen sich einer Weltgeschichte, die die Gegenwart bloß als eine stets vergehende Etappe auf dem Weg in eine noch nicht existierende Zukunft deutete. Bereits lange vor Nietzsche wurde der Umstand, dass sich das Fortleben der Unfreiheit und der Ungerechtigkeit hinter lauten Rufen verbarg, die das Gegenteil verkündeten, als ein überheblicher Stolz diagnostiziert, ja als ein Betrug (trumpery) an der Gesellschaft durch jene, die in jeder Hinsicht eine völlige Unfähigkeit zu warten an den Tag legten. In jeder Hinsicht eine völlige Unfähigkeit an den Tag zu legen ist, so würde man denken, für einen Einzelnen 2 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: KSA, Bd. 3, hg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, München, Berlin 1999, S. 343-651, hier S. 628 f. 3 Friedrich Nietzsche, Morgenröthe, in: KSA, Bd. 3, hg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, München, Berlin 1999, S. 9-331, hier S. 183 f. 4 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: KSA, Bd. 5, hg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, München, Berlin 1999, S. 357.

153

ein ziemliches Kunststück, das bis heute kaum zu ermessen ist, aber vielleicht dennoch immer heutig. Dieser auftrumpfende Betrug wird gegenwärtig vielerorts im Sinne der autoritären Persönlichkeit diskutiert. Ich bin allerdings mehr an der Anmaßung der Ungeduld interessiert, zu der das Warten ein Gegengift bieten sollte. Von einem Gegengift zu sprechen bedeutet, nach einem Heilmittel für eine Krankheit zu suchen, zugleich aber verhindern zu müssen, dass das Heilmittel selbst Teil der Krankheit wird. Dies wird durch die Arbeit des Negativen verhindert, so, wenn man sich davon abhält, das Unrecht das letzte Wort haben zu lassen, ein Unrecht, das den Bürgern häufig durch Tyrannen zuteilwird, die sie in unterdrückerischen Regimen Tag um Tag unter falschen Versprechungen in lang hingezogenen Warteschlangen stehen lassen. Das bringt mich auf einen alten Witz aus der Sowjetunion, der von einer Warteschlange handelt, in der jeder seit einem Tag auf das versprochene Brot wartet. Als das Versprechen eingeschränkt wird, werden die Leute ihrem Wert für die Gesellschaft entsprechend nach Hause geschickt. Die Niedersten zuerst, die Juden, dann die Frauen, als Drittes diejenigen, die nicht in der Partei sind, bis allein die Parteitreuen noch anstehen, nur um am vierten Tage erfahren zu müssen, dass es kein Brot geben wird. Und die Pointe: »Wie Du siehst, das Glück ist ganz auf der Seite der Juden!« Wenn wir nun diesem Witz noch Kants Anekdote über den Arzt der baldigen Genesung zur Seite stellen, ist unsere Botschaft fast vollendet. Dieser Arzt, der jeden Patient von Tag zu Tag mit dem Versprechen unmittelbar bevorstehender Genesung vertröstet, wird von einem neuen Patienten überlistet, der über die schlimmste Krankheit von allen klagt: Ich sterbe vor lauter Besserung! Im Spiel des Wartens können unsere Gedanken, selbst wenn sie in einem Essai oder Versuch zu einem Jenseits oder etwas Ewigem führen, nicht auf die vermittelnde Arbeit der Zeit und des Tempus der Geschichte verzichten. Ebenso wenig können sie ohne jene Art von Vorbereitung auskommen, die die Erwartungen mit Blick auf die Frage, was Freiheit und Gerechtigkeit wirklich bedeuten, eher aussetzt als bloß verunsichert. Aber wo beginnt man in dieser Arbeit? Im Museum der Zukunft verwendete Cervantes das Wort tablos, um seinen Lesern zu erlauben, dabei nicht nur leere Bilder, sondern auch Bücher mit leeren Seiten in Betracht zu ziehen. Er 154

hatte dabei nicht die Geschichte der Kunst der Schriftsteller und Maler im Sinn, die ihre Tafeln mit Visionen des Garten Eden oder des Lebens nach dem Tod im Himmel oder in der Hölle füllten, sondern die Tradition der Tabula Rasa. Diese warf Fragen über den Innatismus auf, darüber, ob der Geist eines neugeborenen Kindes leer sei oder, wie Platon behauptet hatte, voll von vergessener Erinnerung, oder was es bedeutete, wie es sich Locke dachte, auf die ersten Erfahrungen zu warten, aus denen man dann die ersten Ideen abstrahierte. Vor Locke verglich Aristoteles in De Anima den leeren Geist mit einer unbeschriebenen Tafel, was viele danach, unter ihnen die Deutschen Idealisten, dazu anregte, die Vorstellung, der Geist sei ein passiver Behälter, der mit ihm äußeren Dingen gefüllt wird, abzulehnen. In einem populären Essay über die Bestimmung des Menschen stellte Fichte den leeren Blättern das Wort bloß voran, um einen Geist zu charakterisieren, der seine Fähigkeit aufgeben würde, seine Vernunft als praktische Tätigkeit der Vermittlung von Äußerem und Innerem in Anspruch zu nehmen. Hegel hingegen verwendete die leeren Blätter als Bezeichnung für die »Perioden des Glücks«,5 in denen nichts in der Weltgeschichte geschah, weil diesen Perioden der notwendige Widerspruch mangelte. So verwendet, benannten die leeren Blätter eine unhistorische Gegenwart ohne Folgen für die Zukunft. Es wäre keine Übertreibung zu sagen, dass heute die Geschichte der leeren Blätter bis zum Rande voll ist. Lange bevor man leere Bilder in modernen Museen sehen konnte, konnte man von ihnen lesen, in Gestalt gewitzter und ernster Ekphrasen der Feder. Man betrachte nur als Beispiele einige der Experimente des siebzehnten Jahrhunderts, die die Angehörigen der Tradition der Tabula Rasa dazu anregten, die Begriffe der modernen Wissenschaft anhand von Emblemata und Parerga zu verhandeln; die leere Tafel in Otto van Veens Theologicae Conclusiones, Robert Fludds kosmologische schwarze Seite ad infinitum und Saavedra Fajardos unbemalte Leinwand auf einer Staffelei. In diesem Emblem sah er mit »Pinsel und Farbe der Kunst« die Menschen, die »geboren ohne irgendeine Art von Wissen […] [sich selbst] überlassen werden, [um] die Züge der Künste und Wissenschaften in […] [ihren] Geist zu malen wie auf 5 G.  W.  F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Werke, Bd. 12, Frank­furt/M. 1970, S. 42.

155

eine leere Leinwand«.6 Oder Cornelius Gijsbrechts Darstellung der Rückseite eines gerahmten Bildes, die er in Tradition des trompe l’œil malte, deren Trug, wie er im Wort trompe ausgesprochen wird, den Witz der Umkehrung befeuerte, der später Jacques Derrida dazu anregte, die philosophische Bedeutung von Parerga aufzuzeigen, die sich als Lücke oder Leere im Rahmen zeigen. Das Warten wurde oft in Anspruch genommen, um die dialektische Stillstellung der Zeit auszuhalten, die als wesentlich für jene Kunstwerke angesehen wurde, die auf eine Geschichte der Entfaltung ihrer Deutung oder ihres gesellschaftlichen Wahrheitsgehaltes warten, um Zeitgemäßes und Unzeitgemäßes zum Ausdruck zu bringen. Adorno schrieb vom Nachleben der Kunstwerke, die wie in einem Wartesaal ihrer Rezeption harren, gefangen zwischen der Weigerung und dem Bedürfnis, verstanden zu werden. Vor allem aber diente ihm das Warten als Gegengift zu einer entgegengesetzten Haltung. »Je höher geartet der Künstler«, so erklärte er, »um so größer die Verführung des Schimärischen. Denn wie Erkenntnis kann die Kunst nicht warten, aber sobald sie der Ungeduld nachgibt, verstrickt sie sich.«7 Diesen Gedanken entfaltete er, indem er die Nichtigkeit von Aldous Huxleys nicht ganz so schöner neuen Welt offenlegte, oder überall sonst, wo er eine erpresste Versöhnung am Werk sah oder den angedrehten Realismus utopischer Phantasie (im Englischen übersetzt mit trumped-up realism). Er beschrieb die verfälschte Positivität, die das Leiden der Menschen verdrängte, weigerte sich aber, das Leiden als Garantie dafür zu nehmen, dass in Zukunft der Betrug entlarvt würde. Die Idee des Leidens durfte nicht als sicherer Besitz neben den akkumulierten Waren des Lebens eingesackt werden. Bewahrt als eine Erinnerung, eröffnete das Leiden qua Negation eine Einsicht in die Falschheit einer Kunst, die alle Verschiedenheit verleugnete im Namen gesellschaftlicher Versöhnung mit dem, was hier und jetzt in Sicht war. Als er über den Jazz schrieb, der von den weißen Männern des Orchesters von Paul Whiteman gespielt wurde, stellte er fest, dass 6 Saavedro Fajardo, The Royal Politician Represented In One Hundred Emblems, London 1700, S. 9 f. [obige deutsche Übersetzung nach dieser im englischen Original verwendeten Übersetzung]. 7 Theodor W. Adorno, »Arnold Schönberg 1874-1951«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, hg. v. Rolf Tiedemann, Frank­furt/M. 2003, S. 151-180, hier S. 171.

156

nichts mehr ein Recht zu existieren zugestanden wurde, das nicht der Welt, wie sie ist, entsprach. Dieser Jazz gab in seinen Augen einer »falsche[n] Liquidation« nach, je mehr er die Gesten, die auf eine andere Welt hindeuteten, »aus dem Bilde« verschwinden ließ.8 Je größer der Erfolg dieser liquidierten Kunst, desto mehr wurden jene verweigerten Gesten einer Kunst des kompromisslos bildlosen Bildes anvertraut, die von der Erwartung getragen wird, dass die Welt morgen eine andere sein könnte als heute. Wann immer er die Auslöschung des Scheins begrüßte, betonte Adorno zugleich die Fähigkeit der Kunstwerke, sich einer mimetischen Angleichung an das, was ist, zu verweigern und dadurch eine utopische Mimesis zu bewahren, die im Warten auf das, was noch nicht ist, begriffen ist. Betrachten wir nun, inwiefern die Auslöschung oder Außerkraftsetzung der Darstellung einer begrenzten politischen Vorausschau von Idealen entspricht. Hilfreich dafür ist eine einzelne Passage aus einem Gespräch von Michael Haller mit Habermas, das 1990 unter dem Titel Vergangenheit als Zukunft. Das alte Deutschland im neuen Europa? erschien. Die »emanzipierte Gesellschaft« ist in der Tat ein Ideal, das Missverständnisse nahelegt. Ich spreche lieber von der Idee der unversehrten Intersubjektivität. Diese Idee läßt sich aus der Analyse notwendiger Bedingungen von Verständigung überhaupt gewinnen – sie bezeichnet so etwas wie den Vorschein von symmetrischen Verhältnissen freier reziproker Anerkennung kommunikativ handelnder Subjekte untereinander. Diese Idee darf allerdings nicht zur Totalität einer versöhnten Lebensform ausgemalt und als Utopie in die Zukunft geworfen werden. Sie enthält nicht mehr, aber auch nicht weniger, als die formale Charakterisierung notwendiger Bedingungen für nicht antizipierbare Formen eines nicht-verfehlten Lebens. Auch den Sozialismus hätte man nicht – was wohl der größte philosophische Fehler dieser Tradition gewissen ist – als das konkrete Ganze einer bestimmten künftigen Lebensform begreifen dürfen. Ich habe das immer wieder gesagt: »Sozialismus« taugt nur als Inbegriff notwendiger Bedingungen für emanzipierte Lebensformen, über die sich die Beteiligten selbst zu verständigen hätten.9 8  Theodor W. Adorno, »Zeitlose Mode. Zum Jazz«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, S. 123-137, hier S. 137. 9 Jürgen Habermas, Vergangenheit als Zukunft. Das alte Deutschland im neuen Europa? Ein Gespräch mit Michael Haller, München 1993, S. 148.

157

Halten wir hier nur Habermas’ auffallend negative Begrifflichkeit für das fest, was unversehrt, nicht beschädigt und nicht antizipierbar ist. Darin hallt Adornos Bild des beschädigten Lebens nach, das in einem so katastrophalen Moment gelebt wurde, dass er dieses Leben gar für ungelebt erklärte. So weit ging Habermas nicht, doch verweigerte auch er sich jeder Verkehrung des Negativen in ein leeres Positives, und das in Erinnerung daran, was nach Hegels Beschreibung der größte philosophische Fehler ist: Dieser besteht darin, ein Ideal der Wahrheit oder der Freiheit als ein zeitloses, rein formales oder apriorisches Ideal zu setzen, oder darin, dass man wie der von Hegel kritisierte einseitige, einfarbige (monochromatische) Formalismus das Absolute fälschlich als Nacht bestimmt, in der alle Kühe schwarz sind, oder wie Adorno die Wendung stillschweigend änderte, als Nacht, in der alle Katzen grau sind. Um diesen Fehler zu vermeiden, entsprachen Habermas’ negative Begriffe der zentralen Überzeugung kritischer Theorie: Dass man im Durcharbeiten der Vergangenheit in der Gegenwart um einer besseren Zukunft willen sich niemals anmaßen darf, sich ein Bild der Zukunft zu machen, wie es das Wort ausgemalt beschreibt. Hegel benutzte das Wort ausgemalt in der Vorrede zu seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts. Es gäbe viel über seinen Gebrauch dieses Wortes zu sagen, sowohl in Hinsicht auf seine Diagnose eines einfarbigen (monochromatischen) Formalismus, als auch auf seine Erklärung, dass die Philosophie, die stets zu spät komme, mit Grau in Grau eine Gestalt des Lebens malt, die bereits in die Vergangenheit entschwinde, was der Eule der Minerva erlaubt, in den aufziehenden Wolken der Dämmerung ihren Flug zu beginnen. An dieser Stelle jedoch reicht es aus, nur danach zu fragen – ohne unmittelbar eine Antwort zu geben –, warum Hegel wollte, dass seine Philosophie dieses Bild nicht in bloßem Grau malt, sondern in der monochromatischen Technik, die seit Jahrhunderten als mit Grau in Grau beschrieben wurde. Die Passage von Habermas ist noch in weiterer Hinsicht hilfreich. In seiner Beschreibung des Erscheinens der Zukunft gebraucht er den Ausdruck Vorschein, um einen intuitiven, flüchtigen Ausblick oder eine Skizze der Zukunft nahezulegen, die auf ihr wirkliches In-Erscheinung-treten wartet. Auf die Zukunft zu warten, bedeutet die Grenzen der Erkenntnis anzuerkennen, was das zum »Vorschein [kommen] von symmetrischen Verhältnissen 158

freier reziproker Anerkennung kommunikativ handelnder Subjekte untereinander« betrifft.10 Das Warten wird als eine Möglichkeit dargeboten, die ohne die Garantie auskommen muss, dass das Erhoffte wirklich in Erscheinung tritt. Die Verweigerung dieser Sicherheit tritt der Anmaßung eines jeden entgegen, der denkt, die »Totalität einer versöhnten Lebensform« könne vorab entworfen werden. Diese Anmaßung vermeidet er, indem er die Formen einer unvorhersehbaren Zukunft pluralisiert und bloß notwendige Bedingungen aufstellt, die zusammen nicht hinreichend sind. Nur wenn die Philosophie es bei notwendigen Bedingungen belässt und vor hinreichenden Bedingungen Halt macht, bleibt das Bild ein kritisches. Stellen wir uns auch die Frage, warum Habermas den Ausdruck allerdings in einem Satz verwendet, der derart darauf insistiert, sich kein Bild einer versöhnten Form des Lebens zu machen. Zeigt sein allerdings an, dass er wiederholt, was Philosophen seit langem schon behauptetet hatten, dass es sich hier um eine Grenze handelt, die sie nie überschreiten dürften, damit Philosophie ein Gegenmittel zu dem bleibt, was Politiker tun und vermutlich tun müssen, wenn es wahr ist, dass man mit einer leisen oder stotternden Stimme keine Stimmen gewinnt? Dies führt uns zu der drängendsten Frage, der, ob das Spiel des Wartens tatsächlich die Philosophen davon abhalten sollte, sich die Hände schmutzig zu machen. Warum nicht den Pinsel dazu nutzen, falsche Visionen auszustreichen oder wahre Prophezeiungen vor Augen stellen, um falsche zu tilgen? Viele haben darauf geantwortet, dass Philosophie weder die metaphysischen noch die erkenntnistheoretischen Werkzeuge besitzt, um zu malen oder zu prophezeien; andere haben gewarnt, dass Bilder, wie Worte, wenn sie der Welt dargeboten werden, sich zu schnell der falschen Deutung derer ergeben, die die lautere Stimme haben. So wird ein strategisches Schweigen zum Kern des Spiels, eines Spiels wesentlicher Zurückhaltung. Betrachten wir eine vergleichbare Schlussfolgerung, die Kracauer im Anschluss an seine Beschreibung der Entfremdung der Moderne in den städtischen Warteräumen zog, in denen Menschen in grauen Anzügen warteten, ohne einander zu beachten, obgleich sie ein gemeinsames Schicksal hatten. Er sah darin eine Entleerung von 10 Ebd.

159

Beziehungen der Bindung. Ihre Autonomie, die ihnen von der modernen Rationalität gewährt wurde, stellte sie zwischen die Extreme einer leeren Zeitlosigkeit und der äußersten Zufälligkeit der täglichen Existenz. Er arbeitete sich durch jede Haltung des modernen Entweder-Oder der Wurzellosigkeit, der Heimatlosigkeit, des Skeptizismus und Nihilismus wie auch durch die Neigung zu ungeduldigen Kurzschlüssen und Abkürzungen. Und doch gab er das Warten nicht auf, sondern rettete es mit der utopischen Geste des Vielleicht der kritischen Theorie: »Übrig bleibt vielleicht nur die Haltung des Wartens«.11 Er verstand es als »zögerndes Geöffnetsein«, dessen Sinn, wie er hinzufügte, »allerdings schwer zu erläutern[]« sei.12 Das allerdings brachte das Warten mit der Ironie einer kritischen Theorie in Berührung, in der anerkannt wird, dass bestimmte Gegenstände wie Freiheit und Witz nicht völlig expliziert werden können, ohne genau das auszulöschen, was erklärt werden soll. Betrachten wir schließlich die Beziehung des Wartens auf das Bild aus Becketts Endspiel, das alles und nichts zeigt. Es ist viel über dieses Stück geschrieben worden, mit und ohne Bezug zu Becketts anderen Stücken über das Warten, und natürlich zu Warten auf Godot. Seine Leser haben sich dabei auf das Spiel des Wartens konzentriert, das, ohne einen Gewinner zu kennen, danach fragt, ob Anfang und Ende jeden nur da belassen, wo er immer schon ist, in der Schwebe gelassen wie die ausstehenden – manchmal katastrophalen – Urteile der Menschheitsgeschichte. Stanley Cavell findet im Endspiel Nietzsches letzten Menschen wieder, der »eher […] noch das Nichts wollen, als nicht wollen« will,13 ebenso aber Camus’ Rettung einer Menschheit, die ihr Ziel, Gott zu spielen, aufgibt. Christoph Menke hat in jüngerer Zeit das Stück als das Durchspielen einer Emanzipationsgeschichte gedeutet, die die versprochene Freiheit irgendwo jenseits alles Dargestellten verortet, so dass die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft oder das Erzählen eines Witzes zu keiner Auflösung kommen kann, sondern bloß aus lauter 11 Siegfried Kracauer, »Die Wartenden«, in: ders., Das Ornament der Masse, Frank­ furt/M. 1963, S. 106-122, hier S. 116. 12 Ebd. 13 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, S. 339. Vgl. dazu Stanley Cavell, »Ending the Waiting Game«, in: ders., Must We Mean What We Say? A Book of Essays, Updated Edition, Cambridge 2002, S. 115-162, hier S. 150.

160

Erschöpfung ein Ende findet. Er versteht das Endspiel »als ein Spiel vom Ende des Spiels«.14 Die Strategien dieses ästhetischen Spiels tragen zu einer Parabel auf einen schwankenden Kampf um Befreiung bei, der bloß in einem Deuce15 endet. Dieses Schwanken zeigt sich in jeder verkrüppelten Geste, jeder Beschwörung von Blindheit oder Taubheit, verstärkt durch Pausen und Zögern, die Teil eines Scripts sind, das mit allen Sorten von verwirrenden Wortspielen auf Rhythmus und Reim anhält und beginnt. Alles in Becketts Endspiel ist Teil eines Spiels des Wartens, das dir sagt, dass es, wie du es auch machst, verkehrt ist – you are damned if you do and damned if you don’t –, eingeschlossen die eröffnende Regieanweisung zu dem Gemälde, das nicht übersehen werden darf, wie Beckett insistierte. »Innenraum ohne Möbel«,16 so beginnt seine Liste, gefolgt von »Graues Licht«.17 Man achte auf die Umkehrung, die die Objekte an letzter Stelle nennt: »An der rechten und linken Wand im Hintergrund je ein hoch angebrachtes Fensterchen mit geschlossenen Vorhängen. Vorne rechts Tür. In der Nähe der Tür an der Wand hängt ein umgedrehtes Gemälde«.18 Die Anweisungen setzen sich fort bis zu dieser: »Regungslos in der Nähe der Tür, seine Augen starr auf Hamm gerichtet, Clov. Sehr rotes Gesicht.«19 Was hat ein grauer Raum mit einem roten Gesicht darin mit einem gegen die Wand gekehrten Bild zu tun, das selbst dann nicht umgedreht wird, wenn Clov es herunternimmt, um es durch einen Wecker zu ersetzen, unter der Drohung, dessen Alarm auszulösen, und mit der Alarmstimmung, die seiner Erklärung folgt, dass die Pillenschachtel keine Pillen mehr enthalte, um den Schmerz zu stillen? Es sind viele Fragen über das Bild gestellt worden. Ist das Nicht-Zeigen von größerer oder von anderer Bedeutung als das Nicht-Sehen? Weiß irgendein Mitglied der Familie, oder wussten sie jemals, was das Bild zeigte, wenn es dem Betrachter jemals über14 Christoph Menke, Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, Frank­furt/M. 2005, S. 201. 15 [Anm. d. Übers.: So heißt es in der englischen Fassung des Stücks, nach der Bezeichnung für den Einstand im Tennis.] 16 Samuel Beckett, Endspiel/Fin de partie/Endgame, Frank­furt/M. 1996, S. 8 [Übers. in Anlehnung an die englische Fassung modifiziert]. 17 Ebd., S.  9. 18 Ebd. [Übers. in Anlehnung an die englische Fassung modifiziert]. 19 Ebd., S. 8 [Übers. in Anlehnung an die englische Fassung modifiziert].

161

haupt etwas zeigte? Zeigte es einst die Zeit, als Gott noch nicht tot war oder der Menschheit noch nicht den Rücken gekehrt hatte? Oder bestand es seit jeher bloß aus der Rückseite, wodurch die Rückseite die Front wäre? Oder, wenn es einst ein Porträt der Familie war, kehrte es das Gesicht zur Wand, wie ein bestraftes Kind? Oder weil derjenige, der es entworfen hatte, keinen Weg fand, es zu vollenden? Oder bestand sein Sinn bloß darin, beständig solche philosophischen Fragen, die im Warten begriffen sind, aufzuwerfen; so dass die Fragen unmittelbar nach ihrer Beantwortung durch neue ersetzt würden, wie Cervantes’ Tafeln? Betrachten wir eine Episode aus Walter Scotts Woodstock, in der der Erzähler Wildrake inmitten alter Möbel über »verschiedene Bilder mit vergoldeten Rahmen, die mit dem Gesichte der Wand zugekehrt waren«, stolpert.20 Als Wildrake eines von ihnen herumdreht, kommt es bei Cromwell, der ihn begleitet, zu einer »unwillkürliche[n] Erleichterung seines eigenen Herzens […], das die Rückerinnerung an die Vergangenheit und die Vorempfindung der Zukunft bewegt«.21 Sollten wir sagen, dass solche Erleichterung in Becketts Stücken nicht gewährt wird? Und nicht nur darum, weil das Bild nicht umgedreht wird, sondern weil, selbst wenn es umgedreht würde, man, wie Menke vorschlägt, nur einen Künstler entdecken würde, der dem Scheitern verpflichtet ist? Man würde entdecken, dass die »Treue zum Scheitern« so groß ist, dass alles Schöne zu Asche gemacht wird, oder zu Müll, der aus einem Eimer quillt, in dem nicht einmal der älteste Witz der Welt abgeliefert werden kann. »Nichts ist komischer als das Unglück«,22 bemerkt Nell aus ihrem Mülleimer, um das Komödiantische an der tragischen Wahrheit aufzudecken, dass, wenn diese Familie ihr Glück ausgelöscht hat, Nichts das komischste Unglück überhaupt ist. Um mehr aus dem Witz zu machen, rufen wir uns den Moment in Erinnerung, in dem Clov das Fernglas aufhebt, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Ich höre hier ein Echo von Achilles’ Blick mit rotem Gesicht, der sich über das weinfarbene Meer hinweg auf den unsterblichen Ruhm richtet. Mit keinem Ruhm mehr am Horizont nehmen Hamm und Clov jeden Tag als eine Wie20 Walter Scott, Woodstock oder der Ritter. Ein historischer Roman, Stuttgart 1863, S. 116. 21 Ebd., S. 130 [Übers. modifiziert]. 22 Beckett, Endspiel/Fin de partie/Endgame, S. 31.

162

derholung »jedes beliebigen anderen Tages«. »Es scheint so«,23 sagt Clov. In seiner Lektüre des Stücks bemerkt Adorno die wiederholte Verkehrung, die das Etwas in ein Nichts am Horizont verwandelt. Das Fernglas absetzend, erklärt Clov ungeduldig: »Was soll denn schon am Horizont sein?«24 Hamm antwortet: »Die Wogen, wie sind die Wogen? … Und die Sonne? … Sie müsste eigentlich gerade untergehen«.25 Clov schaut noch einmal, sieht aber nichts, was ihn zu einem »Zur Hölle mit der Sonne«26 reizt, was Hamm erlaubt anzunehmen, die Nacht sei eingebrochen. Clov verneint das, und bemerkt nicht ein‑, sondern zweimal mit wachsender Intensität, dass es noch immer grau ist: »Grau … Grau!«27 Eine Richtung der Interpretation würde die Beziehung der weinfarbenen See zum Roten Meer entfalten. Aber an dieser Stelle ist es von größerer Wichtigkeit zu beobachten, wie Adorno, in einem grauen Raum mit einem Stich ins Rote, die Farblosigkeit eines beschädigten Witzes betont, den die modernen Selbste zu erzählen versuchen, aber scheitern. Während Clov durch das Fernglas sieht, ängstigt er Hamm mit dem Wort Grau, doch schnell korrigiert er sich, ein helles Schwarz. Adorno sieht in dieser Korrektur eine »verkleckste Pointe«, die ursprünglich aus Molières Der Geizhals stammt. Adorno schildert keine Details, aber er hat den Zank im Sinn, den Molière zwischen dem geizigen Herren Harpagon und seinem Diener Jacques inszenierte. Jacques fragt danach, welche Farbe eine Schatulle hat, ob es sich um eine bestimmte Farbe handelt und ob diese Farbe jemals benannt werden kann. Er schlägt rot vor, worauf Harpagon antwortet Nein, grau, was Jacques dazu bringt, ihm mit grau-rot! entgegenzukommen. Das Grau-Rot entstammt hier meiner Ansicht nach einer älteren monochromatischen Palette der Malerei mit Grau in Grau. Auf den Witz angewandt, erlaubte diese den frühen Schriftstellern wie Molière, Cervantes und Rabelais, das Mark in den Knochen zu nutzen, um einen wunderbar leicht verdaulichen und zugleich unverdaulichen Humor zu gewinnen. Hegel war sich dieses Humors wohl bewusst, wie auch Adorno, wenn er später bemerkte, dass 23 Ebd., S. 25 [Übers. in Anlehnung an die englische Fassung modifiziert]. 24 Ebd., S.  47. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 46 [Übers. in Anlehnung an die englische Fassung modifiziert]. 27 Ebd., S.  47.

163

Becketts Genie in diesem Stück darin bestand, nicht nur das Mark, sondern auch die Farbe aus den Knochen gesaugt zu haben und nichts zurückzulassen als bloß einen grauen Kiesel, der die Familie in Becketts Worten »mitten in der Wüste«28 hielt. In der Mitte werden wir zurück an meinen eigenen Anfang gezwungen, zu den allerersten Zeilen des Stücks, wenn Clov tonlos sagt: »Ende, es ist zu Ende, es geht zu Ende, es geht vielleicht zu Ende«; und dann, nach einer Pause: »Ein Körnchen kommt zum anderen, eins nach dem anderen, und eines Tages, plötzlich, ist es ein Haufen, ein kleiner Haufen, der unmögliche Haufen«,29 so dass wir, gegen das Ende hin, lernen, dass man das »ganze Leben [darauf ] wartet […], daß es sich zu einem Leben aufhäuft«.30 Ein Maulwurfshügel zu einem Berg aufgehäuft, der aus nichts als bloßen Körnchen besteht, kann viel Staub um den grauen Kiesel aufwirbeln, was es – unterbrochen von einer einzigen Anspielung auf Rot – Hamm erlaubt, bescheiden zu sagen, dass man mit nichts besonders weit kommt, dass dieses nichts aber immerhin »besser als nichts« ist.31 Während Clov fragt, wie es möglich sein könne, dass etwas besser als nichts sei, wendet er sein Gesicht – das vielleicht rot von Scham ist – dem Rot des Horizonts zu, das auf die letzte verbliebene Möglichkeit, das letzte Vielleicht weist, dass die Zukunft nicht wie das Heute sein wird. Ein Endspiel hat kein Ende, wenn sein Sinn das Warten ist. Ich habe kaum an der Oberfläche der Darstellung einer Freiheit gekratzt, die durch Witz befreit wird. Nichtsdestotrotz möchte ich den letzten Lacher Hélène Cixous überlassen, wenn – im Angesicht des schrecklichen Haupts der Medusa – eine Frau, als ob es das erste Mal wäre, ihre Freiheit mit Worten erklärt, die uns zum ersten Lied des Meeres zurückführen: »Aha, das also ist ihr Meer«, schreibt sie: »Aber es ist so, daß unsere Meere sind, was wir aus ihnen machen, […] trüb oder durchsichtig, rot oder schwarz«.32 Wenn die Meere das sind, was wir aus ihnen machen, dann ist dies unsere Freiheit, die Geschichte, die uns gegeben ist, neu zu schreiben, eine Geschichte, von der ich hier nur einen kleinen Teil 28 Ebd., S.  55. 29 Ebd., S.  11. 30 Ebd., S. 98 [Übers. in Anlehnung an die englische Fassung modifiziert]. 31 Ebd., S.  85. 32 Hélène Cixous, Das Lachen der Medusa, Wien 2013, S. 55.

164

erzählt habe, um dann erneut in einem grau ausgemalten Raum anzufangen, der nichts zeigt als eine schmale rote Linie: ein Horizont des Möglichen, auf den keiner, der noch jemand sein will, verzichten kann. Aus dem Englischen von Sebastian Staab

165

II. Das Recht des Negativen

Catherine Colliot-Thélène »Sei eine Person«.  Überlegungen zum Nichtinstituierbaren Im Folgenden geht es mir um eine Interpretation zweier berühmter dialektischer Figuren: dem Kampf der Bewusstseine und der Beziehung von Herr und Knecht in der Phänomenologie des Geistes. Meine Interpretation ist dabei in Teilen derjenigen verwandt, die Kojève einst vorgeschlagen hat und die jüngere Lesarten des hegelschen Werkes mehr oder weniger – und in meinen Augen zu Unrecht – disqualifiziert haben.1 Ich stütze mich auf die bekannteste Version der hegelschen Theorie, der der Phänomenologie von 1807. Im Unterschied zu den jüngeren deutschen oder französischen Arbeiten, die ältere Versionen des Themas in Hegels Jugendschriften zu Tage gefördert und fruchtbar gemacht haben, wird sich meine Deutung nicht auf eine Genealogie des Textes von 1807 stützen, um von dem, was dem Text vorausgeht, Licht auf ihn zu werfen, sondern auf die Folgen des Textes im späteren Werk Hegels, und zwar in den Grundlinien der Philosophie des Rechts.2 Das Ziel ist, die Bedeutung der Andeutungen auf den Kampf der Bewusstseine und die Herr-Knecht-Dialektik, so wie sie in der Phänomenologie dargestellt sind, innerhalb der Grundlinien zu verstehen. Diese Andeutungen weisen, wenn auch sehr diskret, auf die Grenzen des hegelschen Institutionalismus hin.3 Diese Grenzen müssen in Betracht gezogen werden, will man Hegel vom Vorwurf freisprechen, in der Rechtsphilosophie nicht mehr als eine subtile Rechtfertigung des Rechtspositivismus vorgelegt zu haben, die jede Form der Auflehnung, Revolte und a fortiori Revolution rundweg verurteilt.

1 Vgl. Gwendoline Jarcyk, Pierre-Jean Labarrière, De Kojève à Hegel. 150 ans de pensée hégélienne en France, Paris 1996. 2 G.  W.  F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke, Bd. 7, Frank­ furt/M. 1986. 3 Hinsichtlich dieses Institutionalismus siehe die Arbeiten von Jean-François Kervégan, L’effectif et le rationnel, Paris 2007.

169

Person, Sklaverei, vorgeschichtliche Gewalt Die einzige Tugend, die Hegel vom Bürger des vernünftigen Staates verlangt, ist bekanntlich das Vertrauen in die Institutionen.4 Jenes kann man, wenn man Jean-François Kervégan folgt, als Alltagspatriotismus interpretieren,5 aber auch als staatsbürgerlichen Konformismus oder als zum Konformismus gewordene Staatsbürgerschaft. Indem Hegel die Vernünftigkeit der Institutionen der modernen bürgerlichen Gesellschaft und des modernen Staates postuliert, scheint er die Frage nach der Legitimität des Widerstandes aufgegeben zu haben. Es scheint mir aber, dass man Spuren dieser Frage auch in den Grundlinien findet, und dies genau dort, wo Hegel den Begriff der »Persönlichkeit« expliziert. Dessen Erläuterung wird in den ersten Paragraphen des ersten Teils der Grundlinien (§§ 34-36) geliefert, was die grundlegende Funktion, die diesem Begriff für das Recht im Allgemeinen zukommt, unterstreicht. Die Person, sagt Hegel, ist sicherlich das einzelne Individuum (»dieser«), das durch seine äußeren Eigenschaften (physische Verfassung und Erscheinung) sowie durch seine besonderen Begierden, Triebe, Wünsche und Willensäußerungen bestimmt ist, aber dies nur in dem Maße, wie es sich auch immer als etwas versteht, das jene Besonderheit, die aus ihm ein endliches Wesen macht, transzendiert. Kurzum: Es sind nicht die besonderen Bestimmungen des Individuums, die aus ihm eine Person machen (obwohl sie selbstverständlich nicht negiert werden), sondern seine Fähigkeit, sich von ihnen zu distanzieren. Am Ende der Anmerkung zum § 35, wo es darum geht, den Gegensatz zwischen dem Selbstbewusstsein des Subjekts als einzelnem Individuum und als Person zu erläutern, verweist Hegel einerseits auf die Phänomenologie des Geistes von 1807, und zwar auf die Seiten, die zeigen, was das Selbstbewusstsein »nach dem natürlichen Willen und dessen noch äußerlichen Gegensätzen«6 ist, und andererseits auf die entsprechenden Stellen zur »Phänomenologie des Bewusstseins« in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Die erwähnten Stellen gehen direkt den dem Kampf der Bewusstseine und der Herr-Knecht-Dialektik gewidmeten Seiten vo4 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 268, S. 413 f. 5 Kervégan, L’effectif et le rationnel, S. 347. 6 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 94.

170

raus, was darauf hinweist, dass diese beiden dialektischen Figuren notwendig sind, um zu verstehen, wie das Individuum zum Selbstbewusstsein als Person gelangen kann. Der Begriff der Person ist der Ausgangspunkt und die Grundlage der Philosophie des Rechts, aber er hat seinen intelligiblen Grund in einer ihr vorausgesetzten phänomenologischen Genese. Von dieser Genese ist im betreffenden § 36 allerdings keine weitere Rede mehr. Dieser begnügt sich damit, das Grundprinzip des abstrakten Rechts in der Form eines Imperativs auszusprechen: Die Persönlichkeit enthält überhaupt die Rechtsfähigkeit und macht den Begriff und die selbst abstrakte Grundlage des abstrakten und daher formellen Rechts aus. Das Rechtsgebot ist daher: sei eine Person und respektiere die anderen als Personen.7

Die Interpreten Hegels halten sich selten bei dem auf den ersten Blick doch paradoxen Charakter des ersten Teils dieser Aussage auf. Denn was soll jene Aufforderung »Sei eine Person« bedeuten? Hegel erwähnt in der Folge (§ 38) in Hinblick auf diesen Imperativ, dass das Recht darin abstrakt ist, dass es sich auf den negativen Aspekt der Freiheit beschränkt und sich somit nur in Verboten ausdrückt. Diese Verbote zielen auf alle Handlungen, die die Persönlichkeit und all das verletzen können, was diese mit sich zieht (im Wesentlichen das Eigentum). Der zweite Teil des juristischen Imperativs ist in dieser Perspektive leicht verständlich: Die anderen als Personen zu respektieren, heißt, die Rechte, die ihnen in ihrer Qualität als Person zukommen, nicht zu verletzen. Aber was ist mit dem ersten Teil, der das Selbstverhältnis des Individuums betrifft? Wird die juristische Persönlichkeit nicht jedem durch das objektive Recht des vernünftigen Staates automatisch verliehen? Die Bemerkung über die Sklaverei im Zusatz zum § 57 der Grundlinien lässt ebenfalls perplex. Hegel vertritt hier die auf den ersten Blick schockierende These, nach der die Sklaverei nicht absolut zu verurteilen sei. Heißt das, dass einige Individuen oder Völker nicht reif für die Freiheit sind? Bei näherer Betrachtung sieht man, dass der Text etwas wesentlich anderes sagt. Es geht Hegel nur darum, das Ungenügen einer Kritik bloßzulegen, die sich damit zufriedengibt, die natürliche Freiheit des Menschen ins Feld zu 7 Ebd., S.  95.

171

führen, um die Sklaverei zu verurteilen. Es steht außer Zweifel, dass »Natur« von den Kritikern der Sklaverei anders verstanden wird als von ihren Verteidigern. Letztere beziehen sich auf eine »Natürlichkeit« des Menschen, die sich empirisch feststellen lässt (das Bestehen physischer Gewalt oder auch die Sorge der Menschen um das bloße Überleben, die sie dazu bringen kann, Unterwerfung gegen Schutz zu akzeptieren). All diese »natürlichen« Bestimmungen des menschlichen Daseins dienten häufig zur Rechtfertigung von Herrschaft. Diejenigen, die im Gegenteil die Sklaverei absolut verurteilen, beziehen sich nicht auf Tatsachen oder die Geschichte, sondern auf den Begriff des menschlichen Wesens als Geist, der seine wesentliche Freiheit einschließt. Hegel sieht hier eine Antinomie, die an der Einseitigkeit liegt, die beiden Ansichten eigen ist, obgleich sie sich nicht symmetrisch zueinander verhalten. Die Kritiker der Sklaverei haben gegenüber ihren Gegnern den Vorteil, den Standpunkt der Vernunft einzunehmen, das heißt den Menschen als »freien Willen« zu begreifen, wohingegen ihre Gegner ihn auf jene natürlichen Bestimmungen reduzieren, die er mit den Tieren teilt. Beide Ansichten sind »unmittelbar«, aber die Unmittelbarkeit ist nicht dieselbe, wenn sie vom Begriff des Geistes oder vom Begriff des natürlichen Daseins abhängt. Worin besteht also das Ungenügen der gewöhnlichen Argumente gegen die Sklaverei? Das Ende der Anmerkung antwortet auf diese Frage durch zwei sich überlagernde Argumente. Erstens verweist es – und zwar diesmal direkt – auf den Kampf um Anerkennung und das Verhältnis von Herr und Knecht in der Phänomenologie und der Enzyklopädie. Es zeigt sich erneut, dass jene beiden dialektischen Figuren es nach Hegel erlauben, die Vorstellung vom Menschen als natürlichem Wesen, das versklavt werden kann, zu überschreiten und sich auf den »Standpunkt des freien Willens, womit das Recht und die Rechtswissenschaft anfängt«,8 zu erheben. Aber es handelt sich hier eben nur um einen Anfang. Damit diese Bestimmung des Menschen zur Freiheit mehr wird als ein bloßes Sollen, muss man zudem anerkennen – und hier ist das zweite Argument –, »daß die Idee der Freiheit wahrhaft nur als der Staat ist«.9 Anders gesagt: Die politische Organisation als Bedingung des Daseins des objektiven 8 Ebd., S. 123 f. 9 Ebd., S.  124.

172

Rechts ist notwendig, um vom subjektiven Postulat der Freiheit zu ihrer Wirklichkeit überzugehen. Diese These verlangt dennoch nach weiterer Klärung, die in der Tat auch im § 349 gegeben wird: Nicht jede kollektive menschliche Form der Organisation ist ein Staat; patriarchale Formen wie die Familie, die Horde oder der Stamm verdienen es nicht, als solcher betrachtet zu werden. Die Anmerkung zu jenem Paragraphen verweist wiederum auf das Thema der Anerkennung und auf die vorhergehenden Stellen zur Sklaverei: »Vor dem Anfang der wirklichen Geschichte fällt […] einerseits die interesselose, dumpfe Unschuld, andererseits die Tapferkeit des formellen Kampfs des Anerkennens und der Rache.«10 Die Enzyklopädie (1827/1830, Zusatz zu § 432) ist noch deutlicher in Hinblick auf die vorgeschichtliche Bedeutung des Kampfes um Anerkennung. Denn Hegel unterstreicht hier, dass jener Kampf, »in der angegebenen bis zum Äußersten getriebenen Form«,11 nur im Naturzustand anzutreffen ist, und dass er im Gegenteil der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat fremd ist, weil das, worum es im Kampf geht, in den staatlich organisierten Gesellschaften als bereits erreicht betrachtet werden muss: Die gegenseitige Anerkennung der Menschen als Selbstbewusstseine wird vom Staat gesetzt und vorausgesetzt. Oder vielmehr, um genauer zu sein: vom vernünftigen Staat. Denn es gibt durchaus eine Vorgeschichte des Staates, in der Gewalt und herrschaftsförmige Verhältnisse eine zentrale Rolle spielen. Die Gewalt ist nicht die Grundlage des Staates, aber häufig sein Ursprung, wie Hegel es im § 433 der Enzyklopädie vermerkt, wo er sich erneut auf die Beziehung von Herr und Knecht bezieht, um darauf hinzuweisen, dass man sie häufig in den Anfängen des Staatslebens antrifft. Die Gewalt darf sicher nicht als Grundlage des Rechts betrachtet werden, aber sie ist nichtsdestotrotz ein notwendiges Moment, um den Übergang des in seiner Begierde und Singularität befangenen Selbstbewusstseins zum allgemeinen Selbstbewusstsein, das heißt zur Freiheit, zu garantieren.

10 Ebd., S.  507. 11 G.  W.  F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Dritter Teil: Die Philosophie des Geistes mit den mündlichen Zusätzen, in: Werke, Bd. 10, Frank­furt/M. 1970, S. 221.

173

Freiwillige Knechtschaft oder Opferheldentum: ein unauflösliches Dilemma? Trotz der erwähnten Stellen bleibt der Bezug auf den Kampf der Bewusstseine und die Herr-Knecht-Dialektik in den Grundlinien eher selten; insofern ist es normal, dass der Großteil der Leser*innen und Kommentator*innen des Werkes sich nicht weiter dabei aufhalten. Für das Verständnis der Artikulation zwischen den Sphären des Rechts – abstraktes Recht, Moralität und Sittlichkeit – oder für das Verständnis der von Hegel vorgeschlagenen Ausgestaltung der staatlichen Institutionen scheint der in die Vorgeschichte verlegte Kampf der Bewusstseine und die Herr-Knecht-Dialektik ohne Bedeutung. Kojève12 hätte sich also getäuscht, als er seine berühmte Interpretation der politischen Philosophie Hegels auf einen Text gestützt hat, der gerade nicht in den politischen Teil jener Philosophie gehört. Ohne Kojèves Interpretation in Gänze zu teilen, glaube ich dennoch, dass man ihm eines zugestehen muss: Die »Vorgeschichtlichkeit« des Kampfes der Bewusstseine und der Herrschaft über den Knecht in ihren »bis zum Äußersten getriebenen Formen« impliziert nicht, dass die Erfahrungen, die sie versinnbildlichen, im Rahmen des entwickelten Staates endgültig überwunden sind. Ich werde Kojève also folgen – und mit ihm Hyppolite, der ebenfalls bestritt, dass der Kampf um Anerkennung ein besonderes Moment der (Vor-)Geschichte der Menschheit wäre, »das man datieren könnte«, und der im Gegenteil dazu einlud, in ihm eine »Kategorie geschichtlichen Lebens, eine Bedingung menschlicher Existenz, die Hegel in seiner Untersuchung der Entwicklungsbedingungen des Selbstbewusstseins entdeckt«,13 zu sehen. Um die übergeschichtliche und damit anthropologische Bedeutung der beiden dialektischen Figuren zu erfassen, muss man auf den rätselhaften Charakter der Aufforderung »Sei eine Person« zurückkommen. Das Rätsel liegt darin, dass dort, wo diese Auffor12 Vgl. Alexandre Kojève, Introduction à la lecture de Hegel. Leçons sur la phénoménologie de l’esprit, professées de 1933 à 1939 à l’École des Hautes-Études, Paris 1947. [Deutsche Teilübersetzung: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, hg. u. übers. v. Iring Fetscher, Frank­ furt/M. 1975.] 13 Jean Hyppolite, Genèse et structure de la Phénoménologie de l’Esprit de Hegel, Paris 1946, S. 164.

174

derung formuliert wird (§ 36), die Person, oder die Persönlichkeit, mit ihrer rechtlichen Befähigung vermischt wird, die jedem durch das objektive Staatsrecht in seiner abstrakten Dimension verliehen wird, welche (trotz ihres Ungenügens) zugleich die grundlegende ist: verliehen und daher anerkannt, ohne dass das Individuum irgendeinen Kampf anstrengen muss, um diese Anerkennung zu erhalten. Aus diesem Grund kann der Kampf der Bewusstseine um die gegenseitige Anerkennung ihrer Freiheit als archaisch betrachtet und in das »Vor« der wirklichen Geschichte verwiesen werden. Die Institutionalisierung der Freiheit durch das formale Recht des vernünftigen Staates befreit das Individuum von der Pflicht zu beweisen, dass es in der Tat ein freies Wesen ist. In den Vorzeiten der Staatenbildung14 konnte einem Individuum, aber auch einem Volk, Freiheit dann abgesprochen werden, wenn es nicht bereit war, für sie zu kämpfen. So kann Hegel behaupten: Denen, die Knechte bleiben, geschieht kein absolutes Unrecht; denn wer für die Erringung der Freiheit das Leben zu wagen den Mut nicht besitzt, der verdient, Sklave zu sein; und wenn dagegen ein Volk frei sein zu wollen sich nicht bloß einbildet, sondern wirklich den energischen Willen der Freiheit hat, wird keine menschliche Gewalt dasselbe in der Knechtschaft des bloß leidenden Regiertwerdens zurückzuhalten vermögen.15

Die Knechtschaft ist in gewisser Weise immer freiwillig; der Zusatz zum § 57 der Grundlinien sagt das auch explizit: [D]aß jemand Sklave ist, liegt in seinem eigenen Willen, so wie es im Willen eines Volkes liegt, wenn es unterjocht wird. Es ist somit nicht bloß ein Unrecht derer, welche Sklaven machen oder welche unterjochen, sondern der Sklaven und Unterjochten selbst.16

Die Institutionen des vernünftigen Staates setzen nun genau jenen Bedingungen, unter denen ein Unrecht (die Verweigerung eines Rechts) noch ein Recht sein konnte und vom objektiven Recht sanktioniert wurde,17 ein Ende. Im Rahmen des vernünftigen Staates müssen die Individuen ihre Freiheit nicht mehr erobern, sie 14 Aber eben auch zu deren Beginn, wie wir gezeigt haben. 15 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, S. 225. 16 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 126. 17 Das genaue Zitat lautet: Die Sklaverei »fällt in eine Welt, wo noch ein Unrecht Recht ist.« (Ebd.)

175

wird ihnen institutionell verliehen und garantiert. Ebendies wirft nun die Frage danach auf, was »Sei eine Person« in diesem Rahmen heißen kann. Man kommt der Lösung des Rätsels näher, wenn man sich den Paragraphen näher anschaut, zu dem die Anmerkung über die Sklaverei den Kommentar bildet. Jener Paragraph handelt von der für jeden notwendigen Ausbildung seines Körpers und Geistes; Ausbildung, durch die das Individuum von sich selbst Besitz ergreift und in den Augen der Anderen sein eigenes Eigentum wird. Freiheit, verstanden als Unabhängigkeit von der Willkür der Anderen, ist nur der Anfang (»eine reine Möglichkeit«, sagt Hegel) eines Bildungsprozesses, der notwendig ist, um das Individuum der Unmittelbarkeit der Begierde zu entreißen. Hier (§ 57 und seine Anmerkung) werden also zwei Aspekte der Bildung der (und zur) Freiheit verbunden, die bereits in den beiden dialektischen Figuren des Selbstbewusstseins der Phänomenologie vorhanden waren: die Akzeptanz der Lebensgefahr auf der einen Seite, die Arbeit auf der anderen. Die grundlegende Bedeutung der Lebensgefahr wird nur indirekt durch die Bezugnahme auf die Phänomenologie angedeutet; die Arbeit selbst wird als solche nicht genannt, aber die »Ausbildung« von Körper und Geist des Individuums, durch die es von sich selbst Besitz ergreift, weist auf das Thema hin. Das Wesentliche der in der Phänomenologie langwierig erörterten Punkte findet sich also in jener Passage der Grundlinien wieder: dass die wirkliche Freiheit ein Prozess ist, eine Bildung, im Verlaufe derer sich der Mensch von der Singularität der unmittelbaren Begierde entreißt, indem er die äußere Natur formt und verändert. Der Kampf auf Leben und Tod um Anerkennung ist hier die (ideelle) Voraussetzung, weil Arbeit nur dann die Bedeutung von Bildung (einer Aneignung der äußeren Welt, die zugleich Selbstformung ist) haben kann, wenn sie dem arbeitenden Individuum nicht ausschließlich als rein materielle Notwendigkeit erscheint, die durch Not oder durch den Willen anderer auferlegt wird. Der Umschlag, den das Arbeitsverhältnis im Rahmen des Herr-Knecht-Kapitels der Phänomenologie erfährt, ist wesentlich, um die Dynamik der Beziehung zu verstehen. Denn die Zukunft der Kultur entscheidet sich nicht auf der Seite des Herrn, sondern auf der Seite des knechtischen Bewusstseins; und dies genau deshalb, weil die Arbeit, die zunächst als Zwang erscheint, sich 176

als Mittel zur Bejahung einer dem Herrn unendlich überlegenen Freiheit erweist.18 Nur dem knechtischen Bewusstsein gelingt es, zwei notwendige Momente zur Erreichung der wirklichen Freiheit zu vereinen: die Konfrontation mit dem Risiko zu sterben und die Veränderung der objektiv natürlichen Welt durch menschliche Arbeit. Indem der Knecht die Arbeit, die er gezwungenermaßen erledigt, im Lichte der Erfahrung der Möglichkeit des Todes interpretiert, ist es ihm möglich, den Sinn jener Arbeit umzudeuten. Hegel verweist auf diesen Vorgang durch ein Wortspiel, das den »eigenen Sinn« und den »Eigensinn« entgegensetzt. Ohne die Angst vor dem Tod wäre die Arbeit nur »eitler Eigensinn«: »Formiert das Bewußtsein ohne die erste absolute Furcht, so ist es nur ein eitler eigner Sinn […]; der eigne Sinn ist Eigensinn, eine Freiheit, welche noch innerhalb der Knechtschaft stehen bleibt.«19 Es ist nicht die allgemeine Fähigkeit des Menschen, durch seine Tätigkeit die natürlichen Dinge zu verändern, die es ihm erlaubt, in dieser veränderten Dinglichkeit den Ausdruck seines eigenen Wesens zu erkennen. Die Arbeit hat nur dann die spekulative Bedeutung, die Hegel ihr in der zitierten Stelle zuerkennt, wenn sie als eine bildende Tätigkeit begriffen wird, durch die das Bewusstsein sich die einzig mögliche dauerhafte Objektivität gibt, nämlich die einer durch es veränderten Welt. Damit jedoch das Bewusstsein diese Bedeutung in der Arbeit sehen kann, muss der Sinn seines Lebens auf dem Spiel stehen. Aus diesem Grund scheint mir, dass die existentialistischen Interpretationen der Konfrontation der Bewusstseine, so wie sie in den beiden dialektischen 18 Durch die Arbeit für den Anderen »erhebt sich der Knecht über die selbstische Einzelheit seines natürlichen Willens und steht insofern, seinem Werte nach, höher als der in seiner Selbstsucht befangene, im Knechte nur seinen unmittelbaren Willen anschauende, von einem unfreien Bewußtsein auf formelle Weise anerkannte Herr.« (Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, S. 224 f.) 19 G.  W.  F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Werke, Bd. 3, Frank­furt/M. 1986, S. 154 f. Es ist interessant festzustellen, dass eine jüngere historische Schule, die der Alltagsgeschichte, sich auf diese Uneindeutigkeit stützt, indem sie dem Begriff des Eigensinns, der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts negativ konnotiert war, eine positive Bedeutung verleiht. Eine Synthese findet sich in Thomas Lindenberger, »L’Eigen-Sinn ou comment penser les rapports de domination«, in: Emmanuel Droit, Pierre Karila-Cohen (Hg.), Qu’est-ce que l’autorité?, Paris 2015, S. 185-200.

177

Figuren der Phänomenologie dargestellt ist, Beachtung verdienen. Was die beiden verschiedenen Momente – Kampf der Bewusstseine und Herr-Knecht-Beziehung – zusammenhält und ihrer Aufeinanderfolge einen einheitlichen Sinn verleiht, ist der Umstand, dass die Arbeit im Lichte des Bewusstseins der Endlichkeit umgedeutet, ihr Sinn umgekehrt werden kann. Nur ein Wesen, das seine Arbeit als Selbstbildung begreift, kann in dieser Arbeit und ihren Produkten den Ausdruck seiner Freiheit erblicken. Dafür muss er aber »die Furcht des Todes, des absoluten Herrn« erfahren haben.20 Und selbst wenn ich hier den hegelschen Text vielleicht etwas überspanne (was mir notwendig erscheint, um die Andeutungen auf den Kampf der Bewusstseine in den Grundlinien und der Sektion »Objektiver Geist« der Enzyklopädie zu verstehen): Der Arbeitende muss auch bereit sein, das Risiko des Todes auf sich zu nehmen, um seine Freiheit zu verteidigen. Wenn das Thema der Arbeit, oder allgemeiner das der Bildung, sich wie ein roter Faden durch die Grundlinien zieht, so ist das der Todesgefahr weit weniger präsent. Muss man daraus schließen, dass die Institutionalisierung der Freiheit durch die Anerkennung eines jeden als Rechtssubjekt das Individuum von der Verpflichtung befreit, zu beweisen, dass es eine Person sei, was in der Tat das Verdrängen des Kampfes der Bewusstseine in die Vorgeschichte erklären würde? Einige Stellen der Grundlinien weisen in diese Richtung, indem sie zu verstehen geben, dass, sobald der Staat einen gewissen Grad an Entwicklung erreicht hat, das Individuum seine Freiheit in der Achtung vor den Gesetzen verwirklichen würde. Der Kampf um Anerkennung wäre unnötig geworden, sowohl für das Individuum als auch für das Kollektiv. Die blutigen Sklavenkriege des alten Roms zielten in der Tat auf die Anerkennung der universellen Rechte der Sklaven, und sie waren in diesem Sinne völlig legitim, aber eben nur, weil die alten Völker – Römer und Griechen – aus der Freiheit ein Privilegium von Wenigen gemacht hatten.21 Das Schema des Kampfes um Anerkennung kann aus historischer Per­ spektive die Gewalt derjenigen, denen die Anerkennung verweigert wird, rechtfertigen.22 Sobald aber die Rechtsperson von allen aner20 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 153. 21 Vgl. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, S. 223 f. 22 Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 125, wo Hegel auf die Sklavenrevolten in Westindien anspielt. Diese Revolten scheitern, weil die Akteure

178

kannt wird, wird diese Rechtfertigung hinfällig. Andere Textstellen hingegen weisen darauf hin, dass Freiheit nur in der Tat des Individuums Wirklichkeit hat, was auf der einen Seite impliziert, dass das Individuum stetig die Arbeit seiner Bildung fortführen muss, die unauflöslich Arbeit an der Welt und Arbeit an sich selbst ist, ohne welche seine Freiheit die eitle und sterile Freiheit des Herrn bleiben würde; aber auf der anderen Seite muss es auch immer fähig sein, sein Leben aufs Spiel zu setzen, denn ohne diese Bereitschaft hätte seine Arbeit keine Bedeutung für die Menschwerdung. Eine Stelle aus der Phänomenologie sagt explizit, dass die Anerkennung des Individuums als Person durch das objektive Recht rein formell bleiben kann und seine Freiheit damit vom Standpunkt des Geistes aus gesehen völlig bedeutungslos ist: »Das Individuum, welches das Leben nicht gewagt hat, kann wohl als Person anerkannt werden; aber es hat die Wahrheit dieses Anerkanntseins als eines selbständigen Selbstbewußtseins nicht erreicht.«23 Wenn die Institutionen des modernen Staates dem Individuum eine Persönlichkeit zuerkennen, so sagt diese institutionelle Anerkennung noch nichts in Hinblick auf die Frage, ob jenes Individuum als solches (eben jenes bestimmte Individuum) wirklich seine Autonomie, das heißt seine Fähigkeit, frei zu sein, bewiesen hat. Die politischen Institutionen sind somit unzureichend, um das Dasein der Freiheit zu versichern. Sie sind sicherlich notwendig, aber sie können nur insofern bestehen, als die Individuen, die sie organisieren, sich selbst der Arbeit der Bildung unterwerfen und, sollte es notwendig sein, bereit sind, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um einer (potentiellen) Situation der Knechtschaft zu entgehen. Kojève hat also richtig gesehen, wenn er die Dinge radikalisiert, indem er sagt, dass das letzte Ziel des menschlichen Werdens, nach Hegel, die Synthese der kriegerischen Existenz des Herrn und der arbeitenden des Knechts ist. Der Mensch, der völlig mit seinem Dasein zufrieden ist und der somit die historische Entwicklung der Menschheit vollendet, ist der allgemeine und homogene Staatsbürger, das heißt, nach Hegel, der Arbeiter-Soldat der Revolutionsarmeen.24 »Opfer des allgemeinen Zustands« sind. Aber, so fügt Hegel hinzu, »sie können als frei sterben«. 23 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 149. 24 Kojève, Introduction à la lecture de Hegel, S. 562 [Übers. J.C.].

179

In den Grundlinien verschwindet das Thema des Kampfes für die Freiheit im Vergleich zu den früheren Texten. Was das Individuum tun muss, um als Person anerkannt zu werden, scheint sich auf die Achtung vor den Gesetzen zu reduzieren. Die Grundlinien beschreiben – ich habe weiter oben bereits darauf verwiesen – die Bedingungen eines wohl verfassten Staates, in dem die Tugend des Staatsbürgers sich im Alltagsleben manifestiert, in der Rechtschaffenheit,25 der Achtung vor den allgemeinen Pflichten und der Erfüllung der speziellen Pflichten, die ihm durch die Funktion im Ganzen der politisch-sozialen Organisation zukommen. Die Notwendigkeit, sich dem Tod auszusetzen, verschwindet dennoch nicht vollständig, sie wird einfach in die staatsbürgerliche Pflicht zur Bereitschaft umgewandelt, sein eigenes Leben zu opfern, wenn die Unabhängigkeit und Souveränität des Staates, der die Bedingungen der individuellen Freiheit sichert, in Gefahr sind. Hegel nennt das »das sittliche Moment des Krieges«:26 Der Kampf um Anerkennung – der Wille zur Freiheit – sieht sich hier von der individuellen Ebene, auf der die Phänomenologie ihn analysiert, auf die Ebene der staatsbürgerlichen Pflichten verschoben. Weil die institutionellen Einrichtungen, die Hegel beschreibt, die des vernünftigen Staates sind, kann er die Möglichkeit ausschließen, dass die Individuen in die Notwendigkeit kommen, im Kampf um Anerkennung in seiner elementaren, verschärften Form und eventuell gegen die offiziellen Autoritäten ihres Staates ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Wenn Hegel der Institution zu viel zugesteht, dann genau in diesem Punkt. Nach der Geschichte des 20. und beginnenden 21. europäischen Jahrhunderts kann man gegen ihn heute vorbringen, dass außergewöhnliche Tugend, ja gar Heldentum,27 noch unter modernen Bedingungen gefordert sein können, nicht 25 Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 150. 26 Ebd., § 124, S. 492. Nach der Schlachterei des Ersten Weltkriegs ist es relativ schwierig geworden zu verstehen, wie man den Kriegen zwischen Nationen einen sittlichen Charakter zuschreiben konnte. Aber in der Tat sind die französischen Soldaten 1914 noch im Namen der Verteidigung der Freiheit und der Republik in den Krieg gegen den preußischen Feind gezogen. 27 Hegel stellt die politische Gesinnung, welche die modernen Staaten von ihren Bürgern erwarten, dem Opferheldentum entgegen (vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 268). Wenn aber der Krieg sittliche Würde hat, so weil er dem Individuum abverlangt, sich jederzeit für die Verteidigung seiner Freiheit zu opfern (vgl. ebd., § 324).

180

nur, weil die Mehrzahl der Staaten noch weit davon entfernt ist, die Form eines vernünftigen Staates zu haben, sondern auch, weil die Institutionen keines Staates davor sicher sind, zu verfallen. Die grundlegende Anforderung, auf der die Möglichkeit frei zu sein beruht, ist immer wieder zu aktualisieren; und es liegt an dieser Anforderung, dass die Grundlinien nicht als Apologie des allmächtigen Staates oder des Rechtspositivismus gelesen werden können. Insofern der Begriff der Person den der Freiheit impliziert, ja sich mit ihm vermischt, bedeutet die Aufforderung »Sei eine Person« immer die Pflicht, sich durch Arbeit und Kultur zu bilden und, untrennbar davon, die Freiheit zu wollen, auch unter dem Risiko, wenn nötig, das eigene Leben zu verlieren. Dieser Wille zur Freiheit ist allerdings etwas, was nicht institutionalisiert werden kann. Das erklärt, warum die Hinweise auf die Gewalt zwischen den Menschen, die die Phänomenologie unter dem doppelten Aspekt des Kampfes und der Herrschaft analysiert hatte, notwendig sind, um den spekulativen Begriff des Rechts zu bestimmen,28 aber auch, warum sie, trotz allem, nur am Rande der Grundlinien erscheinen.

Zum Ende: Hegel, ein Revolutionär? Der moderne Begriff der Freiheit, so wie er im deutschen Idealismus reflektiert wird, ist von einer Spannung durchzogen, die selbst Erbe der modernen politischen Revolutionen (namentlich und vor allem ihrer französischen Variante) ist; Kant, Fichte und Hegel waren sozusagen ihre Kommentatoren. Sie mussten einerseits die Revolte gegen die Herrschaft rechtfertigen und anderseits institutionelle Formen definieren, die die Stabilität der politischsozialen Ordnung garantieren können. Diese widersprüchlichen 28 Meine Lesart von Hegel steht damit im Gegensatz zur These, die Christoph Menke verteidigt, nach dem »das moderne Recht keine ›Sphäre der Anerkennung‹ ist.« (Christoph Menke, »Das Nichtanerkennbare. Oder warum das moderne Recht keine ›Sphäre der Anerkennung‹ ist«, in: Rainer Forst u. a. [Hg.], Sozialphilosophie und Kritik, Frank­furt/M. 2009, S. 87-108; ders., Kritik der Rechte, Berlin 2015, S. 471 f., Fn. 89). Weil das moderne Recht auf dem Begriff der Person beruht, setzt es gerade die elementarste und fundamentalste Form der Anerkennung voraus, ohne die die häufig asymmetrischen Beziehungen, die die Menschen in den konkreten sozialen Sphären führen, immer das Risiko implizieren würden, in Herrschaftsbeziehungen umzuschlagen.

181

Anforderungen haben Kant dazu gebracht, das Recht auf Widerstand zu verurteilen und gleichzeitig (aber nur post facto) die Legitimität der Französischen Revolution festzustellen. Hegel sah sich mit derselben Schwierigkeit konfrontiert, als er den Anspruch auf Anerkennung, der seine Wurzel in der Zurückweisung jeglicher Form von Herrschaft findet, mit der Bestimmung gesellschaftlicher und politischer Formen zu versöhnen versuchte, um die Gefahr der Anarchie einzudämmen, die mit jener Zurückweisung notwendig einhergeht. Eine solche Versöhnung ist nur als Resultat eines Bildungsprozesses vorstellbar, der den ursprünglichen Anspruch auf Freiheit (den bei Hegel der Herr verkörpert) in einen vernünftigen Willen zur Freiheit verwandelt, der nur ein gemeinschaftlicher sein kann. Der Kampf um Anerkennung der Phänomenologie erschöpft natürlich nicht das Bedeutungsspektrum des Begriffs der Freiheit, da die Reziprozität in ihm vollständig fehlt: sowohl in der ersten Sequenz, in der jeder für sich selbst kämpft, als auch in der zweiten, das heißt im Ergebnis dieses Kampfes – der asymmetrischen Beziehung von Herr und Knecht –, in dem keines der beiden Bewusstseine seine Befriedigung findet. Auf Seiten des Knechts zeichnet sich dennoch die Möglichkeit ab, diese Asymmetrie aufzulösen, und zwar dank der Disziplin, die die Arbeit im Dienste des Herrn ihm aufzwingt. Diese Disziplin – und damit Herrschaft und Gewalt – ist notwendig, um den Egoismus einer in ihren Forderungen nur eigensinnigen Freiheit der individuellen Begierde (einer Freiheit, die man heute Hedonismus nennen würde) zu überwinden.29 Aber Disziplin und Gehorsam sind nur gerechtfertigt in Hinblick auf das, was sie schlussendlich ermöglichen: die Abschaffung von Herrschaft und Gewalt. Dieses Paradox konnte nach Hegel (und bereits nach Kant) nur durch die Vermittlung der Zeit aufgehoben werden: Zeit der Erziehung des Individuums, Zeit der Weltgeschichte, die man als Bildungsprozess der Menschheit zur Freiheit lesen könnte. In Hinblick auf die zweite hat sich Kant damit zufriedengegeben, auf die Zukunft zu setzen. Hegel hingegen, der die Ansicht vertrat, dass Bildung im Wesentlichen schon unter den Bedingungen des modernen Staates vollendet war, ist das Risiko eingegangen, als derjenige aufzutreten, der die noch bestehenden und sich im Rahmen des neuen Staates entwickelnden Formen 29 Vgl. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, S. 225.

182

der Herrschaft zu sanktionieren scheint. Die meisten Deutungen seiner politischen Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert, sowohl von liberaler wie auch von sozialistischer oder marxistischer Seite, haben diese Lesart vertreten. Jüngere Arbeiten haben versucht, sie zu korrigieren, indem sie zeigen, dass die staatlichen Institutionen bei Hegel untrennbar sind von der Bildung einer sittlichen Gesinnung, die gerade liberale Werte verinnerlicht. Man muss aber noch einen Schritt weiter gehen und ausmachen, was in den Grundlinien von der ersten Figur des Selbstbewusstseins noch fortwährt, um bis in das Spätwerk Hegels hinein das Echo der revolutionären Begeisterung, die die Ereignisse von 1789 bei ihm ausgelöst haben, zu vernehmen. Aus dem Französischen von Julia Christ

183

Christoph Möllers Herr, Knecht und Maschine in der künftigen Rechtsphilosophie 1. Maschinenentwicklung Langsam, aber stetig treten Maschinen in unser Leben, die nicht nur das immer gleiche Programm abspulen wie Waschautomaten oder Stereoanlagen, sondern die in der Lage sind, sich eigenständig zu bewegen und physisch zu intervenieren. Wenn man fragt, mit welchen Begriffen die Funktion solcher Maschinen in der Gesellschaft beschrieben werden könnte, so ließe sich an Diener, Knechte oder Sklaven denken. Diese Begriffe sind zunächst nur metaphorisch gemeint, denn sie bezeichnen wörtlich allesamt eine drastische Form sozialer Ungleichheit unter der Bedingung der Zugehörigkeit zur gleichen Gattung. Trotzdem hat diese Metaphorik ihren Beschreibungsgehalt, der sich aktualisiert, wenn die Grenzen der Gattung in Frage stehen. Ganz unabhängig vom Stand ihrer Fähigkeiten und von der Vergleichbarkeit mit dem Menschen als einem Gattungswesen haben diese Maschinen einen sozialen Status, der auf die Gattungswesen bezogen ist – sie dienen ihnen. Ihre Fähigkeiten bewegen sich im Rahmen von engeren Aufgaben oder weiteren Zwecken, die Menschen ihnen vorgegeben haben. Sie sind kein Selbstzweck, sondern Objekte, die Eigentümern zugewiesen sind. Zivilrechtlich sind sie Sachen, die gekauft und verkauft werden können, die einen Preis haben und daher keine Würde. Auch wenn sie von ihren Eigentümerinnen gehegt und gepflegt würden, müsste doch gelten: Wären sie Menschen, so dürften sie so nicht behandelt werden, dann gälte ihre Behandlung als Sklaverei, deren Verbot zu den wenigen Normen gehört, die auch im internationalen Recht als zwingend und unabänderlich gelten. Alan Turing hatte vorgeschlagen, einen Menschen mit zwei ano­ nymisierten Wesen, eines ein weiterer Mensch, eines eine Maschine, ein Spiel von Frage und Antwort, ein imitation game, spielen zu lassen, in dem der erste Mensch herausfinden sollte, welches seiner 184

beiden Gegenüber die Maschine sei.1 Was ein solcher Test testet, ist umstritten. Manche sagen, dass es nur um eine reduzierte Form von Intentionalität gehe, nicht um wirkliches Selbstbewusstsein,2 andere verweigern sich bereits dieser Unterscheidung.3 Auffällig ist, dass Turings reduktionistisches Argument ein soziales Experiment einsetzt,4 während sich die das Selbstbewusstsein rehabilitierende Kritik an ihm, etwa von John Searle, auf die Introspektion eines einzelnen Subjekts beschränkt. Turing hat eine solche Kritik an seinen Überlegungen aus dem Begriff des Selbstbewusstseins bemerkenswerterweise vorweggenommen und als solipsistisch verworfen.5 Das Reflexionsniveau der hegelschen Theorie des Selbstbewusstseins könnte in dieser Kritik unterlaufen werden, so es ihr nur um eine Spekulation darüber geht, was sich im Inneren des Bewusstseins »hinter dem sogenannten Vorhange«6 abspielt. Turing formulierte schlicht, er wolle mit Hilfe des Spiels die Frage beantworten, ob Maschinen »denken« könnten. Das Experiment sollte nahelegen, dass dieser Fähigkeit jedenfalls kein kategoriales Hindernis entgegensteht, sondern nur die quantitative Frage der Komplexität des beteiligten Rechners. Heute sehen wir, dass Maschinen lernen können, wie Turing es vorgedacht hatte.7 Mit der selbstständigen Veränderung von Programmen nähern sich Mensch und Maschine einander an. Roboter lernen von Menschen und von anderen Robotern. Nunmehr kann sich die Maschine während des turingschen Spiels verändern und Maßstäbe für das von ihr erwartete Verhalten aus dem Verhalten ihrer menschlichen und maschinellen Gegenüber beziehen.

1 Alan M. Turing, »Computing Machinery and Intelligence«, in: Mind LIX (1950), S. 433-460. 2 John Searle, »Minds, Brains and Programs«, in: Behavioral and Brain Sciences 3:3 (1980), S. 417-457. 3 Daniel Dennett, The Intentional Stance, Cambridge/Mass. 1987. 4 Dazu Bettina Heintz, Die Herrschaft der Regel, Frank­furt/M., New York 1993, S. 261-278, insbes. S. 263 f. 5 Turing, »Computing Machinery and Intelligence«, S. 446. 6 G.  W.  F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Werke, Bd. 3, Frank­furt/M. 1986, S. 135 f. 7 Turing, »Computing Machinery and Intelligence«, S. 454-460.

185

2. Herr und Knecht In der Phänomenologie des Geistes entwickelt Hegel bekanntlich ein Modell der Entstehung des Selbstbewusstseins in einem intersubjektiven Prozess.8 Es soll hier so kurz und grob wie möglich in Erinnerung gerufen werden. Das Selbstbewusstsein kann sich selbst nur in einem anderen Selbstbewusstsein zum Gegenstand haben. Die Prüfung angemessener Gegenstände für sein Bewusstsein nimmt das Selbstbewusstsein an solchen vor, die es begehrt. Dieses Begehren negiert die Objekte, die es zugleich zu erhalten sucht. Ein Gegenstand, der sich zugleich negieren und erhalten kann, ist aber nur als ein anderes Selbstbewusstsein zu denken.9 Vom anderen erwartet das Selbstbewusstsein Bestätigung des eigenen Selbstbewusstseins, also Anerkennung. Den Kampf um diese verlieren beide, wenn eines im Kampf umkommt und damit dem anderen keine Anerkennung mehr liefern kann. Das Selbstbewusstsein, das im Angesicht des Todes den Kampf aufgibt, wählt die eigene Selbsterhaltung zu Ungunsten der Anerkennung. Es wird damit zum Knecht, dem das Überleben wichtiger ist als die Anerkennung. Das Bewusstsein, das sein Überleben zurückstellt und den Kampf gewinnt, wird zum Bewusstsein des Herrn. Diesem ist freilich mit dem Knecht das Gegenüber abhandengekommen, das doch sein Selbstbewusstsein konstituiert. Der Herr ist auf den Sklaven angewiesen, der ihm aber als solcher keine valide Anerkennung mehr geben kann. Umgekehrt kann der Knecht, indem er den Herrn beobachtet, imitiert und für ihn arbeitet, ohne auf ihn angewiesen zu sein, sein Selbstbewusstsein entwickeln. In der Arbeit gewinnt er sein Selbstbewusstsein zurück und kehrt das Verhältnis zum Herrn um. An die Entfaltung des Selbstbewusstseins schließt in der Phänomenologie die Figur der Freiheit des Selbstbewusstseins an, die Hegel philosophiehistorisch mit der Stoa, institutionengeschichtlich mit der Einführung des abstrakten Rechts – der Verteilung eines individuellen oder atomisierten formellen Rechtsstatus –10 im Römischen Recht verbindet. Auch darauf komme ich zurück.  8 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 137-155.  9 Ludwig Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes, Frank­furt/M. 2000, S. 101. 10 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 155-159; zum Zusammenhang mit Hegels Theorie des Römischen Rechts und der Kritik des abstrakten Rechts vgl. Daniel Loick, Juridismus. Konturen einer kritischen Theorie des Rechts, Berlin 2017, S. 118-122.

186

3. Mensch und Maschine Nur mit großer Vorsicht wird man Hegels Rekonstruktion auf die Verhältnisse zwischen Mensch und Maschine übertragen wollen, schon weil die Frage, welchem Erkenntnisinteresse das Modell bei Hegel genau dient, nicht einfach zu beantworten ist. Wie weit der Schritt von den hegelschen Bewusstseinsfiguren zu einer Sozialtheorie ist, bleibt eine umstrittene Frage. Doch bevor die Schwierigkeiten es notwendig machen werden, diese Zweifel zu artikulieren, wollen wir dennoch die simple Parallele zwischen Mensch und Maschine einerseits, Herr und Knecht andererseits ziehen. Das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine setzt nach dem Kampf um Anerkennung an, der der Unterscheidung zwischen Herr und Knecht bei Hegel vorausgeht. Die Maschine ist kein im Kampf unterworfenes, sondern ein ursprüngliches Werkzeug, aber als solches fällt sie unter den überlieferten Begriff der Knechtschaft.11 Freilich sind Maschinen nicht der Gattung zugehörig, innerhalb derer sich der Kampf um Anerkennung bewegt. Doch entsteht zwischen Menschen und Maschinen in jedem Fall eine gattungsübergreifende Abhängigkeit. Die Abhängigkeit des Menschen entwickelt sich in Abhängigkeit von den Fähigkeiten der Maschine, und die Fähigkeiten der Maschine entwickeln sich zumindest ursprünglich nach der Art und dem Maß, die Menschen vorgeben. Diese Fähigkeiten waren zunächst physisch: Maschinen wurden früh stärker als Menschen. Nun aber betrifft die Entwicklung intellektuelle Kapazitäten, die, und das ist die Frage, offen für die Art von Entwicklung sein könnten, die Hegel beschreibt. Diese Parallele kann man mit einem anspruchsvollen Begriff von Selbstbewusstsein und einer an dieser hängenden Reflexionsfähigkeit zur Illusion erklären, vielleicht sogar unter Berufung auf Hegel. Aber wenn man Hegels Gedankengang als exploratorisch und experimentell versteht, nicht als deduktiv, dann kann man ihn als Ausdruck der Vermutung lesen, dass sich Subjektivität fortschreitend aus einer asymmetrischen imitierenden Interaktion ergibt, in der sich die Hierarchie der Fähigkeiten und der Angewiesenheiten umkehren kann. Diese Beobachtung nötigt nicht zur Spekulation über eine dystopische Herrschaft der Maschinenwelt, aber sie be11 Aristoteles, Politik, 1254a, 8 ff.

187

schreibt einen möglichen Entwicklungspfad. Dies ist umso mehr der Fall, wenn das maschinelle Gegenüber nicht mehr allein mit Vorgaben operiert, die durch Gattungswesen programmiert wurden, sondern wenn sich diese Vorgaben selbst weiterentwickeln und mehr und mehr vom Modell eines Expertenprogramms entfernen und zu dem eines theorielosen Induzierens von Mustern entwickeln.12 Die Abhängigkeit des Menschen von der Maschine funktioniert in der hegelschen Analogie als eine De-Potenzierung des Menschen und eine Potenzierung der Maschine. Zu den verschütteten Gedanken des hegelschen Kapitels gehört die Möglichkeit einer Zurückentwicklung. Dieser ergibt sich in unserem Zusammenhang aus dem Motiv der Entmächtigung menschlicher Fähigkeit durch Technik, das schon mit Aufkommen der Schrift beklagt wurde,13 aber eine andere Qualität bekommt, wenn Werkzeug und Mensch sich ähnlicher werden. Im hegelschen System scheinen solche Rückschritte im allgemeinen Fortschritt des Geistes aufgehoben zu sein, also nur als Zwischenrückschritte zu fungieren, die wieder ein- und überholt werden. Freilich lässt sich der so konzipierte Fortschritt in der Entwicklung des Geistes auch derart verstehen, dass er die Entwicklung von Maschinen erforderlich macht.14

4. Hierarchien des Dienstes: Valet und Schreiber Die Geschichte von Dienerschaft und Sklaverei kennt ihre eigenen Hierarchien und Wertigkeiten. In der Hierarchie des englischen Feudalhaushalts steht der Valet häufig noch über dem Butler. Der Valet erfüllt die Aufgaben eines Vertrauten, er ist den Bedürfnissen des Herrn besonders nahe, er vermittelt dessen Seelenleben an die weitere Organisation der Dienerschaft, um dessen Wünsche zu befriedigen. Der Valet ist besser bezahlt als der Butler, der für andere, weniger persönliche Aufgaben wie die Organisation des Weinkellers zuständig ist. Gibt es keinen Valet, so übernimmt der Butler auch dessen Aufgaben. Von Bedeutung ist, dass in dieser Hierarchie 12 Ethem Alpaydin, Machine Learning, Cambridge/Mass. 2016, S. 104 f. 13 Platon, Phaidros, 274c-275b. 14 So noch sehr optimistisch Gotthard Günther, Das Bewußtsein der Maschinen, Baden-Baden, Krefeld 1963.

188

Nähe zu Subjektivität und die Fähigkeiten, die diese ermöglichen, wie Einfühlungsvermögen und eine Art Diskretion, die gerade so weit geht, wie sie Bedürfnisse der Herrschaft kommunizieren kann, als entscheidend gelten. Der höchste Knecht ist dem Herrn besonders nahe, nicht, weil diese Nähe es ihm ermöglichen würde, an dessen Herrschaftsgewalt teilzuhaben, sondern weil er dem Herrn als Gegenüber dient. Dieses Schema zeigt sich auch in der antiken Sklavenherrschaft, prominent in der Figur des Marcus Tullius Tiro, Ciceros Schreiber und späterem Biographen,15 der seinen Aufstieg im Haushalt der Fähigkeit verdankt, Cicero intellektuell zu folgen und auch dadurch zu seinem Vertrauten zu werden, um, aus der Sklavenschaft entlassen, seinen Dienst fortzusetzen. Die Fortsetzung dieser Geschichte zeigt sich heute einerseits in einer Vielzahl spezialisierter automatischer Gehilfen, andererseits in »persönlichen Assistenten« und »Referenten«. Soweit zwischen persönlichen und organisatorischen Aufgaben heute differenziert wird – wie in öffentlichen Verwaltungen oder Unternehmen  –, nehmen Referenten keine leitende Rolle in der Hierarchie ein, aber sie stehen schon ausweislich ihres Titels an der Grenze zwischen beiden. Ihre Aufgabe besteht darin, dem Herrn die Aufgaben abzunehmen, die er nicht persönlich wahrnehmen muss. Diese Art des Dienstes scheint die Individualität der Herrschaft freizulegen. Individualität ist freilich mit Hegel eine Figur, über die sich nichts gehaltvolles Allgemeines sagen lässt.16 Was kommt zum Vorschein, wenn man eine Person aller Aufgaben entkleidet, die andere für sie tun könnten? Die reine Beschränkung auf familiäre Beziehungen, also nackte Privatheit, oder die reine von außen definierte Beschränkung auf »wichtige« professionelle Entscheidungen, also komplette Fremdbestimmung durch eine Organisation? Diese Frage ist bedeutsam, weil mit der Bestimmung solcher Wertigkeiten auch die Wertigkeit des Dienstes und die Art von Abhängigkeit definiert werden, die der Einsatz von Maschinen kreieren wird. Vielleicht deuten diese Beispiele auf eine Hierarchie des Dienstes, die auch unseren Umgang mit Maschinen prägen könnte. Die Hierarchie der Maschine bestimmt sich aus der Sicht des Gattungswesens nach der Allgemeinheit ihres Aufgabenkreises und der Nähe 15 Marieluise Deißmann-Merten, »Tiro 1«, in: Walther Sontheimer, Konrat Ziegler (Hg.), Der Kleine Pauly (KlP), Bd. 5, Stuttgart 1975, S. 862. 16 Dazu Michael Quante, Die Wirklichkeit des Geistes, Berlin 2011, S. 102 f.

189

zum Geist des Gattungswesens. Die zunächst vom Menschen angeleitete Verfeinerung der Maschine steigert seine Abhängigkeit. Je mehr sich der Knecht von der Beschränktheit auf bestimmte Aufgaben löst und je mehr er seine Aufgaben eigenständig erfüllt, desto mehr entfernt er sich von seiner Eigenschaft als Werkzeug. Tiro der Schreiber oder der Valet einer Lordschaft führen viele Aufgaben auf Anweisung ihres Herrn aus. Aber sie dienen ihm auch als ein Gegenüber, das auf eigene Initiative kommuniziert – und es ist dieser Widerspruch in der Formulierung eines »Dienstes als Gegenüber«, den Hegel in der Phänomenologie reflektiert. Die Auflösung dieses Widerspruchs geschieht in der Phänomenologie durch die Verallgemeinerung des Selbstbewusstseins, das zu einer Fähigkeit aller Angehörigen der Gattung wird und seine Beschränkung auf den Herren verliert – und seine erste unvollkommene institutionelle Ausformung erfährt diese Verallgemeinerung in der Verallgemeinerung des abstrakten Rechts.

5. Relative Rechtsfähigkeit Die Frage, ob Maschinen für einen Moment oder auf Dauer Rechte oder Rechtspersönlichkeit zugesprochen werden sollten, ist schon nicht mehr neu, wenn sie auch noch nicht zu einer großen rechtsphilosophischen Debatte geführt hat.17 Auffällig ist, dass die Diskussion einen spezifischen Verlauf nimmt. Wenn die Rechtsfähigkeit von Tieren, Flüssen oder die Einführung gesonderter Rechte für Kinder in Frage steht, dann treibt die Debatte ein relativ starkes moralisch-politisches Anliegen, dessen Motiv in der Beobachtung von Verletzungserfahrungen wurzelt, die Menschen oder andere Naturwesen machen oder die ihnen unterstellt wird.18 Mit der Verleihung von Rechten soll eine moralisch wertvolle und verletzbare Position geschützt werden. Einen vergleichbaren politisch-morali17 Vgl. bereits Gunther Teubner, »Elektronische Agenten und große Menschenaffen. Zur Ausweitung des Akteursstatus in Recht und Politik«, in: Paolo Becchi, Christoph Beat Graber, Michele Luminati (Hg.), Interdisziplinäre Wege in der juristischen Grundlagenforschung, Genf 2007, S. 1-30; Jens Kersten, »Menschen und Maschinen«, in: JuristenZeitung 70:1 (2015), S. 1-8. 18 Damit ist gesagt, dass die Beobachtung von Verletzungen die Gemeinschaft dazu führt, solche Rechte einzuführen, nicht, dass sie dies rechtfertigt.

190

schen Druck erkennen wir im Fall von Maschinen nicht. Maschinen können nach unserem Verständnis nicht verletzt werden, obwohl sich Verletzbarkeit nicht auf Vernunftwesen, ja nicht einmal auf Menschen und Tiere beschränken muss. Maschinen haben als helfende Artefakte in heutigen Gesellschaften noch wenig Aussicht auf die Art von Anerkennung, die derjenigen von ökologischen Anliegen im Allgemeinen oder Tieren im Besonderen gleichkäme. Warum aber wird die Rechtssubjektivität für Maschinen dann überhaupt diskutiert? Die Antwort ist einfach und aufschlussreich.19 Die Verleihung solcher Rechte ist ein praktisch notwendiges Vehikel zur Organisation von Rechtsbeziehungen zwischen Menschen, die sich einer Maschine im Umgang mit anderen Menschen bedienen. Beispielhaft:20 Wenn ich einen Roboter zum Einkaufen schicke und dieser in das falsche Regal greift, stellt sich die Frage, wie sich der Kauf rückabwickeln lässt. Wenn ich mich einer Maschine bediene, um ein Paket zu transportieren, und diese Maschine dabei etwas zerstört, stellt sich die Frage, wer dafür in Haftung genommen werden soll. Eine Lösung könnte darin bestehen, Maschinen eine beschränkte Form von Rechtspersönlichkeit zukommen zu lassen, die es ermöglicht, die Rechtsbeziehungen genauer zu konstruieren. Indem ich Maschinen als zugleich selbstständig und vermittelnd konstruiere, wie es in den juristischen Figuren des Stellvertreters und des Erfüllungsgehilfen getan wird, kann ich die Zuständigkeit für von der Maschine Verursachtes auf verschiedene Stellen verteilen. Je komplexere Aufgaben die Maschine übernimmt, desto weniger plausibel wird es, ihr Verhalten nur noch als Folge einer Handlung ihres Eigentümers zu behandeln. Sowohl die Herstellung der Maschine als auch die Art, wie Dritte auf sie reagieren, kann Anlass geben, anderen Personen als dem Eigentümer Verantwortung zuzurechnen. Die rechtliche Verselbstständigung der Maschine beginnt mit der Verteilung von Zurechenbarkeiten zwischen dem Herrn der Maschine und anderen, bereits anerkannten Rechtssubjekten. Die Zuständigkeit des Herrn für die Maschine weicht auf und wird zunächst anderen Rechtssubjekten mit zugewiesen. Diese Verteilung der Zuständigkeit für die 19 Ähnlich Teubner, »Elektronische Agenten und große Menschenaffen«, S. 7 f. und S. 24. 20 Für das deutsche Vertragsrecht Jan-Erik Schirmer, »Rechtsfähige Roboter?«, in: JuristenZeitung 71:13 (2016), S. 660-666.

191

Maschine auf verschiedene Personen ist der erste Schritt auf dem Weg zu ihrer Verselbstständigung. Nun könnte man fragen, wie eine Form der eigenen Haftung oder Sanktionierung einer Maschine überhaupt aussehen könnte, die ja im Fluchtpunkt der Anerkennung stehen müsste.21 Kann man ein Artefakt ohne Gefühle bestrafen? Die Schadenszufügung der Strafe ist nur eine sehr spezifische Art rechtlicher Sanktion; Sanktionen können auch schlicht auf Entschädigung und auf Verkürzung von Mitteln der Sanktionierten ausgerichtet sein, ohne dass klar wäre, inwieweit dies beim Sanktionierten als Einbuße empfunden wird. Beide Seiten der Sanktion sind für Maschinen denkbar – und wenn es nur um Verkleinerung oder Verschiebung von Rechnerkapazitäten ginge, die ich ja zuvor einem Artefakt zuweisen kann. Hier gilt der funktionalistische Gedanke, dass nur das sanktioniert werden kann, was zuvor entsprechend ausgestattet wurde, das aber in jedem Fall. Natürlich verbinden wir mit Sanktionen auch das Element einer affektiven Einbuße. Aber schon weil diese im Ergebnis bei Menschen, die ein und derselben Sanktion unterworfen werden, sehr unterschiedlich ausfallen kann, taugt sie nicht als formalisierbare Voraussetzung einer Sanktion. Auch Gefühllose müssen bestraft werden können, schließlich haben Sanktionen eine wichtige symbolische Funktion. Sie indizieren einen Normbruch und einen Zuständigen für diesen. Für diese Zuständigkeit gelten aber ohnehin keine naturalistischen Kriterien. Das Konzept der Handlung ist selbst schon Konsequenz eines Normprogramms,22 das sich praktisch wandelt. Ohne Details der juristischen Diskussion hier näher betrachten zu müssen, zeigt sich, dass die Verwendung von Maschinen in komplexen sozialen Zusammenhängen eine solche formalisierte Anerkennung durch die Verleihung von Elementen einer Rechtspersönlichkeit nahelegt. Die Form der Rechtspersönlichkeit ist in der juridischen Praxis zudem graduierbar. Sie kann beschränkt auf bestimmte Rechtsbeziehungen verliehen und nach Bedarf erweitert werden. In der Rechtsform kommt eine stufenweise Anerkennung zum Ausdruck, die sowohl die von der Maschine ausgeübte Leis21 G.  W.  F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke, Bd. 7, Frank­ furt/M. 1986, S. 190 f. 22 Zu Hegels Askriptivismus: Quante, Wirklichkeit des Geistes, S. 224 f.

192

tung als auch das Maß an Verflechtung dieser Leistung mit anderen Rechtssubjekten abbilden kann. In modernen Rechtsordnungen ist das Verhältnis zwischen der Verleihung von Rechtsfähigkeit und der dabei vom Rechtssubjekt erwarteten Leistungen flexibel. Man mag im Gefolge der marxschen Rechtskritik in der Verleihung von Rechtsfähigkeit eine formalisierende Verkürzung von Subjektivität erkennen, die die betroffenen Subjekte auf verschiedenen Ebenen versehrt.23 Doch geht es im Zweifelsfall oft um Rechtspersonen, deren Status als selbstbewusste Subjekte ohnehin in Frage steht, weil sie erkennbar zur Freiheit nicht befähigt sind. Das subjektive Recht soll hier Anliegen institutionell verstärken, die sich eigenständig nicht artikulieren können. Man mag fragen, ob dies gelingen kann oder ob es im Ergebnis nicht nur darum geht, andere Subjekte zu ermächtigen als die formell Berechtigten. Wenn Kinder eigene »Kinderrechte« verliehen bekommen, dürfte es vor allem darum gehen, den Staat gegen die Eltern zu ermächtigen. Vergleichbares zeigt sich bei der Personalisierung von Umweltgütern. Aus diesem Grund hängt die Frage nach der Verleihung von Rechtsfähigkeit an Maschinen jedenfalls nicht an einer abschließenden Abschätzung ihrer Fähigkeiten oder an der Suche nach dem Übergang von bloßer Intentionalität zu echtem Selbstbewusstsein. Oder anders formuliert: In der philosophischen Debatte zwischen Funktionalismus und Dualismus stehen die Juristen praktisch immer schon auf der Seite des Funktionalismus, selbst wenn sie dies theoretisch leugnen. Das mag man als Ausdruck eines Reflexionsdefizits abtun – so wie die philosophische Reflexion die juristische Praxis gern etwas bevormundet und damit manchmal sogar im Namen Hegels dem reinen Sollen recht nahe kommt. Man kann es auch als eine relevante Praxis des objektiven Geistes sehen, der sich seiner selbst auf variable Art und Weise vergewissern muss.

6. Affekte – Grenzen – Atomisierung In der hier entwickelten Analogie klafft eine affektive Lücke. Damit ist weniger das Unbehagen bezeichnet, das man mit der Er23 Christoph Menke, Kritik der Rechte, Berlin 2015, S. 248-265.

193

mächtigung von Maschinen verbinden mag, als die wichtige Rolle, die Affekte in Hegels Rekonstruktion der Entstehung von Selbstbewusstsein spielen. Weder das Begehren noch die Todesangst, die für die Entstehung des Selbstbewusstseins nach Hegel so bedeutend sind, lassen sich mit der Weiterentwicklung von Maschinen in Verbindung bringen. Es scheint also sowohl die Negativität des Begehrens, das ein Objekt negiert, das es zugleich zu erhalten sucht, als auch die Negativität der Todesangst, in der sich das Subjekt innerlich auflöst und nach Hegel zu seinem eigentlichen Wesen, der »absoluten Negativität«, vordringt, zu fehlen. Freilich wissen wir es so genau auch nicht. Wenn Emotionen aus bestimmten kognitiven Kapazitäten hervorgehen und wenn sie auch intersubjektiv durch Beobachtung und Imitation entstehen, dann gibt es keine apriorischen Gewissheiten über die künftige Gefühlswelt von Maschinen. Vor allem der Hinweis auf die Einheit von Fühlen und Denken, also darauf, dass es im menschlichen Denken um implizite unbewusste Prozesse geht, die grundsätzlich anders verlaufen als die strikte Regelanwendung von Maschinen, reicht nicht hin, um Parallelen zwischen menschlichem Denken und Maschinen zurückzuweisen. Denn wenn wir solche Parallelen analysieren, werden wir nicht anders können, als unser eigenes Denken zu reflektieren, es durch diese Reflexion explizit zu machen, derart zwar nicht seine affektive Seite abzutrennen, aber beide doch analytisch zu unterscheiden suchen und unser Denken dadurch auch für die Art von formalisierter Darstellung zu öffnen,24 die bei der Programmierung von Maschinen am Werk ist.25 Eine wichtige Funktion von Affekten liegt in der Begrenzung von Subjektivität. Wenn der objektive Geist ein Produkt von Intersubjektivität ist,26 dann ist nicht ohne weiteres klar, wie sich Subjektivität zwischen den Subjekten begrenzen lässt. Die Erfahrung der eigenen Körperlichkeit ermöglicht diese Abgrenzung, im Abschnitt der Phänomenologie namentlich die Todesangst, die das Subjekt entweder auf die eigene Körperlichkeit zurückwirft und dadurch knechtet oder von dieser befreit. In Christoph Menkes Kritik der Rechte erscheint die Figur der Rechtspersönlichkeit als 24 Vgl. auch die sehr zarte Andeutung bei Robert Brandom, Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung, Frank­furt/M. 2000, S. 40 f. 25 Dazu die Überlegung bei Heintz, Herrschaft der Regel, S. 102 f. 26 Dazu Quante, Wirklichkeit des Geistes, S. 264-270.

194

ein Mittel der Vereinzelung, das mit gesellschaftlichen Mitteln von der Gesellschaft dissoziiert.27 Man mag dem entgegnen, dass Rechte auch als Mittel der sozialen Einbindung und der politischen Mobilisierung dienen, selbst wenn diese Erfahrungen das begriffliche Fundament von Menkes Argument unversehrt lassen dürften. Für unsere Fragestellung erinnert diese Kritik am abstrakten Recht daran, dass dem Ideal der negativen Vereinzelung in der Welt der Menschlichen ein produktivistisches Ideal der vollständigen Vernetzung der Maschinenwelt entgegensteht. Politisch entspringt dies dem Vorrang von Wertschöpfung über Individualität, die der liberalen Selbstkritik schon lange klargeworden ist.28 An die kritische Theorie des subjektiven Rechts wäre die Frage zu richten, wie sie die automatisierte Vergemeinschaftung von Subjektivität in ihren Kategorien der Kritik der Vereinzelung verarbeiten kann, ohne auf einen schlichten Gattungshumanismus zurückzufallen.

27 Menke, Kritik der Rechte, S. 46 f. 28 Amartya Sen, »The Impossibility of a Paretian Liberal«, in: Journal of Political Economy 78:1 (1970), S. 152-157.

195

Rainer Forst Das Recht der Negativität 1. Eine politische Philosophie des Nichtidentischen In der zeitgenössischen politischen Philosophie gibt es niemanden, der auf so konsequente Art das Verhältnis von Freiheit und Norm beziehungsweise von individueller Unbestimmtheit und moralischer, rechtlicher oder politischer Bestimmtheit – kurz: das Verhältnis von Nichtidentischem und normativen Identifikationen – diskutiert wie Christoph Menke. Ob es die Tragödie im Sittlichen ist,1 die zeigt, dass eine normative Ordnung an dem Anspruch scheitern muss, zwischen dem allgemein Gerechten und der individuellen Selbstverwirklichung erfolgreich zu vermitteln, oder ob es die Spiegelungen der Gleichheit sind,2 die die nicht aufhebbaren Spannungen zwischen Gleichheit und Individualität aufzeigen, stets weist Menke eindringlich auf die Widersprüche der politischen Ideale hin, denen wir üblicherweise folgen. Unter seinem Blick zeigt sich ihre Gewaltsamkeit, und zwar als notwendige, weil die begrifflichen Bahnen, in denen wir denken, keine Alternativen zuzulassen scheinen. Daher die Tragik. In seiner Kritik der Rechte ist das anders.3 Zwar findet sich auch hier der Aufweis der inneren Widersprüchlichkeit des bürgerlichen Rechts, und es wird gezeigt, wie die kommunistische Alternative ihr Gegenbild eher spiegelt als überwindet. Aber mit den Ideen eines »neuen Rechts« (369) oder eines »neue[n] Begriff[s] der Politik« (371), die auf einer bestimmten Vorstellung des Guten beruhen, wagt Menke sich mehr als bisher ins Positive vor – wenn auch mit großer Vorsicht, da der Sprung vom Nichtidentischen zum Identifizieren einer Politik, die dieses Rätsel der Geschichte normativer Ordnungen lösen kann, ein gehöriges Wagnis für einen Denker wie ihn ist. 1 Christoph Menke, Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frank­furt/M. 1996. 2 Christoph Menke, Spiegelungen der Gleichheit, Berlin 2000. 3 Christoph Menke, Kritik der Rechte, Berlin 2015. Seitenzahlen im Text beziehen sich auf dieses Buch.

196

In meinen kurzen Bemerkungen will ich sozusagen mit Menke gegen Menke folgende Frage stellen: Wenn wir darin übereinstimmen, dass es zumindest insoweit einen Imperativ des Nichtidentischen gibt, dass wir in unserer Bestimmung dessen, was Individuen oder Kollektive politisch »sind« oder wollen oder emanzipatorisch beanspruchen können, uns stets fragen müssen, ob wir ihnen damit eine reifizierende Bestimmung überstülpen, inwieweit werden Menkes Kritik des Rechts und sein eigener positiver Vorschlag diesem Imperativ dann gerecht? Und schließlich ist da noch eine zweite, damit zusammenhängende Frage: Woher kommt eigentlich dieser Imperativ? Ich beginne mit der ersten Frage und reserviere die zweite für den Schluss.

2. Die Kritik der Rechte und das neue Recht In seiner dialektischen Kritik der Rechte geht Menke einen weiten Weg mit der marxschen Dialektik, um sie dann aber selbst noch einmal zu transzendieren. Sein erster Schritt ist die Kritik des bürgerlichen Rechts als formierende Kraft des bürgerlichen, entzweiten, abgetrennten und um sich selbst kreisenden Rechtssubjekts, das sich als Teil einer freiheitlichen Gesellschaft wähnt, die jedoch nur an der Herausbildung und Zementierung kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse arbeitet. Das »Subjekt des Eigenwillens« (247) wird durch subjektive Rechte er- und zugleich entmächtigt, weil es sich nur in Rechtsansprüchen ausdrücken kann, die seine strukturelle Unfreiheit fortsetzen, auch wenn es individuelle Freiheitsgewinne im systemkonformen Sinne geben mag. Mit Nietzsche analysiert Menke die Widersprüche der bürgerlichen Revolution als »Sklavenaufstand«, der zwar ein »Akt der Ermächtigung« (349) ist, dabei aber nur eine Gleichheit als »Berücksichtigung« (ebd.) respektive Einbeziehung in die Rechtfertigungsgemeinschaft fordert, nicht aber ein wirklich neues Recht. Damit wird laut Menke die Schwäche der Sklaven nicht überwunden, sondern »verewigt« (ebd.); es entsteht nur ein Kantisches »Commercium«, eine Gesellschaft der aufeinander Einwirkenden, nicht aber eine echte »Communio« unter Gleichen als gleich Mächtigen. Die Leidenden wollen berücksichtigt werden, dabei 197

aber Leidende bleiben (352 f.). Sie bleiben passiv, weil ihnen die Kraft fehlt, selbst Herren sein zu wollen. Das gilt auch dort, wo Teilhabe an der Regierung gefordert wird, weil keine umfassende, im kommunistischen Sinne »wahre« (339) Demokratie entsteht, die die bürgerliche Gesellschafts- und Rechtsform überwindet und eine »Gleichheit ohne Rechte« (ebd.) realisiert. Hier erst würde die Demokratie nicht zu einer politisch äußerlichen, sondern wahrhaft sozialen Kraft, und für private Rechte und Sonderexistenzen wäre kein Platz mehr (345). Aus der in Menkes Augen schlechten Dialektik zwischen bürgerlichem Commercium und kommunistischer Communio führt ein alternatives Verständnis des Sklavenaufstands heraus. Dieses wird von einer anderen Deutung des »Rechts auf Passivität« geleitet als der bürgerlichen: nicht als Recht auf Nichtteilnahme und Rückzug ins Private, sondern als »Affirmation der Passivität« im Sinne einer »Bedingung des Guten« (365). Dieser aufständische Sklave ist ein »Optimist der Schwäche« (ebd.), der weder bürgerlicher Knecht noch kommunistischer Herr sein will, sondern die »Emanzipation des Menschen« (367) von diesen Rollen verfolgt. Ihm ist eine neue Politik des Urteilens gemäß, die vom individuellen Empfinden ausgeht (377) und sich damit der Herrschaft des vorgestanzten Begriffs entzieht. Er denkt »die Evidenz seiner Empfindungen« (380) und kennt keine unabhängige »Quelle der Normativität« (ebd.): »[N]ichts ist Grund, alles wird zum Moment« (ebd.). Kurzum: Hier manifestiert sich die »Kraft der Negativität« (ebd.). Dies aber soll nicht (wie man fürchten könnte) in solipsistischer Formlosigkeit enden, sondern in einer neuen Politik der »Gegenrechte«; »das Gute des Urteilens« (383) ist nur gemeinsam in geteilter Regierung zu verwirklichen (385), in einer Praxis des Urteilens, die »die – negative – Dialektik von sinnlicher Affektion und begrifflicher Aktivität entfaltet« (387). So soll eine »nichtordnende Ordnung« (391) der Gerechtigkeit entstehen, in der »alle die Macht der Teilnahme haben und jeder das Gegenrecht des Ohnmächtigen hat« (396). Menke geht in seiner Kritik der Rechte weiter als etwa Balibar, der die politisch-autonome Bedeutung der Menschenrechte in der Hervorbringung neuer Rechte und einer neuen Ordnung sieht (392), da dadurch laut Menke die rechtliche Paradoxie zwischen »Bestimmung und Unbestimmtheit« (393) nicht aufgehoben wird: 198

Erst das neue Recht strebt eine neue Ordnung des Nichtidentischen an. Ich kann diesen komplexen Dreischritt zwischen bürgerlichem Rechtsverständnis, kommunistischer Aufhebung und einem Dritten jenseits davon hier nicht im Einzelnen diskutieren, sondern konzentriere mich auf folgende Frage: Wie bestimmen wir, aufgeklärt durch diese Analyse, worauf heutige emanzipatorische Kämpfe um Rechte gehen – auf ein Modell des ersten, zweiten oder dritten Typs? Kann es sein, dass nicht nur die Bestimmungen des ersten und zweiten, sondern auch des dritten Typs – contre Menkes cœur – unzureichend sind und revolutionäre Bewegungen vor eine Identitätsalternative stellen, die nicht passt und ihnen damit hermeneutisch Unrecht tut?

3. Die Bestimmung des Kampfs um Rechte Beginnen wir, um den Raum der Interpretationen zu öffnen, mit einem Bild, das während des sogenannten Arabischen Frühlings 2011 auf dem Tahrir-Platz aufgenommen wurde.4 Es findet sich in einer Sammlung von Fotos, die Menschen dabei zeigen, wie sie Schilder hochhalten, die Präsident Mubarak auffordern, zurückzutreten und die Macht an eine demokratisch gewählte Regierung zu übergeben; manche fordern schlicht »Freiheit« oder »Gerechtigkeit«. Auf einem Bild ist ein Mann zu sehen, der ein Schild hält, auf dem »Genug der Demütigung« steht. Wie sollen wir verstehen, von welcher Demütigung der Demonstrant »genug« hat? Was hat er im Sinn? Wir wissen es nicht; versuchen wir daher, die beste Rekonstruktion dessen zu leisten, was seine Forderung bedeuten könnte, wenn wir sie als eine emanzipatorische Forderung verstehen und ferner annehmen, dass der Demonstrant, im Einklang mit vielen um ihn herum, seine eigene Würde, die zu respektieren er einklagt, mit der Forderung grundlegender Menschenrechte verknüpft.5 4 Ich danke Mahmoud Bassiouni, dass er mich hierauf aufmerksam gemacht hat, und für aufschlussreiche Diskussionen darüber. 5 Zu einer umfassenden Analyse, auf die ich mich hier teilweise beziehe, siehe meinen Text »Der Sinn und der Grund der Menschenrechte. Die Perspektive des Kantischen Konstruktivismus«, in: Reza Mosayebi (Hg.), Kant und Menschenrech-

199

Abbildung 1: Demonstrant auf dem Tahrir-Platz mit dem Transparent »Genug der Demütigung«.6

Menke zufolge gibt es drei Deutungen dessen, was der Demon­s­ trant fordert, und die wahrhaft emanzipatorische ist erst die dritte. (Ich nehme dabei an, dass Menke seine Analyse auch auf solche nicht im engeren Sinne westlichen Kontexte erweitern würde.) Erstens könnte die Forderung im Sinne einer bürgerlichen Revolution gelesen werden, und zwar als Forderung des »Sklaven«, in die Rechtfertigungsgemeinschaft als Rechtfertigungssubjekt einbezogen zu werden, dabei aber lediglich »berücksichtigt« zu werden und das heißt: jemand zu bleiben, »der der Berücksichtigung bedarf« (349). Die Form der Rechte, die damit erreicht wird, führt zu einer bürgerlichen Rechtsordnung, die den »Sklaven« nicht befreit, sondern nur zu einem gleich Berücksichtigten macht; das Recht grenzt die Freiheitssphären der Einzelnen voneinander ab, gesteht ihnen einen Eigenwillen zu, aber sie werden nicht selbst zu te, Berlin i. E.; im Englischen erschienen als »The Point and Ground of Human Rights. A Kantian Constructivist View«, in: David Held, Pietro Maffettone (Hg.), Global Political Theory, Cambridge 2016, S. 22-39. 6 Das Bild findet sich in Karima Khalil, Messages from Tahrir. Signs from Egypt’s Revolution, Cairo, New York 2011, S. 87, © Hossam el-Hamalawy, 2011. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Fotografen.

200

»Herren«. – Es ist möglich, dass es dem Demonstranten und seinen Mitstreiter*innen um eine solche Form der Berücksichtigung und die Etablierung einer bürgerlichen Rechtsordnung geht. Aber diese Deutung scheint nicht in Einklang mit der Widerständigkeit zu stehen, die das Bild ausdrückt. Die zweite menkesche Deutung ist die der kommunistischen Revolution. Es könnte dem Demonstranten um die »wahre« Demokratie gehen, um die Transzendierung der bürgerlichen Rechtsform und die Etablierung einer »Gleichheit ohne Rechte« (339) im Modus der allumfassenden sozialen Selbstregierung. – Auch dies ist möglich und würde die Radikalität der revolutionären Forderungen unterstreichen, die nicht eigentlich mehr Forderungen wären, die sich an eine Regierung richten, sondern der Anspruch, hinfort nur noch sich selbst beziehungsweise allen zusammen zu gehorchen. Fraglich ist aber, ob die Demonstrant*innen tatsächlich ihr Recht einfordern, nunmehr ohne Rechte zu leben, also in einer Gesellschaft, die diese nicht mehr braucht, ohne »Ansprüche auf private Sphären und Vermögen des Eigenwillens« (345). Bleibt die dritte, eigentlich emanzipatorische menkesche Deutung der Einforderung des »Grundrechts des Passiven« (385), der »Gegenrechte« jenseits von Herrschaft und Knechtschaft. Das »neue Recht verwirklicht die Macht der Mitregierung gegen das Erleiden und das Recht des Ohnmächtigen in der Regierung« (388), realisiert somit politische Autonomie und individuelle Bedürfnisse auf eine Weise, die nicht über die Reifizierung von Rechtsansprüchen läuft. – Wieder ist es möglich, dass dies eine gute Beschreibung und normative Deutung des Widerstands auf dem Bild ist, aber sie bleibt zu vage und – bewusst – unbestimmt, um die Bestimmtheit des dargestellten Akts zu erklären. Zumal der Demonstrant mit dem Wort der »Demütigung« einen starken normativen Anspruch der Würde formuliert, der nach einer aktiveren Deutung als der eines Grundrechts des Passiven verlangt. Aber das Nichtbestimmtwerden durch Mächte, die als Mächte der Demütigung verstanden werden, spielt eine wichtige Rolle. Daher schlage ich eine vierte emanzipatorische Deutung vor, die Motive aller drei bisher genannten aufgreift – die Rechtsform, die Selbstregierung und die Unbestimmtheit  –, dabei aber eine Zuordnung zu und Identifizierung mit einer der drei Alternativen vermeidet. Das Bild hilft im Lichte der vierten Konzeption – der 201

des Rechts auf Rechtfertigung7 –, den Anspruch und die Politik der Menschenrechte in denjenigen politischen Kontext zu setzen, in dem wir sie sehen sollten: den Kampf für grundlegende Formen von Respekt als rechtliche, politische und soziale Akteure, die es nicht »verdienen«, von einem korrupten und unterdrückerischen Regime autokratisch regiert zu werden. Die Demütigung, die hier verdammt wird, ist dann nicht nur eine partikulare Form der Zugangsverweigerung zum Arbeitsmarkt oder zu bestimmten sozialen Institutionen. Es geht um mehr als solche (bürgerlichen beziehungsweise sozialen) Rechtlosigkeiten, nämlich um die Verweigerung einer angemessenen Anerkennung als rechtliche, politische und soziale Autorität, als jemand, der »zählt«, zumindest in dem Maße, in dem es nicht andere sind, die ihm oder ihr sagen, was sein oder ihr angemessener Platz innerhalb der Gesellschaft ist (das Buch, aus dem das oben abgedruckte Bild entnommen ist, zeigt auch viele Frauen, die ähnliche Schilder halten). Das Schild des Protestierenden drückt der vierten Deutung zufolge nicht primär die Forderung aus, als mit solchen Fähigkeiten ausgestattete Person in einer Form »berücksichtigt« zu werden, die in Rechten ausgedrückt wird; es formuliert eher den Anspruch, eine normative politische Autorität zu sein bezüglich der Frage, welche Rechte und Pflichten Bürger*innen haben – und wie diese definiert werden. Das ist die Bedeutung eines emanzipatorischen Anspruchs: Es ist nicht nur eine Forderung nach diesem oder jenem Recht oder nach sozialen Chancen, sondern nach dem Recht dazu, das institutionelle Regime, dem man unterworfen ist, als Gleiche(r) mitzubestimmen. Die Demütigung, die es zu überwinden gilt, ist, wenn man so will, eine umfassende Erfahrung, und der Anspruch, sie zu überwinden, hat den ebenso umfassenden Charakter, Autor*in von Rechten zu sein, ohne dass die Form dieser Rechte das »Sklavendasein« fortschreibt. Das bedeutet, dass wir Menschenrechte in ihrem emanzipatorischen Verständnis als Rechte auf Nichtbeherrschung verstehen soll7 Vgl. Rainer Forst, Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, Frank­furt/M. 2007; ders., Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse. Perspektiven einer kritischen Theorie der Politik, Berlin 2011; ders., Normativität und Macht. Zur Analyse sozialer Rechtfertigungsordnungen, Berlin 2015, und zu Rechten zuletzt ders., »The Justification of Basic Rights. A Discourse-Theoretical Approach«, in: Netherlands Journal of Legal Philosophy 45:3 (2016), S. 7-28.

202

ten, reflexiv gesprochen als Rechte darauf, die Autorität zu sein, die diese Rechte mitbestimmt, und damit auch, worauf Menkes drittes Modell abzielt, über ihre Form zu bestimmen. Die Beherrschung und Demütigung, die es hier zu überwinden gilt, ist eine dreifache: Zum einen besteht die Beherrschung darin, dass einem bestimmte Rechte, die menschliche Wesen als rechtlich, politisch und sozial Gleiche haben sollten, verweigert werden, zum anderen darin, innerhalb der eigenen normativen Ordnung nicht autonom mitentscheiden zu dürfen, das heißt kein politisches Recht auf Rechtfertigung zu haben. Und schließlich geht es drittens darum, diese normative Ordnung selbst kollektiv mit- und umgestalten zu dürfen, besonders im Blick auf das Rechtssystem, das dort herrscht. Wirft man den Blick auf die französische »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte« und auf die Forderungen von Protestierenden in Menschenrechtskämpfen weltweit, dann wird deutlich, dass hierin die vollständige Botschaft derjenigen besteht, die Menschenrechte einfordern.8 Es sind nicht nur kantisch inspirierte politische Philosoph*innen, die Menschenrechtsbewegungen mit einem solchermaßen dichten normativen Vokabular der Würde oder der Gerechtigkeit beschreiben. Im Gegenteil: Es sind die sozialen Akteure selbst, die sich einer solchen Sprache bedienen, um ihren Forderungen nach vollem Respekt und Menschenrechten Ausdruck zu verleihen – als einem fundamentalen Anspruch der Gerechtigkeit unter normativ Gleichen, die nicht nur Empfänger*innen, sondern auch Autor*innen der Rechte sind, die sie haben, unter der Prämisse, dass sie frei und gleich darin sind, diese Rechte sowohl einzufordern als auch sie im politischen Diskurs zu »konstruieren« – und damit auch ihre Form zu bestimmen und rechtliche Reifizierungen zu überwinden. Darin sehe ich die Wahrheit des dritten, menkeschen Modells der »neuen Rechte«. Dieses aber muss konsequent demokratisch verstanden werden: Um den um Rechte und Emanzipation Kämpfenden nicht eine bestimmte Form der Rechte aufzudrängen – ob nach dem ersten, zweiten oder auch dritten Modell  –, muss die emanzipatorische Forderung nach Rechten reflexiv verstanden und begründet werden: als Recht auf Rechtfertigung der normativen 8 So auch die Texte in Christoph Menke, Francesca Raimondi (Hg.), Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Berlin 2011.

203

Ordnung, deren Mitglied man ist.9 Wenn das Nichtidentische und die Kraft der Negativität ein Recht haben, dann das Recht, von der Beherrschung durch andere frei zu sein. Das Recht auf Rechtfertigung sucht sich seine Ordnungsform im Positiven, in autonomer politischer Praxis, kann dabei aber nicht die Form der demokratischen Selbstbestimmung transzendieren – durchaus hingegen bestimmte Formen des Rechts, sofern sie beherrschend sind. Diese vierte Deutung des Bildes halte ich für die angemessene, wenn wir ihm eine emanzipatorische Bedeutung geben wollen.

4. Der Grund der Rechte Wenn es einen Einspruch der Negativität gibt, der normativ gehaltvoll ist, liegt dem ein Recht der Negativität zugrunde, nicht nur eine Kraft. Woher kommt dieses Recht, das ich oben als Imperativ des Nichtidentischen bezeichnet habe? Ich denke nicht, dass es aus einer Bestimmung des »Guten« kommen kann, wie Menke es in der Dialektik von Passivität und Aktivität beziehungsweise von »sinnlicher Affektion und begrifflichem Bestimmen« (396) verortet und begründet. Ich sehe weder, wie sich das nichtidentische Denken zu solch einem Begriff des menschlich Guten aufschwingen kann, noch, wie dieser die normative Kraft generieren könnte, eine umfassende Kritik der Rechte zu tragen. Das hieße, die Kritik ethisch zu begründen und dem »neuen Recht« eine ethische Aufgabe zuzuschreiben. Würde dies nicht zu einem aristotelischen Rechtsdenken zurückführen? Mir erscheint es richtiger, die Dialektik von Bestimmtheit und Nichtidentischem reflexiv zu wenden: als Recht der Negativität, all die Positivitäten kritisch rechtfertigend zu hinterfragen und abzuwerfen, die uns falsch bestimmen, also auf eine nicht allgemein und reziprok zu rechtfertigende Weise. Dieses Recht realisiert kein Gutes, sondern sagt Nein zu all den Normen und normativen Ordnungen, die uns als gleiche normative Autoritäten unzulässig begrenzen. Solche Formen der Fremdbestimmung abzuwerfen, heißt, normative Autonomie zu realisieren – ob dies eine notwendige oder 9 Die Bestimmung der Rechte auf Mitgliedschaft ist selbst eine Aufgabe der Rechtfertigung, die ich hier undiskutiert lasse.

204

hinreichende Bedingung des guten Lebens ist, mag dahingestellt bleiben. Menschen im Reich der Moral, des Rechts und der Politik als gleiche normative Autoritäten zu respektieren, ist – und hier bin ich mit Menke einig – elementar; und dieser Respekt impliziert in meinen Augen, dass ein jeder Mensch ein Recht auf (und eine Pflicht zur) Rechtfertigung in den relevanten Kontexten moralischer Handlungen oder politischer normativer Ordnungen hat. Das ist es, was es bedeutet, die »Würde« des Menschen als Zweck an sich selbst zu respektieren – und Demütigungen mit Recht zurückzuweisen, wie es der Demonstrant (dieser Deutung zufolge) tut. Da moralische und grundlegende rechtliche Normen beanspruchen, allgemein und reziprok für alle Menschen gleich bindend zu sein, besagt ein Prinzip der praktischen Vernunft, dass alle, die ihnen unterworfen sind, gleichberechtigte Rechtfertigungsakteure sein müssen, wenn ihre Rechtfertigung den Kriterien der Reziprozität und Allgemeinheit genügen soll. Reziprozität bedeutet, dass niemand Forderungen stellen kann, die er oder sie anderen verweigert, und dass niemand die eigenen nichtgeneralisierbaren Perspektiven, Interessen oder Wertungen anderen unterstellen darf. Allgemeinheit bedeutet, dass all diejenigen, für die Normen Gültigkeit beanspruchen, gleichermaßen in den Rechtfertigungsprozess involviert sein müssen. Dies schließt ein, die Form der Rechte und ihre nicht zu rechtfertigenden Implikationen mitzubedenken. Letztere aufzudecken ist Aufgabe einer Kritik der Rechte. Die Kritik der Rechte, wie sie mir vorschwebt, ist eine reflexive (auf die Frage der Menschenrechte bezogen, die ich mit Menke als Kernrechte ansehe): Wenn der moralische und politische Sinn der Menschenrechte darin liegt, einen Status von Personen als rechtlich, politisch und sozial Gleiche zu etablieren, geschützt vor basalen Formen der Beherrschung, dann folgt daraus, dass es einen spezifischen moralischen Grund für diese Rechte gibt: ein Grund-Recht. Negativ gesprochen handelt es sich um das Recht, keiner normativen Ordnung unterworfen zu sein, die einem die grundlegende Stellung als Gleiche(r) verweigert, und die daher, reflexiv gewendet, gegenüber Freien und Gleichen nicht gerechtfertigt werden kann; positiv formuliert handelt es sich um das Recht, als gleiche normative Autorität und aktives Rechtfertigungswesen anerkannt zu wer205

den, wenn es um grundlegende rechtliche, politische und soziale Arrangements der Gesellschaft geht, in der man lebt. Die reflexive Formulierung ist notwendig, da Freiheit von Beherrschung hier nicht nur bedeutet, durch gewisse Rechte abgesichert als rechtlich, politisch und sozial nichtbeherrschte(r) Gleiche(r) »berücksichtigt« zu werden; es bedeutet vielmehr auch, dass es nicht andere sind, die – sozusagen über den eigenen Kopf hinweg – entscheiden, ob dieser Status erfüllt ist oder nicht und wie er aussehen soll. Folglich kann die eigentliche Autorität der Bestimmung von Nichtbeherrschung nur in einem diskursiven Verfahren der reziproken und allgemeinen Rechtfertigung zwischen Freien und Gleichen liegen. In der diskurstheoretisch-kantischen Idee, nach der diejenigen, die einer normativen Ordnung unterliegen, auch die gleichen und freien normativen Autoritäten sein sollten, die diese Ordnung durch Prozeduren und Diskurse der Rechtfertigung, in denen alle Teilnehmer*innen Gleiche sind, bestimmen, fallen die negative und die positive Formulierung zusammen. Der wichtigste normative Begriff ist demnach der einer Person als gleichberechtigte normative Autorität, mit dem grundlegenden moralischen Anspruch, als eine solche Autorität mit einem Recht auf Rechtfertigung respektiert zu werden. Das beinhaltet nicht nur politische Partizipationsrechte, sondern auch all diejenigen Rechte, die einem die normative Macht geben, sich gegen verschiedene Formen der Beherrschung zur Wehr zu setzen und diese zu überwinden. Es ist eine spezifische Sichtweise auf den Sinn der Menschenrechte, die mich dazu führt, ihren moralischen Kern und Grund auf diese Weise zu rekonstruieren und im grundlegenden Recht auf Rechtfertigung zu suchen. Dieses erst kann die Gegen-Rechte begründen, derer es bedarf, um eine reifizierte Rechtsordnung zu transformieren und zu überwinden. Hier liegt das Recht der Negativität. Dass die revolutionären Bewegungen, die es begründet, auch und nicht selten – wie in Ägypten – scheitern, spricht nicht gegen es.10

10 Ich danke Esther Neuhann, Felix Kämper und Dirk Setton für ihre hilfreichen Bemerkungen zu einer früheren Fassung dieses Texts.

206

Andreas Fischer-Lescano Als Ob! Der Philosoph als wahrer Revolutionär des Rechts […] so ist es jetzt der Philosoph, in dessen Hirn die Revolution beginnt. Karl Marx1

Ein Philosoph als Rechtsrevolutionär? Ein Denker als gentle revolutionizer of law?2 Als ob! – Unwiederbringlich vergangen ist die Zeit, in der die Philosophie dem Recht hierarchisch übergeordnet den Weg wies. Noch bei Kant war der »Philosoph als wahrer Rechtslehrer«3 wie selbstverständlich ein Kontrolleur des Rechts. Der Arbeitsauftrag der Philosophiefakultät gegenüber der Rechtsfakultät war eben dadurch definiert, »sie zu kontrollieren«.4 Doch Kants Inthronisierung der Vernunft überzeugt längst nicht mehr, ist wie auch die Überhöhung der intersubjektiven Vernunft bei Jürgen Habermas »durch Weltfremdheit und Rechtsferne bestimmt«, zu1 Karl Marx, »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung«, in: MEW, Bd. 1, Berlin 1976, S. 378-391, hier S. 385. 2 Vgl. Martti Koskenniemi, Gentle civilizer of nations, Cambridge 2009. 3 Jürgen Habermas, »Der Philosoph als wahrer Rechtslehrer: Rudolf Wiethölter«, in: KJ 22:2, 1989, S. 138-146; siehe auch die Philosophie und Recht miteinander verknüpfende Formulierung von Rudolf Wiethölter, der Julius Herrmann von Kirchmann als Philosophen des Rechts beschreibt, »der eine Einheit von ›rechtlichen‹ Regel-Wahrnehmungen und Anwendungs-Handlungen philosophisch begründet und darin als ›Rechtswissenschaft‹ ausweisbar sehen wollte, kurzum: der Philosoph als wahrer Rechtslehrer« (Rudolf Wiethölter, »Julius Hermann von Kirchmann (1802-1884). Der Philosoph als wahrer Rechtslehrer«, in: Kritische Justiz (Hg.), Streitbare Juristen. Eine andere Tradition. Jürgen Seifert zum 60. Geburtstag, Baden-Baden 1988, S. 44-57, hier S. 57). 4 Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten (1798), in: Werkausgabe in zwölf Bänden, Bd. XI, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frank­furt/M. 1977, S. 261-393, hier S. 290; hieran anschließend aus der Perspektive des südwestdeutschen Neukantianismus Emil Lask, »Rechtsphilosophie«, in: Wilhelm Windelband (Hg.), Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer, 2. verbess. u. erw. Aufl. Heidelberg 1907, S. 269-318, hier S. 277 f.: »[D]ie Philosophie […] bestimmt dem Recht seinen transzendentalen Ort.«

207

mal in beiden Rechtsphilosophien die Vernunft »ihrerseits wie ein Gerichtshof behandelt« wird.5 Solcherlei Philosophie des Rechts, die sich »selbst einer Autoritätsprämie [versichert], um sich so an erste Stelle zu setzen, in eine unberührbare Außenstellung«,6 stellt heute ein allzu durchsichtiges autologisches Manöver dar, verharrt als Philosophie im Gestern. Um dieses Reservat der erloschenen Vulkane alteuropäischer Rechtsphilosophie fliegt selbst die Eule der Minerva schon lange einen großen Bogen. Wie aber dann eine philosophische Kritik des Rechts formulieren? Ist Christoph Menkes philosophisches Anzetteln einer »Revolution der Rechte«7 angesichts der Amtsenthebung der Kontrollphilosophie ein von vorneherein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen? Seine Kritik des Rechts ein dem Recht äußerliches Scharmützel? Christoph Menke nichts weiter als ein Akteur aus Vaihingers fiktiver Welt des Als Ob?8 Revoluzzer statt Revolutionär? Im Gegenteil: Indem Christoph Menke dem Recht einen Widerwillen gegen sich selbst einimpft und den Zweifel des Rechts gegen sich selbst provoziert,9 spielt er die schärfsten Waffen aus, die die Philosophie zu bieten hat, um endlich in den rechtlichen »Muff einen Funken zu bringen, der ihn möglicherweise doch explodieren lässt«.10 Christoph Menkes Rechtsphilosophie als wahre Kritik des Rechts erschöpft sich hierbei nicht in einer Anregung zur juridischen Selbstbezweifelung, sondern schreibt sich subtil ins Recht ein, verfährt trojanisch, indem sie drei Schritte miteinander verknüpft: Erster Schritt: Menke distanziert sich von der traditionellen Rechtskritik, enthält sich der Versuchung herkömmlicher philosophisch-juridischer Interdisziplinarität, Gesellschaftstheorie als Rechtskritik zu praktizieren. Zweiter Schritt: Menke formuliert eine Rechtskritik als Gesellschaftstheorie, die im Innern des Rechts  5 Niklas Luhmann, Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?, Heidelberg 1993, S. 24.  6 Jacques Derrida, »Recht auf Einsicht«, in: Peter Engelmann (Hg.), Recht auf Einsicht, Graz u. a. 1985, S. I-XXXVI, hier S. XXVI.  7 Vgl. Christoph Menke, Kritik der Rechte, Berlin 2015, S. 381-407.  8 Vgl. Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus, Berlin 21913.  9 Christoph Menke, Recht und Gewalt, Berlin 2011, S. 102 f. 10 Theodor W. Adorno, Erziehung zur Mündigkeit, Frank­furt/M. 1971, S. 133-147, hier S. 137.

208

an- und die rechtliche Selbstreflexion freisetzt. Dritter Schritt: Menke stiftet an zu strategischer Litigation, übt eine interventionistische Rechtsphilosophie des Als Ob aus, deren Ziel eine revolutionäre Transformation des Rechts ist. I. Paradigm lost: »Gesellschaftstheorie als Rechtskritik«

Christoph Menkes erster zentraler rechtskritischer Zug ist es, sich der kantischen Versuchung zu widersetzen, die Philosophie als Richterin des Rechts einzusetzen und »Gesellschaftstheorie als Rechtskritik« zu praktizieren. Kritiken des Rechts, die »urteilend von außen« verfahren, hält er für falsch, dogmatisch, unwahr.11 Moralischer Universalismus von Kant bis Rawls, ökonomische Kritik des Rechts von Smith über Coase zu Posner und politische Kritiken des Rechts von Schmitt bis Morgenthau sind falsche Kritiken, dogmatische Kritiken, unwahre Kritiken, weil sie das Recht einseitig in den Dienst ihrer eigenen Profession stellen, weil sie ihre eigenen Bewertungsmaßstäbe »urteilend von außen« an die Stelle des Rechts setzen, sich in einem autologischen Manöver zu Rechtskontrolleuren erheben und die Widersprüche des Rechts nicht frei, sondern durch ihre eigenen Maßstäbe be-setzen. Übernimmt das Recht einseitig externe Kritikmaßstäbe, kapituliert es vor nicht-juridischen Theoriemodellen. Eine falsch verstandene Interdisziplinarität betriebe dann einen ungeprüften ­Theo­rieimporthandel ins Recht, um Recht nach den Leisten fremder Disziplinen und Rationalitäten zu bemessen. Im Paradigma der »Gesellschaftstheorie als Rechtskritik« unterwirft eine fehlgeleitete Interdisziplinarität das Recht externem Kalkül. Was die moralphilosophische, ökonomistische, politik-realistische Rechtskritik interdisziplinäre Rechtswissenschaft nennt, ist in der Perspektive der Kritik-Kritik nichts anderes als »counter-disciplinarity«, wie Martti Koskenniemi das prägnant formuliert hat.12 11 Christoph Menke, »Genealogie, Paradoxie, Transformation: Grundelemente einer Kritik der Rechte«, in: Andreas Fischer-Lescano, Hannah Franzki, Johan Horst (Hg.), Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, Tübingen 2018, S. 13-31, hier S. 17. 12 Martti Koskenniemi, »Law, Teleology and International Relations. An Essay in Counter-Disciplinarity«, in: International Relations 26:1 (2012), S. 3-34.

209

Christoph Menke tritt einem solchen »Imperialismus« rechtsexterner Denkmodelle, die sich außerhalb des Rechts platzieren, um das System »von da her aus den Angeln« zu heben,13 konsequent entgegen. Die Kolonialisierung des Rechts durch externe Kritik, eine »Gesellschaftstheorie als Rechtskritik« ist seine Sache nicht. II. Paradigmenwechsel: »Rechtskritik als Gesellschaftstheorie«

Statt »Gesellschaftstheorie als Rechtskritik« praktiziert Menke daher – das ist sein zweiter zentraler Schritt der Kritik – eine Umwertung gesellschaftlicher Wertsphären: Seine Rechtskritik ist »Rechtskritik als Gesellschaftstheorie«. Er streitet gerade für die Emanzipation des »Rechts vom Recht in den rivalisierenden Gesellschaftheorien«. Sein Recht beugt sich »nicht den Gesellschaftstheoriedesigns, sondern [ist] selbst eines«.14

1. Wahre statt vulgäre Kritik Eine solch trojanische Bewegung der Kritik des Rechts setzt im Innern der Rechtsform an. Menke bezieht sich dabei auf die von Marx in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie formulierte Differenz von vulgärer und anspruchsvoller Kritik. Marx distanziert sich von der vulgären Kritik wegen ihres falschen Umgangs mit gesellschaftlichen Widersprüchen, die von ihr wegrationalisiert würden: Die vulgäre Kritik verfällt in einen […] dogmatischen Irrtum. So kritisiert sie z. B. die Konstitution. Sie macht auf die Entgegensetzung der Gewalten aufmerksam etc. Sie findet überall Widersprüche. Das ist selbst noch dogmatische Kritik, die mit ihrem Gegenstand kämpft, so wie man früher etwa das Dogma der heiligen Dreieinigkeit durch den Widerspruch von eins und drei beseitigte. Die wahre Kritik dagegen zeigt die innere Genesis der heiligen Dreieinigkeit im menschlichen Gehirn. Sie beschreibt 13 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frank­furt/M. 1995, S. 414. 14 Zu diesem Paradigma des »Rechts als Gesellschaftstheorie« grundsätzlich: Rudolf Wiethölter, »Recht-Fertigungen eines Gesellschafts-Rechts«, in: Christian Joerges, Gunther Teubner (Hg.), Rechtsverfassungsrecht. Recht-Fertigung zwischen Privatrechtsdogmatik und Gesellschaftstheorie, Baden-Baden 2003, S. 1-21, hier S. 20.

210

ihren Geburtsakt. So weist die wahrhaft philosophische Kritik der jetzigen Staatsverfassung nicht nur Widersprüche als bestehend auf, sie erklärt sie, sie begreift ihre Genesis, ihre Notwendigkeit. Sie faßt sie in ihrer eigentümlichen Bedeutung.15

Vulgäre Kritik – so Marx hier – ringt also mit ihrem Gegenstand, ist selbst »dogmatisch«, untheoretisch, an der Genesis der gesellschaftlichen Widersprüche desinteressiert und verdeckt ihre eigenen Interessen. Eine Rechtskritik, die so verfährt, ist falsche Rechtskritik. Ganz in diesem Sinne, wenn auch unter anderen Theorievorzeichen, hat Luhmann die Critical Legal Studies in seiner Bielefelder Abschiedsvorlesung wegen fehlender gesellschaftstheoretischer Einbettung der Kritik bezichtigt, eine lediglich vulgäre Kritik zu praktizieren: So glaubt zum Beispiel die US-amerikanische »Critical Legal Studies«-Bewegung hinter der Formalität von Rechtsbegriffen (etwa: due process) substantielle Interessen zu erkennen, deren Einbettung in eine Gesellschaftstheorie aber nicht mehr versucht wird […]. Die kritische Pose erspart die Darstellung eines eigenen Interesses.16

Dabei nehme die »Universalisierung des Motivverdachts zu einer allgemeinen Beobachterattitüde […] diesem Gestus jedoch die ›kritische, aufklärerische Relevanz‹«.17 Wie nun aber – mit Marx gesprochen – »wahr kritisieren«? Wie – mit Luhmann formuliert – eine »kritische, aufklärerische Relevanz« entfalten, die nicht in die Falle untheoretischer Bestätigung politischer Motivverdächtigung und vulgärer Widerspruchswegrationalisierung tappt? Christoph Menke löst das in seiner Kritik der Rechte so, dass er den ganzen Weg zurück nimmt, um aus »dem Grund des Bestehenden einen radikalen Einspruch gegen das Bestehende« zu erheben.18 15 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: MEW, Bd. 1, Berlin 2006, S. 203-333, hier S. 296. 16 Niklas Luhmann, »›Was ist der Fall?‹ und ›Was steckt dahinter?‹«, in: ZfS 22:4 (1993), S. 245-260, hier S. 248; wie so häufig bei Luhmanns Abgrenzungsbewegungen gegen kritische Ansätze bleibt diese Kritik an den Crits freilich unbelegt, ist dekontextualisiert, undifferenziert und selbst kaum mehr als ein gedrucktes Vorurteil. 17 Ebd., S.  245. 18 Menke, Kritik der Rechte, S. 12.

211

Seiner Kritik geht es um eine radikale Demystifizierung der eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebe des Rechts, um eine Praxis der Entlarvung der »Realität als Repräsentation«.19 Das zielt auf Kontingenzermöglichung. Ganz ähnlich beschreibt auch Luhmann die Vorgehensweise der Kritik nicht als Artikulation eines Besserwissens, sondern eines Anderswissens: Man könnte aber einen Sinn darin sehen, Dasselbe mit anderen Unterscheidungen zu beschreiben und das, was den Einheimischen als notwendig und als natürlich erscheint, als kontingent und als artifiziell darzustellen. Man könnte damit gleichsam ein Überschußpotential für Strukturvariation erzeugen, das den beobachteten Systemen Anregungen für Auswahl geben kann.20

Eine solche Kritik hat keinen Ort außerhalb der Welt des Rechts, von dem aus sie dem Un-Gefugten der Rechtswelt moralisch, ökonomisch oder politisch Fug und Ruch und Mores lehren könnte, sondern legt im Innern der Rechtsform die Kontingenzen offen, um zur Varianz anzuregen.21 Wahre Rechtskritik, die solchermaßen den Möglichkeitsraum für Kontingenz öffnet, ist gesellschaftstheo­ retisch eingebettet; sie rekonstruiert die »Unterscheidungen der Einheimischen« – im Recht also die rechtsdogmatischen Unterscheidungen, die rechtliche Personenstruktur, die Rechtsprogramme usw. Sie erfasst die wesentlichen Widersprüche dieser Strukturen in ihrer eigentümlichen Bedeutung, um eine Erklärung für das Scheitern der herkömmlichen Unterscheidungen sowie Kontingenzanregungen liefern zu können.

2. Rechtliche Selbstreflexion Wahre Rechtskritik ist demnach ein Verfahren der S­ elbstreflexion im Recht über die Potentialität des Unrechts des Rechts. Die Norm der wahren Kritik, an der das Recht bemessen wird, ist keine moralphilosophische Grundnorm der Rechtfertigung, kein ökonomisches Basisgesetz wirtschaftlicher Nützlichkeit und kein Selbstermächtigungsgesetz der Politik, sondern eine tautologische 19 Menke, »Genealogie, Paradoxie, Transformation«, S. 16. 20 Luhmann, »›Was ist der Fall?‹ und ›Was steckt dahinter?‹«, S. 256. 21 Vgl. Elena Esposito, »Critique without crisis. Systems theory as a critical soci­ ology«, in: Thesis Eleven 143 (2017), S. 18-27.

212

Bewegung.22 Menke formuliert das in aller Deutlichkeit: »Die Norm der wahren Kritik ist das Paradox am Grund des Kritisierten: Sie kritisiert im Namen der Paradoxie.«23 Anders gesagt: Rechtskritik als Gesellschaftstheorie ist rechtliche Selbstreflexion im Recht auf die Paradoxie des Rechts. Sie übernimmt nicht spiegelbildlich eine externe Gesellschaftstheorie ins Recht, sondern entwickelt im Rahmen der »Kultur des Formalismus«, wie Koskenniemi das an anderer Stelle formuliert hat,24 ein Verständnis für die wesentlichen gesellschaftlichen Widersprüche im Recht selbst, setzt sie frei, radikalisiert sie, verdeckt sie nicht. In Marx’ Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie ist der »wesentliche Widerspruch« im Unterschied zu den unwesentlichen Widersprüchen, mit denen sich die Dogmatik beschäftigt, derjenige Widerspruch des Rechts, der das Recht in einen Widerspruch »in sich selbst« setzt.25 In seiner Antwort hat Marx diesen Widerspruch in sich selbst linkshegelianisch gedeutet, im Verhältnis von Staat und bürgerlicher Gesellschaft verortet und als Problem der Relationierung des Allgemeinen zum Besonderen verstanden. Gesellschaftliche Widersprüche als Movens zu begreifen, ist hierbei keine marxsche Marotte, sondern ein in der Gesellschaftstheorie weit verbreiteter Zug, den so unterschiedliche Ansätze wie Hegels Negationsdialektik, Webers Polytheismus und Simmels Konfliktproduktivität gemeinsam haben. Auch die Systemtheorie nimmt die realgesellschaftlichen Widersprüche ins Visier. Sie radikalisiert den Gedanken aber, denn es gibt nicht den einen Widerspruch, auch nicht Haupt- und Nebenwidersprüche, sondern nur systembereichsspezifische Widersprüche der Funktionssysteme »in sich«: Paradoxien. Re-entry der Unterscheidung in das Unterschiedene. Im Recht: Dass die Innenseite einer Unterscheidung (Recht) bestimmt, wie die Unterscheidung zu treffen ist (rechtlich), ist letztlich »haltlos«, »grundlos«. Der wesentliche Widerspruch des Rechts liegt im Recht selbst: Der wesentliche Widerspruch des Rechts ist die Paradoxie des Rechts. Angesichts dessen ist es Aufgabe der wahren Rechtskritik, den 22 Vgl. Gunther Teubner, »Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts?«, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 29:1 (2008), S. 9-36. 23 Menke, »Genealogie, Paradoxie, Transformation«, S. 21. 24 Koskenniemi, Gentle civilizer of nations, S. 500. 25 Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, S. 296.

213

entsetzlichen Zustand zu beenden, »daß unsere Rechts-Semantik […] den zeitgenössischen Anforderungen der zeitlosen RechtsParadoxie (in summa: eines in das Recht eingelassenen Kollisionsrechts über Recht und Nichtrecht) weder ›gut‹ tut noch ›gerecht‹ wird«.26 Bei der Entwicklung eines solchen Kollisionsrechts über Recht und Nichtrecht darf das Recht nicht vor den Herausforderungen der counter-disciplinarity kapitulieren und die vorgeschlagenen Kollisionsregeln aus anderen gesellschaftlichen Sphären blindlings übernehmen. Gefragt ist vielmehr ein distanzierter Umgang des Rechts mit Theorie, ein Theorietransfer ins Recht, eine Übersetzungsleistung, die der fremden Reflexionstheorie einen rechtlichen Eigenwert hinzufügt und so zu einer Konfrontation des Rechts mit seinem Anderen im Recht führt.27 Das setzt eine Weise der Verflechtung von Sozialtheorie und Rechtsdogmatik voraus, die das rechtliche Proprium nicht über die kolonialisierende Unterstellung rechtlicher Reflexionstheorie unter eine andere systemische Reflexionstheorie vernachlässigt, sondern als Selbstreflexion das Recht und damit auch sich selbst der Kritik aussetzt, sich die Potentialität vor Augen führt, dass es selbst nicht gerecht, sondern ungerecht sein kann.

3. Emanzipatorisches Ideal Wahre Rechtskritik, wie Menke sie formuliert, benennt diese Kluft zwischen Recht und Gerechtigkeit. Sie fordert das emanzipatorische Ideal ein, gibt der Selbstreflexion eine Richtung, um »wahre« von »falschen«, sinnvolle von sinnlosen Kontingenzanregungen der Kritik zu unterscheiden. Auch damit schließt Menke an Marx an. Aufgabe einer wahren Kritik ist es – so Marx’ »kategorischer Imperativ« in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie –, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«.28 Radikaler kann die 26 Wiethölter, »Recht-Fertigungen eines Gesellschafts-Rechts«, S. 14. 27 Vgl. Gunther Teubner, »Rechtswissenschaft und -praxis im Kontext der Sozialtheorie«, in: Stefan Grundmann, Jan Thiessen (Hg.), Recht und Sozialtheorie. Interdisziplinäres Denken in Rechtswissenschaft und -praxis, Tübingen 2014, S. 142164. 28 Marx, »Einleitung«, S. 385.

214

Parteinahme einer Rechtskritik für menschliche Emanzipation kaum ausfallen. Ziel einer solchen am emanzipatorischen Ideal ausgerichteten Rechtskritik ist es dabei, sich in der Kunst zu üben, »nicht dermaßen regiert zu werden«.29 Dies verweist auf nichts Geringeres als die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin. Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung.30

Entunterwerfung, Realisierung des klassischen emanzipatorischen Ideals – das sind die Ziele der wahren Kritik des Rechts. Einer solchen Rechtskritik geht es darum, die Selbstreflexion des Rechts darauf zu stoßen, dass das Recht nicht selten Teil der erniedrigenden und existenzvernichtenden Verhältnisse ist,31 dass Drohneneinsätze, also targeted killings, rechtlich begründet werden, dass Waffenlieferungen rechtlich abgewickelt werden, dass die Internetüberwachung rechtlich »gerechtfertigt« wird. Um dem Recht ein Gespür, eine Sensibilität für Ungerechtigkeit und die eigene Verstrickung in diese Ungerechtigkeit abzuverlangen, ist es gerade nicht hinreichend, linksschmittianisch Enklaven der Entrechtlichung als rechtsfreie Räume zu entlarven und zu skandalisieren. Das verkennt die Problemlage und nistet sich im Ergebnis in einem intellektuell bequemen Antijuridismus ein, dem letztlich auch Slavoj Žižek oder Alain Badiou frönen, wenn sie mit einem »Ausnahmezustand von links« liebäugeln.32 Wahre Rechtskritik nimmt vielmehr den Kampf ums Recht im Recht an 29 Michel Foucault, Was ist Kritik?, Berlin 1992, S. 12. 30 Ebd., S.  15. 31 Es liegt auf der Hand, dass ein Richter, der sich mit der Gerechtigkeit »im Reinen« fühlt und der von sich meint sagen zu können, dass ihm kein Fall einfalle, in dem er sein Urteil oder seinen Vergleichsvorschlag »im Nachhinein nicht mehr für gerecht gehalten hätte« (Jens Gnisa, Ende der Gerechtigkeit. Ein Richter schlägt Alarm, Freiburg 2017, S. 92), in dieser Perspektive ein mehr als nur unheimlicher Mensch ist. 32 Andreas Fischer-Lescano, »Wozu Rechtsphilosophie? Kritik des Hyper-Juridismus bei Christoph Möllers und Rainer Forst«, in: Juristenzeitung 73:4 (2018), S. 161-170.

215

und sucht die irreduzible Kluft zwischen Gerechtigkeit und dem Recht gerade nicht dadurch zu verringern, dass das Recht ausradiert wird, sondern dadurch, dass das Recht den Anforderungen der Gerechtigkeit ausgesetzt wird. Vor dem Hintergrund des klassischen emanzipatorischen Ideals die Ungerechtigkeit zu benennen, die Unangemessenheit des Rechts zu skandalisieren, das richtet nicht nach dem Maßstab besserwissender Rechtskritik, sondern ist eine Form der Dissidenz, die um die Kluft zwischen Gerechtigkeit und Recht weiß und daher fordert, neue, weniger gewaltförmige, weniger ungerechte Unterscheidungen zu versuchen und Strukturen zu etablieren, in denen auch die heute Exkludierten, diejenigen ohne Stimme, die Entrechteten berechtigt und der Teilnahme an der Disposition über die gesellschaftlichen Verhältnisse befähigt werden. III. Als Ob des Als Ob

Christoph Menke macht nun noch einen letzten Schritt wahrer Rechtskritik: Er ist ein kämpfender Denker für eine revolutionäre Transformation des Rechts.33 Wie diese Revolution des Rechts vollzogen werden kann, führt er paradigmatisch in seiner Kritik der subjektiven Rechte vor, deren Form subtil zu Gegenrechten verschoben wird. Er verzichtet in der Durchführung der Rechtskritik auf eine politisch-organisatorische Konkretisierung. Die Institutionen des neuen Rechts nicht zu benennen, ist aber nicht, wie man meinen könnte, politisch naiv, lässt auch nicht die politischen Kräfteverhältnisse unbeachtet, sondern nimmt das Recht als Arena gesellschaftlicher Erwartungsstabilisierung ernst, verschiebt die Kategorien in einer trojanischen Bewegung, um von Innen heraus transformatorisch zu wirken. Damit setzt Menke nicht verkürzt auf eine Revolution des politischen Systems, geht der Phantasmagorie gesellschaftlicher Gestaltungsfähigkeit eines sich für allzuständig erklärenden Politiksystems nicht auf den Leim, sondern schließt an Marx an, der 33 Vgl. die Formulierung bei Christoph Menke, »Warum Rechte? Eine Bemerkung zu Malte-Christian Gruber«, in: ZMK 2 (2016), S. 71-76, hier S. 73, der »Denker und Kämpfer von Rechten« in eins setzt.

216

bekanntlich auf die gesellschaftliche und nicht lediglich politische Revolution drängte, auch weil er die gesellschaftliche Zentralstellung der Politik zerbröckeln sah: Welches ist also die Macht des politischen Staates über das Privateigentum? Die eigne Macht des Privateigentums, sein zur Existenz gebrachtes Wesen. Was bleibt dem politischen Staat im Gegensatz zu diesem Wesen übrig? Die Illusion, daß er bestimmt, wo er bestimmt wird.34

Wider ein illusionäres Revoluzzertum, das die gesellschaftliche Revolution mit der politischen identifiziert, das gar in völliger Verkennung der transnationalen Dimension der Klassenkämpfe in sozialnationalistischer Manier territoriale Primärräume des Politischen propagiert, setzt Menke im Recht der Weltgesellschaft an, um eine revolutionäre und emanzipatorische Rechtstransformation zu denken und die emanzipatorische Kraft des Rechts der Gesellschaft freizusetzen. Dieses revolutionäre Erstreiten der Emanzipation realisiert sich nicht ohne eine Verknüpfung von Philosophie und Praxis.35 Der philosophische Beitrag zu dieser Emanzipation des Menschen muss sich mit revolutionären Rechtspraktiken verbinden und verbünden. Das Herz der Emanzipation sind diejenigen, die den Kampf ums Recht vor den Foren, in den Verfahren und in den Formen des Rechts führen. Sich transnational vernetzen, den Exkludierten eine Stimme geben, von den rural poor lernen, mit ihnen in Dialog treten, sich ihren Rechten in transnationalen Kämpfen zuwenden, sich ihrer Artikulation annehmen, mit strategisch ausgewählten Rechtsmitteln in Konflikte intervenieren und so die Menschenrechte aus dem verlogenen Diskurs politischer Sonntagsreden heraus- und in öffentliche Diskussionen über konkretes Unrecht sowie in harte juristische Prozeduren hineinführen – das sind die revolutionären Kämpfe. Sie gilt es auszuweiten.36 34 Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, S. 304 f. 35 Vgl. Marx, »Einleitung«, S. 391: »Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat«. 36 Aus der Fülle an Literatur vgl. Gayatri Chakravorty Spivak, »Righting Wrongs«, in: The South Atlantic Quarterly 103:2/3 (2004), S. 523-581; Boaventura de Sousa Santos, Sociología jurídica crítica para un nuevo sentido común en el derecho, Bogotá 2009; ders., »The Law of the Oppressed. The Construction and Reproduction of Legality in Pasagarda«, in: Law & Society Review 12 (1977), S. 5-126; zu strategischen Prozessführungen und juristischen Interventionen im Bereich der

217

Die Kämpferinnen und Kämpfer ums Recht der Weltgesellschaft berufen sich auf ein Recht, das regelmäßig weniger als Bastion der Subalternen denn der Herrschenden erscheint. Diesen entsetzlichen Zustand kann man aber nicht durch Rechtsverweigerung ändern. Die Entsetzlichkeit des Rechts kann allein durch eine Entsetzung des Rechts selbst beendet werden.37 Eine solche Transformation gelingt nur, indem man die bestehende Infrastruktur des Rechts nutzt, sie revolutionär umschreibt und ihre emanzipatorischen Elemente herausarbeitet. Es ist diese Transformation, die Menke im Auge hat und die eine Chance bietet, dem Unmöglichen unter Bezug auf das Mögliche im Vorgriff näher zu kommen: Die transformative Politik ist daher eine Politik der Verwendung (und damit Wendung) subjektiver Rechte gegen ihre eigene Formlogik. Sie ist eine Politik, die die bestehende Form der subjektiven Rechte argumentativ und strategisch so verwendet, als ob es sich bereits um die Rechte der neuen Form, um die Rechte eines anderen Rechts handelt. Die transformative Politik ist eine Politik des Vorgriffs. Sie antizipiert kontrafaktisch im bestehenden das andere Recht. Sie ist eine Politik der Fiktion (oder der Imagination).38

Die Revolution der Rechte, die Christoph Menke anzettelt und die es gilt, in konkrete Rechtskämpfe zu überführen, bleibt also nicht dabei stehen, den realexistierenden Juridismus als ein Als Ob zu entlarven,39 denn die rechtlichen Fiktionen »erscheinen […] als das was sie sind«:40 gedoppelte Realitäten. Diese »Re­ali­täts­ verdopplung«41 steigert Menkes Rechtskritik entgegen allem Realismus ein weiteres Mal durch das Insistieren auf einer weiteren Menschenrechte vgl. Wolfgang Kaleck, Miriam Saage-Maaß, Unternehmen vor Gericht. Globale Kämpfe für Menschenrechte, Berlin 2016, S. 112-118. 37 Menke, Recht und Gewalt, S. 59-109. 38 Menke, »Genealogie, Paradoxie, Transformation«, S. 30. 39 So aber zu den »praktischen Fiktionen« der Normativität Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob, S. 59-69; kritisch zu diesem Fiktionalismus, der die Realität der Rechtsfiktionalität verkenne, siehe Hans Kelsen, »Zur Theorie der juristischen Fiktionen. Mit besonderer Berücksichtigung von Vaihingers Philosophie des Als Ob«, in: Annalen der Philosophie 1 (1919), S. 630-658. 40 So bekanntlich zum Warenfetisch Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, in: MEW, Bd. 23, Berlin 1968, S. 87. 41 Elena Esposito, Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität, Frank­furt/M. 32014, S. 8.

218

Realität: Der Realität des Als Ob im Als Ob. In einem doppelten Als Ob, im Re-entry des (transformativen) Als Ob im (bestehenden) Als Ob, wird das neue Recht durch eine Politik der Form hervorgebracht. Die Rechtsrevolution vollzieht sich in revolutionärer Rechtspraxis, die im bestehenden Als Ob des Rechts das neue Als Ob des Rechts vorwegnimmt. Christoph Menke, dieser philosophische Rechtslehrer (des doppelten Als Ob des Rechts), er ist ein wahrer Revolutionär des Rechts der Gesellschaft.

219

Raymond Geuss Metaphysik ohne Bodenständigkeit Frisch entlassen aus der Irrenanstalt, trägt er im Gesicht noch die Spuren der jahrelangen Drogenabhängigkeit, der im Krieg erlittenen Unterernährung und der verschiedenen »Behandlungen«, die man ihm, als man ihn schließlich aus der Abteilung für »Unheilbare« herausgeholt hatte, gegen seinen Willen zufügte, vor allem: »Insulin-« und »Elektroschocktherapie« (58 mal, wobei man ihm einmal einen Rückenwirbel brach). Da sitzt er nun im Dreiviertelprofil und blickt mit funkelnden Augen auf einen unsichtbaren Punkt zu seiner Linken, jenseits des rechten Bildrahmens.1 Mit den langen, aufgespreizten, spindeldürren Fingern seiner linken Hand bedeckt er den Hals und stützt, die Fingerspitzen an der Backe, der Daumen unterm Kinn, die rechte Seite des Kopfes ab. Oder streichelt er sich? Oder beides? Auf alle Fälle sollte man nicht sagen, die Geste sei »zweideutig«, denn für Artaud hat das Gestenspiel seine eigene Genauigkeit und bedeutungsmäßige Kohärenz. »Zweideutig« kann eine Gebärde nur relativ zu ihrer möglichen Übersetzung in die Wortsprache sein, die, wie Artaud zu wissen meint, ohnehin radikal unzureichend ist (denn »tout vrai langage serait incompréhensible«2). Gegen den abgemagerten Kopf setzt sich ein übergroßes Ohr und eine lange, spitze, leicht nach unten gebogene Nase wie der Schnabel eines Tukans deutlich ab. Überhaupt hat das Gesicht etwas Raubvogelartiges. Das Lächeln eines altklugen maliziösen Kindes umspielt seine Lippen, denn er will uns eine große Entdeckung verkünden, eine Botschaft, die uns alles andere als willkommen sein wird: Er hat ein Mittel entdeckt, um das Gottesurteil abzuschaffen. Man schreibt den Januar 1948, und im Studio der Radiodiffusion française nahm 1 Das Bild – eine Photographie von Georges Pastier – ist im Internet zu sehen: Antonin Artaud Magie Noire, 〈https://www.youtube.com/watch?v=TXD_Ub_ b9pE〉 (das erste Bild in der Folge), letzter Zugriff 16.04.2018. 2 Schriften von Artaud zitiert nach der von E. Grossman besorgten Ausgabe: Antonin Artaud, Œuvres, Paris 2004, hier: Antonin Artaud, »Ci-Gît«, in: Œuvres, S. 1152-1163, hier S. 1160.

220

man auf Magnetophon die Stimme auf, die man, wenn man sie nur einmal gehört hat, nie vergisst… J’ai appris hier (il faut croire que je retarde, ou peut-être n’est-ce qu’un faux bruit, l’un de ces sales ragots comme il s’en colporte entre évier et latrines à l’heure de la mise aux baquets des repas une fois de plus ingurgités), j’ai appris hier3

Man ist zwar versucht, selbst zu übersetzen, und mit »Ik gihorte dat seggen« zu beginnen, aber folgen wir lieber der Übersetzung von Elena Kapralik:4 Ich habe gestern (man muß annehmen, daß ich den Zug verpaßt habe, oder vielleicht ist es bloß eine Falschmeldung, etwas von diesem schmutzigen Klatsch, wie er zwischen Ausguß und Abort weitergegeben wird, wenn die Kübel mit dem einmal mehr verschlungenen Essen gefüllt werden), ich habe gestern […] gehört

Der Text, der den Titel »Pour en finir avec le jugement de dieu« trägt, wurde von Artaud selbst (mit drei befreundeten Schauspielern) gesprochen, aber am Vorabend der bereits im Programm angekündigten Übertragung wurde die Sendung verboten, angeblich wegen ihres blasphemischen Inhalts und ihrer obszönen Ausdrucksweise. Die Tonbandaufnahme jedoch existiert noch.5 Zunächst einmal stellt sich die Frage, was es für einen Sinn hat, im Jahre 1948 die Abschaffung des jugement de dieu zu fordern. Le jugement de dieu war einmal das Gottesgericht: In einem strittigen Rechtsfall, bei dem die menschliche Vernunft versagte und keine ausreichenden Beweise vorlagen, »überließ man die Entscheidung Gott«, wie man so sagte. Als funktionierende juristische Institution ist das Gottesgericht aber spätestens seit dem 17. Jahrhundert nicht mehr in Gebrauch und braucht daher auch nicht abgeschafft zu 3 Antonin Artaud, »Pour en finir avec le jugement de dieu«, in: Œuvres, S. 16391654, hier S. 1639. 4 Antonin Artaud, »Schluß mit dem Gottesgericht«, in: Letzte Schriften zum Theater, übers. v. Elena Kapralik, München 2002, S. 7-29, hier S. 7. 5 Antonin Artaud, Pour en finir avec le jugement de dieu, Brüssel 1996 (CD).

221

werden. Nun ist allerdings »le jugement de dieu« nicht nur der Sammelbegriff für eine Reihe von konkreten, ursprünglich altgermanischen Rechtsvorgängen (wie Feuerprobe, Zweikampf, Wasserprobe oder Bahrgericht), sondern er kann auch in eschatologischer Abwandlung das sogenannte »Jüngste Gericht« (le dernier jugement) bezeichnen. Wenn aber christliche Denker und Dichter auf das Jüngste Gericht zu sprechen kommen, ergehen sie sich seit der Antike oft in besonders fantasievollen Erzählungen und makabren Bildern. Am Ende der Weltzeit, so erzählt der Dichter des althochdeutschen Muspilli, findet ein Zweikampf zwischen dem Antichristen und dem Propheten Elias statt. Der Prophet wird verwundet, und seine Bluttropfen entzünden die ganze Erde [so da]z eliases pluot [s]o inprinnant die perga, [e]hnihc in erdu muor var[s]uuilhit sih mano uallit,

in erda kitriufit, poum ni kistentit aha ar-truknent, suilozot lougiu der himil, prinnit mittilagart (Z. 50-54)

Wenn des Elias Blut auf die Erde träuft Dann beginnen die Berge zu brennen, kein einziger Baum Bleibt auf Erden stehen, die Flüsse vertrocknen Das Moor verschluckt sich, der Himmel verschwelt in der Lohe, der Mond stürzt – Mittgart brennt6

Nach dem so entstandenen Weltbrand werden alle Menschen vor den göttlichen Richterstuhl zitiert; keiner kann sich entziehen. So denne der mahti-go khunninc dara scal queman denne ni kitar parno nohhein ni a[l]lero manno [u]elih

daz m[a]hal kipannit chunno ki-lihaz den pan furi-sizzan ze demo mahale sculi. (Z. 31-34)

Wenn dann der mächtige König zum Thing (Gerichte) aufbietet, muß eine jede Sippe dahin kommen, Kein Mensch darf das Aufgebot versäumen, keinen gibt es unter den Menschen, der nicht zu diesem Gerichte müßte7 6 Althochdeutsche poetische Texte, ausgewählt, übers. u. kommentiert v. Karl A. Wipf, Stuttgart 1992, S. 238 f. 7 Ebd., S. 236 f.

222

Gott in seiner Eigenschaft als höchster Richter (»der suanari, der mahti-go khunnic«) fällt dann über jeden Einzelnen das Urteil, und gemäß der manichäischen Grundorientierung des westlichen Monotheismus handelt es sich dabei um ein streng dichotomisches Urteil: Heil oder Verdammnis; Seligkeit oder Verderben; die Seele fährt in den Himmel (»quemant […] in himilo rihi«, Z. 11-13), oder in die Hölle (»so uerit si za uuize«, Z. 62). Entsprechend ist dann auch der fromme Wunsch jedes Menschen: Inter oves locum praesta Et ab haedis me sequestra Gib mir einen Platz bei den Schafen, und halte mich von den Böcken fern8

Gottes Urteil ist immer ein klares »Ja« oder »Nein«: »Ja, Du kommst zu meinen Schafen« oder »Nein, fahre hin in die Hölle«. Eine dritte Möglichkeit ist nicht gegeben. Das Urteil ist in erster Linie eine Handlung, kein Satz – Gott nimmt die betreffende Person faktisch zu sich und den Seinen oder er verstößt sie. Ein Satz des entsprechenden Inhalts kann zwar formuliert werden, dass sich aber Gott einer (menschlichen) Sprache bediente, um sein Urteil auszusprechen, wäre schon ein Zugeständnis an unsere Unzulänglichkeit. Da auch diese eschatologischen Fantasien heute kaum mehr ernst genommen werden können, dürfte, so könnte man meinen, auch in dieser Hinsicht die Vorstellung vom jugement de dieu verjährt und erledigt sein. Christliche Vorstellungen haben im Westen aber im Allgemeinen und ganz besonders in diesem Falle mächtige historische Nachwirkungen gehabt. Le jugement de dieu lässt nämlich eine weitere kosmologisch-theologische Wendung zu, die philosophisch nicht unerheblich ist: Als allmächtiger Schöpfer der Welt (»Cot allmahtico/du himil enti erda ga-uuortahtos«9) sorgt Gott auch dafür, dass die Natur jeden beliebigen Grad an Bestimmtheit aufweist, den wir von ihr auch in unseren übertriebensten Fantasien verlangen könnten. Jeder Stern im Universum hat eine ganz bestimmte Temperatur, selbst wenn wir niemals Kenntnis von ihm nehmen. In unserer 8 Christliche Hymne »Dies irae«, Thomas von Celano (13. Jahrhundert) zugeschrieben. 9 Althochdeutsche poetische Texte, S. 238.

223

Welt herrscht dichotomische Bestimmtheit in jeder Hinsicht. Jede Eigenschaft kommt jedem Gegenstand zu oder nicht; ein Drittes ist ausgeschlossen. Eine traditionelle philosophische Konstruktion theologischen Ursprungs verbindet drei naheliegende Gedanken: Erstens, dass der Raum der reinen Möglichkeiten vor der Wirklichkeit einen logischen Vorrang hat, zweitens, dass die Positivität der Negativität vorhergeht, und drittens, dass es der – endliche oder unend­ liche – Geist ist, der die Negation in die Welt setzt. Zwei Steine, die friedlich in der Wüste nebeneinanderliegen, existieren einfach als die spezifische, konkrete Verwirklichung einer im logischen Raum angelegten Möglichkeit. Als solche zeigen sie an sich noch keine Spur einer »Negation«. Erst der Goldsucher definiert die vorgefundene Situation als eine, in der »Gold nicht da ist bzw. dieser Stein nicht aus Gold ist«.10 Wenn dem allerdings so ist, stellt sich sofort die Frage, wieso die Prinzipien der Logik und der Vernunft auf die durch Menschen noch nicht gesichtete Wirklichkeit überhaupt Anwendung finden. Hier springt der christliche Gott ein: als unendlicher, allmächtiger Geist erhält er alles Seiende in aufgehobener Negativität und sorgt so für die Allgültigkeit der Regeln der Logik und die universelle Anwendbarkeit der Vernunftkategorien. Bei Artaud ist es freilich anders. Wirklichkeit wird bei ihm relativ zur Körperlichkeit verstanden und nicht in erster Linie durch Positivität, sondern durch Negativität definiert. Wirklich ist, was sich meinem Körper aufdrängt, so dass ich es abwehren will. Ich kann mir vorstellen, dass ich nicht in Cambridge bin, sondern dass ich neben Artaud auf einer Bank in der Pariser Vorstadt Ivry sitze, oder dass wir beide, Artaud und ich, in Rom der Hinrichtung der Béatrice Cenci beiwohnen. Es kann ja »alles Mögliche« (auch Sichwidersprechendes) »in Gedanken« vorkommen und in gewisser Weise auch gelten, bis der Körper sein vordiskursives Kraftwort spricht, »Au-ah« – ein Laut, der oft durch Schmerz einfach aus dem Körper herausgepresst wird: ça veut

SORTIR: 10 Einen ähnlichen Gedanken findet man bei Artaud (»Pour en finir«, S. 16471650), allerdings handelt es sich hierbei um ein eher untergeordnetes Phänomen (»conscience«).

224

la présence de ma douleur de corps eine Sache, die […]

HERVORTRETEN will:

die Präsenz meines körperlichen Schmerzes11

Der so aus dem Körper ausgeschiedene Schmerz ist, als vorsprachliches »Nein«, auch potentiell der Keim eines Widerstandes. C’est qu’on me pressait jusqu’à mon corps et jusqu’au corps et c’est alors que j’ai tout fait éclater parce qu’à mon corps on ne touche jamais. Weil man mich bis zu meinem Körper und bis zum Körper bedrängte und dann habe ich alles explodieren lassen, denn an meinen Körper rührt man niemals.12 si fort qu’on me presse de questions et que je nie toutes les questions il y a un point où je me trouve contraint de dire non,    NON

so sehr hat man mich mit Fragen bedrängt, und wenn ich alle Fragen verneint habe, gibt es einen Punkt 11 Artaud, »Pour en finir«, S. 1650; ders., »Schluß«, S. 23. 12 Artaud, »Pour en finir«, S. 1652; ders., »Schluß«, S. 24 f.

225

wo ich mich gezwungen sehe, dann nein zu sagen,    NEIN.13

»Au-ah« ist noch keine Aussage.14 Der Negationsvorgang, der sich in dem Laut »Au-ah« Luft macht, ist die transzendentale Bedingung der Möglichkeit jeder Aussage. Es handelt sich um so etwas wie eine vorsprachliche Existenzsetzung. Plötzlich ist etwas da; es kann geurteilt werden. Grund der Logik und des Denkens ist also der Körper und seine Widerborstigkeit, ohne die es gar kein »nein« (und folglich gar keine Logik) geben würde.15 Nicht nur in der Schmerzerfahrung wird etwas aus dem Körper so herausgepresst, dass sich die körperliche Negation konkretisiert und verwirklicht. Dass ich scheiße, ist auch ein Negationsvorgang – diese Materie will ich nicht behalten. Offensichtlich existiert »Es«: ich muss Es ausscheiden. (Offensichtlich existiere auch ich, denn ich lehne es ab/scheide es aus.) Also gilt neben dem früher diskutierten »dolet mihi, ergo (aliquid) dolendum est, ergo est aliquid, ergo sum« jetzt auch »caco, ergo est (aliquid) cacandum, ergo est aliquid, ergo sum«.16 Dass Gott nicht scheißt, ist ein Beweis dafür, dass es ihn nicht gibt.

13 Artaud, »Pour en finir«, S. 1651; ders., »Schluß«, S. 23. 14 Nietzsches »Weh spricht: Vergeh!« (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: KSA, Bd. 4, hg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, Berlin 1980, S. 286) ist bereits eine theatralisierende Versprachlichung eines vorsprachlichen Ereignisses. 15 Man darf die These nicht dahingehend missverstehen, als würde sie ein »Recht des Leidens auf Ausdruck« (Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frank­ furt/M. 1966, S. 353) formulieren. »Schmerz« in diesem Sinne ist Teil der metaphysischen Konstitution der Wirklichkeit, keine normative Herausforderung. Wie wir zu eigenen Schmerzerfahrungen und denen anderer Menschen (und denen von Tieren) Stellung nehmen »sollten«, steht auf einem ganz anderen Blatt. Es geht auch nicht darum, »das Leiden beredt zu machen«. (Ebd., S. 27) 16 Es gibt natürlich auch einen dritten körperlichen Negationsvorgang, in dem Realität konstituiert wird; Artaud erwähnt ihn gelegentlich, ich werde aber aus Zeitgründen hier nicht weiter darauf eingehen: das Erbrechen (vomo, ergo vomendum est [aliquid], etc.). Vgl. Antonin Artaud, »Les nouvelles révélations de l’être«, in: Œuvres, S. 787-799, hier S. 788: »j’ai un corps qui subit le monde, et dégorge la réalité.« Die lateinischen Gerundivformen (vomendum) sind besonders geeignet, um das Ineinandergreifen von proto-deskriptiven, proto-voluntativen und proto-normativen Aspekten der ontologischen Grundprozesse auszudrücken.

226

Dieu est-il un être? S’il en est un c’est de la merde. S’il n’en est pas un il n’est pas. Or il n’est pas Ist Gott ein Wesen? Wenn er eines ist, ist es Scheiße. Wenn er keines ist, gibt es ihn nicht. Nun, es gibt ihn nicht17

Um diese Grundtatsache kann keine noch so differenzierte und dialektisch komplizierte Theologie herum. Wenn »negative Theologen« auf die Transzendenz Gottes pochen und behaupten, natürlich »gäbe es« keinen Gott (in dem normalmenschlichen Sinne des Wortes), denn »es gibt« beziehe sich nur auf Seiendes, Gott aber sei gerade kein Seiendes, sondern »jenseits des Seins«, so kann man das Argument gerade umkehren. Wie kann nämlich ein Nichtseiendes, ein »Nichts«, anbetungswürdig sein und »Gott« heißen? Und wie sollte so ein Nicht- oder Unwesen über Menschen zu Gericht sitzen können? Und auch wenn das absolute Nichts absolut nichtet, wieso handelt es sich bei dieser Nichtung um ein Urteil? Dass alles, was entsteht, wert sei, dass es zugrunde geht, ist zwar ein vernichtendes Urteil, aber es ist kein absolutes, sondern ein bedingtes Urteil, das sich lediglich auf das bezieht, was entsteht. Das Urteil im Gottesgericht ist keine absolute Nichtung, sondern es sollten eben Schafe und Böcke unterschieden werden. Auch wenn es faktisch keine Schafe gibt, weil alle Menschen sündhaft sind, brächte die Aufhebung der Möglichkeit eines positiven Urteils die Rede von einem Gottesgericht um ihren Sinn. Man könnte also, genau wie Artaud, diesen Gott, diese absolute Leere, mit dem Marsch eines unermesslichen Heeres von Filzläusen vergleichen. [Dieu est] comme le vide qui avance avec toutes ses formes dont la représentation la plus parfaite est la marche d’un groupe incalculable de morpions. 17 Artaud, »Pour en finir«, S. 1646; ders., »Schluß«, S. 17.

227

[Gott ist] wie die Leere, die mit allen ihren Formen voranschreitet, deren trefflichste Repräsentation der Vormarsch einer unübersehbaren Gruppe von Filzläusen ist.18

Der After ist demgemäß für Artaud ein Realitätsmesser ohnegleichen, da die Wirklichkeit selbst scheißlich/scheußlich ist, und auch ein Erkenntnisinstrument, denn Möglichkeiten kann ich beliebig herausfurzen, aber unter normalen Bedingungen wird das Arschloch klar zwischen Blindgängern und Volltreffern unterscheiden können. Metaphysisch gesehen: ohne Scheiße kein Furz; ohne Wirklichkeit (das heißt körperlich negierte Materie) keine Möglichkeiten. Alors l’espace de la possibilité me fut un jour donné comme un grand pet que je ferai Nun, der Raum der Möglichkeit wurde mir eines Tages wie ein großer Furz gegeben, den ich lassen werde19

Wenn es kein Gottesgericht gibt, gibt es keinen Himmel und keine Hölle, kein absolutes Oben und kein Unten. Der arme Lenz kann zwar immer noch bedauern, dass er nicht auf dem Kopf gehen kann, und auch wir können ihn weiterhin bedauern, aber Celans 18 Ebd. Wieso gerade Filzläuse? Da die Filzlaus faktisch ein blutsaugender Parasit ist, bedarf der bildliche Gebrauch des Wortes »morpion«, um Schmarotzer im Allgemeinen (auch im geistigen) Sinne zu bezeichnen, wohl keines weiteren Kommentars, aber Artaud fügt dem eine weitere Dimension zu. So heißen bei ihm beispielsweise die Römer ein Volk von Filzläusen, weil sie »niemals eine andere Idee gehabt haben, als ihre Besitztümer und Schätze unter Berufung auf moralische Prinzipien zu verteidigen.« (»[Les Romains], ce peuple d’esclaves, de marchands, de pirates, incrusté comme des morpions sur la terre des Étrusques; qui n’a jamais fait au point de vue spirituel que de sucer le sang des autres; qui n’a jamais eu d’autre idée que de défendre ses trésors et ses coffres avec des préceptes moraux dessus« [Artaud, »Héliogabale ou l’anarchiste couronné«, in: Œuvres, S. 405-474, hier. S. 407].) 19 Artaud, »Pour en finir«, S. 1649; ders., »Schluß«, S. 21.

228

Anmerkung, dass für denjenigen, der auf dem Kopf geht, der Himmel ein Abgrund ist,20 ist gegenstandslos geworden. In einer Welt ohne hierarchisch geordnete Vertikalität hat auch »Revolution« eine andere Bedeutung, etwa eine Umkehrung der Richtung in der waagerechten Dimension: L’homme est malade parce qu’il est mal construit. Il faut se décider à le mettre à nu pour lui gratter cet animalcule qui le démange mortellement, dieu […] Lorsque vous lui aurez fait un corps sans organes, alors vous l’aurez délivré de tous ses automatismes et rendu à sa véritable liberté. Alors vous lui réapprendrez à danser à l’envers comme dans le délire des bals musette et cet envers sera son véritable endroit. Der Mensch ist krank, weil er schlecht konstruiert ist. Man muß sich dazu entschließen, ihn bloßzulegen, um ihm diese Mikrobe abzukratzen, die ihn zu Tode reizt: Gott […] Wenn Sie ihm einen Körper ohne Organe hergestellt haben, dann werden Sie ihn von all seinen Automatismen befreit und ihm seine wirkliche Freiheit zurückerstattet haben. Dann werden Sie ihm wieder beibringen, wie im Delirium Musetten verkehrt herum zu tanzen, und diese Kehrseite wird seine richtige Seite sein.21

Im Tanz gibt es kein Oben und Unten, sondern nur ein Vorwärts und Rückwarts, womöglich ein Rechts und Links, eine Dringlichkeitsordnung – dieser Schritt vor diesem Schritt – und eine Richtung, aber keine Hierarchie. Wie ein gut gebautes Auto hat ein geübter Tänzer einen Vorwärts- und einen Rückwärtsgang, und er kann – und muss – steuern. Wer tanzt, lässt sich gerade nicht passiv-kontemplativ treiben. 20 Paul Celan, Der Meridian, in: Werke. Tübinger Ausgabe, Frank­furt/M. 1999, S. 7. 21 Artaud, »Pour en finir«, S. 1654; ders., »Schluß«, S. 28 f. [dt. Übersetzung modifiziert].

229

Und immer Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Vieles aber ist Zu behalten. Und Noth die Treue. Vorwärts aber und rückwärts wollen wir Nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie Auf schwankem Kahne der See.22

»Noth die Treue«, warum? Warum der Sehnsucht ins Ungebundene widerstehen? Also weder Lenz noch Hölderlin. Die Richtung aber ist »à l’envers« (verkehrt) also vermutlich rückwärts. Wie weit zurück? Dass Artaud die Welt der modernen Technik ablehnt, nimmt nicht wunder. Interessant ist aber seine Deutung dieser Welt; in ihr spielt nämlich die biotechnische Behandlung und Formung des Menschen eine zentrale Rolle. Den Amerikanern und den Russen, den zwei vom Technologiewahn am stärksten betroffenen Völkern, schreibt er eine Theologie zu, in der Kernenergie, Biotechnik und filzlausartige Heuchelei gleichmäßig vertreten sind: ce qu’on a appelé les microbes c’est dieu, et savez-vous avec quoi les Américains et les Russes font leurs atomes? Ils les font avec les microbes de dieu. was man Mikroben genannt hat, ist Gott, und wissen Sie, womit die Amerikaner und die Russen ihre Atome herstellen? Sie stellen sie mit den Mikroben Gottes her.23

Der »kranke und schlecht konstruierte Mensch« muss umgebaut werden, aber damit wäre auch die Realität selbst verändert. Aus diesem Grund muss man die von den Amerikanern veranstalteten Experimente zur künstlichen Befruchtung, die am Anfang des Werkes ironisiert werden, ernst nehmen, denn es handelt sich um ein Volk, das alles daransetzt, einer direkten Begegnung mit den Grundphänomenen des Lebens aus dem Wege zu gehen. Wer ohne Beischlaf befruchten will, immer mit einem Riesenaufwand an 22  Friedrich Hölderlin, »Mnemosyne (Dritte Fassung)«, in: Sämtliche Werke, Bd. 2.1, hg. v. Friedrich Beissner, Stuttgart 1951, S. 197 f., hier S. 197. 23 Artaud, »Pour en finir«, S. 1653; ders., »Schluß«, S. 27.

230

mechanischen Geräten Krieg führt, um sich nur nicht selbst der geringsten Gefahr auszusetzen, und mit Formen des Ersatzrausches vorliebnimmt,24 kennt offensichtlich das verklärende Feuer der unmittelbaren menschlichen Erfahrung nicht. Erfahrungsarmut impliziert aber Realitätsverlust. Handelt es sich hier aber, so könnte man fragen, nicht um bereits fadenscheinige und abgetragene Röcke, Mäntel und Hüte aus dem großen Kleiderschrank der gesamteuropäischen Reaktion? So schlug Heidegger, wenn auch weniger lyrisch, im Jahre 1935 ähnliche Töne an: Dieses Europa, in heilloser Verblendung immer auf dem Sprunge, sich zu erdolchen, liegt heute in der großen Zange zwischen Russland auf der einen und Amerika auf der anderen Seite. Russland und Amerika sind beide, metaphysisch gesehen, dasselbe; dieselbe trostlose Raserei der entfesselten Technik und der bodenlosen Organisation des Normalmenschen.25

Nun weiß man im Falle Heideggers, wie er sich das Gegenteil der »bodenlosen Organisation« vorstellt, wenn man den von ihm verfassten Eintrag im Deutschen Führerlexikon (1934/5) liest:26 »Heidegger, Martin […] entstammt allemannisch-schwäbischem Bauerngeschlecht, das mütterlicherseits (Kempf ), auf demselben Hof ansässig, lückenlos bis 1510 feststeht«. Sind also etwa Jäger und Sammler, die diese spezifische historische Konfiguration der Besitzverhältnisse nicht kennen, zwangsläufig seinsvergessen? Artaud kann sich weder mit dem kriegssüchtigen, durch künstliche Befruchtung erzeugten Ideal-Amerikaner noch mit der süddeutschen Bauernidylle anfreunden. Er will weder der Hirt des Seins werden noch dessen Anrufbeantworter. j’aime mieux le peuple qui mange à même la terre le délire d’où il est né, je parle des Tarahumaras mangeant le Peyotl à même le sol pendant qu’il naît 24 Artaud, »Pour en finir«, S. 1641; ders., »Schluß«, S. 11. 25 Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1957, S. 28; angeblich (laut »Vorbemerkung«) ein Text, der »im Sommersemester 1935 an der Universität Freiburg i.Br.« gehalten wurde (ebd., S. 1). 26 Zitiert nach Guido Schneeberger, Nachlese zu Heidegger: Dokumente zu seinem Leben und Denken, Bern 1962, S. 237.

231

[Vor den Amerikanern] ziehe ich das Volk vor, das von der Erde weg das Delirium weg ißt, aus dem es geboren wurde, ich rede von den Tarahumaras, die den Peyotl vom Boden weg essen, während er keimt27

Wer auf der Erde hockt beim Essen und Peyotl verspeist, kann es hinsichtlich der Verbundenheit mit den Ursprungsmächten sicherlich mit jedem schwäbischen Ackerbauern aufnehmen. Weder das Nomadensein, die ewige Beweglichkeit, noch die Verkehrtheit, noch der wahnhafte Rausch sind ein Einwand. Die Abschaffung des Gottesgerichts ist keine Überwindung der Metaphysik. Artaud ist Atheist und Antitheologe, aber im Gegensatz zu vielen anderen hat er nicht nur keine Angst vor Metaphysik, sondern er beschreibt sogar sein Vorhaben in »Pour en finir avec le jugement de dieu« als die Suche nach einer Sprache, die in der Lage wäre, »die höchsten metaphysischen Wahrheiten« (»les vérités métaphysiques les plus élevées«) zu übermitteln.28 Nichtsdestoweniger steht am Ende seines Textes keine Aussage über »das Wesen des Menschen«, sondern eine bedingte Zukunftsprognose (»réap­ prendrez … sera«), der Ausdruck einer Hoffnung: Da es kein Gottesurteil gibt, hat der Mensch keinen »an sich« wahren Ort, aber wenn einmal die »schlechte Konstruktion« des Menschen korrigiert ist, kann auch die verkehrte Position im ständig sich verändernden, wahnhaften Rauschtanz der Welt »mein Ort« werden.29

27 Artaud, »Pour en finir«, S. 1641; ders., »Schluß«, S. 11. Es gibt kleine Abweichungen zwischen dem gedruckten Text und der von Artaud selbst gesprochenen Version (vgl. Fußnote 5 oben). Statt »le peuple qui mange […] le délire« sprach Artaud 1948 »le peuple qui mange […] la terre«. Wer die Erde selbst isst, braucht keine Bodenständigkeit. 28 In einem Brief, den er drei Tage nach der ausgefallenen Sendung schrieb (vgl. Antonin Artaud, »À René Guilly [7 février 1948]«, in: Œuvres, S. 1672-1673, hier S. 1672). 29 Herrn Dr. Gérald Garutti, dem ich meine Kenntnis der Schriften Artauds verdanke, sei hier mein besonderer Dank ausgesprochen.

232

Beate Rössler Autonomie im Konflikt.  Bemerkungen zum Problem der Einheit der Person im Handeln Dass Menschen sich die Frage stellen, wie zu leben gut sei, gehört zur Struktur des menschlichen Lebens. Diese Einsicht ist seit Sokrates die fundamentale Einsicht der Ethik, und auch wenn nicht jede einzelne Person sich immer diese Frage stellt, so bleibt sie doch ein strukturelles Merkmal unseres Lebens. Man kann diese Frage die praktische Frage nennen, und in neuerer Zeit hat vor allem Bernard Williams darauf verwiesen, in welcher Weise die sokratische Frage grundlegend ist für die Ethik.1 In der Moderne gewinnt diese sokratische Frage an Schärfe jedoch erst dadurch, dass sie mit der Idee von Autonomie verbunden wird. Denn erst mit der Idee von Autonomie kommt eine genauere inhaltliche Richtung in diese formale Frage danach, wie zu leben gut sei. Autonomie nämlich zielt darauf, sich immer wieder zu fragen, oder doch fragen zu können, ob dieses Leben, das ich lebe, wirklich das Leben ist, das ich selbst leben will und das mein eigenes ist. Autonom sind wir zwar immer in der Auseinandersetzung mit anderen, immer in sozialen Kontexten – autonom sind wir nicht völlig isoliert –, doch liegt die Verantwortung für die Vorhaben, die wir verfolgen und mit denen wir uns beschäftigen, bei uns. Dabei ist es vor allem ein Aspekt, der für einen solchen Begriff von Autonomie kennzeichnend ist: das notwendige Moment der selbständigen Reflexion. Denn von Personen wird verlangt oder doch erwartet, unabhängig von den Vorgaben anderer selbst zu überlegen, wie sie leben und wer sie sein wollen. Diese Reflexion erfordert damit eine gewisse Distanznahme zum eigenen Leben, zu den eigenen Vorhaben, zur eigenen Situation. Diese distanznehmende Prüfung im Begriff der Autonomie verweist wiederum auf dessen sokratische Tradition: Es ist das ungeprüfte Leben, das es nicht wert ist, gelebt zu werden. Reflexion, Prüfung ist folglich 1 Vgl. Bernard Williams, Ethik und die Grenzen der Philosophie, Hamburg 1999, S. 25-42.

233

eine Voraussetzung des guten Lebens.2 Dies bedeutet auch, dass die Gründe, die Personen für ihr Handeln haben, ihre eigenen sein müssen – dass man es eben immer so mache und es deshalb ein guter Handlungsgrund sei, ist keine gültige Antwort. In ebendieser spezifisch modernen Verbindung zwischen der praktischen Frage und der Selbstbestimmung liegt auch die Möglichkeit eines sinnvollen Lebens beschlossen: Denn nur ein Leben, das wir selbst leben wollen, das wir selbst bestimmen, das wir uns selbst angeeignet haben, kann auch ein sinnvolles Leben sein. Es ist jedenfalls eine notwendige – wenn auch keine hinreichende – Bedingung des sinnvollen Lebens, dass es mein Leben ist, das ich lebe, dass es also kein von anderen bestimmtes Leben, kein von außen oktroyierter Sinn ist. Und insofern es mein eigenes Leben ist, weist es als solches auch eine (gewisse) Einheit, Integriertheit auf – auch wenn es fragmentiert ist, muss es doch als meines eine Einheit haben. Erläutert man die sokratische Frage, wie zu leben gut sei, in dieser grundlegenden Weise mittels der Idee von Autonomie, dann geht man damit über Kant und eine Theorie nur moralischer Autonomie hinaus: Die kantische Identifizierung von Autonomie mit Freiheit, Vernunft und Moral – also mit der Idee der Selbstgesetzgebung – ist dann nicht mehr überzeugend. Mit einer Theorie personaler, ethischer Autonomie wird es gerade möglich, auch ethische und moralische Konflikte zu konzeptualisieren, da es keine schlichte begriffliche Verbindung zwischen dem autonomen und dem moralischen Handeln gibt.3 Was mich im Folgenden interessiert, sind die Aspekte dieser Idee von Autonomie, die direkt auf die autonome Wahl und Entscheidung zielen. Reflexion, Distanznahme, Einheit der handelnden Person: All dies sind Charakteristika, die im Zentrum der Autonomie stehen und die unschwer idealisiert oder in einem zu anspruchsvollen Sinn verstanden werden können, so dass sie dann 2 Williams weist hierauf hin (vgl. ebd., S. 34). Allerdings schlägt er (wenig überraschend) keine Brücke zwischen dem ungeprüften Leben und der Idee von Autonomie. 3 Die überwiegende Mehrheit der gegenwärtigen Konzeptionen von Autonomie nimmt dies auch an; eine Ausnahme bildet beispielsweise Christine Korsgaard; vgl. etwa John Christman, The Politics of Persons. Individual Autonomy and SocioHistorical Selves, Cambridge 2009.

234

mit dem tatsächlichen autonomen Leben nicht mehr viel zu tun zu haben scheinen. Mir geht es jedoch bei der Frage nach der Möglichkeit individueller Autonomie immer um die Frage nach einem gewissermaßen alltagstauglichen Begriff, der nicht als regulative Idee, sondern als plausible Selbst- und Fremdzuschreibung begriffen werden kann. Deshalb möchte ich im Folgenden Bruchstellen im Zentrum dieser autonomen Wahl nachgehen, die mögliche Grenzen des autonomen Handelns aufweisen, aber zugleich zeigen sollen, wie Autonomie trotz tiefer Entscheidungskonflikte der handelnden Person möglich ist – ohne die kühle Distanznahme in der Reflexion und ohne die vollkommene Identifizierung mit den eigenen Vorhaben. Es geht mir also um die Spannung von Einheit und Konflikten im Prozess autonomen Entscheidens und um die Frage, was es heißt, sich autonom zu entscheiden. Um dies besser verstehen und interpretieren zu können, will ich zunächst Jonathan Lears Begriff der ironischen Erfahrung zu Hilfe nehmen und ihn – und die genannte Spannung – mittels Christine Korsgaards Kritik an Lear genauer diskutieren. Dann will ich anhand von Iris Murdochs Begriff der Aufmerksamkeit gewissermaßen von der gegenüberliegenden Per­ spektive diese autonome Entscheidung in den Blick nehmen. Beide Positionen, die von Lear wie die von Murdoch, werde ich mit Hilfe eines literarischen Beispiels verdeutlichen, nämlich einer Roman­ trilogie von Jane Gardam. Enden möchte ich mit einem Blick auf das Ergebnis des konflikthaften Entscheidens anhand des Begriffs der Entfremdung. Autonomie setzt voraus, dass wir uns als einheitliches Selbst in der Vielheit unserer sozialen Rollen, als Identität begreifen können, auch wenn es immer verschiedene praktische Identitäten sein werden, die wir zu einer Einheit, zu einer Person zusammenbinden müssen. Wäre dies nicht möglich, könnte eine Person die Frage, wie für sie zu leben gut sei, nicht auf eine selbstbestimmte Weise stellen und beantworten. Brüche in dieser Einheit stellen also tendenziell die Möglichkeit von Autonomie in Frage. Solche Brüche oder Störungen können sich zum Beispiel durch fundamentale Ambivalenzen, durch den Konflikt zwischen verschiedenen kulturellen Identitäten oder auch dadurch ergeben, dass wir den Sinn und die Möglichkeit einer bestimmten praktischen Identität oder sozialen Rolle fundamental in Frage stellen. In diesen Fällen sehen 235

wir uns einem grundlegenden Konflikt in uns selbst gegenüber, so dass sich die Frage stellt, wie man damit umgehen soll. Ich will eine solche Möglichkeit der grundlegenden Verunsicherung im Hinblick auf eine bestimmte soziale Rolle anhand der Idee der ironischen Erfahrung oder ironischen Unterbrechung diskutieren, die Jonathan Lear in seinem Buch A Case For Irony beschreibt.4 Auch Lear geht es um die Frage, wie zu leben gut sei, was es heißt, in der Vielfalt sozialer Rollen ein gutes Leben zu leben. Und es geht ihm darum, wie man den Zweifel oder das Unvermögen, die eigene Rolle auszufüllen und zu leben, am besten beschreibt, also das Streben danach, ein guter X zu sein und dabei von Konflikten beherrscht und verunsichert zu werden. Lear führt uns mit dem Begriff der ironischen Erfahrung – das heißt der ironischen Unterbrechung unserer sozialen Rollen oder praktischen Identitäten – nicht nur vor Augen, was es bedeutet, darüber nachzudenken, eine gute Dozentin, Mutter oder Freundin zu sein – und wie man daran zweifeln kann, was es heißt, diese Rolle gut zu erfüllen. Er geht noch einen Schritt weiter und beschreibt die ironische Erfahrung als eine, die uns darin verunsichert, diese praktische Identität, diese Rolle überhaupt als eine zu begreifen, die erfüllt, die sinnvoll gelebt werden kann. Dann zweifeln wir nicht mehr daran, eine gute Freundin oder Philosophin zu sein, sondern an diesen Rollen und diesen Identitäten selbst.5 So interpretiert Lear die ironische Frage von Kierkegaard, die sein ganzes Buch als Leitthema durchzieht: Gibt es unter allen Christen einen Christen?6 Die Frage ist dann nicht mehr, was es bedeutet, ein guter Christ zu sein, sondern: Gibt es überhaupt eine mögliche Beschreibung dessen, was es heißt, ein (guter) Christ zu sein? Kann es so etwas wie einen Christen geben? Die ironische Erfahrung ist immer eine in der ersten Person und in der Gegenwart, denn sie ist Lear zufolge etwas, »das mich jetzt unterbricht«.7 Sie eröffnet einen Abgrund zwischen meinem Anspruch oder dem Streben, die Rolle auszufüllen, und der Möglichkeit, dieses Streben zu einem Ende zu bringen. Lear unterschei4 Jonathan Lear, A Case for Irony. The Tanner Lectures on Human Values, Cambridge/Mass. 2011. 5 Vgl. ebd., S. 3-42. 6 Vgl. ebd., S. 12. 7 Ebd., S.  17.

236

det damit (am Beispiel der Rolle der Dozentin) drei Formen des Sich-zu-sich-Verhaltens in einer sozialen Rolle: zum Ersten der alltägliche Versuch, eine gute Dozentin zu sein (ich bereite mich gut vor, weil ich eine gute Dozentin sein will); zum Zweiten die reflektierte Distanznahme (ich trete einen Schritt zurück und frage, ob dies wirklich das ist, was eine gute Dozentin tun würde); und zum Dritten die ironische Unterbrechung, das heißt die Unmöglichkeit, eine solche Reflexion nicht als endlose zu begreifen. Das Beispiel, das Lear ausführlich beschreibt und auf das er immer wieder zurückkommt, ist tatsächlich das des Dozenten beim Korrigieren von Seminararbeiten, das Innehalten und das Nachdenken darüber, ob dies eigentlich das ist, was einen guten Dozenten ausmache; und das weitere Ad-absurdum-Führen dieses Reflexionsprozesses hin zum unendlichen Sich-öffnen dieser Frage: Wer ist unter allen Dozenten ein Dozent? Diese ironische Erfahrung ist notwendig, so Lear, wenn wir als Menschen gut sein wollen: Zur »menschlichen Exzellenz« gehört, »dass man die Fähigkeit entwickelt, auf angemessene Weise das eigene Verständnis dessen, was es heißt, als Mensch exzellent zu sein, zu unterbrechen«.8 Deshalb würde das gute Leben (human flourishing) zumindest auch darin bestehen, die Fähigkeit, solche Erfahrungen des Ironischen, des Unheimlichen zu machen, zu kultivieren.9 Die Einheit der selbstbestimmt handelnden Person gerät, das ist die grundlegende Idee, durch die ironische Erfahrung immer wieder aus den Fugen.10 Nun kann man diese Idee der ironischen Unterbrechung jedoch auch grundlegend missverstehen und unterschätzen. Dies zeigt Christine Korsgaard in ihrem Kommentar, und es ist hilfreich, sich dieses Missverständnis genauer anzuschauen, um die learsche Idee noch besser zu begreifen. Korsgaard meint, es gehe Lear bei der  8 Ebd., S.  37.  9 Vgl. ebd. 10 Deshalb kann Cora Diamond in ihrem Kommentar zu Lear auch darauf verweisen, dass es konstitutiv sei für die Begriffe – oder auch für die praktischen Identitäten –, mittels derer wir unser Leben grundsätzlich verstehen, dass sie ironisch unterbrochen, gebrochen werden können (vgl. Cora Diamond, »Thoughts about Irony and Identity«, in: Lear, A Case for Irony, S. 128-153, hier S. 128). Vgl. zum Zusammenhang von Ironie und Selbstbestimmung auch Christoph Menke, Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frank­furt/M. 1996, S. 187-191.

237

ironischen Distanznahme und Reflexion um genau die Form der kantischen Reflexion, die man Kritik nennen könne. Denn um die Möglichkeit des Handelns auch nach oder aufgrund oder in einer ironischen Erfahrung erklären zu können, müssen wir laut Kors­ gaard immer schon von der Einheit der handelnden Person ausgehen: Der Konflikt zwischen dem Streben und der Verunsicherung dürfe, ja könne nicht so interpretiert werden, dass diese Einheit gefährdet würde. Korsgaard schreibt: Einheit ist erforderlich für Handlungsfähigkeit, denn um unsere Bewegungen als Handlungen sehen zu können, müssen wir diese Bewegungen als solche verstehen, die von uns selbst als ganze herrühren und nicht als etwas, das einfach in oder auf uns funktioniert. Handeln bedeutet […], selbst vollkommen hinter den eigenen Bewegungen zu stehen, und dies kann man nur, insofern man eine Einheit ist.11

Ironie ist deshalb für Korsgaard genau dies: die reflexive Distanz zum und im Moment der Entscheidung, um dann als einheitliche Person handeln zu können. Doch ist dies in der Tat ein Missverständnis: Es ist genau dieser Begriff von Einheit, den Lear kritisiert. Sokrates, so schreibt er, sei kein Zen-Meister (für den nämlich nichts ein Konflikt ist).12 Die reflexive Distanz zur Rolle, die uns häufig – normalerweise – dazu bringt, gut zu handeln, kann und muss genau dann überschritten werden, wenn es um eine grundlegende Unsicherheit im Entscheiden geht. Sie zeigt sich in Erfahrungen, die man ironische Erfahrungen nennen muss, weil sie Erfahrungen sind, die einen aus dem Alltag herausreißen, den Alltag unterbrechen, und zwar gerade den Alltag der reflexiven Distanznahme beim Handeln. Die Einheit, um die es dann allenfalls gehen kann, ist die Einheit in Konflikten oder mit Konflikten, und genau dies ist es, was die ironische Erfahrung ausmacht. Korsgaard unterschätzt die Radikalisierung der kritischen Distanz in der ironischen Unterbrechung und sie unterschätzt damit die Konflikte, die unser Handeln begleiten können, ohne dass sie das Moment von Autonomie dabei verlieren würden. Wenn sie Lears ironische Unterbrechung mit der schlichten reflektierenden Distanznahme 11 Vgl. Christine Korsgaard, »Self-Constitution and Irony«, in: Lear, A Case for Irony, S. 75-83, hier S. 76, meine Übersetzung. 12 Jonathan Lear, »Irony, Reflection, and Psychic Unity. A Response to Christine M. Korsgaard«, in: ders., A Case for Irony, S. 84-102, hier S. 86.

238

identifiziert, nimmt sie sich die Möglichkeit, grundlegende Konflikte, die Personen erfahren und die auch im selbstbestimmten Handeln nicht einfach verschwinden, phänomenal angemessen zu interpretieren. Dabei ist die ironische Unterbrechung noch nicht einmal an die direkte vorgängige Reflexion gebunden. Sie kann eine Person auch überfallen und so die soziale Identität, um die es geht – oder die Handlung, die Entscheidung, die diese Identität erfordert – grundsätzlich in Frage stellen. Ich will im Folgenden, wie angekündigt, ein Beispiel für eine solche fundamentale Infragestellung und eine mögliche Interpretation solcher Konflikte gemeinsam mit der Frage diskutieren, was sie für das gute Leben bedeuten. Das Beispiel stammt aus Jane Gardams Romanen Ein untadeliger Mann, Eine treue Frau und Letzte Freunde. Gardam entwirft in dieser Trilogie über den Juristen Sir Edward Feathers, seine Frau Elizabeth Feathers und den gemeinsamen Freund – oder auch Feind – Terry Veneering drei Biographien, die miteinander verschränkt sind, die zusammengehören und die sich einerseits auf fatale, andererseits auf glückliche Weise immer wieder kreuzen. Alle drei Bücher erzählen die gleiche Geschichte, doch jedes erzählt sie aus einer anderen Perspektive, jedes hat einen anderen Protagonisten. Edward Feathers (oder auch Old Filth, ein Akronym von Failed in London, Try Hongkong) wird nach Jahren als Kronanwalt in Hongkong dort Richter. Terry Veneering ist bei allen Karrieresprüngen Feathers’ Rivale und darüber hinaus für eine entscheidende Nacht, nämlich ihre Verlobungsnacht mit Feathers, Elizabeth’ Liebhaber. Und schließlich Elizabeth, die, wie sich allerdings für ihren Mann erst nach ihrem Tod herausstellt, eine brillante Mitarbeiterin bei der Entschlüsselung des deutschen Enigma-Codes war, dann den von ihr bewunderten Feathers heiratet und dies, auf ihre Weise, ihr Leben lang bereut. Verborgene, versteckte, verheimlichte Aspekte im Leben der drei kommen in jedem Roman auf jeweils andere, die Biographien immer wieder anders bestimmende Weise zum Vorschein, und da auch der Tod der Protagonisten in den Romanen je anders erzählt wird, ruft Gardam immer wieder ein Gefühl von Unheimlichkeit, von Unbestimmbarkeit, von Zufälligkeit (was nicht dasselbe ist wie Beliebigkeit) hervor. Ein Thema der Romane ist die Widerstandsfähigkeit des mensch­lichen Geistes, der menschlichen Seele und die Fähigkeit, 239

mit den Unglücken des Lebens umzugehen. Ein anderes Thema ist der Untergang des britischen Empires am Beispiel des unseligen Schicksals der Raj Orphans, der Kinder von britischen Beamten, die, sobald sie alt genug waren, ohne ihre Eltern aus den Kolonien nach England geschickt wurden, um eine »anständige« Erziehung zu bekommen. Zu diesen Kindern gehört auch Edward Feathers, der in Malaya (einem Teil des heutigen Malaysia) als Sohn eines wohlhabenden Beamten geboren und im Alter von vier Jahren nach England gebracht wird. Die tief verstörenden Erfahrungen, die er in seiner Adoptionsfamilie machen muss, und die Unmöglichkeit, diese ­ Erlebnisse zu verarbeiten, bilden den Hintergrund der Erfolgsgeschichte des Juristen Sir Edward. Terry Veneering, der zweite, nicht weniger geniale Protagonist, stammt aus dem armen Norden Englands. Er hat einen russischen Vater – wahrscheinlich ein Spion – und eine Mutter, die Kohlenschlepperin und -verkäuferin ist. Auch Veneering wird Jurist in Hongkong. Genauer eingehen möchte ich jedoch auf die dritte Biographie, diejenige von Elizabeth Feathers, die ihr Leben lang bei Edward bleibt, obgleich sie Terry liebt. Ich möchte zwei Szenen aus ihrem Leben schildern. Die erste spielt in Honkong, auf ihrem Verlobungsfest, bei dem alles, was in der dortigen britischen Justiz Rang und Namen hat, anwesend ist, auch ein auffallend exzentrischer, flachsblonder Kollege von Feathers, Terry Veneering, dem Feathers im Gewimmel nicht aus dem Weg gehen kann. »›Mein Name ist Veneering‹, sagte er, ›­Terry ­Veneering‹. Seine Augen waren leuchtend hellblau. Elizabeth dachte: Und es ist genau eine Stunde zu spät.«13 Eine Stunde zu spät – denn sie hat sich gerade mit Eddy Feathers verlobt. Diese entscheidende Erfahrung wird ihr ganzes weiteres Leben prägen, doch erst ganz am Ende wird sie beschließen, Feathers zu verlassen und zu Veneering zu gehen. Die zweite Szene spielt ungefähr 50 Jahre später. Betty Feathers hat sich entschieden, ihren Mann zu verlassen, doch bevor sie ihm das mitteilt, will sie noch die Tulpenzwiebeln pflanzen, die sie in Holland gekauft hat. Dabei versteckt sie in einem der Erdlöcher die Perlenkette, die sie einst von Terry Veneering bekommen hat, 13 Jane Gardam, Eine treue Frau, München 2017, S. 43.

240

ihre schuldigen Perlen, wie sie sie nennt. Dann versucht sie, sich aufzurichten. »Sie konnte sich kaum noch rühren. Sie befand sich in einer schwierigen Position auf Ellbogen und Knien. Wenn ich mich auf meine Hände stützen könnte, dachte sie. Herrgott! Na, los. Tja, ein John Travolta war ich nie. So geht es besser. Jetzt noch die untere Hälfte.«14 Während sie so hockt, schaut sie ruhig auf den Garten und auf ihren Mann, der auf der Terrasse sitzt und so tut, als schieße er Krähen. Und sie denkt: »Es ist zu spät. Ich kann ihn jetzt nicht mehr verlassen.« Dies sind ihre letzten Gedanken. Denn dort draußen, im Garten, zwischen all den Tulpenzwiebeln, mit dem Entschluss im Herzen, ihren Mann zu verlassen, und doch im Gedanken, dies nicht zu können, stirbt Betty Feathers. Warum ist dies interessant für die Frage nach dem selbstbestimmten guten Leben? Elizabeth Feathers’ Leben ist gekennzeichnet von Konflikten, und seit der ersten fatalen Begegnung mit Terry Veneering ist dieser eine Konflikt immer präsent. Deshalb scheint es angemessen, die verschiedenen Begegnungen und die Art und Weise, wie sie Elizabeth aus ihrem normalen Leben und ihren normalen Reflexionen reißen, als ironische Erfahrungen zu interpretieren. Sie handelt, und sie handelt autonom. Obgleich sie ihre Handlungsgründe im Moment der Handlung natürlich nicht immer kritisch reflektiert, so sind es doch ihre eigenen, die sie, wenn sie diese kritisch reflektierte, als solche beschreiben könnte. Doch immer wieder wird dieses Handeln unterbrochen von der fundamentalen ironischen Frage danach, was es heißt, eine gute Ehefrau (wer ist unter allen Ehefrauen eine Ehefrau?) oder eine gute Freundin (wer ist unter allen Freunden ein Freund?) zu sein, und damit von der grundsätzlichen Infragestellung ihrer praktischen Identität. Gerade die letzte Szene im Garten, in der sie eigentlich dazu entschlossen ist, ihren Mann zu verlassen – auf welche Weise sie diesen Entschluss fasst, werden wir gleich noch sehen –, und dies dann doch nicht kann, lassen Lears Interpretation des Handelns in Konfliktsituationen überzeugend erscheinen. Jedenfalls scheint sie hilfreicher als Positionen, die bei der Erklärung autonomen Handelns und damit auch des selbstbestimmten Lebens auf der Einheit im Handeln (unity of agency) insistieren. Ich komme hierauf gleich zurück. 14 Ebd., S. 242 [Übers. leicht modifiziert, B. R.].

241

Zunächst jedoch will ich noch einmal von einer anderen Perspektive diese Gegenüberstellung von ironischer Erfahrung und harmonischer Entscheidung (unified action) beschreiben. Wenn nur das autonome Leben als das eigene Leben begriffen werden kann, dann bedeutet dies, dass die wichtigen Entscheidungen, die ich in meinem Leben fälle, meine eigenen Entscheidungen sein müssen – und deshalb ist der Vorgang des Wählens und die autonome Wahl selbst so bedeutungsvoll für Personen: Sie wollen selbst entscheiden, abwägen, überlegen, was sie tun und wie sie leben wollen – sie sind nicht nur am bestmöglichen Resultat interessiert. Deshalb auch ist es so wichtig, dass Betty Feathers selbst entscheidet.15 Entscheidend für das autonome gute Leben ist also die Idee, dass wir die Wahl haben müssen, eine Wahl, für deren erfolgreiche Ausübung wir sowohl die notwendigen Fähigkeiten der praktischen Vernunft als auch mehrere mögliche Optionen haben müssen. Auf der anderen Seite bedeutet dies gerade nicht eine inhaltliche Beliebigkeit der für mich jeweils möglichen Entscheidungen. Denn autonom bin ich nie ganz ohne einen sozialen Kontext, ohne eine bestimmte Identität. Die sozialen und biographischen Kontexte, die es ermöglichen, dass ich mich als autonome Person entscheiden kann, sind zugleich auch mögliche Grenzen, die meinem Entscheiden gesetzt sind. Die Kontexte determinieren meine Wahl nicht, aber sie machen es schwierig, über sie hinauszugehen. Es sind immer schon bestimmte Persönlichkeiten, die etwas wollen, die auch immer schon ein bestimmtes Verhältnis zu dem möglichen Gegenstand ihrer Wahl haben.16 Die Radikalisierung der Idee, dass wir durch die sozialen Kontexte und durch unsere Persönlichkeiten beim Wählen bestimmt werden, dass wir in gewisser Weise also immer schon gewählt haben, findet sich bei Iris Murdoch. Für Murdoch lautet die Frage, 15 Vgl. zum Entscheiden in Konflikten den mittlerweile klassischen Text von Bernard Williams, »Widerspruchsfreiheit in der Ethik«, in: ders., Probleme des Selbst, Stuttgart 1978, 297-328. Vgl. auch Christoph Menke, »Die Vernunft im Widerstreit. Über den richtigen Umgang mit praktischen Konflikten«, in: ders., Martin Seel (Hg.), Zur Verteidigung der Vernunft gegen ihre Liebhaber und Verächter, Frank­furt/M. 1993, S. 197-218, besonders S. 200-216, sowie seine so lapidare wie treffende Bemerkung über »Konflikte, die sich nicht ohne Verlust auflösen lassen: das sind aber die meisten« (S. 217). 16 Das habe ich genauer ausgeführt in Beate Rössler, Autonomie. Ein Versuch über das gelungene Leben, Berlin 2017, S. 251-257.

242

was Freiheit bedeuten kann, wenn wir von den unplausiblen Alternativen Determinismus und existentialistische Wahlfreiheit absehen. Murdoch verweist auf ein anderes Ideal als das des schlichten ungebundenen Entscheidens, nämlich das der Aufmerksamkeit (attention): Müssen wir wirklich zwischen einem Bild völliger Freiheit und einem Bild des völligen Determinismus wählen? Können wir das Problem nicht auf eine angemessenere und erhellendere Weise beschreiben? Ich schlage vor, hier einfach die Idee der Aufmerksamkeit oder die des Sehens einzuführen. Ich kann nur wählen in einer Welt, in der ich sehe, in der moralischen Bedeutung von »sehen«, die impliziert, dass klare Sicht ein Ergebnis von moralischer Vorstellungskraft und moralischer Anstrengung ist.17

Die Freiheit ist dann die, auf der Grundlage von Aufmerksamkeit richtig sehen und deshalb richtig entscheiden zu können. Deshalb liegt für Murdoch also gewissermaßen das Moment der Entscheidung immer schon in der Vergangenheit: Wenn wir das vorgängige Werk der Aufmerksamkeit außer Acht lassen und nur die Leere des Entscheidungsmoments zur Kenntnis nehmen, werden wir wahrscheinlich Freiheit mit der äußeren Bewegung identifizieren, da es sonst nichts Anderes gibt, mit dem sie identifiziert werden könnte. Aber wenn wir bedenken, wie das Werk der Aufmerksamkeit beschaffen ist, wie unaufhörlich es vonstattengeht und wie unmerklich es Wertstrukturen um uns herum errichtet, dann werden wir nicht überrascht sein, dass in ausschlaggebenden Entscheidungsmomenten das Geschäft des Sichentscheidens schon größtenteils erledigt ist. Das bedeutet nicht, dass wir nicht frei sind, ganz gewiss nicht.18

Doch wie passen Aufmerksamkeit und die echte Entscheidung in Konflikten zusammen? Murdochs Beschreibung dieser Aufmerksamkeit passt zumindest prima facie nicht zu Erfahrungen fun17 Iris Murdoch, »The Idea of Perfection«, in: dies., Existentialists and Mystics, London 1997, S. 299-336, hier S. 328 f., meine Übersetzung. 18 Ebd., S. 329, meine Übersetzung. Vgl. zum Sehen statt Reflektieren auch Iris Murdoch, »The Sovereignty of Good Over Other Concepts«, in: dies., Existen­ tialists and Mystics, S. 363-385, hier S. 374 f. Murdoch bestreitet im Übrigen natürlich nicht, dass es Situationen geben kann, in denen wir tatsächlich konflikthaft entscheiden müssen; dies ist auch evident in ihren Romanen. Vgl. zur Spannung zwischen Wahl und Aufmerksamkeit bei Murdoch auch Margaret Holland, »Social Convention and Neurosis as Obstacles to Moral Freedom«, in: Justin Broackes (Hg.), Iris Murdoch, Philosopher, Oxford 2011, S. 27-54.

243

damentaler Ambivalenz oder dem Konflikt zwischen Identitäten, wie er eher kennzeichnend ist für den autonomen Alltag und wie Lear ihn beschreibt. Dies ist besonders deutlich bei existentiellen Entscheidungen, wie wir gerade bei Betty Feathers gesehen haben. Doch andererseits ist das »aufmerksame Sehen« ein Versuch zu beschreiben, wie man sich allmählich, nach und nach entscheidet – denn Murdoch weiß um die Bedeutung von Konflikten im Handeln, auch wenn sie meint, diese durch die Möglichkeit des »richtigen Sehens« lösen zu können.19 Die ironische Erfahrung dagegen reißt uns aus diesem Sehen (wie auch aus der Reflexion) heraus; und doch wollen beide Interpretationen Perspektiven auf das Moment des autonomen Entscheidens sein. Ich will hier noch einmal zurückkommen auf Elizabeth Feathers. Trotz der Nacht mit Terry Veneering bleibt sie ein Leben lang treu an der Seite ihres Mannes und doch zugleich Terry und vor allem dessen Sohn Harry tief verbunden. Zu Harry hat sie eine besondere, vertrauensvolle Beziehung: Sie lernt auch ihn auf der Verlobungsfeier mit Edward Feathers kennen, kurz nachdem sein Vater sich ihr vorgestellt hat, und sie liebt ihn wie das eigene, nie geborene Kind. Harry besucht sie immer wieder, auch während seiner geheimen Geheimdiensttätigkeiten, doch erst, als er gestorben ist (bei einem offensichtlich absurden Unfall während eines Einsatzes), entschließt sie sich, Edward zu verlassen und zu Terry zu gehen. Wie Gardam diesen Entscheidungs- und Erkennungsprozess als einen Prozess der ironischen Erfahrung beschreibt, ist erhellend: Edward und Elizabeth, die mittlerweile in Dorset in England wohnen, um dort gemeinsam alt zu werden, machen sich fertig, um wegen ihrer Testamente nach London zum Rechtsanwalt zu fahren. In diesem Moment des Aufbruchs klingelt das Telefon: Terry Veneering erzählt Elizabeth – muss ihr erzählen –, dass Harry tot ist. Sie behält es für sich, Harry war nie ein Thema zwischen Edward und ihr. Während ihr Mann in seinem Londoner Club isst, geht sie ins National Theatre und wandert dann durch die Straßen. Sie beschloss, sofort zur Bantrystreet zu gehen. Wenn sie den ganzen Weg zu Fuß ging, würde sie genau pünktlich ankommen. Auf der Waterloo Bridge, als sie die steilen Betonstufen erklommen hatte, überfiel die Menge 19 Vgl. zum Beispiel Murdoch, »The Sovereignty of Good Over Other Concepts«, S. 365, 381 f.

244

sie sofort, wie die Schlacht selbst. Sie hielt sich dicht am Brückengeländer und hätte beinahe eine Hand über die andere gesetzt. Die Menschen in London gingen so schnell! (Harry ist tot). Manche musterten sie im Vorbeigehen, bemerkten die Perlenkette und ihr Kostüm, die Seidenbluse. Die Handschuhe. Ich bin antik. Sie halten mich für eine Figur aus Agatha Christie. (Ist tot!)20

Die ganze Beschreibung geht über beinahe drei Seiten: quasi ein innerer Monolog, manchmal aus der Perspektive der ersten, dann wieder der dritten Person, immer wieder unterbrochen durch ­Harry. Mein Junge Harry. Er ist tot. Und als sie mit ihrem Mann im Zug von London nach Hause in Dorset sitzt, hat sie sich entschieden: Sie wird ihn verlassen (auch wenn es dazu nicht mehr kommen wird, wie wir schon gesehen haben). Wie soll man dies interpretieren? Es ist schwerlich eine Entscheidung, die sich auf reflektierter Distanznahme gründet. Doch es scheint prima facie nicht falsch zu meinen, Elizabeth Feathers sei ihrer moralischen Situation gegenüber aufmerksam – vor allem, wenn man berücksichtigt, dass Murdoch den Begriff des »Sehens« gerade als Gegenbegriff zu dem der Reflexion entwickelt und versteht. Doch überzeugender ist die Interpretation der ironischen Unterbrechung (Harry ist tot) der Selbstverständlichkeit, mit der sich Elizabeth Feathers als gute Ehefrau, als Freundin, beschrieben hat: Wer ist unter allen Ehefrauen eine Ehefrau? Unter allen Freunden ein Freund? Ich denke, dass diese letzte Interpretation unvermeidlich ist und erklären kann, was dieser autonome Entscheidungsprozess bedeutet: Das innere Ringen damit, was sie tun soll, lässt Betty Feathers ihre Rolle als ganze in Frage stellen. Die Einheit der Reflexion, der autonomen Person, wird ironisch gebrochen, gerät aus den Fugen, zerfällt einen Moment lang. Weder Korsgaards reflektierte Distanz der einen, ganzen autonomen Person, noch das moralische Sehen des Immer-schon-gewählt-Habens bei Murdoch scheint also in diesem Fall zu stimmen und ihn erklären zu können. Angefangen hatte ich mit der Frage, was es heißt, auch in Konflikten autonom entscheiden und handeln zu können, und ich hatte gezeigt, dass ein Handeln im Konflikt nicht die harmonische Einheit der Person im Handeln impliziert, das Handeln aber auch nicht verunmöglicht. Allerdings bedeutet dies auch, dass die Person 20 Gardam, Eine treue Frau, S. 238 [Übers. leicht modifiziert, B. R.].

245

sich mit dem Ergebnis ihrer Entscheidung nie vollkommen identifizieren können wird. Dieses Moment der Differenz kann als ein Moment – oder als eine Dimension – der Entfremdung im selbstbestimmten Leben bezeichnet werden. Und diese Entfremdung verdeutlicht, dass das alltägliche Entscheiden im Konflikt einhergeht mit der konflikthaften Einheit der Person mit sich selbst – die gerade nicht völlig harmonisch, identisch mit sich selbst zu sein braucht, sondern auch als entfremdete, als gebrochene, selbstbestimmt sein kann. Elizabeth Feathers, Edward Feathers und Terry Veneering passen nicht völlig in die Rollen, die Identitäten, die ihre jeweilige soziale Identität eigentlich von ihnen verlangt. Alle drei können als Beispiele dafür gelten, wie Identitäten ein Leben lang einerseits nicht integriert und entfremdet sein können, aber andererseits dabei keineswegs unglücklich und nicht selbstbestimmt zu sein brauchen. Die Entscheidungen, die sie getroffen haben, können zu einem entfremdeten Leben führen – und es ist die Symbolik der Entfremdung, wenn Betty ihr grünes Kleid, das sie sich nur für die falsche Verlobungsnacht mit Terry gekauft hat, nach dieser Nacht wegwirft: Sie versucht (gleichermaßen naiv wie rabiat), sich von dieser Beziehung, diesem Aspekt ihrer Identität zu trennen, weil sie mit ihrer Entscheidung gegen diesen Mann leben muss. Dennoch lebt sie offenbar ein halbwegs selbstbestimmtes Leben. Weder die Einheit der Person im Handeln noch die völlige Identifizierung mit dem eigenen Leben sind notwendige Bedingungen des selbstbestimmten Lebens.

246

Stefan Gosepath Die soziale Natur der Normativität Normativität ist gekoppelt an das Vermögen der Vernunft als der Fähigkeit zur Erkenntnis des Verpflichtetseins und des Handelnkönnens aufgrund von Gründen.1 Nicht umsonst wird das Phänomen der Normativität seit der Antike erstens in einem reichhaltigen Vokabular des Verpflichtet- und Erlaubtseins, als eine bestimmte Autorität des verpflichtenden Standards-Setzens thematisiert und zweitens, auf einer reflexiven Ebene, als Antwort auf die Frage nach der Begründung bzw. Rechtfertigung einer Verpflichtung durch Vernunft, Rationalität und Gründe behandelt. Normativität hat ihren Sitz damit im »Raum der Vernunft«.2 Zugleich ist aber auch der Bereich der Vernunft selber, ihre ganze Operationsweise, durch und durch normativ kontaminiert: Vernunft hat nicht nur (unter anderem) normative Aussagen, Standards etc. zu ihrem Inhalt, das heißt, sie ist nicht nur diejenige Instanz, die Normen beurteilt. Bei jeder inhaltlichen Überlegung und Urteilsbildung folgt sie ihrerseits bestimmten intellektuellen Regeln; alle Handlungen, so auch gedankliche und sprachliche Handlungen, unterliegen Standards der Korrektheit oder Inkorrektheit. Theoretische Meinungen und praktische Einstellungen gelten dann als gerechtfertigt, wenn unsere Vernunft richtig arbeitet, wenn sie also ihre Funktion – Meinungen und Einstellungen bilden und rechtfertigen zu können – erfüllt. Was hier richtig ar1 Vgl. meine Analyse des Phänomens der Normativität und die dort angegebene Literatur in Stefan Gosepath, »Zum Ursprung der Normativität«, in: Rainer Forst u. a. (Hg.), Sozialphilosophie und Kritik, Frank­furt/M. 2009, S. 250-268, hier S. 250-255, wieder abgedruckt in: Thomas Gutmann u. a. (Hg.), Genesis und Geltung. Historische Erfahrung und Normenbegründung in Moral und Recht, Tübingen 2018, S. 207-221.    Der vorliegende Aufsatz ist eine Weiterführung meiner Gedanken zur Normativität, die im Rahmen des Exzellenzclusters »Die Herausbildung normativer Ordnungen« an der Goethe-Universität Frank­furt am Main entstanden sind, dort u. a. mit dem Kollegen und Freund Christoph Menke, dem ich Vieles zu verdanken habe. 2 Zu diesem Ausdruck vgl. Wilfrid Sellars, Empiricism and the Philosophy of Mind, Cambridge/Mass. 1997, S. 76.

247

beiten heißt, was also die Prinzipien der Vernunft ausmacht, das können wir dabei nur in einem Prozess der internen Rekonstruktion unserer Vernunftoperationen herausfinden. Es gibt kein von unserem Vernunftgebrauch unabhängiges Kriterium dafür. Um zu verstehen, wie unsere Vernunft operiert, muss man sich unter anderem ansehen, wie wir den Gebrauch unseres Vernunftvermögens erwerben und erlernen. Diese Betrachtung der der Vernunft selber innewohnenden Normativität kann uns dabei helfen, die Struktur der Normativität im Allgemeinen offenzulegen. Das Normative zu klären, heißt gemäß den vorangegangenen Überlegungen also, ein wesentliches Charakteristikum des Bereichs der Vernunft, der uns Menschen auszeichnet, besser zu verstehen. Ich möchte im Folgenden drei Ebenen der Erläuterung von Normativität darlegen, die meines Erachtens alle drei zusammengedacht werden müssen, wenn wir ansatzweise versuchen wollen, so etwas wie eine Theorie von Normativität zu entwickeln, die mit einem gewissen Vollständigkeitsanspruch auftreten kann: Eine solche Theorie enthält auf einer ersten Ebene eine evolutionär-funktionale Erklärung der Genese von Normativität, auf der zweiten Ebene eine Erläuterung der internen Struktur normativer Praktiken und schließlich auf der dritten Ebene den Versuch einer Erläuterung des eigentümlichen Verpflichtungscharakters von Normen aus der Subjektperspektive. Die Herausforderung besteht darin, diese verschiedenen Versatzstücke, die durchaus bekannt sind, kohärent zusammenzudenken, so dass sie zusammen eine in sich geschlossene, stimmige Architektur ergeben. Dabei soll das Besondere der Normativität deutlich werden, nämlich ihr Eingebettetsein in natürliche und soziale Praktiken einerseits sowie die ständige Negation als Befreiung von natürlicher und sozialer Fremdbestimmung andererseits. Freier Wille, Vernunft und Normativität ent- und bestehen nur in dem Prozess ihrer tätigen Selbstverwirklichung als (partielle) Negation und Überschreitung vorgegebener normativer Ordnungen, die dennoch zugleich für die Funktion des freien Willens und der Vernunft unabdingbar sind.

248

Evolutionär-funktionale Erklärung der Genese von Normativität Auf einer ersten Ebene der Analyse der Grundlagen von Normativität kann man danach fragen, wie der Übergang von einem nichtnormativen Zustand des Menschen oder bestimmter Primaten zu einer normativ verfassten Praxis vorzustellen ist. Gesucht wird hier im Wesentlichen eine naturwissenschaftliche Erklärung der Entstehung normativer Wesen und ihres Umgangs miteinander, das heißt ein Erklärungstypus, der auf die natürlichen Anlagen und Fähigkeiten dieser Wesen abzielt und Normativität entsprechend als Produkt einer evolutionären Genese auf phylogenetischer und gegebenenfalls ontogenetischer Basis begreift. Am prominentesten unternimmt heute Michael Tomasello diesen Versuch, den Übergang in den Raum der Vernunft naturwissenschaftlich-empirisch zu erklären.3 Dabei wird der Grundbegriff der kommunikativen Lebensform, der in der am besten ausgearbeiteten Sozialphilosophie der Gegenwart, der von Jürgen Habermas, eine solch prominente Rolle einnimmt, aufgegriffen und erhellt. Die Erläuterung verfährt dabei im Prinzip wie folgt: Im Unterschied zu anderen Primaten sind Menschen zum rekursiven Erfassen von intentionalen Einstellungen fähig und hegen kommunikative Absichten, wobei insbesondere die beiden Absichten des Informierens und des Teilens von Einstellungen zentral sind. Diese charakteristischen Eigenschaften spezifisch menschlicher Kommunikation werden nach Tomasello dann verständlich, wenn man die menschliche Kommunikation gemäß einem Kooperationsmodell der Kommunikation auffasst. Damit ist gemeint, dass die menschliche Kommunikation Kooperation überhaupt erst ermöglicht und ihr auch im Wesentlichen dient. Mit Blick auf diesen sozialen Zweck menschlicher Kommunikation lassen sich die genannten kommunikativen Eigenschaften des Menschen funktional erklären: Das Motiv des vorbehaltlosen Lieferns von Informationen erscheint im Licht dieser Kooperation deshalb als funktional sinnvoll, weil es für das gemeinsame Ziel förderlich ist. Die Kooperation wird stabiler, wenn sie von einem WirBewusstsein geleitet ist, das Teil der individuellen Affektstruktur ist. 3 Vgl. Michael Tomasello, Die Ursprünge menschlicher Kommunikation, Frank­ furt/M. 2009, und ders., Die kulturelle Entwicklung menschlichen Denkens, Frank­ furt/M. 2006, S. 227.

249

Das Motiv des Teilens von Einstellungen oder von Gefühlen, die »wir haben«, erscheint so im Kontext einer Kooperation ebenfalls als funktional. Es führt nämlich zu einem kommunikativen Verhalten, das die Verbindung zwischen Wir-Bewusstsein und individueller Affektstruktur festigt – auch dadurch, dass diese Verbindung für jeden von uns sichtbar wird: Man will mit seinen Einstellungen und Gefühlen sichtbar zu anderen dazugehören; zur menschlichen Kommunikation gehört die Äußerung von kommunikativen Absichten, deren Sinn auch für andere als zweckmäßig erkennbar ist. Insgesamt liegt der kooperative Sinn der kommunikativen Fähigkeiten der Menschen also darin, dass der Einzelne erst durch sie seine eigenen Teilaktionen mit dem Gesamtziel der Gruppe sowie den ablaufenden Teilaktionen des anderen abgleichen kann. Dabei soll jedoch diese kooperative Funktion der Kommunikation nicht nur den Sinn oder (latenten) Zweck der kommunikativen Eigenschaften der Menschen, sondern auch die Genese dieser Eigenschaften in einer gemeinsamen kooperativen Praxis evolutionär erklären können. Für die Entstehung der menschentypischen Kommunikation aus der gemeinschaftlichen Tätigkeit ist dabei die sogenannte psychologische Infrastruktur geteilter Intentionalität entscheidend, das heißt die individuelle Verinnerlichung von Kooperationserfahrungen und den der Kooperation zugrunde liegenden gemeinsamen Zielsetzungen, durch die das Individuum in die Lage versetzt wird, auch an anderen Kooperationszusammenhängen teilzunehmen. Die Erfahrung von Kooperation, verinnerlicht in jener psychologischen Infrastruktur des Menschen, trägt so stetig zur Weiterentwicklung von Kooperation bei. Auf dieser kooperativen Infrastruktur basiert auch die entwickelte sprachliche Kommunikation der Menschen; sprachliche Kommunikation ist gewissermaßen die Fortsetzung der Kooperation mit Zeichen, also Kooperation auf einem höheren Niveau. Dies ist die für die soziale Genese der Normativität entscheidende entwicklungsgeschichtliche Idee. So wie Tomasellos phylogenetische (evolutionäre) Erklärung unserer Kommunikationen nicht bloß die vermeintlich unveränderliche, natürliche, sondern vor allem auch die soziale Grundlage der Sprache offenlegt, so könnten sich auch die natürlich-sozialen Quellen der Normativität erklären lassen. Dieser Theorie zufolge sind also die impliziten und expliziten Regeln unseres Zusammenlebens gewissermaßen 250

nur das genetische, evolutionär funktionale Sediment vergangener Kooperation(serfolge); Normativität wird genealogisch bzw. entwicklungsgeschichtlich erklärt. Phylogenese und Ontogenese normativer Praktiken (wie besonders der Kommunikation) erklären uns, warum wir Geltungsansprüche so verstehen (müssen), wie wir sie jetzt verstehen. Die soziale, kooperative und kommunikative Praxis haben wir kulturell gelernt; kulturelles Lernen ist unser evolutionärer Vorteil gegenüber den anderen Primaten. Von dem so Gelernten können wir uns nie mehr vollständig befreien. Diese genealogische Betrachtung kann freilich die Frage der Sollgeltung nicht ersetzen oder vollständig beantworten: Genesis darf nicht mit Geltung verwechselt werden. Der Mehrwert der genealogischen Betrachtung besteht vielmehr darin, dass sie die Reichweite der Geltungsfrage ermittelt und ihre Beantwortung auf einen Horizont bestimmter, für den Menschen charakteristischer historisch-sozialer Bedingungen verweist. Um ein vollständiges Tableau der für Normativität konstitutiven Bedingungen zu zeichnen, muss diese genetische Erklärung aus der Beobachter-Perspektive jedoch noch in die Perspektive derjenigen überführt werden, die selber an normativen Zusammenhängen teilhaben und die also die bisher bloß entwicklungsgeschichtlich beschriebene kommunikative Natur des Menschen praktisch erleben.

Erläuterung der internen Struktur normativer Praktiken Auf dieser zweiten Ebene der Analyse der Grundlagen der Normativität möchte man also erläutern, wie die »Natur« der Normativität von den Menschen selber gelebt wird, das heißt, wie sie sich in ihren gemeinsamen Praktiken äußert. Die entsprechende Erklärung ist dann eine, die angibt, nach welchen Regeln unsere – evolutionär mitgegebenen – kommunikativen Fähigkeiten intern funktionieren. Die Aufgabe ist hier methodisch die eines ExplizitMachens von Strukturen, die in unserem sprachlichen Verhalten implizit immer schon vorhanden sind. Dabei wird das Funktionieren sprachlicher Praxis nicht »von außen«, sondern »von innen« erläutert, indem die impliziten Normen, das heißt die impliziten Verpflichtungen und Rollenverständnisse, denen wir beim Sprechen folgen, explizit gemacht werden. Dieser Explikationsentwurf 251

geht von der Gegebenheit jener normativen Praktiken aus, deren Entstehen ja auf der ersten Stufe bereits evolutionär-funktionalistisch erklärt worden ist. Ein solches Programm vertritt vor allem Robert Brandom, wobei er die vorgefundene, regelgeleitete soziale Praxis unter Rückgriff auf Wilfrid Sellars’ Theorie des menschlichen Geistes erläutert.4 Sellars zufolge sollte man Begriffe – für unsere Zwecke können wir auch etwas allgemeiner übersetzen: unsere Vorstellungen von den Regeln und gegebenenfalls Normen, denen soziale Phänomene unterliegen, das heißt unsere Vorstellungen von ihrem »Wesen« – als das Produkt eines »Gesellschaftsspiels« des Gebens und Forderns von Gründen verstehen. Diese Theorie erklärt unsere begriffliche Aktivität, das heißt den begrifflichen Gehalt unserer sprachlichen Äußerungen und mentalen Zustände also pragmatistisch durch Rekurs auf regelgeleitete soziale Praktiken, an denen wir teilhaben. Das Phänomen des begrifflichen Gehalts soll dabei letztlich auf eine bestimmte Form von sozialer Praxis zurückgeführt werden, die sich ihrerseits vollständig ohne Bezug auf den Begriff des begrifflichen Gehalts verstehen lässt. Interessant in unserem Zusammenhang ist, wie man die spezifische Art jener Praxis bestimmen kann, die für unsere Begriffe oder eben unser Regelverständnis konstitutiv sein soll: Man kann nämlich den Begriff der Normativität dadurch zu artikulieren und zu enträtseln versuchen, dass man zeigt, wie sich einzelne Mitglieder einer sozialen Praxis einander gegenüber verhalten müssen, damit wir von dieser Praxis sagen können, sie instituiere Normen. Auch Jürgen Habermas’ auf der Sprechakttheorie aufbauende Universal- oder Formalpragmatik beansprucht, im Einklang mit den empirischen Wissenschaften, unser vortheoretisches Sprachund Handlungswissen zu rekonstruieren und universale Bedingungen möglicher Verständigung zu identifizieren.5 Ziel dabei ist es bekanntlich, in der Tiefenstruktur der symbolisch vermittelten 4 Vgl. Robert B. Brandom, Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung, Frank­furt/M. 1999, und Wilfrid Sellars, »Empiricism and the Philosophy of Mind«, in: Minnesota Studies in the Philosophy of Science I (1956), S. 253-329. 5 Jürgen Habermas, »Was heißt Universalpragmatik? (1976)«, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frank­furt/M. 1984, S. 353-440.

252

sozialen Welt implizite Geltungsansprüche offenzulegen. Es soll deutlich gemacht werden, dass die Vorstellungen/Begriffe, die wir im Laufe gemeinsamer Praktiken bilden, immer schon implizite Geltungsansprüche enthalten – die Regeln, nach denen die (soziale) Welt funktioniert, haben für uns nicht bloß eine aktuelle, vorübergehende Geltung, sondern sind auch mit dem – sanktionsbewehrten – Anspruch auf fortgesetzte Geltung verbunden und erheben den Anspruch, gut begründet zu sein. Als Teilnehmer der sprachlich vermittelten Alltagspraxis kommen wir nicht umhin, verschiedene Arten von Geltungsansprüchen zu erheben und einzulösen, je nachdem, in welchem Typ von Sprechakt mit seinem je eigenen Rationalitätstyp wir uns befinden: Jede Art von Kommunikation, an der wir teilhaben, beruht implizit auf bestimmten, mehr oder weniger geteilten und gesellschaftlich sanktionierten Vorstellungen etwa darüber, welches Verhalten die Teilnehmer einander »schulden« und also normativ gefordert oder gesollt ist. Wichtig an diesen pragmatischen, rekonstruktiven Normativitätsexplikationen scheint mir die Einsicht, dass die normative Praxis selbst da, wo es »nur« um sprachliche oder theoretische Normativität geht, nicht ohne Bewertungen von »Spielzügen« und von Status der Mitspieler (weniger theoretisch gesprochen: von Handlungen und Handelnden) auskommen kann. Die normative Praxis ist damit konstitutiv eine bewertende soziale Praxis. Und in der Tat ist Kommunikation ja kein bloßes Widerspiegeln einer äußeren und inneren Realität, vielmehr ist ihre Ausprägung selber unlösbar mit dieser Realität verwoben und insofern immer auch Reaktion auf oder Resultat einer Anpassung an diese: Die Fähigkeit, Sprechhandlungen zu vollziehen, erwerben wir überhaupt erst in einem engen sozialen Beziehungsgeflecht in sozialen Praktiken. Das Erlernen einer sozialen Praxis im Prozess der Sozialisation bedingt auch unweigerlich die – oftmals unbewusste, nicht explizite – Übernahme und Internalisierung herrschender Schemata. Wir lernen die Fähigkeit zur vernünftigen Überlegung nicht einfach so als bloße Fähigkeit ohne jeglichen Inhalt, abgelöst von jedem Kontext. Eine solche Fähigkeit kann man nur in der Einübung einer Praxis erlernen, deren interne Regelhaftigkeit man dabei zunächst übernimmt. Wir erlegen der Welt Schemata auf, und zwar im theoretischen wie im praktischen Bereich.6 6 Vgl. Gosepath, »Zum Ursprung der Normativität«, S. 260 f.

253

Der theoretische Teil, das Begriffsschema, ist zwar deskriptiv, folgt aber intern selber Normen; der praktische Teil, das Bewertungsschema, ist ebenfalls intern normativ strukturiert, erhebt darüber hinaus aber auch selber explizit normative Ansprüche. Sowohl das Begriffs- als auch das Bewertungsschema haben dabei quasi-transzendentalen Charakter. Die deskriptiven, präskriptiven wie die bewertenden Begriffe sind zwar Produkte des menschlichen Geistes, aber sie sind für uns in ihrer Struktur zum vernünftigen Kontakt mit der Umwelt auch konstitutiv und damit unverzichtbar. Durch die Übernahme und Internalisierung sozialer Bewertungen nehmen wir die Schemata an. Die erlernten Regeln der jeweils übernommenen theoretischen und evaluativen Schemata bekommen im Prozess der Sozialisation eine Autorität für uns, die die Befolgung der Regeln zu einer gewissen strukturellen Notwendigkeit für uns werden lässt. Gemäß normativer Pragmatik liegt unsere Auffassung von Normen darin begründet, dass unser soziales Leben, Wissen und Handeln unhintergehbar auf einer sozialen Praxis beruht. Dieses interne Normgewebe unserer kommunikativen Praxis ist uns zur zweiten, nämlich sozialen Natur geworden.7

Der eigentümliche Verpflichtungscharakter des Normativen Wenn die Genese einer sozialen, normativen Praxis evolutionär erklärt und die Spielregeln und möglichen normativen Züge im sozialen, kommunikativen Geflecht von Überzeugungen und Wertungen explizit gemacht worden sind, kann man auf einer dritten Ebene schließlich noch nach der Begründung der die normative Praxis regelnden Normen fragen. Warum und inwiefern sind wir bzw. bin ich eigentlich an die impliziten Regeln der sozialen Praxis, an der wir meist ungefragt teilnehmen, gebunden? Was man also ganz allgemein erklärt haben möchte, ist der eigentümliche Verpflichtungscharakter normativer Rede für bestimmte Subjekte. Die bisher vorgestellte evolutionär-funktionale Erklärung auf der ersten 7 Zu dem auf Aristoteles und Hegel zurückgehenden und jüngst revitalisierten Begriff siehe vor allem John McDowell, »Zwei Arten des Naturalismus«, in: ders., Wert und Wirklichkeit, Frank­furt/M. 2002, S. 30-73, und ders., Geist und Welt, Paderborn 1998.

254

und die explikative Erläuterung der Binnenstruktur der sprachlichen Vernunft auf der zweiten Ebene erläutern nur, warum wir dazu disponiert sind, Normen Folge zu leisten. Das aber gibt noch keine befriedigende Rechtfertigung aus der Ersten-Person-Perspektive ab: Die bisher gegebenen Erläuterungen lassen die Frage offen, warum ich jene Normen und Motive annehmen sollte, mit denen mich die Evolution ausgestattet hat und in die ich hineinsozialisiert wurde. Die Frage danach, warum wir bestimmte Normen als verbindlich für unser Handeln anerkennen sollten, beruht offensichtlich auf der Unterstellung der Autonomie von Personen, die etwas nur als Handlungsgrund für sich akzeptieren können, wenn sie sich von der Güte des Grundes in ihrer eigenen kritischen Reflexion haben überzeugen können. Mit dieser Fähigkeit zum Gebrauch der Vernunft, wie sie auf der ersten Ebene erklärt wurde, geht dann aber auch die intellektuelle Freiheit einher, konkrete ansozialisierte Normen und Werte in Frage stellen zu können. Soziale Normen sind nicht einfach aufoktroyiert und so derart zur zweiten Natur bzw. sozialen Notwendigkeit geworden, dass sie uns vollständig (deterministisch) bestimmen, sondern zeichnen sich dadurch als vernünftige aus, dass wir uns von ihnen distanzieren und in diesem Sinne ihnen gegenüber negativ verhalten können (ihren Geltungsanspruch mit anderen Worten auch verneinen können).8 Wohlgemerkt: Die Fähigkeit, ihre Vernunft zu gebrauchen, eröffnet nach diesem Verständnis zwar allen Personen den Bereich der Vernunft, macht sie jedoch noch nicht unmittelbar vernünftig. Vernünftig wird man erst, indem man den eigenen Verstand tatsächlich richtig gebraucht. Mit dem Erwerb des Vernunftvermögens unterliegen wir einer Vernunftverpflichtung zur reflexiven Stellungnahme. Diese Überzeugungen entsprechen meines Erachtens unserem für uns wesentlichen, vielleicht sogar unaufgebbaren, aber dennoch – möchte ich meinen – falliblen Selbstverständnis als animal rationale: Wir verstehen uns selbst als Wesen, die sich selbst bestimmen (können) und nicht allein durch vorgefundene Tatsachen bestimmt werden. 8 Vgl. etwa Christoph Menke, »Hegels Theorie der Befreiung«, in: Gunnar Hindrichs, Axel Honneth (Hg.), Freiheit, Frank­furt/M. 2013, S. 301-320; oder ders., »Autonomie und Befreiung«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58:5 (2010), S. 675-694.

255

Nimmt man diese Überlegungen ernst, dann können uns nur jene Normen binden, die auf verbindlichen, das heißt rechtfertigenden Gründen ruhen. Verbindlichkeit aber haben Gründe ihrerseits nur, wenn und weil sie Gründe für uns je spezifische Subjekte sind, Subjekte, die die letztliche Entscheidung zu fällen und Verantwortung dafür zu übernehmen haben. Damit scheint die gesuchte Autorität der normativen Verpflichtungen in der Ersten Person Singular zu liegen: Eine Norm verpflichtet uns oder ist uns wichtig, weil wir uns wichtig sind.9 Indem wir Gründe als reflektierte Urteile darüber, was für uns in dieser gegebenen Situation zu tun gut ist, anerkennen, machen wir uns die Gründe zu eigen, lassen sie also handlungsleitende Gründe werden. Das kann man kantianisch auch reflektierende und wertende »Selbstgesetzgebung« und »Selbstverpflichtung« nennen und darin unsere »Menschlichkeit« sehen. Die Selbstverpflichtung besteht also demnach darin, dass Wesen, die sich in ihrer Fähigkeit zur Autonomie (das heißt zur eigenen freien Wahl der besten Gründe für ihr Handeln) wertschätzen, von dieser Autonomie in der Deliberation Gebrauch machen und sich selbst an die für sie besten Gründe binden. Aber diese Reduktion der verpflichtenden Kraft von Normen auf reine Selbstverpflichtung eines freien Willens funktioniert so nicht.10 Denn wenn Normativität die Anerkennung einer Autorität impliziert, die Standards setzt, grundlegender: wenn man die Autorität von Standards überhaupt akzeptiert, dann kann man nicht solipsistisch normativ sein. Anders gesagt: Man kann sich nicht selbst binden – und zwar aus zwei Gründen: Unterstellt, unser Wille sei frei, dann kann man sich erstens immer umentschließen, man kann sich stets andere Handlungsgründe zu eigen machen. Die Formel von der Selbstbindung des Willens soll ja aber gerade eine Verpflichtung erklären, also erklären, wie man sich selbst so an eine Handlungsmaxime binden kann, dass man sie eben nicht willkürlich wieder aufgeben kann. Nach der letztlich voluntaristischen Auffassung von der Selbstbindung müss 9 Vgl. die ähnliche, aber etwas anders gelagerte Auffassung in Christine Korsgaard, The Sources of Normativity, Cambridge/Mass. 1996. 10 So wie etwa bei Harry Frank­furts »wholehearted identification« oder bei Christine Korsgaards »reflective endorsement« (vgl. Harry Frank­furt, Gründe der Liebe, Frank­furt/M. 2005, und Christine Korsgaard, The Sources of Normativity, Cambridge/Mass. 1996).

256

te der Mensch sich selbstständig in den Raum der Vernunft begeben können, und zwar, weil er es qua existentiellem Entschluss will und sich dem Entschluss entsprechend durch eine Selbstgesetzgebung heroisch seinem eigenen Prinzip unterwirft.11 Aber das ist unmöglich – so viel scheint trotz anhaltender Kritik an Wittgensteins Privatsprachenargument richtig. Durch eine bloße Dezision, in der man sich mit einem bestimmten Wollen identifiziert, wird dieses Wollen noch nicht vernünftig; der Entschluss, sich selbst ein Gesetz aufzuerlegen, macht dieses Gesetz nicht rational. Wir können uns nicht durch einen noch so gewollten, existentialistischen Akt der Selbstsetzung in den Bereich der vernünftigen Rechtfertigung katapultieren.12 Wie unplausibel das ist, kann man sich beispielsweise an der Auffassung klarmachen, man werde dadurch Versprechen halten, dass man verspricht, Versprechen zu halten. Nicht der einmalige Entschluss, ein Versprechen zu halten, begründet die Einhaltung des Versprechens, vielmehr müssen dem Entschluss selber noch verpflichtende Gründe vorausgehen, damit er nachhaltig verpflichten kann. Selbstgesetzgebung ist also nur vor einem hinreichend ausgeweiteten normativen Hintergrund möglich: So wie wir schon eine Sprache haben müssen, um neue Wörter erfinden zu können, so brauchen wir auch schon normative Strukturen, um einzelne Akte des Versprechens oder des Selbstgesetzgebens zu vollziehen. Selbstermächtigung kann deshalb keine hinreichende Lösung für das Verpflichtungsproblem liefern. Der zweite Grund dafür, warum eine Rückführung von Normativität auf reine Selbstgesetzgebung scheitern muss, ist, dass sie keinen unabhängigen Standard der Korrektheit angeben kann, an dem sich festmachen ließe, was eigentlich als Selbstgesetzgebung gelten darf: Wie kann das, was ich als Selbstbindung intendiere, als Selbstbindung zählen? Wenn jede von mir als korrekt beurteilte Handlung dadurch schon als korrekt gilt, das heißt als der anerkannten Verpflichtung aus den besten Gründen heraus entsprechend, in welchem Sinne habe ich mich dann am Anfang überhaupt gebunden?13 Inwiefern ist das, was ich als Selbstverpflichtung 11 Vgl. auch für das folgende Argument Simon Blackburn, »Normativity à la Mode«, in: The Journal of Ethics 5:2 (2001), S. 139-153, hier S. 143. 12 Ebd. 13 Vgl. Robert Brandom, »Einige pragmatistische Themen in Hegels Idealismus«, in: ders., Wiedererinnerter Idealismus, Berlin 2015, S. 271-312.

257

deklariere, wirklich eine mich bindende Pflicht, wenn es doch allein meine nachträgliche Zuschreibung ist, die es überhaupt als Pflicht bestimmt? Solange es keine allgemeinen, vom Subjekt unabhängigen Gründe gibt, die aus einer Regel eine verpflichtende Regel machen, bleibt jede Selbstverpflichtung idiosynkratisch. Also: Jedes Standardsetzen, mithin jede Normativität, einschließlich der Verpflichtung durch Selbstgesetzgebung, setzt einen hinreichend reichhaltigen, schon normativ verfassten und bevölkerten Raum der Gründe voraus. Diesen normativ strukturierten Raum der Gründe brauchen wir als Individuen nun aber weder zu schaffen noch zu suchen. Wir bewegen uns immer schon in normativen Strukturen des Denkens, Sprechens und Handelns, wie sie sich evolutionär entwickelt haben und sozio-kulturell gelernt wurden. Das sollte die Analyse der Normativität auf der ersten und zweiten Ebene gerade deutlich gemacht haben. Wenn nun eine eigene kritisch-reflexive Überprüfung von normativen Gehalten und die Anerkennung von Geltungsansprüchen aus der Erste-Person-Perspektive möglich ist, dann deshalb, weil wir uns schon immer in einer solchen normativ verfassten Praxis befinden. Man muss sich also nicht voluntaristisch erst entscheiden, in die Gemeinschaft einzutreten und sich Verpflichtungen aufzuerlegen, sondern ist immer schon in sie verwickelt.14 In dieser Eigenschaft, Teilnehmer an normativen Praktiken und konkreten Gemeinschaften zu sein, sind wir aber auch notwendig Teil einer universalistischen Gemeinschaft, die alle vernunftbegabten Lebewesen umfasst, die in der Lage sind, am Gründe-Geben und -Fordern teilzunehmen. Denn an normativen Praktiken teilzunehmen, also uns gegenüber erhobene Geltungsansprüche anzuerkennen und selber Geltungsansprüche zu erheben, impliziert immer auch, dass wir die anderen Teilnehmer – bis zum Erweis des Gegenteils – als prinzipiell gleich befähigt ansehen, rational und verantwortlich zu handeln, das heißt selber Gründe geben und fordern zu können und ihnen entsprechend zu handeln. Wir müssen ihnen den Status rationaler Wesen ebenso zubilligen, wie sie das bei uns tun müssen. So erkennen wir uns in der sozialen Praxis als wechselseitige Autoritäten an, denen wir Gründe schulden. Diese wechselseitige Autoritätsbeziehung ist die Bedingung dafür, dass sich Personen gegenüber 14 Die gegenteilige, voluntaristische Auffassung vertritt Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frank­furt/M. 1993, S. 30, 88-97.

258

anderen mit deren Hilfe selbst binden können.15 Selbstbindung des Willens durch die eigene autonome Vernunft heißt dann, sich vor den Augen der anderen öffentlich an eine Entscheidung zu binden, von der man fürderhin nur loskommen kann, wenn man durch die anderen von der Bindung befreit wird; andernfalls gilt man in den Augen der anderen als willensschwach und hat Sanktionen zu erwarten. So wie seine Mannschaft Odysseus auf seinen weisen Befehl hin an den Mast band, bis sein Schiff an den Sirenen vorbeigefahren war (obwohl er selber zwischendurch – wie von ihm vorhergesehen – willensschwach den Gesängen der Sirenen erlag und bettelte, loszukommen), so kann man selbst seinen Willen mit Hilfe anderer binden. Das Individuum ist dabei an die normative Struktur als solche gebunden,16 es muss sie für seine Autonomie voraussetzen. Es kann keineswegs das ganze normativ-evaluative System suspendieren und versuchen, sich ein besseres System von einem Standpunkt außerhalb jedes anerzogenen Bewertungsschemas zu konstruieren. Jede Reflexion über einen bestimmten Aspekt des Begriffs- oder Bewertungsschemas erfolgt innerhalb eines solchen Schemas. Das Faktum, dass wir nur im Ausgang von einem jeweils bestimmten Begriffs- und Bewertungsschema überlegen können, bleibt für uns unhintergehbar.17 Selbst das Hinterfragen eines Schemas ist Teil einer Praxis, die selber durch Schemata strukturiert wird, denn die Frage nach Gründen und Bewertungen hat nur innerhalb eines Begriffs- und Bewertungsschemas einen Sinn. Insofern ist das Schema transzendental. Mit diesem Argument können wir uns zum Abschluss die normative Verfasstheit unserer Praxis in toto klarmachen. Die Idee der unhintergehbaren oder transzendentalen sozialen oder normativen Natur bezieht sich nur auf die formale Struktur der Schemata (oder wenn man so will, auf die bloße Tatsache, dass eine Suspension der schematischen Form nicht möglich ist), nicht aber auf ihren Inhalt, denn die kritische Reflexion und Revision 15 Sie ist m. E. die Bedingung, aber nicht – wie bei Stephen Darwall – die Quelle; Stephen Darwall, The Second-Person Standpoint. Morality, Respect, and Accountability, Cambridge/Mass. 2006. 16 Zum Folgenden vgl. Gosepath, »Zum Ursprung der Normativität«, S. 267. 17 Vgl. Donald Davidson, »Was ist eigentlich ein Begriffsschema?«, in: ders., Wahrheit und Interpretation, Frank­furt/M. 1990, S. 261-282.

259

ihres Inhalts ist lokal möglich und nötig. So wie man Neuraths Schiff auch auf offener See Planke für Planke umbauen kann, ohne dass es sinkt, so kann praktische Reflexion radikal sein, denn sie kann – wenn auch nur Stück für Stück – den gesamten Inhalt des Bewertungsschemas zurückweisen und in diesem Sinne negieren. Kritische Reflexion ist insofern unbegrenzt. Als Weg zur Freiheit kann dieser partielle Ablösungsprozess von der ersten wie zweiten Natur von den Subjekten dann gesehen werden, wenn die Subjekte eine Einsicht in die Notwendigkeit dieser Entwicklungsgeschichte haben und sie so nachvollziehen können, dass sie sich diese Entwicklungsgeschichte nachträglich von dem gewonnenen Standpunkt der Freiheit aneignen und sie annehmen können. In dem Prozess der Teilnahme des Subjekts an der sozialen Praxis, der Aneignung der sozialen Praxis durch das Subjekt und der partiellen Kritik von bestimmten Normen der sozialen Praxis entsteht autonome Normativität. Ich hoffe damit plausibel gemacht zu haben, dass sich das Phänomen der Normativität besser verstehen lässt, wenn man drei Ebenen der Betrachtung integriert: Die evolutionär-funktionale Betrachtung zeigt uns, warum Normen, zunächst im relativ anspruchslosen Sinne von sanktionierten Regeln, für menschliches Leben notwendig sind und wieso wir in sie einsozialisiert werden müssen; die Betrachtung unserer normativen Praktiken selber zeigt uns, wie bestimmte Normen sich herausbilden, und die Betrachtung von Normen aus der Teilnehmerperspektive zeigt uns, dass diese bestimmten Normen für uns deshalb Geltung haben, weil wir gute Gründe haben, sie anzuerkennen – nur so sind wir fähig zur Kritik von anderen Normen und gegebenenfalls zur Übernahme neuer Normen. Normativität besteht daher selbst wesentlich in der partiellen Befreiung, zunächst von Gesetzen der Natur und dann von den sozialen Normen je gewordener kultureller Praktiken. Diese Fähigkeit der Normativität beruht auf demjenigen Können, das man mit Hegel »Negativität« nennen kann, das heißt von äußeren Bestimmungen abzusehen und sich davon freizumachen – wenn auch nie zur Gänze.

260

Terry Pinkard Von Autonomie zu Spontaneität.  Menke und Arendt Grundlegend für Christoph Menkes Werk ist an vielen Stellen eine Kritik des modernen Begriffs der Autonomie. Wenn Autonomie darin besteht, nur nach solchen Gesetzen oder Prinzipien zu handeln, die man sich selbst gegeben hat, dann ist der Begriff entweder paradox (großzügig gelesen) oder schlicht selbstwidersprüchlich (weniger großzügig gelesen). Entweder ist das selbstgegebene Gesetz aufgrund eines weiteren Gesetzes hervorgebracht, das nicht selbstgegeben sein kann (und der Begriff untergräbt sich also selbst), oder es ist nicht hervorgebracht, sondern drückt die grundlegende Natur des Subjekts aus – es ist eine Weise, sich das Gesetz vielmehr »anzueignen«, als es hervorzubringen, wie Menke ausführt –, in welchem Fall die Form des Lebens, die das Subjekt ausdrückt, selbst nicht autonom ist. Da beide Lösungen den wesentlichen Rechtfertigungsgrund an eine andere Stelle zurückverlegen, sollten wir laut Menke schließen: Der Grund der Autonomie ist nur die Autonomie selbst, aber der Geist – hier verstanden als Name für die Spezies selbstbewussten Lebens – bringt sich nicht selbst hervor und kann sich nicht selbst hervorbringen. Er entsteht auf eine andere Weise, durch ein »Ereignis«, das selbst nicht durch ein Gesetz geleitet, aber notwendig ist, um zur Autonomie zu befähigen, um sie möglich zu machen.1 Wenn Autonomie darin besteht, nach dem Gesetz zu handeln, das die eigene Natur ausdrückt, dann kann Autonomie, so könnten wir sagen, nicht durch Autonomie, sondern nur durch etwas anderes ermöglicht werden. Nennen wir dies »Spontaneität«. Um diesen Gesichtspunkt der Spontaneität herauszuarbeiten, möchte ich Menkes Idee durch eine Betrachtung von Han1  »Autonomie wird durch Autonomie gewonnen. Der Grund der Autonomie ist Autonomie. Der Schritt über den Linkshegelianismus hinaus besteht in der These, dass der Geist sich nicht selbst hervorbringt; die Bildung der autonomen Gestalt des Geistes ist nicht die autonome Tat des Geistes.« (Christoph Menke, »Autonomie und Befreiung«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58:5 (2010), S. 675-694, hier S. 686)

261

nah Arendts diesbezüglichen Ansichten auf die Probe stellen.2 Es geht dabei nicht darum, Menke und Arendt zu vergleichen oder kontrastieren – auch wenn sich eine erstaunliche Übereinstimmung ihrer Ansichten zeigen wird –, sondern darum, sich darüber klarzuwerden, was mit einer solchen Berufung auf Spontaneität überhaupt in Anspruch genommen wird. Streitpunkt ist das von Menke behauptete Paradox und dessen Auflösung sowie die Frage, ob dieses Paradox eigentlich – wie beispielsweise Charles Larmore argumentiert hat – überhaupt kein Paradox ist, sondern vielmehr ein Selbstwiderspruch.

Handeln: Anfänge und Ausdrücke Der Ursprung des Paradoxes (oder Selbstwiderspruchs) der Autonomie liegt in der Auffassung des vermeintlich autonomen Aktes als einer besonderen Art von Ereignis inmitten einer Reihe anderer Ereignisse. Tatsächlich ist es in der Vorstellung einer Handlung enthalten, ein Ereignis in der Welt neben anderen Ereignissen zu sein. Was dieses Ereignis auszeichnet – es zu einer »Handlung« macht – ist allerdings strittig. Innerhalb dieses Bildes ist es natürlich, sich zu fragen, was genau ein Handlungs-Ereignis von einem gewöhnlichen Ereignis unterscheidet, wie etwa bei der Frage nach dem Unterschied zwischen »ich hebe meinen Arm« und »mein Arm hebt sich«.3 Die recht naheliegende Antwort ist, dass mein Heben des Arms verursacht ist durch einen bestimmten inneren seelischen 2 Dies ist ein Thema, das Menke selbst an mehr als einer Stelle behandelt hat. Hinsichtlich Hannah Arendts Beschreibung des Jerusalemer Gerichts im Fall Eichmann merkt Menke an, dass das Gericht sich Arendt zufolge in seiner Argumentation nicht auf Normen beruft. Diese Beschreibung charakterisiert die Negativität des Denkens des »Monströsen« selbst; oder in Menkes Worten: eines Denkens, »das von dem sprachlosen Schrecken über Eichmann ausgeht, diesen Schrecken ausspricht und auslegt und immer wieder zu ihm zurückkehrt; ein Denken, das sich am Ende wieder in sprachlosen Schrecken zurückverwandelt.« (Christoph Menke, »Auf der Grenze des Rechts. Hannah Arendts Revision des EichmannProzesses«, in: Merkur 67:7 (2013), S. 573-588, hier S. 588) Nach dieser Sichtweise ist Sprache gleichsam eingetaucht in linguistischen Sinn und zugleich darüber hinaus: die spontane Negativität des Denkens selbst. 3 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe, Bd. 1, Frank­furt/M. 1984, S. 225-618, hier § 621, S. 467.

262

Zustand (eine »Absicht«), während das Sich-Heben des Arms nicht durch eine Absicht verursacht ist. (Kants eigene Konzeption, nach der eine freie Handlung von mir verursacht und ohne eine ihr vorhergehende Ursache ist, ist eine Variante desselben Bildes.) Dieses Bild der Handlung nimmt die Vorstellung einer »Reihe« von Ereignissen zur Grundlage und stellt im Rahmen dieses Bildes die Frage, wo – falls überhaupt irgendwo – der Anfang der Reihe liegen könnte. Es ist dann eine weitere Frage, was als freie Handlung zählt. Dies wurde zu Recht als eine dekompositionale Konzeption der Handlung bezeichnet.4 Die grundlegende Relation ist diejenige zwischen Handlungssubjekt und Handlungsereignis, und etwas »im« Handlungssubjekt zu betrachten, das ein äußeres Ereignis verursacht oder darin zum Ausdruck kommt, bedeutet zu übersehen, dass der Kern der Sache womöglich überhaupt nicht im Bild der Reihe, sondern in der Selbstbeziehung des Handlungssubjekts liegt. Hannah Arendt schlug etwas Ähnliches vor, als sie darauf bestand, dass eine freie Handlung immer relational ist. Eine Handlung ist frei, sagt sie, wenn sie eine Relation zwischen oder unter Handlungssubjekten beinhaltet, in der niemand herrscht oder beherrscht wird, und dementsprechend beschränkt sie »Handlungen« vollständig auf die politische Arena. Die grundlegende Charakteristik einer Handlung, die in solch relationaler Weise frei ausgeführt wird, ist ihre Spontaneität,5 also das »Freiheitsvermögen, die reine Fähigkeit des Anfangens«.6 Wenn ein freies (oder autonomes) Handlungssubjekt, wie Menke es formuliert, nach »seinem eigenen« Gesetz handelt, dann ist es die Spontaneität des Handlungssubjekts, die eine solche Autonomie »ermöglicht«. Eine solche Spontaneität kann nicht regelgeleitet sein. Es ist, 4 Douglas Lavin, »Über das Problem des Handelns«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 61:3 (2013), S. 357-372. 5 Vgl. neben anderen Stellen Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, Bd. 2: Das Wollen, München 1979, S. 194: »[…] Freiheit, die aus der Spontaneität eines Neubeginns entsteht«; vgl. auch: »Diese Vorstellung, dass Freiheit identisch ist mit Anfangen, oder, wieder Kantisch gesprochen, mit Spontaneität« (dies., Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, München 2003, S. 34). 6 Hannah Arendt »What is Freedom«, in: dies., Between Past and Future. Eight Exercises in Political Thought, New York 1968, S. 143-72, hier S. 169 [Übers. A.W.]. [Anm. d. Übers.: In der deutschen Veröffentlichung Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I (München 1994) wurde »What is Freedom« durch zwei verwandte Texte ersetzt.]

263

wie Menke sagt, ein »Akt[ ] der Freiheit, ohne aus eigenem Gesetz als vernünftigem Grund zu folgen«.7 Arendt bestimmt eine solche Spontaneität in ihren Schriften als ein notwendiges Element des »Gründungsakts« des politischen Lebens (wie zum Beispiel bei der Gründung der römischen Republik), ja als das, was eine Gründung überhaupt erst zu einer Gründung macht. Sie zog den Schluss daraus, dass es in den Ereignissen, die wir gewöhnlicherweise (und über Arendts technischen Handlungsbegriff hinausgehend) Handlungen nennen würden, bis hinauf zu freien oder autonomen Handlungen, eine Lücke (oder wie sie es nannte: einen »Abgrund«, zwischen Spontaneität und Handlung) gibt, die nicht in den Begriffen verstanden werden kann, die wir gewöhnlich für »Denken« und »Wollen« gebrauchen.8 Ihr einziger Weg, mit dem Abgrund umzugehen, bestand darin, die Fähigkeit, etwas Neues anzufangen, mit dem Faktum der Natalität zu identifizieren, also mit der Tatsache, dass wir alle als einzigartige Individuen neu anfangen.9 Indes kann dies nicht zufriedenstellen, es sei denn, es lässt sich auch aufzeigen, was an unserem Anfangen in Natalität so einzigartig ist, dass wir alle »neu« anfangen. Jede Katze und jeder Hund sind ebenso ein Neuanfang, selbst wenn sie nur mehr oder weniger ihre Spezies wiederholen. Natalität allein wird uns deswegen nicht erlauben, den Abgrund zu überbrücken, sondern ist schlicht eine andere Art, ihn zu konstatieren oder aufzuzeigen. Arendt denkt, dass der Schlüssel hierfür ihre Konzeption des Sprechens und Handelns als paradigmatisch menschliche Tätigkeiten ist. Im Sprechen, dessen man »nicht entraten« kann, errichten wir eine menschliche Welt, in der die vermeintliche Einzigartigkeit jedes Individuums manifestiert ist.10 Wir sollten ihrem Beispiel daher folgen und schauen, wohin es uns führt.  7 Menke, »Autonomie und Befreiung«, S. 686.  8 »Der Abgrund der reinen Spontaneität, der in den Gründungslegenden durch den hiatus zwischen Befreiung und Schaffung der Freiheit überbrückt wird, wurde durch den Kunstgriff verdeckt, das Neue als verbesserte Neuauflage des Alten zu begreifen« (Arendt, Vom Leben des Geistes, Bd. 2: Das Wollen, S. 206; vgl. auch S. 197). Arendt hoffte, diesen Abgrund im dritten Teil (»Das Urteilen«) von Vom Leben des Geistes zu überwinden, aber sie war nicht in der Lage, ihn vor ihrem Tod abzuschließen.  9 Vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, München 1972, S. 216 f. 10 Hier könnten eine Reihe verschiedener Passagen zitiert werden. Eine der kanonischen Passagen ist folgende: »Verschiedenheit und Besonderheit sind nicht

264

In all diesen Überlegungen fährt Arendt fort, Handlung als eine Reihe von Ereignissen aufzufassen. Diese mag zwar »offenbaren«, wer man ist – zu diesem Punkt später mehr –, aber sie bleibt eine Reihe. Was hält die Reihe von Ereignissen zusammen, so dass sie kein bloßes Bündel von Ereignissen ist, sondern eine einzelne Handlung? Nehmen wir eine recht alltägliche, ja banale Handlung: das Abendessen zubereiten. Dies schließt eine Reihe verschiedener Tätigkeiten mit ein (vielleicht etwas Schnippeln, Anbraten, Schütten, Rühren, etc.), die sich gemeinsam zu einer Handlung zusammenfügen, welche die Antwort auf die Frage »Was machst du da?« darstellt (Antwort: »Ich bereite das Abendessen zu«). Zunächst scheint es, dass diese Ereignisse zusammengehalten werden durch den Gedanken dessen, was man tut, wenn man alle diese separaten Dinge tut. Aufgrund des Gedankens hat die Handlung eine zweckmäßige Struktur. Sie strebt etwas an, und sie enthält in sich einen Sinn dafür, was sie vollenden würde. Auf diese Weise ist sie kein bloßes Bündel von Ereignissen, sondern ein zweckmäßiges Tun.11 So durch einen Gedanken zusammengehalten, ist die Handlung zweitens selbstbewusst, da das Handlungssubjekt wissen    dasselbe. Besonderheit oder Andersheit, diese merkwürdige Eigenschaft der ›alteritas‹, die allem Seienden als solchem eignet […]. Im Menschen wird die Besonderheit, die er mit allem Lebendigem teilt, zur Einzigkeit, und menschliche Pluralität ist eine Vielheit, die die paradoxe Eigenschaft hat, daß jedes ihrer Glieder in seiner Art einzigartig ist. Sprechen und Handeln sind die Tätigkeiten, in denen diese Einzigartigkeit sich darstellt. Sprechend und handelnd unterscheiden Menschen sich aktiv voneinander, anstatt lediglich verschieden zu sein; sie sind die Modi, in denen sich das Menschsein selbst offenbart. Dies aktive In-Erscheinung-Treten eines grundsätzlich einzigartigen Wesens beruht, im Unterschied von dem Erscheinen des Menschen in der Welt durch Geburt, auf einer Initiative, die er selbst ergreift, aber nicht in dem Sinne, daß es dafür eines besonderen Entschlusses bedürfte; kein Mensch kann des Sprechens und Handelns ganz und gar entraten, und dies wiederum trifft auf keine andere Tätigkeit der Vita activa zu.« (Ebd., S. 214) 11 Manche Handlungen besitzen unendliche Zwecke, die nicht erledigt werden können, wie z. B. Gesundheit. Man muss den Zweck gewissermaßen immer wieder hervorbringen. Andere unendliche Zwecke, wie z. B. Gerechtigkeit, verhalten sich so, dass der Zweck durch selbstbewusste Versuche, ihn zu verwirklichen, modifiziert wird. Vgl. Terry Pinkard, Does History Make Sense? Hegel on the Historical Shapes of Justice, Cambridge/Mass. 2017; vgl. auch Sebastian Rödl, Selbstbewußtsein, Berlin 2011.

265

muss, was es tut, wenn es die Handlung ausführt, selbst wenn diese nicht von einem separaten reflexiven Akt begleitet wird.12 Wenn das Handlungssubjekt nicht weiß, was es tut, dann kann es auch nicht wissen, wie sich die verschiedenen Handlungsbestandteile auf einander als Elemente dieser Handlung beziehen und eben nicht nur beziehungslose Ereignisse sind. Wenn es kein Selbstbewusstsein in diesem Sinne gäbe, dann könnte es auf die Fragen »Warum schnippelst Du Gemüse?« und »Warum kochst Du Wasser?« keine Erwiderung mit der Antwort »Ich bereite das Abendessen zu« geben. Es scheint recht klar, dass Arendt in ihrer Diskussion von Handlungen nicht auf der Seite derjenigen steht, die eine Absicht als »inneren seelischen Zustand« ansehen, der eine körperliche Bewegung verursacht, sondern eine expressivistischere Auffassung vertritt, nach der die Handlung das innere Leben oder die Absicht des Handelnden eher ausdrückt, als durch sie verursacht zu sein. Arendts Betonung des Sprechens und dessen Beziehung zum Handeln (in ihrem engeren Sinn) ist eine andere Weise, auf diesen Punkt von Handlung (im weiteren Sinn) und Selbstbewusstsein hinzuweisen. Arendt spricht zwar davon, dass Sprechen und Handeln uns »enthüllt« oder »offenbart« – was wie eine expressivistische Ansicht vom Handeln erscheint –, aber dies ist insofern etwas irreführend, als sie wiederholt ausführt, dass das Selbst (das »Wer«), das enthüllt wird, tatsächlich durch die Interpretationen konstituiert ist, die andere von diesem geben – in welchem Fall »enthüllen« nicht das beste Wort ist. Ihre Ansicht scheint eigentlich zu sein, dass man sich als jene Person herausstellt, als die man durch die Interpretationen derjenigen konstituiert wird, die Zuschauer meiner Handlungen sind, und dass ich allenfalls teilweise durch meine eigenen Interpretationen von mir konstituiert bin.13 12 Vgl. Hannah Arendt, Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München 2007, S. 73. 13 »[M]an [hat] immer gewusst […], daß kein Mensch, wenn er handelt, wirklich weiß, was er tut; daß der Handelnde immer schuldig wird; daß er seine Schuld an Folgen auf sich nimmt, die er niemals beabsichtigte oder auch nur absehen konnte; daß, wie verhängnisvoll und unerwartet sich das, was er tat, auch auswirken mag, er niemals imstande sein wird, es wieder rückgängig zu machen; daß das, was doch nur er und niemand sonst begann, doch niemals unzweideutig sein eigen sein und sich in keiner einzelnen Tat und in keinem einmaligen Ereignis je erschöpfen wird; schließlich, daß sogar der eigentliche Sinn dessen, was

266

Sie scheint also mit zwei konkurrierenden Handlungskonzeptionen gleichzeitig zu arbeiten. Einerseits denkt sie die Handlung als durch ein Handlungssubjekt initiiert (durch einen Willensakt oder einen sonstigen seelischen Zustand wie etwa eine Absicht), was dann eine Reihe von Ereignissen in Bewegung setzt, die nicht unter der Kontrolle des Handlungssubjekts stehen. Wenn sie dies auf die Probe stellt (wie sie es teilweise in Vom Leben des Geistes tut), sieht sie sich zurückgeworfen auf den »Abgrund« der Spontaneität, auf die Vorstellung eines Punktes in der Welt, der eine Reihe initiiert, ohne selbst die Wirkung irgendeiner vorhergehenden Reihe zu sein. Dennoch ist es zugleich überdeutlich, dass sie die Handlung in erster Linie so begreift, dass diese zum Ausdruck bringt, wer jemand ist, ohne dabei behaupten zu müssen, dass das Handlungssubjekt völlig geformt und bestimmt ist und nichts als den Handelnden zum Ausdruck bringt (im Sinne davon, »ein bestimmtes »Inneres« in ein gleichermaßen bestimmtes »Äußeres« umzuwandeln). Die kausale Beschreibung (eine Reihe initiieren) führt zu einem Bild, dem sich Arendt ansonsten entgegenstellt: Sie entfernt das Handlungssubjekt faktisch aus der Handlung, indem sie es schlicht zum Initiator eines Prozesses in der Natur macht, demgegenüber es selbst in gleichem Maße ein Zuschauer ist wie alle anderen. (Alle Zuschauer können über die Bedeutung des Prozesses diskutieren; das Handlungssubjekt ist in keiner besonderen Position.) Eine Entfernung des Handlungssubjekts aus der Handlung scheint jedoch eine Position zu sein, die so wenig arendtianisch ist, wie man es sich nur vorstellen kann. In ihrer Handlungsbeschreibung scheint Arendt zwei verschiedene Redeweisen miteinander zu vermengen, die gemeinhin sowohl im Englischen als auch im Deutschen durch zwei verschiedene Begriffe gekennzeichnet sind: Handlung (action) und Tat (deed). Die Bedeutung einer Handlung liegt typischerweise in der Tat, in dem aus der Handlung resultierenden Geschehen, obwohl auch der Handlung selbst Bedeutung beigemessen werden kann (wie im Fall »Nun gut, du hast es versucht, und darauf kommt es an.«). Die Handlung ist die Einheit eines materiellen Prozeser selbst tut, sich nicht ihm, dem Täter, sondern nur dem rückwärts gerichteten Blick dessen, der schließlich die Geschichte erzählt, offenbaren wird, also dem, der gerade nicht handelt.« (Arendt, Vita activa, S. 297 f.)

267

ses, der durch den sie vereinigenden Gedanken zusammengehalten wird (wie etwa »Ich bereite das Abendessen zu«), so dass ohne den zusammenhaltenden Gedanken ein bloßes Bündel von Ereignissen übrigbleibt. Die Tat beinhaltet, was bereits getan wurde (wie etwa »Das Abendessen wurde zubereitet«) und die weiteren Folgen aus demjenigen, was das Handlungssubjekt getan hat. Die Tat muss nicht im Gedanken enthalten sein. (»Am Ende habe ich die Küche in Brand gesetzt, auch wenn das nicht beabsichtigt war, als ich das Abendessen zubereitete.«) Die Handlung, so könnten wir sagen, ist die Einheit des Inneren und Äußeren, wobei es sich nicht um zwei unterschiedliche Dinge handelt – etwa seelische Zustände und durch ein kausales Band verbundene Verhaltensweisen. Eine Handlung kommt nur zustande, wenn das »Innere« und das »Äußere« zusammengeführt werden (wenn ich also etwas angesichts desjenigen Gedankens tue, der die sonst separaten Ereignisse zusammenhält, so wie »das Abendessen zubereiten«). Nun können Tat und Handlung hinsichtlich der Bedeutung auseinandergehen. Ich könnte beabsichtigen, etwas von Bedeutung zu tun, aber kläglich scheitern (grandios, wie etwa das definitive Buch über Platon schreiben wollen und scheitern, oder banal, wie etwa einen Toast machen wollen und scheitern). Meine eigenen Zwecke können mir selbst auch relativ schleierhaft bleiben, selbst während ich handle, so dass es nicht wirklich klar ist, was ich tue. Üblicherweise spricht Arendt aber so, als ob die Handlungsbedeutung gänzlich in der Tat läge und die beiden dasselbe wären.

Die Pluralität des Handelns In Hinsicht auf die Tat (die Bedeutung einer Handlung) betont sie auch, dass eine Pluralität anderer Handlungssubjekte notwendig ist, damit eine Handlung Sinn ergibt, da die Bedeutung der Handlung für diese anderen entsteht, indem sie sie interpretieren. Sie sind deren »Zuschauer«. Diese Zuschauer beobachten die Folgen der Handlung aber nicht nur so, wie sie etwa einen Erdrutsch beobachten würden. Sie beobachten die weiteren Folgen dessen, was jemand getan hat, und versuchen, die Bedeutung der Handlung zu begreifen (sofern vorhanden). Sie haben eine jeweils erstpersonale Perspektive auf eine gemeinsame Welt, die ihrerseits als 268

eine gesehen wird, die aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wird.14 Auch wenn es ein Fehler wäre zu glauben, die Bedeutung einer Handlung läge nur in der an sie durch den Zuschauer herangetragenen Interpretation,15 denkt Arendt klarerweise, dass die andere Person oder die anderen Personen entscheidend für das Selbstbewusstsein des Handlungssubjekts sind. Um es ein wenig anders zu sagen: Arendt denkt, dass die erste Person Singular (»Ich«) nur als untrennbar und gleichzeitig unterschieden von der zweiten Person (»Du«) Sinn ergibt. Einerseits schreibt sie manchmal so, als ob die zweite Person in den Blickwinkel der ersten Person eingebaut wäre, als ob selbst dann, wenn man einsam über seine eigenen Gedanken nachdenkt, das »Ich«, das über sich selbst (als anderes »Ich«) nachdenkt, als zweite Person fungiert, die sich selbst als Gegenüber kritisiert. Allerdings scheint ihre Ansicht insgesamt darauf hinauszulaufen, dass es eine wirkliche und nicht bloß virtuelle Beziehung zu einem anderen Handlungssubjekt gibt – nicht darauf, dass der zweitpersonale Standpunkt in meinen eigenen erstpersonalen Standpunkt eingebaut ist, sondern vielmehr darauf, dass mein erstpersonaler Standpunkt eine wirkliche linguistische Beziehung zu einem realen anderen Handlungssubjekt erfordert, von dem der Standpunkt des Selbstbewusstseins abhängt.16 Es ist also klar, dass sie auf einer solchen Pluralität als grundlegend für die conditio humana beharrt. Aber auf welcher Art von Pluralität? Manchmal spricht sie so, als ob diese verschiedenen Perspektiven im arendtschen Schema einfach einer Sammlung erstpersonaler Sichtweisen entsprechen, in der jedes Handlungssubjekt eine erstpersonale Bemerkung im Sinne von »Wenn ich Du wäre, würde es mir vermutlich so erscheinen« hinzufügt. Arendt würde sich der Auffassung einer gemeinsamen Welt klarerweise nicht im 14 Ebd., S.  70. 15 Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1974, S. 64. 16 »Die Menschen existieren nicht nur wie alle irdischen Wesen im Plural, sie tragen die Signatur dieser Pluralität in sich. Doch kann das Selbst, mit dem ich in der Einsamkeit allein bin, niemals dieselbe klar umrissene und einzigartige Form annehmen, welche alle anderen Menschen für mich haben; es bleibt vielmehr stets veränderlich und ein wenig ambivalent. Und in dieser Form von Veränderlichkeit und Ambivalenz repräsentiert das Selbst für mich, wenn ich allein bin, alle Menschen, die Menschlichkeit aller Menschen.« (Hannah Arendt, Sokrates, Apologie der Pluralität, Berlin 2016, S. 60)

269

Sinne eines völlig losgelösten Blickes von Nirgendwo verschreiben (um Thomas Nagels berühmt gewordene Zurückweisung dieses Begriffs zu verwenden). Stattdessen scheint sie die Beziehungen zwischen erster Person Singular, erster Person Plural und zweiter Person (Plural und Singular) für entscheidend zu halten: »Ich«, »Wir«, »Du/Ihr«. Sie muss ihren Schwerpunkt insbesondere auf eine bestimmte Art der zweiten Person legen, in der ein selbstbewusstes Handlungssubjekt für ein anderes Handlungssubjekt existiert. So viel folgt aus ihrem ansonsten rätselhaften Beharren darauf, dass Versprechen und Vergeben innerhalb der conditio humana die einzigen Grundlagen der Moral sind. Schwierigkeiten bereitet dabei allerdings der Status der Gerechtigkeit: Obwohl sie klarerweise glaubt, dass die Idee der Gerechtigkeit ein untrennbarer Bestandteil dieser Seinsweise ist, scheint sie dennoch nicht zu glauben, dass Gerechtigkeit unter die Kategorie der »Moral« fällt. Warum? Arendt scheint dafür letztlich keine zwingenden Gründe zu haben. Gerechtigkeit, Versprechen und Vergeben sind jeweils, was wir eine dyadische Relation nennen könnten. Sie können nur in Bezug auf unsere Beziehung zu wirklichen Anderen realisiert werden. Ohne diese Anderen kann man sich weder etwas versprechen noch sich vergeben oder sich gerecht werden; Arendt scheint zu glauben, dass die scheinbar monadischen Begriffe des Sich-Etwas-Versprechens, Sich-Vergebens oder Sich-Gerecht-Werdens bestenfalls derivative Versionen der wirklichen Beziehungen sind.17 Hier folgt sie Aristoteles, der sowohl von Gerechtigkeit als auch Freundschaft behauptete, dass sie wirkliche Beziehungen zu Anderen erfordern, so dass man sich selbst, im eigentlichen Sinne, kein Unrecht tun kann. Dies steht im Gegensatz zu beispielsweise Kants Ansicht, der glaubte, dass der Begriff der Verbindlichkeit aus unserer monadischen Anerkennung des Sittengesetzes folgt.18 Tatsächlich befindet sich Arendts Ansicht eher im Einklang mit Hegels Auffassung, dass »[d]iese Beziehung von Willen auf Willen […] der eigentümliche und wahrhafte Boden [ist], in welchem die Freiheit Dasein hat« (hier spricht Hegel interessanterweise über den Vertrag).19 Wenn es auch 17 Arendt, Vita activa, S. 327. 18 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 6, Berlin 1913, S. 222. 19 G.  W.  F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke, Bd. 7, Frank­ furt/M. 1986, § 71, S. 152.

270

zunächst etwas rätselhaft erscheint, dass Arendt bezüglich der Moral das Offensichtliche – wie etwa einem Anderen zum ausschließlichen Zwecke des persönlichen Lustgewinns schwere körperliche Verletzungen zuzufügen – nicht auch als eine der offensichtlichen Moralkomponenten benennt, so stellt es sich als weniger rätselhaft heraus, wenn wir Fälle von Verletzungen der dyadischen Gerechtigkeitsrelation eines Anderen diskutiert finden (wie es klarerweise in ihrer Diskussion der Ungerechtigkeit der Sklaverei geschieht).20 Das zu einer politischen Gemeinschaft ausgebaute »Wir« nimmt eine solche Verbindung zwischen wirklichen Handlungssubjekten an, deren Selbstbewusstsein nur für ein anderes Selbstbewusstsein existiert. Moral besteht, wie Arendt sagt, größtenteils aus Sitten, Prinzipien und Anleitungen, die aus der Notwendigkeit des Zusammenlebens entstehen. Die Kernbegriffe sind die dyadischen des Versprechens, des Vergebens und der Gerechtigkeit. (Die Kerngüter scheinen für Arendt gleichfalls Freundschaft, Liebe und, wiederum, Gerechtigkeit zu sein, die jeweils dyadischer Natur sind.)

Spontaneität Es ist eine tragende Säule der Literatur zu Arendt, hervorzuheben, dass sie selbst glaubte, ihr Interesse an Freiheit habe mit den Pluralitätsmerkmalen innerhalb des politischen und nicht etwa des privaten oder sozialen Feldes zu tun (mit letzteren höchstens derivativ und auf unbedeutende Weise). In ihrem technischen Sinn von »Handlung« können Liebes- und Freundschaftsangelegenheiten keine Handlungen sein.21 Wie jedoch bisher nahegelegt, ist Arendts engerer Sinn von »Handlung« tatsächlich Teil einer allgemeineren Handlungskonzeption. Wie bereits angedeutet, besitzt ihre Konzeption von individueller Handlungsfähigkeit und der notwendigen Beziehung solcher Handlungsfähigkeit zur Pluralität möglicherweise eine größere Reichweite, als sie selbst zugesteht. Arendt spricht oft von dem »Zwei-in-Einem«, mit dem sie die ei20 »Der Preis dafür, daß die gesamte freie Bürgerschaft der Last des Lebens ledig sein durfte, war ungeheuer hoch, und er bestand keineswegs nur in der gewalttätigen Ungerechtigkeit, die denen angetan wurde, die man in das Dunkel der Notwendigkeit und der Mühsal zwang.« (Arendt, Vita activa, S. 140) 21 Ebd., S.  64.

271

gentümliche Charakteristik des Selbstbewusstseins meint und das sie üblicherweise in der Vorstellung eines Denkens alleine mit sich verortet – auf eine Form des Ichs verweisend, die (um Hegels Begriffe zu verwenden) einen Unterschied enthält, der kein Unterschied ist, und die durch eine eigentümliche Form von negativer Einheit gekennzeichnet ist.22 Die Identität eines selbstbewussten Handlungssubjekts ist also selbst in dem, was Arendt das »stumme Zwiegespräch« mit sich selbst nennt, leer, wenn sie ohne jede Beziehung zu einem anderen Handlungssubjekt ist. Das »Ich bin Ich« drückt, wie Kant in den »Paralogismen« der ersten Kritik argumentiert hat, bloß die leere Identität des Subjekts aus, aus der keine wesentliche oder metaphysische Grundlage gefolgert werden kann. Wenn es irgendeinen Inhalt der Selbstidentität geben soll, muss er von außerhalb der reinen Identität kommen – entweder durch einen Naturzustand, vielleicht, wie die antiken Philosophen hofften, aus dem Begriff eines gelingenden Lebens, oder aber durch die Anderen, mit denen wir in den komplexen Beziehungen der zweiten Person und ersten Person Plural stehen (»Du/Ihr« und »Wir«). Eine solche Menge an Inhalten bestünde etwa in den wechselnden Sitten, die Arendt mit dem Großteil dessen, was Moral heißt, gleichsetzt. Wenn der Inhalt von anderen Handlungssubjekten stammt, so muss er näherhin aus den Notwendigkeiten entstehen, die dem notwendigerweise mit Anderen in Beziehung stehenden »Zwei-inEinem« inhärent sind (die Bedingung der Pluralität), und darüber hinaus aus den praktischen Erfordernissen, die in der Selbstgestaltung der realen, konkreten Pluralität anfallen. Diese praktischen Notwendigkeiten sind für Arendt, wie wir gesehen haben, Versprechen, Vergeben und Gerechtigkeit.23 Sie sind weder bloß strategi22 »Das einfache Ich ist diese Gattung oder das einfache Allgemeine, für welches die Unterschiede keine sind, nur, indem es negatives Wesen der gestalteten selbständigen Momente ist« (G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Werke, Bd. 3, Frank­furt/M. 1986, S. 143); »Ihr Wesen, das einfache Bewußtsein ist also die Einfachheit des absoluten Unterschiedes, der unmittelbar kein Unterschied ist. Es ist hiermit das reine Fürsichsein, nicht als dieses Einzelnen, sondern das in sich allgemeine Selbst als unruhige Bewegung, die das ruhige Wesen der Sache angreift und durchdringt.« (Ebd., S. 393) 23 Bekanntlich hat Arendt diese Vorstellung hier noch weiter beschränkt: »Wenn wir unter Moral mehr verstehen dürfen als die Gesamtsumme der ›mores‹ der jeweils geltenden Sitten und Gebräuche, mitsamt der in ihnen enthaltenen Maßstäbe für jeweiliges Verhalten, die als solche sich natürlich historisch dauernd

272

sche Beziehungen (wie Arendt irreführenderweise nahelegt, wenn sie vom Versprechen als einer Absicherung gegen die Unvorhersehbarkeit spricht) noch einfach Elemente eines kollektiven Ziels (wie es beispielsweise das Fördern der Wissenschaften oder bessere Autobahnen sein könnte). Sie bilden die Struktur des »Richtigen« selbst, die Struktur dessen, was wir heute ethische und moralische »Normativität« nennen. Das »Zwei-in-Einem« (das Arendt als einzigen Ort bestimmt, an dem Denken wirklich frei ist) tritt ebenfalls nur im Kontext unserer Beziehungen zu anderen hervor und ist sogar nur innerhalb dieser Beziehungen möglich. Es ermöglicht unsere Beziehungen zu anderen (als unser eigenes individuelles Selbstbewusstsein) und wird selbst durch diese Beziehungen ermöglicht. Hegel kennzeichnet dies tatsächlich als paradigmatischen Fall von Freiheit: »Diese Freiheit haben wir aber schon in der Form der Empfindung, zum Beispiel in der Freundschaft und Liebe. Hier ist man nicht einseitig in sich, sondern man beschränkt sich gern in Beziehung auf ein Anderes, weiß sich aber in dieser Beschränkung als sich selbst«.24 Wenn Arendt über Freundschaft schreibt, sagt sie fast dasselbe aus mehr oder weniger denselben Gründen.25 Arendt legt ihre Ansicht wandeln und von Land zu Land verschieben, so kann Moral sich jedenfalls im Feld des Politischen auf nichts anderes berufen als die Fähigkeit zum Versprechen und auf nichts anderes stützen als den guten Willen, den Risiken und Gefahren, denen Menschen als handelnde Wesen unabdingbar ausgesetzt sind, mit der Bereitschaft zu begegnen, zu vergeben und sich vergeben zu lassen, zu versprechen und Versprechen zu halten. Dies jedenfalls sind die einzigen Moralvorschriften, die an das Handeln nicht Maßstäbe und Regeln herantragen, die außerhalb seiner gewonnen und von einem angeblich höheren Vermögen oder von Erfahrungen mit vorgeblich höheren Dingen abgeleitet sind. Sie entspringen vielmehr direkt aus dem Miteinander der Menschen, sofern dieses sich auf Handeln und Sprechen überhaupt eingelassen hat, als seien sie die Kontrollorgane, welche in das Vermögen, neue und an sich endlose Prozesse zu beginnen und loszulassen, eingebaut sind.« (Arendt, Vita activa, S. 314 f.) 24 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 7 Zusatz, S. 57. 25 »Die große Anmut der Gesellschaft anderer besteht darin, dass sie das Zwei-inEinem erlöst, indem sie es individuell macht. Als Individuen sind wir aufeinander angewiesen und werden einsam, wenn wir der Gesellschaft anderer durch körperliche oder politische Unfälle beraubt werden. Einsamkeit entsteht, wenn der Mensch keine Gesellschaft findet, um ihn aus dem dualen Wesen seines Alleinseins zu retten, oder wenn der Mensch als ein Individuum, dessen Individualität stets Anderer bedarf, von diesen verlassen oder getrennt wird. In letzterem

273

dar, dass das »Ich« der Selbstidentität abgesehen von seiner Beziehung zu anderen Subjekten an sich leer und daher machtlos ist.26 Für solch an sich fragmentierte Geschöpfe (die jeweils ein »ZweiIn-Einem« nur in Beziehung zu anderen sind) kann ihr Gutes nur ein Gut sein, insofern sie sich einander dieses Gut repräsentieren, einen Begriff dieses Guts bilden. Es kann sozusagen nicht instinktiv funktionieren, wie wir uns dies bei Tieren vorstellen. Dadurch stellt sich eine bekannte arendtianische Dynamik ein. Wenn der Inhalt deines Selbstbewusstseins von anderen stammt, die den Inhalt ihres Selbstbewusstseins nur vermöge dessen haben, Fall ist er völlig alleine, sogar von seiner eigenen Gesellschaft verlassen.« (Hannah Arendt, »On the Nature of Totalitarianism. An Essay in Understanding«, in: dies., Essays in Understanding 1930-1954. Formation, Exile and Totalitarianism, New York 2005, S. 328-360, hier S. 359 [Übers. A.W.]) 26  Vergleichen wir Arendts und Hegels diesbezügliche Ausführungen. Arendt: »Wenn wir sagen, was ein Ding ist, sagen wir immer auch, was es nicht ist; jede Bestimmung ist Negation, wie es bei Spinoza heißt. Ausschließlich zu sich selbst in Bezug gesetzt, ist es dasselbe: αύτό (ἔκαστον) έατῷ ταὐτόν (auto [hekaston] heauto tauton) – jedes für sich selbst dasselbe, und alles, was wir darüber im Hinblick auf seine bloße Identität sagen können, ist das folgende: Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose. Doch dies ist keineswegs der Fall, wenn ich in meiner Identität (›Einer seiend‹) mich auf mich selbst beziehe. Dieses merkwürdige Ding, welches ich bin, braucht keine Pluralität, um Verschiedenheit herzustellen; es trägt den Unterschied in sich, wenn es sagt: ›Ich bin Ich‹. Solange ich bewußt bin, das heißt meiner selbst bewußt, bin ich nur für Andere, denen ich als ein und derselbe erscheine, mit mir identisch. Für mich selbst bin ich, wenn ich dieses Mit-mir-selbst-bewußt-Sein artikuliere, unvermeidlich Zweiin-Einem, was im Übrigen der Grund dafür ist, weshalb die modische Suche nach der Identität vergeblich ist und unsere moderne Identitätskrise nur durch Verlust des Bewußtseins gelöst werden könnte. Das menschliche Bewußtsein legt es nahe anzunehmen, daß Unterschied und Anderssein, die solch herausgehobene Kennzeichen der dem Menschen in einer Pluralität von Dingen als seine Wohnstatt gegebenen Welt der Erscheinungen sind, auch für die Existenz des menschlichen Ego die wahren Bedingungen seien. Denn dieses Ego, das Ichbin-Ich, erfährt Verschiedenheit in der Identität genau dann, wenn es nicht zu den erscheinenden Dingen, sondern zu sich selbst in Beziehung steht« (Hannah Arendt, »Über den Zusammenhang von Denken und Moral«, in: dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München 1994, S. 128-55, hier S. 150 f.). Hegel: »[…]daher heißt seine Subjektivität [des Willens] α) die reine Form, die absolute Einheit des Selbstbewußtseins mit sich, in der es als Ich = Ich schlechthin innerlich und abstraktes Beruhen auf sich ist – die reine Gewißheit seiner selbst, unterschieden von der Wahrheit« (Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 25, S. 76).

274

dass sie ihn durch dich bekommen, dann entsteht ein Henne-EiProblem. Ein Weg aus jedem solchen Henne-Ei-Problem ist es, einer der beiden Seiten Priorität einzuräumen. Du erhältst deinen Inhalt (»wer« du bist) von einem anderen, der ihn von niemandem sonst erhält. Er ist einfach, was er in seinem Naturzustand ist, und er schreibt dir schlichtweg vor, was er dir vorschreiben möchte. Dies eröffnet einen Kampf um dasjenige, was Hegel und andere »Anerkennung« genannt haben. Wer von euch beiden befindet sich an der Stelle, dem anderen etwas vorzuschreiben? Was aus dieser Logik einer pluralen, selbstbewussten Handlungsfähigkeit entsteht, ist die Vorstellung, dass diese Beziehung nur in einer Beziehung von Gleichen stabilisiert und in ihre wahre Form gebracht wird, nämlich in die Form der Freiheit.27 Wir finden diese Gleichheitsbeziehung in Freundschaft und in Gerechtigkeit, in denen die Beziehungen unter den Handlungssubjekten klarerweise dyadischer Natur sind, insofern jeder eine wesentliche Beziehung zu einem wirklichen »Anderen« und nicht bloß einem »hypothetischen« Anderen unterhält.28 Freiheit ist, wie Arendt immer wieder betont, Handeln in einer Beziehung, in der niemand herrscht oder beherrscht wird. Diese Dynamik erfordert logischerweise eine Gleichheit des Status.

27 Vgl. Menkes Diskussion dieser Begrifflichkeit in Christoph Menke, Spiegelungen der Gleichheit. Politische Philosophie nach Adorno und Derrida, Frank­furt/M. 2004. Vgl. insbes. die Diskussion über die »romantische« versus »liberale« Auffassung der Gleichheit: ebd., S. 226-272. 28 »Wir alle wissen aus eigener Erfahrung, dass Freundschaft Gleichheit beinhaltet. Obwohl Freundschaft ein Ausgleichen der bestehenden natürlichen oder ökonomischen Ungleichheiten sein kann, gibt es eine Grenze, jenseits derer ein solches Ausgleichen gänzlich unmöglich bleibt. In Aristoteles’ Worten: Keine Freundschaft könnte je zwischen einem Menschen und einem Gott bestehen. Dies gilt gleichermaßen für die Beziehungen von Nationen, zwischen denen die ausgleichende Kraft der Freundschaft nicht wirkt.« (Hannah Arendt, »Dream and Nightmare«, in: dies., Essays in Understanding 1930-1954, S. 409-417, hier S. 413 [Übers. A.W.])

275

Schluss Menke beschließt »Autonomie und Befreiung« mit einem Gedanken, der seit der Tragödie im Sittlichen charakteristisch für seine Auffassungen ist: »Der Kampf gegen soziale Herrschaft ist politischer Kampf für die Gleichheit: Kampf gegen diejenigen Gruppen, die durch die Aufrechterhaltung der naturhaften Macht der Gewohnheit ihre Vormacht reproduzieren«.29 Dieser Kampf gegen Herrschaft entsteht aus einem Akt der Freiheit, das heißt durch eine Spontaneität, die nicht durch Gesetze geleitet ist. Dies ist nahezu identisch mit Arendts Spontaneität als dem Vermögen, etwas neu anzufangen. Menke scheint dieser Konzeption arendtianischer Politik beizupflichten, wenn er eine Diskussion von Arendts Sicht auf Menschenrechte damit beschließt, dass er Arendts latenter Konzeption der Würde beipflichtet. Wir müssen fragen, so Menke, ob »der Begriff der menschlichen Würde […] einen anderen Grundbegriff des Rechts einführt: eine Begründung subjektiver Rechte aus der Erfahrung des für den Menschen Richtigen«, also aus demjenigen, was den Menschen erlaubt, ihre »Bestimmung zum Politischen« zu entfalten: ihre Spontaneität.30 Oder, um es in arendtianischen Begriffen auszudrücken: in reziproken Beziehungen zu handeln, in denen keine Seite herrscht oder beherrscht wird, also frei, als Gleiche, spontan zu handeln. Was aber bedeutet es, wenn wir uns Menkes und Arendts Ansichten anschließen: Drängt uns dies nicht tatsächlich zu einer eher hegelianischen Position? Wenn es sich so verhält, wie Hegel dachte, dass der Bruch, den wir im Selbstbewusstsein von Anbeginn an finden, eine Entwicklung des tieferen Bruchs im Denken selbst ist, dann ergibt das Denken, das dies denkt, Sinn, wenn es bei einem Einfachen beginnt, nur um zu erkennen, dass dies für einfach Gehaltene sich selbst als ursprünglich Zerrissenes herausstellt. Oder 29 Menke, »Autonomie und Befreiung«, S. 693. Vgl. auch Menkes Diskussion von Marx’ Deutung der Französischen Revolution als Kampf gegen Erniedrigung, Verlassenheit, Knechtschaft und Verächtlichkeit in Menke, Spiegelungen der Gleichheit, S. 285. 30 Christoph Menke, »Die ›Aporien der Menschenrechte‹ und das ›einzige Menschenrecht‹. Zur Einheit von Hannah Arendts Argumentation«, in: Eva Geulen u. a. (Hg.), Hannah Arendt und Giorgio Agamben. Parallelen, Perspektiven, Kontroversen, München 2008, S. 131-47, hier S. 147, 145.

276

finden wir uns in derselben Position wieder wie Wittgenstein im Tractatus, als er zum Schluss kommen musste, dass alles, was er bis dahin gesagt hatte, Unsinn war? Oder ist es so, wie sowohl Hegel als auch Wittgenstein dachten: Solange wir nicht die ganze Geschichte dieses gebrochenen Denkens erzählt haben, bleibt nichts als Unsinn? Aus dem Englischen von Alexey Weißmüller

277

III. Die Politik der Negativität

Martin Saar Gegen-Politik.  Zur Negativität der Demokratie Ein zukünftiger Rückblick auf die Diskussionslage in der politischen Philosophie der späten 2010er Jahre wird mit großer Wahrscheinlichkeit die Wiederkehr des Begriffs und der Diagnose einer tiefgreifenden »Krise der Demokratie« notieren. Dies wird eventuell in Verbindung mit Überlegungen zur zyklischen Wiederkehr dieses Topos gebracht werden; so ließe sich, 50 Jahre nach 1968, ein im Vergleich ähnlich tiefgreifendes Unbehagen an einem eingespielten Institutionengefüge wie damals konstatieren. Oder diese Diagnoselage könnte als späte Antwort und Rückschlag in Bezug auf 1989 gedeutet werden, einen damals gefühlten und inzwischen historiographisch bewährten Wendepunkt, der genau das Gegenteil, nämlich den Triumph und die Unangefochtenheit der liberalen Demokratie zu markieren schien. Aber man wird wohl nicht anders können, als festzustellen, dass in dieser Zeit, das heißt heute, der Demokratie (und dem Denken der Demokratie) etwas zugestoßen ist, was sie (und es) schwächer und ängstlicher werden ließ. Die Philosophie kann auf solche Krisen auf vielfältige Weisen reagieren. Sie kann zum Fall dessen, was ohnehin stürzt, noch beherzt beitragen. Sie kann, was unter Beschuss ist, umso leidenschaftlicher verteidigen. Sie kann aber auch Erwartungen daran, was zu retten sei, mäßigen, deskriptiv und normativ gewissermaßen abrüsten, um die Krisendiagnose abzumildern und es zu ermöglichen, den wirklichen Problemen genauer ins Auge zu sehen. Alle drei philosophischen Strategien sind gegenwärtig anzutreffen: Mit viel Lärm und Wucht prallen eine neue philosophische Verachtung für, manchmal fast ein Hass auf die Demokratie, wie wir sie kennen, auf selbstbewusste Apologien, ja Utopien des Demokratischen, wie es sein könnte und müsste. Es könnte indes sein, dass eine politische Philosophie der Demokratie, die sich der Tradition einer bestimmten kritischen Theorie und ihrem Gespür für den ambivalenten, dialektischen oder tragischen Charakter noch der 281

eindeutigen menschlichen Ideale verpflichtet fühlt, eher der dritten, nicht ganz so häufig anzutreffenden Strategie zuneigt. Eines ihrer deutlichsten Instrumente ist der Gedanke, dass die Demokratie gar nichts (Eindeutiges) ist, was sich (eindeutig) verachten oder verteidigen ließe, sondern etwas, was in sich widersprüchlich und spannungsreich verfasst ist, an dessen Grund also weniger eine feststellbare Identität als eine immer erst jeweils neu zu bestimmende Leere liegt, ein Widerspruch oder eine Unbestimmtheit. Eine politische Philosophie, die von einer solchen Gestalt der Demokratie ausgeht, würde sie negativ bestimmen, und sie wäre skeptisch gegenüber den Versuchen, philosophisch eine politisch eindeutige Idee der Demokratie zu etablieren, und sei es in verteidigender Absicht. Denn sie bezweifelt, dass Demokratie etwas ist, womit sich – eindeutig – Politik machen oder fordern lässt; und sie bezweifelt, dass Demokratie dasjenige ist, was sich politische Subjekte darunter vorstellen, nämlich etwas, was sie machen oder fordern können. An drei Elemente eines solchen negativen philosophischen Denkens der Demokratie aus der Geschichte des politischen Denkens und der laufenden Debatte soll im Folgenden kurz erinnert werden und damit auch daran, dass ein solches Denken weder neu noch selten, sondern derzeit nur etwas weniger laut ist. Während es vollkommen eindeutig scheint, dass die Demokratie eine bestimmte Herrschaftsform mit einem bestimmten politischen Subjekt und einem bestimmten Ziel ist, stehen hier alle diese Selbstverständlichkeiten selbst wieder in Frage, mit dem Ergebnis, dass das Wesen der Demokratie selbst flüchtig wird. I. Keine Herrschaft

Wir sind es gewohnt, Demokratie als eine bestimmte Herrschaftsform zu verstehen, die auf eine bestimmte Weise, nämlich demokratisch, das Recht zu regieren organisiert und verteilt. Wir verstehen sie damit gewöhnlich als ein Regime, das sich neben andere Regierungsformen stellen und von ihnen abgrenzen lässt, die dieses Recht anders zuteilen, den Reichen, Mächtigsten oder Besten etwa. In einer der frühesten überlieferten Thematisierungen der Demokratie in der westlichen Tradition, in Platons Staatslehre, wird sie 282

als ein solches spezifisches Regime betrachtet, das sich allerdings in Platons Augen nur als Zerfallsprodukt, als Ergebnis einer sich auflösenden oligarchischen Ordnung begreifen lässt. Nur dann, wenn wenige Mächtige ihre Macht missbraucht und den Zorn aller auf sich gezogen haben, wird es zu einer sinnvoll scheinenden Praxis, allen »im gleichen Maß Anteil« an Verwaltung und Ämtern zu geben und das politische Leben an der Freiheit der Einzelnen ausgerichtet zu organisieren.1 Entsprechend weigert sich Platon zumindest im Staat, ganz anders als später Aristoteles in der Politik, der Demokratie den Rang einer eigenständigen Regierungsform zu geben. Sie ist ein Unding, das Unsinniges tut, nämlich Herrschaft durch Nichtherrschaft ausübt, denn sie ist »eine angenehme, herrscherlose und buntscheckige Verfassung, die Gleichen und Ungleichen eine gewisse Gleichheit verleiht«.2 Das Egalisierende, Kriterienlose dieser Herrschaftsform unterminiert diese Herrschaft und führt sie ad absurdum, denn wo alle ganz gleich sind, herrscht niemand mehr und herrscht auch keine Ordnung. Die demokratische Ordnung, Verkörperung der »Gleichberechtigung«, ist eine Unordnung.3 In einem gewissen Sinn beginnt die politische Moderne dort, wo diese Gleichsetzung mit der Unordnung ihre Verbindlichkeit verliert und wo sich die Vorstellung, eine Regierung von Gleichen könne als Regierungsweise glücken und sei jeder Form der Ungleichbehandlung vorzuziehen, endgültig durchgesetzt hat. In der politischen Philosophie der Moderne, mit Rousseau, mit 1789, mit den demokratischen Revolutionen, könnte man sagen, ändert sich die Bedeutung dessen, was hier Herrschaft heißt, zugleich mit dem, was von ihr ausgesagt wird, nämlich dass sie demokratisch ist. Demokratisches Regieren ist jetzt eine Regierung von Gleichen durch Gleiche und nur temporär Vorgesetzte und Ermächtigte. Man könnte nun denken, dass damit die Demokratie als eine spezifische Regierungsform etabliert ist, mit bestimmten Regeln und Verfahren, spezifischen Begründungsformen und Prozeduren, und die moderne politische Theorie ließe sich als Ausgestaltung dieser inneren Eigenschaften der Demokratie verstehen, in der ihre ins1 Platon, Der Staat, übers. v. Rudolf Rufener, München 1991, S. 363 (557a). 2 Ebd., S. 366 (558c). 3 Ebd., S. 371 (561d).

283

titutionelle, rechtliche und normative Gestalt bestimmt und definiert wird. Jacques Rancière hat in einer einflussreichen Intervention zu dieser Frage in einer interessanten Geste den platonischen Einwand gegen die Demokratie, sie sei gar keine Regierungsform, bekräftigt und neu gedeutet. Es ist richtig, sagt er, die Demokratie, begründet auf Gleichheit, ist keine Form von Regierung, wenn man darunter die ordnende und rechtmäßige Einrichtung von Dingen und Personen in einem geteilten Raum versteht. »Demokratisch« kann nur die Hinsicht sein, in der eine solche Ordnung kritisiert und bestritten wird, nämlich in Hinsicht auf ihre teilenden, ordnenden und ungleich machenden Effekte. Damit verliert aber die Demokratie ihren Charakter als eine bestimmte Regierungsform, sie wird zu dem, was eine Regierungsform unterbricht und zurückweist im Namen einer Gleichheit, die selbst keine Form hat. Rancière selbst insistiert auf der Ursprünglichkeit und Traditionalität dieses Denkens der Demokratie. Entstanden als Schimpfwort für die Unregierung, in den kurzen antiken Phasen und seit der politischen Moderne um- und aufgewertet als Kritik der Herrschaft der Wenigen oder des Einen, steht Demokratie für »das Fehlen jeglichen Titels. Das ist die tiefe Unordnung, die das Wort Demokratie bedeutet. […] Demokratie bedeutet also zunächst Folgendes: eine anarchische ›Regierung‹, die auf nichts anderem gründet als dem Fehlen jedes Herrschaftsanspruchs.«4 In der antiken Auszeichnung des Losverfahrens sieht Rancière ein Würdigen dieser Titel- oder Anspruchslosigkeit demokratischer Ämter: Jeder kann sie ausführen, keiner ist mehr oder besser geeignet als jeder beliebige andere, ja, das Gerechte der demokratischen Ordnung zeichnet sich dadurch aus, dass sie zufällig, nichtselektiv, ist. Das ist das »paradoxe Prinzip« einer Ordnung, die kein Ordnungsprinzip hat, sondern nur die Abwehr jeder Herrschaft, jedes Vorrechts und jeder Auszeichnung zum Prinzip macht.5 Damit ist sie aber auch keine Struktur, keine erfolgte Verteilung, sondern ein Abwehr-, man könnte sagen: ein negatives Prinzip: »Die Demokratie ist weder ein Verfassungstypus noch eine Gesellschaftsform. Die Macht des Volkes ist […] nur die Macht, die denjenigen eigen 4 Jacques Rancière, Der Hass der Demokratie, Berlin 2011, S. 45 f. 5 Ebd., S.  48.

284

ist, die weder zum Regieren bestimmt sind, noch zum Regiertwerden.«6 Sehr konsequent legt Rancière die Implikationen dieser Position aus, und sie weisen tatsächlich in die Richtung eines inhärenten Negativen, einer Leere im Herzen des Demokratischen, die in diesem Verständnis kein Volles, Erfülltes, Strukturiertes sein kann und auch kein Prinzip zur Strukturierung oder zum Politikmachen abgeben kann, ohne sich selbst wieder durchzustreichen. Das scheinbar Krisenhafte der Demokratie als Regierungsform verweist auf eine kritische Unterbestimmtheit im Wesen des Demokratischen: Die üblichen Klagen über die unregierbare Demokratie verweisen in letzter Instanz auf folgende Feststellung: Die Demokratie ist weder eine zu regierende Gesellschaft noch eine Regierung durch die Gesellschaft, sie ist streng genommen jenes Unregierbare, das jede Regierung letztendlich als ihre Grundlage anerkennen muss.7

Wenn also einerseits die uralte Kritik an der Demokratie, dass sie nie regieren konnte, und andererseits die heutige Klage, dass sie nicht mehr regieren kann, beide etwas an der Demokratie treffen, ist es diese Unregierung mitten in der Demokratie, die sie streng genommen nicht zum System, zum Regime oder zur Regierungsweise werden lässt. Mit anderen Worten: Folgt man diesen Vorschlägen, muss sich das Denken demokratischer Politik radikal verändern, denn demokratische Herrschaft ist (eigentlich) keine. Die Demokratie ist die Kritik von Herrschaft, nicht ihre Ersetzung – das könnte nur ein neues Regime leisten –, aber ihre Herausforderung und Bestreitung im Namen einer Gleichheit aller, die nicht schon umgesetzt oder umsetzbar wäre. Damit verweist der Name »Demokratie« auf etwas Prinzipielles und Unendliches, nämlich den immer wieder neu einsetzenden Bezug auf eine Gleichheit, die noch nicht gegeben ist, und genau darin bleibt sie unbestimmt, unterbestimmt, negativ: keine neue Herrschaft oder Regierungsweise, sondern ihre – unendliche und prinzipielle – Kritik.

6 Ebd., S. 51. Vgl. ausführlicher dazu Martin Saar, »Ohnmacht und Unfreiheit. Demokratische Politik nach der Postdemokratie«, in: Ulf Bohmann, Paul Sörensen (Hg.), Zur Kritischen Theorie der Politik heute, Berlin, i. E. 7 Rancière, Der Hass der Demokratie, S. 54.

285

II. Kein Volk

An einer nicht besonders exponierten Stelle seines Politischen Traktats, erschienen kurz nach seinem Tod 1677, schreibt Baruch de Spinoza in einer quasi-definitorischen Weise, worauf das Recht zu regieren eigentlich beruht: »Dieses Recht, das durch die Macht der Menge definiert wird, nennt man als Regierungsgewalt gewöhnlich die Souveränität des Staates [Hoc jus, quod multitudinis potentia definitur, imperium appellari solet].«8 Oder, anders übersetzt: Dieses Recht (zu regieren), das man (gewöhnlich) als Staats- und Regierungsgewalt bezeichnet, wird (eigentlich) von der Macht der Menge bestimmt. Die Erläuterung im Relativsatz ist eine Reduktion: was auf eine bestimmte Weise benannt wird, lässt sich auf etwas anderes zurückführen, die Staatsgewalt auf die Macht der Menge. Nur sie macht, könnte man sagen, Regieren und Regierung möglich, weil es da, wo es nichts zu regieren gibt und sich nichts regieren lässt, das Recht und die Praxis des Regierens sinnlos und haltlos sind. Aber wer oder was ist die multitudo? An keiner Stelle gibt Spinoza eine wirkliche Definition, aber die multitudo durchzieht die Argumentation im Politischen Traktat auf systematische Weise, sie steht für »alle« (mit den üblichen frühneuzeitlichen Ausschlüssen), die in einem Staatsgebiet leben, die also Untertanen einer Regierung sind, insofern sie als dieses Gegenüber von Regelung und Ordnung betrachtet werden. Die Staatsformenlehre, die er zusammen mit Überlegungen zu Monarchie, Aristokratie und Demokratie anbietet, beziehen sich alle auf dieses Gegenüber, denn jede Form der Regierung rechnet ja mit dieser Menge seiner Untertanen, will sie leiten und führen und muss sich davor hüten, ihre Gunst zu verspielen. Die Staatskunst besteht gerade darin, »eine Menschenmenge zu lenken, d. h. innerhalb bestimmter Grenzen in Schranken zu halten«, denn von alleine wird sie sich diese Schranken nicht setzen.9 Es verfällt »einem Märchen«, wer glaubt, dass »eine Menschenmenge […] dazu gebracht werden [könnte], nach einer bloßen Vorschrift der Vernunft zu leben«.10 Wer will, dass die Menge friedlich und einvernehmlich lebt, muss  8 Baruch de Spinoza, Politischer Traktat, dt./lat., übers. u. hg. v. Wolfgang Bartuschat, Hamburg 2004, Kap. II, S. 29.  9 Ebd., I, S. 9. 10 Ebd., I, S. 11.

286

dies durch rationale Herrschaft erst herstellen, da »die Menge nur dann wie von einem Geist geleitet wird, wie es in einem Staat erforderlich ist, wenn sie Rechtsgesetze hat, die der Vorschrift der Vernunft gemäß erlassen sind«.11 Neben vielen interpretatorischen und systematischen Implikationen dieser Passagen ist hier ein Gedanke entscheidend: Die multitudo ist eine Voraussetzungsfigur, sie macht Herrschaft möglich, ist aber noch nicht selbst beherrscht, sie muss in Schach gehalten werden durch Techniken rationaler Gesetzgebung, die ihr erst eine bestimmte Form geben. Die multitudo ist also, wie schon ihr Name sagt, eine formale Vielheit, die erst im klug und vernünftig Regiertwerden zur Einheit eines Volkes werden kann und die sich auch nur unter bestimmten politischen Umständen als »freie Menge«, multitudo libera, entfalten kann.12 Die Menge ist der Grund der Politik oder der Regierung, aber auf eine unbestimmte, unterbestimmte Weise, sie besitzt nicht schon Eigenschaften, die sie zum Regiertwerden prädestinieren, sondern ist die formale, vielfältige Bedingung des Politischen. Die Vielfältigkeit der vielen Bürger, die noch kein einheitliches Volk sind, macht erst den Staat und die Politik möglich. In einer Vielzahl einflussreicher und umstrittener Publikationen hat Antonio Negri in den vergangenen Jahrzehnten diese Konzeption der multitudo interpretiert, aktualisiert und dem zeitgenössischen Denken der Demokratie als systematischen Vorschlag unterbreitet. Nur wer das vermeintlich einheitliche Subjekt der Demokratie, den demos oder das Volk, durch die vielfältigen Subjekte der Multitude ersetzt, erlangt Negri (und Michael Hardt) zufolge eine realistische und politisch progressive Perspektive auf das Leben und die Potentiale der Demokratie: Politisches Handeln heute kann, wenn es ihm um Veränderung und Befreiung geht, nur die Multitude zu seiner Grundlage nehmen. […] Das Volk ist eins. […] Die Multitude hingegen ist nicht vereinheitlicht, sondern bleibt plural und vielfältig. Das ist der Grund, warum das Volk – der vorherrschenden Tradition der politischen Philosophie zufolge – als souveräne Macht herrschen kann, die Multitude aber nicht. Die Multitude setzt sich aus einer Reihe von Singularitäten zusammen – und unter Singularität 11 Ebd., II, S. 31. 12 Ebd., V, S. 65; vgl. VII, S. 123, VIII, S. 141.

287

verstehen wir hier ein gesellschaftliches Subjekt, dessen Differenz sich nicht auf Gleichheit zurückführen lässt, eine Differenz also, in der die Verschiedenheit bestehen bleibt.13

Die theoretische Geste, deren Treue zu Spinozas politischer Philosophie hier offenbleiben kann, ist relativ einfach: An die Stelle der Einheit (des Volkes) tritt die Vielfältigkeit (der Multitude), einem einheitslogischen Denken des einen Staatsvolkes tritt die differenztheoretische Logik der in sich vielfältigen Multitude gegenüber. Diese Alternative weist also jede einheitliche und vereinheitlichende Bestimmung des demos als Staatsvolk oder Subjekt der Politik zurück zugunsten einer Vorstellung von der in sich pluralen Basis der Politik, die noch keine einheitliche Form besitzt, sondern aus in sich differenten Einheiten, »Singularitäten«, besteht. Die genaue Gestalt dieser Basis, die eine Voraussetzung, aber kein Grund ist, bleibt notwendigerweise un- und unterbestimmt, denn nichts hält sie zusammen. Die Multitude ist, so verstanden, also »immer und notwendigerweise […] ein offenes, plurales Gebilde«.14 Dieser Perspektivwechsel hat tiefgreifende Konsequenzen für das Verfahren eines Denkens der Demokratie. Ausgehend von solchen differenztheoretischen Prämissen erscheint es nun nämlich weniger entscheidend, die Medien und Prozeduren der Vereinheitlichung (Repräsentation, Institutionalisierung, Recht) zu beleuchten, als die in der Vielheit selbst liegenden Kräfte zur Darstellung zu bringen. Als nichteinheitliche, nichtakteurshafte Voraussetzung der Politik ist, will und tut die Multitude nichts, und keine Interessenvertretung könnte ganz in ihrem Namen sprechen. Sie steht zugleich vor und in dem Feld verfasster und repräsentierter Politik, aber nicht als ihr Subjekt. Mit ihr in ihrer Vielfalt und auch in ihrer Widerspenstigkeit zu rechnen, ist eine Frage des »politischen Realismus«, der sich jeder »transzendenten, ideologischen und theologischen Vorschreibung eines telos von außen« enthalten und stattdessen offen sein sollte für den dynamischen und prozesshaften Charakter der Artikulation eines »telos von unten, aus dem Innern der Begehren der Multitude: in einer immanenten Teleologie«.15 In diesem Bild ist die Vorstellung eines einheitlichen Subjekts 13 Michael Hardt, Antonio Negri, Multitude. Krieg und Demokratie im Zeitalter des Empire, Frank­furt/M., New York 2004, S. 117. 14 Ebd., S.  214. 15 Michael Hardt, Antonio Negri, Assembly, Oxford 2017, S. 233 [Übers. M.S.].

288

(oder eines klar umrissenen demos) demokratischer Politik verschwunden zugunsten eines negativen und zugleich hochprozessualen Bilds demokratischer Artikulation: Im Feld des Politischen zeigen sich nicht die erkennbaren und institutionell prozessierbaren Interessen und Identitäten des Volks, sondern die Energien und Begehren einer vielfältigen Nicht-Einheit, eines praktischen und affektiven Zusammenhangs von vielen Singularitäten in ihrer Interferenz und ihrem möglichen Zusammenstimmen. Dieser Vielfältigkeit gerecht wird keine institutionelle Form, die mit einem eindeutigen Subjekt rechnet; und eine Demokratie, die dies tut, wäre keine mehr, sondern nur noch ein Staats- oder Nationenprojekt. Die Voraussetzung wirklicher Demokratie ist die Negation des Volkes. III. Keine Lösung

In einer berühmten und faszinierenden Passage spricht der frühe Marx von der Demokratie in einem seltsamen, ungeläufigen Sinn. Der Unterschied zwischen den drei klassischen Staatsformen ist für ihn asymmetrisch, die Demokratie ist keine Variante einer Verfassung wie die anderen beiden, sondern jene ist in diesen enthalten, keine Verfassung oder Staatsform lässt sich ohne die anderen denken oder verstehen, nur die Demokratie »kann aus sich selbst begriffen« werden, da sie einfach ist: Hier ist der Staat oder die Regierung selbst das Volk oder die politische Körperschaft, die sich eben selbst regiert. Alle anderen (Aristokratie, Monarchie) führen einen Unterschied, eine Teilung ein, die aber bezogen bleibt auf das Ungeteilte, Ganze: In der Demokratie erlangt keines der Momente eine andere Bedeutung, als ihm zukommt. Jedes ist wirklich nur Moment des ganzen Demos. […] Alle übrigen Staatsbildungen sind eine gewisse, bestimmte, besondere Staatsform. In der Demokratie ist das formelle Prinzip zugleich das materielle Prinzip. Sie ist daher erst die wahre Einheit des Allgemeinen und Besondern. […] Demokratie ist der Staat als Besondres nur Besondres, als Allgemeines das wirkliche Allgemeine, d. h. keine Bestimmtheit im Unterschied zu dem andern Inhalt.16 16 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: MEW, Bd. 1, Berlin 1972, S. 203-333, hier S. 231 f.

289

In diesem Sinne der Abhängigkeit der geteilten, strukturierten Staatsformen von der Idee des Ungeteilten ist, wie Marx in einer legendären Wendung sagt, die Demokratie »das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen. Hier ist die Verfassung nicht nur an sich, dem Wesen nach, sondern der Existenz, der Wirklichkeit nach in ihren wirklichen Grund, den wirklichen Menschen, das wirkliche Volk, stets zurückgeführt und als sein eigenes Werk gesetzt.«17 In der Demokratie als Idee, kann man sagen, ist kein zusätzliches Element nötig, um den Staat oder die Regierung zu begründen, die Demokratie ist die Idee politischer Begründung (und für Hegel und Marx darin vernünftig oder »allgemein«), nämlich die Idee von etwas, was sich selbst frei eine kollektive Form und eine kollektive Identität gibt. Marx merkt aber damit auch an, dass dies zwar eine Auflösung eines Rätsels (des Grundes der Verfassungsformen), aber keine Lösung (für die Frage des Staats oder der Regierung) ist. Denn auch diese wird selbst bei weitgehender Partizipation nicht mit dem Volk identisch sein, das heißt, auch in der Demokratie werden Unterschiede, Ebenen und Kompetenzgefälle eingezogen werden, die sich als Widersprüche, Teilungen des Allgemeinen verstehen lassen. Die »Wahrheit« der Demokratie liegt nur in dieser grundsätzlichen Idee, dass nur sie – demokratisch – über sich selbst entscheidet, niemand und nichts anderes, »weil nur in ihr zur Anerkennung kommt, was für alle politische Verfassungen gilt, dass sie von uns [allen] gemacht sind. Diese Marx’sche Einsicht besagt, dass die Demokratie nicht von irgendeiner anderen Norm abgeleitet und schon gar nicht allein funktional begründet werden kann«.18 Miguel Abensour hat in Texten, die diese Überlegungen kommentieren und aktualisieren, aus diesem komplexen Verhältnis der Demokratie zu den anderen Staatsformen und dem schwierigen Verhältnis der Demokratie zu sich selbst als Staatsform den Schluss gezogen, dass Marx den Vorschlag eines zu vielen heutigen Theorien alternativen Konzepts »wilder« oder »rebellierender« Demokratie gemacht hat, den es aufzunehmen gelte. Denn der Perspektivwechsel hin zu den nicht versöhnenden, sondern notwendig 17 Ebd., S.  231. 18 So Christoph Menke in »›Das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen‹« (Interview von Peter Siller mit Nicole Deitelhoff, Rainer Forst, Stefan Gosepath und Christoph Menke), in: Polar 7 (2009), S. 26-40, hier S. 36.

290

spannungsreichen Elementen im Innern der Demokratie als Staatsund Gesellschaftsform verhindere jede triumphale Selbstgewissheit. Im Gegenteil: Da die Frage der Autorität in der Demokratie im wahrsten Sinne des Wortes der Idee nach aufgelöst ist, stellt sich die Frage nach der Autorität und Gewalt in der Praxis andauernd, wird nun jeder politische Akt bestreitbar und umstritten. Die »permanenten Proteste, die sie im Feld des Rechts und der Politik kennzeichnen«, sind damit kein vorübergehendes »empirisches Merkmal der demokratischen Staatsform, sondern die intermittierende Enthüllung« dieser internen Spannung.19 Damit wird aber auch die Einheit der demokratischen Gemeinschaft fragil oder prekär, das heißt wesentlich bedroht sein. In theoretischer Hinsicht stellt dies die Forderung dar, »die Idee des Konflikts [zu] entbanalisieren und ihm sein maximales Gewicht [zu] geben, das bedeutet, es ist immer möglich, dass es zum Bruch kommt, zum Kampf der Menschen, zum Auftauchen der ursprünglichen Teilung, die die Gefahr der Auflösung, der Zersplitterung des Sozialen in sich birgt«.20 Aber wie ließe sich eine Form von Politik als wesentlich konflikthaft, wesentlich zerrissen denken? Dies gelingt wohl nur, wenn die Idee aufgegeben wird, dass demokratische Politik eine Lösung, ein Verfahren oder auch einen Weg bereitstellte, wie sich die Probleme menschlichen Zusammenlebens oder, pathetischer ausgedrückt, kollektiver Existenz lösen oder einer Lösung zuführen ließen, die danach, von allen anerkennbar, für alle gleichermaßen akzeptabel und unumstößlich wäre. Dass dies nicht aus der Idee der Demokratie folgen muss, ja ihr vielleicht sogar vollständig widerspricht, ist das dritte Argument, mit dem sich ein negatives, negativistisches oder kritisches Denken der Demokratie artikulieren kann. Aus ihm folgt auch, dass sich dieses grundlose, subjektlose Projekt seiner selbst gerade immer vergewissern muss, weil es keinen inneren Kern, kein Wesen hat: Demokratie ist keine Gegebenheit. Die Politik ist nur demokratisch, wenn sie bereit ist, über Grenzziehungen zwischen ihrem Innen und ihrem Außen zu reflektieren und zu verhandeln, ihr Selbstverständnis also als ein dynamisches zu begreifen. Nur um den Preis, dass sie sich den damit 19 Miguel Abensour, Demokratie gegen den Staat. Marx und das machiavellische Moment, Berlin 2012, S. 257. 20 Ebd., S.  266.

291

verbundenen Gefahren aussetzt, verdient sie es, Demokratie genannt zu werden.21

Nimmt man diese drei Argumente zusammen, ist Demokratie in der Tat nicht das, was man denken könnte und was die politische Philosophie und die politische Theorie ihr oft als Identität zuschreiben: Sie ist keine Regierungsweise, sie zeichnet kein kollektives Subjekt aus, und sie löst keine gesellschaftlichen Probleme. Sie beginnt vielmehr dort, wo die unterstellte Legitimität, die berufenen Handelnden und die vermeintlich neutralen Aufgabenstellungen uneindeutig und fragwürdig werden. Damit ist sie, strenggenommen, keine Politik, sondern etwas anderes. Zu sagen, dass Demokratie dies ist, konturiert sie im Kontrast, im Negativ zu den üblichen Erwartungen und Hoffnungen. Dies bedeutet nicht, dass von der Demokratie nichts erwartet oder erhofft werden darf, dass sie selten oder unmöglich, schon verloren oder noch zu retten wäre. Es bedeutet nur, dass sie sich in allen Abgesängen und Rettungsversuchen verwandelt und neu bestimmt.

21 Christoph Menke, Alexander García Düttmann, »Für Katalonien! Wer die spanische Regierung unterstützt, stellt sich gegen die Demokratie«, in: DIE ZEIT 44 (2017).

292

Hauke Brunkhorst Der Wechsel auf die Zukunft.  Negativismus und die Wahrheit der Revolution Alles Vernünftige ist der Schluß. G. W. F. Hegel1 Jedes Kunstwerk ist in sich ein Problemzusammenhang. Theodor W. Adorno2

I. Latenz

(1) Arbeitsprodukte Bilder werden nicht im Auftrag höherer Wesen gemalt.3 Sie werden »gemacht« und »hergestellt«.4 Nicht anders als Tomaten, Taschentücher oder Taschenrechner sind sie Produkte gesellschaftlicher Arbeit. »Die ästhetische Produktivkraft ist die gleiche wie die der nützlichen Arbeit« und das »ästhetische Produktionsverhältnis ist alles, worin die Produktivkraft sich eingebettet findet und woran sie sich betätigt«.5 Werke gehen aus dem Produktionsprozess hervor, fließen in produktiver Konsumtion in ihn zurück oder verschwinden in der individuellen. Alles, was unter ästhetischen Gesichtspunkten erscheint, ist Kunstprodukt (Artefakt).6 Nicht nur das »Erschaffen«, auch das »Entdecken« ästhetischer Zusammenhänge ist produktive, »entdeckende« Tätigkeit.7 Alles als Kunst oder Anti-Kunst erschaffene oder tätig entdeckte Schöne, Hässliche, Stimmige, Unstimmige, jede Zufallskombinationen aus Tönen und Farben, Natur-, Kultur-, Maschinenschönes und ‑häss1 G.  W.  F. Hegel, Philosophie des Rechts, Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift, hg. v. Dieter Henrich, Frank­furt/M. 1983, S. 61. 2 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frank­furt/M. 1973, S. 532. 3 Vgl. Sigmar Polke, Höhere Wesen befahlen: Rechte obere Ecke schwarz malen! (1968). 4 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 46. 5 Ebd., S. 15 f., 337. 6 Vgl. ebd., S. 27. 7 Gunnar Hindrichs, Die Autonomie des Klangs, Frank­furt/M. 2014, S. 37.

293

liches, inszenierte oder beobachtete Ereignisse, Leben im Zeichen der Kunst, Kunst im Zeichen des Lebens ist Kunst.8

(2) Vergegenständlichte Subjektivität Der Arbeitsbegriff der Kritik der politischen Ökonomie ist ein Schlüssel zum Verständnis der Kunst, weil Arbeit die aristotelische, im sozialen Vorrang der arbeitsfreien Tätigkeit des herrschaftlichen Lebens begründete Trennung von dienendem Herstellen und herrschaftlichem Handeln (Politik) aufhebt. Der müßiggängerische, männliche Adel handelt, seine belebten Instrumente (Kinder, Frauen, Sklaven) stellen her, was er dazu braucht. Aristoteles hat die passende anti-chrematistische, an Schulden- und Kreditbremsen, Austeritätspolitik, Küchen- und Kaufmannsmoral orientierte Ökonomik entwickelt, die der antiken Klassengesellschaft das Gütesiegel zeitloser Gültigkeit aufprägt.9 Zumindest im männlich imperialen Zentrum der modernen, von politischer Herrschaft befreiten bürgerlichen Gesellschaft ist abstrakte, reflexive, universell austauschbare Arbeit nicht nur »ein besonderes Verhältnis zu etwas anderem«, sondern »zugleich auch ein Verhältnis zu sich selber«, in dem sich die allen Menschen gleiche, reflexive Subjektivität vergegenständlicht.10 Letztere kann sich in entfremdeten, also heteronomen, oder nicht entfremdeten, also autonomen Verhältnissen vollziehen. Die negierte Entfremdung führt aber nicht in die »Bluturenge« des »nur lokalen Zusammenhangs« zurück.11 Adorno bestimmt sie als »Zueignung des Fremden« in der Entfremdung.12 Fremdheit ist das einzige »Gegengift« gegen sie.13 Die Produktion des Gifts setzt Kooperation: die Vermittlung durch »andere Selbstverhältnisse« voraus.14 Arbeit ist nicht nur Vergegen 8 Vgl. ebd., S. 45.  9 Vgl. Karl Marx, Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. I, in: MEW, Bd. 23, Berlin 1972, S. 167, 179. 10 Hindrichs, Autonomie, S. 42 f. 11 Karl Marx, Grundrisse zur Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 79. Nur im seltenen Grenzfall strikter Deduktion führt die doppelte Verneinung zur Affirmation des ursprünglich Verneinten zurück. 12 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 468. 13 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frank­furt/M. 1969, S. 118. 14 Hindrichs, Autonomie, S. 45.

294

ständlichung von Subjektivität, sondern auch Vollzug von Intersubjektivität.

(3) Autonomie Die Autonomie der Kunst ist durch und durch gesellschaftlich. Sie setzt die Autopoiesis ihres Sozialsystems, den Kunstbetrieb, der sie »verbürgerlicht«, zwar als fait social voraus, verdankt ihre Autonomie jedoch allein der »Freiheit des Subjekts«, in der Gesellschaft eine »Gegenposition zur Gesellschaft« beziehen zu können, die deren »bloße Faktizität« »transzendiert«.15 Transzendieren heißt, im schon formierten Material vergangener Kunst »unabgegoltene«, »noch nicht« verwirklichte Möglichkeiten, eine Tendenz »zum Unvorhandenen« zu erschließen, die dessen ungelöste Probleme lösen könnte.16 Deshalb kann nur voranschreitende Kunst gelingen. Anders als die atopische Metaphysik, die nach dem fragt, »was ist und ewig ist« (Hegel), schießt die Kunst utopisch »über das Topische insgesamt hinaus und verlangt nach dessen Aufhebung«. Sie ist kein »Wissen um die Ordnung«, sondern eines um deren »Sprengung.«17 Dieses subversive Wissen ist nicht unbestimmt, sondern durch die Probleme und Fragen, die das in sich bereits folgerichtig konstruierte Material offengelassen hat, bestimmt. Indem das »neue Werk« sich an »Spuren in Material und Verfahrungsweisen […] heftet« und die »Narben, die Stellen, an denen die voraufgegangenen Werke mißlangen«, erkennt, bleibt es bei aller Sprengung, Überschreitung, Transzendierung, Unterbrechung und Diskontinuierung des Bestehenden im Kontinuum rationalen und stimmigen Schließens und Folgerns.18 Der innere Zusammenhang von Trakls Gedicht Verklärter Herbst ist »von der Kraft der Stringenz« logischer Schlüsse, weil »indirekt, verdunkelt […] logische Kategorien hinein[spielen] wie die der in sich, musikhaft, steigenden oder fallenden Kurve der Einzelmomente, der Verteilung von Valeurs, des Verhältnisses von Charakteren wie Setzung, Fortsetzung, 15 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 373, 335, 461 f. Adorno spricht statt von »verbürgerlicht« von »Verbürgerlichung«. 16 Hindrichs, Autonomie, S. 60, 223, 55. 17 Gunnar Hindrichs, Philosophie der Revolution, Berlin 2017, S. 199. 18 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 59.

295

Schluß«.19 Keine von außen einbrechende Transzendenz, sondern profanes, inferentielles Wissen überschreitet den positivistischen »Mythos des Gegebenen« von Innen und ins Diesseits.20 Genau das ist immanente (im Unterschied zur internen) Kritik.21 Sie verbindet erstens den kontextabhängigen Problembezug mit dem weit über die Lokalgeschichte der Moderne hinausschießenden Universalismus »argumentierenden Schließens«.22 Sie vollzieht sich zweitens im realen, von »Machttechniken« (Foucault) durchsetzten Raum der Gründe, in dem zwingende Gründe von zwanghafter Begründung meistens unterscheidbar sind und zwingende Gründe zwanghafte »Übermacht« bisweilen »zum Tanzen« bringen.23 Zwar ist die revolutionäre Kraft der Werke, selbstgesetzlich Neues hervorzubringen, das die »Welt alt werden sieht«, der gemeinsame Nenner avantgardistischer Kunst, sozialer Revolution und des messianischen Lichts der »Erlösung«.24 Die Gültigkeit der Trias und ihrer Glieder hängt jedoch allein an der materialistischen Prämisse, dass das ästhetisch Neue als Paradigma des revolutionär Neuen aus dem in sich schlüssigen und folgerichtigen Problemzusammenhang der vorhandenen, vorgeformten Klänge, Figuren, Farben, Wörter, Landschaften, Plastikteile, Bewegungsbilder, Klobrillen – oder was immer das Material der Kunst ist – durch nichts als gewöhnliche, problemlösende, gesellschaftliche Arbeit, deren Resultat entgegenstehende »Zweifel« ausräumt und den Zweifler durch »Einsicht« »zwingt«, erschlossen werden kann.25 So bleibt das mit dem »Stand des Problems« variierende Kontinuum der Gründe und Gegengründe im Überschreiten des Bestehenden bestehen.26 Ästhetische Selbstgesetzlichkeit setzt die bürgerliche Freiheit der 19 Ebd., S. 431 f. Es handelt sich hier um topische (Aristoteles), substantielle (Toulmin), dialektische (Lorenzen), abduktive (Peirce), explikative (Brandom) oder praktische (v. Wright) Schlüsse, vgl. Hauke Brunkhorst, Adorno. Dialektik der Moderne, München, Zürich 1990, S. 282 f.; Hindrichs, Autonomie, S. 194 f. 20 Christoph Menke, Kritik der Rechte, Berlin 2015, S. 168. Anders: Hindrichs, Revolution, S. 365. 21 Zum Unterschied vgl. Rahel Jaeggi, Kritik von Lebensformen, Berlin 2013, S. 261, 277. 22 Hindrichs, Autonomie, S. 194-196. 23 Hindrichs, Revolution, S. 184. 24 Ebd., S. 391; Adorno, Minima Moralia, S. 333. 25 Hindrichs, Autonomie, S. 196; ders., Revolution, S. 187. 26 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 59.

296

»einzelnen, wirklichen Person«, die ihr ein »weites Feld der Wahl, Willkür, und daher der formellen Freiheit« erschließt, voraus.27 Sie kann aber nur durch die rationale, problemlösende Arbeit am Material wirklich werden. Das nicht mehr bürgerliche Dasein solcher Freiheit ist im »Verlangen« des »fortgeschrittensten Materials« begründet. Um ihm »Gehorsam« zu leisten, bedarf es »allen Ungehorsams, aller Selbständigkeit und Spontaneität«.28 Nur ungehorsam und spontan lässt sich die »Norm als solche« »zersprengen« und in problemlösenden, postkonventionellen, revolutionären Handlungen eine neue setzen.29 Sitz solcher Freiheit sind Probleme. Wer keine hat, ist nicht frei, sondern tot, stirbt »der Mensch« doch »auch aus Gewohnheit«.30

(4) Wahrheit Kunstwerke sind Gemachtes, das »ein nicht Gemachtes erscheinen« lässt.31 Indem sie es darstellen, erheben sie analog zur Wahrheit von Sätzen einen Wahrheitsanspruch (a), der sich analog zur Wahrheit des Namens (b) geschichtlich auf seine Verwirklichung durch richtiges Handeln (c) und vernünftige Lebensverhältnisse (d) richtet. Ihre latentes Wahrheitspotential können die Werke aber nur im entzweienden Dialog ihres Publikums verwirklichen (siehe unten II, 3). (a) Die sachbezogene Folgerichtigkeit, die ihre Autonomie begründet, teilen Kunstwerke mit dem veritativen Sein der apophantischen Rede und des assertorischen Satzes, die Wahres aufzeigen und wirkliche Sachverhalte darstellen.32 »Sachlichkeit und Wahrheit sind in den Kunstwerken in einander.«33 Die Sachverhalte, die sie darstellen, sind durch Negativität geprägt. Die neue Musik stellt 27 Marx, Grundrisse, S. 368, siehe auch S. 911. 28 Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, in: Gesammelte Schriften, Bd. 12, hg. v. Rolf Tiedemann Frank­furt/M. 1975, S. 42. 29 Hindrichs, Revolution, S. 104. 30 G.  W.  F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke, Bd. 7, Frank­ furt/M. 1970, § 151, Zusatz, S. 302. Als Negation der Negation ist wahre Freiheit gleich weit von Isaiah Berlins faden Extremen negativer und positiver Freiheit entfernt. 31 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 164, siehe auch S. 41, 198, 252, 274. 32 Vgl. Hindrichs, Autonomie, S. 186 f., 252-255, 262 f. 33 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 195.

297

»in ihrer eigenen Struktur« und »in den Antinomien ihrer eigenen Formensprache« »gesellschaftliche Probleme«, das »Unglück« und »die Not des gesellschaftlichen Zustandes« dar.34 Nicht erst die Kunstprodukte der Moderne, schon die immer noch modernen, antiken Tragödien zeigen, »dass Kunst in besonderer Weise zur Artikulation negativer Erfahrungen geeignet ist«.35 Was Kunstwerke jedoch vom assertorischen Satz trennt, ist die fehlende prädikative Bestimmtheit auch da, wo sie eine solche Rede darstellen, weil sich ihr symbolischer Ausdruck nur um den Preis ihrer ästhetischen Wahrheit vom sinnlichen Eindruck ablösen lässt.36 (b) Was Kunstwerke vom veritativen Sein assertorischer Sätze trennt, verbindet sie mit dem ganz anderen des göttlichen Namens (JHWH), der sich durch prädikative Unbestimmbarkeit unverfügbar macht. Die Stimme aus dem brennenden Busch erklärt tautologisch: Ich werde sein, der ich sein werde. Auch die Tautologie prädiziert nichts, öffnet das veritative Sein jedoch zur Zukunft.37 Wie das göttliche ist auch das des Kunstwerks ein geschichtlich sich verwirklichendes, also in »intensiver Gegenwart« schon existierendes, aber in »extensiver Unvollendung« noch nicht wirkliches Sein.38 Für Adorno ist es ein (evolutionstheoretisch anschlussfähiges) werdendes Sein und kein (eschatologisch anschlussfähiges) Sein im Werden, das sich in allen Veränderungen gleich bleibt.39 Es hat den Charakter eines Projekts, das im problemlösenden Gelingen wahr,

34 Theodor W. Adorno, »Zur gesellschaftlichen Lage der Musik« (1932), in: Gesammelte Schriften, Bd. 18: Musikalische Schriften IV, Frank­furt/M. 1984, S. 729777, hier S. 731. 35 Achim Vesper, »Kunst als Erschütterung der Kategorie des Sinns? Adornos Ästhetik und Hölderlin«, in: Friedrich Vollhardt (Hg.), Hölderlin in der Moderne, Berlin 2014, S. 195-210, hier S. 208. Zur auch formal emanzipierten Modernität der Tragödie vgl. Christoph Menke, Die Gegenwart der Tragödie, Frank­furt/M. 2005. 36 Vgl. Jürgen Habermas, Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck, Frank­furt/M. 1997, S. 9-40. 37 Vgl. Michael Theunissen, »Begriff und Realität«, in: Rolf-Peter Horstmann (Hg.), Dialektik in der Philosophie Hegels, Frank­furt/M. 1978, S. 324-359, hier S. 345. 38 An Bloch anschließend vgl. Hindrichs, Revolution, S. 380. 39 In diesem einen, wichtigen Punkt anders als Adorno: Hindrichs, Autonomie des Klangs, S. 265.

298

im Scheitern falsch wird.40 Deshalb ist der je aktuelle Wahrheitsgehalt oder Wahrheitsanspruch der Werke eine latente und implizite Wahrheit, die im gelungenen Werk schon exemplarisch, aber in der Gesellschaft noch nicht umfassend manifest und explizit geworden ist.41 Im Prozess fortlaufend diskursiver Überschreibung kann der Wahrheitsgehalt der heute fortgeschrittensten Werke falsch werden, ist doch »jedem ein Moment der Unwahrheit beigesellt«, jedes ein »Komplize der Ideologie«, die sich nur im »Bewußtsein ihrer selbst und ihrer Verzweiflung« gegen die »Not« der »gesellschaftlichen Antinomik« kehren kann.42 Werke, die »nicht lügen«, müssen »vor[täuschen], Versöhnung wäre schon« und die Kluft zwischen Wahrheit und Lüge kontrafaktisch durch den »Wechsel« auf zukünftige »Praxis« schließen.43 Umgekehrt haben reaktionäre Werke und der »erbärmlichste Kitsch« der Kulturindustrie ein »Wahrheitsmoment« im »absolut Unwahren«, das wahr werden könnte (siehe unten II, 4).44 Die Festlegung auf zukünftiges Sein wird im biblischen Narrativ zum performativen Dabeisein des in seiner Unbestimmbarkeit negativ universellen Gottes mit seinem notleidenden Volk.45 Schöpfung aus dem Nichts bedeutet keineswegs, das Nichts ginge metaphysisch (ontologisch/atopisch) dem Sein voraus, sondern verweist utopisch auf die praktische Negation der Negativität »gesellschaftlichen Seins« (Marx): des schreienden Unrechts imperialer Klassengesellschaften.46 Der an der transzendenten Stellung Gottes 40 Das verbindet die Propheten, Adorno und Rorty: Hauke Brunkhorst, Kritik und kritische Theorie, Baden-Baden 2014, S. 55-70. 41 Vgl. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 192-205. 42 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frank­furt/M. 2006, S. 166; ders., Ästhetische Theorie, S. 203; ders., »Zur gesellschaftlichen Lage der Musik«, S. 740 f. Das alles gilt, so Adorno immer wieder, auch von der kritischen Theorie selbst. Klärend: Wolfgang Johann, Das Diktum Adornos – Adaptionen und Poetiken. Rekonstruktion einer Debatte, Würzburg 2018. 43 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 196, 129. 44 Ebd., S. 465, 461. 45 Vgl. Hindrichs, Autonomie, S. 258. 46 So auch Habermas: »Der radikale Gedanke des ›Nichts‹ ist monotheistischen Ursprungs. Er stammt nicht aus dem ontischen Bereich der Abwesenheit oder Verminderung des Seienden, sondern aus dem historischen und lebensgeschichtlich-existentiellen Erfahrungsbereich des Verfehlens und der Vernichtung, der Entbehrung und der sinnlosen Leere.« (Versuch über Glauben und Wissen – Zur

299

haftende, universelle Wahrheitsanspruch hat sich in der wechselseitigen Bundestreue des Exodusgeschehens zwar schon realisiert, aber noch nicht zu einem universellen Bund aller Notleidenden und Bedrohten erweitert, dessen Realisierung die prophetischen »Agitatoren des revolutionären Gottes« anmahnen, um das bei Fortsetzung des gegenwärtig falschen Handelns und Lebens drohende Unheil abzuwenden.47 Auch das Kunstwerk verhält sich im analogen Modus performativer »Negation des Negativen« zu seinem von der »gesamten Gesellschaft, ihrer Imprimatur und ihrer Zensur präformierten« Material.48 (c) Adorno expliziert sie zunächst deontologisch als Negation einer Verletzung berechtigter Ansprüche, die ein universelles Unrecht darstellt. Negative kategorische Imperative von unstrittiger, »vorbegrifflicher Evidenz«49 wie »Es soll nicht gefoltert werden; es sollen keine Konzentrationslager sein« sind für Adorno nicht als begründbare Normsätze, sondern als unmittelbarer, mimetischer »Impuls« »wahr«, der durch die »nackte physische Angst« und das »Gefühl der Solidarität« mit »quälbaren Körpern« ausgelöst wird, »wenn gemeldet wird, irgendwo sei gefoltert worden«.50 Ähnlich wie Brecht oder Carlos Williams, die »im Gedicht das Poetische sabotieren und es dem Bericht über bloße Empirie […], empirischen Sätzen« annähern, durch den »Transport in die ästhetische Monade« im »Kontrast zu dieser« aber »ein Verschiedenes« annehmen, wird die impulsiv (also sinnlich-ästhetisch) motivierte »Ungeduld mit dem Argument« zum Willen, nicht zu »dulden […], daß es mit dem Grauen weitergehe«.51 Die Sätze widersprechen als Imperative Genealogie nachmetaphysischen Denkens, noch unveröff. Manuskript, Stand Juli 2016, S. 301). 47 Hindrichs, Revolution, S. 344; vgl. Jeremia 31, 33-34; Daniel 2, 31-35, 41. 48 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 60, 398. 49 Menke, Kritik der Rechte, S. 377. Die sinnlich-somatische, vorbegriffliche Evidenz des Impulses ist der »Antrieb«, die »Kraft« des ansonsten, was Adorno gar nicht in Abrede stellt, durchaus begründbaren, normativen »Urteils«, der »nachdenkenden Umwandlung sinnlicher, affektiver Evidenz« (ebd., S. 377 f.). Wäre es unbegründet oder falsch, fehlte ihm die schwache, rational motivierende Kraft des besseren Arguments, ohne deren schwache auch die stärkste Kraft schwach – ohne vorbegriffliche Evidenz, ohne nachdenkende Selbstverwandlung des Affekts – bliebe. 50 Adorno, Negative Dialektik, S. 281. 51 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 187; ders., Negative Dialektik, S. 281. Das Zitat am

300

den Untaten, denen sie als moralischer Impuls widerstreiten. Sie machen die implizite, normative Wahrheit der Werke explizit, aber die Explikation kann immer nur Momente (Aspekte) des impliziten Impulses explizieren.52 (d) Die negativen Werke negieren aber nicht nur Untaten, sondern auch die Lebensverhältnisse, die sie hervorbringen. Bevor die normativen »Standards für eine gerechte Konfliktlösung« überhaupt »greifen können«, müssen die von Rawls und Marx basic structure, Basis oder Grundstruktur genannten, gesellschaftlichen Bedingungen für eine »gerechte Lösung von Handlungskonflikten« erfüllt, muss »die Dynamik der menschlichen Gewaltverhältnisse« aufgebrochen und der »Kreislauf der Gewalt« »durchbrochen« sein.53 Im Begriff revolutionärer Praxis verbindet sich die emanzipierende Gerechtigkeit der »Befreiung« »aus »entwürdigenden Verhältnissen« mit der versöhnenden Gerechtigkeit einer »Transformation des innergesellschaftlichen Aggressionspotentials« durch Einübung und Förderung »solidarischer Lebensverhältnisse.«54 Beide Formen der emanzipierenden und versöhnenden Gerechtigkeit stehen im Zentrum aller großen Revolutionen.55 Beide gehen auf prophetische Quellen zurück.56 Die negativen Werke, so Hindrichs, durchbrechen wie die Agitatoren des revolutionären Gottes die jeweils eingeübte, hegemoniale Reglementierungspraxis, die gesellschaftliche Schranke des verdinglichten Bewusstseins, zerreißen das Netz der Naturbeherrschung, sprengen die traditionellen Verfahrensweisen, die sinngebende Ordnung und die Innerlichkeit durch EntäußeEnde des Satzes ist zweifellos ein Argument von schlagender, »vorbegrifflicher Evidenz« (Menke, Kritik der Rechte, S. 377). 52 Richard Serra hat beides in Stop BS (2004) ins Bild gesetzt, von dem als Bild aber der von Adorno häufiger zitierte Satz von Schönberg gilt, der Maler male »ein Bild, nicht, was es darstellt«; er malt auch keinen normativen Satz, selbst wenn ein solcher, wenn auch nicht lückenlos, oberhalb der schwarzen Figur auf Stop BS erkennbar wird. 53 Habermas, Versuch über Glauben und Wissen, S. 464. 54 Ebd., S. 295, 464 f.; vgl. auch Ernst Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Frank­furt/M. 1978. 55 Vgl. Hauke Brunkhorst, Critical Theory of Legal Revolutions – Evolutionary Perspectives, New York 2014. 56 Vgl. Hindrichs, Revolution, S. 295-353.; Habermas, Versuch über Glauben und Wissen, S. 315.

301

rung.57 Sie unterbrechen aber auch »die Kontinuität der Zeit«, um die versöhnende Seite der Werke in solcher Diskontinuierung als schon heute existierenden Vorschein der Gewaltlosigkeit hervortreten zu lassen.58 »Kunstwerke, noch die aggressivsten, [stehen] für Gewaltlosigkeit.«59

(5) Handlungsschema Wie machen sie das? Indem sie den »Willen zur totalen kompositorischen Naturbeherrschung« in Emanzipation und Selbstbestimmung umschlagen lassen.60 Bei der Produktion des Chinesischen Meers (1983) treibt Sigmar Polke in monatelanger Arbeit die rationale Herrschaft über das komplexe Farbmaterial bis zum Äußersten, bugsiert die Leinwand dann in die Waagerechte und überlässt sie für weitere Monate rostenden Farbpigmenten und dickflüssigen, düsteren Lackseen, die langsam austrocknen, um sich selbst ins Bild zu setzen.61 Was sich da von selbst ins Bild setzt, ist die vom beherrschenden Geist ihrer Produktion nicht mehr beherrschte »Andersheit« der einzelnen Farbpartikel, Kleckse, Flüssigkeiten: die »geistferne, materiale Seite der Werke«, das, »woran sie sich betätigt«.62 Auch das ist nur Schein, ein uneingelöster Wechsel auf die Zukunft, aber einer, der nicht nur als Komplize des falschen Ganzen, sondern auch als »Wetterleuchten des Utopischen« dem Wesen der modernen Gesellschaft wesentlich ist.63 Der ästhetische Vorschein ist ein revolutionäres Handlungsschema, dessen »Darstellungskraft« allein auf dem ästhetischen »Material und seiner Form« be57 Vgl. Hindrichs, Revolution, S. 344 f.; ders., Autonomie des Klangs, S. 40 f., ähnlich Adorno, Ästhetische Theorie, S. 95, 291 f., 328, 446. 58 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 132; vgl. Menke, Kritik der Rechte, S. 407; Hindrichs, Revolution, S. 11, 102. 59 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 359. 60 Vgl. ebd., S. 120; Adorno, Philosophie der neuen Musik, S. 100, 112 f. 61 Vgl. Luisa Pohlmann, Die Ironie in der Kunst Sigmar Polkes, Bachelor-Arbeit: Universität der Künste Berlin 2012, S. 20 f., 〈http://luisa-pohlmann.com/wpcontent/uploads/2015/01/die-ironie-der-kunst-sigmar-polkes-6. 2. 2012.pdf〉, letzter Zugriff 21. 3. 2018. Vgl. auch Arnold Gehlen, Zeit-Bilder, Frank­furt/M. 2016, S. 131 f.; Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frank­furt/M. 1997, S. 348. 62 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 19. 63 Hindrichs, Revolution, S. 291.

302

ruht.64 Statt sich »handstreichartig vor den Karren der Gesellschaftskritik spannen« zu lassen, sind die Werke in sich revolutionär: »[J]edes authentische Kunstwerk wälzt in sich um.«65 Als »Schema gesellschaftlicher Praxis« hält es Möglichkeiten der Veränderung gesellschaftlicher Lebensverhältnisse präsent.66 Im performativen Verständnis der Kunst als Schema revolutionärer Praxis, das diese nicht abbildet und beschreibt, sondern schreibt, malt, singt, zeigt sich noch einmal ihre ferne Nähe zu den performativen Sprechakten prophetischen »Hervor-Sagens.«67 II. Manifestation

Auch die Analogie zum veritativen Sein des göttlichen Namens stößt an Grenzen. Hindrichs hat versucht, sie durchzuhalten, und ist dabei auf eine instruktive Weise gescheitert. Er hat (1) die Wahrheit der Kunst zum sinnlich materiellen Vorschein des transzendenten Gottesreiches herabgestuft, das seit der Französischen Revolution als das der schon, aber noch nicht wahrhaft existierenden Freiheit erkannt ist (Kants »Geschichtszeichen«), und (2) auf die Produktionssphäre reduziert.68 Wird die Reduktion aufgehoben, wird der Weg für eine dialogische Erweiterung des veritativen Seins frei (3), auf dem am Ende auch die Verfransung von Kunst und Kulturindustrie wahrheitsrelevant wirken kann (4).

(1) Letztes Ding So wie für Hindrichs das transzendente, »sinnlose Zentrum allen sprachlichen Sinns« ein Sein ist, das im Werden alles »Mitteilbare, Kommunizierbare, Sinnvolle« als das »Nicht-Mitteilbare«, »Nicht64 Tilo Wesche, Adorno. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2018, S. 7; zum Handlungsschema vgl. Wilhelm Kamlah, Paul Lorenzen, Logische Propädeutik, Mannheim 1967, S. 53-64. 65 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 339; siehe dazu auch Wesche, Adorno, S. 7; Hindrichs, Revolution, S. 277. 66 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 339, 76, 91 f. 67 Hindrichs, Revolution, S. 283; siehe dazu auch Klaus Koch, Die Propheten I, Stuttgart 1995, S. 256. 68 Vgl. Hindrichs, Autonomie, S. 263.

303

Kommunizierbare«, »Sinnlose« »stets übersteigt«, so übersteigt auch sein materieller Vorschein alle Interpretationen, die von ihm abhängig bleiben (und nicht, wie bei Adorno, umgekehrt).69 Deshalb ist das Wahre am Kunstwerk das, was allem Gequassel standhält: »Das […] Kunstwerk wird sein, das es sein wird in der Geschichte seiner Interpretationen.«70 Es ist das »Andere« am Ende des »Sinns«, an dem die »eschatologische Geistesgegenwart« alles Zukünftige und Vergangene in sich zusammenzieht und die Kunst ebenso aufhebt wie den für ihre diesseitige Existenz und Wahrheit konstitutiven Begriff problemlösender Lernprozesse.71 Denn das »letzte Ding« der Revolution kann nur im Vollzug einer »von außen« »einbrechenden« Transzendenz gedreht werden.72 Selbst das Band der Gründe, das von hier nach dort führt, würde reißen. Das letzte Ding, die Weltrevolution, die 1918 in die Geschichte einbrach und im stalinistischen Thermidor scheiterte, wäre im Erfolgsfall die »in die Herzen aller eingeschriebene« Wahrheit »jenseits dessen, was zu lernen ist«, wäre der »Überstieg über alles Vermittelbare«, in dessen Vollzug die »Eigenregeln des Handelns zugleich als Gottes Regeln beglaubigt« wären.73 Eine solche Revolution, die, ganz im Sinne von Adornos Profanitätsprämisse, einzig und allein vom Gelingen autonomen Miteinanderhandelns abhinge, müsste nach Ankunft in der neuen Welt an Problemen scheitern, die nicht nur im Reich der Notwendigkeit (Arbeit), sondern auch im Reich der Freiheit endgültigen Lösungen unverfügbar sind, weil sie mit fortlaufender Evolution immer von neuem entstehen.74 Nur eine Revolution, die mit Evolution und Lernen rechnet, könnte im »selbstgesetzlichen« Handeln »die Welt um des Neuen willen alt werden sehen«.75 Jedes Mal, wenn er an diesem Punkt ankommt, hält Adorno 69 Hindrichs, Revolution, S. 321, 317. 70 Hindrichs, Autonomie, S. 262. 71 Hindrichs, Revolution, S. 390 f. 72 Ebd., S. 365, siehe auch S. 353-381. 73 Ebd., S. 338, 373, mit Bezug auf: Jeremia 31, 33. 74 Vgl. Theodor W. Adorno, »Vernunft und Offenbarung«, in: ders., Stichworte, Frank­furt/M. 1969, S. 20-28, hier S. 20. 75 Hindrichs, Revolution, S. 8, 391. Das Problem ist, dass Hindrichs, um seine eschatologische Revolutionstheorie durchzuhalten, Freiheit nicht praktisch, sondern ontologisch als vollständiges »Heraustreten« wenigstens einer Seite des Menschen aus der »Heteronomie der Naturgesetze« (S. 28, siehe auch S. 227 f.) begreift.

304

am aufklärenden Licht der Erlösung fest, macht jedoch an ihrer ontotheologischen Schwelle, der »Wirklichkeit der Erlösung« halt, gibt es für ihn doch keine »Transzendenz ohne das, was transzendiert würde«.76 Deshalb versteht er das Werden des Seins wie das des Kunstwerks als durch und durch profanes, »technologisch faßbares« Geschehen, dessen revolutionäre Umschlagspunkte der ästhetischen Erfahrung so unverfügbar sind wie die »Kulmination« der »sexuellen«.77 Versteht man hingegen, wie Hindrichs, das Sein als eines im Werden, dann wird es schwer, es von der »schrankenlosen Selbigkeit« (Hegel) einer »Herrschaftstheologie« zu trennen, deren »machthabender« Begriff sich »sein Anderes« durch »vollständige Unterwerfung« aneignet.78

(2) Publikum Das aber setzt voraus, dass die Interpretation nicht am endlich offenbaren, unveränderlichen Wahrheitskern der Werke zerschellt, sondern deren Wahrheit überhaupt erst verwirklicht. Als werdendes Sein ist Kunst nicht nur Produktions-, sondern der ständig erweiterte Reproduktions-, Konsumtions- und Rezeptionsprozess eines kunsträsonierenden und kunstkonsumierenden Publikums, zu dem virtuell alle, auch die Künstler selbst gehören.79 Auch wer keine Museen besucht, nicht ins Kino geht, keine Comics liest oder Symphonien hört, ist der »gesellschaftlichen Wirkung« der Kunst ausgesetzt.80 Es ist der diffuse, anarchische, vollständig entgrenzte Diskurs des sich selbst bestimmenden Publikums, der den latenten Wahrheitsgehalt der Werke durch künstlerische, sachverständige, banausische Formen von »Interpretation, Kommentar, Kritik«, schließlich durch werk-, selbst- und weltverändernde Praxis manifest macht, ihr »wahrheitserschließendes Potential« in »wahrheits76 Adorno, Minima Moralia, S. 333; Notizheft Z, S. 138 f., zit. n. Rolf Tiedemann, Anmerkungen des Herausgebers, in: Theodor W. Adorno, Ontologie und Dialektik, Frank­furt/M. 2002, S. 343-418, hier S. 359. 77 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 263. 78 Theunissen, »Begriff und Realität«, S. 355. 79 Vgl. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 39, 46, 264; kunst- bzw, »kulturkonsumierend« vs. kunst- bzw. »kulturräsonierend«: Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1969, S. 176-193. 80 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 359.

305

relevante Wirkungen« umsetzt und das jeweilige Werk wahr oder falsch werden lässt.81

(3) Unvollständige Sprechakte Die Sprache der Kunst ist die »verfügende sowohl wie versöhnte Sprache von Menschen«.82 Anders als Heidegger, mit dem er die Annahme einer mimetischen und intentionslosen Sprache des Kunstwerks teilt, trennt Adorno die versöhnte Sprache nicht von der verfügenden und mitteilenden. Deren Paradigma ist die Aussöhnung streitender Parteien, die im Miteinanderreden und -handeln ihre verstellten Selbstverständnisse und Selbsttäuschungen aufzuheben versuchen.83 Dem versöhnenden Sprachgebrauch entspricht in der Kunst (seit Kant) ein im Werk »sedimentierter Geist«, der »frei von Mitteilungsabsichten« ist.84 Dazu aber bedarf es keines von außen hereinbrechenden, rettenden Geschicks, das uns in ein nicht mehr assertorisches Sprachgeschehen schickt, sondern lediglich des Moments der Dialektik, das im gewöhnlichen Sprachgebrauch immer schon anwesend ist und ihr »den Namen gegeben hat«.85 Die prädikativ undifferenzierte Sprachgestalt der Werke legt die (dritte) Analogie eines unvollständigen Sprechakts nahe, dessen Wahrheitsgehalt nur durch die kommunikative Praxis des Pu­ blikums aktualisiert werden kann. »Was Bilder sagen ist ein Seht einmal«.86 Aber das kann das Bild, auch wenn der Maler es reinschreibt, nicht selbst aussagen, kann es doch nur »etwas« darstellen, »indem es sich darbietet«.87 Seine »Weltpräsentation« ist performative »Selbstpräsentation«.88 Sartre nennt sie treffend »passive Aktivität«.89 In dieser Haltung »warten« die Werke »auf ihre Inter81 Ebd., S. 289, 448; Albrecht Wellmer, »Wahrheit, Schein, Versöhnung«, in: Ludwig von Friedeburg, Jürgen Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, Frank­ furt/M. 1983, S. 138-176, hier S. 161. 82 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 120, siehe auch S. 181, 239, 274. 83 Vgl. Wesche, Adorno, S. 46-51. 84 Adorno, Philosophie der neuen Musik, S. 39; Wesche, Adorno, S. 82. 85 Adorno, Ontologie und Dialektik, S. 65. 86 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 251. 87 Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, Frank­furt/M. 2003, S. 183. 88 Ebd. 89 Jean-Paul Sartre, Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821 bis 1857, 5 Bde., Hamburg 1977-1979, hier Bd. 2, S. 11, 228.

306

pretation«, »harrt« »alles nicht Figürliche am sehnsüchtigsten der Dechiffrierung«.90 Um ihren unvollständigen Sprechakt zu vervollständigen und ihren Wahrheitsgehalt zu verwirklichen, bedarf es der widerstreitenden und widersprechenden, »richtigen« oder »falschen«, »wahren« oder »unwahren« »Urteile« und der dadurch provozierten Praxis des anwesenden und nicht anwesenden, weltgesellschaftlich so oder so dicht vernetzten, also universellen Publikums.91 Sowie sie – als objektive Sachen – jemanden etwas »zu denken« geben, sie oder ihn »verstören« und »irritieren«, lösen Kunstwerke Lernprozesse aus, die tiefsitzende Selbsttäuschungen aufklären, hartleibige Gleichgültigkeit erschüttern und zu rationaler Hoffnung Anlass geben.92 »Indem Kunstwerke das Leiden wahrnehmbar machen, gehen sie über die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden hinaus. […] Sie lassen Erkenntnis an die Stelle von Selbsttäuschungen treten.«93 Sie verhalten sich wie jemand, der oder die noch nicht sie selbst ist, sich aber »aus dem Leiden an einem lebenslangen Zustand« der (Selbst-)Entfremdung befreit.94 Kunstwerke erzeugen mit solcher Verstörung eine unverfügbare und insofern nicht erzeugte »Voraussetzung, dass Vernunft verwirklicht wird. Ob aber ihre Adressaten sich für ihre Kritik öffnen oder verschließen, hängt von deren freien Willen ab.«95 Öffnen sie sich für Kritik, kann das »ganze Getriebe« des modernen Kapitalismus durch ästhetische Erfahrung unterbrochen und das Publikum zur experimentellen Vervollständigung unvollständiger ästhetischer Sprechakte motiviert werden, das eigene Leben zu ändern oder den revolutionären Umsturz »aller Verhältnisse […], in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«, zu unternehmen.96 Nur weil die ästhetische, reformistische und revo 90 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 193 f.  91 Ebd., S.  189.  92 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Werkausgabe in zwölf Bänden, Bd. X, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frank­furt/M. 1974, § 49, S. 249; Adorno, Ästhetische Theorie, S. 146; Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 9, 38; Gehlen, ZeitBilder, S. 53 f., 96 f., 162 f.; vgl. auch, Rüdiger Bubner, Ästhetische Erfahrung, Frank­furt/M. 1989. Zu Selbsttäuschung und Hoffnung vgl. Wesche, Adorno, S. 43-51, 94-104.  93 Wesche, Adorno, S. 93.  94 Theunissen, »Begriff und Realität«, S. 345.  95 Wesche, Adorno, S. 93.  96 Theodor W. Adorno, »Gesellschaft«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8: Soziolo-

307

lutionäre Erfahrung das Kontinuum der Gründe und Lernprozesse nicht durch ein »transzendentes Diskontinuum« »von außen« aufheben kann, bleibt die wirkliche Revolution auch dann, wenn sie »vergangen« ist, möglich.97

(4) Kulturindustrie und Avantgarde Weltverändernde Möglichkeiten erschließen sich der Kunst dort, wo die Avantgarde mit den progressiven Tendenzen der Kulturindustrie konvergiert. Adorno, der an der Kulturindustrie kaum ein gutes Haar lässt, sah in Mahlers »Kunstmusik« ein Handlungsschema, an dem modellhaft die wahrheitsrelevanten Wirkungen der Vereinigung von Kunst- und Industriemusik in einer »Musik der spontanen Aktion« aufscheinen. In ihr »schießt das Ganze, worein sie die depravierten Fragmente fügt, wirklich zu etwas Neuem zusammen, aber ihren Stoff übernimmt sie vom regressiven Hören«.98 Jahre später schreibt er: »Jakobinisch stürmt die untere Musik in die obere ein.«99 Auf John Cage vorgreifend, öffne Mahler die Fenster, durch die der »übermäßige Klang der Militärkapellen und Palmengartenorchester«, der »Wirbel von Pauken aus der Ferne« und »Stimmgeräusche« in die Kunstmusik eindringen und die »selbstgerechte Glätte« der bürgerlichen Musikästhetik demolieren: »Schamlos paradieren seine Symphonien mit dem, was allen in den Ohren liegt, Melodienresten der großen Musik, schalen volkstümlichen Gesängen, Gassenhauern und Schlagern.«100 Das Schema zeigt, wie das regressive Hören »jäh umzuspringen vermag, wenn jemals Kunst in eins mit der Gesellschaft die Bahn des immer gische Schriften I, hg. v. Rolf Tiedemann, Frank­furt/M. 1979, S. 10-19, hier S. 14 f.; Karl Marx, »Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung«, in: Marx-Engels Studienausgabe, Bd. 1, hg. v. Iring Fetscher, Frank­furt/M. 1966, S. 24.  97 Hindrichs, Revolution, S. 351, 365. Genau das, dass nur das Kontinuum der evolutionären Lernprozesse, die hier wie dort dieselben sind, die Möglichkeit einer Revolution, die von hier nach dort führt, am Leben hält, bestreitet Hindrichs, wohl wissend, dass das nur sub specie divinitatis geht: The view from nowhere.  98 Theodor W. Adorno, »Der Fetischcharakter der Musik und die Regression des Hörens«, in: Zeitschrift für Sozialforschung 3 (1938), S. 321-356, hier S. 354.  99 Theodor W. Adorno, Mahler – Eine musikalische Physiognomik, in: Gesammelte Werke, Bd. 13, hg. v. Rolf Tiedemann, Frank­furt/M. 1985, S. 184. 100 Adorno, Mahler, S. 184 f.

308

Gleichen verlässt«.101 Weil das falsche Bewusstsein der Massen und der Kulturindustrie, die deren Neigung zur Regression verstärkt, keineswegs nur falsch ist, rührt der »Schrecken, den Schönberg und Werbern heute [1938] wie vor dreißig Jahren verbreiten, […] nicht von ihrer Unverständlichkeit her, sondern davon, dass man sie nur allzu richtig versteht«.102 Genau dieser Schrecken kann jedoch zum Auslöser von Lernprozessen werden, die Gleichgültigkeit verstören und Selbsttäuschung enttäuschen. In den 1960er Jahren lassen wahrheitsrelevante Wirkungen, die der wie immer brüchigen und kurzlebigen Verbindung von Kulturindustrie und Avantgarde entspringen, nicht mehr auf sich warten. In dem Vortrag »Die Kunst und die Künste«, den er 1966 an der Berliner Akademie der Künste vor dem versammelten Avantgardepublikum hält, setzt Adorno sich mit der Beobachtung an die Spitze der Bewegung, dass es zu einer explosionsartigen Vermehrung der wechselseitig korrektiven Grenzverletzungen, der anarchischen Vermischung und Verfransung zwischen den Künsten und zwischen esoterischer Avantgarde und exoterischer Kulturindustrie gekommen sei. Der »hohnlachenden Erfüllung des Wagner’schen Traums vom Gesamtkunstwerk« durch die Kulturindustrie haben die »happenings« »Gesamtkunstwerke« entgegengesetzt, die »totale Antikunstwerke sein möchten«.103 Plötzlich schien der unvorhersehbare, aller Berechnung entzogene Weg von der in sich umwälzenden, »spontanen Aktion« der mahlerschen Kunstmusik zur politisch umwälzenden Praxis ganz kurz. Am 1. Oktober 1964 blockieren in Berkeley Studenten durch ein Sit-in ein Polizeifahrzeug, in dem ein Student, der Flugblätter für Redefreiheit in der Universität verteilt hatte, festgehalten wird. Die beiden Politzisten haben so etwas noch nie erlebt, und auch für die Studenten ist es das erste Mal. Nach längeren Verhandlungen erlauben die Polizisten deren Sprecher Mario Savio, barfuß auf den Polizeiwagen zu steigen und vom Dach aus eine Rede zu halten. Der erste Satz dieser absichtslos surrealen Szene wurde zum wahrheitserschließenden Happening mit wahrheitsrelevanter Wirkung: 101 Adorno, »Fetischcharakter der Musik«, S. 354. 102 Ebd., S.  355. 103 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 132; Theodor W. Adorno, »Die Kunst und die Künste«, in: ders., Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, Frank­ furt 1967, S. 158-182, hier S. 159.

309

»Die beiden sind Familienväter. Sie müssen ihre Arbeit machen! Wie Adolf Eichmann. Er musste seine Arbeit machen. Er passte in die Maschinerie.«104 Schlagartig wurde der latente Autoritarismus des demokratischen Wohlfahrtsstaats in einem Satz offenbar. Die von der breiten Öffentlichkeit sorgsam abgeschirmten Oberseminare, in denen über Autorität und Familie und das Milgram-Experiment diskutiert wurde, öffneten sich für das Massenpublikum. Plötzlich wurden Schönberg und Webern auch von denen, die sie nie gehört hatten, richtig verstanden. Die »ausgetrocknete«, »verwaltete Öffentlichkeit« wurde »repolitisiert«.105 Als Malcolm X sich selbst einen Namen gab, der jede prädikativ verfügende Bestimmung von sich abweist, machte er sich zum Modell eines einzelnen Allgemeinen, das sich in der Welt lokalisiert und doch jeder Fremdbestimmung durch Autorität und Tradition entzieht.106 Als der Boxer Muhammad Ali seinen Einberufungsbescheid vor den laufenden Kameras der Weltpresse zerriss und sagte: Die ­Vietcong »haben mich nicht Nigger gerufen. Sie haben mich nicht gelyncht. Sie haben mich nicht mit Hunden gehetzt. Sie haben mir meine Nationalität nicht gestohlen. Sie haben meine Mutter und meinen Vater nicht vergewaltigt und ermordet. […] Warum soll ich sie erschießen? […] Dann steckt mich doch ins Gefängnis.«107 – wurde der Riss erkennbar, der die glänzende neue Welt weißer, heterosexueller Männer von dem Alptraum trennt, die sie für Farbige, Homosexuelle und Frauen war und vielerorts noch ist.

104 Mario Savio, Police Car Speech (1964), zit. n. William J. Rorabaugh, Berkeley at War: The 1960s, New York, Oxford 1989, S. 22. Im Original: »They’re family men, you know. They have a job to do! Like Adolf Eichmann. He had a job to do. He fit to the machinery.« 105 Jürgen Habermas, Technik und Wissenschaft als »Ideologie«, Frank­furt/M. 1968, S. 100, 103. 106 Slavoj Žižek, »Endlich ein schwarzer Superheld«, in: DIE ZEIT 10 (2018), S. 50. 107 Muhammad Ali on the Vietnam War Draft (1967), 〈https://www.youtube. com/watch?v=Xl5uc88CtnU〉, letzter Zugriff 5. 1. 2017. Im Original: »They never called me nigger, they never lynched me, they didn’t put no dogs on me, they didn’t rob me of my nationality, rape and kill my mother and father. […] Shoot them for what? […] Just take me to jail.«

310

Daniel Loick Gegenhegemoniale Gewöhnung.  Modelle zur Transformation der zweiten Natur »[W]enn du ihn zum Bürger eines Staates von guten Gesetzen machst«,1 lautet bekanntlich die von Hegel zitierte Antwort des Sokrates auf die Frage, wie man sein Kind am besten sittlich erzieht. In diesem Kontext einer Erziehung zur Sittlichkeit wird bei Hegel der Begriff der zweiten Natur einschlägig: Die Individuen sollen sich nicht immer wieder neu fragen müssen, wie sie handeln sollen, sondern sich das gute Handeln zur affektiv-habituell verankerten Gewohnheit machen. Diese Gewohnheit ist dabei nicht individuell, sondern sozial formierter Brauch; das Individuum kann sich auf die Richtigkeit des Handelns gemäß der zweiten Natur verlassen, weil und wenn dieses Ausdruck einer im Ganzen vernünftigen Wirklichkeit ist. Was aber passiert mit dem Konzept der zweiten Natur angesichts der Tatsache, dass ein »Staat von guten Gesetzen« noch nicht existiert, sondern erst noch erkämpft werden muss? Diese Frage stand mindestens für die beiden großen Revolutionen des 20. Jahrhunderts, der von 1917 und der von 1968,2 unmittelbar auf der Tagesordnung: Die Umwälzung der Gesellschaft sollte auch eine Umwälzung der menschlichen Subjektivitäten und Intersubjektivitäten, der Gefühle und der Psyche, der Bedürfnisse und Interessen, der Gewohnheiten und des Alltagslebens umfassen. Wenn aber die Wirklichkeit als Garant der Vernünftigkeit der zweiten Natur entfällt, so ergibt sich das Problem, woher man wissen soll, wie eine vernünftige (oder »gute«) zweite Natur für Menschen aussehen soll. Wenn die vernünftige Wirklichkeit wegfällt, die eine Erziehung als Erziehung zur Sittlichkeit ausweist, so wird die Formierung der zweiten Natur in gewisser Weise freischwebend. Die Abwesenheit 1 G.  W.  F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke, Bd. 7, Frank­ furt/M. 1986, § 153, S. 303. 2 Für eine ebenso faszinierende wie pointierte Exploration dieser beiden Revolutionen und ihrer jeweiligen Politiken der Lebensform vgl. Bini Adamczak, Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende, Berlin 2017.

311

einer guten Welt als Garant der guten Gewohnheit kann dann die Gefahr bedeuten, die zweite Natur nach willkürlich gesetzten, abstrakten Maßstäben umprogrammieren zu wollen; eine Gefahr, die in der Vergangenheit von den Revolutionär*innen selbst etwa mit Formulierungen wie dem »Intimterror« theoretisiert wurde. Der Begriff, den Hegel für diese Gefahr verwendet, ist der des Dogmatismus: Dogmatisch sind alle Formen des Denkens, die ihre Kriterien nur aus sich selbst, nicht mehr in Auseinandersetzung mit einem Anderen gewinnen.3 Es wäre jedoch falsch, sich angesichts dieser Gefahr des Dogmatismus wieder auf eine liberale Position zurückzuziehen, welche die zweite Natur aus dem Bereich des politisch Gestaltbaren verbannt. Eine solche Position würde zweite Natur mit erster verwechseln und somit in die Unfreiheit des bloßen Naturtriebs zurückfallen. Eine hegelianische Position angesichts falscher Verhältnisse (oder, wie man auch sagen könnte: eine marxistische Position) müsste also einerseits den Fehler des Liberalismus vermeiden, Gewohnheiten zu (erst-)naturalisieren, ohne anderseits aber den Fehler des Utopismus zu begehen, den eingespielten Lebensformen ex nihilo eine vermeintlich bessere entgegenzusetzen. Sie muss daher, so scheint es, eine Wirklichkeit anderer Art finden, die die Transformation der zweiten Natur leiten kann. Abstrakter formuliert, manifestiert sich in dieser Fragestellung ein grundsätzliches Problem des Begriffs der Negativität: Wie ist es möglich, sich positiv auf die Arbeit des Negativen zu beziehen? Wie kann uns das Schattenreich des Negativen zu einem neuen Zuhause werden? Es geht im Folgenden nicht darum, die Frage der Legitimität von Transformationen der zweiten Natur bereits zu beantworten, sondern lediglich darum, einige bisherige Antworten zu sortieren und mögliche Probleme aufzuzeigen. Nach einer ganz kurzen Rekapitulation des Begriffs der zweiten Natur in der kritischen Theorie (1.) werden kursorisch drei klassische Antworten vorgestellt, die sich jedoch alle aus unterschiedlichen Gründen als problematisch erweisen: Der freudomarxistische Ansatz versteht die Transformation der zweiten als Befreiung der ersten Natur (2.1), der trotzkistische Ansatz glaubt den Staat von guten Gesetzen durch eine Partei 3 Für eine Diskussion der politischen Implikationen des hegelschen Dogmatismusbegriffs vgl. Robert Smith, Hegel’s Critique of Liberalism. Rights in Context, Chicago 1991, S. 183-187.

312

mit richtigem historischen Auftrag ersetzen zu können (2.2) und der anarchistische Ansatz depotenziert den Erziehungsanspruch der Sittlichkeit zu einer Motivation durch Demonstration (2.3). Im Durchgang durch diese drei Optionen wird sich herausstellen, dass sie jeweils eine starke und eine schwache Lesart erlauben. Keine der starken Lesarten ist für sich genommen überzeugend, aber eine Kombination der schwachen Lesarten könnte dazu taugen, dem Programm einer künftigen Transformation der zweiten Natur Orientierung zu bieten. Dies soll abschließend am Beispiel queerer Politik gezeigt werden (3.).

1. Zweite Natur nach Hegel Marx und Engels identifizieren die bürgerliche Gesellschaft, welche für Hegel die Vernünftigkeit der gewohnheitsmäßigen Befolgung der objektiven Gesetze garantiert, als Klassengesellschaft. Die kapitalistische Ausbeutung fabriziert für das Proletariat und die Bourgeoisie vollständig entgegengesetzte Lebensformen, das heißt vollkommen entgegengesetzte Gewohnheiten.4 Marx und Engels dementieren damit die Vernünftigkeit einer Identifikation mit der bestehenden Gesellschaftsordnung, halten aber dennoch am affirmativen Charakter des Konzepts der zweiten Natur fest. Dies ist ihnen möglich, weil sie einen anti-utopischen Begriff des Kommunismus zugrunde legen; der Kommunismus ist nämlich, wie es in der Deutschen Ideologie heißt, »nicht ein Zustand, der her4 Rahel Jaeggi gebührt das Verdienst, den Begriff der Lebensform terminologisch bestimmt und eine Kritik von Lebensformen gegenüber der liberalen Doktrin von der »ethischen Enthaltsamkeit« verteidigt zu haben. Allerdings vollzieht Jaeggi den Übergang von Hegel zu Marx nicht mit. Ihr Vorschlag, Lebensformen da­ raufhin zu befragen, ob sie gesellschaftliche Lernprozesse blockieren oder begünstigen, vermag daher nicht den grundlegend antagonistischen und polemischen Charakter von Politiken der Lebensform zu fassen (vgl. Rahel Jaeggi, Kritik von Lebensformen, Berlin 2014). Dieselbe Kritik lässt sich auch gegen Thomas Khuranas ansonsten produktiven Begriff der »Politik der zweiten Natur« anbringen (vgl. Thomas Khurana, »Politics of Second Nature. On the Democratic Dimension of Ethical Life« in: Pirmin Stekeler-Weithofer, Benno Zabel [Hg.], Philosophie der Republik, Tübingen 2018, S. 422-436). Eine alternative Deutung schlägt vor: Daniel Loick, »Zur Politik von Lebensformen«, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 13:2 (2016), S. 149-162.

313

gestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]«, sondern »die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt«.5 Ebenso wie die Eigentumslosigkeit des Proletariats die allgemeine ökonomische Struktur des Kommunismus antizipiert, so bilden die bereits existierenden proletarischen Lebensformen die Grundlage für eine kommende kommunistische zweite Natur. Engels hatte bereits in seiner Frühschrift über die Lage der arbeitenden Klasse in England einerseits die aus Armut und Verelendung resultierenden Deformationen der proletarischen Lebenswirklichkeit beklagt, die er etwa in Ungebildetheit und Alkoholismus erblickte, andererseits aber auch die Potentiale der Indifferenz gegenüber der bürgerlichen Sexualmoral, dem traditionellen Familienleben und einem engstirnigen Patriotismus betont. Die herrschende Sittlichkeit der Bourgeoisie ist es demgegenüber, die sich als durch und durch verdorben entpuppt.6 Im Kommunistischen Manifest stilisieren Marx und Engels dann die bereits existierende Lebensform des Proletariats zum Vorschein einer Existenzweise jenseits der Familie und des Nationalstaats.7 Die Option, die Erziehung zur Sittlichkeit auf die Wirklichkeit einer gegenhegemonialen Lebensform zu stützen, entfällt jedoch mit der kritischen Wendung des Begriffs der zweiten Natur durch Lukács, Benjamin und Adorno. Hatte bereits für Marx und Engels die schiere Existenz des Proletariats Hegels Annahme von der Vernünftigkeit der Wirklichkeit widerlegt, erscheint die zweite Natur hier nunmehr nur noch als internalisierte und verleiblichte Verlängerung der falschen Gesellschaft. Lukács nennt sie in der Theorie des Romans dementsprechend eine »Welt der Konventionen«:8 »ein erstarrter, fremdgewordener, die Innerlichkeit nicht mehr erweckender Sinneskomplex«.9 Die kritische Wendung des Begriffs der zweiten Natur impliziert, dass die Verdinglichung und Entfremdung der gegenwärtigen Gesellschaft so umfassend geworden 5 Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1969, S. 35. 6 Vgl. Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in: MEW, Bd. 2, Berlin 1972. 7 Vgl. Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW, Bd. 4, Berlin 1972, insbes. S. 78 f. 8 Georg Lukács, Theorie des Romans, München 1971, S. 53. 9 Ebd., S.  55.

314

ist, dass in ihr auch nicht, wie Marx und Engels noch annahmen, bereits Lebensformen vorzufinden sind (die der Arbeiter*innen), in denen eine neue Sittlichkeit vorscheint und auf die sich eine revolutionäre Praxis zustimmend beziehen könnte. Mit dieser Erkenntnis aber ist die zweite Natur zu einem Terrain politischer Transformation geworden. Gesellschaftsveränderung kann auf eine Veränderung der zweiten Natur nicht verzichten, ohne entweder einen Rückfall in den Liberalismus und damit die Unfreiheit des »bloßen Naturtriebs«10 oder aber in den Terror des schieren Sollens, der von den Individuen eine Unterordnung ihrer Bedürfnisse unter die Erfordernisse des historischen Auftrags abverlangt, zu riskieren.

2. Transformation der zweiten Natur: Drei klassische Ansätze 2. 1. Die Transformation der zweiten Natur als Befreiung der ersten Die nächstliegende und darum auch verlockendste Strategie, beide Gefahren zu vermeiden (sowohl die des Liberalismus als auch die des Dogmatismus), besteht darin, eine verschüttete erste Natur zur Orientierung der Transformation der zweiten zu erklären. Diese Strategie ist deshalb so verlockend, weil sie nicht willkürlich verfahren muss: Wenn es der revolutionären Aktion nur darum geht, eine verstellte Anthropologie des Menschen zu restaurieren, dann muss sie nicht befürchten, die Menschen mit einer von außen oktroyierten neuen Moral zu überfordern, die sie erst noch habitualisieren sollen. Der wohl wichtigste Vertreter des Programms der Befreiung der Natur des Menschen ist Herbert Marcuse. In Konterrevolution und Revolte benennt Marcuse die radikale Umgestaltung der Natur des Menschen klar als wesentlichen Bestandteil der kommenden Umgestaltung der Gesellschaft.11 Dabei soll die Transformation der Natur des Menschen nicht erst Ergebnis, sondern bereits die Voraussetzung einer sozialen Transformation sein. In ihr erst wird die gesellschaftliche Revolution zum »Bedürfnis«, das 10 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 149, S. 298. 11 Herbert Marcuse, Konterrevolution und Revolte, Frank­furt/M. 1971, S. 72.

315

der etablierten, kapitalistisch korrumpierten Triebstruktur entgegentreten kann. Bereits in seinem Versuch über die Befreiung hat er die konkreten politischen Manifestationen dieses Programms der »neuen Sensibilität« identifiziert: Sie verwirklicht sich etwa im »erotischen Furor des Protestsongs, der Sinnlichkeit langer Haare; im von fügsamer Sauberkeit unbefleckten Körper, […] im psychedelischen Suchen«;12 nur solche Lebensformen, so Marcuse, können die Menschen »für Freiheit präformieren«.13 Marcuse geht es mit solchen Beispielen allerdings nicht einfach um eine Rückkehr in einen als vorgesellschaftlich verstandenen naturhaften Zustand. Schon unsere »Grundtriebe«, so Marcuse deutlich, sind geschichtlich geprägt. Der Begriff der »Befreiung der Natur« meint daher eher, die vorhandenen technischen Potentiale anders zu verwenden, um einen Zugang zu ihren »lebenssteigernden Kräften« zu erlangen.14 Marcuse konzediert selbst, dass Konzepte wie das der Unterdrückung der Natur durchaus voraussetzen, dass menschliches Handeln »bestimmte objektive Qualitäten der Natur verletzt – Qualitäten, die für die Steigerung und Erfüllung des Lebens wesentlich sind«.15 Marcuse muss also eine jenseits der bestehenden Gesellschaft liegende, autonome Natur konstruieren, die einerseits selbst geschichtlich geprägt ist, andererseits aber von der bestehenden Gesellschaft verfehlt wird. In einer seltenen gemeinsamen Frontlinie haben sowohl Jürgen Habermas als auch Michel Foucault jene Ansätze kritisiert, die die Transformation der zweiten Natur als Befreiung der ersten verstehen. Habermas verortet den Ursprung von Marcuses Argument in der Romantik, die eine Kommunion der Menschen mit einer unverstellten Natur anstrebt. Die Utopie einer Harmonie von Natur und Mensch ist für Habermas anti-modern und gibt somit die Rationalitätspotentiale der bestehenden Gesellschaft verloren.16 In eine andere Richtung zielt Foucault in seiner Kritik der Repressionshypothese. Wie er anhand der Sexualität aufzuzeigen versucht, wird die erste Natur in der gegenwärtigen Gesellschaft keineswegs 12 Herbert Marcuse, Versuch über die Befreiung, Frank­furt/M. 1969, S. 60 f. 13 Ebd., S.  25. 14 Marcuse, Konterrevolution, S. 74. 15 Ebd., S.  84. 16 Vgl. Jürgen Habermas, Technik und Wissenschaft als »Ideologie«, Frank­furt/M. 1989, insbes. S. 57 f.

316

unterdrückt, sondern permanent reproduziert, in Szene gesetzt und produktiv gemacht.17 Statt um eine »Befreiung« von sozialer Repression müsse es eher um eine Abschaffung und Entlastung der Menschen von ihrer Natur als beständiger Projektionsfläche gehen. Obwohl Habermas und Foucault auf unterschiedliche Punkte abzielen, haben ihre Kritiken eine gemeinsame Pointe: Das Projekt der Transformation der zweiten Natur ist auf die Immanenz des Sozialen zurückgeworfen. Selbst wenn man sie als geschichtliches Produkt interpretiert, ist die erste Natur nicht hinreichend aussagekräftig, um die Richtung einer sittlichen Erziehung anzeigen zu können. Das Problem des Dogmatismus ist daher nicht erledigt. Hierfür sind auch die realen Erfahrungen aus Politiken der Lebensformen, die sich an Marcuses »neuer Sensibilität« orientiert haben, ein Beleg: Die Erziehung gegen Egoismus und für Sozialität wird von den Individuen häufig ebenso wenig als Befreiung erfahren wie die Politisierung des Privatlebens. Es gibt jedoch noch eine schwächere Lesart dieses Ansatzes. Diese sieht die erste Natur nicht als Essenz, die befreit werden muss, sondern als Grenze der Erziehungsaspirationen normativer Ordnungen. Frederick Neuhouser hat vor kurzem vorgeschlagen, Rousseaus Naturalismus auf diese Weise zu retten: Der Bezug auf die Kategorie der Natürlichkeit kann demnach die Rolle übernehmen, all solche Transformationen der zweiten Natur zurückzuweisen, die dem Menschen in seiner natürlichen Disposition grundsätzlich widerstreben.18 Neuhouser nennt etwa die psychoanalytische Kritik an der christlichen Sexualmoral als Beispiel: Gegen die Vorstellung, dass Menschen ihr ganzes Leben monogam oder zölibatär leben sollten, lässt sich einwenden, dass dies den menschlichen Trieben und Bedürfnissen auf grundlegende Weise widerspricht. Dieses Beispiel zeigt, dass der Bezug auf eine gegebene menschliche Natur nicht unbedingt politisch konservativ sein muss, sondern dass vielmehr das Bestehen darauf, so akzeptiert zu werden, wie man ist, auch eine politisch fortschrittliche Rolle spielen kann. Zudem schließt diese Argumentationsstrategie nicht aus, dass die Kategorie 17 Vgl. Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit I: Der Wille zum Wissen, Frank­ furt/M. 1983, Kap. II. 18 Vgl. Frederick Neuhouser, »Die normative Bedeutung von ›Natur‹ im moralischen und politischen Denkens Rousseaus«, in: Rainer Forst u. a. (Hg.), Sozialphilosophie und Kritik, Berlin 2009, S. 109-133.

317

der »Natürlichkeit« hier durchaus geschichtlich verstanden werden kann; als »natürlich« haben dann all solche Bedürfnisse zu gelten, die historisch so tief in die menschliche Triebstruktur herabgesackt sind, dass jeder Versuch, sie zu leugnen, als repressiv erfahren werden muss. Adorno hat in diesem Zusammenhang einerseits für einen durch und durch gesellschaftlichen Charakter argumentiert, zugleich aber andererseits davor gewarnt, dass »sich boards und bevollmächtigte Kommissionen etablieren, die Bedürfnisse klassifizieren und unter dem Ruf, der Mensch lebe nicht vom Brot allein, ihm einen Teil der Brotration, die als Ration immer schon zu klein ist, lieber in Gestalt von Gershwinplatten zuteilen«.19 Diese schwache Version der These der Befreiung einer ersten Natur, welche diese nicht als Orientierung künftiger Transformationen, sondern lediglich als Grenze ihrer Aspiration anlegt, zeigt, dass der Verweis auf die Faktizität von Bedürfnissen und Begehren für die Frage der künftigen Herausbildung einer neuen Sittlichkeit möglicherweise durchaus noch eine Rolle spielen kann.

2.2. Die Transformation der zweiten Natur als Erziehung zur Revolution Zumeist ohne Bezug auf eine erste Natur kommt ein anderer Diskurs aus, der sich im Kontext einer radikalen gesellschaftlichen Umwälzung entwickelt hat, nämlich die Diskussion um die Transformation von Lebensformen im unmittelbaren Nachhall der russischen Revolution von 1917. Die Revolutionär*innen erkannten sofort, dass eine soziale Umwälzung sich nicht mit einer Eroberung der politischen Macht begnügen darf, sondern auch eine neue Moral, eine neue Kultur, neue Affekte und neue Gewohnheiten, kurz: eine neue zweite Natur benötigen würde. Die Konstruktion einer neuen zweiten Natur wird hier nicht als Befreiung der ersten, sondern im Gegenteil als Ergebnis geschichtlicher Arbeit verstanden. Der Mensch macht sich selbst zum Gegenstand und vervollständigt so die Verwandlung von erster Natur in Geist. Leo Trotzki beendet seine Kopenhagener Rede von 1932 (sein letzter öffentlicher Auftritt) mit folgenden Sätzen: 19 Theodor W. Adorno, »Thesen über Bedürfnis«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8: Soziologische Schriften I, hg. v. Rolf Tiedemann, Frank­furt/M. 1997, S. 392-396, hier S. 395.

318

Ist er einmal mit den anarchischen Kräften der eigenen Gesellschaft fertig geworden, wird der Mensch sich selbst in Arbeit nehmen, in den Mörser, in die Retorte des Chemikers. Die Menschheit wird zum ersten Male sich selbst als Rohmaterial, bestenfalls als physisches und psychisches Halbfabrikat betrachten. Der Sozialismus wird ein Sprung aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit auch in dem Sinne bedeuten, daß der gegenwärtige, widerspruchsvolle und unharmonische Mensch einer neuen und glücklicheren Rasse den Weg ebnen wird.20

Ein solches Projekt kann dem hegelschen Satz, eine sittliche Erziehung bestehe darin, jemanden zum Teil eines Staates von guten Gesetzen zu machen, durchaus zustimmen, nur dass dieser Staat eben gerade erst eingerichtet wurde und die Arbeit der geschichtlichen Formierung der dazu passenden zweiten Natur gewissermaßen noch nachholen muss. Die nachholende Revolution der Leidenschaften bleibt eine Arbeit des Negativen. Die Antwort, die dieser Lösungsvorschlag für die Gefahr des Dogmatismus gefunden hat, besteht also in der Verknüpfung der sittlichen Beziehung mit einem System gerechter Zwecke: Die Transformation der zweiten Natur ist nicht willkürlich, weil sie Ausdruck und Resultat einer revolutionären Gesellschaft und damit eines vernünftigen Plans ist. Die zwischen 1921 und 1927 verfassten Reden und Artikel Trotzkis, die in Deutschland in einem Band mit dem Titel Fragen des Alltagslebens erschienen sind, stellen Schlüsseldokumente dieses Diskurses dar. Trotzki drängt mit Nachdruck darauf, dass der ökonomischen und politischen Revolution eine kulturelle Revolution folgen müsse. An die Stelle der bürgerlichen Kulturprodukte muss eine proletarische Kultur treten, ebenso wie an die Stelle der bürgerlichen Rituale neue proletarische Rituale treten müssen. Den ökonomischen und politischen Umwälzungen folgt »wie ein unterirdischer Maulwurf«21 die Änderung der Lebensformen, die schließlich die intimsten Beziehungen erfassen. Trotzki beschreibt dies am Beispiel der Familienbeziehungen: Neue Erwartungen und Bedürfnisse, die sich aufgrund der Erfahrungen des Kommunismus herausgebildet haben, können zum Bruch etablierter Familien und damit auch zur Zerrüttung der bürgerlichen Familienmoral füh20 Leo Trotzki, »Eine Vision der Zukunft«, in: ders., Denkzettel. Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten Revolution, Frank­furt/M. 1981, S. 420-423, hier S. 422 f. 21 Leo Trotzki, Fragen des Alltagslebens, Essen 2001, S. 41.

319

ren.22 Sie machen Platz für neue Intimbeziehungen auf höherem kulturellem Niveau, die sich aber noch nicht ganz herausgebildet haben. Trotzki begrüßt ausdrücklich das »Erwachen der Persönlichkeit« und die Erkundung individueller Neigungen und Vorlieben und wendet sich gegen eine »zwangsmäßige Einmischung von oben her«.23 Zur Transformation der Lebensformen soll es vielmehr indirekt, durch ein Vorantreiben der materiellen Umwälzungen kommen: Die Einrichtung von öffentlichen Mensen, Wäschereien und Erziehungseinrichtungen werden die Hausarbeit überflüssig machen und die Frauen emanzipieren, so dass das Zusammensein der Menschen nur noch Resultat gegenseitiger Sympathie und freier Vereinbarung ist. Welche genauen Formen die neuen Beziehungen annehmen werden, ist noch nicht voraussehbar und darf auch nicht vorweggenommen werden; »nur die kollektive, schöpferische Tätigkeit der breitesten Bevölkerungskreise«, schreibt Trotzki, »unter Hinzuziehung der künstlerischen Fantasie, der schöpferischen Einbildung, der künstlerischen Initiative zu dieser Arbeit, kann uns allmählich im Laufe von Jahren und Jahrzehnten auf die Bahn neuer, vergeistigter, veredelter, von kollektiver Theatralik durchdrungener Lebensformen führen«.24 Trotzki betont allerdings, dass der Wettstreit bei der Suche nach neuen Lebensformen sich erstens innerhalb des kulturellen Rahmens der Sowjetrepublik und zweitens auf dem jeweiligen Stand ihrer politisch-materiellen Entwicklung zu verorten hat. Avantgarde-Modelle wie den Proletkult oder die radikalen futuristischen Utopien, die in der frühen Sowjetunion ebenfalls kursierten, lehnt er ab.25 Damit ist die Richtung der Transformation der zweiten Natur bereits vorgegeben: Ihr Maßstab liegt nur in der kulturellen Vervollständigung der bereits erreichten politischen Befreiung. 22 Zur ausführlichen Diskussion der weitreichenden Änderungen der Beziehungsweisen, insbes. der Geschlechterverhältnisse, nach der russischen Revolution vgl. wiederum Adamczak, Beziehungsweise Revolution, sowie bereits Wendy Goldman, Women, the State and Revolution. Soviet Family Policy and Social Life, 19171936, Cambridge 1993, und Richard Stites, Revolutionary Dreams. Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution, Oxford 1999. 23 Trotzki, Fragen, S. 50. 24 Ebd. 25 Als Dokumentation solcher Entwürfe vgl. Boris Groys, Michael Hagemeister (Hg.), Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frank­furt/M. 2005.

320

Dies zeigt sich besonders deutlich an den zahlreichen Stellen, an denen Trotzki die Aufgabe der Partei betont, mehr für die kulturelle Erziehung der Arbeiter*innen zu tun. Auch Hegel ist ja die Ausbildung der zweiten Natur Ergebnis einer Erziehung zur Sittlichkeit; und bekanntlich ist auch bei ihm nicht die Kontestation des bestehenden Staates das gewünschte Ziel dieser Erziehung. Allerdings ist Hegels Sittlichkeit bereits bestehend, weshalb auch die Erziehenden ebenso in sie einbegriffen sind wie die zu Erziehenden – zwischen ihnen herrscht eine potentielle Gleichheit. Weil aber Trotzki keine bereits etablierte Sittlichkeit voraussetzen kann – diese soll von den Revolutionär*innen erst gefunden werden –, schleicht sich eine Asymmetrie in den Begriff der Erziehung ein, die er bei Hegel noch nicht hatte. Trotzki muss eine Instanz voraussetzen, die andere erziehen kann, obwohl sie eigentlich selbst noch einer Erziehung zur Sittlichkeit bedürfte. Marx hat in den Thesen über Feuerbach diese Aporie bereits erkannt. Die Idee, die Menschen durch Erziehung zu ändern, »kommt daher mit Notwendigkeit dahin, die Gesellschaft in zwei Teile zu sondern, von denen der eine über der Gesellschaft erhaben ist«. Stattdessen muss eine revolutionäre Transformation von Lebensformen Marx zufolge erkennen, »daß der Erzieher selbst erzogen werden muß«. Die gleichzeitige Erziehung der zu Erziehenden und der Erzieher (zwischen denen es somit keinen Unterschied mehr gibt), das heißt das »Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann«, so Marx, »nur als umwälzende Praxis gefaßt und rationell verstanden werden«.26 Damit steht aber die Frage nach einem Maßstab für die Transformation der zweiten Natur wieder am Anfang: Wenn alle Teilnehmenden einer revolutionären Umwälzung gleichermaßen erzogen werden müssen, wer bestimmt dann den Lehrplan – welches sind die Kriterien, nach denen sich eine sittliche von einer unsittlichen Erziehung unterscheiden lässt? Auch für diesen zweiten Versuch, das Problem der Willkür bei der Transformation der zweiten Natur zu vermeiden, lässt sich jedoch eine schwächere Lesart denken. Neben dem erzieherischen Moment gibt es nämlich noch einen anderen Gedanken bei Trotzki, der häufig übersehen wird: den des Wettstreits. Trotzki be26 Karl Marx, »Thesen über Feuerbach«, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1969, S. 533-535, hier S. 533.

321

tont, dass es im Rahmen des schöpferischen Experimentierens zu einer Auslese kommen wird, in der nicht alle Lebensformen Fuß fassen werden: »[D]as neue Leben wird jene Formen adoptieren, die ihm geeignet erscheinen werden«.27 Diese Idee des Wettstreits um die freudigere, funktionalere oder stabilere Lebensform kennt die Asymmetrie, die dem Motiv der Erziehung eingeschrieben ist, nicht. Die Transformation bekommt dann den Charakter eines, um mit Rahel Jaeggi zu sprechen, experimentellen Pluralismus, der den geschichtlichen Entwicklungsgang in eine nicht vorher gesicherte Richtung steuert. Die empirische, nicht die von außen supponierte Akzeptanz der neuen Lebensformen ist dann die Nagelprobe auf ihre Legitimität.

2.3. Die Transformation der zweiten Natur als Wettstreit Dieser experimentelle Aspekt wird in einer ganz anderen Traditionslinie tragend, die gar nicht auf Hegel zurückgeht, sondern ihren Ursprung eher in Nietzsches Idee des Übermenschen hat. Der Übermensch hat eine zweite Natur ausgebildet, die derjenigen des Rests der Bevölkerung überlegen ist, aber er hat keinerlei Ambitionen, die Lebensform der Mehrheit oder gar der Gesamtheit einer Gesellschaft zu transformieren. Die Transgression der eingespielten Routinen ist vielmehr explizit Einzelnen vorbehalten. Die überlegenen – und das heißt bei Nietzsche: die »lebensfreundlicheren« – Subjektivitäten werden sich letztlich gegen die unterlegenen Sozialformen durchsetzen. Diese Idee des Wettstreits der Lebensformen hat in veränderter Gestalt Eingang in die Tradition des Frühsozialismus und des Anarchismus gefunden. Der Anarchist Landauer stellt sich die Umwälzung der Gesellschaft zum Beispiel so vor, dass Gruppen von Entschlossenen unmittelbar beginnen, sich zu anarchistischen Siedlungsgemeinschaften zusammenzuschließen und sozialistisch zu produzieren. Die sozialistischen Kommunen können dann unmittelbar beweisen, dass sie nicht nur eine effektivere Produktionsweise, sondern auch eine schönere und freudigere Sozialität ermöglichen. Auf diese Weise werden immer mehr Menschen zur Nachahmung motiviert, bis die sozialistische irgendwann 27 Trotzki, Fragen, S. 50.

322

die kapitalistische Gesellschaft ganz verdrängt hat. Ansatzpunkte für diese Strategie erblickt Landauer in bestehenden Formen der Arbeiter*innen-Selbstorganisation, wie Wohlfahrtsvereine, Reisegenossenschaften und Gewerkschaften.28 Allein das Aufbrechen der Isolation durch die Zusammenlegung des Konsums setzt bei den Menschen Zeitressourcen frei, die dann wiederum in den Aufbau solidarischer Beziehungen gesteckt werden können. Dieses Modell hat vor allem den Vorteil, dass es auch ohne Vorhandensein einer Massenbasis handlungsanleitend werden kann; es reicht, wenn »wir Wenigen«29 mit gutem Beispiel vorangehen. Dabei geht es explizit immer auch um eine Transformation der zweiten Natur: In den sozialistischen Landkommunen zu leben wird sich als nicht nur gerechter, sondern auch als weniger entfremdet, erfüllender und insgesamt freudvoller erweisen. Der demonstrative Effekt der Schaffung solcher Gemeinschaften kann sich nur dann entfalten, wenn sie für die Individuen auch tatsächlich attraktiv sind. »Was wir Sozialismus nennen«, schreibt Landauer, »ist freudiges Leben in gerechter Wirtschaft. Die Menschen wissen heute nicht, erleben es nicht mit dem wahrhaften Wissen des Dabeiseins und Erfassens, mit dem Wissen, das Neid und Lust und Nachahmung mit sich führt, was das ist: freudiges, schönes Leben. Wir müssen es ihnen zeigen.«30 Mit dieser Idee, dass sich die Schönheit und Freude ebenso wie die Gerechtigkeit des sozialistischen Zusammenlebens unmittelbar bewähren sollen und können und dass sich daher alternative Lebenspraktiken wie von selbst immer mehr ausweiten werden, ist das Problem des Dogmatismus umgangen: Alternative Lebensformen sind Angebote, die sich neben anderen verfügbaren Lebensformen als attraktiv bewähren müssen. Der hegelsche Begriff der Erziehung wird hier schwächer gefasst: Erzieherisch wirken solche Praktiken nur noch, indem sie durch ihren Vorbildcharakter zur Nachahmung motivieren können. Allerdings birgt diese Lösungsstrategie auch die Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten. In dem Maße, in dem sie ihren Erziehungsanspruch depotenzieren, relativieren präfigurative Lebensformen ihren Charakter als zweite Natur und drohen so, ihre von Hegel herausgearbeiteten Vorteile 28 Vgl. Gustav Landauer, Antipolitik, Lich 2010, S. 200 f. 29 Ebd., S.  186. 30 Ebd., S.  143.

323

zu verlieren. Mitglieder solcher Projekte müssen sich beispielsweise immer wieder neu die Frage stellen: »Wie wollen wir leben?«; ihre Lebensform ist ihnen gerade nicht zur Gewohnheit geworden. Hegel selbst beschreibt dieses Problem anhand von Rousseaus Emile; der Versuch, eine Erziehung abseits von den Gesetzen der Welt zu etablieren, ist zum Scheitern verurteilt, weil es falsch ist zu glauben, »daß die Gewalt des Weltgeistes zu schwach sei, um sich dieser entlegenen Teile zu bemächtigen«.31 Projekte, die auf einen Exodus aus dem bestehenden Staat zielen, handeln sich damit insbesondere die Gefahren des Rigorismus ein. Indem sie die Deliberation über Gewohnheiten wieder in die Verantwortung von Einzelnen legen, neigen sie dazu, ihre Mitglieder zu überfordern. Dieses – schon von Hegel beschriebene – Problem hat sich in alternativen Lebensprojekten der letzten 150 Jahre auch immer wieder gezeigt und regelmäßig zu ihrer Erosion beigetragen. Die schwächere Version dieses Ansatzes besteht interessanterweise darin, den gesellschaftstransformativen Anspruch – den geschichtlichen Anspruch des Negativen – wieder zu bekräftigen. Dies entspricht auch dem politischen Selbstverständnis dieser Tradition, der es ja gerade nicht um einen individuellen Ausstieg, sondern um eine universelle Veränderung geht. Der Wettstreit der Lebensformen muss sich innerhalb einer gesamtgesellschaftlich »umwälzenden Praxis« situieren, wie Marx es genannt hatte. Dafür ist es nötig, dass die unterschiedlichen Rückzugspraktiken sich weiterhin als Teile ein und desselben kollektiven Kampfes begreifen. Nur dann sind sie mit genügend geschichtlichem Rückenwind ausgestattet, um die Gefahren des Individualismus und des Rigorismus zu vermeiden.

3. Andere Übungen. Elemente eines Programms der Transformation der zweiten Natur Der Begriff der zweiten Natur hat (vor allem gegenüber dem Liberalismus) verschiedene Vorzüge in Bezug auf die Beurteilung, aber auch die Konstituierung praktischen Handelns.32 Es ist da31 Hegel, Grundlinien, § 153, S. 404. 32 So ist er anti-rigoristisch und vermeidet somit die Gefahr »ethischer Gewalt«; er ist sozial angelegt und vermeidet einen ideologischen Individualismus; er nimmt

324

her grundsätzlich richtig, die Frage, wie man handeln soll, immer (auch) als Frage nach einer sittlichen Erziehung aufzufassen. Mit der kritischen Wendung des Begriffs der zweiten Natur durch Lukács, Benjamin und Adorno ist jedoch die Erziehung zur Befolgung der Sitten nicht mehr durch eine vernünftige Wirklichkeit gedeckt, sondern auf das geschichtliche Terrain der Negativität verschoben. Die bestehende zweite Natur muss selbst verändert werden. Das Projekt einer Transformation der zweiten Natur ist dabei jedoch der Gefahr des Dogmatismus ausgesetzt, das heißt der Gefahr, Lebensformen aufgrund eines freischwebenden, nur aus sich selbst generierten Maßstabs programmieren zu wollen. Der freudomarxistische, der trotzkistische und der anarchistische Ansatz versuchen jeweils auf spezifische Weise, die Gefahr des Dogmatismus bei der Transformation der zweiten Natur zu umgehen. Sie versuchen dabei, der Negativität des Transformationsanspruchs eine Basis in der Wirklichkeit zu geben, die affirmierungsfähig ist. Der freudomarxistische Ansatz tut dies, indem er die Transformation der zweiten Natur als Befreiung der ersten begreift. Der trotzkistische will die Sittlichkeit der Transformation der zweiten Natur dadurch garantieren, dass er sie erneut an eine gerechte Gesellschaftsordnung knüpft. Der anarchistische relativiert den transformativen Anspruch und überlässt es den Individuen, sich zwischen miteinander konkurrierenden Lebensformen zu entscheiden. In ihrer ursprünglich formulierten, starken Fassung ist keine dieser Lösungen für sich genommen überzeugend. Weil es keinen Zugang zur ersten Natur gibt, ist diese für eine Transformation nicht informativ, weshalb ihre politische Indienstnahme zur Willkür neigt. Die Vorstellung einer Erziehung der Arbeiter*innen zu guten Revolutionär*innen impliziert eine Asymmetrie, die in einen autoritären Dirigismus umschlagen kann. Auf der anderen Seite die leibliche Dimension menschlicher Subjektivität ernst und vermeidet einen intellektualistischen Rationalismus etc. Vgl. die besten neueren Darstellungen des Konzepts: Thomas Khurana, »›Die Gewohnheit des Rechten‹. Zur Wirklichkeit der Freiheit in Gestalt der zweiten Natur«, in: Jens Kertscher, Jan Müller (Hg.), Lebensform und Praxisform, Münster 2015, S. 299-318; Christoph Menke, »Hegel’s Theory of Second Nature«, in: Symposium. Canadian Journal of Con­ tinental Philosophy 17:1 (2013), S. 31-49; Andreja Novakovic, Hegel on Second Nature in Ethical Life, Cambridge 2017; Filippo Ranchio, Dimensionen der zweiten Natur. Hegels praktische Philosophie, Hamburg 2016.

325

führt die Relativierung des Erziehungsgedankens zu einer Selbstgenügsamkeit, der die Transformation der zweiten Natur wieder Einzelnen aufbürdet und daher zu Atomismus und Rigorismus neigt. In ihren schwachen Versionen hingegen lassen sich alle Ansätze miteinander kombinieren und geben damit eine erste Orientierung für das Programm einer künftigen Transformation der zweiten Natur ab: Die Konstruktion neuer Lebensformen sollte sich im Rahmen einer Praxis gesamtgesellschaftlicher Umwälzung verorten, dabei aber genügend Raum für einen experimentellen Pluralismus widerstreitender Zweitnaturen bieten, wobei über die Grenzen gegebener Bedürfnisse nicht einfach hinweggegangen werden darf. *** In einem anderen philosophischen Kontext – nämlich im Rahmen einer Auseinandersetzung mit Foucault – hat Christoph Menke die Frage nach dem Verhältnis zwischen disziplinärer und ästhetisch-existenzieller Subjektivität aufgeworfen. Diese Frage ist dem Problem der Transformation der zweiten Natur analog: Wie können menschliche Verhaltensdispositionen, die nicht mehr als die Verlängerung einer falschen »Welt der Konventionen« sind, so verändert werden, dass sie die Menschen zum Leben in einer freien und guten Gesellschaft befähigen? Menkes Antwort lautet, dass die Befreiung des Subjekts nicht im Abschütteln einer äußeren Repression, sondern nur in der beharrlichen Praxis der Übung bestehen kann: »In den neuzeitlichen Disziplinargesellschaften hat das Subjekt die Macht persönlicher Lebensführung nicht mehr, sondern hat sie in seiner vollständigen Integration in die Normalisierungsund Disziplinierungsprozesse verloren. Nur übend, anders übend, läßt sie sich zurückgewinnen.«33 Keine andere zeitgenössische Politikform scheint diesem Konzept der »anderen Übung« (bzw. einer gegenhegemonialen »Gewöhnung«, um in einem hegelianischen Vokabular zu bleiben) mehr zu entsprechen als diejenige queerfeministischer Initiativen. Foucault selbst hat die Idee einer alternativen Ästhetik der 33 Christoph Menke, »Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz«, in: Axel Honneth, Martin Saar (Hg.), Michel Foucault – Zwischenbilanz einer Rezeption, Frank­furt/M. 2003, S. 283-299, hier S. 293.

326

Existenz am Vorbild schwuler Subkultur entwickelt. Im Anschluss daran haben queere Theoretiker*innen immer wieder betont, dass es bei Queerness nicht nur um eine deviante Sexualität geht, sondern um Lebensformen, die radikal oppositionelle Körperpraktiken, biographische Entwürfe, Begehren, Verwandtschaftsmodelle, Ökonomien, Netzwerke und andere »bewusst exzentrische Seinsweisen«34 umfassen können. Diese transgressiven Praktiken zielen nicht einfach darauf, als legitime Lebensweisen im Rahmen eines liberalen Pluralismus anerkannt zu werden, sondern stellen die regulierenden und normalisierenden Normen des Liberalismus grundsätzlich in Frage. Nicht selten verdichten sich diese normalisierungskritischen Intuitionen zu grundsätzlichen Gesellschaftskritiken und queeren Utopien.35 Queere Subkulturen entwickeln zudem bereits im Hier und Jetzt neue Formen der Kollektivität, welche eine grundsätzliche Alternative zu bürgerlichen Modellen der Verwandtschaft und Generativität darstellen, in deren Rahmen sich auch eigene Ethiken herausbilden, welche häufig alternative Verständnisse von Begriffen wie Fürsorge, Sicherheit oder Alterität beinhalten.36 Auf dem queeren Begehren wird dabei zunächst gerade gegen die Transformationsversuche seitens der Mehrheitsgesellschaft bestanden (we’re here, we’re queer, get used to it), aber nicht im Sinne einer Essentialisierung der Erstnatur, sondern als Verteidigung einer Potentialität von Existenzweisen jenseits sozialer Fixierungen. Queere Praktiken stellen also ein Beispiel für eine Politik der zweiten Natur dar, die dem oben skizzierten Programm entsprechen. Sie sind befreiend, weil queere Lebensweisen affektive Begehren mobilisieren, welche sich einer gesellschaftlichen Disziplinierung verweigern (das ist ihr »marcuseianischer« Aspekt). Sie sind revolutionär, weil sie eine ganze andere als die heterosexisti34 Judith Halberstam, In A Queer Time and Place. Transgender Bodies, Subcultural Lives, New York 2005, S. 1. 35 Vgl. zur queeren Utopie allgemein José Esteban Munoz, Queering Utopia. The Then and There of Queer Futurity, New York 2009; zur Utopie eines gay commun­ ism exemplarisch Mario Mieli, Homosexuality & Liberation. Elements of a Gay Critique, London 1980, insbes. Kap. 7. 36 Vgl. zu einer queeren Ethik allgemein Lucy Nicholas, Queer Post-Gender Ethics. The Shape of Selves to Come, London 2014; zur Diskussion im deutschen Kontext exemplarisch Mike Laufenberg, Sexualität und Biomacht. Vom Sicherheitsdispositiv zur Politik der Sorge, Bielefeld 2014.

327

sche Gesellschaftsformation anstreben (das ist ihr »trotzkistischer« Aspekt). Und sie sind demonstrativ, weil sie »Neid und Lust und Nachahmung« erzeugen, statt abstrakte Ideale zu predigen (das ist ihr »landauerianischer« Aspekt). Queere Praktiken greifen also, kurz gesagt, die marxsche Figur der Affirmation proletarischer Lebensformen auf, wenden sie aber auf das Feld der Geschlechterverhältnisse an; (auch) sie sind »die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt«.37 In seinem Kontrasexuellen Manifest macht Paul B. Preciado konkrete Vorschläge für derartige queere, das heißt andere Übungen. Der Begriff der Kontra-Sexualität nimmt den habituellen Charakter hegemonialer Lebensweisen ernst und setzt dagegen eine »KontraDisziplin« und »Kontra-Produktivität«. Diese Gegen-Praktiken der »Arbeiter des Anus« – eine explizite Nachfolgefigur des marxschen Proletariats – konstituieren eine »kontrasexuelle Gesellschaft« mit eigener Verfassung, in der biologische Geschlechter, heterosexuelle Reproduktion und patriarchale Verwandtschaftsmodelle für abgeschafft erklärt werden. Die kontrasexuelle Gesellschaft ist eine neue Gesellschaft im Schoße der alten. In ihr ist die Negativität zum realen sozialen Faktor geworden. Sie ermöglicht dissidenten Subjektivitäten die frei affirmierende Partizipation an faktisch existierenden Praktiken und schafft somit die Bedingungen für eine Verankerung gegenhegemonialer Gewöhnung in einer Wirklichkeit anderer Art. Artikel 12 des kontrasexuellen Gesellschaftsvertrags beschreibt auch eine eigene Pädagogik, welche die radikale Transformation des Körpers und die Unterbrechung naturalisierter Unterdrückung durch eine radikale Resignifikation der Körperteile zum Ziel hat.38 Preciados kontrasexuelle Pädagogik gibt also eine Antwort auf die Frage, wie wir uns am besten sittlich erziehen können: indem wir uns zu Bürger*innen des Schattenreichs von queeren Gesetzen machen.

37 Bini Adamczak, »Kritik der polysexuellen Oekonomie (Grundrisse)«, in: diskus 1 (2006), S. 12-19, hier S. 17. 38 Vgl. Beatriz Preciado, Kontrasexuelles Manifest, Berlin 2003, S. 31.

328

Robin Celikates Die Negativität der Revolution.  Selbstreflexivität und Selbstbegrenzung jenseits des Liberalismus Ob »wir« spätestens seit 1989/90 in einem postrevolutionären Zeitalter leben oder, jedenfalls seit den »Bewegungen der Plätze« – vom »Arabischen Frühling« über Occupy und Gezi bis zur Pariser Nuit Debout – gerade in einem, in dem die Revolution – wenn auch in deutlich veränderter Gestalt – eine philosophisch signifikante politische Wiederkehr erlebt, wird sich nicht mit Bezug auf die vermeintliche Tatsachenlage entscheiden lassen.1 Vielmehr zeigen die entsprechenden Diskussionen einmal mehr, dass der Begriff der Revolution nicht nur eine zentrale Kategorie des politischen Denkens nach Marx und der gesellschaftlichen Selbstverständigung, sondern auch – und gerade in der Verschränkung dieser beiden – ein Kampfbegriff ist. Wie andere Kampfbegriffe auch, ist er in eine Reihe von Dualismen eingespannt, die eine eindeutige Positionierung zu erzwingen scheinen: Voluntarismus oder Determinismus, Spontaneität oder Organisation, agency oder structure, Prozess oder Ereignis, Permanenz oder Bruch, Gewalt oder Gewaltlosigkeit usw. Dass sich die Ambivalenzen und Ambiguitäten, die dem Begriff und der Praxis der Revolution eigen sind, nur adäquat fassen lassen, wenn man die entsprechenden Spannungsverhältnisse nicht auflöst, sondern als wesentlich für beide – Begriff und Praxis – begreift, verweist auf die innere Zerrissenheit der Revolution. Genau in diesem ständigen Oszillieren zwischen den genannten Polen – in der Unmöglichkeit einer Festlegung – liegt die spezifische Negativität der Revolution. Auf den ersten Blick freilich könnte man die Negativität der Revolution primär, oder auch ausschließlich, in der Negation der bestehenden Ordnung, in der Zurückweisung ihres Anspruchs auf 1 Vgl. nur Florian Grosser, Theorien der Revolution zur Einführung, Hamburg 2013, Einleitung; Jens Kastner, Isabell Lorey, Tom Waibel, Gerald Raunig, Occupy! Die aktuellen Kämpfe um die Besetzung des Politischen, Wien 2012; Asef Bayat, Revolu­ tion without Revolutionaries. Making Sense of the Arab Spring, Stanford 2017.

329

Gehorsam und der Befreiung von ihrem Zwang, sehen. Und ohne Zweifel ist eine Revolution ohne die bestimmte Negation der bestehenden Ordnung – und des Leids und der Ungerechtigkeit, die sie strukturell und nicht bloß kontingent produziert – nicht denkbar. Aber Revolutionen sind mehr als bloße Unterbrechungen und gehen über den für Aufstand und Revolte charakteristischen Bruch mit der existierenden Ordnung hinaus, insofern sie »von einem umfassenden Willen und einer globalen Zielsetzung beseelt« sind, nämlich »die gesellschaftlichen Institutionen ›von oben bis unten‹ [zu] verändern«.2 Aus diesem Grund muss auch ihre Negativität anders, in einem über die bestimmte Negation hinausgehenden und die Veränderung selbst umfassenden Sinn, verstanden werden. Da die Spannungen im Begriff der Revolution selbst eine positive und eindeutige Bestimmung der Revolution – ihrer Möglichkeit, ihres Anfangs, ihres Verlaufs, ihres Endes, ihres Erfolgs oder Scheiterns, ihres Subjekts, ihres Terrains – unmöglich machen, kann von einer spezifischen Negativität der Revolution selbst gesprochen werden, die die Revolution dazu drängt, sich zu sich selbst zu verhalten, also selbstreflexiv zu werden.3 Wie ich im Folgenden – im Rückgriff auf einen Grundgedanken der politischen Philosophie Christoph Menkes sowie im Anschluss an Hannah Arendt – zeigen will, lassen sich mit dem Abbau von Bestimmtheit und der Selbstreflexion zwei Vollzüge der Negativität der Revolution aufweisen, die für das Verständnis nicht nur ihrer historischen Gestalten, sondern auch ihrer Gegenwart – so es sie denn gibt – von Relevanz sind.

1. Politisch, nicht metaphysisch Dass die Idee der Revolution selbst anachronistisch, romantisch, schwärmerisch, politisch gefährlich und metaphysisch verbrämt sei, sind Topoi der konservativen Revolutionskritik spätestens seit Edmund Burke, der den französischen Revolutionären »much, but 2 Cornelius Castoriadis, »Das Gebot der Revolution«, in: Ulrich Rödel (Hg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frank­furt/M. 1990, S. 72. 3 Vgl. Christoph Menke, »Die Möglichkeit der Revolution«, in: Merkur 69:7 (2015), S. 53-60.

330

bad metaphysics« attestierte.4 Die reaktionäre Rhetorik ist dabei durch den dreifachen Vorwurf gekennzeichnet, die revolutionären Ambitionen seien vergeblich, gefährdeten in ihrer Konsequenz bereits erreichte Errungenschaften und führten zu einer perversen Verkehrung der mit ihnen verfolgten Absichten.5 Dafür, am Begriff der Revolution festzuhalten und ihn zu verteidigen gegen den Verdacht, all diese Mängel seien einem vermeintlich metaphysischen und darin genuin anti-politischen Begehren der totalen Umwälzung anzulasten, gibt es zumindest drei unterschiedliche Typen von Gründen. Zunächst lassen sich angesichts der systemischen Krisenhaftigkeit auch unserer Zeit und der sich aufdrängenden Einsicht, dass auch lange für irreversibel erachtete Errungenschaften sehr wohl reversibel sind, offensichtliche politische Gründe für die Notwendigkeit einer Perspektive radikaler politischer Transformation jenseits der longue durée sozialer Lernprozesse, der Mikropolitiken des Urban Gardenings, organisierter, aber domestizierter NGO-Aktivismen und der reformistischen Überbleibsel einst linker Parteien nennen. Darüber hinaus gibt es historische Gründe für eine Einschreibung gegenwärtiger Kämpfe in das fragmentierte Kontinuum vergangener Emanzipationsbewegungen und für die bewahrende Erinnerung auch und gerade der niedergeschlagenen und untergegangenen Revolutionen gegen die gegenrevolutionäre – meist unter dem Schleier einer zukunftsgerichteten Anpassung ans Bestehende operierenden – Politik der Erinnerung, des Gedächtnisses und der Benennung, die den Begriff ebenso wie die mit ihm verknüpften Hoffnungen und Handlungspotentiale zu neutralisieren bestrebt ist.6 Schließlich kann man auf theoretischer oder philosophischer Ebene argumentieren, dass Idee und Praxis der Revolution, weit davon entfernt, metaphysisch zu sein, wesentlich anti-metaphysisch sind, da sie ihre eigene Möglichkeit wesentlich jener Umstrittenheit, Unterbestimmtheit und Kontingenz der sozialen und politischen Ordnung verdanken, die sie zugleich – häufig zum 4 Zitiert in Christoph Menke, Spiegelungen der Gleichheit. Politische Philosophie nach Adorno und Derrida, Frank­furt/M. 2004, S. 9. 5 Vgl. Albert O. Hirschman, Denken gegen die Zukunft. Die Rhetorik der Reaktion, Frank­furt/M. 1995. 6 Vgl. Enzo Traverso, Left-Wing Melancholia. Marxism, History, and Memory, New York 2017.

331

ersten Mal auf massenwirksame und damit politisch folgenreiche Weise – vor Augen führen. Darin sind Revolutionen, nach Hannah Arendt »die einzigen politischen Ereignisse […], die uns inmitten der Geschichte direkt und unausweichlich mit einem Neubeginn konfrontieren«,7 exemplarische Formen politischen Handelns, das selbst privilegierte Ausdrucksform der handlungstheoretisch grundlegenden Fähigkeit zum Neubeginn ist. Zugleich ist die Revolution genuiner Anfang des Miteinanderhandelns, da mit ihr eine neue Ordnung eingesetzt wird, die zumindest dem Anspruch nach den »Geist der Revolution« institutionalisiert und damit das Handeln im Sinn des Neubeginns zum Prinzip erhebt: Weil die Revolution nicht nur einzelne Verhältnisse und Einrichtungen verändert; weil die Revolution vielmehr verändert, wie es Verhältnisse und Einrichtungen gibt – weil sie sie in unsere Taten verwandelt  –, beginnt die Revolution eine neue, andere Geschichte. Die Revolution ist nicht die Lösung irgendeiner Krise. Sie ist nichts anderes als der Neuanfang einer Geschichte, in der es Neuanfänge gibt. Die Revolution fängt das Anfangen an.8

Der anti-metaphysische Grundzug der Revolution äußert sich demnach zum einen darin, dass sie als kollektiver Akt des Neubeginnens einen ontologisch grundlegenden Umstand zum Ausdruck bringt: Die Macht liegt »auf der Straße«,9 und letztlich sind alle Regime auf die Anerkennung der ihnen Unterworfenen angewiesen, da sie sich nicht allein auf Gewalt gründen können. Darüber hinaus werden in der Revolution jene Rahmen- oder Hintergrundbedingungen politischen Handelns problematisiert und politisiert, also als kontingent erwiesen und selbst der verändernden Praxis unterworfen, die bis dato unhinterfragt geblieben und als gegeben akzeptiert worden waren.10 Auch aus diesem Grund wird durch den  7 Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1994, S. 23. Vgl. zur Aktualität von Arendts Revolutionstheorie auch Oliver Marchart, Neu Beginnen. Hannah Arendt, die Revolution und die Globalisierung, Wien 2005.  8 Menke, »Die Möglichkeit der Revolution«, S. 59. Aus diesem Grund muss sich auch die Bedeutung von Begriffen wie »Ordnung« und »Prinzip« verändern, insofern sie überhaupt auf die postrevolutionäre Situation Anwendung finden.  9 Arendt, Über die Revolution, S. 148. 10 Vgl. etwa Bini Adamczak, Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende, Berlin 2017, S. 100.

332

Neuanfang der Revolution das gemeinsame politische Handeln, das – wie Arendt mit einem Burke entlehnten Begriff sagt – »acting in concert«11 zum Zweck der Selbstbestimmung eigentlich erst ermöglicht, denn zuvor war die Praxis der Selbstbestimmung, sofern von ihr überhaupt geredet werden konnte, eine beschränkte, unter von ihr nicht durchschauten und daher auch nicht reflektierten oder als veränderbar erkannten Bedingungen stehende Praxis. Mit der Revolution kann daher, wenn sie sich nicht selbst untergraben soll, auch keine neue unhinterfragbare oder der Politisierung entzogene Festlegung oder Bestimmung einhergehen. Darin ist die Revolution radikal demokratisch: Wie auch die Demokratie ist sie notwendig ein Prozess ohne metaphysisches Fundament, also nicht begründet oder begründbar in Gott, der Natur, dem Lauf der Geschichte, Wissenschaft oder Wahrheit. Nur die Demokratie teilt die grundlegende – und grundlegend anti-metaphysische – Einsicht der Revolution: Politische Ordnungen sind nicht einfach gegeben und zu akzeptieren, sondern Ergebnis und Objekt politischer Praxis und als solche transformierbar: »Die Revolution macht die Form [von Politik und Gesellschaft] veränderbar.«12 Die Negativität der Revolution verdankt sich damit wie die der Demokratie der Abwesenheit eines stabilen Fundaments, einer eindeutigen Logik und bestimmbarer Grenzen: Als wesentlich konflikthaft und unbestimmt müssen beide für permanente Revisionen – Demokratisierung und Revolutionierung – offen bleiben.13 Damit ist, neben dem Neubeginn, auch die zweite Hinsicht angesprochen, in der die Revolution sich gegen ihr metaphysisches Missverständnis sperrt: ihre Prozessualität und Pluralität. Das metaphysische Missverständnis kann gerade in dieser Hinsicht freilich auch als Selbstmissverständnis auftreten, etwa in Gestalt einer mythologischen, fetischistischen Vorstellung der Revolution als totalem, allumfassendem und organisier- und steuerbarem Bruch, der zu einer vollkommen neuartigen, rational eingerichteten und selbsttransparenten Gesellschaftsordnung jenseits aller Antagonis11 Hannah Arendt, »Freiheit und Politik«, in: dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München 2000, S. 224. 12 Christoph Menke, Kritik der Rechte, Berlin 2015, S. 312; vgl. auch Cornelius Castoriadis, »Die Idee der Revolution«, in: ders., Autonomie oder Barbarei. Ausgewählte Schriften, Bd. 1, Lich 2006, S. 183-202. 13 Vgl. den Beitrag von Martin Saar in diesem Band.

333

men führt.14 Die dieser Tendenz zur (Selbst-)Mythologisierung entgegenwirkende Pluralisierung der Idee der Revolution ist selbst auf verschiedenen Ebenen angesiedelt und verweist auf die Pluralität der politischen Terrains und Konflikte (die wiederum auf eine Vielzahl unterschiedlicher – und nicht nach Grund- oder Hauptwiderspruch hierarchisierbarer – Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse zurückgehen), der politischen Akteure und Subjekte sowie der Praktiken, Strategien und Taktiken der Revolution. Diese unterschiedlichen Ebenen stehen in einem komplexen und zum Teil gegenläufigen Verhältnis zueinander, das falsche Vereindeutigungen und einseitige Festlegungen zwar nicht verhindert, sie aber mit großen – theoretischen und praktischen – Risiken belegt. Entsprechend ist jede Revolution wesentlich durch Missverständlichkeit und nicht auszuräumende Missverständnisse gekennzeichnet – also durch eine Polyvalenz, Indetermination und eine nicht nur interpretative, sondern auch praktische Offenheit, der eine Logik der Einheit nur gewaltsam und von oben oder zentralistisch aufgezwungen werden kann.15 Schließlich lässt sich die Revolution aufgrund der ihr wesentlichen Heterogenität und Unbestimmtheit auch nicht adäquat als Großereignis begreifen, als eindeutig terminierbarer Bruch, sondern nur als komplexer Prozess, in dem unterschiedliche Logiken, Eigendynamiken, Temporalitäten und Praxisformen so miteinander verschränkt sind, dass Prozessualität und Pluralität zu wesentlichen Merkmalen und Eigenwerten werden und nicht mehr als temporäre Schwächen, die es auszubügeln gilt, oder als kontingente Aspekte, die nur akzidentelle Bedeutung haben, erscheinen.16

2. Selbstreflexivität und Selbstbegrenzung Vor diesem Hintergrund muss zu den Pathologien der Revolution an erster Stelle die Gefahr gerechnet werden, dass revolutionäre Bewegungen – auf der Suche nach Eindeutigkeit, im Bestreben, 14 Vgl. etwa Ernesto Laclau, »Beyond Emancipation«, in: ders.: Emancipation(s), London 1996, S. 1-19. 15 Vgl. Adamczak, Beziehungsweise Revolution, S. 67. 16 Vgl. Daniel Loick, »21 Theses on the Politics of Forms of Life«, in: Theory & Event 20:3 (2017), S. 800 f.

334

Missverständnisse zu vermeiden oder zu unterdrücken oder die Revolution zu einem Ende zu bringen – strukturelle Merkmale jener Herrschaftsverhältnisse reproduzieren, gegen die sie sich eigentlich wenden. Um dieser Selbstunterminierung entgegenzuwirken, bedarf es revolutionärer Praktiken und Organisationsformen, die es erlauben, die interne Pluralität, Prozessualität und Komplexität nicht nur nicht zu verdrängen, sondern sie politisch abzubilden, zu reflektieren, fortzuschreiben, zu stärken. Die Revolution muss daher selbstreflexiv werden. Für Arendt gehört dazu der Verzicht auf das Phantasma der Souveränität und die Einsicht, dass die für Revolutionen tragende »Virtuosität des Mit-anderen-zusammenHandelns« nur unter Bedingungen der Nicht-Souveränität möglich ist.17 Entsprechend muss die Eigendynamik revolutionärer Prozesse ebenso wie ihre Unvorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit – ihre »Unerrechenbarkeit« im starken Sinn (für Arendt so stark, dass sie von einem »Wunder« spricht18) – anerkannt werden. Eventuelle Ansprüche, die Revolution zu organisieren oder »zu machen«, erscheinen so als historisch folgenreiche Kategorienfehler, da sie revolutionäres Handeln nach dem Modell der Poiesis statt der Praxis denken und es damit letztlich technisch beherrschbar machen, disziplinieren und vom »Geist der Revolution« abschneiden.19 Gerade als und insofern sie Praxis ist, steht die Revolution im Widerspruch zu den Mythen der totalen Verfügbarkeit und der Steuerung auf Basis privilegierter Einsicht oder wissenschaftlich fundierter Gewissheit, die ihr vielfach – freilich nicht nur von ihren Gegnern – untergeschoben werden. Vor diesem Hintergrund erscheint es als zu einfach, Arendts Unterscheidung von zwei Stufen der Revolution – der Befreiung und der Neugründung – als Abfolge negativer und positiver For17 Arendt, »Freiheit und Politik«, S. 213. Ähnlich verstehe ich Menke, Kritik der Rechte, S. 387: »Die zukünftige Revolution muß den Herrenbegriff des Urteilens auflösen, den die kommunistische und die bürgerliche Revolution gleichermaßen voraussetzen.« 18 Arendt, »Freiheit und Politik«, S. 221. Diese Betonung des »unerrechenbaren« Charakters der Revolution kontrastiert auf vielsagende Weise mit Marcuses quasi-utilitaristischem »historischen Kalkül«, das in die »unmenschliche Arithmetik der Geschichte« eingebettet ist, die »die ganze Geschichte hindurch Opfer gerechtfertigt hat« (Herbert Marcuse, »Ethik und Revolution«, in: Schriften, Bd. 8. Frank­furt/M. 1984, S. 100-114). 19 Arendt, »Freiheit und Politik«, S. 224.

335

men politischer Praxis zu deuten. Ebenso wie die Befreiung »positiver« bzw. konstitutiver Formen des Miteinanderhandelns und der kollektiven Organisation bedarf, muss nicht nur die Befreiung, sondern auch die Neugründung Elemente der Negativität umfassen und strukturell einbinden: Formen der Selbstreflexivität und der Selbstbegrenzung, die nicht mit dem liberalen Ruf nach eindeutigen – eindeutig bestimmbaren – moralischen Grenzen des politischen Handelns – etwa in Form moralisch oder naturrechtlich begründeter Menschenrechte – zusammenfallen, sondern im Unterschied zum Liberalismus gerade aus der internen Logik des revolutionären Handelns selbst sich ergeben und an dessen – stets politisch prekäre – Unbestimmbarkeit, Offenheit und Prozessualität anschließen.20 Wie Arendt schreibt, »bleibt das Handeln, soll es auch nur das Geringste zustande bringen, auch in seinem Vollzug darauf angewiesen, daß Freiheit dauernd neu betätigt wird, daß neue Anfänge gleichsam dauernd neu in das einmal Begonnene nachströmen«.21 Ein verwandter Gedanke findet sich bei Cornelius Castoriadis, dem zufolge »die Form der Revolution und der post-revolutionären Gesellschaft keine für alle Zeiten gegebene Institution oder Organisation [ist], sondern vielmehr die Aktivität der Selbst-Organisation und Selbst-Institution«.22 Dass ihre Form diese Aktivität ist, bedeutet, dass Organisation und Institution eine andere – durch Negativität und Selbstreflexivität bestimmte – Form annehmen müssen. In wiederum zwei Hinsichten will ich abschließend knapp spezifizieren, welche Implikationen diese allgemeine Bestimmung hat bzw. haben kann, denn wie bereits gesehen ist die Revolution als Anfang des Miteinanderhandelns wesentlich auf die Eröffnung neuer Praktiken des Politischen und damit auf einen radikalen demokratischen Experimentalismus verpflichtet, der Form und Aktivität zusammendenkt.

20 Vgl. zur Neubestimmung der Menschenrechte aus revolutionstheoretischer Perspektive, die sie nicht als externe Schranken der Politik versteht, Christoph Menke, Francesca Raimondi (Hg.), Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Berlin 2011. 21 Arendt, »Freiheit und Politik«, S. 224. 22 Castoriadis, »Das Gebot der Revolution«, S. 72.

336

3. Die Institutionalisierung der Negativität – und ihre Grenzen Als historisch signifikantestes Beispiel des Versuchs einer selbstreflexiven und zugleich offenen Institutionalisierung des »Geistes der Revolution« – ja als »die einzige Staatsform, die unmittelbar aus dem Geist der Revolution entstanden ist«23 – muss das Rätesystem gelten, das Arendt zufolge vor allem Berufsrevolutionäre »vor die nicht gerade angenehme Alternative [stellt], entweder die eigene vorrevolutionäre Macht, nämlich die Organisation des Parteiapparats, an die Stelle der verschwundenen Staatsmacht zu setzen oder sich einfach den neuen revolutionären Machtzentren anzuschließen, die ohne ihre Hilfe ins Leben getreten waren«.24 Arendt zufolge ist es kein Zufall, dass aus so gut wie allen Revolutionen die radikaldemokratische Macht der Räte, Communen, Sowjets hervorgeht – bevor diese, in einer historischen Wendung, von der Arendt offen lässt, inwiefern sie noch als Zufall betrachtet werden kann, zerschlagen, kooptiert, von der Partei übernommen wird.25 Auch die von Arendt als erstes Beispiel für Rosa Luxemburgs »spontane Revolution« gefeierte Ungarische Revolution von 1956, »dieser plötzliche Aufstand eines ganzen Volkes für die Freiheit und nichts sonst«,26 ist für sie vor allem als Resurrektion des durch die »Oktoberrevolution« verschütteten Rätesystems von Interesse. Nun sind die Protestbewegungen der letzten zehn Jahre vielleicht keine Revolutionen im arendtschen Sinn und die Versammlungen und general assemblies auf öffentlichen Plätzen und in be23 Arendt, Über die Revolution, S. 327. Ob »Staatsform« hier der richtige Begriff ist, wäre zu diskutieren. 24 Ebd., S.  329. 25 Vgl. zur von Arendt hier mit ins Auge gefassten Übernahme der Sowjets durch die Herrschaft der Kommunistischen Partei im Rahmen der »Oktoberrevolution« zuletzt Pierre Dardot, Christian Laval, L’Ombre d’Octobre. La Révolution russe et le spectre des soviets, Montréal 2017; zur ambivalenten Erbschaft der »Oktoberrevolution« auch Michael Hardt, Sandro Mezzadra (Hg.), October! The Soviet Centenary, Special Issue, South Atlantic Quarterly 116 (2017), S. 4. 26 Hannah Arendt, Die Ungarische Revolution und der totalitäre Imperialismus, München 1958, S. 11. Vgl. die wiederum recht ähnliche Einschätzung in Cornelius Castoriadis, »The Proletarian Revolution Against the Bureaucracy«, in: Political and Social Writings, Bd. 2, Minneapolis 1988, S. 57-89, und »The Hungarian Source«, in: Political and Social Writings, Bd. 3, Minneapolis 1993, S. 250-271.

337

setzten Gebäuden keine klassischen Räte. Allerdings sollte man Arendts eigenen Hinweis ernst nehmen, auf den ersten Blick nicht unbedingt revolutionäre Handlungsformen wie den zivilen Ungehorsam als Artikulationen der »Macht des Volkes«, der »potestas in populo« zu verstehen, die als Aktualisierung des von ihr horizontal statt vertikal verstandenen Gesellschaftsvertrags den revolutionären Geist des Gründungsmoments wachhalten und einen Raum der Unbestimmtheit eröffnen, in dem es allererst so etwas wie Politik im über den Betrieb hinausgehenden und potentiell revolutionären Sinn geben kann.27 In eine ähnliche Richtung zielt die Idee der präfigurativen Politik, mit der nicht nur ein Abschied vom Primat der Eroberung der Macht (oder des Kampfes um Hegemonie), sondern auch eine grundsätzliche Kritik der autoritären und avantgardistischen Tradition der Linken verbunden wird – allerdings gerade nicht als Verabschiedung, sondern als Rettung ihrer revolutionären Ambitionen. Als präfigurativ gilt dabei eine Form politischen Handelns, die schon im Hier und Jetzt – vor allem in horizontalen und partizipatorischen, inklusiven und solidarischen Organisationsstrukturen und Praktiken – das antizipierend zu verwirklichen versucht, worauf sie in Zukunft gerichtet ist, und dabei Mittel und Ziele in einem sich wechselseitig bestimmenden und stets experimentell neu zu justierenden Verhältnis stehend sieht.28 Sowohl die von Arendt ins Zentrum gestellten Räte als auch die unterschiedlichen Politiken der Präfiguration aus der jüngeren Vergangenheit können als Versuche der Institutionalisierung von Negativität und Selbstreflexivität gelten, die sich zugleich der Grenzen der Institutionalisierung bewusst sind und daher Formen des nicht rein situativen Miteinanderhandelns zu finden versuchen, die es ermöglichen, dass »neue Anfänge gleichsam dauernd neu in das 27 Hannah Arendt, »Ziviler Ungehorsam«, in: dies., Zur Zeit. Politische Essays, Hamburg 1986, S. 146, 151. Vgl. auch Robin Celikates, »›Veränderungen an sich sind immer das Ergebnis von Handlungen außerrechtlicher Natur‹. Subjektive Rechte, ziviler Ungehorsam und Demokratie nach Arendt«, in: Rechtphilosophie. Zeitschrift für Grundlagen des Rechts 1 (2017), S. 31-43. 28 Vgl. aus anarchistischer Perspektive Mathijs van de Sande, »Fighting with Tools. Prefiguration and Radical Politics in the Twenty-First Century«, in: Rethinking Marxism 27:2 (2015), S. 177-194; und aus marxistischer Perspektive Paul Raek­ stad, »Revolutionary Practice and Prefigurative Politics«, in: Constellations, November 2017 (Early View), S. 1-14.

338

einmal Begonnene nachströmen«.29 Zugleich exemplifizieren beide auch eine weitere – weder notwendige noch arbiträre – Implikation der Negativität und Selbstreflexivität der Revolution: Eine wiederum nicht liberale (also etwa in vorgängigen Rechten begründete oder auf einen status quo ante verweisende), sondern radikale oder radikaldemokratische Form der Selbstbegrenzung revolutionären Handelns, die sich nicht zuletzt im gebrochenen Verhältnis zur Gewalt manifestiert, das sich wesentlich vom Instrumentalismus klassischer Vorstellungen der Revolution unterscheidet. Engels’ polemisch-realistischem Wort von der Revolution als »autoritärstem Ding, das es gibt«, als »Akt, durch den ein Teil der Bevölkerung dem anderen Teil seinen Willen vermittels Gewehren, Bajonetten und Kanonen, also mit denkbar autoritärsten Mitteln aufzwingt«,30 steht eine von den anarchistischen und feministischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts über den südafrikanischen ANC und die polnische Solidarność bis zu den Bewegungen der Plätze reichende alternative Tradition der sich selbst begrenzenden (aber nicht schon aus diesem Grund gewaltfreien oder selbst postrevolutionären) Revolution gegenüber. Diese alternative Tradition positioniert sich bewusst gegen hegemoniale Freund-Feind-Logiken, etatistische Souveränitätsphantasien und letztlich anti-politische und demobilisierende Versuche der zentralistischen Reduktion der Komplexität oder Kontingenz revolutionären Handelns.31 Insofern damit – im Unterschied zu einer Linie, die von Engels über Lukács bis zu Marcuse führt – Gewalt als Mittel zur Erreichung revolutionärer Ziele problematisiert wird, handelt es sich weder um eine gegenrevolutionäre Kritik der subversiven Gewalt von außen beziehungsweise oben, noch um eine rein strategische Empfehlung, noch um eine prinzipielle – etwa ethisch begründete – Zurückweisung des Einsatzes von Gewalt unter allen Umständen (also etwa auch zur Selbstverteidigung). Vielmehr ist die Selbstbegrenzung in 29 Arendt, »Freiheit und Politik«, S. 224. 30 Friedrich Engels, »Von der Autorität«, in: MEW, Bd. 18, Berlin 1976, S. 308. 31 Vgl. Jean L. Cohen, Andrew Arato, Civil Society and Political Theory, Cambridge/Mass. 1992, etwa S. 72-74. Entsprechend skeptisch sollte man aus dieser Perspektive wohl gegenüber jüngeren Versuchen sein, der Partei wieder eine revolutionäre Energien kanalisierende, identitätsbestimmende Kraft zuzuschreiben und diese gegenüber der vermeintlich ansonsten orientierungslosen und zur Dispersion drängenden Menge auszuzeichnen (so etwa Jodi Dean, Crowds and Party, London 2016).

339

der handlungs- und letztlich auch revolutionstheoretischen Einsicht – einem Akt der Selbstreflexion – begründet, dass sich Gewalt weder überwinden noch kontrollieren lässt, dass man von ihr weder zurücktreten noch sie dosiert anwenden kann, sondern dass es revolutionärer Praktiken und Organisationsformen bedarf, die der Präsenz und Eigendynamik von Gewalt mit einer radikalen Politik der Zivilität begegnen.32 Auch die Selbstbegrenzung ist folglich nicht externe Schranke, sondern verdankt sich dem Bewusstsein der unhintergehbaren Prekarität revolutionären politischen Handelns – seiner Möglichkeit, seines Gelingens oder Scheiterns, seiner Subjekte, Terrains und Temporalitäten, die allesamt als »ungesichert« gelten müssen.33 Sie ist daher nicht reformistische Disziplinierung, obwohl sie als solche instrumentalisiert werden kann, sondern wesentlich mit der Aufgabe permanenter Selbstreflexion und Selbsttransformation in und als Teil der revolutionären Transformation verbunden. Damit erweist sich die Selbstreflexion der Revolution nicht als Grundlegung, sondern – negativistisch – als Merkmal eines Handelns, das sich an den eigenen Folgen bricht und in deren Lichte befragt und selbst begrenzt.34

32 Vgl. hierzu Etienne Balibar, Violence and Civility, New York 2015, Kap. 1; Judith Butler, »Protest, Violent and Nonviolent«, 〈http://www.publicbooks.org/ the-big-picture-protest-violent-and-nonviolent〉, letzter Zugriff 1. 2. 2018; dies., Interpreting Non-Violence, Tanner Lectures 2016, unveröff. Manuskript; Robin Celikates, »Learning From the Streets. Civil Disobedience in Theory and Practice«, in: Peter Weibel (Hg.), Global Activism, Cambridge/Mass. 2015, S. 65-72. 33 Menke, »Die Möglichkeit der Revolution«, S. 60. Vgl. auch Judith Butler, Notes Toward a Performative Theory of Assembly, Cambridge/Mass. 2015. 34 Vgl. Menke, Spiegelungen der Gleichheit, S. 268 f., 299.

340

Axel Honneth Gegenrevolution Es sind viele antirevoluzionäre Bücher für die Revoluzion geschrieben worden, Burke hat aber ein revoluzionäres Buch gegen die Revoluzion geschrieben. Novalis, Blüthenstaub, Fragment 104

Die Vorstellung, jeder »Revolution« müsse mit einer gewissen Zwangsläufigkeit eine Gegenrevolution folgen, verdankt sich im Ursprung bekanntlich weniger bestimmten Aktionen als vielmehr einigen politisch-philosophischen Abhandlungen. Als ein Edmund Burke, ein Joseph de Maistre und ein Louis de Bonald mit ihren polemischen Schriften das Recht der französischen Revolutionäre in Frage stellten, die auf jahrhundertealte Tradition gestützte Sozialordnung umzustürzen,1 war man sich schnell sicher, darin eine gegenrevolutionäre Bewegung erkennen zu können.2 Seither ist der Begriff aus unserer politisch-geschichtlichen Vorstellungswelt nicht mehr wegzudenken; er hat das Schema, mit dessen Hilfe wir uns den Verlauf historischer Ereignisse zu erklären versuchen, so stark durchdrungen, dass heute selbst noch die reaktionäre Politik eines Donald Trump oder Victor Orbán als »Gegenrevolution« beschrieben wird.3 Man kann in diesem Zusammenhang freilich sehr lange suchen und wird am Ende doch nicht fündig werden, wenn man diejenige Revolution benennen wollte, auf die hin der erstarkte 1 Vgl. Edmund Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution (1790), in der dt. Übers. v. Friedrich Gentz, bearbeitet v. Lore Iser und mit einer Einleitung versehen von Dieter Henrich, Frank­furt/M. 1967; Joseph de Maistre, Betrachtungen über Frankreich. Über den schöpferischen Urgrund der Staatsverfassungen (1796), übers. v. Fr. von Oppeln-Bronikowski, hg. v. P. R. Rohden, Berlin 1924; Louis de Bonald, Théorie du pouvoir politique et réligieux dans la société civile (1796), Paris 1964. 2 Vgl. zum europäischen Kontext dieser »Gegenrevolution«: Isaiah Berlin, »Die Gegenaufklärung«, in: ders., Wider das Geläufige. Aufsätze zur Ideengeschichte, übers. v. Johannes Fritsche u. hg. v. Henry Hardy, Frank­furt/M. 1981, S. 63-92. 3 Exemplarisch: Bernard E. Harcourt, The Counterrevolution. How Our Government Went to War Against its Own Citizens, New York 2018.

341

Rechtspopulismus der letzten Jahre als eine »Gegenrevolution« bezeichnet werden könnte; der Bezug auf ein erstes, deutlich erkennbares Ereignis revolutionären Ausmaßes scheint hier vollkommen zu fehlen, so dass es sich kaum rechtfertigen lässt, den alten Titel auf die neuen Bewegungen – sei es populistischer, sei es nationalistischer Couleur – anzuwenden. Dieser auffällige Sachverhalt ist entweder ein Indikator dafür, dass sich seit zweihundert Jahren unmerklich unser Begriff der »Revolution« gewandelt hat, oder ein Hinweis darauf, dass der Begriff der »Gegenrevolution« inzwischen inflationär gebraucht wird. Ein kurzer Rückblick auf die ursprüngliche, paradigmenbildende Gegenrevolution wird deutlich machen, dass das Erstere der Fall ist, dass wir also heute ein ganz anderes Bild von dem haben, was eine Revolution ausmacht. Das Ironische an diesem neuen Begriff der Revolution ist allerdings, dass er sich untergründig der ersten Gegenrevolution verdankt: Was wir heute gewohnt sind, »Revolution« zu nennen, entspricht in seiner Verlaufsform exakt dem, was uns damals Edmund Burke in seiner Kritik der Revolution als die bessere Alternative zur Verwirklichung sozialer Veränderungen empfohlen hat. Es soll sich dabei nicht um eine bloße Negation des Bestehenden, nicht um einen Umsturz aller sozialen Verhältnisse handeln, sondern um eine langsame Transformation der gegebenen Sozialordnung bei Bewahrung des in ihr geschichtlich bereits hinlänglich Bewährten; der Negation soll eine nochmalige Negation entgegengesetzt werden, durch die restituiert wird, was nach moralischen Gesichtspunkten keine Beseitigung verdient hat. Als Edmund Burke ans Werk ging, um seine Betrachtungen zur noch im Gang befindlichen Französischen Revolution zu verfassen – seine Schrift erschien im Jahr 1790 –, standen ihm dabei einschneidende, den tatsächlichen Umbruch signalisierende Ereignisse noch höchst lebendig vor Augen; die Rauchschwaden der Gewehre, mit denen die Bastille erobert und damit die absolute Monarchie gestürzt worden waren, hatten sich noch kaum gelichtet, da begann er bereits die Reden und Artikel zu verfassen, die zusammengenommen dann die Substanz seiner Abhandlung bilden sollten. Für die Argumente, die Burke darin gegen die Revolution vortrug, war daher auch die von ihm vermutete Schnelligkeit in der Abfolge der Vorgänge von nicht geringer Bedeutung; er hielt den Parteigängern des Kampfes für die Republik vor, in »trotziger 342

Sorglosigkeit« überstürzt und bedenkenlos zu handeln, anstatt die »ängstliche Vorsicht« walten zu lassen, deren es bei jedem Umbau gesellschaftlicher Verfassungen bedürfe.4 Bereits in diesem allerersten Bedenken zeichnet sich ab, auf welchen grundsätzlichen Gedanken Burke seine Polemik gegen die Französische Revolution im Weiteren stützen sollte: In Zusammenhängen gesellschaftlichen Zusammenlebens ist es stets riskant und gefährlich, so wird er argumentieren, in der »Manier eines Kunstgärtner(s)« zu verfahren, der glaubt, allen »Unrat und Müll« zunächst entfernen zu müssen, um dann auf »einer vollkommen ebenen Fläche« ein neues Gesellschaftsreich entstehen zu lassen. Wer so verfährt, nämlich wie ein »französischer Baumeister«, hat kein Gespür dafür, dass man zunächst den Bestand des Bodens prüfen muss, bevor man darangeht, darauf einen Garten anzulegen oder ein Gebäude zu errichten; derartige Pläne lassen sich nämlich umso besser umsetzten, je genauer sie vorweg in ihren Zwecken wie in ihren Mitteln auf die Unebenheiten und Furchen des zu bearbeitenden Bodens abgestimmt sind.5 Als Beispiel für den gelungenen Umbau einer Sozialordnung führt Burke in seinem Text, voller Stolz auf sein eigenes Heimatland, immer wieder die Geschichte Britanniens in den vorangegangenen Jahrhunderten an: Da wurden nie lang bewährte Prinzipien über den Haufen geworfen, nie auch nur einmal Pläne für eine vollkommen neue, den Fluss der politischen Tradition brüsk unterbrechende Regierungsform geschmiedet, sondern stets der kluge Weg der Anpassung alter Grundsätze an veränderte Umstände bevorzugt.6 In diesem Gedanken steckt – je nachdem, mit wie viel Substanz er versehen wird – entweder prinzipiell Richtiges oder abgrundtief Falsches. Burke tut gewiss richtig daran, vor einer unvermittelten Umsetzung von Plänen zu einer gesellschaftlichen Neuorganisation zu warnen, die vorweg wie am Reißbrett und ohne Berücksichtigung geschichtlicher Widrigkeiten entworfen wurden; ja, er mag sogar recht damit haben, Rousseau auf seiner Seite zu wissen, wenn er argwöhnt, solche baumeisterlichen Vorhaben könnten leicht ins Unglück führen, da sie keine Unterscheidungen zwischen bereits Bewährtem und zu Verbesserndem zuließen: 4 Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution, S. 36. 5 Vgl. ebd., S. 262-265. 6 Vgl. ebd., S. 58 f., S. 70 f.

343

Wenn Rousseau selbst noch lebte, er würde in manchen seiner hellen Stunden die praktische Narrheit seiner Schüler beseufzen, die paradox sein wollen und sklavische Nachbeter sind, gegen den Aberglauben eifern und in ihrem Unglauben blinde Sektierer werden.7

Aber Burke überzieht sein Argument maßlos, sobald er glaubt, es auch auf die revolutionäre Idee der demokratischen Volkssouveränität selbst anwenden zu können; da scheint ihm dann mit einem Mal nicht die Art der Umsetzung, sondern der zu verwirklichende Gedanke als solcher problematisch, so als könne man nicht auch daran einen richtigen von einem falschen Weg der Realisierung unterscheiden. Der Grund für dieses Umschalten von prozeduralen auf substantielle Einwände ergibt sich bei Burke aus einer Gleichsetzung von bewährter Tradition mit ehernen, unumstößlichen Prinzipien: Was beim Umbau einer Gesellschaftsordnung respektiert werden muss, sind bei ihm plötzlich nicht mehr nur die je gegebenen, kaum über Nacht zu verändernden Mentalitäten, nicht die Sperrigkeit historisch gewachsener Interessen oder die Ungleichzeitigkeit sozialer Lebensverhältnisse, sondern ein Bestand von Grundsätzen der politischen Verfassung, die sich als unverzichtbar erwiesen haben sollen – oder, um im von Burke bemühten Bild zu bleiben, es gibt gewisse Partikel in einem jeden Boden, die auf gar keinen Fall beseitigt werden dürfen, weil er ansonsten weder einem Garten noch einem Gebäude als tragfähige Grundlage dienen könnte. Die Vorstellung, es sei gerechtfertigter Weise das Volk, das den König zu wählen oder über die Zusammensetzung der Regierung zu befinden habe, stellt in seinen Augen einen solchen Verstoß gegen unerschütterliche Prinzipien dar; wer mit dem Gedanken spiele, dem Volk die Entscheidung darüber zu überlassen, wem die Ausübung der politischen Macht zufallen soll, riskiere nicht bloß den Widerstand traditioneller Kräfte, hantiere nicht einfach mit den falschen Mitteln zum falschen Zeitpunkt, sondern unterminiere die normative Bestandsvoraussetzung einer jeden stabilen Gesellschaftsordnung.8 Burke täuscht sich, wie unschwer zu erkennen ist, über das Verhältnis von bewährten Prinzipien und geschichtlichen Lernprozessen. Ihm will nicht einleuchten, dass althergebrachte Verfassungsgrundsätze dann ihre Glaubwürdigkeit verlieren, wenn sie sich 7 Ebd., S.  262. 8 Vgl. ebd., S. 40-48.

344

angesichts veränderter Herausforderungen und gewandelter Mentalitäten im Bewusstsein des »Volkes« als nicht mehr tragbar erwiesen haben. Sein Credo, dass jede Regierungsform stets genügend Mittel bereithalten muss, um sich an neue Gegebenheiten anpassen zu können,9 macht vor den Grundpfeilern der Erbmonarchie Halt; diese selbst darf nicht in Frage gestellt werden, weil sie nicht das veränderbare Mittel einer gerechten Ordnung darstellt, sondern deren unverrückbare Bedingung bildet. Damit hat Burke sein eigenes Programm verraten: Was zunächst wie ein prozeduraler Vorschlag klang, bei der Veränderung politischer Ordnungen nicht wie am Reißbrett zu verfahren und die historisch gegebenen Umstände zu berücksichtigen, entpuppt sich am Ende als ein substantielles Plädoyer für die ewige Beibehaltung aristokratisch-royalistischer Herrschaft. Damit ist der britische Gelehrte zum Apologeten der Krone und des Landadels geworden;10 er verteidigt ein System der Zwangsherrschaft, dem längst die soziale und moralische Legitimation fehlte. »Revolutionär« hat sein Pamphlet trotzdem in vielerlei Hinsichten gewirkt. Zunächst hat es noch zu Lebzeiten Burkes der Französischen Revolution überhaupt erst dazu verholfen, einen historischen Begriff von sich selbst zu gewinnen. Wenn Burke immer wieder in geradezu geschichtsphilosophischer Manier davon spricht, dass diese Revolution die »erstaunenswürdigste« gewesen sei, »die sich bisher in der Welt zugetragen« habe,11 so hat er damit wider Willen den Ereignissen in Paris ein Denkmal gesetzt, welches das ganze Ausmaß der bewirkten Veränderungen allererst ins allgemeine Bewusstsein hob – von nun an durfte sich die Revolution tatsächlich rühmen, mit der Erstreitung der universellen Bürgerrechte historisch etwas vollständig Neues hervorgebracht zu haben. Damit aber nicht genug, hat seine Schrift darüber hinaus innerhalb ganz Europas eine Diskussion in Gang gesetzt, die der Frage nach den geschichtlichen Voraussetzungen politischer Veränderungen galt. Zumal in Deutschland, wo seine Schrift schon 1793 in der Übersetzung von Friedrich Gentz erschien, führten seine Ausführungen binnen kurzem zu hitzigen Debatten über das Verhältnis  9 Vgl. ebd., S. 53. 10 Vgl. dazu auch Dieter Henrich, »Einleitung«, in: Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution, S. 7-22, hier S. 19. 11 Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution, S. 37.

345

von Moral und Politik, von hehren Absichten und den Widrigkeiten politisch-praktischen Handelns; und auf diesem Weg hat sich hier allmählich, angestoßen durch Burke und vermittelt durch Hegel und Lorenz von Stein,12 die Idee durchgesetzt, dass die bessere Alternative zum revolutionären Umsturz der behutsame, die geschichtlichen Gegebenheiten berücksichtigende Umbau der Gesellschaftsordnung sein könnte. Fortan musste man sich Revolutionen nicht mehr zwingend nur als einmalige, von moralischen Eliten initiierte Ereignisse vorstellen, sondern konnte darunter ebenso auch langwierige, durch die langsame Transformation sittlicher Überzeugungen und institutioneller Gegebenheiten voranschreitende Prozesse verstehen. Damit war letztlich auch der Gegensatz von Revolution und Reform bereits zum Einsturz bestimmt, der noch Jahrzehnte später das Selbstverständnis der russischen Revolutionäre prägen und zum Thema erbittertster Auseinandersetzungen innerhalb der frühen Sozialdemokratie werden sollte. Von nun an war es wenig sinnvoll, hier das punktuelle Ereignis und die militärische Zuspitzung des radikalen Umbruchs, dort den langwierigen Prozess der Wandlung normativer Selbstverständlichkeiten und institutioneller Verbindlichkeiten gegeneinander auszuspielen, wenn beides im Resultat auf das Gleiche hinauslief: Veränderungen in den institutionellen Grundfesten einer Gesellschaftsverfassung, die nach ihrem Abschluss kaum mehr verständlich sein ließen, warum die alte Ordnung so lange hatte Bestand haben können. So hat sich dann die politisch-geschichtliche Alltagssprache allmählich daran gewöhnt, auch solche Vorgänge »Revolutionen« zu nennen, die nichts vom abrupten Ausbruch moralischer Energien, nichts von plötzlichem Wandel oder kriegerischer Auseinandersetzung an sich haben; als sei’s das Normalste, bezeichnen wir heute die mit dem Kapitalismus langsam entstehende Industrialisierung, den schleichenden Vorgang einer erkämpften Erweiterung des allgemeinen Wahlrechts oder den untergründigen Wandel im privaten Alltagsleben während der 1960er Jahre allesamt als »Revolutionen«, ohne noch zu verspüren, wie absonderlich das in den Ohren jener klingen müsste, die einst die »Revolution« vehement von der »Reform« unterscheiden wollten. Am Ende haben die Folgen dieses Vorstellungswandels, mit 12 Vgl. Henrich, »Einleitung«, S. 10-12.

346

auf den Weg gebracht durch Edmund Burke, auch dessen Revolutionskritik selbst ereilt. Im Zuge der Einsicht, dass der plötzliche Wandel, unvorbereitet und ereignishaft, eine bloße Schimäre sein könnte, hat man längst auch das Reformhafte an der Französischen Revolution entdeckt. Angestoßen durch den langsamen Aufstieg des Bürgertums, begleitet durch Wandlungen im Alltagsverhalten und in den moralischen Grundüberzeugungen großer Teile der Bevölkerung, die sich über ein ganzes Jahrhundert hinzogen, war der Sturm auf die Bastille nicht das lang dafür gehaltene »Ereignis«, sondern Kulminationspunkt weit zurückreichender und tiefgreifender Prozesse des Umbruchs einer alten Gesellschaftsordnung. Wo Burke den momenthaften Sturz einer alten Gesellschaftsordnung glaubte erkennen zu können, gab es diesen als solchen erst gar nicht: Die Sitten hatten sich allmählich gewandelt, die moralischen Anschauungen der Bevölkerung waren über Jahrzehnte hinweg andere geworden, altbewährte Institutionen längst im Umbau begriffen, ein allgemeines Recht auf die Bestimmung der Regierung galt vielen bereits als selbstverständlich, bevor stattfand, was Burke dann ausschnitthaft als einen punktuellen Vorgang des jähen Umsturzes wahrnahm.13 Gewiss, es gab während dieses langen Prozesses konfrontative Zuspitzungen, die aufgrund ihrer allgemeinen Sichtbarkeit die Summe des bereits Erkämpften symbolhaft verkörperten und fortan wie Geschichtszeichen als Etappen des moralischen Fortschritts gelten konnten; aber das ändert nichts daran, dass es sich dabei nur um politische Vorkommnisse handelte, die repräsentativ für all die Umbrüche standen, die in Form von schrittweisen Wandlungen der moralischen Unrechtsemfindungen schon zuvor stattgefunden hatten. Und als je kontinuierlicher, je tiefgreifender die Veränderungen in den Alltagsmentalitäten inzwischen begriffen werden, die das Ancien Régime bereits vor 1789 erfasst hatten, als desto legitimer erscheinen uns inzwischen gegen und doch auch mit Burke deren politisch-institutionelle Ergebnisse. All das hat dazu geführt, dass uns heute die Rede von der »Gegenrevolution« auch dann so leicht von den Lippen geht, wenn dazu mangels des Anstoßes durch eine vorgängige Revolution im ursprünglichen Sinne des Wortes der Grund eigentlich fehlt. Ge13 Vgl. dazu exemplarisch Michel Vovelle, Die Französische Revolution. Soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten, Frank­furt/M. 1985.

347

trost können wir mittlerweile davon sprechen, dass das Verlangen nach Wiedererlangung einer weißen Vorherrschaft in den USA, der Ruf nach Rückkehr zur patriarchalischen Familienordnung oder die Wiederbelebung nationalistischer Gesinnungen jeweils »Gegenrevolutionen« bilden. Das, was diese Bewegungen in wildem Aufbegehren negieren wollen, das, wogegen sich ihr destruktiver Furor richtet, sind nicht unlängst geschehene Ereignisse, keine singulären Begebenheiten, die unerwartet vollkommen Neues hervorgebracht hätten, sondern die institutionell sedimentierten Resultate weit zurückreichender Reformprozesse, die manchmal mittels stiller und unauffälliger Konflikte, manchmal kraft einer Kette sichtbarer Kämpfe unsere soziale Lebenswelt grundlegend verändert haben. Wir können sicher sein, dass der Edmund Burke von damals, loyaler Royalist, der er war, nicht eines der Ergebnisse dieser langwierigen Wandlungsprozesse gutgeheißen hätte. Versetzen wir den britischen Staatsmann aber ins Heute und stellen uns vor, er habe, lernwillig, wie er ebenfalls war, seine aristokratischen Prinzipien inzwischen über Bord geworfen, so wäre es zumindest ungewiss, ob wir nicht hoffen könnten, er stünde im Widerstand gegen die gegenwärtigen Gegenrevolutionen auf unserer Seite – bilden sie doch Reaktionen nicht auf Revolutionen, sondern auf Reformvorgänge, gegen die nach Aussage seiner Schriften kein geschichtlich-philosophischer Einwand zu erheben wäre.

348

Eva Geulen Entfremdung bei Schiller Festschriften stellen die eigene Befähigung zur Negation sehr konkret auf die Probe. Nachdem die Liste dessen, was bei dieser Gelegenheit nicht geht, meinen kleinen Vorrat an Möglichkeiten fast aufgezehrt hatte, blieb schließlich Schiller, sozusagen im Halbschatten, übrig:1 Er kommt zwar gelegentlich vor, meistens aber in kritisch-verneinender Absicht, und freilich sind seine theoretischen Schriften nicht im selben Maße philosophisch satisfaktionsfähig wie diejenigen Adornos oder Hegels. Aber das ist ja auch eine Chance und Lizenz. Sie werden im Folgenden genutzt, um, im Zeichen des heute weitgehend obsolet gewordenen Begriffs der Entfremdung,2 das Verhältnis von Politik und Kunst in den Briefen über ästhetische Erziehung zu rekonstruieren. Neben Rousseau darf Friedrich Schiller als Mutter kulturtheo­ retischer Entfremdungstheorien vor Marx gelten. Obwohl ihm der Begriff der Entfremdung, wie er seit Hegel geläufig ist, nicht zur Verfügung stand, belegen seine Äußerungen zu den verheerenden Folgen moderner Arbeitsteilung in den Briefen über ästhetische Erziehung und andernorts, wie vertraut die gemeinte Sache ihm bereits war. Im Unterschied zu Rousseau geht der Kantianer Schiller jedoch nicht davon aus, dass der Mensch in der Natur beginnt. Vielmehr findet er sich bei Schiller, »aus seinem sinnlichen Schlummer« zu sich kommend, »in dem Staate« wieder, in den ihn der »Zwang der Bedürfnisse« hineinwarf, »ehe er in seiner Freyheit diesen Stand wählen konnte«.3 Eine Revolution, verstanden als Versuch, den gegenwärtigen »Nothstaat« (313) plötzlich auf1 Kritisch dazu Christoph Menke, »Vom Schicksal ästhetischer Erziehung. Ran­ cière, Posa und die Polizei«, in: Felix Ensslin (Hg.), Spieltrieb. Was bringt die Klassik auf die Bühne? Schillers Ästhetik heute, Berlin 2006, S. 58-70. 2 Vgl. Rahel Jaeggi, Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems. Mit einem neuen Nachwort, Berlin 2016. 3 Friedrich Schiller, »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«, in: Werke. Nationalausgabe, Bd. 20: Philosophische Schriften. Erster Teil, unter Mitwirkung v. Helmut Koopmann hg. v. Benno von Wiese, Weimar 1962, S. 309-412, hier S. 313. Zitate aus dieser Ausgabe werden im Folgenden mit Seitenangabe im Fließtext nachgewiesen.

349

zuheben, »das rollende Rad«, schreibt Schiller, »während seines Umschwunges auszutauschen« (314), ist für ihn angesichts der Erfahrungen mit der Französischen Revolution kein gangbarer Weg. Vom gegenwärtigen schlechten in einen künftigen guten Staat führt einzig eine List der Vernunft. Die Vernunft »bildet sich einen Na t u r s t a n d in der Idee, der ihm zwar durch keine Erfahrung gegeben« ist, sie »leyht sich […] einen Endzweck«, den der Mensch »in seinem wirklichen Naturstand nicht kannte, und eine Wahl, deren er damals nicht fähig war, und verfährt nun nicht anders, als ob er von vorn anfinge« (313). Dieser transzendentalphilosophische Trick, so zu tun, als ob, ist der Schlüssel zum Rätsel, wie »das Werk der Noth in ein Werk seiner freyen Wahl umzuschaffen« sei (ebd.). Dabei soll sich die Kunst als hilfreiches »Werkzeug« erweisen, was allerdings nur gelingen kann, wenn ihr Inbegriff bei Schiller – die Schönheit  – transzendentalphilosophisch begründet wird. Die Briefe 8 bis 17 gelten folglich dem Anliegen, »die allgemeine Idee der Schönheit aus dem Begriffe der menschlichen Natur überhaupt abzuleiten« (363). Ob Schiller das gelungen ist, ist fraglich; sauer hat er es sich jedenfalls werden lassen und sauer wird es seinen Lesern, die an einer stimmigen Lesart der Briefe insgesamt regelmäßig scheitern. Zum Problem und zum Reiz von Schillers Briefen gehört, dass ihr Versuch einer transzendentalen Deduktion der Idee der Schönheit von etwas anders orientierten Überlegungen flankiert wird. Insbesondere die Briefe 4 bis 6 sind Dokumente einer kulturkritischen Entfremdungsklage reinsten Wassers. Der Nexus zwischen jener transzendentalphilosophischen Grundlegung und dieser kulturkritischen Empirie, die Schiller im Unterschied zu den Gesetzen der Vernunft auch als die »vollständige[ ] anthropologische Schätzung« (316) bezeichnet, ist sehr schwer auszumachen. Einiges spricht dafür, dass der im Verlauf der Briefe sukzessive mehrdeutig werdende Begriff des Staates Scharnierfunktionen übernimmt. Am Ende, im 27. Brief, hat sich das zunächst sehr plastisch geschilderte moderne Staatsgebilde mit seiner fatalen arbeitsteiligen Organisation über den Umweg des ästhetischen Zustands in den ästhetischen Staat metaphorisch in das »Reich der Schönheit« als Unterpfand der Freiheit und eines guten Staates verwandelt. Um dessen Reichweite ist es freilich schlecht bestellt. Euphorisierte Leser unterschlagen gern, dass Schiller am Ende kleinmütig bekennt, dass »ein solcher 350

Staat des schönen Scheins […] in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln« zu finden sei, wie übrigens auch »die reine Kirche und die reine Republik« (412). Anarchistischer oder anti-etatistischer Staat ist mit Schiller nicht zu machen, eben weil der Staat für ihn eine unantastbare normative Größe darstellt, die transzendentalphilosophisches Anliegen und empirische Kritik verklammert. Der Staat gilt Schiller als »die objektive und gleichsam kanonische Form, in der sich die Mannichfaltigkeit der Subjekte zu vereinigen trachtet« (316). Einerseits findet sich der Mensch in einem mangelhaften »Nothstaat« (313) vor, andererseits aber bleibt der Staat die ideale Form, in der die reine Menschheit repräsentiert wird. Dieses Repräsentationsverhältnis kann zwei einander diametral ausschließende Gestalten annehmen: Entweder wird der reine Mensch durch den empirischen dergestalt unterdrückt, dass der Staat die Individuen knechtet bzw. »aufhebt«, oder das Individuum wird selbst zum Staat (316). Ersteres ist für Schiller undenkbar, denn als Repräsentation des reinen Menschen soll und muss der Staat »auch den subjektiven und specifischen Charakter in den Individuen ehren« (317). Als Repräsentant der »reinen und objektiven Menschheit« wird der Staat die subjektive Menschheit seiner Bürger jedoch nur so weit ehren können und müssen, wie diese sich bereits veredelt haben. Anders formuliert: Der ideale Staat bedarf bereits idealer Bürger, in denen die subjektive und objektive Person, Empfindung und Verstand, Aktivität und Passivität nicht mehr »kontradiktorisch« im Konflikt liegen. Ist das nicht der Fall – und Schillers Klagen lassen keinen Zweifel, dass dem nicht so ist –, wird der Staat die ihm »feindselige Individualität ohne Achtung darnieder treten müssen« (318). Die Alternative, sich selbst zum Staat erhebende Individuen, ist unter den herrschenden Verhältnissen ebenso unwahrscheinlich, denn die durch Vernunft und Aufklärung »losgebundene Gesellschaft […] fällt in das Elementarreich zurück« (319). Schuld an dieser »Dialektik der Aufklärung« trägt für Schiller aber ausdrücklich nicht der Staat, sondern die herrschende Kultur: »Die Kultur, weit entfernt, uns in Freyheit zu setzen, entwickelt mit jeder Kraft, die sie in uns ausbildet, nur ein neues Bedürfniß« (320). Freilich weist Schiller die von ihm beschriebene »Tragödie der Kultur« als notwendiges Übel aus: »Dieser Antagonism der Kräfte ist das große Instrument der Kultur« (326), die sich nur auf sol351

chem Wege der Entgegensetzung entwickeln könne. Aber damit ist der desolate Zustand noch nicht sanktioniert. Mit Kant heißt es: »Es muß also falsch seyn, daß die Ausbildung der einzelnen Kräfte das Opfer ihrer Totalität nothwendig macht«, denn niemals kann »der Mensch dazu bestimmt seyn, über irgend einem Zwecke sich selbst zu versäumen« (328). Doch was die Wunde schlug, kann sie vielleicht auch heilen. Deshalb gilt es, die Totalität unseres Wesens, »welche die Kunst zerstört hat, durch eine höhere Kunst wieder herzustellen« (ebd.). Das kann nach Lage der Dinge weder der Staat leisten noch die Philosophie. Stattdessen ist »ein Werkzeug auf[zu]suchen, welches der Staat nicht hergiebt, und Quellen dazu [zu] eröffnen, die sich bey aller politischen Verderbniß rein und lauter erhalten. […] Dieses Werkzeug ist die schöne Kunst« (332 f.). Genauer gesagt, es ist der ästhetische Zustand, in dem die fatalen Trennungen von Empfindung und Verstand, aktiv und passiv, Freiheit und Notwendigkeit mindestens punktuell aufgehoben sind; so wird uns in vorläufiger Abwesenheit des guten Staates eine Freiheitserfahrung zuteil, die den entfremdeten Zustand der Trennung hinter sich gelassen hat. Bis heute streitet sich die Forschung darüber, ob der ästhetische Zustand bloß Vorschein eines Besseren ist oder doch ein Selbstzweck, über dem das eigentlich politische Ziel aus dem Blick gerät. Ebenso fragwürdig, aber weniger diskutiert, ist jedoch, ob es im ästhetischen Zustand tatsächlich um die Überwindung von Entfremdung geht und wie deren Aufhebung von Schiller gedacht wird. Dabei kann man zunächst den Eindruck gewinnen, es sei die griechische Antike an die Stelle gerückt, die bei Rousseau die Natur innehat, als Signifikant nicht entfremdeter, nicht gespaltener Naturkultur. Der Grieche war und durfte sich als »Repräsentant[] seiner Zeit« fühlen, weil ihn »die alles vereinende Natur«, dem Modernen hingegen »der alles trennende Verstand seine Formen ertheilten« (322). Das heißt aber, die Antike kannte keine Kultur und keine Vernunft und darf deshalb bestenfalls ein symbolisches Unterpfand »der unsichtbaren Sittlichkeit« (315) heißen. Das bestätigt sich an Schillers Verhandlung der Juno Ludovisi, die ja nicht als Beispiel für Kunst angeführt wird, sondern eigentlich nur die Züge einer dem Modernen verschlossenen antiken Götterwelt vergegenwärtigen soll, dann aber unmerklich in eine Allegorese moderner Kunsterfahrung übergeht. Die von Rancière euphorisiert zitierte 352

Passage4 steht freilich an bedeutender Stelle, gleich im Anschluss an den berühmtesten Satz der Briefe überhaupt: »[D]er Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und e r i s t n u r d a g a n z Me n s c h , w o e r s p i e l t . « (359) Da der genauer betrachtet recht abgründige Satz als Vorspiel zur Logik des Selbstbewusstseins gelten darf, wie Hegel es am Ende über die Kunstreligion in seiner Phänomenologie des Geistes entfaltet, verzichte ich hier auf Kommentierung, um stattdessen auf einige bedrückende Züge von Schillers Beschreibung aufmerksam zu machen. Wenn es der Kunst, im Unterschied zu Philosophie, Politik und Kultur, gelingen soll, als Werkzeug der »Ent-entfremdung« zu fungieren, dann trägt seine Beschreibung der Juno Ludovisi doch auch Spuren dessen, was dort aufgehoben worden sein soll. Schiller hebt lobend die » G l e i c h g ü l t i g k e i t « hervor; sie sei »ein bloß menschlicherer Nahme für das freyeste und erhabenste Seyn« (ebd.). Natürlich liegt das ganz auf der Linie von Kants interesselosem Wohlgefallen, aber der sprach immerhin von Wohlgefallen, sogar von Lust und Unlust, nicht jedoch von einer affektiv unberührten Gleichgültigkeit. Gewiss spielt der winckelmannsche Topos von der edlen Einfalt und stillen Größe hinein. Aber seit Szondi wissen wir, dass damit nicht die Abwesenheit von Affekten überhaupt gemeint war, sondern nur ihre verhaltene Präsenz unter der Oberfläche.5 Wenn Schiller von den Gesichtszügen des griechischen und in diesem Fall auch seines Ideals sagt, es bekunde sich »mit der Ne i g u n g auch alle Spuren des W i l l e n s « auszulöschen (ebd.), dann ist das mit sehr gespaltener Zunge gesprochen – gesprochen doch mit mindestens so gespaltener Zunge wie die Gleichgültigkeit. Freilich tilgt Schiller in der abschließenden Formulierung alle Zweifel, wenn er von der Juno schreibt: »In sich selbst ruhet und wohnt die ganze Gestalt« (360), und hinzufügt, als Rezipient befinde man sich ihr gegenüber »in dem Zustand der höchsten Ruhe und der höchsten Bewegung« (ebd.), also im ästhetischen Zustand. Ungeachtet dessen, was er gelegentlich und oft hochgradig miss4 Vgl. Jacques Rancière, »Die ästhetische Revolution und ihre Folgen. Erzählungen von Autonomie und Heteronomie«, in: Ilka Brombach u. a. (Hg.), Ästhetisierung, Berlin 2010, S. 23-40. 5 Vgl. Peter Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie I. Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit. Hegels Lehre von der Dichtung, hg. v. Senta Metz u. HansHagen Hildebrandt, Frank­furt/M. 1974, S. 44.

353

verständlich über den Spieltrieb als dritten Trieb neben Form- und Stofftrieb, über Mittelzustände, über die Kunst als vermittelnde Instanz oder Übergang zwischen Verstand und Empfindung in den Briefen zu Protokoll gibt, beharrt er in letzter Instanz gut kantisch darauf, dass die »Kluft« zwischen Empfinden und Denken, Tätigkeit und Passivität »unendlich« ist (369). Um Vermittlung von Gegensätzen kann es also nicht gehen. Und im ästhetischen Zustand findet sich der Mensch dann auch keineswegs im ungeteilten Vollbesitz seiner Möglichkeiten, sondern er ist, schreibt Schiller: » Nu l l « ! (377) – Das ist nun wirklich wenig und keinesfalls wiedergewonnene Fülle; Einheit zwar, aber eine ziemlich leere. Tatsächlich geht es bei Schiller, so meine ich, im und beim ästhetischen Zustand nicht um die Überwindung einer entfremdenden Trennung, sondern um einen anderen Modus der Erfahrung der unvermeidlichen und unendlichen Kluft zwischen Empfindung und Verstand. Anders formuliert: Im ästhetischen Zustand wird erfahren, wie es ist, nichts zu erfahren, keine Erfahrungen zu haben oder zu machen; in ihm wird ein Stück Unerfahrbarkeit erfahrbar. Schillers Herleitung oder Grundlegung des ästhetischen Zustands folgt der bereits bekannten Logik des So-tun-als-ob. Die Vernunft leiht sich zunächst einmal mehr den in der Erfahrung unmöglichen Zustand eines Menschen »vor aller Bestimmung« (368). In diesem Zustand vor jeder sinnlichen Erfahrung wäre der menschliche Geist nichts anderes als »eine Bestimmbarkeit ohne Grenzen« (ebd.). Diese Art der unendlichen Bestimmbarkeit nennt Schiller auch einen »Zustand der Bestimmungslosigkeit« oder »eine l e e r e Un e n d l i c h k e i t « (ebd.), was, so fügt er hinzu, nicht zu verwechseln sei mit unendlicher Leere. Dieser gedachte Zustand hat sein Besonderes darin, dass der Unterschied zwischen einer grenzenlosen Bestimmbarkeit und einer unendlichen Bestimmungslosigkeit, also zwischen grenzenlosen Möglichkeiten einerseits und der unendlichen Abwesenheit bestimmter Möglichkeiten andererseits, keinen Unterschied macht, weil es ja um einen Zustand vor aller Bestimmung, vor aller Sinnlichkeit geht, der also gar nicht Gegenstand einer Erfahrung werden kann. Nach dieser (gedachten) Bestimmbarkeit und Bestimmungslosigkeit hat Schiller seinen ästhetischen Zustand modelliert. Im ästhetischen Zustand macht der Mensch » e i n e n S c h r i t t z u r ü c k [ ]«, um diesen Zustand erneut zu durchlaufen (374). Es kommt darauf an, »eine gleiche 354

Bestimmungslosigkeit, und eine gleich unbegrenzte Bestimmbarkeit« (375) zu erfahren. Die durch die sinnliche Wahrnehmung eines Kunstwerks gegebene Einschränkung der Bestimmbarkeit muss sowohl festgehalten werden als auch, weil sie Begrenzung ist, die dem Postulat der Bestimmbarkeit widerspricht, aufgehoben werden, wenn »eine unbegrenzte Bestimmbarkeit« (ebd.) und Bestimmungslosigkeit statthaben sollen. Was Hegel später »Aufhebung« nennen wird, nämlich »die Determination«, also die Bestimmung des Zustandes der Bestimmbarkeit, »zugleich zu vernichten und beyzubehalten«, ist für Schiller nur dergestalt möglich, dass der einen Determination eine andere entgegengesetzt wird (ebd.). Wenn »Sinnlichkeit und Vernunft zugleich thätig sind«, dann ist »eben deswegen aber ihre bestimmende Gewalt« aufgehoben und es wird »durch eine Entgegensetzung eine Negation« bewirkt (ebd.). Der ästhetische Zustand ist also nicht die Restauration einer vormaligen Identität, sondern er bezeichnet paradox die Rückkehr in einen vorsinnlichen Zustand grenzenloser Bestimmbarkeit und unendlicher Bestimmungslosigkeit. So oder so bleibt es ein Nullsummenspiel: »Die Schalen einer Wage stehen gleich, wenn sie leer sind; sie stehen aber auch gleich, wenn sie gleiche Gewichte enthalten.« (Ebd.) Weil der ästhetische Zustand über Bestimmbarkeit und über die Abwesenheit bestimmter Möglichkeiten definiert wird, kann er selbstredend auch nichts bewirken, das kann allein der freie Wille, und ob der etwas will, hängt nicht vom ästhetischen Zustand ab. Der ästhetische Zustand ist bloß die Erfahrung, nichts zu erfahren, eine Erfahrung der Unerfahrbarkeit, in der nur die Entleerung von aller Bestimmung statthat. Es handelt sich nicht um ein freies Spiel der Vermögen, sondern um die Herrschaft des Unvermögens in Anbetracht grenzenloser Bestimmbarkeit, in Abwesenheit einer jeden konkreten Bestimmung. Bei Schiller lassen sich also drei Formen von Entfremdung unterscheiden: 1.) die in seinen Augen unentbehrliche Entäußerung der Subjekte an das Kollektiv in der kanonischen Form des Staates. Er repräsentiert den reinen Menschen, der wir noch nicht sind, aber werden sollen und können; 2.) die für alle Kultur und jedes Subjekt ebenso unentbehrliche Entzweiung von Empfindung und Verstand, die bis in die Logik der Kulturentwicklung hineinreicht und dort zwangsläufig Entfremdung wie Selbstentfremdung zeitigt; 3.) schließlich die im ästhetischen Zustand mögliche Erfah355

rung einer aller Entfremdung vorangehenden und eigentlich nicht erfahrbaren, aus diesem Grund von defizitärer Bestimmungslosigkeit nicht zu unterscheidenden Bestimmbarkeit. Dieser ästhetische Zustand überwindet und restauriert nichts. Er ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als die punktuelle Entlassung aus allen Bestimmungen – auch aus der Bestimmung zum Staat, auch aus der Bestimmung zum reinen, vollen Mensch-Sein, auch aus dem Zweck der eigenen Totalität. Der ästhetische Zustand ist kein Stand und kein Staat, sondern ein Niemandsland.

356

Dieter Thomä Eine andere Antigone.  Kritische Anmerkungen zu Christoph Menkes Theorie der Individualität 1. Freveln und Vollbringen Wohlerzogene, wohlgelittene Leute tun, was sich gehört und woran sie gewöhnt sind. Sie bewegen sich in ihren Grenzen, und was darüber hinausgeht, erscheint ihnen als »nicht ganz von dieser Welt«. Zu ihrer Art zu leben gehört eine eigentümliche Ontologie, die in Christian Morgensterns berühmtem Vers zum Ausdruck kommt, dass »nicht sein kann, was nicht sein darf«.1 Es gibt auch Menschen, die sich um den gegebenen Rahmen nicht scheren. Da sie gegen etablierte Regeln verstoßen, kann man ihr Tun für schlecht oder böse halten. Da ihr Horizont nicht von einem vorgefassten Verständnis eingeschränkt wird, können diese Menschen aber auch so beschrieben werden, dass sie alles und jedes erwägen und gegebenenfalls in Praxis umsetzen. Für sie gilt ontologisch gesprochen: Es kann auch sein, was nicht sein darf. Die erste – negative – Lesart dieser Art zu leben stützt sich auf Normen und wendet sich gegen die Individuen, die gegen sie verstoßen, die zweite – positive – Lesart betont deren Handlungsfähigkeit. Einstweilen mag es scheinen, diese Unterscheidung sei ein bisschen gewollt und gekünstelt. Sie dient aber dem Zweck, einem griechischen Ausdruck Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, der in Sophokles’ Antigone eine faszinierende Rolle spielt: der panourgia. Wörtlich meint sie einfach die Fähigkeit, alles zu tun; sie geht zurück auf pan (alles) und ergon (Werk, Tat, Handlung). Diese wörtliche Bedeutung tritt im Alltagsgebrauch dieses Wortes in den Hintergrund, denn dann meint es einfach den Frevel, die Tat eines Schufts oder Schurken. So sind in der panourgia die gerade erwähnten Lesarten des Abweichlers auf seltsame Weise verquickt: Sie enthält in sich die Betonung der Handlungsfähigkeit von Indi1 Christian Morgenstern, Alle Galgenlieder, Berlin 1932, S. 164.

357

viduen, aber auch deren Beurteilung anhand normativer Kriterien. Die Entgrenzung wird großzügig mit Bezug auf »Allheit« angezeigt und doch als Ausschweifung oder Verstoß abgekanzelt. Dazu passt eine ironische Bemerkung Hegels, die Adorno begeistert aufgegriffen hat: »Man meint, wenn das Denken über den gewöhnlichen Kreis der Vorstellungen hinausgehe, so gehe es zu bösen Häusern«.2 Vielleicht dient dieser Hegel-Satz Christoph Menkes bahnbrechenden philosophischen Texten als geheimes Motto. Die panourgia kommt in der ersten Szene von Sophokles’ Tragödie vor. Der Konflikt nimmt seinen Lauf, als Antigone beschließt, ihren geliebten Bruder Polyneikes in Theben zu begraben. Damit verstößt sie gegen ein Verbot des Königs Kreon, der ihn als Feind der Stadt nicht auf deren Grund dulden will. Anders als Antigone gibt ihre Schwester Ismene klein bei: »Denen, die an der Macht sind, füg’ ich mich: es hat / ja keinen Sinn, zu handeln übers Maß hinaus.« (v. 67 f.)3 Dagegen erklärt Antigone, sie nehme gerne den Tod in Kauf, sobald sie ihren Bruder begraben habe: »Schön ist mir nach solcher Tat der Tod. / Von ihm geliebt, lieg’ ich bei ihm, dem Lieben, dann, / die fromm gefrevelt hat« (v. 72-74). Als frommes Freveln (oder ähnlich) wird die Formulierung hosia panourgésas üblicherweise übersetzt.4 Antigones Provokation besteht darin, die panourgia mit dem Attribut des Heiligen zu versehen. Indem die meisten Sophokles-Übersetzer die panourgia als Frevel oder als verbrecherischen Akt wiedergeben, nehmen sie in Kauf, dass das pan oder »Alles«, welches in ihm steckt, unkenntlich wird. Immerhin greifen sie damit die alltägliche griechische Bedeutung dieses Wortes auf und können die Eskalation der Ereignisse in der Tragödie akkurat antizipieren. So spiegelt sich die frühe Rede vom frommen Frevel in Antigones späterer Bemerkung: »Als gottlos 2 G.  W.  F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Erster Teil: Die Wissenschaft der Logik mit den mündlichen Zusätzen, in: Werke, Bd. 8, Frank­furt/M. 1970, S. 69; vgl. Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur, Frank­furt/M. 1974, S. 30, 568; Dieter Thomä u. a., Der Einfall des Lebens. Theorie als geheime Autobiographie, München 2015, S. 155 f. 3 Sophokles, Antigone, in: Dramen. Griechisch und deutsch, Düsseldorf 52007, S. 180-263. Hier und im Folgenden wird auf diese Ausgabe nur mit Angabe der Verszeile verwiesen. 4 Die am besten etablierte englische Übersetzung lautet: »[…] having committed a crime that is holy« (Sophocles, Antigone. Women of Trachis. Philoctetes. Oedipus at Colonus, Cambridge/Mass. 1994, S. 11).

358

gelte [ich] für mein gottesfürchtig Tun.« (v. 924) George Steiner fasst die gegeneinanderstehenden Bewertungen ihres Tuns knapp zusammen: »Antigones Tat ist die heiligste, die eine Frau vollbringen kann. Sie ist auch ein Verbrechen.«5 Ob Aristoteles an Sophokles gedacht hat, als er sowohl die Tatkraft wie auch die pejorative Bedeutung von panourgia in der Nikomachischen Ethik hervorhob? »Es gibt ein Vermögen, das man als Geschicklichkeit [deinótes] bezeichnet. Der Geschicklichkeit ist eigen, daß sie das, was zum vorgesetzten Ziele führt, zu tun versteht und zu treffen weiß. Ist nun das Ziel gut, so ist sie löblich; ist es schlecht, so ist sie Schlauheit und Durchtriebenheit [panourgia].«6 Diese Bemerkung wirkt wie ein Kommentar auf das berühmte Chorlied aus der Antigone: »Mit kluger Geschicklichkeit für / die Kunst ohne Maßen begabt, / kommt heut er [der Mensch] auf Schlimmes, auf Edles morgen.« (v. 365-367) Aristoteles fasst die pan­ourgia als negative Variante des Vermögens der deinótes, welches in demselben Chorlied angesprochen wird: »Vieles ist ungeheuer [polla ta deina], nichts / ungeheurer als der Mensch […]« (v. 332 f.). Überdies ist die panourgia als ungeliebte Stiefschwester der weithin gerühmten parrhesia anzusehen – der Fähigkeit, alles zu sagen oder frei zu sprechen. Der Ausgriff auf Allheit ist also nicht per se verwerflich.7 Es empfiehlt sich allemal, der semantischen Bandbreite der panourgia Rechnung zu tragen. Die zwei Ebenen der wörtlichen Bedeutung und des Alltagsgebrauchs – »alles tun« und »ein Verbrechen begehen« – sind der Schlüssel zum Verständnis der Antigone. Zu den Wenigen, die die wörtliche Bedeutung favorisiert haben, gehört Friedrich Hölderlin. Seiner Übersetzung zufolge träumt Antigone von dem Moment, »wenn Heiligs ich vollbracht«.8 Hier ist die negative Bedeutung unkenntlich, und das griechische pan spie5 George Steiner, Die Antigonen. Geschichte und Gegenwart eines Mythos, Berlin 2014, S. 51; vgl. Bonnie Honig, Antigone, Interrupted, Cambridge 2013, S. 158-160. 6 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Hamburg 1985, S. 147 (1144a 24-27). 7 Vgl. zu panourgia und parrhesia – sowie auch zum panopticon – Dieter Thomä, »Seeing It All, Doing It All, Saying It All. Transparency, Subject, and the World«, in: Emmanuel Alloa, Dieter Thomä (Hg.), Transparency, Society and Subjectivity. Critical Perspectives, Cham 2018, S. 57-84. Einige Passagen aus diesem Text werden in dem ersten Abschnitt dieses Beitrags in stark überarbeiteter Form verwendet. 8 Friedrich Hölderlin, Antigonae, in: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. II, München 1992, S. 317-368, hier S. 321.

359

gelt sich im deutschen »voll«. Bei Bertolt Brecht, dessen AntigoneAdaption nahe bei Hölderlins Version bleibt, klingt es ähnlich: »Hinter mich hab ich / Heilig’s gebracht.«9 Das heißt: Eine Tat, die den moralisch zulässigen Rahmen überschreitet, mag eine Untat sein, aber ob dies der Fall ist oder nicht, wird sich erst herausstellen. Bevor der Punkt erreicht ist, von dem aus moralische Urteile zu fällen sind, muss zuallererst das Handeln freigesetzt werden. Es steht – jenseits irgendwelcher negativen Bewertungen, die es auf sich ziehen mag – für eine fundamentale Negativität und lässt sich seine polemische Kraft nicht abhandeln. Hölderlins radikale Übersetzung macht Antigone zur Vorläuferin einer »politische[n] Revolution nach republikanischen Grundsätzen«.10 Die Doppelbedeutung der panourgia ist von den mir bekannten Antigone-Interpreten nicht beachtet worden. Für Christoph Menke, der sich mit Sophokles’ Stück in seinem Buch Tragödie im Sittlichen befasst, könnte sie deshalb von Interesse sein, weil sie einem entscheidenden Punkt seiner Argumentation entgegenzukommen scheint, nämlich seiner These, dass es darin nicht um eine Konfrontation von Schicksalsmächten oder Gesellschaftssphären, sondern um den Status des Individuums geht. Der von Menke geschätzte Satz Alexander Gottlieb Baumgartens »Anima mea est vis« (»Meine Seele ist Kraft«)11 darf geradezu als implizite Variation auf die panourgia gelten. Im Folgenden wird nach einem Resümee der Deutung Menkes (2.) die Frage erörtert, ob es sich bei Antigone um eine Frau und/ oder ein Individuum handelt (3.). Sodann wird ein Bild Antigones skizziert, das von Menkes »Ideal der individualistischen Selbstverwirklichung« abweicht (4.). Dass die panourgia auf die Handlungsfähigkeit des einzelnen Menschen abzielt, scheint Menke – wie gesagt – in die Hände zu spielen, dient aber als Basis für eine von seiner Lektüre abweichende Interpretation der Antigone.

 9 Bertolt Brecht, Caspar Neher, Antigonemodell 1948, Berlin 1949, S. 116. 10 Steiner, Die Antigonen, S. 113. 11 Christoph Menke, »Innere Natur und soziale Normativität. Die Idee der Selbstverwirklichung«, in: Hans Joas, Klaus Wiegandt (Hg.), Die kulturellen Werte Europas, Frank­furt/M. 2005, S. 304-352, hier S. 327; ders., Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frank­furt/M. 2008, S. 35.

360

2. Menkes Antigone In Tragödie im Sittlichen legt Menke eine »andere Lektüre der Antigone« vor (TS 156).12 Sie darf als Zuspitzung oder Weiterentwicklung hegelscher Motive gelten. Menke fragt allgemein nach dem Fortbestand »tragischer«, also unvermittelbarer Widersprüche in der Moderne. Gegen die üblicherweise gerade auf Hegel zurückgreifende These vom Ende der Tragödie in der Moderne behauptet er mit Hegel deren Gegenwart. Für die These vom Ende der Tragödie sprechen zwei Gründe. Erstens wird es im Zuge der Individualisierung unglaubhaft, dass einzelne Figuren als Träger allgemeiner sittlicher Ansprüche in Konflikt miteinander treten könnten. Moderne Individuen tragen innere Widersprüche aus und beanspruchen vielleicht sogar ihre Freiheit im Umgang mit ihnen. Es ist ihnen fremd, als Vertreter einer großen Sache aufzutreten. Zweitens lädt die Moderne dazu ein, die aporetische Zuspitzung von Konflikten zu vermeiden und für sie eine erträgliche Lösung zu finden.13 Menke folgt diesen Befunden, erkennt darin aber Gründe für die Fortdauer des Tragischen in der Moderne. Die genannte Widersprüchlichkeit tritt im Individuum nämlich nicht nur als bloße Wankelmütigkeit auf, sondern als Gegensatz, der zwischen zwei Selbstverständnissen des Individuums »aufbricht«. Weil es damit der Zerrissenheit ausgeliefert ist, fällt es als Instanz, die ihn »auflösen« könnte, aus (TS 72). Es ergibt sich »eine in sich entzweite Freiheit«, die einerseits für die »autonome Hervorbringung sozialer Einheit und Gerechtigkeit« steht (TS 72), andererseits für die »Macht« – oder bescheidener ausgedrückt: für die Eigenheit und Eigensinnigkeit –, die das Individuum »unabhängig von der sitt12 Hier und im Folgenden wird mit TS verwiesen auf Christoph Menke, Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frank­furt/M. 1996. Zu Sophokles’ Antigone vgl. auch ders., »Innere Natur und soziale Normativität«, in: Hans Joas, Klaus Wiegand (Hg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt/M. 2005, S. 304-352, hier S. 304-306, 351. 13 Für den ersten Punkt mit Bezug auf den modernen Helden seit Shakespeare vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, in: Werke, Bd.  13, Frank­furt/M. 1970, S. 208 f., 236-266, 306-316; ders., Vorlesungen über die Ästhetik III, in: Werke, Bd. 15, Frank­furt/M. 1970, S. 546, 555, 559. Für den zweiten Punkt der Arbeitsteilung zwischen sozialen Sphären vgl. ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke, Bd. 7, Frank­furt/M. 1970, § 157, S. 306.

361

lichen Versöhnung mit dem gemeinsamen Guten« behauptet (TS 175). Aus sozialtheoretischer Sicht muss diese zweite Freiheit durch das »Gemeinwesen […] unterdrückt« (Hegel)14 werden, obwohl es auf sie doch konstitutiv angewiesen ist (TS 171 f.). Aus subjekttheoretischer Sicht kommt es zu einem unauflösbaren Konflikt zwischen verschiedenen Selbstverständnissen und Freiheitserfahrungen des Individuums. Hier wie dort ergibt sich eine tragische Konstellation. Menke begnügt sich nicht damit, diese moderne Form der Tragik ihrer klassischen Bestimmung nachfolgen zu lassen. Er meint vielmehr, dass »die Selbstbehauptung der einzelnen [Individuen] als differente gegenüber dem Gemeinwesen« und ihre »Binnenperspektive als ein selbstbezogen tätiges Selbst, das sich als besonderes hervorbringt«, schon in der klassischen Tragödie zum Ausdruck kommen (TS 160). Die Antigone soll für diese heterodoxe Lesart fruchtbar gemacht werden.

3. Ist Antigone eine Frau und/oder ein Individuum? Christoph Menke bringt den Befund von der inhärenten Tragik im Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinwesen auch so zum Ausdruck, dass er es als ironisch beschreibt. Gemeint ist damit der elementare Sinn von Ironie, wonach das eine gesagt, aber das andere gemeint wird. In diesem Fall heißt dies: Das Gemeinwesen erkennt das Individuum als seinen »Grund« an, legt es aber darauf an, dass es »zugrunde« geht.15 Oder umgekehrt: Das Individuum ist bereit, im Gemeinwesen aufzugehen, dementiert dies aber im Beharren auf seinem Eigensinn, ohne den diese Bereitschaft zum bloßen Gehorsam verkäme. Was im ironischen Verhältnis zwischen Gesagtem und Gemeintem in der Schwebe bleibt, tritt im tragischen Gegensatz auseinander. Diese Parallele zwischen Tragödie und Ironie verdankt Menke wiederum Hegel; er muss ihn hierzu allerdings vor ihm selbst in Schutz nehmen. Statt sich mit Hegels notorischer Abkanzelung der romantischen Ironie zu begnügen, weist Menke zu Recht darauf hin, dass die Ironie im elementaren Sinn des Umschlags einer Be14 G.  W.  F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Werke, Bd. 3, Frank­furt/M. 1970, S. 352. 15 Ebd., S.  354.

362

deutung in ihr Gegenteil ein zentrales Element der Dialektik darstellt (TS 143-150, 185).16 Ein Anhaltspunkt für die Koppelung von Tragödie und Ironie ist die folgende, oft zitierte Stelle aus Hegels Phänomenologie des Geistes: Indem das Gemeinwesen sich nur durch die Störung der Familienglückseligkeit und die Auflösung des Selbstbewußtseins in das allgemeine sein Bestehen gibt, erzeugt es sich an dem, was es unterdrückt und was ihm zugleich wesentlich ist, an der Weiblichkeit überhaupt seinen inneren Feind. Diese – die ewige Ironie des Gemeinwesens – verändert durch die Intrige den allgemeinen Zweck der Regierung in einen Privatzweck, verwandelt ihre allgemeine Tätigkeit in ein Werk dieses bestimmten Individuums und verkehrt das allgemein Eigentum des Staats zu einem Besitz und Putz der Familie.17

Menke versieht in diesem Zitat die Formel von der »ewigen Ironie des Gemeinwesens« mit einer Hervorhebung (TS 142) und meint, dass »die Lektüre der Antigone, die die Phänomenologie des Geistes unternimmt« und die er selbst fortführt, in der »Bestimmung der Individualität als ›ewiger Ironie des Gemeinwesens‹ gipfelt« (TS 156). Menkes Schluss von Hegels Charakterisierung der Ironie der Weiblichkeit auf die Figur der Antigone ist aber leider ein Kurzschluss. Genauer gesagt, handelt es sich um zwei Kurzschlüsse: Zum einen ist es – so seltsam dies auf den ersten Blick klingen mag – fragwürdig, in Antigone eine Vertreterin der Weiblichkeit in dem genannten Sinne zu sehen, zum anderen ist zweifelhaft, ob es sich bei Antigone in dem von Menke gemeinten Sinn um ein »Individuum« handelt. Spricht Hegel von der Antigone, wenn er sein Bild der »Weiblichkeit« entwirft? Alle mir bekannten Interpretationen gehen wie selbstverständlich davon aus18 und sehen sich dazu autorisiert, weil in dem einschlägigen Kapitel der Phänomenologie immer wieder auf 16 Deutlich wird dies z. B., wenn »Adel« sich als »Verworfenheit« entpuppt – und umgekehrt (vgl. ebd., S. 386); vgl. Dieter Thomä, Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds, Berlin 2016, S. 159. 17 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 352. 18 Vgl. z. B. Seyla Benhabib, »Hegel, die Frauen und die Ironie«, in: dies, Selbst im Kontext. Kommunikative Ethik im Spannungsfeld von Feminismus, Kommunitarismus und Postmoderne, Frank­furt/M. 1995, S. 258-276, hier S. 274; Carol Jacobs, »Dusting Antigone«, in: Modern Language Notes 111:5 (1996), S. 889-912, hier S. 895; Judith Butler, Antigones Verlangen. Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, Frank­furt/M. 2001, S. 14, 62; Honig, Antigone, Interrupted, S. 7.

363

Antigone angespielt wird. Die Belege freilich, die Hegel direkt im Anschluss an die These von der Ironie der Weiblichkeit bringt, bedienen sich bei anderen Dramen und Figuren (Agrippina, Elektra etc.).19 Gemeint ist hier eine Verkehrung von Bedeutungen – etwa in dem Sinne, dass eine Frau die Thronbesteigung ihres Mannes nicht als politischen Akt deutet, sondern als Chance, sich in seinem Glanz zu sonnen. Mehrere Gründe sprechen dagegen, Hegels Definition der Frau auf Antigone anzuwenden. Sie ergeben sich aus dem griechischen Kontext sowie aus den Texten von Sophokles und von Hegel selbst. Sophokles’ Tragödie hat einen Vorgänger und einen Nachfolger. Sie steht zeitlich zwischen Aischylos’ rund zwanzig Jahre früher entstandener Tragödie Die Sieben gegen Theben und Euripides’ rund dreißig Jahre später entstandenen Phönizierinnen. Aischylos lässt Antigone am Ende seines Dramas den Vorsatz fassen, ihren Bruder Polyneikes zu begraben, »obwohl« (!) sie ein Mädchen ist; bei Euripides wird Antigone dazu angestiftet, ihr »Mädchenzimmer« zu verlassen, um sich für ihren Bruder einzusetzen.20 Zwar ließen sich diese Auskünfte so deuten, dass Antigone einfach vom Mädchen zur Frau wird, doch darin erschöpft sich ihre Emanzipation nicht. Dies zeigt sich, wenn man vom Kontext der antiken Antigone-Deutungen zu Sophokles’ Antigone zurückkehrt. Wie die Rolle der erwachsenen Frau aussieht, wird dort gerade nicht von Antigone, sondern von Kreons Gattin Eurydike vorgeführt, die »ganz Mutter« ist (v. 1282), in den Grenzen des Hauses (oikos) bleibt und sich dort nach dem Tod ihres Sohnes Haimon das Leben nimmt. Was ihr nicht zu Gebote steht, ist das Auftreten und Handeln im öffentlichen Raum. Antigone fällt aus dieser Rolle heraus, sie ist keine »Frau« im von Hegel kodierten Sinn. Den schier unendlichen Forschungsstreit um die Frage, ob sie eine neue, besondere Art von Frau sei, ihre Identität als »Schwester« finde oder aber sich als »Mutter« von Polyneikes imaginiere, Ge19 Vgl. Pirmin Stekeler-Weithofer, Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein dialogischer Kommentar, Bd. 2: Geist und Religion, Hamburg 2014, S. 236. 20 Zur Rolle der Antigone in der Schlussszene von Aischylos’ Tragödie und zum Streit um die Echtheit dieser Szene vgl. Arlene W. Saxonhouse, Fear of Diversity. The Birth of Political Science in Ancient Greek Thought, Chicago, London 1992, S. 54 f., 63; zu Euripides’ Charakterisierung der Antigone siehe dies., Free Speech and Democracy in Ancient Athens, Cambridge 2006, S. 144.

364

schlechtergrenzen auflöse oder sich – wie schon Kreon behauptet – als »Mann« gebärde (v. 484) etc., kann ich hier unmöglich resümieren oder gar entscheiden.21 Dieser Streit allein genügt aber schon als Beleg dafür, dass sie als Idealtyp weiblicher Ironie nicht taugt. Dies wird von Hegel indirekt bestätigt. Er ordnet zwar »das Familieninteresse« dem »Weib, Antigone«, zu.22 Doch er gibt auch zu erkennen, dass Antigone nicht der Definition der Frau genügt, die sich im naturphilosophischen Teil seiner Enzyklopädie und in den Grundlinien zur Philosophie des Rechts findet. Dort sagt er, der Mann stehe für »das Tätige« und »Mächtige«, die Frau für »das Empfangende« und »das Passive«.23 Sowohl das Heraustreten aus dem privaten Raum wie auch – vor allem – die Tatkraft werden umgekehrt in Hegels verstreuten Anmerkungen zur Antigone herausgestellt. Er folgt der Einschätzung des Chors, Antigone gehe »bis zum Äußersten / der Kühnheit« (v. 853 f.; TS 166). Wenn Hegel sie dafür feiert, »ins lebendige Handeln ein[zu]treten«,24 erlaubt er ihr, das Bild der Frau zu sprengen, welches doch seiner Rede von der »ewigen Ironie des Gemeinwesens« zugrunde liegt. Dass Antigone sich nicht der Klassifizierung der »Weiblichkeit« fügt, wird von Menke übergangen. Dies hat – jedenfalls auf den 21 Ein frühes Votum lautet: »Sophocles’s invention consists in unsexing Antigone« (Seth Bernadete, »A Reading of Sophocles’ Antigone: I«, in: Interpretation: A Journal of Political Philosophy 4:3 (1975), S. 148-196, hier S. 157). Zu den Wandlungen in Luce Irigarays Antigone-Deutung, die sie zunächst als Nicht-Frau, später aber als Vorbild für die Frauen von heute charakterisiert, siehe Brigitte Rauschenbach, »Hegel und der französische Feminismus«, in: Ulrich Johannes Schneider (Hg.), Der französische Hegel, Berlin 2007, S. 163-174, hier S. 169-171; zu Antigone, die sich als »Schwester« nicht nur von Polyneikes, sondern überraschenderweise auch von Ismene bewährt, siehe Honig, Antigone, Interrupted, S. 154, 184; zu Antigones imaginierter »Mutterschaft« im Verhältnis zum Bruder vgl. dagegen Jacobs, »Dusting Antigone«, S. 910; zur Auflösung der Geschlechterrollen vgl. Butler, Antigones Verlangen, S. 19 f., 25 f. 22 G.  W.  F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, in: Werke, Bd. 14, Frank­furt/M. 1970, S. 60. 23 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 166, S. 318; ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830). Zweiter Teil: Die Naturphilosophie mit den mündlichen Zusätzen, in: Werke, Bd. 9, § 369 Zus., S. 519; zur Stelle aus den Grundlinien vgl. Benhabib, »Hegel, die Frauen und die Ironie«, S. 264; zur Stelle aus der Enzyklopädie siehe Luce Irigaray, Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, Frank­furt/M. 1980, S. 260. 24 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 549.

365

ersten Blick – keine gravierenden Folgen für seine Argumentation. (Ich werde diesen Punkt im nächsten Abschnitt jedoch nochmals kurz erwägen müssen.) Denn Menke bezieht die »ewige Ironie des Gemeinwesens« nicht auf die Frau, sondern direkt auf das »Individuum« (TS 156). Mag Antigone auch kein »Weib« im traditionell kodierten Sinne sein, so kann er sie immer noch als »Individuum« ansehen. Dafür scheint zu sprechen, dass Antigone als radikal Einzelne auftritt; dies wird in der Tragödie auf zweierlei Weise bekräftigt. Erstens wird im Modus der Negation oder Privation betont, dass sie nicht Mitglied, sondern ganz auf sich gestellt ist. Ausgeschlossen ist Antigone aus einer Sphäre, die als polis und kosmos bestimmt ist. Sie wird vom Chor apolis genannt (v. 370; Hölderlin übersetzt: »unstädtisch«; vgl. TS 164); Kreon zählt sie zu den akosmountes, also den Empörern oder – wörtlich – den Weltlosen (v. 730; Hölderlin übersetzt: »Ist That, dem huldigen, was gegen eine Welt ist?«).25 Zweitens werden Antigone diverse Attribute zugeschrieben, die ihre Eigenständigkeit betonen.26 Kreon fahndet nach dem »Urheber« von Polyneikes’ Begräbnis oder – wörtlich – nach der Person, die es »mit eigener Hand« verrichtet hat (autocheira; v. 306). Der Chor sagt: »Du lebst nach eignem Gesetz« (autonomos; v. 821) – und: »Dich stürzt ein eigenwillig Trachten« (autognotos; v. 875). Diese Kennzeichnungen nimmt Menke als Belege für seine Interpretation, die der Frage nach dem Gesetz die Frage nach dem Individuum, das sich überhaupt erst konstituiert, vorausstellt und ihr einen »Vorrang« einräumt (TS 174): Antigones Tat […] [hat] ihren Grund allein in dem […], was sie selbst als das ihr eigne behauptet. In diesem Verhältnis zum Eigenen konstituiert Antigone sich als ein individuelles oder besonderes Selbst. Individualität ist nicht qualitative Besonderheit für andere, sondern gewinnt Wirklichkeit nur durch Selbstverwirklichung, im praktisch-hervorbringenden Bezug des Selbst zu sich. (TS 169)

Der Haken an dieser Interpretation liegt auf der Hand: All jene negativen und positiven Zuschreibungen, die Antigone in ihrer Nicht-Mitgliedschaft und Eigenständigkeit zeigen, erfolgen von 25 Hölderlin, Antigonae, S. 332, 345. 26 Ich folge hier einem Hinweis von Rush Rehm, Marriage to Death. The Conflation of Wedding and Funeral Ritual in Greek Tragedy, Princeton 1994, S. 66.

366

außen – nämlich vom Chor oder von Kreon. Dass Antigone diese Zuschreibungen im Sinne ihrer »Selbstverwirklichung« oder »Authentizität« (TS 172, 176) internalisiert, wird von Menke nur behauptet, ist aber vom Text nicht gedeckt. Der Verdacht kommt auf, dass er eine Idee auf sie projiziert, die zu ihr nicht passt. Natürlich ist der Befund richtig, dass Antigone als Einzelne gegen eine Ordnung antritt, doch es ist eine Sache, dass sie in eine radikale Vereinzelung hineingerät oder sich in sie hineinbegibt, eine andere Sache ist es, dies in der Weise selbstreflexiv zu deuten, dass sie daraus ein »individualistische[s] Ideal der Selbstverwirklichung« (TS 194) macht. (Wie sich dieses von Menke herausgestellte »Ideal« zu seiner scharfen Kritik am modernen Individualismus in späteren Schriften verhält,27 muss hier offenbleiben.)

4. Antigones Selbstverständnis Der kritische Befund zum »Individuum« Antigone führt zu der Aufgabe, nach ihrem Selbstverständnis unabhängig von Menkes Vorgaben zu fragen. Diese Aufgabe steht, so scheint es, vor einem Paradox: Folgt man der Hypothese, dass Antigone die gerade erwähnten äußeren Zuschreibungen nicht übernimmt, dann muss man sie sich als Figur vorstellen, die radikal vereinzelt ist, sich aber nicht individualistisch versteht. Menke lässt diese Hypothese beiseite und versucht, Antigone in eines der von ihm entwickelten drei »Modelle der Selbstverwirklichung oder Individualität« (TS 200) einzugliedern. Zu ihnen gehören die »Überwindung« und »Überschreitung«, die hier nicht anwendbar sind, sowie ein drittes Modell: »Übernahme ist das traditionale Modell der Individualität; das Werden des Individuums zu sich besteht demnach in der Einsicht und Bejahung, daß das Individuum nicht nur immer schon, sondern immer noch durch herkömmliche und geteilte Muster bestimmt ist« (TS 200). Antigone verfügt demnach über eine Individualität, die auf selbstgewählter Tradition beruht. Damit die »Übernahme« für eine Theorie individueller Freiheit einschlägig werden kann, muss Menke sie als Akt der Bejahung einer Lebensweise dramatisieren. Bloßes Befolgen der 27 Vgl. Christoph Menke, Kritik der Rechte, Berlin 2015.

367

Tradition oder Hinnahme des Gegebenen genügen nicht. In Spiegelungen der Gleichheit betont er, dass der »Vollzug des Wählens« nur konsistent gefasst werden kann, wenn er als eigenständiger Akt Distanz zur »Verbindlichkeit« überlieferter Gehalte hält.28 Für diese »Übernahme« als individuellen Akt des »Wählens« gibt es in Sophokles’ Tragödie durchaus einen Anhaltspunkt – und zwar im zweiten Dialog zwischen Antigone und ihrer Schwester, auf den Menke freilich nicht eigens eingeht. Als wollte Antigone seine Formulierung vom »Vollzug des Wählens« stützen, spricht auch sie vom »Wählen«. Als Ismene sich aufdrängt, mit ihr in den Tod zu gehen, hält sie sie zurück: Du sollst mit mir nicht sterben! Was du nicht berührst, sei nicht dein Eigen! Wenn ich sterbe, ist’s genug. […] Rette dich selbst! Ich neide nicht, daß du entrinnst. […] Du wähltest ja zu leben, doch zu sterben ich. […] Du hieltest diesen Weg für gut, den andren ich. (v. 546-557)

Bevor man nun aber das in diesem Dialog artikulierte, zu Menkes Lesart passende Selbstverständnis Antigones für voll nimmt, muss man prüfen, ob es sich mit dem Selbstverständnis deckt, das sie sonst im Drama an den Tag legt. Dabei bleibt die Schlüsselfrage, ob sie auf einer eigens vollzogenen Wahl beharrt, denn nur dann taugt sie als Vertreterin des individualistischen Ideals der »Übernahme«. Der erste Dialog zwischen den Schwestern, der die Tragödie eröffnet, stellt in vielerlei Hinsicht ein Gegenstück zu dem gerade geschilderten zweiten Dialog dar. Darin bietet Antigone eine andere Lesart des schwesterlichen Verhältnisses und ihrer eigenen Haltung an. Wiederum scheint sie Ismene die eigene Wahl zu gönnen: »Denke, wie du magst«, sagt sie (v. 71). Doch diese Großzügigkeit ist vergiftet, denn sie sagt auch: »Du wirst bald erweisen, ob du recht / geartet bist, ob edler Eltern schlechtes Kind.« (v. 37 f.). Die englische Übersetzung ist hier deutlicher: »You will soon show whether your nature is noble or you are the cowardly descendant of valiant ancestors.«29 Hier fasst Antigone die Frage, ob Polyneikes begraben wird, nicht als Gegenstand einer Wahl auf, die so oder an28 Christoph Menke, Spiegelungen der Gleichheit. Politische Philosophie nach Adorno und Derrida, Frank­furt/M. 2004, S. 234. 29 Sophocles, Antigone, S. 7.

368

ders ausfallen kann, sondern sie baut eine Alternative auf, in der auf der einen Seite Gut-geboren-sein (eugenēs) oder Gutartigkeit steht, auf der anderen Seite der Abfall von diesem Sein. Anders gesagt: Es geht hier nicht darum, im Angesicht verschiedener Lebensentwürfe die richtige Wahl zu treffen. Vielmehr geht die Sache allein deshalb schief, weil man wählt. Die Wahl als solche ist gleichbedeutend mit einem Abfall (oder Sündenfall). Antigone wendet sich hier gegen die Wahl als solche. Dieser Befund gibt Gelegenheit, zwei bereits angezeigte offene Punkte anzusprechen: ob nämlich (1) die panourgia als indirekte Bestätigung für die individualistische Handlungsmacht Antigones im Sinne Menkes gelten darf und ob (2) der Übergang von Weiblichkeit zu Individualität so glatt funktioniert, wie Menke dies nahelegt. Beide Punkte lassen sich auch so deuten, dass sie Menkes oben erwähnte Gleichsetzung von Weiblichkeit und Individualität durchkreuzen. (1) Antigones panourgia lässt sich gegen Menke so verstehen, dass ihre polemische Kraft einer Sicherheit entstammt, die sie nicht als Individuum erringt, sondern die ihr gegeben und auferlegt ist. Sie wird in die Vereinzelung getrieben, weil sie Anstoß damit erregt, ihre Identität aus einer unverbrüchlichen Treue und Zuneigung, aus dem symphilein zu schöpfen (v. 523). (2) Diese sympathetische Haltung Antigones entspricht der Art, wie in der Antike – und noch weit in die Moderne hinein – »Weiblichkeit« kodiert worden ist, passt aber nur schlecht zum Modell der Individualisierung. Die Diskrepanz zwischen den von Antigone angebotenen Deutungen des schwesterlichen Verhältnisses – und ihres eigenen Selbstverständnisses – ist faszinierend: Auf der einen Seite steht die im zweiten Dialog eröffnete Möglichkeit der individuellen Wahl, die beiden Schwestern zugebilligt wird und nur verschieden ausfällt. Auf der anderen Seite baut Antigone im ersten Dialog einen Gegensatz auf, wonach die Wahl nur ins Negative ausschlagen kann und einer Haltung gegenübersteht, die unbefragt gegeben ist. Angesichts dieser Diskrepanz drängt sich die Frage auf, welches Selbstverständnis Antigones im Drama überwiegt. Die Antwort darauf lautet, dass ihre Haltung gegenüber Ismene im zweiten Dialog gewissermaßen ein Ausreißer ist. Dafür, dass die im ersten Dialog artikulierte Haltung dominiert, mögen zwei Belege genügen. 369

Zum Ersten fällt auf, dass Antigone bis zum Ende darauf beharrt, dass sich in ihr ein vorgegebenes Schicksal vollstrecke und sie »fluchbeschwert« zu den Toten hinabgehe (v. 867). Wenn sie sagt: »Meine Seele ist schon lang / gestorben, um zu dienen den Verstorbenen« (v. 559 f.), so verweist dieses »schon lang« mindestens zurück auf den Tod ihrer Eltern. Eines aber kann eine bereits gestorbene Seele gewiss nicht: wählen. Zum Zweiten gilt, dass Antigone nicht nur nicht wählen kann, sondern auch nicht wählen will. Dies zeigt sich an einer unheimlichen Parallele zwischen ihr und Kreon. Als Kreon sich im Streit mit Ismene rechtfertigen muss, warum er seines Sohnes Braut töten will, wählt er die vulgäre Formulierung, dass ein Mann auch andere Äcker pflügen könne (v. 569); Frauen werden als austauschbare Objekte sexueller Befriedigung abgewertet. Parallel hierzu rechtfertigt Antigone ihren entschiedenen Einsatz für den toten Bruder: »Niemals hätt’ ich, […] / […] wenn ein toter Gatte mir hinmoderte, / den Bürgern trotzend solches Leid mir auferlegt. / […] / Für einen toten Gatten würd’ ein andrer mir« (v. 904-909). Wie Kreon, so verachtet auch Antigone selbstgewählte Bindungen als zweitrangig. Anders als Ismene und Haimon, die auf der lebensgeschichtlichen Einmaligkeit von Beziehungen beharren (v. 570), stützt sie sich bei ihrer Entscheidung auf ein Faktum, das ihr gerade deshalb attraktiv erscheint, weil es jeder Wahl zuvorkommt. Darin liegt Antigones Begrenztheit oder – hart gesagt – Borniertheit. Legt man dieses Selbstverständnis Antigones zugrunde, so stellt es sich als Irrweg heraus, ihr jenen »Vollzug des Wählens« zuzuschreiben, der für Menkes »individualistische[s] Ideal der Selbstverwirklichung« unverzichtbar ist. Die »Übernahme« eines Selbstbildes ist demnach kein eigener »Vollzug«, sondern immer schon erfolgt. Es ist freilich zuzugeben, dass man sich eine gewichtige Frage einhandelt, wenn man dieses Selbstverständnis Antigones für dominant hält: Wie passt dazu ihre Argumentation im zweiten Dialog mit Ismene, in dem sie sich doch – wie dargestellt – explizit als Wählende beschreibt? Zwei Möglichkeiten gibt es, diesen Widerspruch zwischen ihren Auskünften zu verstehen. Die für Menke günstige Lesart läuft darauf hinaus, dass Antigone eine Entwicklung durchmacht; im Zuge des eskalierenden Konflikts eignet sie sich erst bewusst eine Freiheit an, die sie zu Beginn des Dramas noch durch den Rückgriff auf die Natur unterläuft. 370

Dass sie sich im zweiten Dialog mit Ismene selbst als Wählende darstellt, ist demnach als Errungenschaft zu verstehen, die sie jedoch nicht festzuhalten vermag. Entsprechend sind die Feier der Wahllosigkeit und die Berufung auf das Verhängnis, das ihre Seele getötet hat, als später Rückfall zu werten. Das Ideal der Selbstwerdung und Freiheit im Sinne Menkes wird demnach von Antigone gesucht, aber nicht verwirklicht. Die für Menke ungünstige Lesart hält daran fest, dass das dominante Selbstverständnis Antigones in der Zurückweisung der Wahl besteht. Demnach ist ihr »Wählen« im zweiten Dialog mit Ismene ein nicht authentischer Zug im tragischen Spiel. Nach dieser Lesart stellt Antigone eine Symmetrie zwischen ihrer Wahl und der Wahl Ismenes her – und zwar nur zum Schein. Der Sinn eines solchen Verhaltens ist rasch erschlossen: Antigone will Ismene retten, und um dies zu tun, muss sie deren Entscheidung, die Konfrontation mit Kreon nicht eskalieren zu lassen, stützen. Dies gelingt nur, wenn sie die Schwester von dem eingangs erhobenen Vorwurf freispricht, aus der Art zu schlagen. Logischerweise muss Antigone dann auch die Notwendigkeit ihres eigenen Tuns einklammern, also so tun, als ob sie selbst auch wählte. Nur dadurch schafft sie einen Freiraum, den Ismene für sich nutzen kann.30 Antigone bleibt in der tragischen Konfrontation stecken, bahnt aber den Weg für ein nicht tragisches Leben. (Francesca Raimondi31 hat mich darauf hingewiesen, dass diese Doppelung der Form nach an die ironische Haltung erinnert, in der Gemeintes und Gesagtes auseinanderklaffen. In diesem Fall könnte dies so zu verstehen sein, dass Antigone zwischen Bruder- und Schwesterliebe hin- und hergerissen ist und zu der von ihr selbst eingenommenen Position auf Distanz geht. Wenn es sich hier denn um eine ironische Figur handelt, dann relativiert Antigone nicht die Macht des Gesetzes, gegen das sie kämpft, sondern die Macht des Gesetzes, das sie befolgt.) Von den beiden gerade geschilderten Lesarten des Verhaltens Antigones halte ich die zweite, für Menke ungünstige Lesart für plausibler als die erste: Mit ihr kann man die Auskünfte Antigo30 Im Ergebnis gelange ich damit – freilich auf einem anderen Weg – zu der positiven Lesart des Verhältnisses zwischen Antigone und Ismene, die Bonnie Honig entwickelt hat (vgl. Honig, Antigone, Interrupted, S. 154, S. 184, 196). 31 Ich danke Francesca Raimondi für kritische Anmerkungen zu einer ersten Fassung dieses Textes.

371

nes durchgängig verständlich machen und muss sich nicht damit begnügen, ihre hartnäckige Berufung auf das eigene Schicksal als Selbstmissverständnis zu diskreditieren. Was heißt dies – abschließend gefragt – für die generelle These Menkes von der Gegenwart der Tragödie in der Moderne? Gezeigt habe ich hier nur, dass mit dem, was man als Vergangenheit dieser Gegenwart bezeichnen könnte, etwas nicht stimmt: Antigone lässt sich nicht, wie Menke dies in seiner »anderen Lesart der Antigone« vorschlägt, als Heldin herausstellen, die den inneren, also tragischen Widerspruch im Begriff der Freiheit austrägt. Die Tragik in Sophokles’ Antigone passt dazu nicht – und zwar deshalb nicht, weil Antigone sich dieser Freiheit – auch in der bescheidenen Variante der »Übernahme« von Identität – entzieht. Möglicherweise ist Menke von seiner Einbeziehung oder Vereinnahmung Antigones nicht vollauf überzeugt, denn er gelangt in Spiegelungen der Gleichheit zu dem Ergebnis, dass eigentlich nur eines der Modelle der Selbstverwirklichung, die er skizziert, dem Widerspruch im Begriff der Freiheit gerecht wird: dasjenige nämlich, welches an ein romantisches oder experimentalistisches Individuum gebunden ist. Dieses Modell stützt sich nicht auf die der Antigone zugeschriebene Idee der »Übernahme« der Identität, sondern auf die Idee von deren »Überschreitung«.32 Unabhängig vom Status Antigones hat die Frage Bestand, ob im Innersten der Moderne ein tragischer Widerspruch wirkt und wie er allenfalls zu verstehen ist. Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, diese Frage zu behandeln. Nur einen Punkt will ich ansprechen. Ein wichtiger, bislang zu wenig beachteter Aspekt von Menkes Tragödiendeutung besteht darin, dass er sich von den Haltungen einzelner Figuren löst und die Form der Tragödie als ganze in den Blick nimmt (TS 178-192). Diese Form lädt die Zuschauer dazu ein, sich in andere Lebensmöglichkeiten hineinzuversetzen, fordert also die rückhaltlose Bereitschaft, Antigone (oder Kreon oder Ismene) zu sein – und doch auch wieder nicht. In der Identifikation der Zuschauer mit mal dieser, mal jener Person auf der Bühne spiegelt sich die analog verlaufende Identifikation der Schauspieler mit mal dieser, mal jener Person. So oder so schwankt man also zwischen dem völligen Aufgehen in einer Rolle oder Hal32 Menke, Spiegelungen der Gleichheit, S. 228, 247.

372

tung und der Distanz zu ihr. Anders gesagt: Man ist hin- und hergerissen zwischen Ernst und Spiel. In Die Gegenwart der Tragödie stellt Menke genau diese Spannung ins Zentrum. Dort heißt es über Heiner Müller: Die wahre Zerrissenheit der Müllerschen Figuren liegt darin, daß sie tatsächlich, ohne Aussicht auf eine Auflösung oder Versöhnung dieser Spannung, beides sind: Gladiatoren, im Handeln, und Clowns, im Spielen dieses Handelns. »Tragödie« und »Farce«, die beiden Pole, um die Heiner Müllers dramatisches Denken kreist, »lauern« jeweils »im Bauch« der anderen.33

Daraus wäre ein Schluss zu ziehen, den Menke meidet: Er müsste seine zentrale These zur modernen Tragik abwandeln und seinem Buch einen anderen Titel geben: Die Gegenwart der Tragikomödie.

33 Christoph Menke, Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, Frank­furt/M. 2005, S. 214. Er bezieht sich hier auf ein Zitat aus Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Köln 1994, S. 344.

373

Lutz Ellrich Die Realität des Tragischen … so ist das Leben, das lebendige Leben, geschlagen, die Tragödie … Jacques Derrida

»Ganz langsam, fast unmerklich öffnet sich unter der Oberfläche einer vernünftigen und aufgeklärten Gesellschaft ein abgründiger mythischer Raum voller Leiden und seelischer Qual. Es beginnt eine moderne Tragödie […], ein Alptraum aus Schuld und Sühne. Auch der Zuschauer soll leiden, auch ihm müssen die Augen geöffnet werden, denn auch er ist tragisch verstrickt.« – So heißt es in einer Rezension des Films The Killing of a Sacred Deer, die Thomas Assheuer – ein Essayist, den man getrost der Frank­furter Schule zurechnen darf – verfasst hat. Der skeptische Kritiker fragt sich jedoch sofort, ob hier »die Wiederkehr der Tragik im Herzen des rückstandsfrei aufgeklärten Amerika« inszeniert wird, und gibt zu bedenken: »Wenn ja, dann wäre [der Regisseur] ein Gegenaufklärer alten Schlages [und] er hätte einen reaktionären Film gedreht […]. Wenn der Film [aber] nicht von ewiger Tragik handelt, nicht von schicksalhafter Verstrickung von Schuld und Sühne – wovon handelt er dann?« Und die Antwort lautet: Es geht um das »Ureigene der Gesellschaft«, um »eine bürgerliche Kälte, die automatenhaft erstarrte Menschen hervorbringt, kleine, kalkulierende, in reißfeste Folie eingeschweißte Ego-Monster«, die »unfähig« sind, »eigene Schuld zu artikulieren«, und mithin auch unerreichbar für den »Schock über das Nichtwiedergutzumachende«. »All das, was dieser Gesellschaft an Schrecklichem widerfährt«, – so befindet der Kritiker am Ende – »hat sie selbst verbrochen«. Bei Zuschauern, die diese Diagnose teilen, schwindet deshalb unweigerlich der Eindruck, sie seien Betrachter einer »modernen Tragödie«. Alle Anklänge ans »Mythische«, an den »Zirkel von Schuld, Opfer und Rache« erweisen sich – so gesehen – als bloße »Metaphern«,1 die eine scharfsichtige soziologische Analyse buchstäblich in kausale 1 Thomas Assheuer, »Im heiligen Hain von Amerika«, in: DIE ZEIT 53 (2017), S. 49.

374

Beziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen zu übersetzen vermag. Aber Assheuer ist sich keineswegs sicher. Letztlich bleibt unklar, ob der Film eine Mentalität befördert, die das Tragische als Grundelement auch und gerade des modernen Lebens begreift, oder ob er ein raffiniertes Spiel mit Motiven der klassischen Tragödie treibt, um deren Faszinationskräfte (durch ihre Verwandlung in rhetorische Manöver) zu bannen. Diese Ambivalenz kennzeichnet auch die seit vielen Jahren geführten Debatten über die Relevanz des Tragischen in der gegenwärtigen Gesellschaft. Im Verlauf der Erörterungen ist es weder gelungen, hinsichtlich der Bedeutung des Begriffs Tragik Einigkeit herzustellen, noch auch, sein diagnostisches Potential exakt zu bestimmen. Zu den strittigsten Punkten, bei deren Diskussion der Kontrast zwischen »Aufklärern« und »Gegenaufklärern« besonders markant hervortritt, gehört die Einschätzung der sozialen und politischen Rolle des Opfers. Während die Aufklärer den »gesellschaftliche[n] Fortschritt als Überwindung der Notwendigkeit des Opfers«2 auffassen und politisch »rechte« ebenso wie »linke« Versionen des »tragischen Helden«, der sein Leben für die bestehende oder die künftige Gemeinschaft hingibt,3 zurückweisen, halten die Gegenaufklärer an der auch unter Bedingungen der Moderne gültigen »Notwendigkeit des Opfers« fest und werfen der anderen Seite Naivität und Verblendung vor. Botho Strauß’ Essay »Anschwellender Bocksgesang« zeigt exemplarisch, wie Vertreter dieser Position den Tragik-Begriff in Anschlag bringen. Es geht ihnen nicht allein um die Zerstörung der Illusionen, die bürgerlichliberale Demokratien aufrichten, sondern um die Nobilitierung eines Leidens, das im Namen der Gemeinschaft übernommen und würdevoll ertragen wird. An die Stelle der Verleugnung oder Verdrängung jener Härten, die moderne westliche Gesellschaften ihren Mitgliedern zumuten müssen und dennoch nicht gebührend anerkennen, tritt jetzt nicht bloß die Vergegenwärtigung notwendiger Leiden, sondern auch die Verklärung einer Haltung, die dem Unausweichlichen mit Stärke und Stolz begegnet. Das Bewusstsein 2 Herfried Münkler, Karsten Fischer, »›Nothing to kill or die for …‹ – Überlegungen zu einer politischen Theorie des Opfers«, in: Leviathan 28:3 (2000), S. 343-362, hier S. 352. 3 Die »rechte« Version findet sich u. a. bei Carl Schmitt, die »linke« bei Walter Benjamin und Ernst Bloch.

375

für die tragische Disposition der historischen Lage dient mithin der »Verbesserung der menschlichen Leidenskraft«.4 Der Konsum von Tragödien im Theater oder Kino wird zum zentralen Teil eines Kulturprojektes der Abhärtung. Herfried Münkler, der ebenfalls die »Opfervergessenheit in den gegenwärtigen Demokratien«5 diagnostiziert, verzichtet in seiner Bestandsaufnahme auf derartige ideologische Zugaben und nimmt die Beschwörungsformeln »Tragik« oder »Tragödie« erst gar nicht in den Mund. Er liefert vielmehr die bei Strauß und ähnlich gelagerten Autoren fehlende »systematische Begründung« für die triftigen Aspekte ihrer Thesen. Offenbar sollen prägnante Analysen die Rhetorik des Tragischen ersetzen und überflüssig machen. Aber auch Münkler fordert eine veränderte Einstellung zur Realität, die eben immer wieder »Situationen produziert, in denen Opfer unausweichlich sind«. Deshalb »besteht die politische Aufgabe darin, einen rationalen und zugleich affektiv vermittelbaren Umgang mit der unausweichlichen Opferproblematik zu erlernen«. Denn nur ein aufklärerisches Denken, das sich selbst einzuschränken weiß, wäre in der Lage, die »vom Opfer faszinierten Gespenster aus der Vergangenheit« endgültig zu vertreiben.6 Um für den Erfolg dieses Lernprogramms7 günstige Voraussetzungen zu schaffen, könnte es sinnvoll sein, den Tragik-Begriff preiszugeben. Denn die Schwierigkeiten, die er aufwirft, sind gravierend: Einerseits kommt er in der Alltagssprache geradezu inflationär zum Einsatz und andererseits ist er von einer weltanschaulichen Aura umgeben, deren irreführende Assoziationen ständig zu Prozeduren der Sprachreinigung und Definitionsakrobatik nötigen. Als Alternative zum völligen Verzicht bietet sich allerdings 4  Botho Strauß, »Anschwellender Bocksgesang«, in: Heimo Schwilk, Ulrich Schacht (Hg.), Die selbstbewußte Nation (1993), Frank­furt/M., Berlin 1994, S. 1940, hier S. 37. 5 Münkler/Fischer, »Nothing«, S. 358. 6 Ebd., S. 360. In diesem Zusammenhang könnte man auch an die Mahnung von Jürgen Habermas erinnern: »Es gibt Entmythologisierungen, die zu kurz greifen, um die Macht des Mythos zu brechen […]. Wenn nicht ein Schauder bleibt, kehren die Ungeheuer wieder« (»Vom Ende der Politik«, in: Reinhold Grimm (Hg.), Hans Magnus Enzensberger, Frank­furt/M. 1984, S. 67-72, hier S. 72). 7 Dieses Programm hat nicht primär das Lernen aus der Erfahrung von Tragik zum Ziel, sondern dient vor allem dem Training der Fähigkeit, überhaupt Erfahrungen zu machen, die als tragische aufgefasst werden könnten.

376

die Entwicklung eines strikt nachmetaphysischen Konzepts des Tragischen an, dem es gelingt, sich weitgehend immun gegen Missverständnisse und Fehlinterpretationen zu machen. Während der metaphysische Tragik-Begriff sich auf strukturelle Gegebenheiten der Realität bezieht, die den Untergang einer guten oder gerechten Sache bewirken, und Personen auszeichnet, die sich diesem leidvollen Vorgang gewachsen zeigen,8 muss ein nachmetaphysisches Konzept jede Sinnaufladung des Geschehens und der Handelnden unterlassen und zudem die Frage beantworten, ob die Ursachen für den jeweiligen Untergang bestimmten (notwendigen) Eigenschaften der wirklichen Welt zuzurechnen sind oder aber (kontingenten) Sichtweisen, mit denen Akteure und Beobachter die Welt, in der sie leben, von Fall zu Fall wahrnehmen und interpretieren. Unter den Befürwortern eines nachmetaphysischen Konzepts haben zwei Autoren – Hans-Thies Lehmann und Christoph Menke – besonders radikale Vorschläge gemacht. Beide begnügen sich nicht damit, die bereits in den 1920er Jahren formulierte These, dass »die Moderne […] dem Leid seinen Sinn« versage,9 zu ratifizieren, sie kappen darüber hinaus die traditionelle Verankerung des Tragischen im Leben selbst: Tragik wird nicht mehr als eine »Wesensbestimmung des Menschen« oder eine »Art des In-derWelt-Seins«, sondern als ein »Modus der künstlerischen Welterschließung« verstanden.10 Folglich gibt es »keine Erfahrung des Tragischen […] ohne spezifische theatrale Darstellungsweisen«.11 Damit werden »die düsteren und unerträglichen realen Erfahrungen von Leiden, Terror, Schmerz in der gegenwärtigen Welt«12 zwar nicht bestritten, aber sie erhalten einen modifizierten (ontologischen) Status. Der Schrecken im Leben ist bloßer Schrecken, der in  8 Darüber hinaus hat das metaphysische Konzept von Tragik die Identifikation derjenigen Gestalten des Unheils oder Scheiterns, die es privilegiert, stets mit Rezepten zur Bewältigung des Leidens verbunden: Die betroffenen Subjekte sollen das Unglück, das ihnen zustößt, im Lichte der Vernunft gelassen ertragen (Hegel), geistige Kühle und Ruhe bewahren (Scheler) oder den Standpunkt einer souveränen Resignation einnehmen (Gadamer).  9 Ludwig Marcuse, Die Welt der Tragödie, Berlin 1923, S. 17. 10 Hans-Thies Lehmann, Tragödie und dramatisches Theater, Berlin 2013, S. 64. 11 Bettine Menke, Christoph Menke, »Tragödie – Trauerspiel – Spektakel. Drei Weisen des Theatralen«, in: dies. (Hg.), Tragödie – Trauerspiel – Spektakel, Berlin 2007, S. 6-15, hier S. 13. 12 Lehmann, Tragödie, S. 75.

377

sich festsitzt und nicht über sich hinausgelangt, ein Schrecken, der einfach nur schrecklich ist und nicht mehr – eine pure Tautologie. Die tragische Erfahrung ist hingegen eine »verschleierte Erfahrung des Schreckens«, deren Funktion aber nicht in der »Abmilderung«, sondern gerade in der »Vertiefung realer Erfahrungen« besteht.13 Man könnte den Kontrast zwischen der (gegebenenfalls tragischen) Tiefe der ästhetischen Erfahrung und der Flachheit des wirklichen Lebens auch anders bestimmen,14 nämlich als Relation zwischen einer artifiziellen »Abstraktion«, welche die alltäglichen »Praktiken auf ihre wesentlichen Bestimmungen […] reduziert«, und dem »gewöhnlichen Leben«, das seine »antitragischen Mechanismen« in Gang setzt, um die Begegnung mit selbsterzeugtem Unheil zu verschleifen und zu vergessen.15 Im Unterschied zum metaphysischen Konzept stellt ein nachmetaphysisches, das die Tragik ins Reich des Ästhetischen verlegt, keinerlei Programm zur praktischen Leidensbewältigung, keine Ethik der Coolness oder des Trotzes in Aussicht.16 Es unterbreitet eine weit attraktivere Offerte: Obschon die eigentliche ästhetische Verschärfung oder »Radikalisierung«17 jedes »Moderieren« und »Abmäßigen«18 verweigert und den alltäglichen Verfahren des Durchwurstelns überlässt, bahnt sie doch auch einen »Ausgang aus der Tragik«.19 Denn die Zuschauer, die im Theater oder Kino eine 13 Ebd., S.  78. 14 Es stellt sich allerdings die Frage, ob dieses Vokabular geeignet ist, das Sprachspiel der Metaphysik zu verabschieden. 15 Christoph Menke, Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, Frank­furt/M. 2005, S. 97 f. – In Menkes Texten meldet sich mitunter aber eine leise Gegenstimme: »Tragik gibt es auch vor der Tragödie – im zeitlichen wie logischen Sinne: im Mythos wie im Alltag.« (»Die Gegenwart der Tragödie«, in: Neue Rundschau 111:1 (2000), S. 85-95, hier S. 90; Herv. d. Verf.) 16 Bestritten wird auch die Chance, aus der tragischen Erfahrung, die die Kunst der Tragödie ihren Betrachtern ermöglicht, etwas zu lernen, das in lebenspraktischer Hinsicht von Nutzen ist (vgl. Menke, Die Gegenwart der Tragödie, S. 98 f.). Niemand hat das drastischer formuliert als Heiner Müller: »Und daß wirs gleich gestehn: es ist fatal / Was wir hier zeigen, hat keine Moral / Fürs Leben können Sie bei uns nichts lernen. / Wer passen will, der kann sich gleich entfernen« (Philoktet, Herakles 5, Frank­furt/M. 1966, S. 9). 17 Christoph Menke, Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frank­furt/M. 1996, S. 316. 18 Strauß, »Bocksgesang«, S. 30. 19 Menke, Tragödie im Sittlichen, S. 316.

378

Tiefenerfahrung des Tragischen machen dürfen, erwerben mit ihrer Eintrittskarte ebenfalls eine »emotionale Rückfahrkarte«. Der »Selbstverlust«, den sie sich aus freiem Entschluss zumuten, »ist zeitlich begrenzt«,20 und darüber hinaus lässt er sich mit ästhetischem Genuss verbinden: »Das Paradox der Tragödie besteht in dem positiven oder irgendwie positiv konnotierten Gefühl des Zuschauers, das sich gerade daraus ergibt, dass der Held der tragischen Narration zugrunde geht.«21 Dieser Befund ist ein guter Anlass, um weitere Möglichkeiten zur Ausbildung nachmetaphysischer Konzepte des Tragischen ins Auge zu fassen. Reizvoll wäre es, den Vertretern der »tragischen Ideologie«, die das Tragische »als erscheinungsloses, rein wirkliches Wirken […], frei von allem Darstellen und Spiel« begreifen,22 auf dem von ihnen durchmessenen Terrain direkt entgegenzutreten, mithin auf ebendem Feld, das Münkler/Fischer in ihrer »politischen Theorie des Opfers« als die »Realität« bezeichnet haben, welche »Situationen produziert«, denen man letztlich nicht ausweichen kann.23 Zwei Diskurstypen erheben den Anspruch, dieses Feld unter weitgehendem Verzicht auf die Möglichkeiten der ästhetischen Radikalisierung zu beobachten – der Journalismus und die Sozialwissenschaften (insbesondere Soziologie und Ökonomie). Beide Diskurstypen implizieren (wenn auch nicht durchgängig) ein Wissen um die Konstruiertheit der Fakten, welche präsentiert und gedeutet werden, und beide verorten das Tragische, sobald sie es festzustellen meinen, nicht auf der Textebene, sondern in der Sache selbst. Wenn Journalisten zum Tragik-Begriff greifen, so bemühen sie sich gewöhnlich um die Anteilnahme und Erregung des Publikums: Zumeist geht es um Fälle, bei denen die Wahrung der Normalität fast gelungen wäre oder die Wende zum Guten nur um Haaresbreite verfehlt wurde. Aber Journalisten setzen den Begriff auch dann ein, wenn sie sich der Gehässigkeit ihrer Leser sicher sind und spöttisch beklagen, dass eine Person des öffentlichen Lebens die Chance zur Erlangung tragischer Insignien vertan hat. Ein treffliches Beispiel für genau diese Strategie findet sich in einem 20 Fritz Breithaupt, Die dunklen Seiten der Empathie, Berlin 2017, S. 155. 21 Ebd., S.  152. 22 Menke/Menke, »Tragödie – Trauerspiel – Spektakel«, S. 12. 23 Münkler/Fischer, »Nothing«, S. 360.

379

Kommentar zum Martin-Schulz-Desaster im Februar 2018: »Schade. Selbst seinem endgültigen Abtritt von der bundesdeutschen politischen Bühne fehlt […] jenes Element des Tragischen, das Aufstieg und Fall mitunter groß wirken lässt.«24 Auch der Reiz einer ironischen oder sarkastischen Verwendung des Tragik-Begriffs wird zuweilen an einer Leserschaft getestet, die man auf der eigenen Seite weiß: »[K]einer von Trumps Vorgängern machte sich so lustvoll Feinde. Das Tragische aus der Sicht der Republikaner ist, dass Trump erfolgreich sein könnte, wenn er sich nicht selbst dauernd im Weg stünde.«25 Doch diese Beispiele weichen von den gängigen Mustern ab, für die die folgenden drei Fälle repräsentativ sind: (1) »Bei einem tragischen Unfall hat am Sonntag eine 31 Jahre alte Frau und Mutter von zwei Kindern ihr Leben verloren. Sie war beim Versuch, über das Dach in ihre verschlossene Wohnung […] zu gelangen, abgestürzt. […] Den tragischen Verlauf des Geschehens […] schildert [ein] Feuerwehrkommandant […]. Danach war das ältere der beiden Kinder auf die Straße gerannt. Die Mutter folgte ihm. Da die Wohnungstür zugefallen war und der Rückweg in die Wohnung, in der sich der Schlüssel und das nur wenige Monate alte zweite Kind befand, abgeschnitten war, beschloss die Frau offensichtlich, über ein Fenster im Treppenhaus und über das Dach in ihre Wohnung zu kommen. Bei diesem Versuch stürzte sie ab.«26 – Das Wort »tragisch« bezeichnet hier kein unvermeidliches Geschehen, es tilgt auch nicht (wie es mitunter von ambitionierten philosophischen Theorien gefordert wird) jeden Gedanken an eine mögliche Rettung – im Gegenteil, es ruft Szenarien der rechtzeitigen Abhilfe auf: Wäre nur der Schlüsseldienst rasch genug vor Ort oder zufällig ein kletterfreudiger junger Mann präsent gewesen, so hätte die Mutter ihre riskante Aktion, die ja nur dazu diente, das in 24 Malte Lehming, »SPD und Martin Schulz. Wenn Macht vor Moral geht«, in: tagesspiegel.de, 9. 2. 2018, 〈https://www.tagesspiegel.de/politik/spd-und-martinschulz-wenn-macht-vor-moral-geht/20946828.html〉, letzter Zugriff 22. 3. 2018. 25 Christoph Scheuermann, »Dinner mit Chuck und Nancy«, in: DER SPIEGEL 38 (2017), S. 98. 26 Redaktion, »31 Jahre alte Mutter stirbt nach Sturz vom Dach«, in: badischezeitung.de, 26. 11. 2017, 〈http://www.badische-zeitung.de/emmendingen/31jahre-alte-mutter-stirbt-nach-sturz-vom-dach--145687994.html〉, letzter Zugriff 22. 3. 2018.

380

der Wohnung gebliebene, vielleicht auf dem Wickeltisch liegende Baby vor Schaden zu bewahren, gewiss unterlassen. (2) Vom »tragischen Tod« einer jungen Frau, die mit ihrem Auto ein Polizeifahrzeug auf dem Weg zum Einsatz rammte, kündet der Aufmacher eines BILD-Artikels. Der ausführlichen Darstellung des Unfallhergangs folgt ein lakonischer Abbinder: »Besonders tragisch: Der Raubüberfall, zu dem die Polizisten unterwegs waren, erwies sich als Fehlalarm.«27 – In diesem Bericht charakterisiert der Ausdruck »tragisch« den frühen Tod eines Menschen, der – rein statistisch betrachtet – nur eine geringe Wahrscheinlichkeit aufweist. Mit der Steigerungsform »besonders tragisch« wird dann eigens darauf hingewiesen, dass der Einsatz natürlich unterblieben wäre, wenn niemand (böswillig oder irrtümlich) einen Fehlalarm ausgelöst hätte. Offenbar wäre – so lautet die groteske, aber unabweisbare Schlussfolgerung – dieser Tod weit weniger tragisch, wenn tatsächlich ein Raubüberfall stattgefunden hätte. Die Leser*innen werden hier zunächst Zeugen einer Trivialisierung des Tragik-Begriffs (bereits die geringe Wahrscheinlichkeit eines negativ bewerteten Ereignisses verwandelt es in einen tragischen Vorfall) und müssen dann zur Kenntnis nehmen, dass die (von der Sensationspresse registrierte) Wirklichkeit Tragik in unterschiedlich hohen Dosierungen produzieren kann. (3) »Die Statistik sagt: 2273. So viele Menschen wurden im ersten Halbjahr 2017 im brasilianischen Bundesstaat Rio de Janeiro getötet. […] Es hat den Anschein, als sei dieses Land gegenüber solchen Statistiken längst abgestumpft. […] Nirgendwo werden so viele Polizisten angegriffen, nirgendwo schießt die Polizei so schnell wie in Rio. Zum Alltag gehören deshalb auch die vielen Querschläger, die Unbeteiligte verletzen oder töten. Schon weit mehr als 600 Menschen wurden dieses Jahr von solchen ›Balas perdidas‹ getroffen […]. Was das Land nun offenbar aufrüttelte, war keine Statistik, sondern ein Einzelschicksal: die Geschichte des kleinen Arthur. Er wurde Ende Juni vom Querschläger Nr. 624 getroffen – und zwar noch vor seiner Geburt, im Bauch seiner Mutter. Die Kugel traf ihn am Kopf, durchschlug seine Schulter und verletzte seine Wirbelsäule. Er kam per Not-Kaiserschnitt zur Welt und das 27 Redaktion, »Fabien (21) starb bei Todes-Crash mit Polizeiauto«, in: bild.de, 31. 1. 2018, 〈https://www.bild.de/regional/berlin/verkehrsunfall/fabien-starb-beicrash-mit-polizeiauto-54643774.bild.html#fromWall〉, letzter Zugriff 22. 3. 2018.

381

Ultraschallbild mit den rot markierten Einschusslöchern wurde zu einem Symbol für die Gewaltexzesse in Rio und ganz Brasilien. Fernsehen und Zeitungen berichteten in allen Details über diesen Fall. […] Die tragische Geschichte hat die gesamte Debatte nachhaltig verändert.«28 Der hier in Anschlag gebrachte Tragik-Begriff löscht nicht nur die Verbindungen von Tragik und Schuld (bzw. zum legendären »Unschuldig-schuldig-sein«), sondern auch die »Selbstbeteiligung« des geschädigten Subjekts an der Katastrophe ist kein Thema. Im Unterschied zum vorherigen Fall wird hier das Tragische einem Bereich zugeordnet, in dem die Statistik keine Bedeutung hat, obschon der Querschläger, der den Fötus traf, sofort eine Seriennummer erhalten hat. Das Einzelschicksal soll durch das Label »tragisch« eine solche Signifikanz gewinnen, dass Aussagen darüber, wie wahrscheinlich oder unwahrscheinlich es ist (als ungeborener Mensch), Opfer der geschilderten Gewaltexzesse zu werden, belanglos erscheinen. Alle hier herangezogenen Fälle zeigen nicht nur das enorme Bedeutungsspektrum eines Tragik-Begriffs auf, der direkt auf reale Geschehnisse bezogen wird, sie machen darüber hinaus auch kenntlich, wie die Verwendung des Wortes die Intentionen der Autoren durchkreuzt: Ein Spezifikum der Wirklichkeit soll mithilfe eines semantischen Indikators sichtbar gemacht werden, dessen Handhabung sich als Praxis der Willkür erweist. Die folgende Fallbeschreibung kehrt das bisherige (anhand von Beispielen explizierte) Verfahren um. Dem Autor des Berichts ist nicht daran gelegen, Wirkliches durch einen bestimmten Begriff besser und genauer zu erschließen, als es mit anderen Begriffen möglich wäre. Er möchte vielmehr den abgegriffenen und unscharf gewordenen Begriff von Tragik bzw. Tragödie durch die Präsentation eines Sonderfalls profilieren: Man sagt oft leichthin, dass etwas »tragisch« sei. Man nennt es unbedacht eine »Tragödie«, wenn einer nach jahrelangem Lernen durch die Prüfung fällt. So etwas ist Pech, so etwas ist ein Unglück. Aber jeder, der es beklagt, wird stumm, wenn er von einer wirklichen Tragödie erfährt. Die Tragödie von Arnstein schnürt einem den Hals zu, man schaudert. Ein Vater hat sein 28 Boris Herrmann, »Soldaten in Rios Straßen«, in: Süddeutsche Zeitung, 10. 8. 2017, S. 7, Hervorhebung L. E.

382

Gartenhäuschen für eine kleine Party seiner Tochter vorbereitet, sie feiert ihren 18. Geburtstag. Der Vater […] kauft im Baumarkt einen benzingetriebenen Stromgenerator; er installiert ihn flugs, laien- und fehlerhaft. Als er am nächsten Morgen nach dem Rechten sehen will, sind alle tot – seine Tochter, sein Sohn, ihre vier Freunde; alle erstickt an Kohlenmonoxid, einem geruchlosen Gas. Von diesem Mittwoch an muss sich der Vater vor dem Landgericht Würzburg verantworten. Der Staatsanwalt hat ihn angeklagt wegen fahrlässiger Tötung. […] Das Gericht muss entscheiden, ob es mit dem Vater von Arnstein gnädig sein will.29

Prantls Artikel ist besonders aufschlussreich, weil er den lässigen Umgang mit dem Tragik- bzw. Tragödien-Begriff zum Anlass nimmt, seine Leser mit einem Fall zu konfrontieren, der die Bezeichnung »wirkliche Tragödie« verdienen soll. Zweifellos existiert in der Presse eine Konkurrenz um die wirklich und wahrhaftig tragischen Fälle, die nicht bloß seufzend zur Kenntnis genommen werden, sondern (alle, mit Ausnahme des beredten Verfassers) sprachlos machen. Und Prantl erhebt zu Recht den Anspruch, auf ein Geschehen hinzuweisen, bei dem die allerbesten Absichten (in Kombination mit technischem Unverstand) in ihr völliges Gegenteil umschlagen und etwas Schreckliches bewirken. Der Fall soll den Lesern klarmachen, wann die Verwendung des Tragik-Begriffs berechtigt ist und wann nicht. Aber Prantl sagt uns nicht, ob der Fall wirklich tragisch ist, weil der Vater fahrlässig gehandelt hat, oder obwohl er dies tat. Auch eine weitere, naheliegende Frage bleibt ohne Antwort: Angenommen, der Vater hätte die erforderliche Sorgfalt walten lassen, aber unwissentlich ein defektes Gerät benutzt, würde dieser Umstand die Qualifizierung des Geschehens als wirkliche bzw. echte Tragödie (oder Tragik) zulassen oder verbieten?30 Christoph Menke hat diese Frage im Kontext seiner Analyse von »Ödipus’ Fehler« beantwortet: Nur Fälle, bei denen die betroffenen Subjekte genau dasjenige Wissen, dessen Besitz 29 Heribert Prantl, »Die Tragödie von Arnstein. Sechs Tote im Gartenhäuschen: Bleibt diese Straftat ohne Strafe?«, in: SZ.de, 17. 10. 2017, 〈http://www.sued deutsche.de/politik/justiz-die-tragoedie-von-arnstein-1.3712544〉, letzter Zugriff 22. 3. 2018. 30 Christoph Menke, »Ödipus’ Fehler. Über den Widerstreit im Handeln«, in: Burkhard Liebsch, Jürgen Straub (Hg.), Lebensformen im Widerstreit. Integrations- und Identitätskonflikte in pluralen Gesellschaften, Frank­ furt/M. 2000, S. 343-363, hier S. 352.

383

zur Verhinderung der Katastrophe nötig gewesen wäre, gar nicht – also unter keinen Umständen – hätten erwerben können, dürfen unter die Kategorie der tragischen Ereignisse subsumiert werden. Unaufmerksamkeit oder Fahrlässigkeit schließen folglich Tragik aus. Prantl würde dem vermutlich entgegenhalten, dass nicht der Plot einer alten Tragödie über unseren Begriff des Tragischen entscheiden dürfe, sondern nur die Wirklichkeit mit ihrer zuweilen furchtbaren Evidenz. Wie auch immer man den Gebrauch des Tragik-Begriffs in der Presse beurteilt und im Detail kritisiert, unübersehbar ist, dass die meisten Artikel weit weniger zu einer Bewahrung von Opfermythos und Heroenkult beitragen als vielmehr zu einer Art semantischer Entgiftung des Tragik-Begriffs. Viele Beispiele wirken wie Exemplare einer Fallsammlung, die Murphys Gesetz (»Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen«) veranschaulichen soll. Von einer (Wieder-)Belebung der Ideologie des Tragischen zeugen diese aus dem Leben gegriffenen Geschichten nicht. Im Vergleich zu Journalisten benutzen Sozialwissenschaftler den Begriff »Tragik« deutlich skrupulöser und vorsichtiger, aber auch mit größeren Ambitionen: Sie wollen irritieren, eine innovative Sichtweise ausflaggen und zuweilen auch Aufmerksamkeit über die Fachgrenzen hinaus erlangen.31 Zum Einsatz kommt der TragikBegriff 1. in Darstellungen bislang übersehener oder verleugneter makro-sozialer Korrelationen, die verheerende Folgen hatten bzw. haben; 2. bei der Erforschung nicht-intendierter Handlungsfolgen, latenter Konfliktdynamiken, selbstdestruktiver kollektiver Mentalitäten sowie unauflösbarer sozialstruktureller Widersprüche; 3. in Theorien, die gravierende, aber (in einem relativ engen Zeitfenster) noch lösbare Probleme aufzeigen und entsprechende Warnungen aussprechen; und 4. bei der Untersuchung von Situationen, die Individuen, Gruppen und sogar ganze Gesellschaften zu grausamen Entscheidungen zwingen. 31 Nur bei Historikern gehört das Spiel mit dem Tragischen als einer Eigenschaft ihres Forschungsgegenstandes zum Alltagsgeschäft. Bemerkenswert sind deshalb eher ostentative Versuche, terminologische Ersatzformeln zu erfinden. Christian Meier beschreibt die Situation, in der sich Julius Caesar nach seiner Wahl zum Konsul auf Lebenszeit befand, als »Krise ohne Alternative« (Entstehung des Begriffs »Demokratie«, Frank­furt/M. 1970, S. 143). Werner Dahlheim hält dagegen am Tragik-Begriff fest (Julius Caesar, München 1987, S. 23, 202, 204).

384

Einige Beispiele mögen dies illustrieren: Michael Mann spricht in seiner Studie über ethnische Säuberungen, die in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Bildung demokratischer Nationalstaaten stehen, von Tragödien.32 Claus Leggewie konstatiert im Zuge einer Analyse der aktuellen Islamfeindlichkeit »eine nur noch tragisch zu nennende Kollusion von Islamfeinden und Islamisten«.33 Heinz Bude rekonstruiert den Zerfall der DDR als »das Ende einer tragischen Gesellschaft«, die schließlich von der »ironischen Nation« BRD, welche »ohne fixierte Vergangenheit und ohne missionarische Zukunft« auskam,34 regelrecht geschluckt wurde. Eva Illouz erzählt die auf ein »tragisches Ende« zusteuernde »Geschichte« eines ethnischen und religiösen Konflikts in Israel.35 Volker Schmidt erläutert die »tragischen Konsequenzen« der Patientenauswahl in der Transplantationsmedizin.36 Neben diesen unkonventionellen Einzelstudien lassen sich aber auch Befunde anführen, die gehäuft vorkommen und sich kaum einzelnen Forscher*innen zurechnen lassen: So weisen zahlreiche Autoren darauf hin, dass bestimmte sicherheitspolitische Maßnahmen, die Regierungen liberaler westlicher Staaten ergreifen, tragischerweise die angeblich so schützenswerte demokratische Substanz der Gesellschaft aushöhlen.37 So vertreten Ökonomen und Militärstrategen die These, dass die unvermeidbare Ressourcenknappheit zu Allokationsproblemen 32 Vgl. Michael Mann, Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie ethnischer Säuberung, Hamburg 2007. 33 Claus Leggewie, Anti-Europäer, Berlin 2016, S. 60. 34 Heinz Bude, »Das Ende einer tragischen Gesellschaft«, in: Hans Joas, Martin Kohli (Hg.), Der Zusammenbruch der DDR, Frank­furt/M. 1993, S. 267-281, hier S. 271. 35 Eva Illouz, »Vom Paradox der Befreiung zum Niedergang der liberalen linken Eliten«, in: Heinrich Geiselberger (Hg.), Die große Regression, Berlin 2017, S. 93116. 36 Volker H. Schmidt, »Tragisches ›Scheitern‹. Die Behandlungsausschlüsse in der Transplantationsmedizin«, in: Matthias Junge, Götz Lechner (Hg.), Scheitern. Aspekte eines sozialen Phänomens, Wiesbaden 2004, S. 141-150. 37 Eine interessante Gegenposition hat der Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz Horst Teltschik eingenommen: »Es ist die Tragik jeder Demokratie, dass bei uns jeder seine Meinung öffentlich vertreten darf und dass man politische Verantwortliche in einer Demokratie schützen muss. In Diktaturen würde so etwas nicht passieren.« (Redaktion, »Sicherheitskonferenz«, in: spiegel online, 8. 2. 2007, 〈http://www.spiegel.de/politik/deutschland/sicherheitskonferenz-aufruhr-umteltschiks-demonstranten-schelte-a-465296.html〉, letzter Zugriff 22. 3. 2018).

385

führt, deren Behebung eine tragische Dimension besitzt,38 und Juristen, die sich mit Terrorabwehr und der fraglichen Legitimität der sogenannten Rettungsfolter befassen, kommen ohne den TragikBegriff, der – wie kein anderer Marker – unumgängliche Verluste und Opfer signalisiert, nicht aus.39 Alle diese Beispiele belegen eindrücklich, dass sich Tragik als Eigenschaft sozialer Phänomene, als Teil des individuellen und kollektiven Lebens betrachten lässt, ohne damit Versatzstücke einer überkommenen Metaphysik zu reproduzieren. Besonders instruktiv ist der Diskurs über »tragische Entscheidungen«; denn hier existiert ein reger Austausch von Informationen, Argumenten und Szenarien zwischen Wissenschaft und Kunst, der minutiöse Vergleiche zwischen verschiedenen Formen der Erfahrung des Tragischen ermöglicht. Wer in wissenschaftlichen Texten von Tragik spricht und sich nicht dem Vorwurf terminologischer Beliebigkeit aussetzen möchte, übernimmt unweigerlich besondere Explikationspflichten hinsichtlich bestehender Handlungsmöglichkeiten, Lernpotentiale und individueller bzw. kollektiver Verarbeitungsstrategien auf dem Feld des Tragischen: Zunächst ist zu erläutern, warum es überhaupt nötig, legitim oder erhellend ist, tragische Katastrophen von nicht tragischen (zum Beispiel statistisch wahrscheinlichen Unfällen,40 fahrlässigen Handlungen mit schrecklichem Ausgang sowie banalen oder gar komischen Desastern41) zu unterscheiden. Sodann sind Kriterien zu ermitteln, mit deren Hilfe vier Arten von tragikrelevanten Prozessen auseinandergehalten werden können: 1. Prozesse, die notwendig ablaufen und folglich keine Eingriffe zulassen; 2. solche, bei denen nur der Anschein von Notwendigkeit besteht und daher rechtzeitige und energische Gegen-Aktionen Abhilfe schaffen könnten; 3. solche, die ergebnisoffen erscheinen, in Wahr38 Vgl. etwa Guido Calabresi, Philip Bobbitt, Tragic Choices. The Conflicts Society Confronts in the Allocation of Tragically Scarce Resources, New York 1978. 39 Vgl. die Beiträge zur Debatte über die sogenannte »Rettungsfolter«, ferner die Texte von Ferdinand v. Schirach, u. a. den Roman Tabu (2013), das Theaterstück Terror (2014) und den Essayband Die Würde ist antastbar (2014), sowie die kritischen Kommentare eines Jura-Professors: Wolfgang Schild, Verwirrende Rechtsbelehrung. Zu Ferdinand von Schirachs »Terror«, Berlin 2016. 40 Charles Perrow, Normale Katastrophen, Frank­furt/New York 1987. 41 Ingomar Kieseritzki, Das Buch der Desaster, Stuttgart 1988.

386

heit aber notwendig sind; und 4. solche, die sich als ergebnisoffen darstellen und Eingriffe ermöglichen. Ferner sind Auskünfte über das Verhältnis von Tragik-Erfahrungen und den daraus resultierenden möglichen oder unmöglichen Lerneffekten zu geben. Eine hinreichend belastbare allgemeine Theorie über die Spielräume und Grenzen des Lernens aus Untergängen und Desastern steht derzeit noch nicht zur Verfügung. Empirische Studien konkreter Abläufe sind daher unverzichtbar. Im Anschluss an bereits vorliegende Arbeiten lassen sich allerdings einige forschungsleitende Fragen stellen, etwa: Ist die notorische »Torheit der Regierenden«42 ein tragischer Aspekt politischer Führung? Müssen militärische Niederlagen erlitten werden, damit tiefsitzende kollektive Mentalitäten umcodiert werden können?43 Sind »Institutionen des kleinen Scheiterns«44 erforderlich, um große tragische Debakel zu unterbinden?

42 Barbara Tuchmann, Die Torheit der Regierenden, Frank­furt/M. 1984, S. 13. 43 Wolfgang Schievelbusch, Die Kultur der Niederlage, Berlin 2001. 44 Karl Otto Hondrich, Lehrmeister Krieg, Reinbek bei Hamburg, S. 135.

387

IV. Die Negativität des Denkens

Robert Pippin Idealismus und Anti-Idealismus.  Die Unendlichkeit des Denkens und radikale Endlichkeit Hegel hat wiederholt darauf hingewiesen, dass das Herzstück seiner Philosophie, von dem alles andere abhängt, in jenem zweibändigen und dreiteiligen Buch zu finden ist, das er schrieb, während er zwischen 1812 und 1816 Schüler des humanistischen Gymnasiums in Nürnberg unterrichtete, und dessen Versionen er diesen sicherlich verdutzten Gymnasiasten bisweilen selbst vortrug. Hegel hat zudem immer wieder betont, dass eine Wissenschaft der Logik eine »Wissenschaft des reinen Denkens« ist.1 Dies muss im Kontext dessen verstanden werden, was wir als »Deutschen Idealismus« bezeichnen. Dieser Idealismus – zumindest die Linie, die von Kant über Fichte zu Hegel führt (Schellings Idealismus ist ein anderes Thema) – besteht aus drei Komponenten: Die erste Komponente ist die These, dass apriorische Erkenntnis der Welt, und zwar der gewöhnlichen räumlich-zeitlichen Welt, möglich ist – Erkenntnis über diese Welt, die allerdings unabhängig von empirischer Erfahrung gewonnen wurde. Dass die Logik ein Werk apriorischer Philosophie ist, ist wohl kaum umstritten; und dies, obwohl Hegel das Verhältnis zwischen dem reinen Denken und demjenigen Denken, das durch etwas anderes als Denken informiert ist, auf eine einzigartige Weise versteht. Ein in diesem Sinne verstandener Idealismus ist primär eine Kritik des Empirismus (nicht aber der empirischen Erkenntnis, wenn er auch manchmal mit einer solchen Kritik verwechselt wird; der Empirismus ist selbst eine Position a priori, die explizieren soll, was jegliche Erkenntnis ausmacht). Mit der zweiten Komponente beginnen die interpretatorischen Streitigkeiten. Es ist die These, dass diese apriorische Erkenntnis, die in einem noch zu präzisierenden Sinn Erkenntnis über die Welt ist, in der Selbsterkenntnis des Denkens oder der Vernunft besteht; in der Bestimmung des Denkens durch das Denken selbst, oder – wie Hegel 1 G.  W.  F. Hegel, Wissenschaft der Logik I, in: Werke, Bd. 5, Frank­furt/M. 1989, S. 57.

391

sagt – in einer »Wissenschaft des reinen Denkens«. Dies ist der Kern von Hegels These, dass seine spekulative Logik »Metaphysik« in einem neuen Sinne ist. (Er meint damit, dass sie auf keine rationalistische oder dogmatische Substanzmetaphysik hinausläuft, deren Spielarten sich von Platon bis zu Descartes, Leibniz und Spinoza erstrecken). Es ist nachvollziehbar, aber dennoch falsch zu glauben, dass diese beiden Thesen nur dann gemeinsam vertreten werden könnten, wenn entweder die Erkenntnisgegenstände ihrer Existenz nach davon abhängen, dass sie gedacht werden, oder aber wenn der Zugang zu Gegenständen eine bestimmte vom Geist auferlegte Vereinigung sinnlicher Elemente voraussetzt, deren Resultat dann ein »subjektiv-vermitteltes« Produkt ist und nicht das Ding, wie es an sich selbst ist. Sicherlich finden sich in der bestehenden Literatur mehrere Versionen einer solchen auf die Existenzabhängigkeit oder Subjektvermittlung abstellenden Interpretation des Deutschen Idealismus, vor allem mit Blick auf Kant. Diese Ansicht beruht zweifelsohne auf einer nachvollziehbaren, aber voreiligen Folgerung: Wenn eine solche begriffliche Struktur nicht aus der Erfahrung stammt, dann muss sie durch uns beigesteuert oder von uns »auferlegt« werden. So muss es sich verhalten, wenn die Erfahrbarkeit der Gegenstände von einer solchen »geistig auferlegten« Einheit abhängt. Eine Variante dieser Idee einer beschränkten Erkenntnis ist die Behauptung, dass die Philosophie nur die auf endliche Weise erkennbaren Aspekte des prinzipiell Erkennbaren feststellen kann, was uns zwingen würde, einzugestehen, dass wir die Dinge letztlich nicht erkennen, wie sie an sich selbst sind. Und ein noch extremerer Idealismus würde behaupten, dass der Geist (oder der in uns tätige unendliche Geist) seine eigenen Gegenstände erschafft, indem er sie denkt, was sicherlich erklären würde, wie reines Denken aus sich selbst die Natur des Wirklichen bestimmen kann. Allerdings zahlt dieser Idealismus dafür den Preis einer hohen Unplausibilität und besitzt nur äußerst fragwürdigen Rückhalt in den Texten. Aber klarerweise stellt sich hier eine Frage, deren Beantwortung die dritte Komponente des Idealismus ausmachen würde: Wie kann es möglich sein, dass die ersten beiden Thesen wahr sind, auch wenn die gerade schon angedeuteten Standardvarianten der dritten These, die auf Existenzabhängigkeit oder Subjektvermittlung abstellen, es nicht sind? Eine Hegel-Deutung zu diesem Punkt 392

besagt, dass diese beiden Thesen nur dann gemeinsam vertretbar sind, wenn das, was es wirklich gibt, die »wirklich wirkliche Welt«, die allein der reinen Vernunft zugänglich ist, selbst Denken ist, aus »Denkmomenten« besteht – etwas wie das Sich-selbst-Denken des Absoluten oder Gottes, eine inhärente, sich entwickelnde noetische Struktur. Dies ist es, worauf Hegelforscher manchmal beharren, wenn sie sich demjenigen entgegenstellen, was sie als »nicht-metaphysische« Lesarten auffassen. Sie entgegnen, dass Hegel sicherlich (und für viele recht offensichtlich) ein »Metaphysiker« in genau diesem Sinne war: die Natur des Wirklichen ist für ihn eine intellektuelle oder immaterielle Entität. Aber damit schöpfen sie die relevanten Alternativen nicht aus. Hegel war ganz sicher ein »Metaphysiker«, aber er ist weder in der neuplatonistischen Nachbarschaft noch in den Lagern der geistig auferlegten Einheit oder der geistig hervorgebrachten Realität zu finden. Dann aber bleibt weiterhin offen, wie wir die dritte Dimension des Idealismus zu verstehen haben, durch die die ersten beiden Elemente gleichzeitig wahr sein könnten. Sobald wir erkennen, dass es in Hegels Logik nicht um eine Form der »Abhängigkeit des Objekts vom Subjekt« geht (eine überaus weitverbreitete Ansicht dessen, was ein Idealismus sein müsse, um als solcher zu gelten), ist das wichtigste Schlagwort für dieses Projekt, dass wir nicht von irgendeiner Abhängigkeit sprechen, sondern von einer Identität (einer »spekulativen Identität« freilich) zwischen den Formen des reinen Denkens und den Formen des Seins. Es sei direkt angemerkt, dass es eine weitverbreitete Ansicht gibt, der zufolge dieses hegelianische Projekt (in jeder möglichen Interpretation) von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, dass es keine solch selbstgenügsame Sache wie reines Denken gibt oder geben kann. Solch eine weitgefasste Gegenbehauptung wird oft als Lehre »radikaler Endlichkeit« gefasst. (Sie ist ein erkennbarer Zug von Kierkegaards und Schellings Hegelkritik und prominent bei Nietzsche, Heidegger und Adorno.) Dies ist insofern ein treffender Titel, als Hegel darauf insistiert, dass das »Denken denkende Denken« (um eine aristotelische Formulierung zu verwenden) nicht das Denken irgendeines Gegenstandes ist, und er die »Unendlichkeit« des Verhältnisses des Denkens zu sich selbst hervorhebt, wenn er solch ein ungewöhnliches reflexives Selbstverhältnis zusammenfassen möchte. Seit die Jenaer Romantiker und Schelling diese An393

griffsrichtung eingeschlagen haben, tritt sie in der europäischen Tradition immer wieder hervor – bis in die Gegenwart hinein mit der Beliebtheit »neuer Realismen«, spekulativer Materialismen und dem Einfluss der Kognitions- und Neurowissenschaften. Die Kritik besteht in der These, dass Denken immer aufgefasst werden müsse als fundiert durch, als abhängig von oder als Epiphänomen einer bestimmten Materialität oder Kontingenz oder einer unbewussten Quelle oder einem Instinkt in einem Denker. Diese Sackgasse ist ein so häufiger Zug in der europäischen Philosophie – insbesondere bei Vertretern wie Jacobi, Schelling, Deleuze und Derrida, für die der Anti-Hegelianismus eine Weise darstellt, die traditionelle Philosophie als solche zurückzuweisen  –, dass Hegels vermeintliches Scheitern in ein postmetaphysisches und postphilosophisches Zeitalter führt. Aus Hegels Sicht dagegen ist diese Kritik von Anfang an zirkulär. In Hegels Behandlung hat das Thema des reinen Denkens nichts mit dem Denker, Subjekt, Bewusstsein oder Geist zu tun. Dieses Thema macht vielmehr die Möglichkeit der Intelligibilität all dessen zum Problem, was als Quelle oder verborgener Ursprung ausgegeben wird, die vorausgesetzten Bedingungen einer jeden solchen bestimmten Identifizierung. Jede solche Kritik ist – sofern sie Denken, Urteilen oder Wissensanspruch ist – immer schon Ausdruck einer Abhängigkeit von reinem Denken und dessen Bedingungen, und es sind solche »Momente« des reinen Denkens, die den normativen Bereich der Intelligibilität abstecken sollten (beispielsweise, was zu Recht von was unterschieden oder als »Grund« gesetzt werden kann), und nicht irgendwelche Vorgänge oder Ereignisreihen, die in vermeintlicher Unabhängigkeit von der empirischen Welt stattfinden. Reines Denken, wie Hegel es versteht, ist weder abhängig noch unabhängig vom Empirischen oder der Materialität oder dem Gehirn oder was sonst als neues Absolutes zur Mode werden mag. Bereits die anti-hegelianische Frage drückt (für den Hegelianer) ein Missverständnis der Frage nach dem reinen Denken aus. Damit soll nicht geleugnet werden, dass jede Bezugnahme auf das Denken einen Denker voraussetzt, und zwar einen lebendigen, zweckmäßigen rationalen Denker. Vielmehr soll damit für die Autonomie der Frage nach »jedem Denken überhaupt« plädiert werden. Es geht also darum, auf der Priorität und Autonomie der »Logik« zu bestehen, und das bedeutet für Hegel: auf der 394

vollständigen Selbstbestimmung ihrer eigenen »Momente«. Hegels Unternehmen in der Logik widmet sich dem Thema der Kategorien oder Denkbestimmungen, die für das Denken notwendig sind, um bestimmten objektiven Inhalt zu haben, und spezifiziert auf diese Weise gleichzeitig die Bestimmungen, die der möglichen Bestimmtheit des Seins selbst inhärent sind. Wir bewegen uns in die richtige Richtung, wenn wir das Projekt der Logik unter der Rubrik betrachten, die John McDowell in der zweiten Vorlesung von Geist und Welt eingeführt hat: die »Unbegrenztheit des Begrifflichen«.2 Diese Formulierung ist von einer Bemerkung Wittgensteins inspiriert: »Wenn wir sagen, meinen, daß es sich so und so verhält, so halten wir mit dem, was wir meinen, nicht irgendwo vor der Tatsache: sondern meinen, daß das und das – so und so – ist«.3 McDowells Formulierung desselben Gedankens ist, dass es »keine ontologische Kluft [gibt] zwischen dem, was man meinen kann, oder allgemein: dem, was man denken kann, und dem, was der Fall sein kann«.4 Oder noch treffender für unseren Zusammenhang: »Die Beschränkung kommt von außerhalb des Denkens, aber nicht von außerhalb des Denkbaren«.5 McDowells Diskussion steht im Kontext von Problemen der Wahrnehmung und des Wahrnehmungswissens, so dass sie nur von begrenztem Nutzen für die Details der Wissenschaft der Logik bleibt, in der es um eine bestimmte apriorische Erkenntnis geht. Zudem betrifft das Verhältnis von Denken und Denkbarem in der Logik ein Problem, das für McDowells Anliegen in seinem Buch nicht von Belang ist. Dieses Problem ist: Wie sind die bestimmten Momente eines jeden »Denkens des Erkennbaren« auszuweisen, so dass sie als die bestimmten Momente des Erkennbaren selbst gelten?6 Im weiten Sinne des Wortes Wissenschaft bedeutet Hegels Formulierung (»eine Wissenschaft des reinen Denkens«) zuallererst, dass es eine Auffassung, eine Theorie des reinen Den2 John McDowell, Geist und Welt, Frank­furt/M. 2001, S. 49 [Übers. modifiziert, A.W.]. 3 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frank­furt/M. 1984, § 95, S. 294. 4 McDowell, Geist und Welt, S. 52. 5 Ebd., S. 53 [Übers. modifiziert, A.W.]. 6 Ich erkenne bei McDowell kein starkes Interesse an apriorischer Erkenntnis, bin aber unsicher über seine eigene Auffassung.

395

kens ist (dessen, was reines Denken ist), und damit meint er ein reines Denken, das ein Erkennen sein kann, und zwar eines, das an die Gegenstände, so wie sie sind, heranreicht. Im Rahmen der damaligen Logik bedeutet dies, dass er hauptsächlich, aber nicht ausschließlich über Urteile spricht. (Nicht ausschließlich, weil er denkt, dass das Wesen des Urteilens nicht von einer Auffassung des Begriffs und des Schlusses isoliert werden kann.) Reines Denken ist ein Denken, das nicht von dem Gegebenen der Sinnlichkeit abhängig und nicht auf die Erfahrung angewiesen ist. Angeregt durch ebendiese Formulierung des Projekts stellt sich naturgemäß die klassische Frage: Welches Objekt (wenn überhaupt irgendeines) kann durch bloßes Denken erkannt werden, ohne von empirischer Erfahrung abzuhängen? In der langen Tradition des vor-kantischen Rationalismus wurde diese Frage oft verstanden als: Gibt es Entitäten oder Aspekte der Wirklichkeit, die allein durch reines Denken erkennbar sind, ohne Hilfe der Sinnlichkeit? Angeregt durch das reine Denken der Mathematik und andere Erwägungen, war die Antwort der Rationalisten, dass es solche Entitäten gebe, die der empirischen Erfahrung nicht zugänglich, aber durch das Licht der Vernunft, durch reines Denken erkennbar sind. Es hat viele Kandidaten für einen solchen Status gegeben: Seelen, Geist, Gott, Universalien, Monaden, Substanz, das Gute. Kant gab hierauf eine andere Antwort. Es gibt etwas, das nur reinem Denken zugänglich ist, aber nicht als ein Gegenstand oder eine Entität. Auch für ihn war der eigentliche Gegenstand des reinen Denkens das Denken selbst; entweder die Möglichkeit eines jeden Denkens überhaupt, was Kant allgemeine Logik nannte, oder (innerhalb der Thematik, die Kant erfunden hat) die Möglichkeit des Denkens, sich auf Gegenstände überhaupt zu beziehen, die Möglichkeit der Erkenntnis, was er transzendentale Logik nannte. Die Reflexion des Denkens auf jegliches Denken, das Erkenntnis zu sein beansprucht, oder eine Kritik der Vernunft durch sich selbst, kann die Form eines jeden möglichen Erkenntnisgegenstandes bestimmen und gleichzeitig spezifizieren, welche Gegenstände niemals Gegenstände empirischer oder reiner Erkenntnis werden können. Das Denken über das Denken kann bestimmen, was es zu erkennen gibt und was nicht. Der Kern einer solchen Behauptung steht, sowohl für Kant als auch für Hegel, insbesondere im Zusammenhang mit der Implikation eines Verhältnisses, auf dem 396

sie beide insistierten: nämlich dem Verhältnis zwischen der durch das Denken geleisteten Bestimmung dessen, was es einerseits heißt zu denken (im Sinne von Erkennen), und dem begrifflichen Inhalt, den das Denken andererseits benötigt, um Denken (im Sinne von Erkennen) zu sein; dass dieser Inhalt verstanden werden muss als das, was er ist, indem er apriorisch als ein solcher Inhalt erkannt wird. Ausgewiesen philosophische Erkenntnis – denn das ist es, worüber wir hier sprechen – muss für sich selbst ihre eigene Objektivität bestimmen. Nüchterner ausgedrückt kann diese Erkenntnis, wenn es eine solche gibt, nicht durch etwas »außerhalb« des Urteils wahr gemacht werden, mit dem es verglichen werden kann. Jede solche Berufung auf Objektivität verläuft »innerhalb« der Selbstbestimmung des Urteils, wie es unter den Idealisten am stärksten durch Fichte hervorgehoben wurde. (Fichtes Weise, diesen Gedanken zu formulieren, bestand darin, dass das Ich sich selbst setzt und in dieser Tätigkeit das Nicht-Ich setzt. Dies hat nichts damit zu tun, eine äußere Welt zu erschaffen, indem man sie denkt.)7 Denken war in diesem Sinne »selbstbestimmt«; von Begriffen konnte man so sagen, dass sie »ihren eigenen Inhalt hervorbringen«. Dies beinhaltet revolutionäre, zuerst von Kant aufgestellte Thesen über die ausschließlich produktive oder spontane Natur des Denkens und die inhärent selbstbewusste Natur allen Denkens. Beide Behauptungen wurden von Hegel begeistert aufgenommen, und die eigentliche Aufgabe besteht darin, die Natur dieser Behauptungen und deren Implikationen für das Verständnis philosophischer Wahrheit zu erklären, wie sie sich für Hegel darstellten, denn Hegels diesbezügliche Folgerungen unterscheiden sich erheblich von denen Kants. Diese Behauptungen enthielten keinen traditionellen Rationalismus, weil Kant jedes rezeptive Verhältnis zwischen einem Gegenstandsbereich und dem reinen Denken verneinte. Hegel stimmte dem zu. Reines Denken hat nur sich selbst zum eigentlichen Gegenstand. Es ist ein unendlich interessanter Aspekt dieser These (und beinahe unmöglich, sich dies auf die richtige Weise gewahr zu halten), dass ein so gefasstes Denken eben nicht als Entität oder Er7 Vgl. Robert Pippin, »Fichte’s Alleged One-Sided, Subjective, Psychological Ideal­ ism«, in: Sally Sedgwick (Hg.), The Reception of Kant’s Critical Philosophy. Fichte, Schelling and Hegel, Cambridge, New York 2000, S. 147-170.

397

eignis gefasst ist, ob psychologisch oder immateriell. Das Denken ist sein eigener »Gegenstand« nur in demjenigen Sinn, um den es im reinen Denken geht: die Aktivität des Denkens, die sowohl notwendig ist, um überhaupt Denken, als auch, um Denken von Gegenständen (im Sinne von Erkennen) zu sein. Aber so formuliert, scheint Kant ebenso ausgeführt zu haben, dass die Philosophie die Gegenstände des Denkens nur insofern bestimmen könne, als sie »subjektiven« oder »unseren« Bedingungen unterworfen sind, also den Bedingungen der Anwendbarkeit des Denkens – Bedingungen, die selbst auf etwas anderes als Denken angewiesen sind, nämlich auf Formen der sinnlichen Anschauung, die dem endlichen Erkennenden eigen sind. Für Kant war dies notwendig, weil er – in seiner radikalsten Entgegensetzung zur rationalistischen Tradition  – das Denken ausschließlich als Aktivität, als »Spontaneität« und als in keinem Sinne rezeptiv auffasste. Es steht außer Frage, dass Hegel diese von ihm als »subjektiven Idealismus« aufgefasste Position und damit auch die kantische Behauptung zurückweist, dass wir nur Phaenomena erkennen und nicht die Dinge an sich. Tatsächlich scheint Hegel niemals müde zu werden, sie bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit zurückzuweisen und anzumerken, dass Kant uns mit einer Hand etwas zu versprechen scheint (Erkenntnis), was er uns mit der anderen wieder wegnimmt (»bloß« von Erscheinungen), und dass er aus seiner Darstellung folgerte, dass die Ausübung unserer Form des Denkens widersprüchliche Resultate produziert, Antinomien erzeugt. Dies hätte ihn dazu führen sollen, die Adäquatheit seines Verständnisses unserer Formen des Denkens infrage zu stellen. Hegel weist diese Idee nicht zurück, indem er geltend macht, dass wir die »Dinge an sich« doch erkennen, von denen Kant behauptete, dass wir es nicht könnten. Die klarste Stellungnahme befindet sich in § 44 der Enzyklopädie, wo er den Begriff gänzlich zurückweist. Dort merkt er grundsätzlich an, dass es nichts zu erkennen gibt, wenn wir den Begriff dadurch definieren, dass wir von allen Mitteln unserer Erkenntnis abstrahieren. Wir sollten nicht überrascht sein, dass etwas Unerkennbares, ein caput mortuum übrigbleibt. Ebenso einfach aber ist die Reflexion, daß dies caput mortuum selbst nur das Produkt des Denkens ist, eben des zur reinen Abstraktion fortgegangenen

398

Denkens, des leeren Ich, das diese leere Identität seiner selbst sich zum Gegenstande macht.8

Und doch wird Hegel gleichermaßen niemals müde zu betonen, dass seine eigene theoretische Philosophie insofern derjenigen Kants gleicht, als sich in ihrem Zentrum eine Logik befindet, ein Unternehmen, in dem unser Denken sich selbst zum eigentlichen Gegenstand hat. Er ist sich auch darüber im Klaren, dass eine solche Theorie des reinen Denkens eine Nachfolgerin der – und nicht eine weitere Episode innerhalb der Geschichte der – modernen rationalistischen Metaphysik ist. Ebenso wird er niemals müde, Kants Einfluss auf ihn zu erwähnen, trotz der erheblichen Uneinigkeiten. Die folgende Anmerkung ist hierfür typisch – so typisch, dass die Treue ihr gegenüber als »notwendige Bedingung der Möglichkeit für Arbeiten zum Kant-Hegel-Verhältnis« gelten sollte: Das nächste in der Kantischen Philosophie ist also dies, daß das Denken selbst sich untersuchen soll, inwiefern es zu erkennen fähig sei. Heutigentags ist man nun über die Kantische Philosophie hinausgekommen, und ein jeder will weiter sein. Weitersein ist jedoch ein gedoppeltes, ein Vorwärts- und ein Rückwärts-Weiter. Viele unserer philosophischen Bestrebungen sind bei Lichte besehen nichts anderes als das Verfahren der alten Metaphysik, ein unkritisches Dahindenken, so wie es eben jedem gegeben ist.9

Das soll nicht heißen, dass Hegel einfach ein Kantianer ist. Die Logik hat nichts mit »dem Geist« als Substanz oder Ding zu tun. Hegel folgt hier sowohl Aristoteles – »also ist der sogenannte Geist der Seele (unter Geist verstehe ich das, womit die Seele diskursiv denkt und Annahmen trifft) der Wirklichkeit nach nichts von den seienden Dingen, bevor er denkt«10 – als auch Kant, für den die Behauptung, dass das »Ich denke« all meine Vorstellungen begleiten können muss, ein logischer Punkt ist, der die Form des Denkens ausdrückt, und keine Behauptung darüber, wie der Geist tatsächlich  8 G.  W.  F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Erster Teil: Die Wissenschaft der Logik mit den mündlichen Zusätzen, in: Werke, Bd. 8, Frank­furt/M. 1989, § 44, S. 121.  9 Ebd., § 41 Zusatz, S. 114 f. 10 Aristoteles, De Anima, Hamburg 2017, 429a22-25, S. 179 [Übers. modifiziert, A.W.].

399

operiert. Falls das der Fall wäre und Hegel eine Behauptung über die Natur des Geistes aufstellen würde, wäre die Erkenntnis durch ihre »Werkzeuge« beschränkt, was Hegel seit der Einleitung in die Phänomenologie energisch bestritten hat. Was das reine Denken erkennt, wenn es sich selbst erkennt, ist die mögliche Intelligibilität – die Erkennbarkeit – von allem, das ist. Aber diese Intelligibilität einer Sache entspricht eben dem, was es heißt, diese Sache zu sein, der Antwort auf die Frage, »was etwas ist« (ti esti), die seit Aristoteles bestimmend für die Metaphysik ist. Indem es sich erkennt, erkennt das Denken also von allen Dingen, was es heißt, etwas zu sein. Wiederum wie bei Aristoteles ist die Aufgabe der Metaphysik nicht, von irgendeiner besonderen Sache zu sagen, was sie ist. Sie besteht in der Bestimmung dessen, was von jedem Seienden wahr sein muss (was in der Scholastik transcendentalia genannt wurde), so dass dasjenige, was es im Besonderen ist, durch die einzelnen Wissenschaften bestimmt werden kann. Oder: Sie besteht darin, zu wissen, was in jeder solchen Spezifikation notwendig vorausgesetzt ist. (Natürlich sind für Aristoteles auch die Physik und De Anima philosophische Wissenschaften, aber Hegel wird ebenfalls eine Philosophie der Natur und eine Philosophie des Geistes haben.) Meine These ist, dass innerhalb der mittlerweile etwas ermüdenden Wiederholung der Auseinandersetzung über die »Unendlichkeit« oder den »absoluten« Charakter des reinen Denkens einerseits und die radikale Endlichkeit andererseits (eine Kritik, die etwa in Adornos Negativer Dialektik eine prominente Rolle spielt) Hegels Position von der Kritik niemals angemessen identifiziert wurde. Wenn seine Position angemessen identifiziert wird, dann wird deutlicher, dass sich jede solche Kritik innerhalb und nicht außerhalb des reinen Denkens bewegt. Aus dem Englischen von Alexey Weißmüller

400

Sebastian Rödl Die innere Negativität des Denkens Logik ist die Wissenschaft des Denkens. Denken aber ist selbstbewusst. Da Denken selbstbewusst ist, artikuliert seine Wissenschaft dieses Selbstbewusstsein; es ist Denken, das sich selbst denkt. Mehr noch, da Denken selbstbewusst ist, ist die Wissenschaft des Denkens die Wissenschaft dessen, was ist, insofern es ist. Logik ist Metaphysik. Diese eine Wissenschaft kann reine Wissenschaft genannt werden, weil sie reines Wissen ist. Sie kann auch absolutes Wissen genannt werden, denn sie liegt jenseits der Möglichkeit von Irrtum. Logik ist Metaphysik; Denken, das sich selbst denkt, ist Erkenntnis dessen, was ist, als solchen. Kant lag also falsch, als er behauptete, Denken beziehe sich nicht direkt auf seinen Gegenstand; er lag falsch, als er behauptete, Denken sei leer. Der Anfang von Hegels Wissenschaft der Logik ist eine sehr abstrakte Exposition des Denkens als Quelle seines eigenen Inhalts.

1. Der Anfang von Hegels Wissenschaft der Logik Die Wissenschaft der Logik erläutert den Begriff. Das ist keine Beschreibung von etwas Gegebenem, einer wundersamen Realität namens »der Begriff«. Die Wissenschaft der Logik ist keine Beschreibung der Selbstartikulation des Begriffs, eines immateriellen Prozesses, dessen Zeuge der Logiker wird, der dann von seiner Erfahrung berichtet. Vielmehr ist die Logik die Selbstartikulation des Begriffs. Das bedeutet, das Lesen oder Schreiben der Wissenschaft der Logik selbst ist die Selbstbestimmung des Begriffs; in dieser Tätigkeit verschwindet der Gegensatz von Besonderheit und Allgemeinheit des Subjekts des Denkens. Der Begriff, und damit seine Artikulation in der Sprache, ist durch ihn selbst bestimmt. Nichts bestimmt ihn von außen als ein ihm Gegebenes. Der Begriff ist nicht leer. Er enthält in sich selbst diesen Gegensatz: die einfache Einheit des Allgemeinen und die unendliche Unterschiedenheit der Totalität. Der Anfang der Wissenschaft der Logik etabliert diese ursprüngliche Bestimmtheit des 401

Begriffs, indem er die erste Denkbestimmung als Werden aufweist, als konkrete Einheit von Sein und Nichts. Es mag eingewendet werden, dass der Wissenschaft der Logik zufolge diese erste Bestimmung das Sein ist. Aber das ist falsch, denn außerhalb seiner Einheit mit dem Nichts ist das Sein nichts. Die Logik beginnt nicht mit dem Sein, der abstrakten Einheit, sondern mit dem Werden, der konkreten Einheit, der Einheit, die Gegensatz ist. Die konkrete Einheit ist das Element der Logik in dem Sinne, dass jede logische Bestimmung eine Bestimmung dieser Einheit ist; die Entwicklung der Logik entfaltet sich innerhalb dieser konkreten Einheit. Da nunmehr diese Einheit von Sein und Nichts als erste Wahrheit ein für allemal zugrunde liegt und das Element von allem folgenden ausmacht, so sind außer dem Werden selbst alle ferneren logischen Bestimmungen […] Beispiele dieser Einheit.1 Diese Einheit [die konkrete lebendige Einheit, S.R.] macht das logische Prinzip zugleich als Element aus, so daß die Entwicklung dieses Unterschiedes, der sogleich in ihm ist, nur innerhalb dieses Elements vor sich geht.2

Die zweite Passage handelt vom Unterschied zwischen Wissen und Gewusstem. Logik, oder anders gesagt Metaphysik, so sagt die Passage, ist von Anfang an deren konkrete Einheit: Der Unterschied ist sogleich im Selbstbewusstsein, das heißt im Begriff. Das bedeutet, der Unterschied ist schon in der ersten logischen Bestimmung am Werk: Der Unterschied des Wissens und des Gewussten und deren konkrete Einheit ist, zuerst und ursprünglich, der Unterschied von Sein und Nichts und deren Einheit. Der Gedanke des Werdens ist die erste Gestalt der Einheit von Wissen und Gewusstem, des Denkens, das sich selbst denkt, und der Erkenntnis dessen, was ist, als solchem, von Logik und Metaphysik. Das bedeutet, es ist die erste Gestalt, in der das Denken sich selbst als die Quelle seines Inhalts versteht. Wäre das Sein der Anfang, dann gäbe es keinen Fortgang der Logik, und es hätte keinen Anfang gegeben. Wir beginnen mit 1 G.  W.  F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Band: Die Lehre vom Sein (1832), in: Gesammelte Werke, Bd. 21, hg. v. Friedrich Hogemann, Walter Jaeschke, Hamburg 1984, S. 72. 2 Ebd., S.  45.

402

dem Sein, um zu verstehen, dass es nicht der Anfang ist. Der Anfang ist die Einheit von Sein und Nichts.

2. Sein Sein ist der erste Ausdruck des Begriffs des Denkens, oder, was dasselbe bedeutet, des Gegenstands des Denkens; es ist der erste Ausdruck des Begriffs. Das Denken sagt: es ist.3 Laut Hegel sprachen die Eleaten und besonders Parmenides als erste den Gedanken des Seins aus, in dem das Denken nichts als sich selbst denkt. Den einfachen Gedanken des reinen Seins haben die Eleaten zuerst, vorzüglich Parmenides als das Absolute und die einzige Wahrheit […] mit der reinen Begeisterung des Denkens, das zum ersten Mal sich selbst in seiner absoluten Abstraktion erfaßt, ausgesprochen.4

Indem es das reine Sein denkt, erfasst sich das Denken selbst in seiner absoluten Abstraktion. Parmenides sprach diesen Gedanken mit Begeisterung aus, wie Hegel sagt, der Begeisterung des Denkens, das sich selbst denkt. Die eleatische Abstraktion mag selt3 Stephen Houlgate erklärt, dass die Logik, wenn sie auszudrücken sucht, was Denken ist, nicht voraussetzen könne, dass Denken dieses oder jenes ist. Da jede Idee, die wir davon haben mögen, was Denken ist, in der Art von Descartes methodischem Zweifel außer Kraft gesetzt sei, würden wir mit nichts als dem Gedanken zurückgelassen, dass, was auch immer Denken sei, es ganz gewiss sei. Siehe The Opening of Hegel’s Logic. From Being to Infinity, West Lafayette 2006, S. 31 f. Indem wir behaupten, dass Denken ist, setzen wir voraus, dass wir verstehen, was es heißt, dass etwas ist, und behaupten, dass es etwas gibt, das diesem Verständnis entspricht, nämlich Denken: Wir sagen, dass Denken ist. Wir registrieren diese Tatsache, die, so registriert, eine gegebene Tatsache ist. Jedoch betrachtet die Logik keine gegebenen Tatsachen, unter denen wir die Tatsache finden könnten, dass Denken ist. Einziger Gegenstand der Logik ist der Begriff, der in keiner Weise etwas Gegebenes ist. Es scheint, als ob Houlgate den richtigen Gedanken, dass der Gegenstand der Logik das Denken ist, missversteht. Er scheint zu denken, das bedeute, dass eine logische Bestimmung das Denken bestimmt. Wenn die erste Bestimmung das Sein ist, dann wird das erste Theorem der Logik vom Denken das Sein prädizieren und behaupten, dass das Denken sei. Denken aber ist selbstbewusst, und darum ist das Denken des Denkens zugleich das Denken des Gegenstands des Denkens oder schlicht des Gegenstands. Deshalb beginnt die Logik nicht mit »Denken ist«, sondern mit »es ist«, »ist« oder »Sein«. 4 Hegel, Wissenschaft der Logik I, S. 70.

403

sam scheinen. Dem analytischen Philosophen aber ist sie vertraut. Denn es gibt einen jüngeren Ausdruck ihrer, der ebenso abstrakt ist: Freges Urteilsstrich. Obwohl es hilfreich wäre und vielleicht mehr Begeisterung weckte, Parmenides’ Lehrgedicht zu lesen, um Einsicht in das, was Hegel meint, zu gewinnen, mag der analytische Philosoph sich an Frege halten.5 Hegelforscher mögen an dieser Stelle einen Einwand erheben. Es kann nicht richtig sein, mögen sie sagen, den Urteilsstrich ins Spiel zu bringen, um den Abschnitt, der »Sein« betitelt ist, zu verstehen, weil dieser Abschnitt das Urteil gar nicht behandelt. Es gibt in der Wissenschaft der Logik einen späteren Abschnitt, der dies tut. Wir müssen die Reihenfolge der Logik respektieren und dürfen nicht später auftretende Begriffe zur Interpretation früherer heranziehen. Dieser Einwand hängt sich an Worten auf. Gegenstand der Logik ist das Denken. Das heißt Urteil, Erkenntnis, Einsicht, etc. Die Wissenschaft der Logik wird diese Worte gebrauchen, um Unterschiede zu kennzeichnen, wenn es für sie angebracht ist. Ihr Inhaltsverzeichnis zeigt, dass die Wissenschaft der Logik »Urteil« benutzt, um eine logische Bestimmung zu bezeichnen. Aus dem Umstand, dass Frege über das Urteil spricht, folgt aber nicht, dass das, was er sagt, in den Abschnitt der Wissenschaft der Logik gehört, der »Das Urteil« betitelt ist. Es könnte sein, dass Freges Verständnis des Selbstbewusstseins des Denkens, wie es in seiner logischen Notation zum Ausdruck kommt, nicht über seine Artikulation hinausgeht, die Hegel im Kapitel »Sein« gibt. Tatsächlich verhält es sich so. In Freges Begriffsschrift hat das Zeichen einer Behauptung zwei Teile: Ein Teil bezeichnet, was behauptet wird, der andere, dass es behauptet wird. Der zweite Teil ist der Urteilsstrich, der ganz links steht, der erste Teil alles, was sich rechts davon befindet. Da der Urteilsstrich nicht zu dem Teil des Zeichens gehört, der den Inhalt des Urteils vorstellt, bestimmt er in keiner Weise, was geurteilt wird, außer in dieser: Er bezeichnet, dass es geurteilt wird. Die Be5 Wir besprechen hier den Begriff des Urteils, der in Freges Begriffsschrift enthalten ist. Wir beachten nicht, was Frege über das Urteilen sagt. Das bedürfte einer langen Diskussion, denn Freges Äußerungen sind ein einziges Durcheinander. In »Frege on Judgement and the Judging Agent«, in: Mind. A Quarterly Review of Philosophy 127:505 (2018), S. 225-250, legt Maria van der Schaar dieses Durcheinander offen.

404

deutung des Urteilsstrichs ist der Begriff des Urteils; das besagt zugleich: Seine Bedeutung ist der Begriff des Gegenstands des Urteils. Freges Zeichen einer Behauptung ist für uns insofern von Interesse, als die Begriffsschrift in der Gestalt des Zeichens die Form des Bewusstseins sichtbar macht, das durch ebendieses ausgedrückt wird. Wenn Frege ein Urteil in der beschriebenen Weise aufschreibt, so will er diesem keine Gliederung von außen überstülpen. Es geht ihm darum, eine Struktur im Verstehen derjenigen, die die Behauptung aufstellt, offenzulegen – dem Verstehen, mit dem sie behauptet, was sie darin behauptet. Dass der Urteilsstrich das Selbstbewusstsein des Urteilens bezeichnet, sehen wir wie folgt. Die Begriffsschrift ist eine universelle Notation aller Wissenschaften. Da der Urteilsstrich Teil des Ausdrucks eines jeden Urteils ist, bezeichnet er keinen Begriff, der irgendeiner bestimmten Wissenschaft angehört. Der Gebrauch des Begriffs, der durch den Urteilsstrich bezeichnet wird, ist im Gebrauch eines jeden Begriffes enthalten. Er ist nicht ein, sondern der Begriff. Wollten wir ihn in gewöhnlichen Worten ausdrücken, so wären »es ist:  …« oder »sein: …« gut geeignet. Der Urteilsstrich erfasst das Denken in seiner absoluten Abstraktion. Da er nicht Teil des Zeichens des Geurteilten ist, ist der Begriff des Urteils gegen jede Bestimmung dessen, was geurteilt wird, abgeschottet. Vielheit, Unterschied und Gegensatz wohnen dem Inhalt inne. Die Kraft aber, der Begriff der Behauptung, das heißt der Begriff, ist von Vielheit, Unterschied und Gegensatz unberührt. Er ist leer und rein. Man könnte denken, dass der Urteilsstrich Bejahung ausdrückt: das Ja-Sagen zu dem, was rechts von ihm steht. Aber das Behaupten, wie es durch den Urteilsstrich bezeichnet wird, steht nicht im Gegensatz zu Verneinung oder Neinsagen. Darum gibt es nicht nur keinen Unterschied innerhalb des Behauptens; das Behaupten ist darüber hinaus von nichts außer ihm unterschieden. Wir können über den Begriff, der durch den Urteilsstrich ausgedrückt wird, sagen: [Er] ist nur sich selbst gleich und auch nicht ungleich gegen Anderes, hat keine Verschiedenheit innerhalb seiner noch nach außen.6 6 Hegel, Wissenschaft der Logik I, S. 68.

405

Frege erklärt wie folgt, warum Behaupten nicht im Gegensatz zum Verneinen steht: Zu verneinen, dass dies und das der Fall ist, bedeutet zu behaupten, dass es nicht der Fall ist.7 Wenn wir möchten, können wir sagen, zu behaupten, dass Schnee nicht weiß ist, bedeute, etwas zu verneinen. Und wir können sagen, zu behaupten, dass Schnee weiß ist, bedeute, etwas zu bejahen. Wir können so reden. Aber wenn wir das tun, müssen wir beachten, dass der Unterschied von Bejahung und Verneinung einer des Inhalts ist. Die Kraft, das Behaupten, ist weder Verneinen noch Bejahen. Sie ist diesem Unterschied gegenüber gleichgültig. Die Behauptung, dass etwas so ist, unterscheidet sich von der Behauptung, dass es nicht so ist im Inhalt, nicht in der Kraft; es ist und es ist nicht sind verschiedene Inhalte, die sich mit einer einzigen Kraft des Behauptens verbinden. Wenn wir die Kraft des Urteilens durch es ist der Fall vorstellen, können wir das so fassen, dass es nichts gibt, was beschrieben werden könnte als: behaupten, dass etwas nicht der Fall ist. Wenn ich behaupte, dass Schnee nicht weiß ist, dann behaupte ich, dass etwas der Fall ist, nämlich dass Schnee nicht weiß ist. Diesen Punkt macht John McDowell in der folgenden Passage: Wenn man wahr denkt, dann ist das, was man denkt, was der Fall ist. […] Natürlich kann das Denken von der Welt abstehen, indem es falsch ist. Doch die bloße Idee des Denkens impliziert keinen Abstand von der Welt. […] All das besagt nichts weiter, als daß man zum Beispiel denken kann daß der Frühling begonnen hat, und eben dies, daß der Frühling begonnen hat, kann der Fall sein.8

Denken kann nur von dem, was ist, abstehen, indem es falsch ist. Wahres Denken als solches handelt von dem, was der Fall ist. Es handelt von dem, was ist. McDowell wählt dass der Frühling begonnen hat als Beispiel von etwas, das der Fall sein kann. Dass der Frühling nicht begonnen hat eignete sich ebenso gut: Wahr zu urteilen, dass der Frühling nicht begonnen hat, ist ein Fall von Urteilen, was der Fall ist. Was hier der Fall ist, ist dies: dass der Frühling nicht begonnen hat. So bleibt die Kraft, das heißt das Behaupten, 7 Gottlob Frege, »Die Verneinung. Eine logische Untersuchung«, in: WittgensteinStudien 4:2 (1997), S. 144-157, hier S. 153 f. 8 John McDowell, Geist und Welt, Frank­furt/M. 2001, S. 52, [Übers. modifiziert, S.R.].

406

unberührt von und unvermischt mit dem Unterschied von ist und ist nicht. Der Akt des Behauptens, und das heißt das Verständnis seiner, ist in diesen verschiedenen Inhalten derselbe. Wir können das ausdrücken, indem wir sagen, das Behaupten sei die abstrakte Einheit dieser Inhalte. Es ist eine Einheit, weil es in jedem dasselbe ist: Jedes ist etwas, das geurteilt werden kann. Abstrakt ist die Einheit, weil sie vom Unterschied des Geurteilten abstrahiert. Der Begriff des Urteilens abstrahiert von dem Gegensatz von ist und ist nicht. Daraus folgt, dass das Urteil, dass es so ist, nicht selbst die Erkenntnis ist, dass es falsch ist zu urteilen, dass es nicht so ist. Und umgekehrt. Wenn es so wäre, würde der Gegensatz von ist und ist nicht im Begriff des Urteilens verstanden. Nicht wäre nicht ein Teil des Inhalts, sondern würde dem Akt des Urteilens selbst innewohnen und durch den Urteilsstrich vorgestellt werden. Freges Unterscheidung von Kraft und Inhalt schließt aus, dass dieser Gegensatz von ist und ist nicht, von Sein und Nichts, dem intern sein könnte, was es heißt zu urteilen. Damit ist nicht gesagt, dass Frege keinen Gegensatz zwischen dem Urteil, dass Schnee weiß ist, und dem Urteil, dass Schnee nicht weiß ist, darstellen kann. Es ist damit gesagt, dass dieser Gegensatz im geurteilten Inhalt liegt und nicht im Akt des Urteilens, also nicht im Begriff dieses Akts. Wir können Freges Auffassung so verstehen, dass ein Inhalt, der behauptet werden kann, die Bedingungen bestimmt, unter denen es richtig ist, ihn zu behaupten. Und wir können postulieren, dass in dieser Hinsicht sich p und nicht-p wie folgt zueinander verhalten: Wer p behauptet, kann nicht gültig nicht-p behaupten. Wer p urteilt und versteht, was er urteilt, versteht das. Der Inhalt nicht-p enthält eine Regel, die vorschreibt, dass ich, wenn ich p behauptet habe, nicht-p nicht mehr behaupten darf und umgekehrt. Das ist wie eine Schachregel: Wenn ich meinen König bewegt habe, darf ich nicht mehr rochieren. Diese Regel gehört zu dem, was es bedeutet, zu rochieren; man kann es eine konstitutive Regel des Rochierens nennen. Genauso ist es eine konstitutive Regel des Urteilens von nicht-p, dass ich, wenn ich p geurteilt habe, nicht mehr nicht-p urteilen darf. Das ist eine Regel des Behauptungsspiels von p und nicht-p. Dieses Spiel kann weitere Inhalte haben, zusammen mit Regeln, die diese konstituieren. Nennen wir das ganze Spiel »Rationalität«, so können wir sagen, dass man bei Strafe der Irrationalität p und nicht-p nicht beide behaupten kann. So wie man bei 407

Strafe der Unschachlichkeit nicht den König bewegen kann und dann rochieren. Robert Brandom behauptet, dass die Inkompatibilität von Inhalten grundlegender ist als die Negation eines Inhalts.9 Inhalte sind dann und nur dann unvereinbar, wenn ihr Behaupten einer Regel der folgenden Form unterliegt: Wenn ich p urteile, kann ich nicht q urteilen. Die Negation von p, nicht-p, ist dann als der Inhalt definiert, der aus allem folgt, was material inkompatibel mit p ist. Diese Auffassung der Negation unterscheidet sich nicht von der Freges. Im Gegenteil. Sie bringt die Natur dieser Auffassung zum Vorschein: Sie stellt ist und ist nicht als verschiedene Inhalte des Urteilens vor. Brandom weicht von Frege durch das Postulat ab, dass es für jeden Inhalt p eine Vielheit von Inhalten gibt, die auf ihn durch eine Regel der betreffenden Form bezogen sind. Aber es ist gleichgültig, wie viele Inhalte in dieser Weise auf einen gegebenen Inhalt bezogen sind. Urteilen, dass p, heißt urteilen, es ist, nämlich so, dass p. Urteilen, dass nicht-p, heißt ebenso, urteilen, es ist, nämlich so, dass nicht-p. Der Gegensatz von ist und ist nicht ist dem Urteilen nicht intern; das Urteilen ist ihm gegenüber gleichgültig. Urteilen ist nicht als solches anderem Urteilen entgegengesetzt. Es stimmt: Indem ich urteile, dass Schnee weiß ist, verstehe ich, dass ich nicht urteilen kann, dass Schnee nicht weiß ist. Aber das verstehe ich nicht dadurch, dass ich weiß, was es heißt zu urteilen, sondern nur dadurch, dass ich weiß, was es heißt zu urteilen, dass Schnee weiß ist. Darum können wir nicht sagen, dass diejenige, die p urteilt, damit versteht, dass sie nicht nicht-p urteilen darf. Ihr Verständnis weist nicht die Allgemeinheit auf, die durch die Variable p ausgedrückt wird. Diese Variable stellt das Geurteilte überhaupt dar; sie bezeichnet den Begriff des Urteilens. Ihr Verständnis des Gegensatzes von Sein und Nichts, von ist und ist nicht, erhebt sich nicht zu dieser Allgemeinheit. Das zeigt sich, wenn die Negation durch einen Begriff der Inkompatibilität definiert wird, der dieser logisch vorhergeht. Das Verständnis einer Person davon, dass etwas mit etwas unvereinbar ist, ergibt sich nicht aus dem Begriff des Urteilens, sondern kons9 Als Beispiel dafür, mit Bezug auf Hegel, siehe Robert Brandom, »Holism and Idea­lism in Hegel’s Phenomenology«, in: ders., Tales of the Mighty Dead, Cambridge/Mass. 2002, S. 178-209.

408

tituiert ihr Verständnis der Inhalte, deren Unvereinbarkeit sie versteht. Dasselbe gilt für die Unvereinbarkeit der fregeschen Inhalte p und nicht-p. Obgleich es einen Gegensatz zwischen dem Urteil Schnee ist weiß und dem Urteil Schnee ist nicht weiß gibt, so ergibt sich dieser Gegensatz aus dem, was geurteilt wird: Schnee ist weiß. Er ergibt sich nicht aus dem Urteilen als solchem. Der Gegensatz von Sein und Nichts liegt außerhalb dessen, was es heißt zu urteilen. Diese Gedanken sind äquivalent: Zu behaupten, dass die Dinge nicht so liegen, heißt zu urteilen, es ist, so nämlich, dass die Dinge nicht so liegen; wahres Denken handelt von dem, was ist, und in keiner Weise von dem, was nicht ist; zu urteilen, dass nicht-p, heißt etwas anderes zu urteilen als p; das Prinzip, nach dem es ist und es ist nicht einander entgegengesetzt sind, ist eine Regel des betreffenden Spiels. Dies alles sind Weisen zu sagen, dass das Urteilen leer und rein ist, identisch mit sich selbst, ohne Unterschied in sich oder zu etwas außer ihm. Es sind Weisen zu sagen, »Sein ist, Nichtsein gar nicht«.10 Und doch ist Frege nicht Parmenides, wird man sagen. Schließlich gibt es bei Frege, während der Akt des Behauptens leer und rein ist, eine Mannigfaltigkeit der Inhalte, die die mannigfaltigen Zeichen rechts des Urteilsstrichs bezeichnen. Das stimmt; Frege und Parmenides unterscheiden sich in diesem Punkt. Dieser Unterschied aber zeigt einen Mangel an Konsequenz bei Frege. In Freges Verständnis des Urteilens ist die Bestimmtheit der Inhalte, die geurteilt werden können, ihr Unterschied voneinander, nicht im Begriff des Urteilens enthalten. Sie kann nicht durch den Begriff des Urteilens verstanden werden. Dieser Begriff beinhaltet keinen Unterschied, weder in sich selbst noch von etwas außer ihm. Die Bestimmtheit müsste dem Urteilen gegeben werden. Aber Unterschied kann dem Urteilen nicht gegeben werden. Parmenides wusste das. Frege nicht. Er erkannte nicht, dass sein mannigfaltiger Inhalt eine Illusion ist. Der Gegensatz von ist und ist nicht liegt außerhalb des Selbstbewusstseins des Urteilens. Daraus folgt, dass es im Urteilen für das Urteilen keinen Unterschied gibt. Damit es Unterschiede gibt, müssen sie von Bedeutung sein; sie müssen für das Urteilen 10 Parmenides, DK B 6, 1 f.

409

von Bedeutung sein. Sie sind von Bedeutung, wenn verschiedene Urteile so aufeinander bezogen sind, dass urteilen, dass eines ist, auszuschließen heißt, dass ein anderes geurteilt wird. Man könnte meinen, dass das durch die Inkompatibilität von Urteilen so ist. Jedoch ist Inkompatibilität eine Beziehung von Urteilen, die nicht im Begriff des Urteilens verstanden ist. Es ist eine Beziehung, in der Urteile stehen kraft der Inhalte, die sie haben. Damit es Inkompatibilität gibt, müssen Urteile viele sein kraft ihres Inhalts. Inkompatibilität erklärt das nicht, sondern setzt es voraus. Man mag stipulieren, dass Urteile Inhalte haben, die in Beziehungen der Inkompatibilität stehen. Das heißt, eine Reihe von Regeln anzunehmen, die das Spiel des Urteilens definieren. Diese Regeln sind nicht durch den Begriff des Urteilens gegeben. Sie sind nicht im Selbstbewusstsein des Urteilens gewusst. Das läuft auf die Annahme hinaus, die Frege teilt, dass es Dinge gibt – die er Gedanken nennt – die geurteilt werden und die wahr oder falsch sind. Die Unterscheidung von Wahrheit und Falschheit reicht aus, um Bestimmtheit verständlich zu machen, weil sie Unvereinbarkeit sicherstellt. P und nicht-p sind unvereinbar, weil nicht-p als dasjenige definiert wird, was wahr ist, genau dann, wenn p falsch ist. Weil man nur das und allein das urteilen soll, was wahr ist (die primäre Regel jedes Urteilsspiels), darf man nicht zugleich p und nicht-p urteilen. Der Gegensatz von Wahrheit und Falschheit, und mit ihm die Idee des Urteilens als bestimmt, wird jedoch nicht im Begriff des Urteilens verstanden. Das Urteilen wird nicht in dessen Selbstbewusstsein als bestimmt gewusst. Das Selbstbewusstsein des Urteilens oder der Begriff des Urteilens oder der Begriff dessen, was geurteilt werden kann, stellt keinen Gegensatz im Urteilen vor und damit keinen Unterschied von Urteilen. Der Gegenstand des Urteilens, so wie er im Urteilen verstanden wird, ist es ist oder Sein. Nun stipulieren wir, dass der Gegenstand des Urteilens mannigfaltig ist. Wir nehmen dies an, um sicherzustellen, dass es Gegensatz im Urteilen gibt. Diese Annahme ist unverständlich. Das Verständnis des Urteilens, dass der Urteilsstrich ausdrückt, weist zurück, was wir vergebens zu stipulieren versuchen. Dies ist der Mangel an Konsequenz bei Frege: Zum einen behauptet er, dass das, was geurteilt wird, das ist, was ist, und mitnichten, was nicht ist. Zum anderen postuliert er, dass es eine Viel410

heit von Urteilen gibt, Urteile, die einander entgegengesetzt sind wie Licht und Nacht, etc. Parmenides beklagt dies zu Recht als den Irrtum derer, die das Urteil nicht erfassen, nicht die absolute Abstraktion, in der das Urteilen sich selbst erfasst.11

3. Nichts Behaupten im Sinne Freges ist gleichgültig gegenüber dem Gegensatz von ist und ist nicht; es ist die abstrakte Einheit des Bejahens und des Verneinens. Darum ist der Begriff der Behauptung leer und rein und der Begriff seines Gegenstandes ist das Sein, ohne Unterschied, weder in sich noch nach außen. Es mag den Anschein haben, das zeige, dass der Gegensatz von ist und ist nicht im Inneren des Behauptens und seines Selbstbewusstseins liegen muss: Behaupten ist Entgegensetzen; Behaupten setzt sich Behaupten entgegen. Es mag scheinen, das bedeute, dass wir die assertorische Kraft so vorstellen müssen, dass sie sich in Bejahung und Verneinung teilt, in Ja-Sagen und Nein-Sagen. Dann hat der Urteilsstrich zwei Formen, deren eine die Bejahung bezeichnet, es ist, die andere die Verneinung, es ist nicht. Allerdings ist das Urteil es ist so genauso ein Verneinen des Urteils es ist nicht so wie das letztere ein Verneinen des ersteren. Etwas behaupten, heißt Nein zu sagen zum entgegengesetzten Nein.12 Wenn wir einsehen, dass das Urteilen nicht über dem Gegensatz von ist und ist nicht stehen kann, ziehen wir also nicht die Schlussfolgerung, dass das Urteilen zwei entgegengesetzte Formen hat, ist und ist nicht. Vielmehr folgern wir, dass 11 Vgl. Parmenides, DK B 8, 53-59. 12 Siehe dazu Ernst Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frank­furt/M. 1976, S. 242: »[Es] gehört zur Aussage des Sprechers immer schon, dass sie die mögliche Verneinung des Hörers verneint.« Sowie S. 243: »Und zwar ist diese Gegenäußerung des Hörers in genau derselben Weise auf die Äußerung des Sprechers bezogen wie umgekehrt. […] [W]ir können nur sagen, dass die zweite die Verneinung der ersten ist, und dann ist die erste ebenso die Verneinung der zweiten.« Diese Zitate geben Tugendhats Behandlung der Negation und ihrer Beziehung zum Behaupten nur sehr eingeschränkt wieder. Obwohl er im Rahmen von Freges Unterscheidung zwischen Kraft und Inhalt operiert, ist er kurz davor, diese zu zerstören. Siehe dazu das Ende des zitierten Buchs, ebd., S. 518 f.

411

es Ablehnung, Verneinung, Nein-Sagen ist. Das Urteilen ist nicht die unendliche Kraft, das Sein zu umfassen, sondern die universale Kraft zu verneinen, auszulöschen, zu zermalmen. Die Kraft des Urteilens zur Negation ist universal, weil seine Idee von sich selbst als Verneinen a priori ist, das heißt rein. Das Urteilen versteht sich selbst als Verneinen, indem es sich selbst in seiner absoluten Abstraktion erfasst. Da dieses Selbstverständnis von nichts Gegebenem abhängt, ist es absolut. Darum ist das Wort, das den Begriff des Gegenstands des Urteils ausdrückt, wie er im Selbstbewusstsein des Urteilens verstanden wird, »Nichts«. Während »nicht« der Spezifizierung dessen, was negiert werden soll, bedarf, gibt »Nichts« die Universalität des Verneinens wieder, als das sich das Urteilen selbst versteht. Das Verständnis des Urteilens als Verneinen denkt die Kraft des Urteilens anders; es lässt die Äußerlichkeit des geurteilten Inhalts gegenüber der Kraft des Urteilens unangetastet. Wollten wir den Akt des Verneinens durch ein Zeichen repräsentieren, dann wäre dieses außerhalb des Zeichens des verneinten Inhalts zu platzieren. Darum ist das universale Nein oder Nichts, als das sich das Urteilen selbst versteht, leer und rein. Das Selbstbewusstsein des Urteilens, sein Begriff von sich selbst, und das heißt sein Begriff seines Gegenstandes, ist frei von Bestimmung oder Inhalt. Das Nichts, der Gedanke des Urteilens von sich selbst, ist »vollkommene Leerheit, Bestimmungs- und Inhaltslosigkeit«.13 Allerdings ist es der verneinte Inhalt und dieser allein, der den Gegensatz möglich macht, der das Verneinen ist. Ein Nein sagt Nein zu etwas, es ist selbst der Gedanke seiner Differenz von dem, was es verneint. Wird ein Inhalt gegeben, so kann die Kraft der Negation sich auf diesen beziehen. Um es noch einmal zu sagen, dieser Inhalt kann ein Gedanke sein, der wahr oder falsch ist oder eine Reihe normativer Regeln, durch die Urteile einander entgegengesetzt sind. Aber das Selbstbewusstsein des Urteilens, sein Begriff von sich selbst, und das heißt sein Begriff seines Gegenstandes, trägt nichts zur Bestimmtheit dieser Inhalte bei. Das Urteilen weist, im Denken seines Gegenstandes, den Gedanken von sich, dass es Bestimmtheit besitzen soll. Erfassen wir das Verneinen in seiner absoluten Abstraktion, vor aller Bestimmtheit und vor allem Inhalt, 13 Hegel, Wissenschaft der Logik I, S. 69.

412

fällt der Gegensatz, der es sein will, in sich zusammen. In der Tat gibt es keine Möglichkeit, reines Verneinen von reinem Behaupten zu unterscheiden. Wir sagen, dass der Gegenstand des Urteilens Nichts ist, aber das ist nichts anderes als dies, dass er das Sein ist. Nichts ist somit dieselbe Bestimmung oder vielmehr Bestimmungslosigkeit und damit überhaupt dasselbe, was das reine Sein ist.14

Behaupten und Verneinen sind ununterscheidbar. Sowohl was behauptet als auch was verneint wird, ist leer und ohne jede Bestimmung. Deshalb ist ihr Gegensatz nichts. Die eine große Verneinung unterscheidet sich nicht von der einen großen Behauptung. Wir könnten zu sagen versuchen, dass die verneinten Inhalte die Umkehrung der behaupteten Inhalte sind und sich darum von diesen unterscheiden. Aber der Unterschied von Inhalten ist für das Urteilen, das sich selbst in seiner absoluten Abstraktion denkt, unverständlich. Umso schlimmer für die absolute Abstraktion, mag man sagen. Das sinnliche Bewusstsein ist die Quelle bestimmter Inhalte; deren Gegebensein dringt nicht in das Bewusstsein des Urteilens. Das Urteilen besteht darin, bestimmte Operationen an diesen Inhalten zu vollziehen. Dieser – empiristische – Gedanke beseitigt das Urteilen überhaupt. Denn er leugnet, dass das Urteilen sich selbst begreift; nichts anderes aber heißt Urteilen. Da das Urteilen selbstbewusst ist, kann es eine Bestimmtheit des Urteilens nur geben, wenn die Bestimmtheit im Urteilen als solche begriffen wird. Das Selbstbewusstsein des Urteilens, sein Begriff seines Gegenstandes, muss selbst für diese Bestimmtheit sorgen. Eine raffiniertere Zurückweisung der absoluten Abstraktion – eine raffiniertere Zurückweisung des Urteilens – ist die Behauptung, die Sprache feiere in den Worten, in denen die absolute Abstraktion sich selbst ausdrückt. Diese Idee entsprang einer Lektüre von Wittgenstein, von dem diese Formulierung stammt,15 und ist mit dem Gedanken verbunden, dass Wittgenstein Metaphysik, das heißt Philosophie erfolgreich hinter sich gelassen habe, dass seine Philosophie eine After-Philosophie sei. Der raffiniertere Einwand 14 Ebd. 15 Siehe § 38 der Philosophischen Untersuchungen. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe, Bd. 1, Frank­furt/M. 1984, S. 225-580, hier S. 259 f.

413

weist die Universalität des Denkens, das sich selbst denkt, als leer zurück. Es ist wahr, erklärt er, dass der Gegensatz des Urteils nicht im Begriff dessen verstanden wird, was es heißt zu urteilen. Aber das liegt allein daran, dass dieser Begriff leer ist. Wenn wir versuchen, diesen Begriff in Worte zu fassen, feiert die Sprache.16 Wenn wir einsehen, dass es auf dieser Ebene der Allgemeinheit nichts zu denken gibt, gewinnen wir unser Zutrauen in unsere besonderen und konkreten Urteile und deren Gegensätze zurück. In jedem Fall des Urteilens setzt sich das Urteil, zum Beispiel Schnee ist weiß, einem anderen Urteil entgegen, zum Beispiel Schnee ist nicht weiß; oder es setzt sich vielen anderen Urteilen entgegen, zum Beispiel Schnee ist grün, blau oder rot. Diejenige, die urteilt, versteht ihr Tun so, dass sie entgegengesetzten Urteilen widerspricht, dadurch, dass sie versteht, was sie urteilt, wie zum Beispiel, Schnee ist weiß. Indem sie von »jedem Fall« spricht, erhebt sich diese Überlegung zu ebender Allgemeinheit, die sie anprangert. Würde sie nicht von jedem Fall sprechen, bliebe sie unbefriedigend. Erkennt man das, kann man die Raffinesse zu steigern suchen und rhetorische Strategien der Selbstauslöschung entwickeln: Die Rede soll die Illusion ihrer eigenen Bedeutsamkeit auflösen. Dies aber ist ein vergeblicher Versuch, Philosophie und damit das Denken zu vermeiden. Er kann nur zu Verzweiflung führen, weil sich in jedem Versuch, Philosophie zum Schweigen zu bringen, zeigen wird, dass sie gerade bei diesem Versuch umso lauter spricht, gerade so, wie nach Luthers Beschreibung jeder Versuch, die Sünde abzuschütteln, sich als noch verderbterer Ausdruck der Sünde entpuppen wird. Es ist in der Tat richtig, die Philosophie mit dem Tag der Ruhe, dem Sonntag, dem Fest in Verbindung zu bringen. Es bedürfte einer kulturpsychologischen Erklärung dafür, wie man dazu kommt zu denken, die Beobachtung, die Philosophie sei die Feier der Sprache, die Feier, in der die Sprache sich selbst feiert, zeige, dass etwas mit der Philosophie nicht stimmt. Statt das Urteilen aufzugeben, sollten wir den Versuch unter16 Im Englischen wird Wittgensteins »die Sprache feiert« mit »language goes on holiday« übersetzt; das aber trifft die Sache nicht, angemessener wäre: »language is holding a feast«. Zu feiern, ein Fest zu geben, heißt nicht an einen Platz zu flüchten, der weniger wirklich als die Welt der Arbeit ist. Es bedeutet zusammenzukommen, um einen Mittelpunkt und eine Quelle des Lebens und der Wahrheit zu markieren.

414

nehmen, es zu denken, den Versuch unternehmen, das Urteilen selbst als Denken seiner Bestimmtheit zu begreifen. Das ist es, wenn das, was geurteilt wird, als solches den Gegensatz des Urteilens in sich enthält. Der Gegensatz von ist und ist nicht bestimmt weder den geurteilten Inhalt noch die Kraft, diesen zu urteilen. Er löst diese Unterscheidung auf. Eine angemessene Begriffsschrift macht das Zeichen dieses Gegensatzes weder zum Teil des Zeichens für den Inhalt noch zu einem Teil des Zeichens der Kraft. Vielmehr schreibt sie den Gegensatz von ist und ist nicht jedem Zeichen ein, das einen Satz repräsentiert; sie schreibt es dem p ein, das aus diesem Grund kein Zeichen für Kraft außer ihm mehr benötigt.

4. Innere Reflexion der Einheit von Sein und Nichts Die Kraft des Urteilens, isoliert von ihrem Inhalt, ist leer. Das hat zur Konsequenz, dass dieser Inhalt leer ist; der Schein einer Mannigfaltigkeit von Inhalten ist eine Illusion. Die Unterschiedenheit von Inhalten kann dem Urteilen nicht von außen zugeführt werden. Bis das Urteil nicht selbst Unterschiedenheit ist, findet der Unterschied keinen Eingang ins Urteilen. Wird an etwas dem Urteil Äußerliches appelliert, um für Unterschiedenheit zu sorgen, wie bei Kant, so kann dies nicht als Versuch einer Erklärung für die Mannigfaltigkeit verstanden werden, die wir im Urteilen kennen. Es muss so verstanden werden, dass damit die völlige Unverständlichkeit dieser Mannigfaltigkeit behauptet wird. So versteht Kant seine Berufung auf das Sinnliche; das zeigt sich schon daran, dass er annimmt, diese Berufung impliziere, dass wir nur Erscheinungen erkennen. Wird der Gegensatz im Urteil von dem getrennt, was geurteilt wird, so fällt er in sich zusammen: Sein ist Nichts, Nichts ist Sein. Solange der Gegensatz nicht im Geurteilten liegt, ist der Gegensatz der Kraft leer. Doch kann der Gegensatz im Urteil ebenso wenig Inhalten entstammen, die dem Urteil gegeben werden. Im Bann der Trennung von Kraft und Inhalt resultiert der Zusammenbruch des Gegensatzes von Sein und Nichts in der Rückkehr zur leeren Behauptung: Sein, ist. Die Logik endet hier. Das ist eine äußere Reflexion: Sie behandelt das, was in der absoluten Abstraktion gedacht wird, als wäre es etwas Gegebenes. 415

Sie konstatiert, dass jenes Gegebene, ob es nun als Sein oder als Nichts vorgestellt wird, dasselbe ist. In dieser äußerlichen Reflexion entgeht uns, dass sich unsere eigene Reflexion in ihrer Gesamtheit innerhalb des Selbstbewusstseins des Urteilens vollzieht. Sie ist das Selbstbewusstsein des Urteilens. Darum ist das Selbstbewusstsein des Urteilens, sein Begriff von sich selbst und seines Gegenstandes, weder Sein noch Nichts; es ist der Übergang von Sein in Nichts und von Nichts in Sein. Was die Wahrheit ist, ist weder das Sein noch das Nichts, sondern daß das Sein in Nichts und das Nichts in Sein – nicht übergeht, sondern übergegangen ist.17

Das ist eine innere Reflexion. Sie zeigt, dass das Resultat des Zusammenbruchs von Sein in Nichts und Nichts in Sein die konkrete Einheit von Sein und Nichts ist: Werden. Denken ist diese konkrete Einheit und damit durch sich selbst bestimmt und sein eigener Inhalt. Das Werden […] ist die Ungetrenntheit des Seins und des Nichts; nicht die Einheit, welche vom Sein und Nichts abstrahiert, sondern als Einheit des Seins und Nichts ist es diese bestimmte Einheit oder die, in welcher sowohl Sein als Nichts ist.18

Die Einheit von Sein und Nichts im Werden ist nicht die abstrakte Einheit von ist und ist nicht. Sie ist konkret: Sie abstrahiert nicht vom Unterschied von ist und ist nicht, sondern ist selbst deren Entgegensetzung. Damit ist sie bestimmt. In der Tat ist das Werden, die konkrete Einheit von Sein und Nichts, die Bestimmtheit selbst. Der Urteilsstrich aus Freges Begriffsschrift bezeichnet das Selbstbewusstsein des Denkens; er bezeichnet den Gedanken, in dem das Denken sich selbst in seiner absoluten Abstraktion erfasst. Aber Frege ist sich nicht darüber im Klaren, dass es dies ist, was der Urteilsstrich tut. Darum müssen wir durch den Gedanken hindurchgehen, der zeigt, dass das Sein das Nichts ist und umgekehrt, und zwar in einer Weise, die diesen Gedanken als Selbstbewusstsein darstellt. In dieser Weise wird, was in unserer Diskussion Freges als äußere Reflexion erschien, eine innere Reflexion. 17 Hegel, Wissenschaft der Logik I, S. 69. 18 Ebd., S.  92.

416

Die Wissenschaft der Logik erläutert den Begriff des Denkens und damit den Begriff dessen, was gedacht werden kann. Dieser Begriff ist nicht ein Begriff, sondern der Begriff, der Begriff überhaupt. Er ist nicht ein Allgemeines, sondern das Allgemeine. In der ersten Weise, es zu denken, ist das Allgemeine unmittelbar Allgemeines, das heißt, nicht dadurch, dass es durch den Unterschied hindurchgeht. Darum ist es abstrakt: Sein Gedanke von sich, dass es selbst Alles ist, ist nicht entfaltet. In der Tat sollte es aus diesem Grunde nicht als das Denken von Allem vorgestellt werden, denn dies impliziert ein Bewusstsein der Differenz. Sein wahrer Ausdruck ist nicht »Alles«, sondern »Sein«. Ein Allgemeines ist, was in Vielen dasselbe ist. Das Sein in diesem und jenem und jenem ist dasselbe, oder identisch, in jedem. Darin negiert es den Unterschied von diesem und jenem und jenem, und insofern es ihren Unterschied negiert, ist es selbst ein Bewusstsein ihres Unterschieds.19 Das erste Allgemeine allerdings, Allgemeinheit, die sich selbst zum ersten Mal denkt, enthält kein Bewusstsein eines gegebenen Unterschiedes. Es ist nichts als Identität mit sich selbst: »[Es] ist nur sich selbst gleich«,20 »es ist einfache Gleichheit mit sich selbst«.21 Da es keinen Unterschied enthält, ist es abstrakt. Und weil es abstrakt ist, ist es leer. Denken, das sich selbst als Sein denkt, denkt nichts. Das Sein denken heißt, nichts zu denken. Das ist kein Einwand gegen das reine Denken. Denn nichts zu denken, heißt nicht, nicht zu denken. Das markiert den Unterschied des Denkens vom sinnlichen Bewusstsein. Nichts zu denken, heißt nicht, nicht zu denken, weil der Unterschied zwischen nichts und etwas im nichts denken liegt: Der Akt, nichts zu denken, unterscheidet sich selbst von dem, etwas zu denken. Nichts zu denken, heißt zu denken; es ist Denken, dass jede Bestimmung von sich ausschließt und dadurch sich 19 Die »Allgemeinheitseinschränkung« (generality constraint), wie sie zum Beispiel von Gareth Evans in The Varieties of Reference, hg. v. John McDowell, Oxford 1982, S. 100-105, vorgebracht wird, macht das Bewusstsein einer Mannigfaltigkeit des Besonderen zu etwas dem Begriff Internen. Diese Beschränkung fasst das Selbstbewusstsein des empirischen Begriffs in Worte. Evans präsentiert dies als etwas, das wir über das Denken wissen, ja als eines der wenigen Dinge, die wir über das Denken wissen. Er untersucht nicht weiter, wie wir das wissen und wie es gewusst werden kann, welcher Art dieses Wissen ist und wie es möglich ist. 20 Hegel, Wissenschaft der Logik I, S. 68. 21 Ebd. S.  69.

417

selbst in seiner absoluten Abstraktion erfasst. Was es so denkt, ist – Sein. Insofern Anschauen oder Denken hier erwähnt werden kann, so gilt es als ein Unterschied, ob etwas oder nichts angeschaut oder gedacht wird. Nichts Anschauen oder Denken hat also eine Bedeutung; beide werden unterschieden, so ist (existiert) Nichts in unserem Anschauen oder Denken; oder vielmehr ist es das leere Anschauen und Denken selbst und dasselbe leere Anschauen oder Denken als das reine Sein.22

Sein ist Nichts, weil das Allgemeine, als abstraktes, alle Bestimmtheit ausschließt. Es mag den Anschein haben, dass wir in dieser Weise das erste Allgemeine als Resultat vorstellen, als Resultat einer Abstraktion und damit nicht als erstes. Das ist der empiristische Einwand, den wir oben diskutiert haben. Er behauptet, dass Denken, das sich selbst denkt, von etwas dem Denken und seinem Selbstverständnis Vorgängigem abstrahiert. Aber keine Abstraktion von Gegenständen der Erfahrung kann die Allgemeinheit des Seins erreichen. Der Gedanke des Seins ist in anderer Weise abstrakt als die Abstraktion von gegebenen Unterschieden. Das erste Allgemeine ist der Gedanke nicht von Allem, sondern von Sein; es schließt nicht alle Unterschiede aus, sondern Unterschied überhaupt. Es beruht auf nichts Gegebenem. Der Gedanke des Seins, der Ausschluss des Unterschieds, der dieser Gedanke ist, versteht sich selbst als ursprünglich. Er ist ursprünglich, indem er Selbstbewusstsein ist. So weisen wir den empiristischen Einwand zurück und sagen: Reines Denken ist Nichts, das aber heißt, es ist Sein. Nichts […] ist das leere Anschauen und Denken selbst und dasselbe leere Anschauen und Denken als das Sein.23

Nichts ist Sein, weil es das Denken selbst ist. Aristoteles sagt, dass das Denken nichts ist, bevor es denkt.24 Er präsentiert dies als Folgerung aus der Allgemeinheit des Gegenstands des Denkens: Das Denken hat keine gegebene Natur, denn wenn es eine solche hätte, so würde diese Natur den Gegenstand des Denkens beschränken. Sie würde beschränken, was gedacht werden kann. Das Denken ist nichts, weil es alles ist. Besser gesagt, sein Nichts-sein ist sein Alles22 Ebd. 23 Ebd., S.  53. 24 Aristoteles, De Anima, 429a22-24.

418

sein. Hegel wiederholt diese Überlegung von Aristoteles. Denken ist allgemein, was bedeutet, dass es keine gegebene Natur hat; eben dadurch ist es allgemein. Insbesondere ist die Allgemeinheit des Denkens kein gegebener Wesenszug des Denkens. Der Gegenstand des Denkens ist allgemein darin und dadurch, dass Denken sich als allgemeines denkt; das aber ist der Gedanke, dass das Denken Nichts ist. Das Sein ist der Gedanke, in dem Denken sich selbst in seiner absoluten Abstraktion erfasst. Die absolute Abstraktion des Denkens ist sein Selbstbewusstsein. Indem es sich selbst denkt, erkennt das Denken sich als etwas, das durch nichts bestimmt ist. Diese Leere des Denkens, seine Nichtigkeit, ist seine eigene Tat: Wir verstehen im Denken die absolute Abstraktheit des Denkens, die wir dadurch in ebendiesem Gedanken verwirklichen. Indem wir jede Bestimmtheit auslöschen, erkennen wir das Denken als Auslöschen jeder Bestimmtheit. Die Nichtigkeit des Denkens ist nicht von außen zu erfassen, durch eine äußere Reflexion, von der angenommen werden könnte, dass sie Gründe dafür liefert, das Denken zu verabschieden. Das ist der Weg des Empirismus. Vielmehr ist die Abwesenheit der Bestimmtheit die Selbstbestimmung des Denkens. Darum hängt sie nicht von gegebenen Bestimmungen ab. Im Gegenteil, sie eröffnet das Ganze: Sein.

5. Werden Hegel betont, dass Sein nicht in Nichts übergeht. Sein ist ins Nichts übergegangen und Nichts in Sein. Tatsächlich ist das Sein sein Übergegangensein in Nichts und Nichts ist sein Übergegangensein in Sein. Das Denken selbst zu denken, zu erkennen, dass es Sein ist, heißt, nichts zu denken. Und jede Bestimmtheit vom Denken auszuschließen, zu erkennen, dass es nichts ist, heißt, Sein zu denken. Sein denken heißt nichts denken. Indem wir dies erkennen, denken wir die erste Bestimmung des Begriffs. Werden ist die »er­ste Wahrheit«.25 Weder im Sein noch im Nichts liegt Wahrheit; Sein 25 Hegel, Wissenschaft der Logik I, S. 72. Der Begriff ist die absolute Wahrheit, denn er ist der Begriff des Denkens und der Begriff dessen, was überhaupt ist, und das Wissen darum, dass beides eins ist. »Ihr Inhalt [der reinen Wissenschaft] [ist]

419

und Nichts sind die vollkommene Unwahrheit.26 Daher fängt die Logik nicht mit dem Sein an. Sie fängt mit dem Werden an. Die Logik ist nicht die Entwicklung des Seins. Sie ist die Entwicklung des Werdens. Das Werden ist das Element aller Bestimmungen des Begriffs. Der Gedanke des Werdens besteht in der Erkenntnis, dass die Allgemeinheit des Denkens dasselbe wie seine Bestimmtheit ist. Die Wissenschaft der Logik entfaltet diesen Gedanken. Es ist hilfreich, sich dem Gedanken des Werdens zu nähern, indem man über Werden im gewöhnlichen Sinn nachdenkt: Etwas wird so. Wenn wir das Werden im gewöhnlichen Sinn in die Überlegungen einbeziehen, könnte das einen Einwand aufwerfen. Es mag scheinen, als ob Werden im gewöhnlichen Sinn keine Einheit des Seins und des Nichts wäre, sondern beide trennte, indem es sie in verschiedenen Zeiten verortete: Etwas, das so geworden ist, war zunächst nicht so und ist jetzt so. Werden vereint nicht, sondern trennt das Nicht-so-Sein und das So-Sein. Das stimmt aber nicht. Es ist wahr, dass die Terme des So-Werdens von etwas, sein Nicht-so-Sein und sein So-Sein, keine Einheit des Seins und des Nichtseins bilden. Das Werden aber ist nicht mit seinen Termen identisch, wiewohl es solche hat. Der Gedanke des So-Werdens von etwas, das heißt der Gedanke, der durch den progressiven Aspekt, »es wird gerade so«, ausgedrückt wird, kann nicht auf den Gedanken reduziert werden, dass etwas erst nicht so ist und dann so ist, einen Gedanken, der keinen Kontrast des Aspekts aufweist: »X war nicht so«, »X ist so«. Der Gedanke des Werdens im gewöhnlichen Sinn ist sehr genau dadurch beschrieben, dass er in einem Gedanken zusammenhält, dass etwas nicht so ist und so ist.27 Werden im gewöhnlichen Sinn hat ein Ende; dass etwas so wird, endet damit, dass es so ist. Mehr noch, dasjenige, das so wird, ist von bestimmter Art und bleibt von dieser Art durch das Werden hindurch. In diesen beiden Hinsichten involviert das gewöhnliche Werden ein Sein, das vom Werden unterschieden und unberührt vielmehr allein das absolute Wahre. […] Die Logik ist […] als das Reich des reinen Gedankens zu fassen. Dieses Reich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist« (ebd., S. 34). 26 Vgl. ebd., S. 71: »So sind darin jene Bestimmungen nicht mehr in der vollkommenen Unwahrheit, in der sie als Sein und Nichts sind.« 27 Siehe Sebastian Rödl, Kategorien des Zeitlichen. Eine Untersuchung der Formen des endlichen Verstandes, Frank­furt/M. 2005, Kapitel 5.

420

ist. Aber wir können den Gedanken des Werdens verallgemeinern und ihn so erweitern, dass er diese beiden Momente des Seins, die das Werden im gewöhnlichen Sinn kennzeichnen, umfasst. Dann gibt es keine Bestimmung, in der das Werden an ein Ende gelangt, und keine Substanz, die sich durch die Veränderung ihrer Bestimmungen hindurch erhält. Dies ist das Werden, von dem Hegel spricht. Gewöhnliches Werden ist in der Zeit. Im Gegensatz dazu hat das Werden, dass die erste Wahrheit, die erste logische Bestimmung ist, keine zeitliche Bedeutung. Das verstehen wir, wenn wir sehen, dass dieses Werden universales Werden ist. Indem wir gewöhnliches Werden universalisieren, löschen wir seine Zeitlichkeit aus. Denn seine Zeitlichkeit beruht darauf, dass Werden ein Wechsel von Zuständen einer zugrunde liegenden Substanz ist. Diese Struktur zerstören wir, indem wir Werden universalisieren. Es überrascht nicht, dass Universalisierung Logifizierung ist. Logik ist die Wissenschaft des Allgemeinen oder des Begriffs. Man könnte einwenden, dass sich der Gedanke universalen Werdens selbst zerstört. Wenn alles Werden ist, gibt es kein Werden. Denn Werden bedarf des Gegensatzes von Sein und Nichts. Werden ist eine Einheit von Sein und Nichts, die nicht von deren Unterschied abstrahiert. Diese Abstraktion war die erste Bestimmung, das abstrakte Allgemeine. Es ist vielmehr genau der Gedanke ihrer Einheit, der der Gedanke ihres Gegensatzes ist. Allerdings verschwindet ebendieser Gegensatz im universalen Werden. Es stellt sich heraus, dass der Gedanke des Werdens nichts denkt. Das Werden […] ist […] nicht die Einheit, welche vom Sein und Nichts abstrahiert.28 Sein und Nichts sind in ihm [im Werden] nur als Verschwindende; aber das Werden als solches ist nur durch die Verschiedenheit derselben. Ihr Verschwinden ist daher das Verschwinden des Werdens oder Verschwinden des Verschwindens selbst.29

Obwohl es wahr ist, dass der Gedanke des universalen Werdens in sich zusammenfällt, so fällt er doch nicht in nichts zusammen. Gerade weil der Gedanke des Werdens nicht vom Unterschied 28 Hegel, Wissenschaft der Logik I, S. 92. 29 Ebd., S.  93.

421

von Sein und Nichts abstrahiert und darum nicht der Gedanke des Seins ist, ist die Erkenntnis seines Zusammenfallens nicht der Gedanke von Nichts. Da alles im Fluss ist, ist alles Sein verloren, immer schon bereits verdrängt. Wir können uns an nichts halten, weil es, wenn wir es versuchen, schon ins Nichts entschwunden ist. Aber das universale Werden ist nicht bloß das dahinschwindende Sein, es ist ebenso das sich erhebende Sein; es entschwindet nicht bloß Sein ins Nichts im »Vergehen«; sondern das Nichts weicht dem Sein im »Entstehen«. Tatsächlich ist Werden die Einheit beider, die Einheit von Entstehen und Vergehen. Heraklits Fluss steht nicht einfach im Gegensatz zum Sein Parmenides’. Es nimmt die Negativität in sich auf, die Sein und das heißt das Denken des Seins ist. Darum löst sich der Gedanke des Werdens nicht in nichts auf. Vielmehr ist er die Einsicht, dass Sein als solches Negation ist: Es ist bestimmtes Sein, Sein, das nicht ist, was es nicht ist, Sein, das ausschließt, negiert, was es nicht ist. Dies ist das erste wahre Allgemeine. Dies Resultat ist das Verschwundensein, aber nicht als Nichts; so wäre es nur ein Rückfall in die eine der schon aufgehobenen Bestimmungen, nicht Resultat des Nichts und des Seins.30

Wir haben gesehen, dass die Negation nicht Teil des Inhalts des Urteilens im Unterschied zur Kraft des Urteilens ist. Ebenso wenig ist sie ein Gegensatz von Kräften außerhalb des Inhalts. Man mag sich fragen, wo die Negation ist, wenn sie weder im Inhalt noch in der Kraft zu finden ist. Die Antwort lautet: nirgends. Es ist nicht möglich zu verstehen, was Negation ist, während man die Unterscheidung von Kraft und Inhalt aufrechterhält. Diese Unterscheidung hält uns in den Ketten der vollkommenen Unwahrheit, der Unwahrheit von Sein und Nichts. Indem wir diese Unterscheidung zurückweisen, verstehen wir die Einheit von Sein und Nichts; wir denken das Werden. Indem wir die Einheit von Sein und Nichts denken, verstehen wir, dass das, was behauptet wird, selbst der Gegensatz von ist und ist nicht ist. Dieser Inhalt ist Dasein, bestimmtes Sein: Indem wir es denken, denken wir es als Ausschließen dessen, was es nicht ist. Gehen wir einen Schritt weiter, können wir Inkompatibilität einführen, indem wir verstehen, 30 Ebd., S.  94.

422

dass das, was gedacht wird, so beschaffen ist, dass etwas denken heißt, etwas anderes auszuschließen. In der Wissenschaft der Logik tritt dies als Daseiendes auf. Negation ist in dem, was gedacht wird, insofern es etwas ist, das gedacht werden kann. Was gedacht wird, enthält als solches den Gedanken des Gegensatzes im Urteil, des Gegensatzes von ist und ist nicht, von Sein und Nichts. Eine vollkommene Begriffsschrift würde das Zeichen dieses Gegensatzes zum graphischen Stoff aller Satzzeichen machen. Und dabei würde sie nicht stehen bleiben. Denn nun ist erkannt, im Allgemeinen selbst, dass es seine eigene Negation ist. Die Wissenschaft der Logik wird diese innere Negativität des Begriffs herausarbeiten und den Begriff als Widerspruch erweisen. Die Wissenschaft der Logik umfasst diesen Widerspruch und schreitet so in der Artikulation des Begriffs fort. Schließlich wird die ganze Wissenschaft der Logik jedem Satzzeichen einbeschrieben sein. Tatsächlich können wir sie immer schon jedem Satz einer jeden Sprache einbeschrieben sehen. Aus dem Englischen von Sebastian Staab

423

Martin Seel Versionen der Negativität konstellativen Denkens Meine Überlegung hat drei Teile. Im ersten, eher destruktiven Teil argumentiere ich dafür, dass Adornos Philosophie weder eindeutig negativ noch eindeutig dialektisch verfährt. Der zweite, eher konstruktive Teil schlägt vor, die Spielart des Philosophierens, die bei Adorno als »negative Dialektik« firmiert, als Praxis »konstellativen Denkens« zu rekonstruieren. Im dritten Teil lege ich nahe, dass konstellatives Denken und Schreiben als eine Version »negativer Dialektik« verstanden und verteidigt werden kann. Um diese Choreografie vorgreifend zu erläutern, gebe ich zunächst einen kurzen – folglich vereinfachten – Umriss der Kontur negativer Dialektik, wie sie von Adorno selbst und vielen seiner Interpreten aufgefasst wird. Man könnte dies die »offizielle Version« oder »orthodoxe Lesart« der Philosophie Adornos nennen. Ihr Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass der Gehalt von Begriffen – und insbesondere von philosophischen Begriffen – mit historischer Erfahrung beladen ist. Begriffe sind Sedimentierungen und Manifestationen sozialer und kultureller Entwicklungen und Verhältnisse. Im Aufspüren verborgener Annahmen und Kräfte innerhalb ihres konventionellen Gebrauchs muss ihre kritische Explikation daher immer auch genealogisch vorgehen. Das Verfahren dieser Prüfung ist das der bestimmten Negation: einer Auflösung und Aufhebung der Unzulänglichkeit handelsüblicher – bloß »verstandesmäßiger« – Bestimmungen durch den Nachweis ihrer widersprüchlichen Implikationen. So weit steht Adornos Spielart der Dialektik im Einklang mit derjenigen Hegels. Die entscheidende Differenz betrifft die Rolle, die der bestimmten Negation in Adornos Denken zukommt. Für Adorno liegt deren vorrangige Leistung im Nachweis der inneren Verzerrungen, Verkürzungen und Widersprüche menschlicher Selbstverständnisse sowie der gesellschaftlichen Organisationsformen, in denen sie sich herausgebildet haben. Bestimmte Negation zielt nicht – wie bei Hegel – auf eine umfassende Theorie, die die grundsätzliche Vernünftigkeit historischer und sozialer Realität aufzudecken vermag, indem sie ein unverkürztes Wissen des inne424

ren Zusammenhangs der Grundbegriffe reflexiver Selbstverständigung bereitstellt. Stattdessen beharrt negative Dialektik auf einer kritischen Einstellung: Sie zeigt intellektuelle Aporien und soziale Pathologien auf, ohne den Anspruch, sie im Denken ausräumen oder überwinden zu können. Durch ihre Negativität dramatisiert sie die Negativität vergangener und gegenwärtiger Lebensformen. Ihr Anspruch zielt darauf, der Inkonsistenzen von Wissenschaft und Gesellschaft unter Bedingungen innezuwerden, in denen das Potential menschlicher Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung unterdrückt bleibt.

1. Dieses Potential jedoch, in dessen Namen Adorno die »verwaltete Welt« kritisiert, wirft die Frage auf, ob seine Philosophie tatsächlich so negativistisch verfährt, wie sie sich präsentiert. Deshalb sind bei verschiedenen Kommentatoren immer wieder Zweifel entweder an der Möglichkeit negativer Dialektik oder an der Stimmigkeit ihrer Durchführung bei Adorno laut geworden.1 Der naheliegendste Einwand dürfte der folgende sein. »Dialektik ist das konsequente Bewusstsein von Nichtidentität« und »Nichtidentität [ist] das Telos der Identifikation, das an ihr zu Rettende« – dies sind zentrale Stichworte der Negativen Dialektik.2 Es lässt sich aber kaum übersehen, dass der Ausdruck »Nichtidentisches« in diesem Buch ein Deckname für etwas durchaus Positives ist: für die Besonderheit von Subjekten wie Objekten. Entsprechend wirft Adorno Hegel in 1 Vgl. Michael Theunissen, »Negativität bei Adorno«, in: Ludwig von Friedeburg, Jürgen Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, Frank­ furt/M. 1983, S. 41-65; Rüdiger Bubner, »Kann Theorie ästhetisch werden? Zum Hauptmotiv der Philosophie Adornos«, in: ders., Ästhetische Erfahrung, Frank­furt/M. 1989, S. 70-98; Andrea Kern, »Freiheit zum Objekt. Eine Kritik der Aporie des Erkennens«, in: Axel Honneth (Hg.), Dialektik der Freiheit. Frank­furter Adorno-Konferenz 2003, Frank­furt 2005, S. 53-82. Adornos Negativismus verteidigen dagegen Rahel Jaeggi, »›Kein Einzelner vermag etwas dagegen‹. Adornos Minima Moralia als Kritik von Lebensformen«, in: Honneth (Hg.), Dialektik der Freiheit, S. 115-141; Christoph Menke, »Tugend und Reflexion. Die Antinomien der Moralphilosophie«, in: Honneth (Hg.), Dialektik der Freiheit, S. 142-162; Marc Nicolas Sommer, Das Konzept einer negativen Dialektik. Adorno und Hegel, Tübingen 2016. 2 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frank­furt/M. 1970, S. 15, 150.

425

der »Zueignung« der Minima Moralia eine »Liquidation des Besonderen« vor.3 Der Grundgedanke hinter Adornos Version einer Dialektik von Identität und Nichtidentität findet sich bereits in einem »Klassifikation« überschriebenen Fragment der Dialektik der Aufklärung. »Der Kampf gegen Allgemeinbegriffe ist sinnlos«, konstatieren Horkheimer und Adorno hier lakonisch. Jedoch, so merken sie an, »was vielen Einzelnen gemeinsam ist, oder was im Einzelnen immer wiederkehrt, braucht noch lange nicht stabiler, ewiger, tiefer zu sein als das Besondere«. Dies führt zu einer – in einem finsteren Buch wie diesem – einigermaßen spektakulären Schlussfolgerung: »Die Welt ist einmalig. Das bloße Nachsprechen der Momente, die immer und immer wieder als dasselbe sich aufdrängen, gleicht eher einer vergeblichen und zwangshaften Litanei als dem erlösenden Wort. Klassifikation ist die Bedingung von Erkenntnis, nicht sie selbst, und Erkenntnis löst die Klassifikation wiederum auf.«4 In der Negativen Dialektik lautet die entsprechende Formel: »Erkenntnis geht aufs Besondere, nicht aufs Allgemeine.«5 Ein zweiter Einwand ergibt sich aus der Beobachtung, dass Adornos ostentativer Negativismus nicht recht mit dem Denkstil übereinstimmt, den er in seinen Schriften praktiziert. Eine genaue Lektüre seiner Texte nämlich bringt zutage, dass sie voller Hinweise auf Momente und Elemente einer nichtinstrumentellen – und damit in einem normativen Sinn positiven – Beziehung zwischen Subjekten und ihrer Umwelt sind. Diesem untergründigen »Positivismus« in Adornos Denken bin ich andernorts nachgegangen und möchte hier nur meinen Befund zitieren: Von seinen jungen Jahren an hat Adorno immer wieder betont, dass Freiheit und Glück, Moral und Gerechtigkeit, überhaupt das individuell und sozial Gute unter den Bedingungen der Gegenwart allein negativ bestimmt werden könnten. Nur an ihren verkehrten Gestalten seien sie zu erkennen. Dies jedoch ist eine eklatante Selbsttäuschung. Denn Adornos Philosophie nimmt ihren Ausgang von positiven und darüber hinaus von radikal positiven Erfahrungen. Diese können freilich nicht ein für alle Mal, sondern müssen immer wieder aufgewiesen werden, was allein im Kontrast zu der Kehrseite ihres weitgehenden Verschüttetseins möglich ist. Das Gravita3 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frank­furt/M. 1973, S. 10. 4 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frank­furt/M. 1986, S. 231. 5 Adorno, Negative Dialektik, S. 320.

426

tionszentrum der Denkbewegungen Adornos bilden Potentiale nichtinstrumentellen Verhaltens, die als solche eines zwanglosen subjektiven und intersubjektiven Selbstseins beschrieben werden. Die Zustände, in denen dieses Potential aufscheint, sind für Adorno alles andere als Utopie. Inmitten der »verwalteten Welt« gibt es sie. Sie können real erfahren werden, wie verstellt ihre orientierende Kraft auch sein mag. Es sind jene »Spuren und Splitter«, von denen es in der Antrittsvorlesung von 1931 heißt, dass sie die Hoffnung gewähren, »einmal zur richtigen und gerechten Wirklichkeit zu geraten«.6

Aus Beobachtungen dieser Art lassen sich, was den Status einer »negativen Dialektik« betrifft, unterschiedliche Konsequenzen ziehen. Ein Extrem verkörpert die Abhandlung Adorno’s Positive Dialetics von Yvonne Sheratt, die Adorno auf ein dezidiert utopisches Denken verpflichtet sieht.7 Ein anderes Extrem findet sich in einer despektierlichen Bemerkung von Robert Pippin: »Die ›Negative Dialektik‹ ist überhaupt keine Dialektik, sondern eine Philosophie der Endlichkeit und ein Aufruf zur Anerkennung solcher Endlichkeit.«8 Meine eigene Folgerung ist eine andere. Adornos Kritik der Gesellschaft und ihrer Subjektivierungsformen bezieht ihren normativen Impuls aus einer fragmentarischen Phänomenologie von Momenten und Möglichkeiten einer vergleichsweise »unreduzierten Erfahrung« sowie eines ihnen korrespondierenden theoretischen wie praktischen Verhaltens, die das Diktat instrumenteller Vernunft unterlaufen, ihm widerstehen oder sich ihm widersetzen. In diesem Kontext kommt der bestimmten Negation in Adornos Denken nicht die Funktion zu, die Spannungen zwischen den Formen des menschlichen Selbstverständnisses zu tilgen oder als aufhebbar zu verklären, sondern sie in ihrer Disparatheit aufzuzeigen. Umgedeutet wird Hegels Gedanke der Negativität der Erfahrung: Anstatt die Erschütterung scheinbar verlässlicher Koordinaten des Handelns zum Anlass ihrer positiven Überschreitung zu nehmen, wird die Dissidenz positiver Erfahrungen gegen die Vertuschung der Negativität ihrer Unterdrückung mobilisiert. Nimmt man diese Anlage des Philosophierens bei Adorno ernst, so ergibt sich 6 Martin Seel, Adornos Philosophie der Kontemplation, Frank­furt/M. 2004, S. 34 f. 7 Yvonne Sherratt, Adorno’s Positive Dialectic, Cambridge 2002. 8 Robert B. Pippin, »Negative Ethik. Adorno über falsches, beschädigtes, totes, bürgerliches Leben«, in: Honneth (Hg.), Dialektik der Freiheit, S. 85-114, hier S. 108.

427

eine irritierende Konsequenz: Nicht nur verfährt seine »negative Dialektik« weniger negativ, als es den Anschein hat, sie verfährt nicht einmal dialektisch in einer der gängigen Bedeutungen des Begriffs.

2. In meinen Augen ist dieser Befund alles andere als desaströs, denn er erlaubt es, zu einer heterodoxen Interpretation der Philosophie Adornos zu gelangen, die der besonderen Art seines Denkens gerecht wird. Was Adorno selbst und viele seiner Interpreten irreführend als »negative Dialektik« bezeichnen, ist eine reflexive Tätigkeit, die Adorno zutreffend als »konstellatives Denken« bezeichnet hat. In der Negativen Dialektik wird das konstellative Denken als eine radikal selbstkritische Form intellektueller Praxis porträtiert. »Denken braucht nicht an seiner eigenen Gesetzlichkeit sich genug sein zu lassen; es vermag gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben; wäre eine Definition von Dialektik möglich, so wäre das als eine solche vorzuschlagen.«9 Dies ist eine recht exzentrische Definition dialektischen Denkens – und so ist sie gemeint. »Dialektik« steht hier für einen Gebrauch von Begriffen, der in allen Bestimmungen, die er gibt, in Erinnerung ruft und behält, was in ihnen unbestimmt oder doch unterbestimmt bleibt. Der Sinn und die Form philosophischer Reflexion liegen demnach darin, nicht allein die Interrelationen der jeweils behandelten Gegenstände, sondern gleichermaßen und zugleich diejenigen der Begriffe bewusst zu halten, die deren Physiognomie am ehesten zu erfassen vermögen. Dieses Verfahren resultiert nicht in einer umfassenden Theorie oder einem geschlossenen System, sondern in einer offenen Konfiguration von Charakterisierungen, die stets zu weiterer Reflexion Anlass gibt. Auf diese Weise wird eine temporäre Einheit des Verstehens entworfen, die ihre aufschließende Kraft durch eine mitlaufende Vergegenwärtigung ihrer noch unerschlossenen Dimensionen gewinnt. »Das einigende Moment überlebt«, sagt ­Adorno deshalb am Beginn des »Konstellation« betitelten Abschnitts der Negativen Dialektik, 9 Adorno, Negative Dialektik, S. 142.

428

ohne Negation der Negation, doch auch ohne der Abstraktion als oberstes Prinzip sich zu überantworten, dadurch, daß nicht von den Begriffen im Stufengang zum allgemeinen Oberbegriff fortgeschritten wird, sondern sie in Konstellation treten. Diese belichtet das Spezifische des Gegenstands, das dem klassifikatorischen Verfahren gleichgültig ist oder zur Last. Das Modell dafür ist das Verhalten der Sprache.10

Es ist die Sprache selbst, wie Adorno in Übereinstimmung mit der hermeneutischen Tradition betont, deren Entwicklung sich als eine permanent sich verändernde Konstellation von Unterscheidungen und Voraussetzungen vollzieht. »Wo eine Kategorie […] sich verändert, ändert sich die Konstellation aller und damit wiederum eine jegliche.«11 Sprachliche Ausdrücke und Äußerungen gewinnen ihre Bedeutung nicht allein durch den Bezug auf isolierte Sachverhalte, sondern stets zugleich aus ihren dynamischen Beziehungen untereinander; nur vermöge dieser internen Relationen können sie Aufschluss über die Gegenstände geben, auf die sie sich beziehen. Unbefangenes Denken, so Adorno, versucht, mit diesem Prozess sowohl mitzuhalten als auch in ihn einzugreifen. Philosophische, auf ihre eigenen Begriffe reflektierende Erkenntnis über gegebene Umstände muss daher ihre Gedanken in komplexe Konstellationen bringen, um deren spezifische Konstellationen vergegenwärtigen zu können. Dies verlangt die Fähigkeit und Bereitschaft, die Unabhängigkeit der jeweiligen Objekte gegenüber starren Schemata ihrer Bestimmung anzuerkennen. »Ihrer subjektiven Seite nach«, sagt Adorno deshalb, läuft Dialektik »darauf hinaus, so zu denken, daß nicht länger die Form des Denkens seine Gegenstände zu unver10 Adorno, Negative Dialektik, S. 162. Vgl. zum Folgenden Martin Seel, »Anerkennende Erkenntnis. Eine normative Theorie des Gebrauchs von Begriffen«, in: ders., Adornos Philosophie der Kontemplation, Frank­furt/M. 2004, Kapitel 3. 11 Adorno, Negative Dialektik, S. 167. Hier bestehen erhellende – wenn auch begrenzte – Parallelen zu der Rolle des Konstellationsbegriffs bei Robert B. Brandom, Making it Explicit. Reasoning, Representing and Discursive Commitment, Cambridge/Mass. 1994, z. B. S. 183, 618 f., sowie ders., Reason in Philosophy. Animating Ideas, Cambridge/Mass., 2009, S. 103. Vgl. auch Jay M. Bernstein, »Mimetische Rationalität und materiale Inferenz: Adorno und Brandom«, in: Philip Hogh, Stefan Deines (Hg.), Sprache und Kritische Theorie, Frank­furt/M. 2016, S. 199-218, sowie Martin Seel, »Das Potential der Sprache. Adorno – Habermas – Brandom«, in: ebd., S. 275-295.

429

änderlichen, sich selber gleichbleibenden macht; daß sie das seien, widerlegt die Erfahrung«.12 Adornos Werk – und das heißt: seine Prosa – kann als ein kontinuierliches Experiment mit einer derartigen Einstellung gelesen werden. In seinem programmatischen Essay über den Essay als Form beruft er sich für dieses Verfahren auf Marcel Proust. Dessen Werk sei »ein einziger Versuch, notwendige und zwingende Erkenntnis über Menschen und soziale Zusammenhänge auszusprechen, die nicht ohne weiteres von den Wissenschaften eingeholt werden können«.13 Im Licht solcher Passagen lässt sich ­Adorno als ein Schriftsteller – und Komponist14 – verstehen, der in seiner diskursiven Praxis in einen Wettstreit mit literarischen Recherchen tritt, wenn es darum geht, das »Geflecht von Vorurteilen, Anschauungen, Innervationen, Selbstkorrekturen, Vorausnahmen und Übertreibungen« explizit zu machen,15 das die menschlichen Weltverhältnisse implizit durchherrscht – getreu einer Zeile in der Ästhetischen Theorie: »Der Zweck der Kunst ist die Bestimmtheit des Unbestimmten.«16 Ich kenne keine prägnantere Beschreibung dieser Schreibart als diejenige, die Jürgen Habermas an Adornos 60. Geburtstag am 11. September 1963, drei Jahre vor dem Erscheinen der Negativen Dialektik, in der Frank­furter Allgemeinen Zeitung gegeben hat: Adorno macht gegen die starre Logik des deduktiven Zusammenhangs Front; er fordert, daß in einem philosophischen Text alle Sätze gleich nahe zum Mittelpunkt stehen sollen. […] Der Gedanke, der in eine Sache gerade darum eindringt, weil er den Resonanzboden des Subjekts, von dem er ausgeht, in seine Schwingungen mit aufnimmt, kann die eigene logische Genesis nicht regelrecht nachweisen. […] Diesem Verzicht auf die lückenlose Beweisführung entspricht der auf das zwingende Rechtbehaltenwollen.17 12 Adorno, Negative Dialektik, S. 155. 13 Theodor W. Adorno, »Der Essay als Form«, in: ders., Noten zur Literatur, Frank­ furt/M. 1971, S. 9-49, hier S. 19. 14 Vgl. Adorno, Negative Dialektik, S. 42: »Philosophie wäre erst zu komponieren.« 15 Adorno, Minima Moralia, S. 100. 16 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frank­furt/M. 1973, S. 188. 17 Jürgen Habermas, »Ein philosophierender Intellektueller«, in: ders., Philosophisch-politische Profile, Frank­furt/M. 1971, S. 176-184, hier S. 178 f. – Unter dem Stichwort »Für Nach-Sokratiker« heißt es entsprechend in den Minima Moralia: »Nichts ist dem Intellektuellen, der zu leisten sich vornimmt, was früher Philoso-

430

So gelesen, bleibt es freilich rätselhaft, warum Adorno den größten konstellativen Denker des 20. Jahrhunderts weitgehend ignoriert hat – Ludwig Wittgenstein. Dass es hier ebenso verblüffende wie aufschlussreiche Parallelen gibt, möchte ich an dieser Stelle lediglich mit einem Zitat illustrieren. In der Einleitung seines Buchs Wittgenstein über Regeln und Privatsprache schreibt Saul Kripke: Es sollte in Erinnerung behalten werden, daß die Philosophischen Untersuchungen kein systematisches Werk sind, in dem Konklusionen, einmal erreicht, nicht erneut überprüft werden müssen. Vielmehr sind die Untersuchungen im Stil einer andauernden dialektischen Bewegung verfaßt, in der die nachhaltigen Zweifel, die der imaginäre Gesprächspartner artikuliert, niemals endgültig zum Schweigen gebracht werden. Da das Werk nicht in der Form eines deduktiven Arguments mit eindeutigen Thesen als Konklusionen aufgebaut ist, wird ein und dasselbe Thema wiederholt aus der Perspektive verschiedener Spezialfälle und aus verschiedenen Blickwinkeln behandelt, in der Hoffnung, insgesamt werde dieser Prozeß dem Leser helfen, die Probleme richtig zu sehen.18

3. Es liegt mir jedoch fern, Adorno als einen Doppelgänger Wittgensteins enttarnen zu wollen. Vielmehr nehme ich Kripkes entspannten Gebrauch des Begriffs »Dialektik« zum Anlass, konstellatives Denken als eine revisionäre Spielart »negativer Dialektik« zu verstehen. i. Konstellatives Denken vollzieht sich als eine offene Anreicherung korrespondierender Bestimmungen der jeweils verhandelten Gegenstände, um sie in irreduziblen Aspekten ihrer Verfassung zur Darstellung zu bringen. Ein weitergehendes Telos hat phie hieß, unangemessener, als in der Diskussion, und fast möchte man sagen, in der Beweisführung, recht behalten zu wollen« (Adorno, Minima Moralia, S. 85). 18 Saul A Kripke, Wittgenstein über Regeln und Privatsprache, Frank­furt/M. 1987, S. 13 [Übers. modifiziert, M.S.]. – Zum Verhältnis von Adorno und Wittgenstein vgl. Albrecht Wellmer, »Ludwig Wittgenstein. Über die Schwierigkeiten einer Rezeption seiner Philosophie und ihre Stellung zur Philosophie Adornos«, in: Brian McGuinness u. a. (Hg.), Der Löwe spricht… und wir können ihn nicht verstehen, Frank­furt/M. 1991, S. 138-148, sowie Rolf Wiggershaus, Wittgenstein und Adorno. Zwei Spielarten modernen Philosophierens, Göttingen 2000.

431

sein experimentierender und improvisierender Duktus nicht. Dass »der bestimmbare Fehler aller Begriffe« dazu »nötigt, andere herbeizuzitieren«,19 ist der Grund, weswegen Adorno schreibt, philosophisch zu denken sei »soviel wie in Modellen denken«.20 Diese »Modelle« aber sind nicht das, was man in den Wissenschaften üblicherweise darunter versteht. Sie sind theoretische Versuchsanordnungen, die jederzeit in weitere überführt werden können. ii. In seinen begrifflichen Untersuchungen kombiniert das konstellative Denken eine Rhetorik des Sagens mit einer Rhetorik des Zeigens, ohne die Spannung zwischen ihnen zu verleugnen. Das, was gesagt wird, wird so gesagt, dass vieles weitere anklingt, das nicht zugleich gesagt werden kann. Das, was gezeigt wird, wird so gezeigt, dass vieles weitere aufscheint, das nicht in direkte Rede übersetzt werden kann. Konstellatives Denken – und erst recht: Schreiben – ist eine Form gestischen Denkens.21 Das Ideal einer vollständigen Explikation der untersuchten Verhältnisse oder abschließenden Integration der über sie gewonnenen Erkenntnisse ist damit nicht verbunden. iii. In den beiden zuvor genannten Hinsichten verfährt konstellatives Denken vergleichsweise negativ. Es zielt nicht auf eine Synthese, die in der Lage wäre, alle »endlichen« Bestimmungen eines schönen, in Wahrheit aber schrecklichen Tages durch »unendliche« zu ersetzen. »Eine Idee ist umzufunktionieren, die vom Idealismus vermacht ward und mehr als jede Idee von ihm verdorben, die des Unendlichen.«22 iv. Zudem ist das konstellative Denken in Adornos Version radikal kritisch und somit in einem weiteren Sinn negativ. Ihre ethischpolitische Negativität beruht auf einer theoretischen wie praktischen Parteinahme für den »wahrhaften Vorrang des Besonde19 Adorno, Negative Dialektik, S. 60. 20 Ebd., S.  37. 21 Das ist die Botschaft des letzten Abschnitts der »Einleitung« der Negativen Dialektik unter der Überschrift »Rhetorik«: Adorno, Negative Dialektik, S. 63 f. – Vgl. Martin Seel, »Gedanken und Gesten«, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 11:1 (2017), S. 137-141. 22 Adorno, Negative Dialektik, S. 22.

432

ren«23 – in Formen zwangloser Erfahrung und Kommunikation sowie in der Einrichtung des sozialen Lebens. Der kritische Impuls der Philosophie Adornos bezieht seine Kraft aus einer beharrlichen Vergegenwärtigung des Potentials eigensinnigen Denkens und Handelns innerhalb existierender Gesellschaften. v. In diesem Verfahren manifestiert sich eine besondere Spielart dialektischen Denkens. Sie vollzieht sich als eine permanente Eruierung interdependenter Begriffe und Perspektiven im Namen der »Möglichkeit« des in menschlichen Gesellschaften »Möglichen«.24 Adornos Durchleuchtung miteinander unauflöslich verbundener Dimensionen des Involviertseins in mehr oder weniger restriktive gesellschaftliche Praktiken hat dabei eine durchweg korrektive Bedeutung: Im Wissen, dass Erkenntnis »keinen ihrer Gegenstände ganz inne hat«,25 widersteht dieses dialektische Denken dem intellektuellen, ethischen und politischen Phantasma einer fortschreitenden Verfügung über die Natur, das Subjekt, die Gesellschaft, die Sprache und nicht zuletzt das Denken selbst.26 vi. Der hier rekonstruierte – vergleichsweise – schwache Sinn sowohl von »Negativität« als auch von »Dialektik« ist der stärkste mögliche – und am meisten überzeugende – Sinn einer »negativen Dialektik«. vii. Der intellektuelle Stil konstellativen Denkens ist nicht das geistige Eigentum seines Namensgebers. Benjamin hätte ihm in seinem Passagenwerk ein ganz anderes Gesicht gegeben, Wittgenstein hat es sowohl im Tractatus als auch in den Philosophischen Untersuchungen getan, ebenfalls Roland Barthes in vielen seiner Schriften – um nur diese Namen zu nennen. Daraus folgt aber auch: Konstellatives 23 Ebd., S.  305. 24 Vgl. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 200. 25 Adorno, Negative Dialektik, S. 23. 26 »Heutzutage«, heißt es hierzu unter der Überschrift »Der Gedanke« in der Dialektik der Aufklärung, werde man »für den Gedanken zur Rechenschaft gezogen, als sei er die Praxis unmittelbar. Nicht bloß das Wort, das die Macht treffen will, sondern auch das Wort, das tastend, experimentierend, sich bewegt, ist allein deshalb intolerabel. Aber: unfertig zu sein und es zu wissen, ist der Zug auch jenes Denkens noch und gerade jenes Denkens, mit dem sich zu sterben lohnt« (Horkheimer, Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 261).

433

Denken ist zwar wegen seiner entschieden anti-szientistischen und anti-dogmatischen Ausrichtung auf besondere Weise »kritisch«, es darf jedoch nicht mit einer der eher literarischen Spielarten »Kritischer Theorie« Frank­furter Provenienz gleichgesetzt werden. viii. So gesehen, bleibt es auch eine offene Frage, ob Adornos Form dialektischen Denkens tatsächlich so weit von derjenigen Hegels entfernt ist, wie ich es am Beginn in meiner vereinfachten Gegenüberstellung dargestellt habe. Vielleicht lässt sich Hegels prozessuales Denken bis zu einem gewissen Grad ebenfalls als ein Modus konstellativer Reflexion verstehen.27 ix. Vor diesem Hintergrund lässt sich das konstellative Denken mit Christoph Menke als ein Modus »prozessualer Kritik« verstehen, die sich von dem Verfahren einer »dogmatischen« oder »richtenden« Kritik unterscheidet.28 Prozessuale Kritik, so möchte ich mir diesen Gedanken auf dem gegenwärtigen Stand unserer Gespräche aneignen, betrifft nicht allein die Fragwürdigkeit der Unterscheidungen, mit denen sie operiert, und folglich die Formen, in denen das Kritisierte sich präsentiert; sie betrifft stets zugleich die Form der Kritik selbst: Indem sie ihr Verfahren mit zur Darstellung bringt, stellt sie dieses zur Disposition und gibt es einer bestimmten Negation – einer Abwandlung, einer Befragung, einer Neuausrichtung – ihres Vorgehens frei.

27 Eine aufschlussreiche Parallele zwischen Hegels und Wittgensteins intellektuellem Habitus zieht Terry Pinkard, Hegel’s Naturalism. Mind, Nature and the Final Ends of Life, Oxford 2012, insbes. S. 6, 11. 28 Ich beziehe mich auf Christoph Menke, »Kritik und Paradox (oder: Kritische Theorie statt Theorie der Kritik)«, Manuskript, Frank­furt/M. 2017.

434

Andrea Kern Die Negativität des Wissens 1. Manchmal glauben wir etwas aus einem Grund, der nicht garantiert, dass die Dinge so sind, wie wir glauben, dass sie sind. Wenn wir Glück haben, ist die Überzeugung, die wir aus einem solchen Grund gebildet haben, trotzdem wahr. Stellen wir uns vor, ich habe gerade meine Brille nicht auf, schaue aus dem Fenster und sehe schemenhaft eine Gestalt die Straße entlanglaufen. Ich kann nicht sehen, dass es sich um meinen Sohn handelt, aber es gibt einige Hinweise, die darauf hindeuten, dass es mein Sohn sein könnte: etwa die Farbe der Jacke, die Körpergröße, die Uhrzeit. Wenn ich nun dazu komme zu glauben, dass da mein Sohn entlangläuft, und diese Überzeugung sich dann tatsächlich als wahr herausstellt, dann ist die Wahrheit meiner Überzeugung in gewisser Weise zufällig. Sie ist zufällig, weil der Grund, aus dem ich sie gebildet habe, die Wahrheit dieser Überzeugung nicht zwingend ausgewiesen hat. Meine Überzeugung war kein Wissen, sondern weniger als das: eine Vermutung, eine Annahme, eine bloße Meinung. Jemand, der eine wahre Überzeugung aus einem Grund bildet, der die Wahrheit dieser Überzeugung nicht zwingend ausweist, garantiert oder sicherstellt – alles äquivalente Formulierungen –, der hat kein Wissen, auch wenn die Überzeugung wahr ist. Er hat kein Wissen, weil seine Überzeugung, wenn sie denn wahr ist, nur zufällig wahr ist. Jemand, der eine Überzeugung aus einem Grund bildet, der die Wahrheit dieser Überzeugung garantiert, hat dagegen Wissen. Er hat Wissen, weil die Überzeugung, die er gebildet hat, nicht zufällig wahr ist, sondern dank jenes Grundes, aus dem er sie gebildet hat. Wittgenstein drückt diesen Gedanken so aus: »›Ich weiß‹ sagt man, wenn man bereit ist, zwingende Gründe zu geben. ›Ich weiß‹ bezieht sich auf eine Möglichkeit des Dartuns der Wahrheit.«1 Ich will im Folgenden für zwei Dinge argumentieren: Erstens, dass die richtige Weise, den logischen Unterschied zwischen Wis1 Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit, Frank­furt/M. 1984, § 243.

435

sen und bloßem Meinen zu charakterisieren, auf einem Verständnis von Wissen beruht, demzufolge Wissen das normative Ideal einer Fähigkeit ist, das ein Subjekt dadurch verwirklicht, dass es die entsprechende Fähigkeit vollkommen ausübt. Übt es diese Fähigkeit vollkommen aus, dann bildet es eine Überzeugung auf der Basis eines Grundes, der deren Wahrheit garantiert. Zweitens will ich dafür argumentieren, dass dem Wissen aufgrund seiner Verfasstheit als Fähigkeit eine besondere Art von Negativität innewohnt. Diese Negativität besteht darin, dass ein Scheitern am Wissen möglich ist, das seinen Grund nicht in einer Mangelhaftigkeit oder einem Fehler im epistemischen Verhalten des Subjekts hat, sondern in einem Widerstreit des Wissens mit sich selbst. Verstehen wir Wissen als Akt einer Fähigkeit, deren vollkommene Ausübung in einer Überzeugung besteht, die das Subjekt auf der Basis eines wahrheitsgarantierenden Grundes bildet, dann gibt dies der Rede von Überzeugungen, die einem Grund aufruhen, der weniger leistet als die Garantie der Wahrheit der fraglichen Überzeugung, einen bestimmten Sinn. Sie sind dann als Überzeugungen zu verstehen, die einen Mangel in der Ausübung eines solchen Vermögens manifestieren, dessen vollkommene Ausübung in Wissen besteht. Ich möchte dieses Verständnis von Wissen im Folgenden motivieren, indem ich es einem anderen Verständnis von Wissen entgegenstelle, dem zufolge die Negativität des Wissens darin besteht, dass Wissen für endliche Wesen ein in sich paradoxes Ideal ist. Nach dieser Vorstellung besteht die Negativität des Wissens in der unmöglichen Erreichbarkeit von Wissen, weil ein endliches Subjekt nach dieser Konzeption in der ihm gegebenen Zeit immer zu wenig tut, als es tun müsste, um Wissen zu haben. Diese Vorstellung von Wissen werde ich als widersinnig zurückweisen. Sie durchzieht, teils implizit, teils explizit, einen Großteil der zeitgenössischen Erkenntnistheorie. Die Idee eines Scheiterns am Wissen, das nicht in einem Mangel des Subjekts gegenüber dem Wissen gründet, etwa in einem Fehler, den es im Überlegen gemacht hat oder in einer Unaufmerksamkeit für die Umstände seines Tuns, die es prinzipiell beheben könnte, sondern im Wissen selbst, ist für diese Theorien unbegreiflich. Ich werde dagegen zeigen, dass für jemanden, der fähig ist, Wissen zu haben, ein Scheitern am Wissen möglich ist, das seinen 436

Grund darin hat, dass seine epistemische Fähigkeit sich selbst – nämlich durch einen Akt des Wissens – an der Erweiterung ihres Wissens hindern kann.

2. Ich will zunächst skizzieren, wie Theorien, die Wissen nicht als vollkommene Ausübung einer epistemischen Fähigkeit begreifen, versuchen, den normativen Charakter des Wissensbegriffs einzuholen. Der normative Charakter des Wissensbegriffs besteht darin, dass jemand, der etwas weiß, seine Überzeugung auf eine Weise gebildet hat, die für jene Überzeugungen, die kein Wissen sind, maßstäblich ist. Denn wer etwas weiß, hat seine Überzeugung auf eine Weise gebildet, durch die sie nicht einfach zufällig mit der Wahrheit verknüpft ist, sondern aufgrund der Weise ihrer Bildung. Diese Weise ihrer Bildung ist für das Bilden von Überzeugungen deswegen maßstäblich, weil das Bilden von Überzeugungen, ganz gleich, ob sie Wissen sind oder nicht, in einer Aktivität besteht, die intrinsisch auf die Idee der Wahrheit bezogen ist, um deren Bestimmung es einem geht, wenn man etwas glaubt. Etwas zu glauben heißt eine Tätigkeit zu vollziehen, bei der man sich dem Maßstab der Wahrheit unterwirft und sich in dem, was man tut, wenn man eine Überzeugung bildet, von diesem Maßstab leiten lässt. Der Begriff, mit dem in dieser Tradition der Erkenntnistheorie die Normativität des Wissens üblicherweise erläutert wird, ist der Begriff der doxastischen Verantwortung. Er wird in diesen Theorien verwendet, um zwischen verschiedenen Überzeugungen einen normativen Unterschied zu beschreiben, der sich auf die Art und Weise bezieht, wie der Prozess ihrer Bildung durch die Idee der Wahrheit angeleitet war. Um im Folgenden den Sinn, den der Begriff der doxastischen Verantwortung in diesen Theorien hat, genauer bestimmen zu können, müssen wir uns zunächst die Voraussetzung dieser Theorien klarmachen, auf deren Grundlage diese Theorien sodann den Begriff der doxastischen Verantwortung einführen. Sie besteht in folgendem Gedanken: Wissen ist eine wahre Überzeugung, deren Vorliegen auf der Basis eines Grundes rekonstruiert werden muss, der demjenigen Fall, in dem jemand etwas weiß, und demjenigen, in dem jemand kein 437

Wissen hat, gemeinsam ist. Denn Wissen ist eine wahre Überzeugung, die auch falsch sein könnte. Die Möglichkeit des Irrtums, so die leitende Idee, können wir nur verstehen, wenn wir annehmen, dass wahre und falsche Überzeugungen eine gemeinsame Grundlage haben. Nehmen wir als Beispiel Wahrnehmungswissen. In Anwendung auf Wahrnehmungswissen lautet die allgemeine Idee: Jemand, der etwas dadurch weiß, dass er es sieht, muss als jemand verstanden werden, der eine wahre Überzeugung hat, die er auf der Grundlage eines sinnlichen Eindrucks gewonnen hat, dass die Dinge so und so sind. Der sinnliche Eindruck als solcher impliziert aber nicht, dass die Dinge so sind, wie er auf ihrer Grundlage glaubt, dass sie sind. Wenn jemand vermittels seiner Sinne weiß, dass da eine Flasche Sprudel steht, dann heißt dies, dass er den sinnlichen Eindruck hat, dass da eine Flasche Sprudel steht. Der sinnliche Eindruck, auf dessen Grundlage er dazu kommt zu glauben, dass da eine Flasche Sprudel steht, impliziert nicht als solcher, dass da eine Flasche Sprudel steht. Es ist vielmehr ein sinnlicher Eindruck, den er auch in dem Fall haben könnte, in dem da keine Flasche Sprudel stünde. Diese Neutralität der sinnlichen Eindrücke mit Bezug auf die Wahrheit der Überzeugung erklärt, so die Idee, weshalb es möglich ist, auf der Grundlage von sinnlichen Eindrücken zu falschen Überzeugungen zu kommen. Wenn wir Wahrnehmungswissen in dieser Weise analysieren, nämlich als eine wahre Überzeugung, zu der jemand auf der Basis eines solchen sinnlichen Eindrucks kommt, das heißt eines sinnlichen Eindrucks, der für sich offenlässt, ob da eine Flasche Sprudel steht oder nicht, dann erhält der Begriff der doxastischen Verantwortung folgenden Sinn: Er unterwirft das Verhalten desjenigen, der von einem solchen sinnlichen Eindruck zur Bildung einer Überzeugung übergeht, Normen, die derart sind, dass sie diesen Übergang in wahrheitszuträglicher Weise regulieren und damit das epistemische Verhalten des Subjekts normativ bewertbar machen. Ein Subjekt, das sich an diese Normen hält, bildet seine Überzeugung auf doxastisch verantwortliche Weise. Missachtet es diese Normen, dann ist es doxastisch unverantwortlich.2 2 Vgl. zu dieser Charakterisierung bzw. zu diesem Selbstverständnis der Vertreter solcher Konzeptionen u. a. Wilfrid Sellars, »Epistemic Principles«, in: Hector-Neri Castañeda (Hg.), Action, Knowledge, and Reality, Indianapolis 1974, S. 332-347; Alvin I. Goldman, »Epistemics. The regulative theory of cognition«, in: The Journal

438

Das Gemeinsame all dieser Konzeptionen ist, dass sie – wie hier im Falle von Wahrnehmungswissen – behaupten, der Sinn des Begriffs der doxastischen Verantwortung sei es, regulative Normen der Überzeugungsbildung zu bestimmen, die den Übergang regeln, den ein Subjekt zu vollziehen hat, wenn es auf der Grundlage eines sinnlichen Eindrucks, der mit Bezug auf die Wahrheitsfrage neutral ist, eine Überzeugung bildet. Sich doxastisch verantwortlich zu verhalten soll heißen, Normen zu folgen, die festlegen, unter welchen Bedingungen ein Subjekt berechtigt ist, eine Überzeugung zu bilden, wenn es einen sinnlichen Eindruck von den Dingen hat, der als solcher normativ neutral ist. Diese Normen sollen einen normativen Unterschied zwischen Weisen der Überzeugungsbildung etablieren, die danach unterschieden werden, ob und in welchem Maße der Übergang von einem sinnlichen Eindruck hin zur Überzeugung von der Idee der Wahrheit geleitet ist. Die verschiedenen regulativen Konzeptionen von Wissen lassen sich auf einer Skala eintragen. An deren unterem Ende steht diejenige Konzeption, die am wenigsten von einem Subjekt hinsichtlich dessen verlangt, was es tun muss, um als doxastisch verantwortlich zu zählen, an ihrem oberen Ende steht diejenige Konzeption, die am meisten von einem Subjekt verlangt. Diejenige Konzeption, die am wenigsten von einem Subjekt verlangt, ist die sogenannte de­fault-and-challenge-Konzeption von Wissen. Ihr zufolge verhält sich ein Subjekt doxastisch verantwortlich, wenn es auf der Grundlage eines sinnlichen Eindrucks nur dann eine Überzeugung bildet, wenn es de facto keine Zweifel an der Wahrheit der Überzeugung hat. John Austin und Michael Williams sind die beiden prominentesten Vertreter dieser minimalen Konzeption.3 Diese Konzeption ist minimal, weil sie von einem Subjekt, solange es de facto keinen Zweifel an der Wahrheit der betreffenden Überzeugung hat, weof Philosophy LXXV (1978), S. 509-523; John L. Pollock, »Epistemic Norms«, in: ders., Joseph Cruz, Contemporary Theories of Knowledge, Lanham 1985, S. 122-151. 3 Siehe John Austin, Sinn und Sinnerfahrung, Stuttgart 1975, sowie Michael Williams, Problems of Knowledge, Oxford 2001. Ich habe das ausführlicher diskutiert in Andrea Kern, Quellen des Wissens. Zum Begriff vernünftiger Erkenntnisfähigkeiten, Frank­furt/M. 2006, S. 112-116, 318-327. In welcher Weise der Fähigkeitsbegriff mit Bezug auf Wissen mit einer genuinen Form der Negativität verknüpft ist, habe ich damals noch nicht so klar gesehen. Die obigen Überlegungen sollen diesen Zusammenhang herausarbeiten.

439

der verlangt, dass es sich aktiv um den Erwerb von Informationen bemüht, noch aktiv Überlegungen über die Umstände anstellt, in denen es sich befindet (etwa darüber, ob es ein Gehirn im Tank ist). Wer nicht daran zweifelt, den Herd ausgeschaltet zu haben, der muss nicht nochmals nachschauen, ob der Herd aus ist. Die default-and-challenge-Konzeption verlangt lediglich die Abwesenheit von Überlegungen, die Zweifel an der Wahrheit der Überzeugung wecken. Aus dieser Perspektive formulieren alle Konzeptionen von Wissen, die mehr von einem Subjekt verlangen, einen zu hohen Standard für Wissen.4 Solchen Auffassungen zufolge besteht die Quelle des epistemischen Skeptizismus folglich darin, dass der Skeptiker einen zu hohen Standard für doxastische Verantwortung ansetzt und damit für Wissen etwas verlangt, das kein Mensch je erfüllen kann. Dass es Konzeptionen gibt, die einen höheren Standard formulieren, also Normen der Überzeugungsbildung bestimmen, die mehr von einem Subjekt verlangen, liegt indes in der Logik dieser Konzeptionen. Der Sinn dieser regulativen Normen soll ja darin bestehen, einen normativen Unterschied zwischen Weisen der Überzeugungsbildung zu etablieren, die danach unterschieden werden sollen, ob und in welchem Maße die Weise der Überzeugungsbildung der Wahrheit zuträglich ist. Formuliert man daher eine anspruchsvollere Norm für doxastisch verantwortliches Verhalten, dann bedeutet dies eo ipso, dass man die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Überzeugung, die das Resultat ihrer Befolgung ist, wahr ist. Und da jemand nur dann etwas weiß, wenn seine Überzeugung wahr ist, folgt daraus, dass das Ideal einer solchen Norm in einer Regel besteht, in deren Befolgung die Wahrscheinlichkeit, dass ein Subjekt eine falsche Überzeugung bildet, null ist. Das Ideal wäre eine Regel, aus deren Befolgung das Subjekt die Wahrheit seiner Überzeugung unfehlbar schließen könnte. Dies wäre die maximale Konzeption doxastischer Verantwortung.

4 In Quellen des Wissens habe ich diese Konzeption als eine Variante der sogenannten Ermäßigungsstrategie ausführlich diskutiert und kritisiert. Vgl. vor allem ebd., S. 107-131.

440

3. Epistemischer Skeptizismus ist die Auffassung, dass ein endliches Wesen nur und genau dann Wissen besitzen kann, wenn es eine Norm gibt, die genau so ist: eine Norm, aus deren Befolgung ein endliches Wesen die Wahrheit seiner Überzeugung unfehlbar schließen kann. Doch eine solche Norm, so der Skeptiker, kann es für endliche Wesen nicht geben, denn endliche Wesen sind fehlbar. Wir können den epistemischen Skeptizismus daher als die Auffassung definieren, dass wir zwei Dinge nicht zusammen denken können: auf der einen Seite die Idee einer Überzeugung, die auf eine Weise gebildet wurde, die ausschließt, dass diese Überzeugung falsch ist – Wissen ist nichtzufällig wahre Überzeugung; und auf der anderen Seite die Idee, dass endliche Wesen mit Bezug auf ihre Überzeugungen fehlbar sind – endliche Wesen können sich irren. Beide, so argumentiert der Skeptiker, sind wesentliche Elemente des Begriffs endlichen Wissens, die aber nicht miteinander zu vereinbaren sind. Der Begriff der doxastischen Verantwortung beschreibt in diesen Konzeptionen folglich ein paradoxes Ideal: eine Norm epistemischen Verhaltens, die ein endliches Wesen nicht nur de facto unmöglich befolgen kann, sondern die genau jenen Begriff von Wissen auflösen würde, den wir durch diese Norm zu verstehen versuchen: den Begriff endlichen Wissens. Ein Irrtum wäre für jemanden, der einer solchen Norm folgen würde, nämlich prinzipiell ausgeschlossen. Der Begriff endlichen Wissens, so der Skeptiker, erweist sich als ein Begriff, den man kohärent nicht denken kann, weil er zwei unvereinbare Dinge miteinander zu verbinden versucht: einerseits die Idee eines epistemischen Verhaltens, das eine Überzeugung hervorbringt, die unmöglich falsch sein kann, und andererseits die Idee der Irrtumsanfälligkeit ebendieses Verhaltens. Erstere Idee würde verlangen, das epistemische Verhalten einer Norm der doxastischen Verantwortung zu unterwerfen, die derart ist, dass das Subjekt aus seiner Befolgung die Wahrheit seiner Überzeugung auf unfehlbare Weise schließen kann. Doch das epistemische Verhalten einer solchen Norm zu unterwerfen, hieße nichts anderes, als das epistemische Verhalten einer Norm zu unterwerfen, die den Irrtum unmöglich machen würde. Daraus folgt, dass jede Konzeption, die eine schwächere Norm 441

dafür formuliert, was es heißt, den Übergang von einem sinnlichen Eindruck hin zur Bildung einer Überzeugung auf doxastisch verantwortliche Weise vorzunehmen, als die maximale Konzeption dies verlangt, das Verhalten eines Subjekts auf eine Weise charakterisieren muss, der zufolge es aus der Perspektive des Subjekts stets verbesserungsfähig ist. Egal, welcher schwächeren Norm es folgt: Solange die Norm schwächer ist, als die maximale Konzeption es verlangt, könnte sich das Subjekt stets immer noch verantwortlicher verhalten, als es dies de facto gerade getan hat. Es könnte immer noch weitere Überlegungen anstellen und sich um den Erwerb weiterer Informationen bemühen, die für die Wahrheit der fraglichen Überzeugung relevant sind oder sich als relevant erweisen können und die es ihm erlauben würden, die Wahrscheinlichkeit, dass seine Überzeugung falsch ist, weiter zu verringern. Ihm bleibt zu jedem Zeitpunkt stets ein Spielraum dafür, mehr zu tun als das, was es de facto getan hat. Damit aber geraten wir in ein Dilemma. Denn nun scheinen wir nur die Wahl zu haben zwischen einer skeptischen Konzeption, die besagt, dass Wissen für endliche Wesen unmöglich ist, und einer Konzeption, die zugeben muss, dass sie bestenfalls erläutern kann, wie ein Subjekt eine Überzeugung haben kann, die für das Subjekt wahrscheinlich wahr ist, nicht jedoch, wie es eine Überzeugung haben kann, die für das Subjekt wahr ist.

4. Ich habe oben gesagt, dass ich zeigen möchte, dass Wissen mit einer bestimmten Art von Negativität verbunden ist, die man nur in den Blick bekommt, wenn man einsieht, dass jede regulative Konzeption von Wissen auf dem Holzweg ist. Diese Negativität des Wissens besteht in einem Scheitern am Wissen, das nicht auf einem Mangel im epistemischen Verhalten des Subjekts beruht und daher vom Subjekt weder verantwortet noch aus dem Weg geräumt werden kann. Diese Art von Negativität kann man nur begreifen, wenn man Wissen als das normative Ideal einer Fähigkeit versteht, deren vollkommene Ausübung in einer Überzeugung besteht, die dieses Ideal verwirklicht. Im Falle von Wahrnehmungswissen hieße dies, dass Wahrnehmungswissen das normative Ideal einer Fähigkeit 442

ist, deren vollkommene Ausübung in einer Überzeugung besteht, die einem sinnlichen Eindruck aufruht, der die Wahrheit dieser Überzeugung garantiert. Ich will im Folgenden ausführen, was dies genau bedeutet. Dabei wird sich zeigen, dass dieses Verständnis von Wissen das obige Dilemma auf einfache Weise auflöst, indem es uns zu einem nichtparadoxen Begriff der doxastischen Verantwortung führt. Die Pointe dieser Erläuterung wird sein, dass sie Wissen mit der Möglichkeit eines Scheiterns verbindet, das keinen Mangel im Verhalten des Subjekts zum Ausdruck bringt, sondern ein Scheitern der Fähigkeit an sich selbst, die in einen Widerstreit mit sich gerät. Eine Fähigkeit, deren Begriff ein Ideal bezeichnet, ist eine Fähigkeit der Vernunft. Fähigkeiten der Vernunft stehen in einem bestimmten Verhältnis zu ihrem Träger. Es sind wesentlich selbstbewusste Fähigkeiten, das heißt, es sind Fähigkeiten, deren Besitz einschließt, dass man ein Bewusstsein dieser Fähigkeiten hat. Dies ist das formale Verständnis, das Aristoteles im Auge hat, wenn er zwischen Fähigkeiten unterscheidet, die nicht einfach dem logos gemäß sind, sondern mit logos ausgeübt werden.5 Eine Variante dieser Auffassung gibt uns Gilbert Ryle, wenn er sagt, Fähigkeiten der Vernunft seien solche, in deren Ausübung man stets auch etwas Neues über die Fähigkeit hinzulernt und so ihre erneute Ausübung im Lichte des Hinzugelernten vollziehen kann. Etwas auf diese Weise über die Fähigkeit hinzulernen kann nur der, der ein Verständnis der Fähigkeit hat, die er ausübt, der also zumindest weiß, dass er diese Fähigkeit hat und was es heißt, die Fähigkeit, die er hat, auszuüben, der also weiß, was etwa gelungene Fälle und nichtgelungene Fälle ihrer Ausübungen sind.6 Für unsere Frage nach dem Sinn des Begriffs der doxastischen Verantwortung genügt diese grundlegende Bestimmung, denn nun können wir Folgendes sagen: Dass jemand eine Fähigkeit hat, deren Ideal Wissen ist, heißt unter anderem, dass er ein (sei es noch so rudimentäres) Verständnis davon hat, was es heißt, diese epistemische Fähigkeit auszuüben. Er hat also unter anderem ein Verständnis davon, dass der Erwerb von Wissen einer bestimmten Art, etwa Wahrnehmungswissen, vom Vorliegen bestimmter Umstände abhängt, ohne deren Vorliegen – je nach Umstand – die Ausübung 5 Vgl. vor allem Aristoteles, Metaphysik, Stuttgart 1970, X 2. 6 Vgl. u. a. Gilbert Ryle, Der Begriff des Geistes, Stuttgart 1969, S. 50.

443

seiner epistemischen Fähigkeit entweder unmöglich oder höchst schwierig ist. Jemand, der ein Verständnis davon hat, was es heißt, eine bestimmte epistemische Fähigkeit auszuüben, hat folglich ein allgemeines Verständnis von Umständen, unter denen es unmöglich oder höchst schwierig ist, diese Fähigkeit auszuüben. Jeder weiß, dass man ohne Wasser nicht schwimmen und ohne Licht nichts sehen kann. Der Begriff der doxastischen Verantwortung hat hier seinen Ort: in der Beschreibung dessen, was es heißt, eine epistemische Fähigkeit auszuüben, die man in selbstbewusster Weise besitzt. Er beschreibt nicht eine vom Ideal dieser Fähigkeit verschiedene Norm des Verhaltens, sondern die Art und Weise der Ausübung einer Fähigkeit, deren Ausübung in der Verwirklichung des Ideals des Wissens besteht. Ein Aspekt dessen, was dieser Begriff beschreibt, ist die Empfänglichkeit eines Subjekts für Überlegungen über die Umstände seines Tuns. Die Norm der doxastischen Verantwortung ist also keine Norm, die zur Fähigkeit eines Subjekts, Überzeugungen zu bilden, hinzukommt, indem es die Ausübung dieser Fähigkeit in einer Weise reguliert, die sie dem Ideal der Wahrheit näherbringt. Es ist vielmehr eine Norm, die zum Begriff jener Fähigkeit gehört, deren vollkommene Ausübung in einer Verwirklichung des Ideals des Wissens besteht.

5. Betrachten wir das genauer am Beispiel von Wahrnehmungswissen. Wahrnehmungswissen zu haben heißt, so hatten wir oben gesagt, im Besitz einer Fähigkeit zu sein, deren vollkommene Ausübung in einer Überzeugung besteht, die einem sinnlichen Eindruck aufruht, der die Wahrheit dieser Überzeugung garantiert. Jemand, der im Besitz dieser Fähigkeit ist, hat kraft dessen ein wie auch immer rudimentäres Verständnis davon, was es heißt, diese Fähigkeit auszuüben. Darin liegt, dass er empfänglich ist für Überlegungen über die Umstände der Ausübung dieser Fähigkeit, im Falle der visuellen Wahrnehmung etwa für Überlegungen über die Lichtverhältnisse, die Entfernung der wahrgenommenen Gegenstände etc. Diese Empfänglichkeit für Überlegungen über die Umstände macht einen Aspekt dessen aus, was es heißt, dass das Subjekt einer 444

epistemischen Fähigkeit dadurch, dass es im Besitz dieser Fähigkeit ist, einer Norm der doxastischen Verantwortung untersteht. Nach regulativen Konzeptionen besteht der Sinn dieser Norm darin, den Übergang zu regulieren, den ein Subjekt zu vollziehen hat, wenn es von einem sinnlichen Eindruck, der mit Bezug auf Wahrheit und Wissen neutral ist, zur Bildung einer Überzeugung übergeht. Diesen Sinn kann diese Norm jedoch nicht haben, wenn wir Wahrnehmungswissen als vollkommene Ausübung einer Fähigkeit verstehen, deren Ideal dieses Wissen ist. Wenn wir Wahrnehmungswissen auf diese Weise als Fähigkeit verstehen, dann ist die Idee eines solchen Übergangs widersinnig. Für ein Subjekt, das Wahrnehmungswissen auf diese Weise versteht, ist es logisch unmöglich, einen solchen Übergang zu vollziehen. Das liegt daran, dass ein Subjekt, das Wahrnehmungswissen als vollkommene Ausübung einer Fähigkeit versteht, deren Ideal dieses Wissen bezeichnet, keinen sinnlichen Eindruck von Dingen haben kann, ohne dabei sein Bewusstsein dieser Fähigkeit zum Tragen zu bringen. Daraus aber folgt, dass ein solches Subjekt keinen sinnlichen Eindruck von Dingen haben kann, ohne seinen sinnlichen Eindruck entweder als eine vollkommene Aktualisierung dieser Fähigkeit zu verstehen, oder aber als einen sinnlichen Eindruck, der diese Fähigkeit in irgendeiner Hinsicht nicht vollkommen aktualisiert. Machen wir uns das genauer klar: Wer eine bestimmte Fähigkeit hat, tut eins von zwei Dingen: Entweder übt er diese Fähigkeit aus oder er übt sie nicht aus. Stellen wir uns nun vor, es handle sich dabei um eine Fähigkeit, deren Ausübung an das Vorliegen bestimmter Umstände gebunden ist, die nicht immer vollständig oder in vollkommener Weise vorliegen müssen. Nennen wir dies eine umständeabhängige Fähigkeit. Jede Fähigkeit, die eine Fähigkeit zu etwas Bestimmtem ist, das verschieden ist von etwas anderem, zu dem sie keine Fähigkeit ist, ist eine in diesem Sinne umständeabhängige Fähigkeit. Wenn jemand eine solche Fähigkeit ausübt, dann müssen wir das so charakterisieren, dass er dabei stets eine der beiden folgenden Möglichkeiten realisiert: Entweder er übt die Fähigkeit vollkommen aus, was gleichbedeutend damit ist, dass jene Umstände vollkommen vorliegen, in deren Vorliegen die Ausübung der Fähigkeit besteht. Oder er übt die Fähigkeit nicht vollkommen aus, das heißt, er vollzieht einen Akt, der nicht vollkommen durch die Fähigkeit – und das heißt 445

durch die zu ihr gehörigen Umstände – bestimmt ist, sondern Bestimmungen aufweist, die ihre Quelle nicht in der Fähigkeit haben. Dies bedeutet, dass die Fähigkeit mangelhaft ausgeübt wird. Denn es bedeutet, dass der Akt Bestimmungen aufweist, die der Begriff der Fähigkeit nicht enthält, sondern für deren Erklärung wir über die Fähigkeit hinausblicken müssen. Wir drücken das gewöhnlich so aus, dass wir eine solch mangelhafte Ausübung mit dem Vorliegen ungünstiger Umstände erklären. Etwas liegt vor, das denjenigen, der die Fähigkeit hat, daran hindert, sie vollkommen auszuüben – wie etwa, wenn jemand, der laufen kann, über einen Stein stolpert, den er nicht gesehen hat. Für ein Subjekt, das eine Fähigkeit in selbstbewusster Weise besitzt, steht folglich jeder Akt einer solchen Fähigkeit im Horizont der beiden folgenden Möglichkeiten: Es kann einen Akt dieser Fähigkeit entweder als eine vollkommene oder aber als eine mangelhafte Ausübung dieser Fähigkeit verstehen. Daraus folgt, dass es für jemanden, der sich seiner Fähigkeit, Wahrnehmungswissen zu erwerben, in dieser Weise bewusst ist, logisch unmöglich ist, einen sinnlichen Eindruck von Dingen zu haben, der mit Bezug auf Wahrheit und Wissen neutral ist. Es ist logisch unmöglich, weil das Subjekt einer epistemischen Fähigkeit sich selbst nur entweder so verstehen kann, dass es wahrnimmt, wie die Dinge sind, und also berechtigt ist zu glauben, dass sie so sind, wie es sie wahrnimmt; oder aber so, dass es einen sinnlichen Eindruck hat, der in irgendeiner Hinsicht mit Bezug auf den Erwerb von Wissen mangelhaft ist. Sich als Subjekt eines sinnlichen Eindrucks zu verstehen, heißt für das Subjekt einer vernünftigen Erkenntnisfähigkeit, sich entweder als Subjekt einer Wahrnehmung zu verstehen, die es ohne weiteres, unmittelbar berechtigt zu glauben, was es wahrnimmt, oder aber als ein Subjekt, dessen Fähigkeit, Wahrnehmungswissen zu erwerben, aufgrund bestimmter Umstände beeinträchtigt ist, und es daher nicht ohne weiteres berechtigt ist, das zu glauben, was sein sinnlicher Eindruck ihm vorstellt. Für das Subjekt einer epistemischen Fähigkeit ist daher die Idee eines Übergangs von einem normativ neutralen sinnlichen Eindruck hin zur Bildung einer Überzeugung – und eo ipso die Idee von Normen, die diesen Übergang regulieren könnten – widersinnig.

446

6. Der Begriff der doxastischen Verantwortung beschreibt, was es heißt, jene Fähigkeit der Vernunft auszuüben, deren Ausübung in Überzeugungen besteht, die, wenn die Fähigkeit vollkommen ausgeübt wird, Wissen sind. Dies bedeutet unter anderem, so haben wir oben gesagt, für Überlegungen über die Umstände der Ausübung dieser Fähigkeit empfänglich zu sein. Übt das Subjekt diese Fähigkeit vollkommen aus, dann schließt dies entsprechend ein, dass es seine Fähigkeit doxastisch verantwortlich ausübt. Doch dass es seine Fähigkeit doxastisch verantwortlich ausübt, schließt nicht eo ipso ein, dass es Wissen hat. Jemand kann doxastisch verantwortlich sein und dennoch kein Wissen erwerben, etwa wenn er einen sinnlichen Eindruck von den Dingen unter Umständen hat, unter denen die Dinge anders erscheinen, als sie sind. Versteht man den Begriff der doxastischen Verantwortung auf diese Weise, ist er nicht länger paradox. Er beschreibt dann kein paradoxes Ideal, dem wir uns immer nur annähern können, sondern er beschreibt eine Wirklichkeit: die Wirklichkeit einer epistemischen Fähigkeit.

7. Der Kontrast zwischen den beiden Konzeptionen von Wissen, die wir oben einander gegenübergestellt haben, wird nirgends deutlicher als darin, dass letztere mit einem Verständnis von Wissen einhergeht, demzufolge es logisch möglich ist, dass ein Subjekt genau dadurch, dass es in einer bestimmten Situation etwas weiß, gehindert ist, ein bestimmtes Wissen zu erwerben, das es ohne dieses Wissen erwerben würde, und zwar genau deswegen, weil dieser Erwerb für es doxastisch unverantwortlich wäre. Das heißt, nach dieser Konzeption ist es nicht nur nicht so, dass doxastische Verantwortung kein Wissen impliziert. Es ist sogar so, dass es Situationen geben kann, in denen das Einzige, was einen daran hindert, in dieser Situation Wissen zu erwerben, darin besteht, dass man über ein bestimmtes Wissen über diese Situation verfügt, das es für einen doxastisch unverantwortlich machen würde, etwas Bestimmtes zu glauben, was man ohne dieses Wissen vollkommen verantwortlich 447

hätte glauben können. Einen solchen Fall kann man nur verstehen, wenn man den Gedanken zurückweist, dem zufolge die epistemische Situation eines Subjekts als solche – ganz gleich, was es tut und wie viel es weiß – stets verbesserungsfähig ist. Die Farbwahrnehmung gibt uns ein Beispiel, wenn wir einen Fall variieren, den sich ursprünglich, und zu einem anderen Zweck, Sellars ausgedacht hat.7 Angenommen, ich möchte ein blaues Kleid kaufen. Die freundliche Verkäuferin sagt mir, dass die Lichtverhältnisse im Laden derart sind, dass alles, was lila ist, als blau erscheint. Alle anderen Farben erscheinen genau so, wie sie sind. Das Kleid, das ich in Händen halte, erscheint mir blau. Ich würde es gerne kaufen, weil es genau das Blau zu haben scheint, nach dem ich gesucht habe, doch solange ich im Laden stehe, kann ich nicht erkennen, ob das Kleid tatsächlich blau ist. Was mich daran hindert, ist das Wissen, dass unter den gegebenen Lichtverhältnissen auch alles, was lila ist, als blau erscheint. Ich trete also aus dem Geschäft ins Freie und sehe, dass das Kleid tatsächlich genau die Farbe hat, die es auch im Geschäft zu haben schien, nämlich blau. Ich gehe gerade wieder hinein, als auch eine Freundin von mir den Laden betritt. Sie sieht mich mit dem Kleid und meint, dass es ganz toll aussehe, vor allem das Blau würde ganz wunderbar passen. Sie kann erkennen, was ich vorhin nicht erkennen konnte, nämlich dass das Kleid blau ist. Was mich von ihr unterscheidet, ist, dass ich ein Wissen über die Lichtverhältnisse hatte, das sie nicht hat. Dieses Wissen über die Lichtverhältnisse hätte es für mich doxastisch unverantwortlich gemacht, zu glauben, dass das Kleid blau ist. Sie dagegen kann unmittelbar sehen, dass das Kleid blau ist. Das Wissen, das ich von den Lichtverhältnissen habe, ist ein rationales Hindernis dafür, meinen sinnlichen Eindruck eines blauen Kleids als das zu erkennen, was er ist: ein wahrheitsgarantierender Grund zu glauben, dass das Kleid blau ist. Aus meiner Perspektive wäre es doxastisch nicht verantwortlich gewesen, aufgrund meines sinnlichen Eindrucks zu glauben, das Kleid sei blau. Unsere Freundin hatte dieses Wissen nicht, und darum war es für sie nicht doxastisch unverantwortlich, ihren sinnlichen Eindruck eines blauen Kleids als Grund dafür zu erkennen, zu glauben, dass das Kleid blau ist. 7 Vgl. Wilfrid Sellars, Empiricism and the Philosophy of Mind, Cambridge/Mass. 1997, § 14.

448

Versteht man Wissen als eine irreduzible Fähigkeit der Vernunft, dann räumt man die Möglichkeit des Scheiterns ein, bei der das Einzige, was jemanden daran hindert, ein bestimmtes Wissen zu erwerben, darin besteht, dass er ein bestimmtes Wissen über die äußeren Umstände seiner Fähigkeit hat, die er, wenn er dieses Wissen nicht gehabt hätte, als eine Gelegenheit zum Wissenserwerb hätte ergreifen können. Man räumt damit die Möglichkeit ein, dass eine bestimmte Situation für zwei Subjekte insofern identisch sein kann, als für beide die Gelegenheit zum Wissenserwerb besteht, doch nur das eine Subjekt diese Gelegenheit zum Wissenserwerb ergreifen kann, das andere hingegen nicht. Genau das ist oben der Fall. Ein solcher Fall des Scheiterns am Wissen besteht in einer Art von Negativität, die dem Wissen nicht aufgrund von etwas anderem zukommt, das es nicht selber ist, sondern die dem Wissen durch sich selbst zukommt. Sie besteht in einer Verneinung von Wissen durch einen Akt des Wissens. Und genau darum entzieht sich diese Art von Negativität nicht nur der Verantwortung des Subjekts, sondern macht sie prinzipiell unvermeidbar. Denn es ist eine Negativität, die nicht darin besteht, dass das Subjekt etwas fehlerhaft macht oder eine Unzulänglichkeit manifestiert, sondern darin, dass das Subjekt, aufgrund seiner epistemischen Fähigkeit, für ein bestimmtes Wissen über die Umstände seiner Fähigkeit empfänglich ist, welches es in dieser Situation daran hindert, seine Fähigkeit so auszuüben, dass es Wissen erwirbt. Ein solches Scheitern, das das Wissen durch sich selbst heimsucht, kann man nur begreifen, wenn man Wissen als Ideal einer epistemischen Fähigkeit versteht, deren vollkommene Ausübung in der Verwirklichung dieses Ideals besteht. Solange man an der Idee festhält, doxastische Verantwortung sei eine Norm der Verhaltensregulierung, deren Sinn es ist, die Wahrscheinlichkeit von Wahrheit und Wissen zu erhöhen, kann man diese Art von Negativität des Wissens, die nicht in einem Mangel oder Fehler des Subjekts gründet, sondern in einem Wissen des Subjekts, nicht begreifen. Dann kann man nicht begreifen, dass es ein Wissen geben kann, das sich dem Erwerb desjenigen Wissens in den Weg stellt, das man ohne dieses Wissen auf doxastisch verantwortliche Weise erworben hätte. Denn dann beschreibt man die Situation desjenigen, der versucht, Wissen zu erwerben, auf eine Weise, die impliziert, dass es für das Subjekt in jeder gegebenen 449

Situation prinzipiell möglich ist, sich dadurch, dass es sich weitere Informationen über die Situation beschafft, noch verantwortlicher zu verhalten, als es sich de facto verhalten hat.8 Für jemanden, der eine Fähigkeit besitzt, deren vollkommene Ausübung in einem Akt des Wissens besteht, ist eine solche Idee widersinnig. Die Idee eines immer verantwortlicheren Verhaltens und damit die Idee einer unendlichen Annäherung an ein niemals zu erreichendes Ideal der Verantwortung kann auf einen Erkenntnisfähigen keine Anwendung finden. Jemand, der sieht, dass das Kleid blau ist, befindet sich in einer Situation, in der es für ihn nichts gibt, wodurch er seine kognitive Situation verbessern und sich dadurch doxastisch noch verantwortlicher verhalten könnte. Er ist vielmehr in einer Situation, in der er einen Grund hat zu glauben, dass das Kleid blau ist, der die Wahrheit seiner Überzeugung garantiert. Dass er diesen Grund in der obigen Situation deswegen nicht ergreifen kann, weil er ein Wissen über die Umstände hat, das es für ihn doxastisch unverantwortlich macht, zu glauben, das Kleid sei blau, kann nur jemand verstehen, der sein Wissen als Ausübung einer Fähigkeit versteht, die – wenn sie nicht behindert wird – ihm Gründe verfügbar macht, die die Wahrheit seiner Überzeugungen garantieren.

8 Vgl. dazu die These von Robert Fogelin, Pyrrhonian Reflections on Knowledge and Justification, Oxford 1994, S. 31 f.

450

Frank Ruda Menkes Gegenstoß In der Wechselwirkung […] sollen zwei Substanzen gegeneinanderstehen. Aber ihre Substantialität ist nichts als diese Totalität ihres Bestimmens, des Gegenstoßes in sich, welcher die manifestierte Notwendigkeit, der Begriff, ist. G. W. F. Hegel1

1. Frage und Antwort Jemand hat einmal behauptet, es gebe zwei Arten von Philosophie: eine, die fragt, und eine, die antwortet. Denker wie Heidegger, Derrida, Kant auf der einen, Denker wie Descartes, Spinoza, Badiou, Hegel auf der anderen Seite. Doch nicht immer fällt es leicht, die richtige Zuordnung zu finden. Platon, so kann es scheinen, könnte auf beiden Seiten stehen. Aber es gibt nicht nur problematische Einzelfälle, die Unterscheidung selbst scheint auf den ersten Blick instabil. Denn einerseits gehen fragende Philosophien nicht selten so vor, dass sie allererst in Frage stellen, was es überhaupt bedeutet, eine Frage zu stellen. Sie geben dann, wie es scheint, Antwort darauf, was es heißt, fragend zu denken. Andererseits geben antwortende Philosophien Antwort, und worauf sollte man Antwort geben, wenn nicht auf eine vorgängige Frage? Es scheint also ein direkter Weg von jeder Seite auf die jeweils andere zu führen und somit letztlich doch nur eine Philosophie zu geben, obgleich damit undeutlich zu werden scheint, ob diese als solche eine der Frage oder der Antwort ist. Aber Philosophien der Antwort geben nicht einfach bloß Antworten auf Fragen, die ihnen vorhergehen. Häufig geben sie mit ihrer Antwort zugleich Antwort darauf, warum am Anfang keine Frage steht, sondern die Notwendigkeit einer Entscheidung – sie diagnostizieren eine anfängliche Unentscheidbarkeit, so dass Den1 G.  W.  F. Hegel, Vorlesungen über Logik und Metaphysik. Heidelberg 1817, hg. v. Karen Gloy, Hamburg 1992, S. 136.

451

ken überhaupt nur mit einer Entscheidung beginnen kann.2 Rekonstruiert man die Unterscheidung auf diese Weise, so gibt es Philosophien der Frage, die beantworten, was es heißt zu fragen, und Philosophien der Antwort, die entscheiden, warum man nur mit einer Antwort beginnen kann. Dann scheint es aber aus der Perspektive der Philosophien der Antwort, als gäbe es Philosophie überhaupt nur als eine der Antwort. Betont man wiederum andererseits, dass für Philosophien der Frage gerade die Fragwürdigkeit3 so eng mit dem Wesen der Philosophie verbunden ist, dass sie grundlegend noch zu einem Infragestellen der Philosophie führen muss, dann gibt es für Philosophien der Frage keine Philosophie, die nicht Philosophie in Frage stellen würde. Für Philosophien der Frage gibt es Philosophie nie als eine der Antwort. Während Philosophien der Antwort entscheiden, dass kein Anfang (in der Philosophie und im Denken) mit einer Frage gemacht werden kann, bleibt den Philosophien der Frage jede Antwort eine nicht gedachte Fragwürdigkeit, ein Schritt, der zum Anfang (der Philosophie oder des Denkens) noch getan werden muss. Es handelt sich bei den Philosophien der Frage und denen der Antwort um zwei grundlegend verschiedene Verständnisse dessen, was Philosophie ist – um je andere modi operandi der Philosophie, die sich wechselseitig ausschließen. Es gibt daher nicht einfach zwei Typen Philosophie, die friedlich koexistieren. Denn man versteht nicht nur anders, was man tut, wenn die eigene Philosophie eine der Antwort oder eine der Frage ist, man tut, was man tut, auch anders. Beide sind aber auch nicht im Streit miteinander, vielmehr gibt es zwischen ihnen kein Verhältnis. Die Philosophie bewegt sich in ihrer Geschichte zwischen einem Denken als Infragestellen noch der Philosophie und einem Denken, das entschlossen antwortet, womit der Anfang des Denkens und der Philosophie gemacht werden muss. Dazwischen gibt es keinen neutralen Grund, keine Beziehung.

2 Etwa: Ist alles eines oder vieles; ist alles in Bewegung oder Ruhe, gibt es ein Ganzes oder nicht, etc. 3 Paradigmatisch: »alles kommt auf die Fragwürdigkeit an« (Martin Heidegger, Was heißt Denken?, in: Gesamtausgabe, Bd. 8, Frank­furt/M. 2002, S. 189).

452

2. Anders Denken Christoph Menke ist entschiedener Philosoph der Antwort. Sein Begriff der Kraft gibt eine grundlegende Antwort darauf, wie sich Konstitution und Veränderung von Subjekten und Praktiken denken lassen. Menkes Antwort ist eine Antwort im ausgeführten Sinne. Sie entscheidet, dass Veränderungsprozesse angemessen zu denken bedeutet, eine Transformation aller philosophischen Grundbegriffe und damit der Praxis und Theorie der Philosophie zu vollziehen.4 Das meint nicht, neue, andere Begriffe einzuführen, sondern zielt auf ein anderes Begreifen des Begriffs. Ein Name dafür ist Ästhetisierung.5 Er bezeichnet einen neuen modus operandi nicht nur der Philosophie, sondern des Denkens überhaupt.6 Nicht nur denkt man anderes – etwa andere Gegenstände –, wenn man ausgehend von Menkes Antwort denkt. Vielmehr denkt man anders, in anderer Weise. Pointierter formuliert: Menkes Antwort, und erst das macht seine Philosophie zu einer der Antwort, impliziert, dass man nur dann denkt, wenn man anders, in anderer Weise denkt. Denn ausgehend vom Begriff der Kraft zu denken meint, nicht nach vorgegebenen Normen, Gesetzen und Regeln zu denken. Das bedeutet: Denken ist in entschiedener Weise nicht gesetzlich, regelhaft und normiert. Es ist vielmehr (als Denken der Kraft) illegal, extraordinär und anormal, weil sich die Kraft (des Denkens) gerade im Bruch mit jeder Form etablierter Normativität und Struktur Ausdruck verleiht. Bestimmt man den Begriff des Denkens ausgehend von Menkes Antwort, dann ist Denken nur dann wirklich Denken, wenn es eine Veränderung und Veranderung seiner selbst beinhaltet. Wirkliches – als sich verwirklichendes – Denken impliziert die Selbstrevolutionierung des Denkens. Denken ist in diesem Sinne Gegen-Denken – ein Denken gegen das, was (jetzt oder überhaupt) 4 Vgl. Christoph Menke, Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frank­ furt/M. 2008, S. 8. Dass man nicht nur das Andere denken muss, sondern auch das, was man denkt, anders denken muss – etwa die Begriffe des Subjekts, des Selbstbewusstseins, usw. –, ist eine andere Formulierung dieses Gedankens; vgl. ebd., S. 23. 5 Vgl. etwa Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, Berlin 2013, S. 111-131. 6 »Das Programm einer Verwandlung der Praxis« – also dasjenige Menkes – »zielt auf eine andere Vollzugsweise des Tuns«, auch der des Denkens (Menke, Kraft, S. 114).

453

als Norm, Gesetz und Zweck des Denkens und damit als Denken erscheinen mag.7 Durch die entschiedene Zurückweisung dieser philosophisch-begrifflichen Trinität, dieser »drei Grundformen des Allgemeinen«,8 bestimmt sich die Kraft der menkeschen Antwort. Das impliziert ebenfalls, dass man nur dann denkt, wenn man tut, was man nicht schon vorab kann.9 Denn auch für das Denken muss gelten, was für ein solches anderes Tun überhaupt gilt. Es beinhaltet eine Art (aktives) Vergessen von Zwecken, Normen und Gesetzen,10 so dass man sich einer Vollzugsweise der Praxis überlässt, die man vorab nicht für möglich gehalten hat. Wirklich denkend tut man, was man nicht für ein (mögliches) Tun gehalten hat. Kurz: Denken meint (vorab) unmögliches Tun.11 Das heißt aber, Denken denkt nur dann, wenn sich seine Selbstrevolutionierung nicht aus einem gegebenen Denkvermögen ableiten lässt. Denken kann nicht von sich aus denken. Es ist kein Vermögen, das sich in einem Denkakt aktualisieren würde. Denken muss vielmehr eine von außen, genauer: aus einem inneren Außen erzwungene Selbstrevolutionierung sein. Denken ist immer Resultat von Denkzwang. Man denkt nur dann, wenn man gezwungen ist, anders, in unmöglicher Weise zu denken, nämlich so, dass man denkend Denken revolutioniert. Als Gegen-Denken nimmt Denken immer von einem inneren-äußeren, extimen Denkanstoß seinen Verlauf und geht von Denkanstoß und Denkgegenstoß zum nächsten. Denken denkt nur, wenn es sich übersteigt. Und es konstituiert sich selbst – nahezu kleistisch – im Akt seines erzwungen 7 Als ein solches kann Denken als Gegen-Denken nicht kantische, sondern muss, wenn überhaupt, ein anderer Typ von Selbstreflexion sein. Vgl. Menke, Kraft, S. 54-58.  8 Ebd., S.  59.  9 Es geht grundlegend um Situationen, »in denen wir also etwas tun, was wir nicht können« (Christoph Menke, »Ästhetik der Gleichheit«, in: dOCUMENTA 13: 100 Notizen – 100 Gedanken, Nr. 10, Ostfildern 2011, S. 30). 10 Der Ursprung des Denkens ist so mit dem, was Nietzsche »aktive Vergesslichkeit« nennt, verbunden; siehe Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: KSA, Bd. 5, München 1999, S. 291. 11 In diesem Sinne ist noch »Leben« etwas, das man nicht einfach immer schon tut oder tun kann. Siehe dazu Menke, Kraft, S. 115-129. Hier steht Menkes Projekt dem Badious nahe, der die Aufgabe der Philosophie u. a. so bestimmt, dass diese zu denken hat, was es heißen kann, ein wahres Leben zu führen. Vgl. Alain Badiou, Logiken der Welten. Das Sein und das Ereignis 2, Zürich, Berlin 2010, S. 535-543.

454

selbstrevolutionären Vollzugs, den es selbst aus sich heraus nicht tun kann.

3. Unbestimmtheit – Verwendung Die Kraft der menkeschen Philosophie lässt aber dennoch, oder gerade deswegen, viele mit Fragen zurück. Diesen liegt zumeist eine kritische Annahme zugrunde, die lautet: Menkes Antwort ist keine Antwort. Das soll so sein, weil die Antwort der menkeschen Philosophie und damit ihr eigentlicher Ausgangspunkt letztlich unbestimmt bleibt.12 Und das scheint sich wiederum daraus zu ergeben, dass sich diese Antwort normativen, gesetzlichen und zweckhaften (ebenso wie absichtsvollen und selbstbewussten) Bestimmungen entgegensetzt. Eine Antwort, die etwa nicht den Zweck der Antwort erfüllt, ist keine Antwort, so die Kritiker, und weil sie sich grundsätzlich dem Bereich der Bestimmung entgegensetzt, bleibt unklar, was sie sein und sagen soll. Die kritische Annahme lautet folglich: Eine Antwort ist keine Antwort, wenn sie unbestimmt ist. Denn, so die Kritik weiter, Unbestimmtheit bleibt, wider Willen, bestimmt – zumindest als Negation von Bestimmtheit. Die wider Willen eingeführte Bestimmung soll dazu führen, dass Menkes Philosophie nicht die Antwort gibt, die sie zu geben glaubt. Es handelte sich im zweifachen Sinne um eine Antwort, die sich selbst negiert: um eine Form der Antwort, die keine Antwort gibt, und die (deswegen) anderes sagt, als sie sagen will. Ersteres lässt Kritiker Menke eine Liebe zur Paradoxie attestieren und sein Denken als philo-paradoxia und nicht als philo-sophia klassifizieren. Zweiteres führt dazu, in Menkes Position entweder eine negative Substanzmetaphysik nahezu schopenhauerscher Prägung zu erkennen, bei der der Begriff der Kraft den des Willens ersetzt, oder aber dazu, Menkes Antwort nicht nur als (metaphysisch) fragwürdig, sondern letztlich als Ausdruck einer metaphysischen Frage zu deuten. Aus einer solchen Perspektive läge die eigentliche Paradoxie darin, dass Menkes Philosophie als eine der Antwort erscheinen will, aber letztlich und wider Willen doch eine der Frage ist und bleibt. Das Paradox hinge an der Differenz von Sein und Erscheinen. 12 Menke nennt dies »die zum Begriff entfaltete Unbestimmtheitsbehauptung«, deren negative Formulierung sich bei Descartes findet (Menke, Kraft, S. 57).

455

Nun weiß jeder Leser Menkes, dass in der Tat ein UnbestimmtWerden-und-Machen konstitutiver Bestandteil seiner Philosophie ist.13 Ob die angeführten Kritiken treffend sind, hängt somit davon ab, ob sich Unbestimmtheit ausschließlich als (letztlich abstrakte) Negation von Bestimmtheit denken lässt oder nicht. Es gilt erneut zu fragen: Wie versteht man eine Antwort, deren Paradigma eine unbestimmte Negation ist?14 Was wäre eine Unbestimmtheit, die die Unterscheidung von unbestimmt und bestimmt unterminierte? Eine andere Form von Unbestimmtheit? Erinnert man sich an die berühmte Formel Maos, dass sich Eins in Zwei teilt, kann man hier fragen, wie teilt sich Unbestimmtheit in Zwei? Bereits Hegel hat in seiner Phänomenologie angemerkt, dass die (zweckhafte, gesetzmäßige und normierte) Form des Satzes nicht angemessen ist, um spekulative Wahrheiten – vielleicht auch: Antworten – auszudrücken. Denn die Form des Satzes ist fixe, fixierte Form, die »ein festes Resultat ist«.15 Aber Wahrheit lässt sich nicht als ein solches Resultat fassen. Zugleich gilt für Hegel aber ebenso nicht, dass Wahrheit deswegen unbestimmbar oder unaussprechlich wäre16 oder aber sich nur in anderer, künstlicher Sprache sagen ließe. Vielmehr bringt Philosophie sie zur Darstellung, indem sie die geläufige Sprache defamiliarisiert und entfremdet. Sie entfremdet, was wir für das Gewöhnlichste halten, indem sie einen anderen Gebrauch von der Form des Satzes macht. Das meint auch, dass sich nichts ohne die Form des Satzes ausdrücken und darstellen lässt. Es gibt daher für die angemessenere Darstellung von Wahrheit im ersten Schritt notwendig nur eine ihr unangemessene, falsche Form. Wie immer bei Hegel geht das Falsche dem Wahren voran und nur im Durchqueren des Ersten wird ein Zugang zum Zweiten möglich. Auch mit der Darstellung spekulativer Wahrheit(en) kann man es dementsprechend nicht anders als zunächst falsch machen. Man kann also nicht anders als sich in Sätzen 13 Weswegen er von einem »Unbestimmtmachen« (Menke, Kraft, S. 87) der »Praxis des Bestimmens« (ebd., S. 83) spricht. 14 Vgl. Christoph Menkes Vortrag »The Standstill of Habit. The Beginning of Liber­ ation«, 〈http://www.ikkm-weimar.de/publikationen/video-audio/ikkm-lectures/ the-standstill-of-habit-the-beginning-of-liberation〉, letzter Zugriff 23. 3. 2018. 15 G.  W.  F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Werke, Bd. 3, Frank­furt/M. 1986, S. 41. 16 Vgl. dazu Jean Hyppolite, Logique et existence, Paris 1961, S. 7-68.

456

ausdrücken, in denen man nicht ausdrücken kann, was man ausdrücken will. Daher gilt es einen spezifischen Gebrauch des Satzes zu machen, den Hegel so fasst, dass er den Begriff des spekulativen Satzes einführt.17 Der spekulative Satz ist ein Satz, der das Satzhafte des Satzes im Durchgang durch den Satz aussetzt. Ein Ent-Setzen des Satzes in dessen Vollzug.18 Menke teilt in vielfacher Hinsicht Hegels Diagnose und philosophische Methode. Er sucht, ebenso wie Hegel, methodisch das Denken von seinem vorgezeichneten – gesetzlichen und gesetzten – Weg abzubringen, hin zu einem »Wendungspunkt«,19 dessen Name »Kraft« lautet. Die entschiedene Antwort der menkeschen Philosophie hat damit den Charakter einer (überraschenden) Wendung.20 Die Methode und damit Praxis des Philosophierens, die sich ausgehend von einer solchen Wendung entwerfen lässt, kann nicht länger der »immer gesetzmäßige[n] Folge eines Nachfolgenden aufs Frühere« unterstehen.21 Aber es handelt sich bei ihr zugleich nicht um einen bloßen Umweg, »Abweg«,22 und ebenso nicht um eine Kehre. Wie denkt man methodisch von einem Wendungspunkt aus und immer wieder auf einen solchen zu? Der Gang einer solchen Methode muss selber Wende, Wendung, nicht nur Rede‑, sondern Denkwendung werden. Vielleicht kann man – um eine weitere Kategorie der berühmten Liste der freudschen Ver-Kategorien des Versprechens, Verlesens, Vergessens, Verleugnens, der Verneinung, usw. hinzuzufügen – sagen: Verwendung.23 Menkes Philosophie verwendet, das heißt, sie macht einen anderen Gebrauch von der Antwort und des Denkens und so noch von 17 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 59. 18 Man kann – und sollte – hier an Benjamins Begriff der entsetzenden Gewalt denken, der in die gleiche Richtung deutet. Vgl. Christoph Menke, Recht und Gewalt, Berlin 2012, S. 59-104. Siehe ebenso Rebecca Comay, Frank Ruda, The Dash – The Other Side of Absolute Knowing, Cambridge/Mass. 2018. 19 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 573. 20 Man könnte auch sagen, dass hier die Antwort Pointe oder Pointierung ist. 21 Theodor W. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frank­furt/M. 1990, S. 19. 22 G.  W.  F. Hegel, Wissenschaft der Logik I, in: Werke, Bd. 5, Frank­furt/M. 1986, S. 294. 23 Menke selbst verwendet die Kategorie der Verwandlung – etwa wenn er schreibt, dass ästhetische Veränderung »die praktischen Vermögen in dunkel spielende Kräfte […] verwandelt« (Menke, Kraft, S. 73).

457

der Philosophie. Diese Verwendung steht dem Verfahren nahe, das Hegel als spekulativen Satz beschrieben hat. Wie aber ist die Verwendung verfasst und wie verhält sich die Verwendung der Antwort zu den angeführten Kritiken Menkes? Eine kurze (und in gewissem Sinn verkürzende) Antwort auf diese Fragen lässt sich geben, wenn man den eigentümlichen Begriff erläutert, den Hegel eingeführt hat, um die Vollzugsweise des spekulativen Satzes genauer zu bestimmen. Seine Pointe liegt dabei darin, einen Wendungspunkt in die Vollzugsweise des Satzes und Denkens, in ihren Gebrauch einzutragen.

4. Gegenstoß Der Begriff Hegels, der diese (andere) Verwendung des Satzes im spekulativen Satz zusammenfasst, ist der des »Gegenstoßes«.24 Was ist ein Gegenstoß? Zunächst kann man festhalten: Gegenstoß ist nicht Anstoß – eine entscheidende Differenz. Ein Anstoß übt eines auf ein anderes aus. Und in diesem Sinne ist »Anstoß« Fichtes – vielleicht interessantester, weil paradoxalster – Begriff, der den Grund, die Veranlassung für die Selbst-Setzung des Ich angibt.25 Der Gegenstoß ist hingegen nicht der Grund oder Motor einer souveränen (und aufgrund seiner Veranlassung zugleich auch unsouveränen) Selbstsetzung. Wenn ein Anstoß eine Bewegung dort auslöst, wo es vorher keine Bewegung gab, dann bezeichnet der Gegenstoß einen eigentümlichen Vollzugsmodus einer Bewegung. Hegel erläutert das in der Phänomenologie als einen Effekt, den die Lektüre des spekulativen Satzes auf das »vorstellende Denken« ausübt, das daran gewöhnt ist, der Regel zu folgen, der gemäß in jedem Satz die Prädikate das Subjekt desselben genauer bestimmen. Dieses Denken »erleidet, [um] es so vorzustellen, einen Gegenstoß«26 – denn es 24 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 58. Schon Heidegger erläutert den Begriff des Gegenstoßes, wenn er über den Begriff der Kraft bei Aristoteles spricht – was u. a. damit zu tun hat, dass auf den ersten Blick beide Begriffe in die Physik zu gehören scheinen. Vgl. Martin Heidegger, Aristoteles, Metaphysik IX. Von Wesen und Wirklichkeit der Kraft, in: Gesamtausgabe, Bd. 33, Frank­furt/M. 1981, S. 98101. 25 Vgl. dazu Slavoj Žižek, Weniger als Nichts. Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus, Berlin 2016, S. 192-266. 26 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 58.

458

wird nicht mit einer bloß akzidentiellen Bestimmung des Subjekts im Prädikat konfrontiert, sondern vielmehr wiederholt sich etwas vom Subjekt im Prädikat, so dass in der Folge die Vorstellung, die sich das Denken vom Subjekt– als einem stabilen Grund des Satzes – und vom Prädikat – als einer akzidentiellen Bestimmung des stabilen Grundes – gemacht hat, »zerstört wird«.27 Dadurch verliert das vorstellende Denken seine distanzierte Stellung, die es nur dadurch einnehmen konnte, dass es die stabile Subjekt-Prädikat-Form des Satzes vor sich gestellt hat. Es wird selbst mit in die Bewegung des Satzes gerissen, »an [der] kein Glied nicht trunken«,28 das heißt nicht nicht in Bewegung ist. Und »nur diese Bewegung selbst wird der Gegenstand«29 des Denkens.30 Das Denken wird so gezwungen, anders zu denken, als es dachte, dass man denkt. Aber, und hier liegt der eigentliche Gegenstoß für Hegel, durch den Verlust dessen, was es dachte, was Denken sei, beginnt es allererst mit dem Denken. Der Gegenstoß bezeichnet also einen scheinbaren Verlust – etwa einer gesetzmäßigen, geregelten Form des Denkens  –, der allererst generiert, was man in ihm zu verlieren scheint.31 Wir scheinen – so auch eine mögliche Antwort auf Menkes Kritiker – alle Bestimmungen zu verlieren und uns einer unbestimmten Bewegung auszusetzen, in der sie verschwinden. Jedoch verlieren wir nur die problematische Vorstellung (stabiler, gesetzter) Bestimmung und ihres negativen Gegenpols, der Unbestimmtheit, und gewinnen durch diesen Verlust allererst einen wirklich bestimmten Gedanken (von Unbestimmtheit). In genau diesem Sinne bestimmt Hegel dann in der Folge auch in seiner Logik die Bewegung der Reflexion, die »als absoluter Gegenstoß in sich selbst zu nehmen« ist.32 Reflexion ist nicht Reflexion auf Gege27 Ebd., S.  59. 28 Ebd., S. 46. Heidegger nennt den spekulativen Satz genau deswegen auch den »absolvente[n] Satz« (Martin Heidegger, Hegels Phänomenologie des Geistes, in: Gesamtausgabe, Bd. 32, Frank­furt/M. 1997, S. 93). 29 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 58. 30 Man kann mit Menke sagen, dass hier die Vermögen (wieder) »in Bewegung gesetzt werden« (Menke, Kraft, S. 72). 31 Eben deswegen kann man es mit dem spekulativen Satz zunächst nicht nicht falsch machen. Diese Logik findet sich ausgeführt in Slavoj Žižek, Absoluter Gegenstoß. Versuch einer Neubegründung des dialektischen Materialismus, Berlin 2016, insbes. Kapitel 3. 32 G.  W.  F. Hegel, Wissenschaft der Logik II, in: Werke, Bd. 6, Frankfurt/M. 1986, S. 27.

459

benes, sondern vielmehr durch Distanznahme generierte Rückkehr zu dem, was allererst durch die distanzierte Rückkehr konstituiert wird.33 Der Verweis auf Hegel und den Begriff des Gegenstoßes ist nicht arbiträr oder dem Denken Menkes äußerlich. Vielmehr hat Menke selbst einen frühen ausführlichen Text zu Hegels Logik publiziert, der nicht nur eine systematische Lektüre der hegelschen Logik vorlegt (und unter anderem die Lektüren ihrer prominentesten deutschen Kritiker problematisiert), sondern der zudem damit endet, dass Menke den Gegenstoß als konstitutiv für dialektisches Denken überhaupt erläutert.34 Aber auch das könnte noch Menkes philosophischem Entwurf äußerlich bleiben, würde dieser Text nicht damit einsetzen, die Frage nicht nach dem Gegenstoß, sondern nach der Kraft, nämlich der Kraft der Vernunft zu stellen. Menke beginnt seinen Text so, dass er eine Bestimmung Hegels, nämlich der Dialektik, aufnimmt. Diese lautet, dass »die Dialektik als Methode ›die einzige […] Kraft der Vernunft‹« sei.35 Vernunft ohne Dialektik wäre kraftlos. Dialektik ist vernünftige Kraft, Kraft der Vernunft.36 Aber, so pointiert Menke, die Dialektik ist zugleich die Methode der Sache selbst und auch »die ›schlechthin unendliche Kraft‹ der Vernunft«,37 weswegen sich die Frage stellt, inwie33 Hegel beschreibt dies auch so, dass dieses »Werden […] die Bedeutung des Gegenstoßes seiner selbst [hat], so dass das Gewordene vielmehr das Unbedingte und Ursprüngliche ist« (ebd., S. 274). 34 Ein aktuellerer Bezug auf den Gegenstoß findet sich in: Christoph Menke u. a., »Vom Glücken der Freiheit. Ein Gespräch über Kritik und Versöhnung«, in: Stefan Müller, Janne Mende (Hg.), Differenz und Identität. Konstellationen der Kritik, Weinheim 2016, S. 29-63, hier S. 41 f. 35 Christoph Menke, »Der ›Wendungspunkt‹ des Erkennens. Zu Begriff, Recht und Reichweite der Dialektik in Hegels Logik«, in: Christoph Demmerling, Friedrich Kambartel (Hg.), Vernunftkritik nach Hegel. Analytisch-kritische Interpretationen zur Dialektik, Frank­furt/M. 1992, S. 9-66, hier S. 9. Ich rekonstruiere Menkes Argument hier bewusst selektiv, weil es mir nur um das GegenstoßKraft-Verhältnis zu tun ist. 36 Man kann an dieser Stelle anmerken, dass die Kritiker Menkes Begriff der Kraft so lesen, als würde er den Problemen anheimfallen, die Hegel in der Phänomenologie im Kapitel über »Kraft und Verstand« (Hegel, Phänomenologie, S. 107-136) beschreibt, wohingegen der Begriff der Kraft, in meiner Lesart, dem der hegelschen Logik viel näher steht. 37 Menke, »Der ›Wendungspunkt‹ des Erkennens«, S. 9.

460

fern Sache und Vernunft zusammenhängen, ob und inwiefern sie eine sind. Eine sind sie, weil sie Teil einer Bewegung sind. Jedoch – Eins teilt sich in Zwei – sind sie als Teil einer Bewegung nicht einfach ein und die gleiche Sache. Einerseits ist Dialektik Erfordernis der Sache selbst. Die Sache erfordert, dass man dialektisch denke, um sie zu denken. Dialektisch zu denken meint dann, dass man dem Objekt den Vorrang lässt. In dieser Hinsicht ist Dialektik der »Gang der Sache selbst.«38 Andererseits ist Dialektik Eigenschaft, nämlich Kraft der Vernunft. Diese Kraft besteht darin, dem Objekt den Vorrang zu lassen. Aber genau in dem, was zunächst wie eine Zurückweisung oder zumindest Einschränkung der Souveränität der Vernunft erscheinen mag – dass sie dem Objekt nachdenkt –, liegt ihre eigentliche Kraft, ihre wahrhafte Unendlichkeit. Sie ist – paradoxerweise – fähig, sich zum Denken zwingen zu lassen. Für den damit aufgerufenen »Zusammenhang von Dialektik und Universalität der Vernunft«39 bedeutet das: Nicht alles ist dialektisch und insofern vernünftig. Aber alles könnte es sein. Die Kraft der Vernunft besteht darin, sich allen Objekten und Gegenständen gegenüber so zu verhalten, dass diese sie potentiell zum Denken zwingen könnten. Hegel hatte genau diese paradoxale Kraft – diese Kraft, die kein Vermögen sein kann, weil sie ein Vermögen sein müsste, zu tun, was man nicht tun kann, nämlich sich potentiell zum Denken zwingen zu lassen, wenn einem etwas begegnet, das einen zum Denken zwingt – an anderer Stelle, nämlich in der Phänomenologie, als Struktur absoluten Wissens gefasst. Dieses bestimmt er kurz wie folgt: »Seine Grenze wissen heißt, sich aufzuopfern wissen.«40 Die Dialektik als Kraft der Vernunft ist Kraft zur Aufopferung – deswegen schreibt Hegel an anderer Stelle: »Das dialektische Moment ist das eigene Sichaufheben« der Bestimmungen.41 Die Kraft der Vernunft, die Dialektik, ist Kraft zum Sich-Überwältigen-Lassen. Die Kraft der Vernunft ist ihr extim; sie ist nicht ihr Vermögen, sondern sie kommt ihr innerlich-äußerlich zu oder über sie. 38 Hegel, Wissenschaft der Logik I, S. 50. 39 Menke, »Der ›Wendungspunkt‹ des Erkennens«, S. 10. 40 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 590. 41 G.  W.  F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Erster Teil: Die Wissenschaft der Logik mit den mündlichen Zusätzen, in: Werke, Bd. 8, Frank­furt/M. 1986, S. 172.

461

Reformuliert man diesen Gedanken in Menkes Worten, kann man sagen: Die Kraft der Vernunft, die Dialektik, besteht darin, dass sie einerseits »keine prinzipielle Grenze« kennt. Alles kann potentiell Objekt des Denkens sein. Daraus erwächst aber andererseits »keine prinzipielle Garantie« dafür,42 dass alles dem Denken wirklich Gegenstand sein wird. Es bleibt so in bestimmter Weise unbestimmt, was Denken zum Denken zwingen wird. Der bestimmt-unbestimmte Ort, an dem die Abwesenheit der prinzipiellen Garantie und die Abwesenheit der prinzipiellen Grenze aufeinandertreffen, ist der eigentliche Ort der Kraft. Die Kraft der Vernunft, des Denkens ist somit die Kraft, sich einem Gegenstoß zu überlassen. Sie ist die Kraft des Gegenstoßes. Anders: Die Kraft der Vernunft liegt darin, sich einer Kraft zu überlassen, die nicht ihre, sondern die der Sache ist; einer Kraft, die sie übermannt und aus den gewohnten Bestimmungen, aus den geregelten, gesetzmäßigen Abläufen und normierten Vollzugsweisen herausreißt. Die Kraft der Vernunft, die Dialektik, ist nicht die Kraft einer universalen Einverleibung alles Möglichen, sondern vielmehr die unmögliche Möglichkeit der Erfahrung des Gegenstoßes. Die Kraft der Vernunft, die Dialektik, besteht in der unmöglichen Vorbereitung auf das, worauf man sich nicht vorbereiten kann, weil es außergewöhnlich, anormal und illegal ist und sein muss. Die Kraft der Vernunft, Dialektik, liegt darin, dass sie sich der Kraft des Zum-Denken-Gezwungen-Seins überlassen kann. Worin diese Kraft besteht, ist in bestimmter Weise unbestimmt. Anders: »auch der Erfolg der Dialektik« – und man müsste hinzufügen, die Existenz und Emergenz der Dialektik überhaupt – »unterliegt […] der Kontingenz«.43 Kein Denken ohne Dialektik und somit kein Denken ohne kontingentes Hervortreten der Kraft, die zum (anders) Denken zwingt.44 Oder kurz und mit Menke: Kein Denken ohne (extime) Kraft. Menkes Philosophie der Antwort ermöglicht, einen anderen Hegel aufzutun: einen Denker einer anderen Dialektik, deren Motor eine eigentümlich bestimmt-unbestimmte Negation gewesen 42 Menke, »Der ›Wendungspunkt‹ des Erkennens«, S. 64. 43 Ebd., S.  63. 44 Das bedeutet, dass jede Dialektik letztlich Dialektik von Dialektik und NichtDialektik ist. Vgl. dazu: Frank Ruda, For Badiou. Idealism without Idealism, Evanston/Ill. 2016, S. 70 f.

462

sein wird; ein Denker der Kraft am Ursprung der Dialektik und damit des Denkens. Einen anderen Gebrauch von (Hegels) Dialektik zu ermöglichen, Hegel anders zu verwenden, ist entscheidender Teil von Menkes Gegenstoß auf die Philosophie.

463

Christiane Voss Von der Kraft der Negativität zur Anti-Philosophie und zurück Wo es nicht eingeschränkt um Negationen im Sinne rein technischer, logischer Operationen geht, sondern um Negativität in einem weiteren Sinn, stößt man unweigerlich auf ein, wenn nicht sogar das Kernproblem der Philosophie.1 Dieses Kernproblem betrifft das grundlegende Verhältnis von Ontologie und Erkenntnistheorie und damit das Selbstverständnis der Philosophie sowie ihre nicht zuletzt daran hängende Positionierung zwischen (Lebens‑)Wissenschaften, Theologie und den Künsten. Vom »problematischen« Charakter dieses Verhältnisses ist hier die Rede im Blick darauf, dass das Selbstverständnis der Philosophie auf einer ursprünglichen Aufspaltung in zwei einander fremde Zielsetzungen basiert: Einerseits strebt Philosophie mit geradezu utopischem Furor nach Wahrheit; andererseits beansprucht sie, aus dem Leben heraus das Leben zu denken.2 Dass Wahrheitsstreben und Lebensreflexionen einander fremd sind, heißt zunächst, dass sie unterscheidbaren Regimen und Registern zugehören und folgen. Die Rede von »Wahrheit« ist den wissenschaftlichen Aussagesystemen vorbehalten. Die Reflexion des Lebens hingegen geschieht innerhalb der Existenzvollzüge empirischer Lebewesen im Verhältnis zu ihren jeweiligen historischen Lebenswelten. Geht es beim Ringen um Wahrheit um die methodisch-argumentative Abstützung von sprachlichen Aussagen, (Gedanken‑)Experimenten und um gültige Schlussfolgerungen innerhalb der Grenzen normativer Aussage- und Beschreibungssysteme, so ist die Beschäftigung mit dem Leben eine in erster Linie 1 Vgl. dazu Christoph Menke, der Negativität als eine ontologische und nicht nur logische Operation explizit in den Blick nimmt, in: »The Standstill of Habit. The Beginning of Liberation«, Vortrag vom 24. 1. 2018 im IKKM Weimar, abrufbar unter 〈http://www.ikkm-weimar.de/publikationen/video-audio/ikkm-lectures/thestandstill-of-habit-the-beginning-of-liberation〉, letzter Zugriff 10. 3. 2018. 2 Vgl. Friedrich Schlegel, Philosophie des Lebens, in fünfzehn Vorlesungen gehalten zu Wien im Jahre 1827, in: Kritische Ausgabe seiner Werke, Bd. 10, Paderborn u. a. 1928. Aktuelle medienphilosophische Versuche, das Leben vom Leben her zu denken, finden sich in: Maria Muhle, Christiane Voss (Hg.), Black Box Leben, Berlin 2017.

464

praktische Angelegenheit, die zudem in ein unüberblickbares und bedrohliches Offenes gestellt ist, dessen Konturen und Umfang unklar bleiben. Während die Philosophie ihre Wahrheitssuche aktiv unter das Regelwerk der traditionellen Logik mit dem Anspruch auf objektive Verallgemeinerbarkeit ihrer sprachlichen Aussagen stellt, und zwar auch dort noch, wo sie Paradoxien und Widersprüchlichkeiten präferiert, ist ein Denken des Lebens auf eher passive Weise ein empfangendes, zudem schwer systematisierbares Denken, das assoziativ-intuitiv vorgeht und auch vor metaphorischem oder gar poetischem Sprachgebrauch und anderen Medien des Ausdrucks nicht Halt macht. Der Anspruch eines Denkens des Lebens ist von subjektiver Allgemeinheit und Geltung. Der Hinweis auf die Subjektivität eines lebendigen Denkens bzw. Denkens des Lebens besagt nicht, dass dessen Einsichten nur privatistisch zugänglich und gültig wären. Er besagt eher, dass mit einer Allgemeingültigkeit gesprochen wird, die die irreduzible Idiosynkrasie einer ins Leben immer schon involvierten Standpunkthaftigkeit respektiert. Der Tendenz zur subjekttranszendierenden Objektivität des Wahrheitsstrebens steht die Tendenz der subjektformierenden Objektivität eines Denkens des Lebens fremdelnd gegenüber. Das Verhältnis der Regime der Wahrheit und der Lebenswirklichkeit kann man sich daher auch an dem Verhalten verdeutlichen, das sie jeweils ermöglichen und voraussetzen. Während man außerhalb der Wahrheit und im Leben sein kann, ist es umgekehrt nicht möglich, in der Wahrheit zu sein und außerhalb des Lebens. Es muss trivialerweise zumindest irgendwelche lebenden philosophischen Geister geben, die sich zur Wahrheit methodisch und sogar treu ins Verhältnis setzen, wenn auf Wahrheit als angestrebte Zielgröße zutreffen soll, dass sie Denkbewegungen, die ihr gelten, anregen kann. Geht daher das Leben der Wahrheit voraus? Ja und nein. Auch wenn man leicht einsehen kann, dass es ohne denkfähige Lebewesen auch kein Denken der Wahrheit gäbe und insofern eine bestimmte Form des Lebens der Wahrheit in der Tat vorausgehen muss, so folgt daraus nicht, dass das, was derart empirischen Vorrang genießt, auch in logischer Hinsicht Vorrang hat. Ein Denken, das auf Wahrheit ausgerichtet ist, und eines, das auf das Leben zielt, können auch unvermittelt und unverbunden bleiben. Was auf wahre Weise feststellbar und aussagbar ist, muss nicht wirklich sein (zum Beispiel kontrafaktische Annahmen oder 465

Fiktionen), und umgekehrt kann etwas wirklich sein, das nicht wahr ist (die Lüge zum Beispiel) oder auch nur wahrheitsfähig wäre (zum Beispiel körperliche Zustände). Was nicht sein muss, kann aber doch sein. Die Teilung der zwei Regime »Wahrheit« und »Leben« ist eben nicht immer das letzte Wort der Philosophie. Die Behauptung ihrer vermeintlichen Fremdheit und unverbundenen Parallelität weicht vielmehr in anderen philosophischen Versuchen einer systematischen Zusammenführung beider Regime. Diese historischen Möglichkeiten des Umschlags der Abtrennung in eine Zusammenführung der philosophischen Topoi (und umgekehrt) dynamisiert bis heute die Philosophie und grundiert nicht zuletzt, wie eingangs erwähnt, ihre wechselhaften Beziehungen zu den Geistes- und Naturwissenschaften sowie zu den Künsten.3 Philosophische Bemühungen um eine Synthetisierung von Wahrheitsund Lebensorientierungen stehen nicht selten unter dem Banner der »Anti-Philosophie«, wie Boris Groys sie nennt. Er meint damit philosophische Interventionen, deren Bemühungen um besagte Vermittlung typischerweise mit der expliziten Abgrenzung von und Negation der philosophischen Tradition einhergehen.4 Im Folgenden wird es um drei anti-philosophische Einsätze in Groys’ Sinn gehen, deren spezifisch geschichtsphilosophische Verhandlungen von Negativität zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Dabei richtet sich das Augenmerk auf die jeweilige Aspektuierung der Produktivität oder Destruktivität von Negativität. Nach einem knappen, rekonstruktiven Abschnitt über Hegels Auffassung von Negativität (Negativität 1) folgt eine detaillierte Rekonstruktion von Günther Anders’ weniger bekanntem und zeitdiagnostischem Konzept der 3 Symptome dafür sind die Konjunkturen der philosophiekritischen Ausformungen wie: Existenz-, Lebens- und Daseinsphilosophien, Künstlerphilosophien bis hin zu Technik- und Medienphilosophien, die sich im Namen größerer Lebensnähe von der vermeintlich je lebensvergessenen Tradition abgrenzen. Auch die philosophischen Bemühungen um Anschlüsse an naturwissenschaftliche Forschungen im Bereich der theoretischen Philosophie (Body-Mind-Theorien) und der empirischen Ästhetik verdanken sich einem Impuls, stärker lebensnah zu forschen, wobei sie unter »Leben« dann die naturwissenschaftlich beschreibbare, empirische Welt verstehen. Die Ausweitungen der angewandten Ethik, welche Beratung und Lehrerausbildung einbezieht, sind auf Seiten der Schulphilosophie auf wieder andere Weise als Bestrebungen danach zu verstehen, ihre Theorien in Richtung auf größere Lebensnähe auszulegen. 4 Boris Groys, Einführung in die Anti-Philosophie, München 2009.

466

»prometheischen Scham«, das hier als eine medienphilosophische Variante der These vom Ende der Geschichte interessiert (Negativität 2). Mit einem kursorischen Ausblick auf die Krafttheorie von Christoph Menke, die ein an Hegel anschließendes, nichttriviales Verständnis der Produktivität von Negativität vorstellig macht, das zugleich als eine konstruktive Kritik an Anders’ Konzept in Stellung gebracht werden soll, schließen die hiesigen Überlegungen (Negativität 3).

Negativität 1 Es gilt als eine der hervorragenden Leistungen Hegels, in seiner Phänomenologie des Geistes eine Form von Negativität eingeführt zu haben, die es in ihrer Mehrstufigkeit zu leisten vermag, das Regime der Wahrheit mit dem des Lebens immanent zu verknüpfen. Dafür werden Negativität und Realität in gewisser Weise von ihm enggeführt. So formuliert Hegel in der Phänomenologie ein negatives Realitätsprinzip (das als solches eben kein abgespaltenes Denkprinzip ist), wonach das Leben selbst auf allen Ebenen seiner Manifestationen und Materialisierungen sowie im historisch-teleologischen Durchgang durch verschiedene Negationen von Irrtümern und Teilwahrheiten zur absoluten Wahrheit vorantreibt. Auf der Stufe der selbstreflexiven Einsicht in die holistische Wahrheit eines Ganzen, welche alle bloß aspekthaften Wahrheiten der Teile übersteigt, fallen schließlich Begriff und Sein – bzw. in den hier gewählten Worten: Wahrheit und Leben, wenn auch auf dialektisch-komplexe Weise (nämlich antinomisch) – zusammen. Damit erscheint Negativität nicht mehr bloß als formales Verfahren, sondern als eine ontologisch kraftvolle Potenz der Verlebendigung des Geistes. Zugleich soll dadurch das Leben selbst als ein durchgeistigter, untergründig rationaler Prozess begreifbar werden. Dass das Wirkliche vernünftig und nur das Vernünftige wirklich sei, ist die Kernbehauptung Hegels. Damit grenzt er sich von herkömmlichen Empirikern, die der Scheinwahrheit isolierter Fakten nachjagen, ebenso ab wie vom kantischen Idealismus, der aus seiner Sicht die Wirklichkeit verkennt, indem er sie zur Blackbox verklärt. Negativität ist demnach auch nicht negativistisch depotenziert. Sie ist vielmehr ein metaphysisches Bewegungs467

und Rationalitätsprinzip, das alle geschichtliche Entwicklung und phänomenale Ausbuchstabierung des Verstandes in unterschiedlich vernünftigen Formationen und Materialisierungen antreibt und in sich dialektisch zusammenhält. Aus ihrer jeweils historischen Bestimmtheit heraus sowie auf Basis ihrer Möglichkeit, sich auf sich selbst immer wieder neu negierend zu beziehen (Negation der Negation), übersteigt die Negativität bei Hegel die Destruktivität bloßer Negation. Durch ihre selbstreflexive Fokussierung auf das Ganze wird sie zur konstruktiven, lebendigen Kraft.5 Diese geschichtsphilosophisch gewendete, versöhnende Perspektive unterschlägt, trotz ihrer Positivierung, nicht gänzlich die schmerzhaften und in diesem engeren Sinne destruktiven Dimensionen von Negativität. Stadien des Schmerzes und Leids, der Selbstverfehlung und des Befangenseins in Irrtümern sind nach Hegel vielmehr geradewegs, wenn auch negierend, zu durchschreiten. Sie sind sogar notwendige Erfahrungen, die allererst die Erkenntnis der subjektiven Begrenztheit, Mangelhaftigkeit und Endlichkeit zutage fördern. Erst im leidenden Durchgang durch sie können diese subjektiven und empirischen Begrenzungen in einer alles übersteigenden Perspektive auf das Ganze und Allgemeine überschritten und aufgehoben werden. Die mannigfachen Widerstände gegen jede Bewegung hin zu Wahrheit jedoch, die sich aus Dogmatismus, radikalem Individualismus, aus Eitelkeit und falschen Abstraktionen sowie aus allen Formen der vereinseitigenden Fixierung auf das Eine und zu einfachen Einheitsvorstellungen im Epistemischen, Politischen, Ästhetischen und Moralischen speisen, lassen sich nur mit großem, reflexivem Leidens- und Kraftaufwand überhaupt überwinden. De facto bleibt nur allzu oft die Vernunft bzw. das Leben auf eine sich selbst missverstehende Weise auf einer defizitären Entwicklungsstufe stehen und erstarrt dort in Selbsteinigkeit. Doch anders als so manche Dystopiker meinen, bleibt das Leben als Ganzes dort letztlich nie wirklich stehen. Es treibt nach Hegel von sich aus unweigerlich zur Wahrheit und damit, wie er es nennt, »zum Begriff von sich selbst«. Er schreibt: Das […] göttliche Erkennen mag also wohl als ein Spielen der Liebe mit sich selbst ausgesprochen werden; diese Idee sinkt zur Erbaulichkeit und 5 Vgl. Christoph Asmuth, »Negativität. Hegels Lösung der Systemfrage in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes«, in: Synthesis Philosophica 22:1 (2007), S. 19-32.

468

selbst zur Fadheit herab, wenn der Ernst, der Schmerz, die Geduld und Arbeit des Negativen darin fehlt. An sich ist jenes Leben wohl die ungetrübte Gleichheit und Einheit mit sich selbst, der es kein Ernst mit dem Anderssein und der Entfremdung sowie mit dem Überwinden dieser Entfremdung ist. Aber dies Ansich ist die abstrakte Allgemeinheit, in welcher von seiner Natur, für sich zu sein, und damit überhaupt von der Selbstbewegung der Form abgesehen wird.6

Die Selbstbewegung des Geistes wird als vermittelter und zugleich vermittelnder Prozess gefasst. Ein von Hegel ausgezeichneter Ort dieser basalen Medialität, wenn auch bei weitem nicht der einzige, ist die Sprache. In seiner Analyse vom spekulativen Satz aus der Phänomenologie des Geistes, der wie in »S ist p« eine basale SubjektPrädikat-Struktur aufweist, fasst er sein philosophisches Programm elliptisch zusammen. In philosophischer Lesart soll ihm zufolge dem Verb »ist« im spekulativen Satz die Funktion zukommen, die durch den Satzbau allererst formal abgetrennten Subjekt- und Prädikatpole inhaltlich ineinander zu verschieben.7 Im spekulativen Satz, sofern er philosophisch gelesen werde, ereigne sich eine Art Vorstoß des Subjektbegriffs auf die Prädikatseite hin und, in einer komplementär dazu sich einstellenden Rückkopplungsbewegung, ein Rückstoß des Prädikats auf die Subjektseite hin. Das Subjekt enthält das Prädikat und umgekehrt. Anstelle der äußerlich scheinbar statischen Abtrennung beider Pole (S und p) durch die Kopula im Satz sieht er ihre untergründig dynamische Wechselwirkung und Einformung am Platze. Diese Wechselbewegung ist es auch, die schließlich eine in sich unruhige Einheit von Subjekt und Prädikat hervorbringe.8 Hier muss also der statisch-grammatischen Form des Satzes seine dynamische, inhaltliche Wahrheit erst gegen ihren Strich und Anschein abgerungen werden. Die Form des Sat6 G.  W.  F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Werke, Bd. 3, Frank­furt/M 1970, S. 24, Hervorhebung C.V. 7 Zur Kritik daran, die besagt, dass Hegel die prädikative Bedeutung des Verbs »ist« (wie in »Sokrates ist sterblich«) mit dem »ist« der Identität (wie in »Sokrates ist der Philosoph, der den Giftbecher trank«) verwechsle, vgl. Bertrand Russell, Unser Wissen von der Außenwelt, Hamburg 2008. Allerdings ist diese Identitätsaussage ja gerade die explizit von Hegel gegenüber der prädikativen Lesart präferierte und der ganze Clou seines Einsatzes an dem Punkt. 8 Eine originelle Durchführung dieser These, die den Fokus auf die performative Qualität von Hegels Analyse des spekulativen Satzes verlegt, findet sich bei Katrin Pahl, Tropes of Transport. Hegel and Emotion, Illinois 2012.

469

zes erweist sich somit als irreleitend und widerständig gegenüber philosophischem Wissensstreben. Der Satz schmiegt sich nicht einfach jeder Verwendungsintention an. Er trägt vielmehr seine eigene, auch fehlleitende Logik in den Umgang mit ihm ein (etwa die Idee der linearen Kausalität). Es ist nicht zuletzt eine solche sprachkritische Einsicht, die noch der Sprachphilosophie des linguistic turn zugrunde liegt und die sich auf ihre Weise ebenfalls gegen die bis dahin geltende philosophische Tradition aufstellt. Bei allen Abgrenzungen ist der Einsatz der Sprachphilosophie mit dem Einsatz Hegels doch dahingehend zu vergleichen, dass in beiden Fällen mit der philosophischen Tradition gebrochen wird, um auf je neue Weise die Regime der Wahrheit und des Lebens zusammenzudenken. Diesen Anspruch, lebensnäher zu sein als die Vorgängertheorien, nutzen Anti-Philosophien rhetorisch bis heute, um ihren je speziellen Bruch mit der Tradition zu rechtfertigen. Ausgehend von dieser sehr kurzen Erinnerung an Hegels Auffassung von Negativität wird nun zu Günther Anders überzuleiten sein, der im Rückbezug auf Heideggers Daseinsanalyse aus Sein und Zeit mit dem systemphilosophischen und teleologischen Ansatz Hegels bricht.

Negativität 2 Anders verfolgt einen neuen Ansatz: Mit Heidegger und gegen Hegel entkoppelt er wieder das Sein von der Rationalität und versteht ersteres als den schlechthin unvordenklichen, vorrationalen Grund. Als Grund allen Daseins entzieht sich daher für Heidegger und Anders das Sein jedem erkennen-wollenden Zugriff. Wahrheit lässt sich somit nur indirekt und in affektiver Gestimmtheit vernehmen. Diesem Grundgedanken Heideggers stellt Anders eine interessante medienphilosophische Deutung zur Seite. Bei ihm kommt nach meiner hier vorzuschlagenden Lesart eine kategoriale Umdeutung von Negativität ins Spiel, die die lebensgestaltende Kraft eines unglücklichen Bewusstseins hervorhebt. Anders charakterisiert diese Kraft des unglücklichen Bewusstseins als eine sich perpetuierende – mit dem Resultat, dass ihr in historischer Hinsicht schwer bis gar nicht zu entkommen sei. Statt Hegels Versöhnung denkt Anders die technikdeterministische und -kritische Lesart des späten 470

Heidegger weiter. Sein Ausgangspunkt im ersten Band der Antiquiertheit des Menschen von 1956 lautet, dass Medien generell nicht einfach transparente und einseitig instrumentalisierbare Mittel der Erkenntnisgewinnung oder ‑artikulation sind, sondern ihren materiellen Eigensinn in die Erkenntnis- und Wahrnehmungsbewegungen einschreiben.9 Medien, die Anders zufolge im 20. Jahrhundert alles Denken und (Selbst‑)Wahrnehmen formatieren, sind philosophischen Ambitionen gegenüber gleichgültig. Dabei handelt es sich um eine an Hegels sprachkritische Analyse des spekulativen Satzes in Teilen anschlussfähige und weiterführende medienphilosophische Wendung. Im Gegensatz zu Hegel räumt Anders jedoch dem Irrationalen der Geistesgeschichte der Technik (wie später auch Marshall McLuhan) den geschichtsphilosophischen Vorrang ein.10 Pessimistisch schreibt er dazu: Was von diesen Geräten [Radio- und Fernsehgeräten] gilt, das gilt mutatis mutandis von allen. Dass sie noch Mittel darstellen, davon kann keine Rede sein. Denn zum Mittel gehört wesensmäßig, etwas Sekundäres zu sein, das heißt: der freien Zielsetzung nachzufolgen; ex post, zum Zwecke der Vermittlung dieses Ziels, eingesetzt zu werden. Nicht Mittel sind sie, sondern Vorentscheidungen. Diejenigen Entscheidungen, die über uns getroffen sind, bevor wir zum Zuge kommen.11

Anders reflektiert hier auf die historische Lage der sogenannten »zweiten industriellen Revolution«, die im angloamerikanischen Raum den Übergang zur Massenproduktion sowie zu neuen Arbeitsformen wie Taylorismus und Fordismus seit den 1920er Jahren bezeichnet. Vor diesem Hintergrund – sowie mit Blick auf die Erfindung der Atombombe (und ihren Abwurf über Hiroshima am 6. August 1945) und die neu einsetzende ubiquitäre Verbreitung der Massenmedien in allen Haushalten (speziell von Radio und TV) – sieht Anders ein kulturprägendes Gefälle gegeben, das ein zeitgemäßes und untergründiges Leiden hervorbringe. Dieses Leiden entstehe aufgrund der Diskrepanz zwischen dem, was Men 9 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, Bd. 1, München 2002. 10 Vgl. Marshall McLuhan, The Mechanical Bride. Folklore of Industrial Man (1951), New York 1995; ders., Die Gutenberg Galaxis (1964), Bonn 1995; ders., Die magischen Kanäle. Understanding Media (1964), Düsseldorf, Wien 1995. 11 Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, S. 2.

471

schen herstellen, und dem, was sie sich vorstellen können. Seiner Generalthese in jenem Buch zufolge führt diese neue Diskrepanz zwischen Hand und Hirn, Handeln und Denken zu einem grundlegend negativen Selbstverständnis. Das epochale Syndrom dieser neuen Lage sei eine Form der welt- und selbsterschließenden Gestimmtheit, die Anders als »prometheische Scham« bezeichnet. Deren destruktive und nachhaltige Negativität sieht er darin, dass sie unreflektiert und im hegelschen Sinne unnegiert bleibt. Er grenzt sie zunächst phänomenologisch von prometheischem Trotz und Stolz ab: Prometheischer Trotz besteht in der Weigerung, irgendetwas, sogar sich selbst, Anderen zu schulden; prometheischer Stolz darin, alles, sogar sich selbst, ausschließlich sich selbst zu verdanken. Das ist die Signatur des SelfMade-Man des 19. Jahrhunderts. […] Diese Haltung ist heute zwar noch vorhanden, aber nicht mehr charakteristisch. Das Schicksal des Prometheismus hat einen dialektischen Umschlag erfahren. »Wer bin ich schon?« fragt der Prometheus von heute, der Hofzwerg seiner eigenen Maschinenparks.12

Und dies frage er mit dem Gefühl der Minderwertigkeit gegenüber seinen allzu perfekten Fabrikaten: nicht, »weil es ihn indignierte, von Anderen (Gott, Natur) gemacht zu sein; sondern weil er überhaupt nicht gemacht ist und als Nichtgemachter all seinen Fabrikaten unterlegen ist«.13 Aus dem vorausdenkenden Feuerbringer und Kulturstifter der Menschheit (Prometheus) ist demnach ein Hofzwerg seiner Artefakte geworden. 1945 wurde ein chemisches Element, Promethium, ein radioaktives Spaltprodukt des Urans, im Oak Ridge National Laboratory in Tennessee entdeckt und nach der mythologischen Figur benannt, was als Warnung vor dem nuklearen Wettrüsten gedacht war, das bald beginnen sollte. Diese Assoziationen sind von Anders gewollt und liegen seiner Begriffswahl zugrunde.14 Anstatt 12 Ebd., S.  25. 13 Ebd., S. 25, Hervorhebung C.V. 14 Mit der Scham greift Anders auf einen Affekttypus zurück, der in der Sozialpsychologie zur Kategorie der verinnerlichten Selbstkontrolle und Sanktion zählt und schon bei Norbert Elias in seiner Schrift Der Prozess der Zivilisation von 1939 zu dem Signum einer zunehmend affektkontrollierten, modernen Gesellschaft erklärt wird, vgl. Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Amsterdam

472

also noch länger stolz auf die technischen Errungenschaften zu sein, zeigt sich nun, dass wir der Perfektion unserer Produkte nicht mehr gewachsen sind und hinter sie zurückfallen. Da menschliches Dasein jedoch bei Anders, der darin dem späten Heidegger folgt, in eine technische Welt unumgänglich hineingestellt ist und ihr nicht entfliehen kann, ohne Weltlichkeit überhaupt und damit sich selbst zu verlieren, tut sich die Zwangslage auf, dass man mit dem Bewusstsein des eigenen Makels leben lernen muss, den die neuen Techniken zurückspiegeln. Nach Anders haben wir es mit einer quasi metaphysisch-schicksalhaften Verfassung des modernen Menschen zu tun, die nicht heroisch oder ästhetisch transzendiert werden könne. Letzteres soll nicht zuletzt auch deshalb ausgeschlossen sein, weil der besagten Affektlage eine Eigendynamik inhäriert, die selbstverstärkend wirkt. »Scham« meint bei Anders also kein bloß vorübergehendes Unlust-Gefühl, vielmehr denkt er sie als grundlegende Form des In-der-Welt-seins. Er definiert sie als »ein in den Zustand der Verstörtheit ausartender reflexiver Akt, der dadurch scheitert, dass der Mensch sich in ihm, vor einer Instanz, eine Art imaginärem oder realem Zuschauer, von der er sich abwendet, als etwas erfährt, was er nicht ist, aber auf unentrinnbare Weise doch ist«.15 Der Sachverhalt und das Wissen darum, geboren statt hergestellt zu sein, bringe die Selbstabwertungs- und Minderwertigkeitsgefühle gegenüber den technischen Errungenschaften hervor. Es sei die nicht abstreifbare biologische Leibgebundenheit und Endlichkeit, die zu beschämenden Fehlleistungen führe, welche im Verhältnis zur Leistungsstärke der technischen Produkte identifizierbar würde. Solange die Anpassung an Apparate und die Bedienung derselben mühelos funktioniert, so dass Menschen zu Teilen des Getriebes werden, mache sich nicht bemerkbar, dass sie nicht wirklich identisch mit den Apparaten sind. Dass Menschen noch eine ältliche Mitgift mit sich herumtragen, komme erst peinlich zu Bewusstsein, wenn die Anpassung an die medientechnische Umwelt scheitert, wie etwa am Fließband, vor den Großrechnern oder angesichts der ubiquitären Bilderwelten und des Starkults. 1997. Auf letzteren bezieht sich Anders allerdings nirgends explizit, da er eine zwar historisch fundierte, aber eben doch eine Daseinsanalyse im Sinne Heid­ eggers verfolgt. 15 Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, S. 68.

473

Die prometheische Scham ist für Anders Ausdruck einer Identifizierungsstörung des Ich mit dem Es. Hiermit verschiebt Anders die traditionell psychoanalytische Auffassung, wonach Scham eine Identifizierungsstörung des Ich mit dem Ich-Ideal ist.16 Ebenfalls in Abweichung von Freud bezeichnet das Es bei Anders dasjenige, was ein Ich nolens volens mit-ist. Doch das, was alles mit-ist, sind nicht nur Menschen. Der Medien- und Maschinenbetrieb ist Anders zufolge etwas, womit wir in diesem Sinne sogar dauernd mit-sind. Diese übernehmen daher die Rolle eines Apparaten-Es, das sich intrapsychisch neu aufzubauen beginne und so zu einer Spaltung des Unbewussten führe. Diese Form der unbewussten Selbstentzweiung bleibt zwar spürbar, ist aber nicht auflösbar. Der Aspekt der biologischen Gattungszugehörigkeit stellt den andrängenden Teil des Unbewussten dar, woran erinnert zu werden eben für das moderne Ich schmerzlich sei, weil dieser Teil des Es die Aspekte seines Nicht-Könnens umfasse. Die unfreiwilligen Erinnerungen an die Leibgebundenheit führen schließlich, so Anders, zur Selbst-Abwehr und Selbst-Verleugnung in dem schamspezifischen Wunsch, im Boden zu versinken und unsichtbar werden zu wollen: »Vor dem Blick der uns umgebenden und überlegenen Instanzen der Medien und Maschinen senken wir schamvoll unseren Blick.«17 Scham ist dabei durch eine Doppel-Intentionalität ausgezeichnet, sofern sie einerseits einem Gegenstand, in diesem Fall dem vermeintlichen Makel, zugewandt ist – dem, worüber sie sich schämt  –, andererseits auf eine richterliche Instanz gerichtet ist, vor der sie sich schämt. Diese Instanz erhalte ihre Macht durch die stillschweigende Anerkennung des von ihr vertretenen Menschenbildes. Scham ist also auf eine wertende Zuschauerinstanz bezogen, die verinnerlicht ist, und zwar so, dass sie diesem Zuschauer gerade entfliehen, seinen Blicken und Wertungen entgehen will. Dieser Fluchtaspekt der Scham ist eigentlich eine Abwendung weg von der Welt, das heißt eine invertierte Form von Intentionalität, die seit Husserl jedoch immer nur als direktionale Bezogenheit auf Welt hin gefasst wurde. Diese Passivität und Inversion des intentionalen 16 Vgl. Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Frank­furt/M. 1989, S. 53 f. 17 Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, S. 59.

474

Weltbezugs hält Anders für philosophisch unterbewertet. Was die Scham intendiere, bestehe weder darin, die richterliche Instanz zu sehen, noch darin, diese nicht zu sehen, sondern von ihr nicht gesehen zu werden.18 Da sich jedoch ein Teil des eigenen Ich in der prometheischen Scham in perfider Weise auf die Seite der abwertenden Instanz schlage und mit der Selbstabwertung beginne, ohne sich jedoch entfliehen zu können, wie es der äußeren Instanz zu entfliehen sucht, verstärke sich die Qual und die Unentrinnbarkeit seiner Schwäche in der Scham automatisch. Neu ist an der von Anders beschriebenen und im Prinzip tragisch klingenden Lage nun nicht, dass die Scham gesellschaftlich verbreitet ist. Neu an seinem Ansatz ist, dass es das Massenphänomen eines epochalen In-der-Welt-seins kennzeichnen soll, und zwar dergestalt, dass sich der Mensch nun ganz grundsätzlich seiner natürlichen Reste schämt, seiner anachronistischen leiblichen Verfassung, die er kollektiv als Zurückgebliebenheit und Antiquiertheit deutet. Maßgeblich für diese neue, abwertende SelbstDeutung seien, wie gesagt, unter anderem die Massenmedien und unter ihnen speziell das Fernsehen und Radio. Sie arbeiten Anders zufolge an der Verfertigung des prometheisch Beschämten tagtäglich mit, denn diese fütterten in kleinen Portionen jene technisch fabrizierten Vorbilder ein, denen Menschen zu entsprechen suchten, um soziale Wirklichkeit und Anerkennung zu erhalten. Das Fernsehen produziere jedoch nicht direkt den Beschämten, sondern zunächst den Massen-Eremiten. Dieser ist dadurch ausgezeichnet, dass er alleine konsumiert – wenn auch synchronisiert mit anderen Eremiten, die die unendlichen Angebote wahrnehmen, die ihnen nun per Fernseher oder Radio ins Haus geliefert werden. Während die Warenproduktion zwar vor allem auf die Bedürfnisse und den Hunger nach Zerstreuung zugeschnitten sei, gebe es umgekehrt den Fall der »dürstenden Ware« mit zu bedenken. So wie keine Maschine nur für sich existiere, so existiere auch keine Ware allein für sich. Als solche ist sie stets in ein Warenuniversum eingelassen, in das sie ihre Käufer und Konsumenten gleich mit einbaut, deren (Konsum‑)Verhalten sie damit prägt und situiert. Die flächendeckende Interdependenz der Produktionen und Produkte untereinander würden einen schadenfreien Rückzug des 18 Siehe ebd., S. 67-69.

475

Individuums verunmöglichen, etwa den Verzicht auf Elektronik. Ein Rückzug aus dem flächendeckenden Medienuniversum sei undurchführbar, weil das bedeuten würde, zu existieren, ohne in der Welt zu sein. Die Welt habe sich im Laufe der Geschichte aufgrund kommunikations- und verkehrstechnischer, ökonomischer und politischer Umbrüche mehrfach massiv verändert – und damit auch die Anforderungen an menschliche Umwelt-Anpassungen. Sie müsse zum Beispiel nicht mehr aktiv bereist und fehleranfällig durchdrungen werden, da sie nun telegen nach Hause zugestellt werde. Die Welt werde dabei aber portioniert, und zwar in vorgeformte Ausschnitte, Programme und serielle Formate, die Anders später »Matrizen« nennt. Die schablonenhaften Zuschnitte der Welt des Fernsehens setzten dabei ins Bild, was selbst kein Bild ist, nämlich Ereignisse. Diese würden a) entweder direkt für das Fernsehen produziert oder sie seien b) aus dem Zeitfluss und Kontext ihrer Entstehung herausgerissen, würden als Meldung oder sensationelle Nachricht umformatiert und so in die Ordnung der instantanen und alles synchronisierenden Gegenwart und Ontologie des Fernsehens eingetragen. Die vermeintlich dokumentierten Ereignisse agierten insofern ideologisch, als sie vorgeben zu sein, was sie gerade als Bilder und Schablonen nicht sind – nämlich unvordenklicher Welthorizont und Wirklichkeit. Die Bilder setzten sich, unbemerkt vom Zuschauer, an die Stelle der Wirklichkeit, mit der er sie dann gleichsetzt. So werde die Welt zum Phantom und zugleich als solche zu einem neuen, prägenden Habitat der Rezipienten, die sich auf diese phantomhafte Welt in ihrem Imitations‑, Kommunikations‑ und Konsumptionsverhalten anpassen, sich in diese einfügen und darin ihrerseits transformieren würden. Dies ist die Simulationstheorie avant la lettre. Fernsehzuschauer wie Konsumenten würden dergestalt nebenbei zu heimlichen Heimarbeitern ohne Lohn, denn sie arbeiten, so Anders weiter, an der dauernden Produktion des Massen­ konsumenten mit, in den sie sich je selbst täglich neu verwandeln. Damit dreht sich das Reproduktionsverhältnis allerdings unmerklich um. Im Kulminationspunkt der medialen Matrizen fallen Welt, Selbst und Phantasma unentwirrbar zusammen, so dass es kein Außen mehr dazu gibt. Das hypermimetische Verhältnis von Fans zu Film-Stars oder eben auch das von Ereignis zu Sendung stehen ihm hierfür Pate. Daraus zieht er den medien- und kultur476

kritischen Schluss: »Die Lüge lügt sich wahr. Und das Zusammenfallen von Wahrheit und Lüge führt zur postideologischen Zeitrechnung.«19 Jeder kritische Impuls, inklusive der seiner eigenen Diagnose, bleibe merkwürdig ort- und hilflos, weshalb der Zeitgeist versuche, insgesamt affirmativ zu sein. Eben in diesem Versuch, sich affirmativ an eine geradezu erhabene Technikwelt anzupassen, stoße der gleichwohl leiblich gebundene Mensch, bei allen Bemühungen um human engineering etwa durch Schönheitsoperationen, Diäten oder Sport, an seine Grenzen, die sich in besagter Scham kundtun würden. Nun lassen sich mit Bezug auf diese Zeitdiagnose verschiedene Einwände erheben, die Anders selbst anführt und diskutiert: 1) Die These von der prometheischen Scham ist absurd; 2) die prometheische Scham ist unsichtbar und daher phänomenologisch nicht erfassbar; 3) die zeitdiagnostische These von Anders ist redundant, da sie nicht neu ist. Der erste Einwand will Anders’ Gedanken der prometheischen Scham als absurd erweisen, indem er die These vom Homo faber in Anschlag bringt, der zufolge Maschinen und Medien durch Menschen produziert seien, womit die Scham ihren Grund verliere. Dem begegnet Anders mit dem Argument, dass erstens die meisten gerade nicht die Produzenten, sondern bloße Zeitgenossen ihrer Medien und Maschinen seien. Und zweitens würden in einer arbeitsteiligen Ökonomie selbst da, wo Arbeiter und Programmierer an der Verfertigung von Maschinen und Programmen teilhätten, diese im Sinne von Marx vom Arbeitsprodukt so abgespalten bleiben, dass der Stolz des Produzenten auf die eigene Produktion auch dann entfalle. Interessanter ist der zweite Einwand, der besagt, dass die von Anders zugeschriebene Scham überhaupt nicht beobachtbar sei. Anders antwortet darauf so, dass er zunächst zugesteht, dass die Scham sich nur mittelbar aus Verhaltensweisen entnehmen lasse. Die relative Unsichtbarkeit der Scham habe jedoch gleich mehrere Ursachen: Während die bekannten Schamarten sich früher von Mensch zu Mensch abgespielt hätten und dort als Kommunikationsbarrieren wahrnehmbar geworden seien, würde es sich bei der prometheischen Scham um den Verkehr zwischen Mensch und 19 Ebd., S.  194.

477

Maschine oder Medium handeln. Da der beobachtungsfähige Partner damit fehle, fehle auch die Verzeichnung der Schamregung. Zudem, so Anders, trete Scham sowieso nie auf, da ihr Impuls ja gerade dahin geht, sich zu verstecken. Der sich Schämende will ja seinen vermeintlichen Makel verbergen. Nun sei aber der sich Schämende des 20. Jahrhunderts in seiner besonderen Lage unfähig, seinen Wunsch, »in Grund und Boden zu versinken«, vollständig zu realisieren. Daraus ergeben sich Anders zufolge nun wiederum zwei »dialektische Folgen«, die die Unsichtbarkeit der Scham erklären würden. Erste Folge: Da die Scham durch ihre Sichtbarkeit den Makel bloßstellt, tritt zu der ursprünglichen Scham eine zweite hinzu – die Scham über die Scham. Scham akkumuliert derart auf nahezu automatische Weise – »gewissermaßen genährt durch ihre eigene Flamme; und brennt umso heißer, je länger sie brennt«.20 Zweite Folge: Im Sinne einer Bewältigungsmaßnahme würde der Rückgriff auf eine Art Trick naheliegen. Anstatt seinen Mangel und sich selbst zu verbergen, verberge der prometheisch Beschämte seine Scham und ihren Verbergungsgestus. Er springe daher in eine direkt der Scham entgegengesetzte Attitüde: die der Unverschämtheit. Um also seine Verbergungslust zu verbergen, entschließt sich der Beschämte, sich auf die Ebene der normalen Sichtbarkeit zurückzubegeben. Wenn Scham unsichtbar bleibt, so schlussfolgert Anders, dann deshalb, weil sie durch Sichtbarkeit verborgen wird. Dem dritten Einwand, dem zufolge die prometheische Scham nichts Neues bietet, sondern nur das wiederholt, was unter anderem Charlie Chaplin in Modern Times als Verdinglichungsproblem bereits satirisch zugespitzt hatte, begegnet er mit dem Hinweis auf eine zweite, neue Stufe der Verdinglichung, die historisch erst jetzt erreicht worden sei. Denn dass gerade eine noch größere Verdinglichung im Sinne der besseren Geräteanpassung das maximale Begehren des prometheisch Beschämten sei, der sich nun, anders als je zuvor, unter dem Gesichtspunkt seiner Geräte bewerten würde, sei die neue Lage. Keine zu starke Verdinglichung also, sondern eine zu schwache, eine, die den antiquierten Körper nicht abzuhängen verstehe, mache das neue negative Selbstverhältnis aus.21 Der prometheisch Beschämte betrachte sich mit den Verachtungs20 Ebd., S.  29. 21 Vgl. ebd., S. 30.

478

gefühlen, welche die Dinge ihm gegenüber hätten, wenn sie Gefühle besäßen. Insofern schlägt er sich auf die Seite der ihn Beschämenden und ist in deren Lager übergelaufen. Die Rede vom »Angeblicktwerden der Dinge«, so Anders, sei nicht metaphorisch zu verstehen. Nicht der Umstand, dass die Dinge, mit denen wir täglich umgehen und leben, uns kennen und wahrnehmen, sei eine absurde Annahme. Vielmehr sei die entgegengesetzte Annahme absurd, es sei objektiver und deshalb richtiger zu behaupten, dass sie es nicht täten und wir in einer stockblinden und toten Umwelt leben würden. Auch wenn es in einem bestimmten Sinne »objektiver« sei, den Blick der Dinge auf uns zu leugnen, so sei es doch nicht automatisch in subjektiver Hinsicht objektiver. Hier greift Anders auf etwas zurück, das eingangs und unabhängig von ihm als »subjektive Objektivität und Allgemeinheit« eines Denkens des Lebens angesprochen wurde. Es ist nach Anders einfach Teil der vortheoretischen Weltauffassung, sich in der sichtbaren Welt auch als ein von dieser Wahrgenommener aufzufassen. Dass wir Dichter, Mythen und Märchen ohne weiteres verstehen würden, die uns so viel von den animierten Dingen schreiben, läge eben daran, dass es unterschiedliche Perspektiven und Wirklichkeitsqualitäten gebe. Kurzum: Anders hält es für ein (natur‑)wissenschaftliches Vorurteil, der metaphorischen Sprache und Wahrnehmung jeglichen Wirklichkeitskontakt abzusprechen. Sie gehören zum Register des lebendigen Denkens, das vom Leben aus denkt, in das es eingebettet ist. Dass sich diese vortheoretischen Annahmen verflüchtigen würden, sobald sie theoretisch expliziert werden sollen, macht ja für Anders (mit Heidegger) gerade ihren epistemischen Status als lebensbezogene Annahmen aus. Denn lebendige Wahrheit entziehe sich ja, pace Hegel, als solche allen wissenschaftlich-epistemischen Zugriffen.

Negativität 3 In vielem trifft Anders’ Zeitdiagnose heute auf das digitalisierte Zeitalter fast noch besser zu als auf die 1950er Jahre, in denen er sie formulierte. Sie hat daher an Aktualität und Gültigkeit sogar noch über die Zeit hinweg gewonnen. Wenn daran dennoch etwas unbefriedigend wirkt, so ist dies nicht die These von der un479

bewusst alles grundierenden, kollektiven, prometheischen Scham als solcher. Vielmehr ist es die merkwürdige Ausweglosigkeit und Geschlossenheit, die in dieser Zeitdiagnose mitschwingt und die Anders’ Ansatz seinerseits unter Ideologie- und Einseitigkeitsverdacht stellt. Was ist, wenn Leben und Denken auch unter Bedingungen eines technischen Apriori plastischer, unberechenbarer und unbestimmter ausfallen, als Anders suggeriert? Um derartige Möglichkeiten auszuloten, soll hier abschließend eine dritte Konzeption von Negativität zu Worte kommen, nämlich die Krafttheorie von Christoph Menke.22 Leitend ist dabei die Intuition, dass sich mit Menkes Konzept der »Kraft« Anders’ medienphilosophische Deutung von Negativität für ein Denken von Freiheit und Kritik öffnen lässt, das weder naiv hinter das Niveau seiner Diagnose noch in die versöhnende Geschichtsphilosophie Hegels zurückfällt, sondern einen dritten Weg eröffnet, der zur Ästhetik führt. Denn für Menke ist es die philosophische Ästhetik, die sich sogar explizit der Verhältnisbestimmung von Denken und Sein, Wahrheit und Leben verschreibt: »Die Ästhetik denkt in der Betrachtung der Kunst über den menschlichen Geist nach«.23 Dabei sind speziell die widersprüchlichen und unglücklichen Dimensionen des menschlichen Lebens in vielen Bereichen wie etwa Komödie und Tragödie sogar genrebildende Themen. Dass sogar das Leben selbst als eine tragische Veranstaltung begriffen werden kann, wäre eine vielleicht überspitzte Interpretation von Anders, die er jedoch selbst nahelegt. Das zentrale Moment des Unglücks des prometheisch Beschämten besteht ja darin, etwas Grundlegendes nicht zu können. Nicht gekonnt wird etwas, das die vom Menschen vergötterte, technische Umwelt dauernd von ihm fordert, doch zu können: auf technischem Funktionsniveau mitzuhalten (etwa endlos reproduzierbar, austauschbar und flexibel zu sein) und, wie Anders zugespitzt sagt: gemacht anstatt geboren zu sein. Dieses Unvermögen hintertreibt die Ausbildung jeglicher Form von souveräner Subjektivität. Das ausweglose Leiden bewirkt das Unvermögen dann darin, dass es selbst eine affektive Form der abstrakten Negation von Freiheit und aller Alternativen zu ihm ist. Damit verbleibt Anders’ Argumentation jedoch in den Grenzen einer rein vermögenstheoretischen 22 Christoph Menke, Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frank­ furt/M. 2008; ders., Die Kraft der Kunst, Frank­furt/M. 2013. 23 Menke, Die Kraft der Kunst, S. 9.

480

Auffassung von Denken und Subjektivität. Und dem verdankt die Suggestion der rein destruktiven Qualität der sich selbst reproduzierenden Scham (Negativität) ihre Plausibilität. Wie Christoph Menke nun herausstellt, lassen sich jedoch spätestens seit dem Aufkommen der Ästhetik im weiteren Sinne des Wortes eine vermögens- und eine krafttheoretische Auffassung des Geistes unterscheiden. In der Erläuterung dessen, was es heißt, lebendig zu sein und ein (frei) denkendes Subjekt zu werden, finde diese Diskrepanz in der Auffassung vom menschlichen Geist, der nach Menke im Sinne Hegels das Leben einschließt, in der Kunst ihren primären Reflexionsort. So sei es (nur) in vermögensphilosophischer Tradition Usus (etwa bei Autoren wie Aristoteles, Descartes, Leibniz, Baumgarten und anderen), Subjektwerdung an die gelingende Einübung und Ausführung von Handlungspraktiken zu koppeln, die durch allgemeine Gesetze und Normen sanktioniert und vorgegeben sind. Ein subjektives Selbst auszubilden heißt demnach, erfolgreicher Teilnehmer einer geteilten Praxis zu werden, deren Maßstäbe immer schon verinnerlicht und affirmiert werden müssen. Demgegenüber werde in krafttheoretischer Lesart (etwa bei Autoren wie Sokrates, Nietzsche oder Herder) ein Tätigkeitsprinzip ins Zentrum gestellt, das sich keiner Disziplin und übend-lernenden Anpassung an allgemeine Gesetze verdanke. Gegenüber den praktisch-rationalen Vermögen seien mithin auch Kräfte der irrational-sinnlichen Art mitzubedenken, die ihrerseits in der Lage seien, Bewegungen aller Art, darunter auch die des Geistes, hervorzubringen. Die sinnlichen Kräfte entzögen sich als eigene Varianten eines Tätigkeitsprinzips jeglicher zweckrationalen Plan- und Kontrollierbarkeit und auch jeglicher Form von subjektiver Inbesitznahme. Als dunkle Kräfte stehen sie anders als die praktischen Vermögen für überschüssig-formierende und immer neu auch umformende, unbewusste und selbstursprüngliche Wirkpotentiale. Als solche können sie sich etwa in der Figur der künstlerischen Muse und Begeisterung sowie der spielerischen Lebendigkeit, die durch Kunst übertragbar werde, exemplarisch manifestieren.24 Ob man anthropologisch nun eher darauf aus ist, den Menschen vermögenstheoretisch oder eben doch eher krafttheoretisch zu denken, so Menke, sei »ein Streit, der seit der Erfindung der Ästhetik die 24 Ebd., S.  11.

481

Philosophie spaltet«.25 Dass beide Seiten, Vermögen und Kräfte, in einem irreduziblen und produktiven Spannungsverhältnis stehen und auch auf ausgewogene Weise stehen müssen, wenn nicht einseitig entweder die Erstarrung in Form und Disziplin (Vermögen) oder die Entgleitung des Lebens und Denkens in die Formlosigkeit des Rausches (Kraft) überhandnehmen soll, ist für Menke der spezifisch ästhetisch-anthropologische Beitrag zur Philosophie. Speziell an der Figur tragischer Künstler*innen lässt sich nach Menke, der in diesem Punkt auf Nietzsche zurückgreift, veranschaulichen, was eine krafttheoretische Lesart genauer einbringt. Tragische Künstler*innen würden sich in ihren Werken direkt dem Hässlichen, Fragwürdigen, Abgründigen und Ausweglosen zuwenden. Dabei würden sie jedoch immer schon mehr von sich mitteilen als die bloße Fixierung auf Verzweiflung, Trauer oder auch Scham über das je tragisch Dargestellte. Sie priesen nämlich ihr eigenes kreatives Dasein und ihre formbildenden Kräfte gerade angesichts der kunstvollen Darstellungen des tragischen Leidens selbst an, die sie in ihren (gelungenen) Werken zur Erscheinung bringen. Die schiere Existenz gelungener Tragödien also, die ohne die gelingende Befolgung von Regeln und Könnerschaft, und das heißt ohne die Beherrschung von trainierten Fertigkeiten (Vermögen), ihrerseits nicht möglich wäre, verweist darauf, dass die Tragiker*innen als tätige Kunstproduzent*innen auch dort noch kreativ tätig sein können, wo lebenspraktisches Können und Handeln angesichts tragischer Aussichtslosigkeiten längst versiegen und verstummen müssen. Wo man handelnd und kalkulierend scheitert und gar verzweifelt, könnten sich immer noch Kräfte entfalten, die bildende Tätigkeiten wie Assoziieren, Fabulieren, Träumen und Wünschen hervorbringen. Diese (ein‑)bildenden Tätigkeiten sind Menke zufolge als ästhetische Formierungen ihrem Ursprung und Modus nach von normativ-praktischen Handlungen im engeren Sinne zu unterscheiden. Kräfte befreien vom Diktat der Könnerschaft. Beides jedoch, Vermögen und Kräfte, bleiben im Leben aufeinander verwiesen, weil das Leben seiner eigenen, inneren Entzweiung gemäß weder ohne Disziplin noch ohne Freiheit auskommt (zumindest nicht, ohne unglücklich zu werden). Er schreibt: 25 Menke, Kraft, S. 24.

482

Nur für jemanden also, für den es beide Formen des Guten gibt, kann es eine von beiden geben. Eine Form des Guten allein ist nicht gut. Sie setzt die andere Form des Guten, deren Tätigkeit, im Handeln oder Spiel, sie sich entgegensetzt, voraus. Im Blick auf die Künstler lernen wir nicht nur die Unterscheidung des Guten, sondern das Gute der Unterscheidung (des Guten).26

Lebendigkeit kann dann unter Umständen sogar in der tragischen Kunst gesteigert erfahren werden.27 Diese Haltung ist nicht mit einem Zynismus zu verwechseln, der sich in der Affirmation von Leid, Hilf- und Ausweglosigkeit noch irgendwie überlegen wähnt, und auch nicht mit brutalem Heroentum, das jegliche Empathie überspringt und damit das Verständnis des Lebens verspielt. Zynismus und Heroismus versuchen nämlich beide, durch einen Sprung ins Abstrakte die Inkompetenz eigener Vermögen zu kompensieren. Darin bleiben sie jedoch einseitig der Vorstellung vom absicherbaren, guten Leben der praktischen Rationalität verpflichtet, ohne sich dem Risiko auszusetzen, sich einem überschüssigen Treiben fortwährender Negationen und Umbildungen des Lebens und der Kunst zu überlassen (wofür die Kräfte stehen). Wie Menke hervorhebt, gibt es für (tragische) Künstler*innen das kategorial andere Gute des spielerischen Wirkens lebendiger Kräfte. Ihre künstlerischen Werke gelingen überhaupt nur, wenn sie von der Fixierung auf das Gelingen gerade ablassen.28 Kräfte zeichne es aus, nichts zu sistieren und fixieren zu wollen. Eben dies anzuerkennen, indem man sich zum Beispiel von Einfällen und von der Begeisterung mitreißen lässt, führe auf einer Ebene zweiter Ordnung sozusagen zu Selbstgenuss. Die Kraft mache nicht halt bei einer bestimmten Begeisterung über eine bestimmte Form der Kunst und des Lebens und auch nicht bei sich selbst. Ihre Unverfügbarkeit überträgt sie noch auf die ästhetische Freiheit vom praktischen Weltbezug, die sie ermöglicht. Künstler*innen ist demnach dreierlei abzulernen: erstens, zwischen dem praktisch und dem spielerisch-ästhetisch Guten zu unterscheiden; zweitens, die unversöhnbare Spaltung der Polarität praktischer und ästhetischer Bewegungspotentiale anzuerkennen, die auch dem subjektiven Selbstverhältnis eingeschrieben ist, das, drittens, dauernd neu dazu angehalten ist, sich zu bewegen 26 Ebd., S.  128. 27 Ebd., S.  122. 28 Ebd., S.  123.

483

und zu überschreiten. Wo spielerische Freiheit einsetzt, da kann sie gegebenenfalls sogar noch ein verzweifeltes Handlungspotential zu weiteren Anschlüssen entfalten. Was sich ästhetisch artikuliert, ist schließlich aus Menkes Sicht auf die Formel zu bringen: das Nicht-Können zu können. Und so ist schließlich sogar doch etwas zu »lernen« aus den rauschhaften und überschießenden Momenten ästhetisch gesteigerter Lebendigkeit und der Lust am Leben, nämlich zu unterscheiden zwischen gutem Handeln und gutem Leben, zwischen sich selbst, verstanden als erfolgreichem Teilnehmer einer sozialen und technischen Welt, und sich selbst, verstanden als lebendigem Wesen spielerischer Kräfte. Für die prometheisch Beschämten von Anders hieße das, Distanz (zu sich) zu finden und die eigene Selbstspaltung anzuerkennen. Dafür ist die Fixierung auf die eigene technische Transformation und Machbarkeit gerade dort, wo die eigene Dysfunktionalität deutlich hervortritt, zugunsten einer temporär intermittierenden Perspektive und Orientierung auf das andere Gute des Lebens einzuklammern. Es bedeutet, in seiner Existenz das Risiko bejahend einzugehen, sich dem assoziativen und sinnfrei-verspielten Strudel sinnlicher Kräfte zu überantworten, wo keine rationale Handlung hinführt. In Zuständen des Traums, im Humor, im Rausch, in der Liebe oder eben in der Kunst tun sich jene aktiven Kräfte kund, die von allzu engen Zwecksetzungen und Sinnvorstellungen ins Offene des Lebens freisetzen. Dem auch zu folgen bedeutet, das eigene Nicht-Können angesichts anonymer und größerer Mächte lebensbejahend affirmieren zu können.

484

Zu den Autorinnen und Autoren Hauke Brunkhorst ist Professor für Soziologie an der Universität Flensburg. Rüdiger Campe ist Alfred C. and Martha F. Mohr Professor of German und Professor of Comparative Literature an der Yale University. Robin Celikates ist Associate Professor of Political and Social Phi­ losophy an der Universität von Amsterdam. Catherine Colliot-Thélène ist Prof. em. für Philosophie an der Université de Rennes 1. Penelope Deutscher ist Joan and Sarepta Harrison Professor of Philosophy an der Northwestern University. Alexander García Düttmann ist Professor für Philosophische Ästhetik, Kunstphilosophie, Kultur- und Kunsttheorie an der UdK Berlin. Lutz Ellrich ist Prof. em. für Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft mit besonderer Berücksichtigung der Medienwissenschaft an der Universität zu Köln. Andreas Fischer-Lescano ist Professor für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität Bremen. Rainer Forst ist Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Eva Geulen ist Direktorin des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung und Professorin für europäische Kultur- und Wissensgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Raymond Geuss ist Prof. em. für Philosophie an der University of Cambridge. 485

Lydia Goehr ist Professor of Philosophy an der Columbia University. Stefan Gosepath ist Professor für Moralphilosophie und Politische Philosophie an der Freien Universität Berlin. Anselm Haverkamp ist Prof. em. für Literaturwissenschaft an der Europa-Universität Viadrina und an der NYU sowie Honorarprofessor für Philosophie an der LMU München. Carl Hegemann ist Theaterschaffender und unterrichtet an Hochschulen und Universitäten u. a. in Frankfurt am Main, Hamburg, München und Zürich. Axel Honneth ist Prof. em. für Sozialphilosophie an der GoetheUniversität Frankfurt am Main und Jack C. Weinstein Professor of the Humanities an der Columbia University. Andrea Kern ist Professorin für Geschichte der Philosophie an der Universität Leipzig. Thomas Khurana ist Lecturer in Philosophy an der University of Essex und gegenwärtig Heisenberg-Stipendiat der DFG. Gertrud Koch ist Professorin für Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Daniel Loick ist Fellow am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien an der Universität Erfurt. Bettine Menke ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Christoph Möllers ist Professor für Öffentliches Recht, insbesondere Verfassungsrecht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Terry Pinkard ist University Professor für Philosophie an der George­town University. 486

Robert Pippin ist Evelyn Stefansson Nef Distinguished Service Professor of Social Thought and Philosophy an der University of Chicago. Dirk Quadflieg ist Professor für Kulturphilosophie und -theorie an der Universität Leipzig. Francesca Raimondi ist Juniorprofessorin für Philosophie an der Kunstakademie Düsseldorf. Juliane Rebentisch ist Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung Offenbach. Sebastian Rödl ist Professor für Praktische Philosophie an der Universität Leipzig. Beate Rössler ist Professorin für Philosophie an der Universität von Amsterdam. Frank Ruda ist Senior Lecturer für Philosophie an der University of Dundee. Martin Saar ist Professor für Sozialphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Martin Seel ist Professor für Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Dirk Setton ist Vertretungsprofessor für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung Offenbach. Dieter Thomä ist Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen. Katrin Trüstedt ist Assistant Professor of German an der Yale University. Christiane Voss ist Professorin für Philosophie audiovisueller Medien an der Bauhaus-Universität Weimar. 487