Kunst, Krise, Subversion: Zur Politik der Ästhetik [1. Aufl.] 9783839419625

Kann Kunst heute noch subversiv sein? Oder ist Kunst kein maßgebliches Feld gesellschaftlicher Verhandlungen und Verände

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Kunst, Krise, Subversion: Zur Politik der Ästhetik [1. Aufl.]
 9783839419625

Table of contents :
Inhalt
Prolog
Vorwort
Einleitung
TEIL I
Insurrektion und symbolische Arbeit. Graffiti in Oaxaca (Mexiko) 2006/2007 als Subversion und künstlerische Politik
Die bestechenden Anderen (und das Bestechen der Anderen). Subversion, Massenkultur und das (politische) Subjekt im Werden
Künstler/-innen in Bewegung
Dekoloniale Ästhetik. Das Museum verlernen und wiedererlernen durch Pedro Laschs Black Mirror/Espejo Negro
Kunst jenseits von Gesellschaft. Subversion und Rekuperation der zeitgenössischen Kunst
Kunst, Politik und Polizei im Denken Jacques Rancières
Eine andere Art von Universalität
TEIL II
Absageagentur
DETOX TWO: Detox yourself in an artificiaLINZed area
Dummy yourself!
Games for Social Change: Das Computerspiel Frontiers von gold extra
Parasitäre Publikationen und Feindliche Übernahmen
LIFE@WORK: Der Unternehmensauftritt von Monkeydick-Productions
Im Café Museum
LET ME OUT!
Radical ATM Service
I-R.A.S.C. [ i-ràs ] – Infrarotlicht gegen Überwachungskameras
The Superenhanced Generator
X. und Y. gegen Frankreich
Queer Beograd: Borderfuckers Cabaret
Innocent Subliminals
Psychological Prosthetics
Open Source Ecology
European Advertising Agency (EUAA): Agentur der Europäischen Union (2002-2009)
Autorinnen und Autoren

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Nina Bandi, Michael G. Kraft, Sebastian Lasinger (Hg.) Kunst, Krise, Subversion

Drucklegung mit freundlicher Unterstützung von:

Nina Bandi, Michael G. Kraft, Sebastian Lasinger (Hg.)

Kunst, Krise, Subversion Zur Politik der Ästhetik

Die Rechte des Beitrags »Eine andere Art von Universalität« von Jacques Rancière aus dem Buch »Die Erfindung des Möglichen« liegen beim Passagen Verlag (2012). Abbildung S. 322-3: Graffiti Transnacional, Konzeption Sebastian Lasinger, Malerei Mike Heindl

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Sebastian Lasinger Lektorat & Satz: Nina Bandi, Michael G. Kraft Korrektorat: Karin Monteiro-Zwahlen, Anna Szostak Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1962-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Prolog

Christian Diabl | 9 Vorwort

Nina Bandi, Michael G. Kraft, Sebastian Lasinger | 13 Einleitung

Nina Bandi, Michael G. Kraft, Sebastian Lasinger | 19

TEIL I Insurrektion und symbolische Arbeit. Graffiti in Oaxaca (Mexiko) 2006/2007 als Subversion und künstlerische Politik

Jens Kastner | 37 Die bestechenden Anderen (und das Bestechen der Anderen). Subversion, Massenkultur und das (politische) Subjekt im Werden

Anna Schober | 63 Künstler/-innen in Bewegung

Sabeth Buchmann, Cristóbal Lehyt | 105 Dekoloniale Ästhetik. Das Museum verlernen und wiedererlernen durch Pedro Laschs Black Mirror/Espejo Negro

Walter Mignolo | 129 Kunst jenseits von Gesellschaft. Subversion und Rekuperation der zeitgenössischen Kunst

Suzana Milevska | 149

Kunst, Politik und Polizei im Denken Jacques Rancières

Nina Bandi, Michael G. Kraft, Sebastian Lasinger | 167 Eine andere Art von Universalität

Jacques Rancière | 183

TEIL II Absageagentur

Thomas Klauck | 199 DETOX TWO: Detox yourself in an artificiaLINZed area

Christiane Schuller, Florian Tampe | 207 Dummy yourself!

Biederpunk | 211 Games for Social Change: Das Computerspiel Frontiers von gold extra

Sonja Prliü, Karl Zechenter | 215 Parasitäre Publikationen und Feindliche Übernahmen

Ruppe Koselleck | 227 LIFE@WORK: Der Unternehmensauftritt von Monkeydick-Productions

Sonja Mönkedieck, Rhoda Tretow | 237 Im Café Museum

Johannes Grenzfurthner/monochrom | 245 LET ME OUT!

Ondrej Brody, Kristofer Paetau | 257 Radical ATM Service

Iván Kozenitzky, Federico Lazcano | 263

I-R.A.S.C. [ i-ràs ] – Infrarotlicht gegen Überwachungskameras

U.R.A./FILOART, Olaf Arndt | 271 The Superenhanced Generator

UBERMORGEN.COM | 277 X. und Y. gegen Frankreich

Patrick Bernier, Olive Martin | 285 Queer Beograd: Borderfuckers Cabaret

Jet Moon | 293 Innocent Subliminals

Gregor Rozanski | 303 Psychological Prosthetics

Dee Hibbert-Jones, Nomi Talisman | 307 Open Source Ecology

Marcin Jakubowski | 313 European Advertising Agency (EUAA): Agentur der Europäischen Union (2002-2009)

Daniel Bleninger, Masao Akiyama | 317 Autorinnen und Autoren | 325

Prolog C HRISTIAN D IABL »Bleib brav, bleib subversiv!« SUBVERSIVMESSE LINZ 09

So könnte Subversion aussehen: »Kleine, schwache Radiosender verschaffen auf begrenztem Raum in der rigiden, unidirektional organisierten Radiolandschaft Sendeplatz. Diese Einheiten können an Luftballons getragen, an Rädern und Autos befestigt, im Stadtgebiet zirkulieren, bzw. werden vom Wind übers Land getragen.«1

Zu Gast war das Projekt auf der Subversivmesse in Linz, der weltweit ersten Fachmesse für Gegenkultur und Widerstandstechnologien. Diese außergewöhnliche Veranstaltung im Rahmen der Europäischen Kulturhauptstadt 2009 ist Anlass und Inspiration für dieses Buch. Der Verein Social Impact realisierte einen spannenden Spagat zwischen subversiver Praxis und messeüblicher Publikumstauglichkeit. Die Messe lud ein, subversive Kunst- und Aktionsformen hautnah zu erleben und zu erlernen. 50 Gruppen und Künstler/-innen aus 22 Nationen präsentierten ihre Projekte in messetypischen Kojen und lockten damit über 5000 Besucher/-innen in die Linzer Hafenhalle. Das Verhältnis von Kunst und Politik stand dabei inhaltlich im Zentrum und wurde unter dem Gesichtspunkt der Subversivität analysiert, diskutiert und praktisch erprobt.

1

Projektbeschreibung Hörstörung auf http://www.subversivmesse.net.

10 | CHRISTIAN DIABL

Ein hürdenreicher Weg Zum angekündigten Flug der Störsender kam es aber nicht, denn der Eiertanz der Organisatoren und Organisatorinnen zwischen politischem Anspruch und den Zwängen eines geförderten Kulturhauptstadtprojektes ging nicht immer gut. Der Messe ist ein zum Teil hartes Ringen mit verschiedensten Behörden vorausgegangen. Zu den üblichen bürokratischen Hürden kam die tatsächliche oder unterstellte politische Brisanz der Veranstaltung bzw. einzelner Aussteller/-innen. Sogar der militärische Nachrichtendienst observierte vor Ort.2 Für besondere Aufregung sorgte neben Hörstörung der Plan von Checkpoint Linz ausgerechnet am Einkaufssamstag alle drei Donaubrücken zu blockieren. Um drohende Umsatzeinbrüche im Einzelhandel abzuwehren, protestierte sogar die Wirtschaftskammer. Die Intendanz von Linz09 sorgte daraufhin für massiven Druck auf das Messeteam und die Absage der beiden Aktionen. Das waren aber nicht die einzigen Anlässe für Auseinandersetzungen. Ausstellungsbeiträge wie die Kiosk Revolution, wo Krisen-Akteure aus Politik und Finanz mit Gemüse beworfen werden konnten oder das Short Rebel Clown Training für Widerstandsformen im Rahmen von Demonstrationen, gingen vielen deutlich zu weit. »Linz09 finanziert Krawall-Kurse«3, klagte etwa das Gratis-Blatt Heute. Die rechtspopulistische Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) schoss scharf auf die Messe und richtete sogar eine parlamentarische Anfrage an die Innenministerin. Mehrheitlich waren die Reaktionen aber typisch österreichisch. Die meisten rezipierten die subversiven Aktivitäten mit einer Mischung aus oberflächlicher Neugier, scheuer Distanziertheit und mildem Lächeln. Ein »Welttreffen der Weltverbesserer«4 mit »Ideen fürs gute Leben«5. Wirklich etwas damit anzufangen wussten aber die wenigsten. Ganz anders die Besucher/-innen und vor allem die Aktivisten und Aktivistinnen vor Ort.

2

Profil, 30.9.2009.

3

Heute, 14.5.2009.

4

Die Presse, 7.2.2009.

5

Kurier, 13.5.2009.

PROLOG | 11

Das produktive Chaos Für vier Tage wurde Linz tatsächlich zum gefühlten Zentrum der Subversion. Man konnte hautnahen Kontakt mit subversiven Elementen knüpfen. Umsturzstrategien wurden diskutiert und trainiert, neue Widerstandstechnologien auf ihre Alltagstauglichkeit und Wirksamkeit erprobt. Ziel war es, ein produktives Chaos zu erzeugen und letztlich auch den revolutionären Prozess voranzutreiben. Der Erfahrungs- und Wissensaustausch stand dabei im Mittelpunkt. Die Messe wollte ihre Experten und Expertinnen als Dienstleister/-innen der gesellschaftlichen Veränderung ernst nehmen und dabei unterstützen. Sie hatten Gelegenheit ihr Angebot zu präsentieren, sich zu vernetzen, und potenzielle Mitstreiter/-innen kennenzulernen. Über die Messe hinaus sollte damit die Dynamik der Projekte unterstützt werden. Für jene Besucher/-innen, die das Erlernte gleich in die Tat umsetzen wollten, bot die Messe auch juristische Informationen an, denn Subversion bewegt sich oft an der Grenze der Legalität. Abseits der starken Praxisorientierung blieb aber auch Raum für theoretische Debatten. Vorträge und moderierte Gespräche sorgten für eine Vertiefung der Materie. Probleme wie die Rekuperation oder die Unvereinbarkeit zwischen dem für Werbung, Mode- und Musikindustrie genutzten Widerstandsimage und der revolutionären Realität wurden diskutiert. Linzer Imagepolitik Dass ein Projekt wie die Subversivmesse ausgerechnet in Linz erdacht, finanziert und umgesetzt wurde, verwundert auf den ersten Blick ein wenig. Denn die Stadt wird im Ausland primär mit ihrem berühmtesten Sohn assoziiert, verbrachte doch Adolf Hitler Teile seiner Kindheit und Jugend in und um Linz. Hier ging er ins Gymnasium und das immer schon sehr deutsche Linz bildete einen starken Kontrast zur multikulturellen Habsburger Metropole Wien. Als Diktator machte er die Provinzstadt später zur Führerstadt. Linz sollte – massiv vergrößert und umgestaltet – Hitlers Alterssitz werden. Noch in den letzten Kriegstagen brütete er über einem Modell des neuen Linz, von dem freilich wenig realisiert wurde. Trotzdem hat er die Stadt verändert. Durch umfangreiche Eingemeindungen und die Errichtung eines großen Stahlindustriekomplexes wuchs Linz zu einer wohlhabenden mit-

12 | CHRISTIAN DIABL

telgroßen Stadt; einer schmutzigen Industriestadt mit schlechter Luft. Und so musste ein neuerlicher Imagewandel her. In den letzten Jahrzehnten investierte die Stadt gezielt in Kunst und Kultur. Brucknerfest und Ars Electronica ziehen heute Besucher/-innen aus aller Welt und an der Kunstuniversität studieren Menschen aus ganz Europa. Linz wurde zur Kulturstadt. So zumindest die eigene Legende. Den kreativen Nährboden bilden jedoch die vielen selbstverwalteten Initiativen abseits der städtischen Großprojekte. Diese Szene ist auch in der Kulturstadt Linz wenig geschätzt und hoffnungslos unterfinanziert. Subversive Tradition Widerstand und Subversion haben in Linz aber tatsächlich eine gewisse Tradition. Immerhin war die Stadt 1934 Ausgangspunkt des bewaffneten Kampfes gegen den faschistoiden Ständestaat, der Österreich nach der Zerschlagung der Demokratie 1933 bis zum deutschen Einmarsch 1938 regierte. Die ersten Schüsse fielen hier in Linz. Dieser widersprüchliche Mix aus des Führers Lieblingsstadt und antifaschistischer Pionierleistung, aus Provinz und Industriestadt, aus Deutschtum und Migration prägt Linz und seine Menschen bis heute. Und so ist es vielleicht kein Zufall, dass die Subversivmesse mit ihren inszenierten und tatsächlichen Widersprüchen ein Produkt dieser Linzer freien Szene ist. Das Kollektiv Social Impact rund um Harald Schmutzhard und Barbara Pitschmann hatte jedenfalls die Idee, das Konzept und die nötige Hartnäckigkeit, um dieses Ereignis möglich zu machen. Überschattet wurde die Messe von dem plötzlichen Verschwinden der Projektleiterin Barbara Pitschmann, einen Tag vor der Eröffnung. Zwei Wochen später bestätigten sich dann die schlimmsten Befürchtungen. Barbara hatte sich das Leben genommen. Ohne sie hätte es weder die Messe noch diese Publikation gegeben. Und ihr ist dieses Buch gewidmet. Linz war nach der Messe nicht viel anders als vorher. Und doch schwärmt die Aktivisten- und Aktivistinnenszene noch heute von der kreativen Atmosphäre in der und um die Hafenhalle. Sie hat vor allem eines geschafft: Neue Allianzen wurden geschmiedet, Menschen haben sich kennengelernt und der Begriff Subversion erhielt auch außerhalb einschlägiger Kreise einen gewissen Charme.

Vorwort N INA B ANDI , M ICHAEL G. K RAFT , S EBASTIAN L ASINGER

Die Idee zum hier vorliegenden Sammelband gründet in der im Rahmen von Linz Europäische Kulturhauptstadt 2009 veranstalteten Subversivmesse – Fachmesse für Gegenkultur und Widerstandstechnologien. Im Mai 2009 präsentierten im Linzer Hafen dutzende Aktivisten und Aktivistinnen vier Tage lang die neuesten Entwicklungen auf dem Widerstandssektor. Den Organisatoren und Organisatorinnen gemäß sollte die Messe Folgendes ermöglichen: •

»Im authentischen Messeambiente kann ein hautnaher Kontakt mit den subversiven Elementen geknüpft werden.



Durch den konzentrierten Austausch werden Strategien für einen radikalen Umsturz der Gesellschaft gebündelt.



Mit einem Mix aus praktischen Werkzeugen, theoretischem Wissen, aktivistischen Interventionen, politischen und künstlerischen Widerstandsformen, wird ein produktives Chaos erzeugt, das den revolutionären Prozess vorantreibt.« (Pitschmann 2009: 186)

Konnten diese Ansprüche eingelöst werden? In welche Richtung wurden neue, produktive Energien gebündelt, welchen Verschränkungen leistete die Messe Vorschub und inwiefern konnte man Ansätze dazu liefern, wie Widerstand machbar sei? Obgleich sich dieser Sammelband nicht als Kunstkatalog zur Dokumentation der Subversivmesse versteht, soll er doch auch der umfangreichen und aufwändigen Arbeit an der Subversivmesse durch das Projektteam, und dabei insbesondere der Projektleiterin Barbara Pitschmann, die in tragischer Art und Weise noch vor Beginn der Messe

14 | NINA B ANDI , M ICHAEL G. KRAFT , S EBASTIAN L ASINGER

aus dem Leben schied, sowie ihrem innovativen Ansatz Rechnung tragen. Die Idee einer Messe für Subversion, Gegenkultur und Widerstandstechnologien speist sich, so Pitschmann, aus folgenden Überlegungen: »Motive, die auf die Austragung einer klassischen Publikums- oder Fachmesse zutreffen, haben ebenso für die Subversivmesse Relevanz: Nur auf einer Messe bietet sich die Gelegenheit, eine Vielzahl von Produkten und deren Herstellern und Herstellerinnen direkt kennen zu lernen und auszuprobieren. Ein umfangreicher kommunikativer Prozess wird initiiert und führt zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den Inhalten. Die Struktur und der Charakter einer Messe vermitteln eine geringere Hemmschwelle als etablierte Kunstinstitutionen und davon profitiert nicht nur der Informationsaustausch. So können sich die Besucher/-innen auf der Subversivmesse fernab von gängigen Betrachtungsweisen orientieren und bewegen. Sie haben die Möglichkeit, in unmittelbaren Kontakt zu den Ausstellern und Ausstellerinnen zu treten und Workshops, Vorträge und Produktpräsentationen zu besuchen.« (Pitschmann 2009: 190)

Gerade das gewählte Format der Messe verdeutlicht, dass sich das Projektteam kommerzielle Ausstellungs- und Verkaufsformen aneignen und durch Überaffirmation und Entfremdung positiv umdeuten wollte. Aber sind derartige Formate und Mechanismen, welche einem bestimmten Herrschafts- und Wirtschaftssystem zugeordnet sind, bedingungslos und beliebig wandelbar? Zusätzlich stellt sich dabei die Frage, welche Wirkungen damit erzielt werden. Die Gratwanderung, an der sich Subversion bewegt, zeigt sich auch dadurch, dass die Subversivmesse dazu diente, der oberösterreichischen Landeshauptstadt ihr Image als biedere Industriestadt und kulturelle Provinz abzustreifen. »Dass die Barockstadt Linz in Österreich ein besonders umstürzlerischer Ort

sei, hat bisher kaum jemand behauptet. Doch im Rahmen ihres Jahres als Kulturhauptstadt Europas 2009 setzt die Stadt nun zur Offensive an. Vom 14. bis 17. Mai wird sie Schauplatz einer sogenannten Subversivmesse, bei der ›die neuesten Entwicklungen auf dem Widerstandssektor‹ präsentiert werden.« (Focus Online 2009)

V ORWORT | 15

Auch in anderen Medien wurde dieser Wagemut einer Kulturhauptstadt hervorgehoben: »Die internationale Resonanz auf die Subversivmesse war jedenfalls erstaunlich groß und deutet darauf hin, dass man sich gerade als Organisator eines Kulturhauptstadtjahres etwas trauen darf.« (Heinze 2009)

Wie stellt sich der selbstgestellte Anspruch, »Projekte/Aktionen/Arbeiten, die Herrschaftsverhältnisse und Machtformen auf produktive Weise unterlaufen und sich im öffentlichen Raum Gestaltungsmacht aneignen« (Social Impact 2009) im Hinblick auf seine realen Wirkungen dar? Also doch, Subversion als Bereitstellung produktiver Differenzen und Marketingkonzept lokaler Kulturpolitik? An diesem Beispiel wird ersichtlich, dass nicht zufälligerweise der Subversionsbegriff spätestens seit den 1990er Jahren in der theoretischen Diskussion höchst umstritten ist. Man agiert in einem pluralen, kontingenten Raum, in dem die Wirkungen nicht steuerbar sind bzw. andere, als die erwarteten Effekte hervorrufen werden. Zwar gab man sich dieser Fantasie des »Agieren-Könnens, Verführen-Könnens und der Meisterschaft« (siehe den Beitrag von Anna Schober in diesem Band) vonseiten der Projektleitung der Subversivmesse nicht blauäugig hin, doch hielt man ein ambivalentes Verhältnis zur Subversion durchaus aufrecht. Man sprach von »Widerstand ist machbar – der angenehme Weg zur Revolution« (Social Impact 2009) und die Projektleiterin Barbara Pitschmann hielt in einem Interview mit der Tageszeitung Oberösterreichische Nachrichten (OÖN) nicht unironisch fest: »Vor Subversion braucht niemand Angst zu haben.« (Barbara Pitschmann, zitiert in: OÖN 2009) Diesem Unbehagen der Subversion nimmt sich der hier vorliegende Sammelband an. Die Herausgeber/-innen wollen mit dieser Publikation das Verhältnis von Kunst, Politik und Subversion aus unterschiedlichen Perspektiven diskutieren und derart einen fruchtbaren Austausch zwischen Theorie und Praxis ermöglichen.

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D ANKSAGUNG Diese Publikation hätte ohne die unermüdliche Arbeit und Unterstützung zahlreicher Personen nicht verwirklicht werden können. Die Herausgeber/-innen möchten deshalb an dieser Stelle all jenen danken, die das Projekt durch die oftmals stürmische See (lokaler Kulturförderpolitik) steuern halfen und die Schotten dicht machten. Ganz besonders sind wir in dieser Hinsicht Christian Diabl zum Dank verpflichtet, der als Initiator dafür sorgte, dass dieses Buchprojekt in See stechen konnte und dank unermüdlicher Unterredungen auf lokaler Ebene den Boden dafür bereitete, dass das Buch auch finanziell lebensfähig wurde. Sein Verständnis für das Projekt, das entgegengebrachte Vertrauen und seine Solidarität gaben uns den Mut in manch schwieriger Stunde weiterzumachen und das Land in der Ferne nicht aus den Augen zu verlieren. Weiters möchten wir dem Verein Social Impact, dabei insbesondere Daniela Deutsch und Harald Schmutzhard, für die Unterstützung danken. Sie gaben uns hilfreiche Inputs und Hinweise zu den auf der Subversivmesse vertretenen Künstlern und Künstlerinnen. Jens Kastner gab uns zu Beginn des Projekts wertvolle inhaltliche Anregungen und Rena Rädle zweckdienliche Hinweise zum ästhetischen Regime im Postkommunismus. Andreas Neuhold unterstützte uns dabei, den Blick auf das rancièresche Universum weiter zu schärfen und zu vertiefen. Unseren aufrichtigen Dank für sein entgegengebrachtes Vertrauen und seinen Zuspruch, das Interview mit ihm auf Deutsch zu publizieren, möchten wir Jacques Rancière aussprechen. Jörg Huber von der Zürcher Hochschule der Künste und Markus Mittmansgruber vom Passagen Verlag ermöglichten es schließlich, dass der Beitrag von Jacques Rancière in diesem Sammelband erscheinen konnte. Axel John Wieder und dem Künstlerhaus Stuttgart danken wir für die Abdruckgenehmigung des Interviews von Sabeth Buchmann mit Cristóbal Lehyt. Für die grafische Unterstützung danken wir Thomas Engljähriger, Christian Hofer, Gerhard Schmadlbauer und Wilfried Winkler sowie Pedro Lasch für die Bereitstellung der Fotografien seiner Ausstellung Black Mirror/Espejo Negro. Für die Unterstützung beim Korrektorat des Sammelbandes sind wir Anna Szostak und Karin Monteiro-Zwahlen zu Dank verpflichtet.

V ORWORT | 17

Dem transcript Verlag danken wir für die kompetente Betreuung und das entgegengebrachte Vertrauen; allen Fördergebern und -geberinnen für die notwendigen finanziellen Mittel zur Realisierung dieses Projekts. Wir danken allen Beitragenden, die mit ihrer Bereitschaft, ihre Reflexionen niederzuschreiben, zum Gelingen dieses Projektes beigetragen haben. Wir widmen dieses Buch Barbara Pitschmann, die auf tragische Weise viel zu früh aus dem Leben schied. Ohne ihren Einsatz und Mut hätte es weder dieses Buch noch die Subversivmesse gegeben.

L ITERATUR Focus Online (2009): »Umstürzlerisch: Subversivmesse in Linz«, http://www.focus.de/kultur/musik/szene-umstuerzlerisch-und132 subversivmesseund147-in-linz_aid_399197.html, abgerufen am 25.10.2011. Heinze, Dirk (2009): »Von der Kulturprovinz zum Geheimtipp«, in: Kultur und Management im Dialog (KM) – das Monatsmagazin von Kulturmanagement Network 34, S. 18-21. OÖN (2009): »Subversiv-Messe: Linz09 geht in den Untergrund«, in: Oberösterreichische Nachrichten vom 12.9.2009. Pitschmann, Barbara (2009): »Der Markt. Teil II«, in: Franz Nahrada (Hg.), Unsichtbare Intelligenz. Kritik, Vision und Umsetzung – Bausteine einer neuen Theoriekultur, Wien: Mandelbaum, 185-99. Social Impact (2009): SUBVERSIV MESSE – Sei brav, bleib subversiv, Pressaussendung vom 12.5.2009.

Einleitung N INA B ANDI , M ICHAEL G. K RAFT , S EBASTIAN L ASINGER »Diese Krise wird ziemlich schnell vorüber sein.« GUY SORMAN »Der autoritär geführte Kapitalismus ist der Gewinner der jetzigen Krise.« SLAVOJ ŽIŽEK

K UNST

UND

P OLITIK

Ausgangspunkt der hier vorliegenden Publikation ist die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Subversion, die gerade jetzt, zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, neue Aktualität erkennen lässt. In einem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, in dem die Krise zum Normalzustand wird und sich die Brüche in vorherrschenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen offenbaren, wird verstärkt von unterschiedlichsten Seiten die Forderung und Hoffnung an die Kunst herangetragen, Lösungsmöglichkeiten und Auswege aus der gegenwärtigen Gesellschaftsverfassung zu finden. Wenn dies allerdings bedeutet, dass Kunst ein abgetrenntes Feld konstituiert, das von außen Alternativen hervorbringen kann, gilt es dann nicht vielmehr das Verhältnis von Kunst und Politik genauer zu beleuchten und die jeweiligen Grenzziehungen zu hinterfragen? In diesem Sinn greift die Frage, »Stellt die Krise der liberalen repräsentativen Demokratien und der marktkapitalistischen Ökonomien auch eine Krise der Kunst dar und führt sie zur weiteren Marginalisie-

20 | NINA B ANDI , M ICHAEL G. KRAFT , S EBASTIAN L ASINGER

rung künstlerischer Positionen, oder bietet sie nicht vielmehr die Möglichkeit für neue, radikale künstlerische Ansätze?«, welche als Zündung für dieses Projekt gewirkt hat, zu kurz. Es gilt nicht nur die Bedingungen der Möglichkeit einer emanzipatorischen Kunst auszuloten, sondern auch deren Hintergründe und Verschränkungen zu untersuchen. Dass Kunst nicht autonom behandelt werden kann und eine Verschränkung mit den politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnissen unbedingt mitgedacht werden muss, ist vermutlich nicht Gegenstand grundsätzlicher Uneinigkeit. Auf welche Art und Weise jedoch die Verbindungen und die Räume der einzelnen Felder gedacht werden, diese Frage steht im Zentrum dieser Publikation. So geht es den Herausgebern und der Herausgeberin nicht um einen eng gefassten Kunstdiskurs, der innerhalb des Kunstfeldes verhaftet bleibt, sondern es ist die Intention, das Feld der Subversion und der Kunst, die »ihre eigene Politik hat« (Rancière und Höller 2007), zu öffnen und dadurch die impliziten Verschränkungen zu Politik, Gesellschaft und Ökonomie sichtbar zu machen und zu diskutieren. Worin liegt das emanzipatorische Potential von Kunst, welcher Logik folgt sie unter den Vorzeichen einer kapitalistischen Moderne, wie ist ihr Verhältnis zur Politik zu denken? Welche Rolle spielt sie im Kampf sozialer Bewegungen und in welcher Art und Weise bleibt sie in einem eurozentristischen Diskurs verhaftet? Seit dem Höhepunkt der globalisierungskritischen Bewegung, die spätestens 1999 in Seattle auf der Weltbühne ankam und nur zwei Jahre später mit den Terroranschlägen vom 11. September und dem darauffolgend alles dominierenden Sicherheitsdiskurs zum Nebendarsteller degradierte wurde, können wir heute wieder eine verstärkte Artikulation der »Anteilslosen« (Rancière 2002) ausmachen. Eine neue Protestwelle in Europa gegen die unsozialen Folgen von Austeritätsmaßnahmen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Europäischen Union zur Sanierung der Staatshaushalte und Rettung der Banken spült in Griechenland und Spanien tausende von Menschen auf die Straßen, Studierende sprechen sich gegen die Kommodifizierung von Bildung aus (wie in Österreich, Großbritannien, Kroatien oder Chile) und in London ermächtigen sich ausgegrenzte plündernde Jugendliche ihres perversen Rechts auf Konsum. In Kroatien formen sich insurrektionale Blitze gegen neoliberale Strukturanpassungsmaßnahmen im Hinblick auf den EU-Beitritt und Arbeiter/-innen in Serbien führen ihren lang-

E INLEITUNG | 21

jährigen Kampf für Arbeiter/-innenselbstverwaltung und gegen korrupte Privatisierungen fort. Außerhalb Europas formieren sich in den nordafrikanischen Staaten breite Protestbewegungen, die oftmals westlich gestützte Regime von lokalen Eliten zu Fall bringen, Proteste für einen Ausstieg aus der Kernenergie nach dem Super-GAU von Fukushima prangern den technologischen Fortschrittsglauben der Moderne und dessen gesellschaftliche Risiken aufs Neue an, Israel erlebt die größte Protestwelle seiner Geschichte angeführt von einer ökonomisch zunehmend marginalisierten Mittelschicht, und in New York besetzen Demonstranten und Demonstrantinnen die Wall Street. Abseits von diesem eurozentristischen Blickwinkel führen soziale Bewegungen in Lateinamerika ihren Kampf für eine gerechtere Gesellschaftsordnung unbeirrt vieler Errungenschaften in den letzten Jahren weiter und auch in Südasien und anderen wenig beachteten Weltregionen kämpfen die Menschen für ihren Anteil, wie es sich am Beispiel des langen Marsches der Landlosen in Indien oder der Proteste der Wanderarbeiter/-innen in China zeigt. Diese Entwicklungen werden im eurozentristischen Diskurs häufig unter der Schablone einer Krise der repräsentativen Demokratie interpretiert (vgl. z.B. Crouch 2008). Demnach sieht sich eine Mehrheit der Bevölkerung im liberalen, repräsentativen politischen System nicht mehr vertreten. Eine Folge davon könnte sein, dass sie wieder verstärkt versucht in Protesten, Demonstrationen, Massenmobilisierungen oder kreativen Protestformen dieser falschen Entwicklung einer Politik, die sich selbst nur noch als Steigbügelhalter einer Wirtschaftslobby versteht, entgegenzuwirken. Wie Badiou (1990: 11) festhält, ist Politik heute an den »Despotismus der Zahl« gebunden. Nicht die Auseinandersetzungen um ein sinnstiftendes Gemeinwesen stehen im Vordergrund, sondern Simulakren der Aufrechnung von Stimmen, Anteilen, Gewinnen und Verlusten. Während Finanzmärkte psychologisiert und emotionalisiert werden,1 wird den Menschen unter dem Deckmantel unterstellter ökonomisch-deterministischer Zusammenhänge die Fähigkeit abgesprochen, ihre gesellschaftlichen Verhältnisse partizipativ

1

Zeitungsberichte zur europäischen Schuldenkrise schreiben diesbezüglich: »Die Börsen bleiben nervös« (FAZ.NET 2011) oder »Die staatlichen Schuldenberge machen den Finanzmärkten jetzt Angst« (Deutsche Welle 2011).

22 | NINA B ANDI , M ICHAEL G. KRAFT , S EBASTIAN L ASINGER

und selbstbestimmt zu organisieren und den Raum des Sag- und Machbaren neu zu definieren. Rancière (2010) weist uns auf das Paradox der Politik hin. Denn die Zählung, die dem Politischen zugrunde liegt, fußt auf einer fundamentalen Verrechnung (le mécompte).2 Das Anmaßende von Politik, so Rancière, ist die In-Eins-Setzung von einem Teil des Ganzen mit dem Ganzen selbst. Es ist »der Skandal eines Teiles, der sich mit dem Ganzen gerade im Namen seiner Stellung eines beherrschten Teils, dem Unrecht geschieht, gleichsetzt […]« (Rancière 2010: 89).3 Nur durch diese Verrechnung ist Politik, das heißt die Erhebung jenes Teils der Bevölkerung, der in der herrschenden Ordnung keinen Platz zugewiesen hat und somit ausgegrenzt ist, möglich.4 Wie aber lässt sich die Verbindung von Politik und Kunst denken? Auf den ersten Blick ist die Besonderheit dieses Zusammenhangs nicht augenscheinlich, so man der Auffassung erliegt, dass Kunst dem Museum und anderen Kunstinstitutionen zugeordnet gehört und Politik auf eine Mengenlehre, die liberalen parlamentarischen Demokratien eigen ist, reduziert wird. Derart würden sich die Überschneidungen und Verknüpfungen von Kunst und Politik wohl in den gewohnten Bahnen bewegen. Entweder wird die Autonomie des Kunstwerks als ein der Politik Außenstehendes verkündet oder temporäre Mikro-Utopien (vgl. Bourriaud 1998) werden im Rahmen des Museums erprobt. Ebenfalls nicht unproblematisch ist die heute explizit politisierte Kunst, die in den öffentlichen Raum hinausgetragen wird und die Leerstellen des Sozialen zu kitten sucht. Anstatt diesen Anspruch erfüllen zu können, sucht sie eher die Funktionen der Politik zu übernehmen und läuft dadurch Gefahr, der Entpolitisierung Vorschub zu leisten. So kann sich das als emanzipatorisches Element der Kunst er-

2 3

Für eine detaillierte Darstellung siehe Rancière 2002. Gemäß Rancière und in Anlehnung an Foucault wird diese Herrschaftsordnung als Polizei bezeichnet. Rancière fasst das, was gemeinhin Politik genannt wird, als Polizei auf. Es ist die Gesamtheit der Prozesse, welche die Macht organisieren, Aufgaben, Stellen und Funktionen zuweisen und diese Zuteilung legitimieren. Im allgemeinen Sinn zielt Polizei daher auf eine spezifische »Anordnung der Körper« ab und definiert »die Weisen des Handelns, des Seins und des Redens« (Rancière 2010: 82).

4

Beispiele dafür sind der dritte Stand in der Französischen Revolution oder die Rufe der Leipziger Demonstranten 1989: »Wir sind das Volk!«

E INLEITUNG | 23

dachte Moment bei genauerer Betrachtung als eine selbstgenügsame Nachbarschaftspolitik erweisen, welche den durch die bestehenden Machtverhältnisse abgesteckten Rahmen nicht zu verlassen vermag. Im Gegensatz dazu liegen nach Rancière das Besondere der Kunst und ihr Verhältnis zur Politik darin begründet, dass sie eine spezifische materielle und symbolische Raum-Zeit einrichtet, welche die gewöhnlichen Formen sinnlicher Erfahrungen suspendiert (vgl. Rancière 2008: 33). Kunst kann also nicht auf eine lineare Art und Weise gezielte politische Wirkungen erzielen. In diesem Sinne steht sie im Spannungsverhältnis zur Politik, die ebenso eine abgetrennte Sphäre der gemeinsamen Erfahrung konstituiert. Die Frage, die sich uns stellt, ist folglich wie sich daraus Räume und Geografien des Widerstandes eröffnen können. Wie kann eine Auseinandersetzung um das Politische und das Gemeinschaftliche in einem von marktliberalen Kräften dominierten Umfeld mit verstärkter Vehemenz geführt werden? An dieser Stelle will dieses Buch ansetzen. Es will einen Beitrag dazu leisten, Räume, Erfahrungen, Praktiken und Strategien aufzuzeigen, wie solche topoi des Widerstandes neu verhandelt werden können und welchen Beschränkungen und Gefahren man dabei ausgesetzt ist. Das Feld der Kunst kann uns dabei dienlich sein, wie die Beiträge in diesem Band zeigen. Kunst bezieht sich auf eine bestehende Gesellschaftsordnung und kann über sie hinausgehen, indem sie Ausblicke auf ein kommendes Gemeinschaftliches eröffnet. Sie kann Wege, Räume, Ideen, Utopien und Emanzipationspotentiale aufzeigen. Sie agiert allerdings auch in einem pluralen und kontingenten Raum, kann angeeignet werden und affirmativ wirken. Ebenso besteht die Gefahr, dass sie als Platzhalter für politische Subjektivierungsprozesse verstanden wird und damit zum Substitut der Politik wird.

T HEORIE

UND

P RAXIS

Die Auseinandersetzung mit dem Themenfeld der Kunst ist oft dadurch geprägt, dass eine ausgesprochene Trennung zwischen künstlerischer Praxis und Theorie aufrechterhalten wird. Gerade im Hinblick auf eine Repositionierung des Verhältnisses von Kunst und Politik anhand des Begriffs der Subversion muss auch diese Trennung infrage gestellt werden. Analog der Aufweichung der Grenzen zwischen

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Künstlern bzw. Künstlerinnen und Publikum, was mit dem spezifischen Format der Subversivmesse anvisiert wurde, geht es in dieser Publikation auch darum, das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis anders zu denken. Es handelt sich nicht um einen einfachen Sammelband oder Kunstkatalog zur Dokumentation der Subversivmesse. Die Auseinandersetzung geht vielmehr sowohl auf der theoretischen wie auch auf der künstlerisch-praktischen Ebene darüber hinaus. Die Subversivmesse dient als Anlass, eine Reflexion zum Verhältnis von Subversion, Politik und Kunst zu führen. So speist sich der Band einerseits aus einem konkreten Anlass und setzt andererseits diese beiden oftmals voneinander getrennten Diskursstränge zueinander in Beziehung. Diesem Bestreben wollen wir Genüge tun, indem nicht nur Theoretiker/-innen Stellung nehmen, sondern auch mehrere der auf der Subversivmesse vertretenen Künstler/-innen den ihrem Schaffen zugrunde liegenden Subversionsbegriff theoretisch aufarbeiten. Auf diese Weise findet eine Auseinandersetzung mit den eigenen Bedingungen der Möglichkeit, »subversive« Kunst zu machen, statt. Diesen Beiträgen, welche gerade in ihrer Verschiedenartigkeit klar machen, dass das Verhältnis von Kunst und Politik sowie der Begriff der Subversion nicht abschließend verortet werden können, wenden wir uns in dieser Einleitung als Erstes zu. Erwähnenswert erscheint uns hierbei, dass sich manche Künstler/innen ganz bewusst dagegen entschieden, ihr Schaffen bzw. ihr subversives Handeln in theoretischen Abhandlungen darzulegen. Eine Künstler/-innengruppe erklärte uns, dass sie dazu übergegangen sei, ihre Projekte nicht mehr zu erläutern, sondern auf das sinnliche Erleben zu setzen. Für diese Erkenntnis war die Subversivmesse der unmittelbare Ausgangspunkt. Dort stellte sich heraus, dass mehr Interesse und Neugier hervorgerufen werden konnte, wenn man – anstatt das Projekt zu erklären – die Produkte, welche im Rahmen des Kunstprojekts hergestellt wurden, als Fake zum Verkauf anbot. Die Leute recherchierten danach im Internet zu den Produkten, die es auf dem realen Markt gar nicht gab und die Resonanz war ungleich größer. Andere haben sich der Verschriftlichung nicht ganz entzogen, präsentieren ihren Text jedoch in künstlerischer bzw. literarischer Form (vgl. beispielsweise die Beiträge von Patrick Bernier und Olive Martin sowie Johannes Grenzfurthner/monochrom). Die Weigerung von künstlerischer Seite, die eigene Arbeit in Worte zu fassen, wirft die Frage auf, inwiefern man Kunst und in diesem

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Fall das Politische der Kunst theoretisieren kann. Wenn wir davon ausgehen, dass die Wirkung von Kunst nicht vorhergesehen werden kann und daher nicht strategisch einsetzbar ist, scheint es nachvollziehbar, dass Künstler/-innen sich davor hüten, ihre eigene politische Wirkmächtigkeit zu thematisieren. Entweder würden sie jegliche Effekte vorwegnehmen oder etwas vorinterpretieren, das sie nicht erfüllen können. Es geht hier also auch um die Frage der Deutungshoheit eines künstlerischen Werkes, welche nicht in erster Linie beim Künstler oder bei der Künstlerin selbst zu liegen braucht. Nichtsdestotrotz war es unser Anliegen, dem Standpunkt der Künstler/-innen Raum zu geben, um nicht bloß eine von außen herangetragene Theorie abzuhandeln. Eine kurze Übersicht der Beiträge soll dabei die angesprochenen Thematiken verdeutlichen. Das von den Veranstaltern und Veranstalterinnen der Subversivmesse gewählte Messe-Format beeinflusste sowohl die Auswahl der Künstler/-innen als auch die von ihnen verwendeten Methoden. Dies lässt sich besonders an der häufig verwendeten Strategie der Überaffirmation kommerzieller, neoliberaler Logiken festmachen. Psychological Prosthetics zum Beispiel nutzen die »Tatsache, dass die Öffentlichkeit eher bereit ist mit Verkäufer/-innen über Politik zu reden als mit Künstlern und Künstlerinnen« und verpacken ihre »alternative Perspektive« in ein kommerzielles Format und stellen es für den Konsum bereit. Das Publikum scheint die Ironie darin allerdings nicht zu erkennen. Trotzdem gehen Psychological Prosthetics davon aus, dass sie damit Diskussionen anregen und größere Kreise der Bevölkerung zur Reflexion bewegen können. Solche Anstöße hoffen auch andere an der Subversivmesse beteiligte Künstler/-innen zu liefern. Monkeydick-Productions versuchen ebenfalls mit der Übernahme einer Corporate Identity auf gewisse Ausgrenzungsmechanismen hinzuweisen. Dass dabei eigene Widersprüche nicht auflösbar sind, sind sich Sonja Mönkedieck und Rhoda Tretow (von Monkeydick-Productions) bewusst. Sie setzen auf das Moment der Konfrontation, auch wenn die Beschränktheit der Wirkung dadurch aufgezeigt wird, dass die Botschaft in ihren Augen oftmals nur in kunstinteressierten und akademischen Kreisen verstanden wird. Die Konfrontation mit gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen und Machtstrukturen kann durchaus auch über eine körperliche bzw. sinnliche Erfahrung geschehen. Ein Beispiel dafür sind Biederpunk, die mit einem gegen die Wand fahrenden Gerät eine »homöopa-

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thische Übung der Gefahr« anbieten, bei der einerseits Mut gefragt ist und andererseits die Elemente von Werbung und Überzeugungskraft (wie auf einer Messe üblich) eingesetzt werden. Ähnlich geht es bei der DETOX-Sauna darum, eigene Hemmschwellen zu überwinden und auch auf einem Messegelände bereit zu sein, sich auszuziehen, um den Erfahrungshorizont zu erweitern. Da das Publikum auf der Subversivmesse in solchen »Mutproben« schon Übung hatte, war die zu leistende Überwindungsarbeit nicht mehr sehr groß, wie die DETOX-Veranstalter/-innen festhalten. Für sie stellt sich darum auch die Frage, wie eine solche Wirkung erzielt werden kann, ohne zu einem bloßen Spaßobjekt zu verkommen. Die Antwort könnte ungefähr so lauten: »Für unsere Subversivität brauchen wir persönliche Erfahrungen, Authentizität und eine Menge Hoffnung und Glauben.« Das Projekt Radical ATM Services arbeitet ebenfalls mit einer Wahrnehmungsverschiebung durch eine sinnliche Erfahrung, allerdings mit dem Faktor Angst. Sie nutzen »eine gewöhnliche Praxis innerhalb des kapitalistischen Diskurses«, mit der sie versuchen die Aufmerksamkeit des Gegenübers zu erregen. »Gelingt es, einem Anderen Angst einzuflößen, ist das Interesse für einen gewissen Zeitraum garantiert.« Ihre Strategie nennen sie Soft Terrorism. In den Augen der Künstler von Radical ATM Services funktioniert diese interessanterweise durch ein Paradox, und zwar, dass es gerade »jene Aufforderung zum Gehorsam [ist], die dazu führt, dass die Nutzer/-innen ihr Geld einen Moment lang vergessen und sich ganz auf die Lieder, Spiele und Texte auf dem Radical ATM einlassen.« Der Moment der Angst wird demnach, anstatt nur der Wiedereinschreibung in die Logik des repressiven Systems zu dienen, für subversive Ansätze nutzbar. Neben einem künstlerischen Subversionsbegriff, den man am ehesten als Konfrontation im Zusammenspiel mit Überaffirmation verstehen könnte und bei dem unter anderem das Erleben einer gewissen sinnlichen Erfahrung im Zentrum steht, lässt sich Subversion allgemein als Unterminierung des Bestehenden (wie es Anna Schober in ihrem Beitrag ausdrückt) deuten. Diese Interpretation wirft die Frage auf, von welchem Bestehenden hier die Rede ist. Die auf der Subversivmesse vertretenen Künstler/-innen nehmen dazu verschiedene Positionen ein. Wie schon aus den obigen Beispielen ersichtlich wird, geht es oft um eine ökonomistische Logik, gegen die gearbeitet wird. So formulieren es Radical ATM Service: »Unserer Meinung nach ist es wichtig, dass die Subversion des 21. Jahrhunderts die Logik des Mark-

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tes destabilisiert und Identitäten hervorbringt, die nicht über Konsum oder Verwertbarkeit vermittelt sind.« Sie grenzen sich mit dieser Aussage von einer Subversion des Staates ab: »Traditionelle Subversive gehen immer noch davon aus, dass die Grammatik des Staates hegemonial ist. Sie glauben, dass man den Staat angreifen muss und so die Welt verändert. Doch sie verhalten sich ähnlich anachronistisch wie die Maschinenstürmer zu Zeiten der Industriellen Revolution. Denn längst hat der Markt die Herrschaft übernommen.« Man kann allerdings nicht davon ausgehen, dass die künstlerische Bearbeitung von Macht- und Kontrollfunktionen des Staates an Relevanz eingebüßt hätte. Während es bei der Absageagentur (in Anlehnung an die deutsche Bundesagentur für Arbeit) noch um eine Umdrehung der marktökonomischen Vereinnahmung des Staates geht, sieht sich I.-R.A.S.C (mit einem Gerät, das Gesichter vor CCTV-Kameras mithilfe von Infrarotlicht unkenntlich macht) als »Sicherheit vor der Sicherheit und somit [als] Reaktion auf die Asymmetrie der Kräfte zwischen dem Staat und dem Individuum«. Ebenso ist die Befragungssoftware Superenhanced Generator von UBERMORGEN.COM eine Überaffirmation der staatlichen Gewaltausübung. Auf multinationaler bzw. EU-Ebene operieren gold extra und EUAA, erstere mit einem Computerspiel, das den Weg von Asylsuchenden nach Europa nachspielen lässt, letztere mit einer fiktiven EU-Agentur, die sich für Werbeliberalisierung einsetzt. Weder die Macht des Marktes noch die des Staates zu unterwandern gilt es für Innocent Subliminals. Dies bedeutet, dass Veränderungen nicht mehr in größeren sozialen Gefügen, sondern auf mentaler und psychischer Ebene in unseren Köpfen geschehen können. »Wahre Veränderung erfordert intellektuelle Anarchie […] und Autonomie, um unseren eigenen individuellen Staat in unserer Imagination zu errichten […]. Nach einem derartigen Akt ist nichts mehr von Bedeutung und keine Macht kann mehr eine Bedrohung unserer inneren Freiheit darstellen.« Also »Zerstöre keinen Staat – gründe deinen eigenen«. Daraus würde sich gemäß Innocent Subliminals zumindest folgern lassen, dass die Möglichkeit für wirkliche Veränderung eher bei der Kunst und nicht bei der Politik zu suchen wäre. Die eigene Vorstellungskraft zu sprengen ist auch eines der Anliegen von Open Source Ecology. Mit dem »Ziel ein robustes und reproduzierbares Toolkit zum Aufbau von Post-Knappheit- und widerstandsfähigen Gemeinschaften« zu entwickeln, versuchen sie der von

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Monopolisierungstendenzen geprägten neoliberalen Marktwirtschaft den »wahren Geist des freien Unternehmertums« als Alternative entgegenzusetzen. Eine Flucht nach vorne sozusagen. Sie machen dabei, wie auch einige andere Künstler/-innen auf der Subversivmesse, das Open Source Modell zu ihrem Prinzip. In Zeiten, in denen Patente und Urheberrechte mit allen Mitteln geschützt werden, lässt sich somit eine künstlerische Verbreitung von Open Source Ideen feststellen. Die Effektivität wird erst dadurch gewährleistet, dass jeder nachbauen oder nachahmen kann. Gleichzeitig lässt sich daran eine Vorstellung von Gemeinschaft, eine Idee des Kommunalen, erkennen, welche der Markt- und insbesondere der Profitlogik entgegensteht und welche durchaus als Anleihe für die Frage nach Alternativen dienen könnte. Während Open Source Ecology an einem sehr konkreten Modell von der kommenden Gesellschaft arbeiten, steht bei den anderen Künstlern und Künstlerinnen allerdings ein subtileres Bild im Raum. Subversion als Unterminierung des Bestehenden lässt sich zum Beispiel als Schaffung »einer anderen, möglichen Version oder Vision von Wirklichkeit« interpretieren. Subversion als »Sub-Version«, wie es Ruppe Koselleck ausdrückt. Für ihn kann Kunst nicht anders als subversiv sein, »weil sie auf eine andere als die reale Realität verweist«. Gleichzeitig ist Subversion, und damit auch Kunst, dem System inhärent und wirkt stabilisierend. Dem kann, gemäß Koselleck, nicht entgangen werden. Worauf er aber hinweist, ist, dass es um eine Verschiebung der Wahrnehmung geht. »All das kann sichtbar werden, was Sie noch nie wissen wollten!« Diese Verschiebung wirkt umso mehr, wenn der oder die Kunstschaffende nur für zufällige Zuschauer/ -innen produziert und dabei selbst verborgen bleibt. Dies gelingt Koselleck mit dem Projekt Ich und Ikea, indem er Ikea-Geschäfte als Ausstellungsraum nutzt und deren begehbare Wohnräume zufällig mit eigenen Stücken versieht. Ondrej Brody und Kristofer Paetau, die mit dem Projekt LET ME OUT ursprünglich die Absicht hatten, einen schreienden Papagei auf der Messe zu präsentieren, arbeiten mit ähnlichen Mitteln, die auf eine Sinnesverschiebung abzielen. Sie wollen aber auch ganz gezielt die »der Kunstwelt inhärenten Mechanismen und deren Konventionen kritisieren und parodieren.« Für sie kann demnach keine künstlerische Praxis per se subversiv sein. Im Gegenteil, sie muss kontext- und momentbezogen sein. Diese Kontingenz der Wirkmächtigkeit künstlerischer Praktiken lässt sich insbesondere an Queer Beograd zeigen. Bevor es dieser

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queer und transgender Künstler/-innengruppe überhaupt um eine Öffentlichkeit oder ein Nach-außen-tragen gehen konnte, war das Ziel, einen Raum zu schaffen, in dem durch kollektive Solidarität individuelle Ermächtigung möglich wird. Das auf der Subversivmesse präsentierte Kabarett ist dann durchaus als Unterhaltung mit einer politischen Botschaft gedacht. Zentral ist dabei, den Konnex zum alltäglichen politischen und sozialen Leben aufrechtzuerhalten. »Von wo aus sonst könnten wir denn auch handeln? Es geht um diese alte Geschichte, ›das Persönliche ist politisch‹ und darum dies auszuweiten und um unsere eigenen Geschichten anzureichern.« In diesem Zusammenhang wird das Leben zum Widerstand und die Kunst geht im Leben auf. »Auch wir sehen Kunst nicht entkoppelt, als elitäre Institution, als eine höhere Form von Widerstand, sondern verankert in der Kraft kultureller Tätigkeit, die als Facette vollständig in unser Leben als politisch aktive und widerständige Menschen integriert ist.« Ebenfalls in Anlehnung an eine Sinnes- und Wahrnehmungsverschiebung erläutern X. und Y. gegen Frankreich ihren Versuch, mittels einer »juristischen Pirouette«, das heißt unter Verwendung des Urheberrechts, Ausländer/-innen vor der Abschiebung zu bewahren. Diese Vorgehensweise »zeugt vielleicht weniger von einem subversiven Instrument als einer möglichen Subversion der Perspektive, welche – einigen wir uns darauf – eine gänzlich ästhetische Weise darstellt, die Welt umzustürzen«. Auf der einen Seite wird die Kraft des ästhetischen Empfindens angerufen, um die Macht der Justiz und der Polizei zu brechen. Auf der anderen Seite wird momenthaft suggeriert, dass die Kunst es schaffe, die Aufteilungen und Zuschreibungen so zu verändern, dass sich die Abhängigkeiten zwischen Zentrum und Peripherie sowie zwischen Kunst und der inhärenten Logik ihres Marktes zu verschieben beginnen. Inwiefern solche Verschiebungen oder »Sub-versionen« der Wirklichkeit in die Gesellschaft übergehen können und ob daraus eine mehr als momenthafte Gemeinschaft entstehen kann, die über die Kunst hinausgeht, sind Fragen, die auch in den theoretischen Beiträgen Relevanz haben. Nur indirekt thematisiert wird meist die Frage der Rekuperation. Können wir in Zeiten der immateriellen Produktion weiterhin Kunst als subversiv ansehen oder überhaupt Kunst machen mit dem Ziel, gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen? Dass die Rolle von Provokation relativiert werden muss, zeigt Johannes Grenzfurthner in seinem

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Text (»es gibt keinen Kunstskandal im Falschen«). Die Frage bleibt also, was der Vereinnahmungslogik des Kapitalismus entgegenzusetzen wäre.

D IE P OLITIKEN

DER K UNST AUS THEORETISCH PHILOSOPHISCHER P ERSPEKTIVE Viele der bereits angesprochenen Elemente werden in den von den Theoretikern und Theoretikerinnen verfassten Beiträgen thematisiert. Zusammenfassend lassen sich die folgenden Punkte herausstreichen. Erstens geht es um den Begriff der Subversion und um die Frage, was Subversion in Bezug auf Kunst leisten kann. Des Weiteren steht die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Politik im Zentrum, inwiefern sie voneinander getrennte Felder besetzen und wo deren Verbindung liegt. Darauf aufbauend lässt sich die Frage, ob und inwiefern Kunst politisch sein kann, erschließen. Ein weiterer Punkt, der in vielen Beiträgen theoretisch, aber auch direkt im Zusammenhang mit der künstlerischen Praxis, reflektiert wird, ist die Frage der Rekuperation und wie Kunst in den heutigen Produktionsbedingungen verortet werden kann. Weitere Themenfelder, die den Herausgebern und der Herausgeberin in diesem Zusammenhang bedeutsam erscheinen, sind Fragen • •

• •



nach der Stellung des Publikums und dessen Relation zum Künstler bzw. der Künstlerin, ob (subversive) Kunst an eine lebendige politische Bewegung gekoppelt sein muss oder ob Kunst gar kein maßgebliches Feld gesellschaftlicher Verhandlungen ist, wie ästhetische politische Praxen jenseits der Dichotomie von Subversion und Affirmation gedacht werden können, ob Methoden und Strategien, die zunächst in einer subversiven Traditionslinie verortet werden, nicht auch in einem gänzlich anderen Kontext Verwendung finden und was dies impliziert, und ob es überhaupt noch möglich ist, außerhalb wirkmächtiger Mechanismen eines Kampfes um (mediale) Aufmerksamkeit zu operieren, ohne Gefahr zu laufen, vollends bedeutungslos zu werden.

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Diese Thematiken sollen untenstehend in einer kurzen Übersicht der einzelnen Beiträge der Theoretiker/-innen dargestellt werden. Jens Kastner macht in seinem Aufsatz deutlich, dass Kunst und Politik zwar getrennte Felder besetzen, erstere aber nur durch einen Konnex zum Politischen relevant werden kann. Was Politik ist, soll dabei Teil der Auseinandersetzung sein. Kunst kann folglich in einen Definitionsprozess über das, was wir als politisch verstehen wollen, eingreifen. Es geht darum, Denk- und Wahrnehmungsmuster aufzubrechen und die symbolische Definitionsmacht neu zu positionieren. Um dabei eine relevante Rolle spielen zu können, sind künstlerische Praxen an soziale Bewegungen zu knüpfen und ein Bezug zum Alltäglichen ist herzustellen. Ebenso ist die Besetzung des öffentlichen Raumes von symbolischer Bedeutung. Kunst muss, um gesellschaftlich relevant und in einem zweiten Schritt auch subversiv zu sein, an historische Erfahrungen und spezifische Kontexte anknüpfen. Eine derartige Anknüpfung ist wichtig, da Dissonanz an sich keine notwendige Wirkung zeigt und auch eine bloße Reflexion dieses Verhältnisses und der Produktionsbedingungen nicht ausreicht. Man könnte davon sprechen, dass Kunst politisiert sein soll, allerdings nur unter den vorangestellten Bedingungen. Eine spannende Frage wäre dabei, inwiefern das von Kastner behandelte Fallbeispiel auf ein anderes Umfeld übertragen werden kann. Hier ist es naheliegend auf die Gruppe Queer Beograd aus Serbien zu verweisen, welche sich als Teil einer sozialen Bewegung versteht und die Verknüpfung mit der Alltagspraxis und dem öffentlichen Raum als inhärenten Bestandteil ihrer künstlerischen Praxis sieht. Cristóbal Lehyt (im Interview mit Sabeth Buchmann) bewegt sich im Gegensatz zu künstlerischen Praxen, die an soziale Bewegungen geknüpft sind, in anderen Spannungsfeldern. Er sieht sich einerseits ganz klar in einem Verhältnis von Zentrum und Peripherie gefangen, aus dem er nicht ausbrechen kann und andererseits wird sein Begriff der Kunst stärker durch Institutionen geprägt. Lehyt begreift sein Schaffen als Subversion im Kleinen. Ein Ausbruch aus dem System erscheint ihm nicht möglich, also versucht er, sinnliche Erfahrungen so zu platzieren, dass gewisse Abhängigkeiten und Einordnungen sichtbar werden. Er bezieht dabei mit ein, dass er die erzielten Wirkungen nicht steuern kann. Die nicht vorhersehbare Logik der Effekte und die gleichzeitige Verwendung von nicht explizit politischen, sondern instabilen und mehrdeutigen Infragestellungen lassen ihn hoffen, dass er

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der Instrumentalisierung seiner Kunst entfliehen kann. Ob dies auf diese Art und Weise im heutigen Kunstfeld realisierbar ist, lässt sich schwer sagen. Was das Verhältnis von Zentrum und Peripherie für die Kunst im Allgemeinen und für politische und subversive Kunst im Besonderen bedeutet, wird im Beitrag von Walter Mignolo deutlich. Er unterstreicht, dass der (westliche) Kunstbegriff – wie er ursprünglich von den Herausgebern und der Herausgeberin für diese Publikation angedacht war – an ein spezifisches Narrativ gekoppelt ist und für Mignolo daher zu eng greift. Wie er in seinem Beitrag verdeutlicht, sind wir auch heute noch in einem Kunst- und Subversionsbegriff verhaftet, der sich aus der spezifischen Erfahrung der europäischen Moderne speist (vgl. dazu auch das ästhetische Regime der Kunst bei Rancière 2008). Denn der hiesige Subversionsdiskurs lässt die Kolonialgeschichte als Kehrseite der Medaille außen vor und begnügt sich mit einer eurozentristischen und zeitlich sowie geografisch limitierten Kritik der (westlichen) Moderne. Dieser Aspekt wird im eurozentristischen Kunstdiskurs erstaunlich wenig mitgedacht und so hat Mignolo Recht, wenn er festhält, dass der westliche Diskurs auch auf einer Verdrängung des Kolonialismus beruht. Gerade wenn wir uns der Kunst und ihrem Verhältnis zur Politik im Bereich von sozialen Bewegungen und widerständigen Praxen auf globaler Ebene annähern wollen, kommen wir nicht umhin, diese koloniale Dimension mitzudenken. Mignolo schlägt daher das Projekt einer dekolonialen Ästhetik vor, unter die das Konzept der Subversion subsumiert werden kann. Suzana Milevska sieht sich in ihrem Beitrag mit einer ähnlichen Problematik wie Cristóbal Lehyt konfrontiert. Wenn sie von politischer Abjektion spricht, versucht sie im Grunde die Unmöglichkeit zu fassen, in einem gewissen politischen und gesellschaftlichen Umfeld – in ihrem Fall Titos Jugoslawien – in dem sich Kunstschaffende wiederfinden, explizite politische Aussagen oder solche mit indirekter politischer Wirkung zu formulieren. Diese Frage lässt sich auf gegenwärtige Verhältnisse ummünzen, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Ökonomische Zwänge, kapitalistische Vereinnahmungslogiken und starre politische Machtverhältnisse grenzen den Spielraum künstlerischer Praxen empfindlich ein. Mit dem Fallbeispiel CODE:RED von Tadej Pogaþar zeigt Milevska den Versuch der inversen künstlerischen Rekuperation auf. Künstler/-innen bedienen sich der kapitalistischen Logik für eigene Zwecke und deuten sie dadurch um. Ob die »Umlei-

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tung des Geldflusses durch Kunstkanäle in eine unerwartete Richtung« und der Einsatz des neoliberalen ökonomischen Systems zur Rekuperation marginalisierter Gruppen tatsächlich Möglichkeiten der Subversion unter den Vorzeichen eines globalen Kapitalismus darstellen, bleibt jedoch fragwürdig. Anna Schober versucht (anhand des Films Teorema von Pasolini) den Begriff der Subversion als Unterminierung des Bestehenden auf einer anderen Ebene zu verorten. Zwei Elemente sind dabei von besonderer Bedeutung: erstens die Verbindung zwischen Subjekt und Subversion. Für Schober enthält jede Subjektivität subversive Elemente. Zweitens wird das subversive Moment durch die Begegnung mit dem Anderen, mit dem Erhabenen ausgelöst. Dieses Aufeinandertreffen ist wohlverstanden unvorhersehbar und die Wirkungen entfalten sich in einem kontingenten Raum. Die Kunst kann also einen Moment des Aufeinandertreffens auslösen, jedoch ohne irgendeiner strategischen Logik zu folgen. In Bezug auf das Politische ist der sich dem Moment der signifikanten Begegnung anschließende Prozess der Rücküberführung in das alltägliche Leben von Bedeutung. Die Anteilslosen (wie z.B. das Dienstmädchen Emilia), die eine Position der Nichtexistenz haben, können das Ereignis für sich nutzbar machen; wie, bleibt für Schober allerdings offen. Das Verhältnis zwischen Kunst und politischer Wirkung verhält sich in gänzlich kontingenter Weise. Schober greift die Vorstellung an, dass es per se subversive Praktiken gäbe: »Diese Mythen malen uns ein Fantasiebild voll von Souveränität und Kontrolle in Bezug auf solche per se unkontrollierbaren Prozesse des Außer-sich-gesetzt-Werdens und Außer-sich-Setzens aus.« Jacques Rancière, dem neben dem Interview in diesem Band auch noch ein eigenes Kapitel der Herausgeber/-innen gewidmet ist, schlägt einen ähnlichen Weg ein. Nicht der Prozess der Rücküberführung steht im Zentrum, sondern das Argument, dass Kunst in keiner Weise einer strategischen Logik untergeordnet werden kann. Vielmehr greift Kunst, ebenso wie Politik, in die Aufteilung des Sinnlichen (partage du sensible) ein, ohne aber dass die Wirkungen vorhersehbar wären und so die Verbindung zur Politik gesteuert werden könnte. Im Gegenteil, Kunst (in dem von Rancière bezeichneten ästhetischen Regime der Kunst) lebt seit zwei Jahrhunderten in einer paradoxalen Verbindung zur Politik. Diese Spannung gilt es für Rancière aufrechtzuerhalten.

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Auf diesem Spannungsverhältnis setzt der hier vorliegende Sammelband an. Er macht deutlich, dass Kunst und Politik immer in einem impliziten Verhältnis stehen, Subversion grundsätzlich kontingent ist und gleichzeitig das Moment einer kollektiven Rücküberführung verhandelbar sein muss. Ebenso können wir feststellen, dass wir uns mit diesen Fragstellungen und dem damit abgesteckten Rahmen in einem eingeschränkten diskursiven Feld bewegen und dadurch auch bestimmte Machtverhältnisse unweigerlich reproduzieren. Die Beitragenden liefern einerseits eine Standortbestimmung subversiver ästhetischer Praxen, loten anderseits aber auch die Möglichkeiten zukünftiger Entwürfe aus. Was alle verbindet, ist letztlich ein etwas diffuses Unbehagen in der Subversion und die Antworten, wie man diesem beikommen könne, zielen in unterschiedliche Richtungen ab.

L ITERATUR Badiou, Alain (1990): Le nombre et les nombres, Paris: Seuil. Bourriaud, Nicolas (1998): Esthétique relationnelle, Dijon: Presses du réel. Crouch, Colin (2008): Postdemokratie, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Deutsche Welle (2011): »Schuldenberge machen Finanzmärkte nervös«, http://www.dw-world.de/dw/article/0,,15310213,00.html, abgerufen am 4.11.2011. FAZ.NET (2011): »Finanzmärkte: Börsen bleiben nervös«, http:// www.faz.net/aktuell/wirtschaft/europas-schuldenkrise/finanzmaerk te-boersen-bleiben-nervoes-11111679.html, abgerufen am 4.11. 2011. Rancière, Jacques (2002): Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Rancière, Jacques (2008): Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien: Passagen. Rancière, Jacques (2010): »Gibt es eine politische Philosophie?«, in: Alain Badiou/Jacques Rancière/Rado Riha (Hg.), Politik der Wahrheit, Wien: Turia + Kant, 79-118. Rancière, Jacques/Höller, Christian (2007): »Entsorgung der Demokratie: Interview mit Jacques Rancière«, in: Springerin – Hefte für Gegenwartskunst 3/07.

Teil I

Insurrektion und symbolische Arbeit Graffiti in Oaxaca (Mexiko) 2006/2007 als Subversion und künstlerische Politik J ENS K ASTNER

Für den argentinisch-mexikanischen Kulturwissenschaftler Néstor García Canclini sind Graffiti (neben Comics) konstitutiver Ausdruck für hybride Kulturen. Als konstitutionell unreines, d.h. zwischen Kunst- und Alltagspraxis lavierendes Genre, zeige es zugleich einen grundsätzlichen Wandel in den Kulturen der Gegenwart an. Künstlerische Praktiken würden fortan »konsistenter Paradigmen« (García Canclini 2005: 243) entbehren, Hoch- und Populärkultur rutschten förmlich ineinander, Symbole der elitären und der Massenkultur vermischten sich und Gegenwartsgesellschaften zeichneten sich durch prinzipiell hybride Kulturen aus – so die preisgekrönte Zeitdiagnose García Canclinis. Indem sie visuelle und literarische Formen miteinander verknüpfen, werden Graffiti für García Canclini, so der deutsche Kulturwissenschaftler Andreas Hepp, auch beispielhaft für »Kommunikationsformen, entlang derer symbolische Bedeutungsproduktion geschieht« (Hepp 2009: 168). Gemeinsam haben Graffiti und Comic, neben ihren genreübergreifenden Bezügen, die Allgegenwart und die massenhafte Verbreitung im städtischen Raum. Während die Comics effektiver als jede künstlerische Arbeit durch Präsenz in Zeitungen von einem Massenpublikum rezipiert und konsumiert werden können, sind Graffiti in der Interpretation García Canclinis auch eine (symbolische) Inbesitznahme des öffentlichen Raumes durch sein Beschreiben. Mit der These der Einnahme des öffentlichen und damit implizit ja auch der Ermöglichung eines politischen Raumes durch Wandmalerei

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nimmt García Canclini eine nicht nur in der Subkulturforschung viel beschworene Formel vorweg.1 Gilt sie aber für jedes Wandbild? In der südmexikanischen Stadt Oaxaca, Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates, bestimmte in der zweiten Jahreshälfte 2006 ein Aufstand das politische, kulturelle und soziale Leben.2 Nachdem die von breiten Teilen der Bevölkerung unterstützte Erhebung Ende November mithilfe der Bundespolizei brutal niedergeschlagen worden war, gehörte es zu einer der ersten Maßnahmen der Behörden, alle Graffiti und Spuren von Street Art an den Wänden des historischen

1

»Wer Graffiti anbringt, beansprucht ein Stück Raum für sich, auf dem er sich äußern kann.« (Baeumer 2009: 112) Allein durch dieses Raumnehmen würden Macht- und Besitzansprüche infrage gestellt, unabhängig vom Inhalt der Parolen/Bilder und der Absicht der Autoren und Autorinnen, behauptet aktuell auch Tobias Baeumer auf den deutschen Kontext bezogen.

2

Während die Ereignisse in der internationalen Presse kaum präsent waren, wurden sie von den linken Gruppen, Blogs und Initiativen in aller Welt aufmerksam begleitet und zum Teil von Anfang an gefeiert. Der Untertitel der Chronik von Diego Enrique Osorno (2007) liest sich paradigmatisch verheißungsvoll: »Der erste Aufstand des 21. Jahrhunderts«. So hat die Bewegung international »bei allen, die sich gegen den Status quo sträuben«, wie das Collective Reinventions (2009: 135) in seiner ausführlichen und kritischen Würdigung feststellt, Anklang gefunden. Nicht zuletzt aufgrund der sehr spezifischen lokalen Bedingungen ihrer Entstehung – und möglicherweise auch wegen der Begrenztheit der gemeinsamen Forderungen, in deren Vordergrund die nach dem Rücktritt des Gouverneurs stand – hat die Aufstandsbewegung aber in Mexiko kaum Wirkungen über den Bundesstaat hinaus gezeitigt. Und das trotz massiver landesweiter Mobilisierungen, die als Proteste gegen die Wahl des konservativen Präsidenten Felipe Calderón von der Partei der Nationalen Aktion (PAN) im gleichen Jahr gefolgt waren. Obwohl es auch in Berlin, Wien und anderen Städten im deutschsprachigen Raum zu kleineren Solidaritätsaktionen mit den Aufständischen kam, ist Oaxaca für die deutschsprachige Forschung zu sozialen Bewegungen bis heute ein unentdecktes und folglich unbehandeltes Gebiet. In Mexiko hingegen sind mittlerweile einige Bücher zum Thema erschienen (einen Überblick über die bisherigen Veröffentlichungen bietet Victor Raúl Martínez Vásquez in der Einleitung zum von ihm herausgegebenen Sammelband, vgl. Martínez Vásquez 2009).

I NSURREKTION

UND SYMBOLISCHE

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Zentrums und weit darüber hinaus zu übermalen (vgl. Collective Reinventions 2009: 145). War die politische Wandmalerei zu subversiv? Dass nicht jede Äußerung an den Wänden des öffentlichen Raumes diesen erst als emanzipatorisch konstituiert oder subversiv in ihn interveniert, lässt sich gerade in Mexiko zeigen, wo die politische Wandmalerei (Muralismus) durchaus staatstragende und tourismusanziehende, also wenig unterwandernde Funktionen erfüllt (hat). Dennoch zeugen auch diese bemalten Wände von der Geschichte der Involviertheit künstlerischer Praktiken in jene sozialer Bewegungen – eine Geschichte, die die akademische Kunstgeschichte bis heute weitgehend ignoriert. Entgegen dieser Ignoranz ebenso wie gegenüber einem linken Euphorismus, der in jedem Wandbild Akte kreativer Subversion entziffert, gilt es, sich auf die Suche nach Kriterien für das Subversive der Kunst zu machen. Repression, wie das behördliche Übermalen von Bildern, kann ein solches Kriterium kaum sein. Man findet sie eher, so die These dieses Textes, in der Beantwortung der Frage, wie sich Formen der »Insurrektion« (Negri) mit dem Kampf um das »kollektive Unbewusste« (Bourdieu) verknüpfen.

D IE K OMMUNE

VON ARTES PLÁSTICAS

O AXACA

UND DIE

Die Ereignisse, die als Kommune von Oaxaca3 diskutiert worden sind, begannen mit einem Streik der Lehrer/-innengewerkschaft im Mai

3

Die linke mexikanische Tageszeitung La Jornada sah während des Aufstands schon den Geist Louise Michels an den nächtlichen Barrikaden walten (vgl. Beas Torres 2006), jener libertären Aktivistin der Pariser Commune von 1871. Auch wenn Worte, Bilder und Taten der Bewegung allgemein als Mobilisierungsereignis gewürdigt werden, ist doch die Frage, ob von einer Kommune von Oaxaca als funktionierendem Gegenmodell zu staatlich-kapitalistischer Organisierung des Sozialen die Rede sein kann, höchst umstritten und ist – in Übereinstimmung mit der bereits zitierten und auf Deutsch in den Zeitschriften Die Aktion (Hamburg, Heft 214, 2008) und Kosmoprolet (Berlin, Heft 2, 2009) publizierten Einschätzung des genannten Collective Reinventions – wohl eher als Ziel zu verstehen, »nach dem die Bewegung gestrebt hat, und schlimmstenfalls als bloßer Wunschgedanke.« (Collective Reinventions 2009: 143)

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2006. Als die Protest-Zeltstadt der Lehrer/-innen auf dem Zócalo, dem Hauptplatz der bei Touristen und Touristinnen so beliebten südmexikanischen Stadt am 14. Juni brutal von der Polizei geräumt wurde, solidarisierten sich weite Teile der Bevölkerung mit den Anliegen der Lehrer/-innen. Am 17. Juni wurde die Asamblea Popular de los Pueblos de Oaxaca (Populare Versammlung der Bevölkerungen von Oaxaca, APPO) gegründet, in der sich rund 350 Organisationen, Gruppen und Initiativen zusammenschlossen. Bis zu ihrer Niederschlagung durch Beamte und Beamtinnen der Bundespolizei Ende November 2006 erkämpfte und erlitt die Bewegung gegen den autoritär regierenden Gouverneur Ulisses Ruiz Ortiz von der Institutionell Revolutionären Partei (PRI) verschiedenste Höhe- und Tiefpunkte: Mehrere Menschen, mindestens 23, wurden von paramilitärischen, regierungsnahen Gruppen erschossen – prominentestes Todesopfer wurde dabei der USamerikanische Indymedia-Journalist Brad Will Ende Oktober –, ungezählte wurden verletzt und rund 300 verhaftet. Zuweilen wurden bis zu 1500 Barrikaden in der pittoresken historischen Innenstadt gezählt, mehrere Radiosender wurden besetzt, zeitweise betrieb eine Gruppe von Frauen sogar einen zuvor besetzten Fernsehsender.4 Neben der protagonistischen Rolle der Frauen und der immensen Beteiligung der Organisationen von Indigenen und den streikenden Lehrern und Lehrerinnen, sind vor allem Künstler/-innen als partikulare Gruppe aufgefallen, als es um die Beantwortung der Frage ging, wer die Subjekte dieser sozialen Mobilisierung waren. Die Beteiligung von bildenden Künstlern und Künstlerinnen am Aufstand von Oaxaca 2006 fiel vor allem deshalb so ins Auge, weil viele ihre künstlerischen Praktiken direkt im Stadtraum platzierten5 (vgl. Lache Bolaños 2009, Nevaer 2009,

4

Eine detaillierte Chronologie findet sich im Anhang des Buches Oaxaca Sitiada (Belagertes Oaxaca), das der Journalist Diego Enrique Osorno (2007) über den Aufstand verfasst hat.

5

Keineswegs sämtliche Künstler/-innen stellten sich allerdings auf die Seite der Aufständischen. Jaime Porras Ferreyra (2009: 231) nennt auch eine Fraktion von Künstler/-innen, die direkt oder indirekt mit dem Regime verbunden waren. Unter den Solidarischen waren wiederum die den artes plásticas zugeordneten Künstler/-innen nicht die einzigen, auch Akteure und Akteurinnen aus den Bereichen Musik, Video und Fotografie – einer Unterscheidung von Porras Ferreyra (2009) folgend – bezogen sich positiv mit ihren Arbeiten auf die Revolte.

I NSURREKTION

UND SYMBOLISCHE

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Porras Ferreyra 2009). Einige Künstler/-innen aus dem Bereich der bildenden Künste (artes plásticas) – beispielsweise Ana Santos oder die Gruppe Arte Jaguar – waren aber bereits vor 2006 mit arte urbano in die Öffentlichkeit getreten. Widmet man sich nun künstlerischen Produktionen wie beispielsweise Graffiti und Street Art, ist zunächst zu betonen, dass auch die direkt im Bewegungszusammenhang entstandenen künstlerischen Arbeiten als spezifische kulturelle Praktiken, d.h. als Kunst zu behandeln sind, und zwar nicht nur aus chronologischen, sondern auch aus den meisten anderen Gründen, die künstlerische Arbeiten nach wie vor von Gegenständen und Praktiken anderer Art unterscheidbar machen: zum einen also, neben den materiellen Voraussetzungen, die Wertschätzung durch Kunstkritik und Museum, also Ausstellungsfähigkeit,6 bedingend dafür auch formale und möglicherweise inhaltliche Bezüge zu kunsthistorisch konsekrierten Arbeiten. Zum anderen gehen die im Folgenden besprochenen Arbeiten weder in den organisatorischen Formen noch in den anderen propagandistischen Mitteln der Bewegung auf. Weil sie dennoch nicht nur in einer offensichtlichen Beziehung zu politischen Äußerungsformen stehen, sondern – wie im Folgenden argumentiert werden soll – letztlich selbst welche sind, ist auch Jaime Porras Ferreyra (2009) zuzustimmen, der künstlerische Praktiken als lange ignorierte Herausforderung für die Politikwissenschaften beschreibt. Was aber führt nun dazu, dass ein Wandbild nicht nur einen traditionsreichen Bildträger aktualisiert, sondern auch auf emanzipatorische Art und Weise in den sozialen Raum interveniert, subversive Effekte zeitigt und/oder eben – wie Norma Patricia Lache Bolaños (2009: 214) es letztlich unterschiedslos für alle im Oaxaca von 2006 entstandenen Graffiti und Street-Art-Arbeiten beansprucht – eine »Aktion des Widerstands« ist.

6

Einige der im Kontext des Aufstands entstandenen Arbeiten waren beispielsweise über Oaxaca hinaus in der Ausstellung: Oaxaca: Aquí No Pasa Nada, Galería de la Raza, San Francisco, USA. 13. Oktober bis 3. November 2007 zu sehen (http://www.galeriadelaraza.org/eng/events/index.php? op=view&id=1008).

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S UBVERSION

UND

K UNST

Zunächst einmal ist zu klären oder zumindest näher zu bestimmen, was Subversion überhaupt ist. Subversion, so mein Definitionsversuch, besteht aus Praktiken, die eine dominante politisch-moralische Ordnung im emanzipatorischen Sinne herausfordern und deren Stabilität nicht nur unterlaufen (was in individuellen Akten bereits möglich ist), sondern auch untergraben (wozu es in der Regel kollektiver Anstrengungen bedarf), ihr also auf lange Sicht dauerhaft schaden – wobei das Erreichen des Fernziels der Umwälzung (vom Lat. subvertere: umstürzen, verderben) schon eine ganze Reihe subversiver Akte bräuchte und durch diese allein, d.h. ohne politische Organisierung oder gar Lenkung historisch eigentlich noch nie eingetreten ist. Subversive Praktiken bedürfen nicht unbedingt subversiver Akteure und Akteurinnen und müssen überhaupt nicht als solche beabsichtigt sein, auch nichtintendierte Handlungen und absichtsloses Verhalten können subversive Effekte haben. Aber mit diesem Definitionsversuch ist Subversion zum einen als politisches Mittel und zum anderen als ein Mittel benannt, das untergräbt (und nicht etwa fordert oder attackiert). Terroristische (attackierende) und gewerkschaftliche (fordernde) Aktionen können demnach zwar subversive Effekte haben, sind aber nicht selbst subversiv. 7 Problematisch ist selbstverständlich – und das ist wohl auch der Grund, weshalb der Begriff in den politischen Diskursen der letzten Jahre kaum mehr eine Rolle gespielt hat – die Annahme einer relativ stabilen und von der Mehrheit der Bevölkerung getragenen Ordnung, die für die Rede von Subversion voraussetzend ist. Subversiv können Praktiken nur aus einer marginalisierten Position heraus sein (die bekanntlich nicht immer eine Minderheiten-Position sein muss), subversive Herrschende oder subversive hegemoniale Praktiken kann es per definitionem nicht geben. Auch wenn berücksichtigt wird, dass subversive Praktiken nicht allgemein und überhistorisch bestimmt, sondern nur relativ und konkret, also in Beziehung zu anderen Praktiken und

7

Der hier verwendete Subversionsbegriff beschränkt sich also nicht auf die Dimension der »politisch-revolutionären Subversion«, die Ernst et al. (2008: 18f.) von »künstlerisch-avantgardistischer«, minoritärer bzw. Underground-Subversion und einem dekonstruktivistischen Begriff der Subversion abgrenzen.

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Institutionen, ausgemacht werden können, bleiben die Problematiken der Stabilitäts- und Konsensannahmen bestehen. Obwohl nun eine allgemeine Begriffsbestimmung verneint ist, lassen sich speziell für künstlerische Praktiken vielleicht doch Kriterien aufstellen oder zumindest diskutieren, aufgrund derer sie zu subversiven erklärt werden können. Kriterium 1: Produktionsbedingungen reflektieren, Kollektivität installieren Um die Repräsentationsmechanismen des künstlerischen Feldes zu durchbrechen und Effekte im Politischen zeitigen zu können, kann es zunächst hilfreich sein, auf irgendeine Weise die Produktionsbedingungen in der Arbeit zu reflektieren. Denn die Produktionsweise richtet Produktionen nach feldspezifischen Maßgaben aus, die also, will man über das Produktionsfeld hinaus Effekte zeitigen, zu hinterfragen sind. Aus dieser Reflexion folgt häufig bereits das partielle Schaffen neuer, beispielsweise kollektiver Produktionsweisen. Beides ist für künstlerische Praktiken, die im Zusammenhang mit jenen sozialer Bewegungen entstanden sind, häufig kennzeichnend. In Mexiko existiert eine lange Tradition künstlerischer Praktiken und Formationen, die sich im Kontext sozialer Bewegungen formierten. Selbst der im Zuge der Neukonstitution der Nation im Anschluss an die mexikanische Revolution (1910-1920) staatlich geförderte Muralismus kann als solche bewegungsnahe Strömung gesehen werden. Denn ihre führenden Vertreter/-innen verstanden sich nicht nur als Künstler/-innen, sondern waren neben und nach ihrem expliziten Verständnis auch durch ihre Kunst politisch aktiv: Diego Rivera bezeichnete sich selbst mit Bezug auf den radikalen Bauernführer und Revolutionär Emiliano Zapata (1879-1919) als Zapatisten, gemeinsam mit den Muralisten David Alfaro Siqueriros und Xavier Guerrero bildete er das Exekutivkomitee der 1922 gegründeten Revolutionären Gewerkschaft der technischen Arbeiter, Maler und Bildhauer. Aus den gewerkschaftlichen Nachrichtenblättern entstand 1924 die Zeitschrift El Machete, die später zur offiziellen Zeitung der Kommunistischen Partei wurde und die nach dem als Waffe benutzten Werkzeug der lateinamerikanischen Landbevölkerung benannt ist. In Bezug auf den Status seiner Person wie auch auf den seiner Arbeiten blieb Rivera aber sehr konventionell: Zwar wird in seinem Fresko von 1931, The

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Making of a Fresco Showing the Building of a City, San Francisco Art Institute, der Akt des kollektiven Schaffens mit abgebildet. Der Einzelkünstler bleibt aber weiterhin im wörtlichen und übertragenen Sinne als Schöpfer im Zentrum des Bildes. Abbildung 1: Arte Jaguar, Wandmalerei in Oaxaca

Das um 2006 in Oaxaca tätige Kollektiv Arte Jaguar knüpft an diese Form der Repräsentation des Making of … an, indem es auf ihrer Myspace-Seite auch einen Youtube-Film8 gepostet hat, der die Entstehung eines Wandbildes in Oaxaca zeigt. Allerdings geht Arte Jaguar weit über Riveras Repräsentationsreflexion hinaus, indem ihm auch noch organisatorische Konsequenz zugrunde liegt. Mit der Arbeit als Kollektiv steht Arte Jaguar eher in einer Tradition, die seit den 1920er Jahren mit und neben dem Muralismus entstanden ist: Viele der bewegungsnahen Künstler/-innen organisierten ihre Arbeit bereits im Anschluss an die Revolution kollektiv (als Liga, in Gewerkschaften, Bewegungen oder Gruppen) (vgl. Híjar Serrano 2007, Audefroy 2009). Kollektive Arbeit kann nicht nur als Versuch verstanden werden, gegen den strukturellen Individualismus (den Kult des individuellen Schöpfers, den Wert der authentischen Autoren- und Autorinnenschaft etc.) des künstlerischen Feldes und dessen auf Einzelnamen ausgerichteten Repräsentationsmechanismen Störmomente zu setzen (auch wenn Gruppennamen letztlich ebenso fetischisiert und marktkonform

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http://www.myspace.com/losartejaguar

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eingegliedert werden können). Sie steht unter Umständen auch besonders individualistisch ausgeprägten, gesellschaftspolitischen Modellen wie jenen des Neoliberalismus gegenüber. Als Reaktion auf die festgefahrenen Repräsentationen innerhalb des künstlerischen Feldes wie auch im Kontext eines als entfremdet gewerteten Individualismus der spätkapitalistischen Gesellschaft ist in Mexiko in den 1970er Jahren eine neue Phase kollektiver Organisierung innerhalb des Kunstfeldes entstanden. Kriterium 2: Implizite Bezüge, explizite Verknüpfungen In der künstlerischen Arbeit sollten über die Reflexion des Produktionsprozesses Zeichen auftauchen bzw. möglich werden, die über rein kunstimmanente (methodische) Bezüge Verknüpfungen zu politischen und/oder sozialen Ereignissen erlauben. Während des Aufstands in Oaxaca wurde auf verschiedene Weise an die Kunstpraktiken aus den mexikanischen 1970er Jahren angeknüpft. Wenn Ana Santos seit 2004 ihre Schattenfiguren an den Hauswänden von Oaxaca appliziert, sind diese zunächst nur anonyme Flecken, anwesende Abwesende, in relative Permanenz gesprühtes oder gemaltes Vorübergehen. In Mexikos Kunstgeschichte gab es aber vorher schon ganz ähnliche Schatten, da war das Graffiti gerade erfunden und die meisten Wände im kaum öffentlichen, weil staatlich kontrollierten, städtischen Raum noch weiß. Eines der Kollektive der 1970er Jahre, die kunsthistorisch bereits als Gruppenphänomen Los Grupos gefasst werden, hatte sie an den Mauer-, Stadion- und Hauswänden von Mexiko-Stadt affiziert. Die Grupo Suma, eines der Kollektive von Los Grupos, hatte den Bürokraten (el burócrata), einen Schattenmann mit Aktentasche, in den späten 1970er Jahren an die Wände der Hauptstadt gemalt. Zu lesen war darin eine Kritik an der bürokratischen Herrschaft der Staatspartei PRI (Partido Revolucionario Institucional, Institutionell Revolutionäre Partei). Auch Los Grupos entstanden zum Teil im Kontext und zum Teil als Effekte sozialer Bewegungen, nämlich jener von 1968ff. (vgl. Espinosa 2002, Gallo 2007, García Canclini 2009, Kastner 2009b).

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Abbildung 2: Grupo Suma, Der Bürokrat (el burócrata)

Bereits während der Studierendenbewegung hatte es künstlerische Aktionen wie die Fertigung ephemerer Wandgemälde gegeben (vgl. Vázquez Mantecón 2007), wobei die Vergänglichkeit der Arbeiten als direkte Reaktion auf die monumentale und pädagogische Ausrichtung der postrevolutionären murales zu verstehen war. Die politisch antiautoritäre Ausrichtung der Studierendenbewegung schlug sich auf diese Weise auch in der Wahl der künstlerischen Mittel nieder. Die künstlerischen Bewegungen der Post-68er-Jahre nahm häufig implizit, aber auch explizit Bezug auf die revolutionäre mexikanische Geschichte und agierte auf diese Weise, zum Beispiel über die mit vielen sozialen Bewegungen geteilte Forderung nach Umsetzung der sozialen Revolution, die in der staatlichen Bürokratie und der korporatistischen Einparteienherrschaft vollständig zum Erliegen gekommen war.9 Ein solcher Kampf um das revolutionäre Erbe wird besonders in aktuellen sozialen Kämpfen evident, da der Kampf um die Plausibilität legitimer Erbschaft immer auch Teil des Kampfes um die Legitimität der aktuellen Anliegen ist. So blieben auch in Oaxaca 2006 Formen des symbolischen Einschreibens in die revolutionäre Geschichte nicht aus. Das Zapata-Porträt von Arte Jaguar steht immer in einem direkten, expliziten Aneignungskontext: Der Revolutionsheld Emiliano Zapata gehört zum festen Inventar der staatlichen Revolutionsfolklore, ziert Rivera-Murales wie T-Shirts und andere Tourismus-Merchandise-Arti-

9

Zum Verhältnis von Kunst und Erinnerungspolitik in Lateinamerika vgl. Kastner 2009a.

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kel und taucht dennoch in vielen gegenwärtigen sozialen Kämpfen als Ikone auf. Mit der Abbildung seines Konterfeis oder der Verwendung seines Namens in sozialen Kämpfen wird auf die nicht eingelösten Versprechen der Revolution von 1910-1920 verwiesen und ein radikaler politischer Wandel eingeklagt. Abbildung 3: Arte Jaguar, Zapata-Porträt

Dies ist ein Beispiel für eine künstlerische Intervention auf konkret geschichtspolitischem Terrain. Sie zielt auf Fragen der Interpretation des Vergangenen und dessen Wert und Wertung für die Gegenwart. In solche Wertungsfragen lässt sich aber auch ohne plakative, inhaltlich-politische Dimensionen wie das Zapata-Konterfei intervenieren. Kriterium 3: Auf Wahrnehmungsstrukturen abzielen, in Insurrektionen einklinken Subversive Kunst ist möglich, wenn sie einerseits kunstimmanente – also definitionsgemäß anti-alltägliche – Bezüge über Mittel und Methoden (oder auch Inhalte) herstellt und andererseits über diese hinausweist und sich damit in alltägliche kollektive Praktiken eingliedert (ohne ihre Kunstexistenz aufzugeben). Solche alltäglichen kulturellen Praktiken sind gegenwärtig mehr und mehr auch zu Schauplätzen dessen geworden, was Antonio Negri

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die Insurrektion genannt hat.10 In seinem Modell gesellschaftlicher Kämpfe spricht sich Negri nach dem diagnostizierten Scheitern von Staatsübernahmerevolutionen und Guerillakriegen für eine dreigliedrige kollektive Praxis aus, die aus Widerstand, Aufstand/Insurrektion und konstituierender Macht besteht. Gerald Raunig (2005: 40ff.) weist eindrücklich und ausführlich darauf hin, dass es sich hierbei nicht um ein Treppenmodell handelt, bei dem eine Stufe nach der anderen genommen wird, sondern um einen dreidimensionalen, unteilbaren Prozess. Der Begriff der Insurrektion bezieht sich dabei – in der Lesart Raunigs – vor allem auf während kollektiver Revolten ermöglichten Subjektivierungsweisen. Insurrektion findet also sowohl kollektiv als auch individuell statt, ist aber nur ein Aspekt von Subjektivierungen: Sie ist nicht von Dauer, lässt sich, anders als Widerstand und konstituierende Macht, kaum organisieren oder gar lenken. »Die Insurrektion dagegen ist das temporäre Aufflackern, der Bruch, der Blitz, kurz: das Ereignis.« (Raunig 2005: 53) Die Kunst soll sich also in einen Blitz eingliedern? Was ließe sich darunter verstehen? Es könnte Folgendes bedeuten: Das plötzliche Aufflackern einer Plausibilität (wie der, dass der Bundesstaat Oaxaca autoritär regiert wird und gegen diesen Autoritarismus etwas getan werden muss), das momenthafte Aufbrechen zu einer zugleich alltäglichen und nicht alltäglichen Praxis (wie das Kochen beim Bewachen der Innenstadt-Barrikaden), das spontane Durchkreuzen eingeschliffener Gewohnheiten (wie die aktive Gestaltung von Medien statt des Konsums ihrer Sendungen), solche alltäglichen und doch den Alltag durchbrechenden Praktiken können durch Kunstpraktiken reflektiert und/oder methodisch vorweggenommen werden. Lasten tragende Indigene, wie jene, die vom Kollektiv Lapiztola als Stencils während des Aufstands auf öffentliche Wände gesprüht wurden, können solche Eingliederungen sein. Sie reproduzieren einerseits eine im Stadtraum von Oaxaca, immerhin Hauptstadt jenes mexi-

10 Das Konzept taucht laut Gerald Raunig (2005: 42) erstmals in Negris 1993 auf Italienisch erschienenen Aufsatz Repubblica Constituente auf. Das Moment der konstituierenden Macht ist dann aber auch in den beiden gemeinsam mit Michael Hardt verfassten Arbeiten Empire und Multitude präsent und im Anschluss daran zu einem Schlüsselbegriff der postoperaistisch inspirierten Forschungen zu sozialen Bewegungen geworden, vgl. z.B. Shukaitis/Graeber/Biddle 2007.

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kanischen Bundesstaates mit der zweithöchsten Anzahl indigener Bevölkerungsgruppen, alltägliche Wahrnehmung. Andererseits wird gerade durch die Reproduktion (und die Art und Weise der Reproduktion) die Alltäglichkeit durchbrochen, ein Imaginationsraum entsteht, der zumindest potenziell eine Vergegenwärtigung ermöglicht, die von der konkret gezeigten Situation über die Arbeits- und Lebensverhältnisse bis hin zu den Forderungen indigener Organisationen nach Landrechten alles Mögliche aufruft. Zwar hatte bereits Diego Rivera die bis dahin in der Kunst (und der Staatspolitik) kaum repräsentierten indigenen Bevölkerungsgruppen bildfähig gemacht, allerdings dienten sie in seinen Wandgemälden – ganz im Einklang mit dem Konzept des Indigenismus – doch eher der Repräsentation einer glorifizierten, national funktionalen Vergangenheit denn jener handelnder Subjekte in der Gegenwart. Abbildung 4: Lapiztola, Graffiti in Oaxaca

W IDERSTAND

UND

AUSHANDLUNG

Alle drei Kriterien für das Subversive der Kunst haben, d.h. beanspruchen, wenn man so will, zwei ineinandergreifende, miteinander verknüpfte Seiten: die kunstfeldinterne, auf den Produktionszusammenhang im engeren Sinne bezogene und die externe, über die Regeln der spezifischen Institutionen, Mechanismen und Praktiken der Kunst selbst hinausweisende Seite. Soll nun verstanden werden, wie die

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Wechselwirkungen der beiden Seiten funktionieren, bieten sich theoretische Rahmen an, die solche Austauschverhältnisse auch konzeptualisierbar machen. Das können in diesem Fall die Ansätze von Antonio Negri und von Pierre Bourdieu sein. Auch wenn es gewagt erscheint, hier zwei so unterschiedliche theoretische Bezugsrahmen wie den postoperaistischen von Negri (und Michael Hardt) und den des genetischen (Post-)Strukturalismus Bourdieus zu Hilfe zu nehmen, rechtfertigt sich dieses Wagnis doch durch den gemeinsamen Bezug auf zeitgenössische soziale Bewegungen und eine punktuelle Übereinstimmung in der Frage, welche Rolle politischer Widerstand für die Stabilität bzw. für die Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse hat. Kollektiver Widerstand ist bei Negri und Hardt die Voraussetzung für die Konstitution der Klassen und darüber hinaus Indikator für kommende gesellschaftliche Konflikte. Auch wenn es, anders als im Postoperaismus, bei Pierre Bourdieu sicherlich kein prinzipielles »Primat des Widerstands« (Hardt/Negri 2004: 82ff.) gibt, scheint doch in der grundsätzlichen Betonung sozialer Kämpfe eine Gemeinsamkeit zu bestehen. Dabei spielen diese Kämpfe bei Bourdieu nicht nur in feldinternen Auseinandersetzungen eine zentrale Rolle. Vielmehr behauptet er auf den gesamten sozialen Raum bezogen: »Geschichte gibt es nur, solange Menschen aufbegehren, Widerstand leisten, reagieren.« (Bourdieu 2006: 133) Ein solcher Widerstand, verstanden als (minimalkonsensual definiert) tätige Infragestellung des Bestehenden – bei Hardt und Negri originär, reaktiv bei Bourdieu –, meint also in beiden Fällen eine Herstellung von Politik als Sphäre der umstrittenen sozialen Ordnung. Die Frage der Subversion der Kunst zielt implizit immer auf den Beitrag der Kunst zu dieser Herstellung von Politik. Denn in der Regel zielt die Antwort auf diese Frage ja nicht nur auf das Unterlaufen des Kunstsystems und seiner Feldmechanismen, sondern auf die schon angesprochene bestehende politisch-moralische Ordnung. Diese Ordnung, das sei an dieser Stelle betont (und auch als weitere punktuelle Übereinstimmung zwischen den Ansätzen von Negri und Bourdieu hervorgehoben), besteht nicht nur aus staatlichen Institutionen und deren legislativen, juristischen und exekutiven Ausläufern. Politik meint bei Hardt und Negri unter anderem die Fähigkeit kollektiver Akteure und Institutionen, »sich auf gesellschaftliche Konflikte und Differenzen einzulassen und sie auszuhandeln« (Negri/Hardt 1997: 93). Solche Konflikte und Differenzen sind an die gesellschaftlichen Produktions-

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UND SYMBOLISCHE

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und Reproduktionsweisen geknüpft, ihre Aushandlungsprozesse beginnen nicht erst in institutionellen Verhandlungen. Negri und Hardt bemerken in Bezug auf die Staatsform des Neoliberalismus, dass der Staat – entgegen allen ideologischen Bestimmungen seines Rückzugs – sehr wohl in der Lage sei, moralische Einheit zu stiften und Konsens herzustellen (vgl. Negri/Hardt 1997: 101). Auf diese Konsensstiftung heben Negri und Hardt gerade deshalb ab, um zeigen zu können, dass auch der neoliberale, postmoderne Staat seine Macht nicht verliert, obwohl er sich den offiziellen Verfahren der Aushandlung mehr und mehr verweigert. Diese Ebene der Politik, die auf Konsensstiftung und Vereinheitlichung zielt, hat Pierre Bourdieu ausführlich beschrieben. Sie beruht auf solchen Aushandlungsprozessen, die nicht erst in repräsentativen und institutionellen Verfahren stattfinden, sondern bereits im Kampf um die kollektiven Denk- und Wahrnehmungsstrukturen. Diese lassen sich in der Terminologie Bourdieus als symbolische Dimension des Politischen fassen. Und diese Denk-, Gefühls- und Wahrnehmungsstrukturen sind es auch, über die die künstlerischen Praktiken insgesamt politisch und schließlich spezifisch subversiv wirken können.

D AS S YMBOLISCHE

UND DIE

P OLITIK

Stellt sich die Frage nach kunstfeldübergreifenden Effekten künstlerischer Praktiken, ihrem Hereinragen ins politische Feld, muss also in Erinnerung gerufen werden, dass das politische Feld weit mehr umfasst als die politischen Parteien, das Parlament und die übrigen Staatsapparate. Der Feld-Begriff Bourdieus war schließlich u.a. gerade in Abgrenzung zu Louis Althussers Terminus der »ideologischen Staatsapparate« entwickelt worden, um die Vorstellung relativ geschlossener, von einem bürokratisch organisierten Personal besetzter und auf einen bestimmten Zweck hin ausgerichteter Apparate zu überwinden.11

11 In direkter Bezugnahme auf Althusser schreibt Bourdieu: »In einem Feld gibt es Kämpfe, also Geschichte. […] Bildungssystem, Staat, Kirche, politische Parteien oder Gewerkschaften sind keine Apparate, sondern Felder. In einem Feld kämpfen Akteure und Institutionen mit unterschiedlichen Machtgraden und damit Erfolgsaussichten nach den (und in bestimmten Konstellationen auch um die) für diesen Spiel-Raum konstitutiven Regula-

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Zwar fällt dem Staat auch in der Theorie Bourdieus eine hervorgehobene Rolle zu. Bourdieu beschreibt ihn – in Erweiterung der berühmten Definition Max Webers – als Monopolisten legitimer symbolischer Gewalt und als Bank für symbolisches Kapital.12 Der Staat ist demnach der »Ort schlechthin für die Durchsetzung des nomos als offizielles und effizientes Prinzip der Konstruktion der Welt« (Bourdieu 2001: 239) – womit nicht nur konkrete Gesetze und regulatorische Maßnahmen gemeint sind, sondern sowohl die legitime Bürgung für alle möglichen sozialen Sachverhalte (von Vertragsabschlüssen und Übereinkünften bis hin zu Hochzeiten) als auch die Grundlage für Denk- und Wahrnehmungsschemata. Der Staat ist somit zugleich Inhaber des Monopols symbolischer Macht und Gegenstand der Kämpfe um sie. Deshalb kann Bourdieu (2001: 238) die politische Auseinandersetzung als einen theoretischen wie praktischen Kampf um die Macht beschreiben, bei dem es darum geht, »die legitime Sicht der sozialen Welt durchzusetzen.« Genauer geht es bei der politischen Auseinandersetzung immer »um die in Form eines symbolischen Kapitals an Ansehen und Ehrbarkeit akkumulierte Anerkennung, die dazu ermächtigt, das legitime Wissen und den Sinn der sozialen Welt, um ihre gegenwärtige Bedeutung und um die Richtung, in die sie sich entwickelt und entwickeln soll, festzulegen.« (Bourdieu 2001: 238) Die symbolische Dimension des Politischen muss dabei auch gegen zwei relative Engführungen der bourdieuschen Theorie verteidigt werden. In ihrer Auseinandersetzung mit dem politischen Feld Mexikos zwischen 1968 und 2000 definiert Martha Zapata Galindo vor dem Hintergrund der bourdieuschen Theorie die »politische Macht« als personell übertragbare Macht über Produktions- und Reproduktionsmittel. Diese grenzt sie von der »wissenschaftlichen Macht« ab, die kaum weitergegeben werden kann, weil sie auf personell gebundenem Prestige beruht (vgl. Zapata Galindo 2006: 59). Mit Politik oder dem Politischen ist in dieser Perspektive nichts anderes gemeint als die staatlichen Apparate und ihre Akteure und Akteurinnen. Auch wenn die konkrete Analyse der politischen Rolle der Intellektuellen im Mexiko der 1970er Jahre, die Zapata Galindo vornimmt, triftig (und angesichts des detailreichen Datenmaterials auch faszinierend) ist, besteht in der so

ritäten und Regeln um die Aneignung der spezifischen Profite, die bei diesem Spiel im Spiel sind.« (Bourdieu 2006: 133) 12 Zur Staatskonzeption bei Bourdieu vgl. auch Kastner 2006.

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konzipierten Form des Politischen doch eine Eingrenzung, die, wie oben gezeigt, mit der Idee des Feld-Begriffes nur schlecht in Einklang zu bringen ist. Die künstlerischen Praktiken, die in ihrer auf das literarische Feld konzentrierten Analyse bewusst ausgeklammert bleiben, können nach Zapata Galindo sowohl in ihrer Kollektivität wie in ihren Aktionen im öffentlichen Raum keine Politik, sondern eben nur Kunst sein.13 Die bei Bourdieu angelegte Verknüpfung des Symbolischen und des Politischen denkt auch Isabell Graw (2008) in ihrer von Bourdieu inspirierten Kunstfeldanalyse der Gegenwartskunst nicht mit, wenn sie, gewissermaßen spiegelverkehrt zur Verkürzung bei Zapata Galindo, den Symbolwert künstlerischer Praktiken nur mit dem Warenwert in Beziehung setzt,14 nicht aber mit Werten im ethisch-moralischen Sinne und als Set verkörperlichter Maßstäbe. Denn gerade auf deren unbewusst praxisleitende Bedeutung hebt Bourdieu ab: Verstanden als legitimes Wissen über die soziale Welt und Sinn derselben, wird das Symbolische zu einer Schlüsselkategorie der politischen Auseinandersetzung. Auf der Ebene des Symbolischen verdichten sich kollektive gesellschaftliche Kräfteverhältnisse in individuellen wie kollektiven körperlichen Dispositionen. Diese geteilten (oder eben in Widerspruch zueinander stehenden) Haltungen sind die Grundlage für alle Maßnahmen, die auf die konflikthafte Regulierung des Gemeinsamen abzielen – auf das also, was unter dem Politischen zu verstehen ist. Nur auf dieser Ebene der symbolischen Beziehungen kann beispielsweise

13 Die schon von César Espinosa (2002) u.a. formulierte These, dass mit der Niederschlagung der Studierendenbewegung am 2. Oktober 1968 der langsame Niedergang der Hegemonie der Staatspartei PRI einsetzte, wird von Zapata Galindo geteilt und gerade in Bezug auf das kulturelle Feld bekräftigt. 14 Im Symbolwert, so Isabelle Graw (2008: 32), hat die »historisch erkämpfte Sonderstellung der Kunst« gleichsam zu sich selbst gefunden. In ihm versammelten sich historisch die seit dem 18. Jahrhundert verstärkt formulierten Ansprüche an die Kunst, im Symbolwert drücke sich konkret »jene schwer dingfest zu machende symbolische Bedeutung aus, die sich aus unterschiedlichen Faktoren – Singularität, kunsthistorische Zuschreibung, Etablierung des Künstlers, Originalitätsverheißung, Versprechen auf Dauer, Autonomiepostulat oder intellektuellem Anspruch – zusammensetzte.« (Graw 2008: 32)

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auch die Frage beantwortet werden, warum die Beherrschten die Herrschaft über sich selbst mittragen und aktiv mitgestalten. Denn sie tun dies nicht unbedingt oder nicht in erster Linie aus »bewusster und überlegter Zustimmung«, sondern bewirkt durch die Macht, »die sich in Form von Wahrnehmungsschemata und Dispositionen […] den Körpern der Beherrschten auf Dauer eingeschrieben hat, […]« (Bourdieu 2001: 219). Die symbolischen Beziehungen zwingen sich laut Bourdieu (1974: 73) »den Subjekten als ein System von Regeln auf, die in ihrem Bereich absolute Geltung besitzen, als ein System, das sich weder auf die Spielregeln des ökonomischen Sektors noch auf die besonderen Absichten der Subjekte reduzieren lässt.« Im Hinblick auf gesellschaftliche Transformationen wäre dementsprechend weder nur auf die ökonomischen Verhältnisse noch auf den Appell an die kognitiven Absichten der Subjekte abzuheben, sondern zudem auf die symbolischen Beziehungen, die kulturelle Herrschaft, die sich in Wahrnehmungsschemata und Dispositionen in die Körper der Beherrschten eingeschrieben haben. Fasst man das Politische nun so weit, dass es den Kampf um die Bedeutung der sozialen Welt mit einschließt, ermöglicht das zweierlei: Zum einen kann der politische Gehalt jener künstlerischen Aktionen ermessen werden, die aus dem kulturellen Feld heraus sich in diesen Kampf einmischen – und damit auch temporär und partiell die Feldgrenzen überwinden. Und zum anderen kann die Frage nach der Politik künstlerischer Aktionen auch über konkrete Beispiele, wie die des Aufstands in Oaxaca, hinaus erörtert werden. Denn Kämpfe um symbolisches Kapital und das legitime Wissen über den Sinn der sozialen Welt finden in allen Gesellschaften und unter den verschiedensten politisch-administrativen Systemen statt.

I NSURREKTIONALE B LITZE SYMBOLISCHE ARBEIT

UND

Die in den insurrektionalen Blitzen entstandenen künstlerischen Arbeiten an Oaxacas Außenwänden können als Teil einer bestimmten symbolischen Arbeit im Sinne Bourdieus bezeichnet werden. Und zwar jener symbolischen Arbeit, die laut Bourdieu (2001: 241) erforderlich ist, »um sich der stummen Evidenz der doxa zu entziehen und um die von ihr verhüllte Willkür auszusprechen und anzuprangern, […].« Als

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doxa bezeichnet Bourdieu das selbstverständliche Wissen oder, genauer, die Wahrnehmungsschemata, die die Denk- und Sichtweisen begründen.15 Indem sie symbolische Formen entwickeln, die sich aus verschiedenen künstlerisch-ästhetischen Traditionen in politische Kämpfe eingliedern, speisen sich die besprochenen Arbeiten in die Arbeit gegen jene »verhüllte Willkür« der doxa. Einerseits erfüllen sie damit die klassisch aufklärerischen Dienste des Aufdeckens und Anprangerns. Als symbolische Formen erreichen sie dabei andererseits Ebenen, die von vornehmlich auf ambivalenzfreie Inhalte zielendem, herkömmlichem politischen Aktivismus seltener berührt werden. Damit ist nicht etwa behauptet, dass künstlerische Praktiken generell tiefer gehende oder irgendwie direkter intervenierende gesellschaftliche Effekte zeitigen würden. Aber es liegt in dem feldspezifisch professionellen Umgang mit der Bedeutungsverschiebung von Zeichen – die Verbildlichung des Abwesenden und das Aufgreifen, Aneignen, Wiederholen und Verschieben solcher Symbolarbeit gehört zum business as usual künstlerischer Praktiken seit Beginn der Moderne – zumindest ein Potential auch im Hinblick auf das Symbolische in den sozialen und politischen Verhältnissen. Künstlerische Praktiken können auf diese Weise feldübergreifend auf das inkorporierte System von Regeln Einfluss nehmen, das als das Politische zu verstehen ist. Indem sie sich diesen eingeschriebenen, zum Alltag gewordenen Regeln widmen, stehen sie auch im Kontext einer Wieder-Aneignung des Politischen: Denn erstens wirken die beschriebenen Aktionen auf die »verhüllte Willkür« und die »stumme Evidenz« der alltäglichen Wahrnehmung des Politischen ein. Die Insurrektion bringt es mit sich bzw. ermöglicht es, das Politische aus dem Moment heraus, im Alltag – d.h. ohne vorherige soziologische Analyse oder politikwissenschaftliche Reflexion – infrage zu stellen. In ihrer konkreten künstlerischen Tätigkeit unterstützen die während des Aufstands aktiven Künstler/innen diese Infragestellung, weil sie sie gewissermaßen am eigenen

15 Diese begründenden Wahrnehmungsschemata zu bestimmen und zu gestalten, wird laut Bourdieu von jenen sozialen Kräften beansprucht, die sich im Staat verdichten. Die an dieser Frage der Verdichtung von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen mögliche Verknüpfung von Bourdieus Ansatz mit der neueren materialistischen Staatstheorie im Anschluss an Nicos Poulantzas (vgl. etwa Bretthauer et al. 2006) stellt leider noch ein Desiderat dar.

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Leib bzw. in der und anhand der eigenen Praxis exemplifizieren: Die Malerei auf der Straße setzt nicht nur die eigene künstlerische Arbeit direkter Betrachtung durch Passanten und Passantinnen aus (und durchbricht damit die künstlerische Norm des individuell-schöpferischen Prozesses in der Zurückgezogenheit), sondern konfrontiert auch diese Betrachter/-innen mit der kunsthistorischen Tradition des Muralismus und zugleich mit dem Bruch mit dieser Tradition. Denn es wird demonstriert, dass politische Wandmalerei keinesfalls nur im Dienste des nationalen Projektes und der Staatspartei, sondern ausdrücklich gegen das politisch-administrative Establishment betrieben werden kann. Die Arbeit am Symbolischen ist, wie diese Einbettung in die vorherigen Praktiken im eigenen Produktionsfeld zeigt, nie voraussetzungslos, sie besteht in einem permanenten Prozess der Aneignung und des Angeeignet-Werdens. »Nur wenn das Erbe sich den Erben angeeignet hat«, schreibt Daniel Bensaïd (2006: 105f.), einen zentralen Gedanken aus Pierre Bourdieus Habitus-Konzept wiedergebend, »kann der Erbe sich das Erbe beschaffen.« Sich vom Erbe ergreifen zu lassen, also eine implizite Reflexion der eigenen Produktions- und Reproduktionsbedingungen, scheint auch eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen künstlerischer Interventionen zu sein. Abbildung 5: Graffiti in Oaxaca

Als Wieder-Aneignung des Politischen fungieren diese Strategien aber auch insofern, als sie zweitens gegen die Versuche der Schließung des politischen Feldes agieren. Sie reklamieren, indem sie deutlich erkenn-

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bar im Kontext der durch die APPO repräsentierten politischen Mobilisierungen stehen, das von den Professionellen beanspruchte Politische für alle und treten damit für eine politische Wahrnehmung des Alltäglichen ein. Indem das Alltägliche zum relevanten Bestandteil der politischen Auseinandersetzung gemacht wird, betreiben die Künstler/ -innengruppen ähnlich wie soziale Bewegungen »die illegale Ausübung der Politik« (Bensaïd 2006: 109), gegen die die professionelle Politik vorgeht (und die von Zapata Galindo als solche gar nicht berücksichtigt wird). Die illegale Ausübung der Politik ist subversiv. Diese Effekte können Kunstpraktiken wie Graffiti und Street Art vornehmlich dann entfalten, wenn sie – so zusammenfassend meine These – die beschriebene Wechselbewegung zwischen Alltag und Nicht-Alltäglichem aufrechterhalten können, wenn sie sich in diesem Hin und Her zwischen Graffiti/Street Art als Kunst und Graffiti/Street Art als Teil der Praktiken sozialer Bewegungen temporär etablieren können.16 Denn diese hybride Form oder dieses Hin- und Herlavieren verhindert oder blockiert zumindest erstens die schnelle Funktionalisierung zum (vorgeblich funktionslosen, d.h. künstlerischen) Prestigeobjekt und die anschließende, reine Warenwerdung. Zweitens erschwert sie das Abgleiten der Wandbilder auf die nichts oder kaum etwas sagende Bedeutungsebene von Farbflecken oder abbröckelndem Putz, die die städtischen Hausfassaden nicht mehr oder weniger kennzeichnen als jene Formen, die formal (und inhaltlich) anderes beanspruchen. Letzteres ist im Übrigen auch der Grund, warum in puncto Effektivität symbolischer Arbeit ebenso an der zumindest temporären Weihung zur Kunstpraxis festzuhalten ist (einem Festhalten, dem schließlich auch die theoretisch antiquiert erscheinende und politisch häufig verpönte, aber nicht minder wirksame Trennung von Alltags- und Kunstgegenständen zu Grunde liegt). Wertschätzung und Wirkung kultureller Produktionen stehen zwar nicht in einem direkten, proportionalen Verhältnis, ohne Anerkennung aber, d.h. ohne die Ausstattung mit symbolischem

16 Die Akzeptanz von Graffiti und Street Art als Kunst muss nicht unbedingt – wie Baeumer (2009: 114) meint – damit einhergehen, die dazugehörige Praxis des Produktionsprozesses auszublenden. Eine Einbindung von Graffiti/Street Art in die Praxis sozialer Bewegungen wirkt dieser Ausblendung vielmehr entgegen.

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Kapital, sinkt das Potential für Effekte innerhalb und erst recht außerhalb des Produktionsfeldes immens. Nicht jedes Graffiti ist demnach also eine Inbesitznahme des öffentlichen Raumes, wie García Canclini behauptet hat. Sie fungieren als solche vor allem dann, wenn sie sich als spezifisch künstlerische Praxis etablieren und diese Spezifik in bestimmten Momenten irrelevant erscheinen lassen, indem sie sich in andere kulturelle Praktiken einspeisen. Am besten funktioniert das in Momenten, wenn der Alltag nicht-alltägliche Formen annimmt und auch andere, außerkünstlerische Nicht-Alltäglichkeiten zum Alltag gehören. Kurz, in Situationen, die Insurrektionen sind.

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Die bestechenden Anderen (und das Bestechen der Anderen) Subversion, Massenkultur und das (politische) Subjekt im Werden A NNA S CHOBER

E INLEITUNG In Pasolinis Film Teorema (1968) ist ein junger Mann für unbestimmte Zeit in einer großbürgerlichen Familie in Norditalien zu Gast. Er agiert dabei in einer Weise, wie es ansonsten in Filmen meist Frauen vorbehalten ist. Sein Erscheinen verführt der Reihe nach jedes einzelne Familienmitglied, und zwar sowohl Männer als auch Frauen, sowie Emilia, das Dienstmädchen. Alle zeigen sich durch ihn in Bewegung und Aufruhr versetzt. Sie werden durch seine Präsenz, d.h. durch sein Gesicht, seine Haltung, seine Gesten, seine Bewegungen und seinen Blick angetrieben, ihn, der selbst passiv, aber gefügig ist, zu verführen – wodurch wiederum jeder und jede außer sich gesetzt und aus der gewohnten Lebensbahn geworfen wird. Genauso plötzlich wie der Gast auftaucht, verschwindet er auch wieder. Im zweiten Teil entfaltet sich der Film, indem nacheinander für alle Betroffenen vorgeführt wird, welchen Effekt die Begegnung mit dem Fremden auslöst und wie die Einzelnen dieses Außer-sich-gesetzt-Werden in eine ihnen je zur Verfügung stehende Sprache bzw. in mehr oder minder außergewöhnliche Handlungen überführen. Als Betrachter/-innen dieses Films sind wir also Zeugen bzw. Zeuginnen einer zweifachen Serie von Geschehnissen: Zunächst beobach-

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ten wir eine Reihe signifikanter, über den Augensinn operierender Ereignisse der Begegnung mit dem Fremden. Dieser ist eine Art profaner Gott, Dionysos, der sowohl Sexualität als auch das gesellschaftlich Andere bzw. Fremde verkörpert. Durch die körperliche Begegnung mit dem Gast wird die Identität der einzelnen Protagonisten und Protagonistinnen des bürgerlichen Familienzusammenhangs unterminiert – sie erleben sich und ihre Welt als je anders als bisher. Nach dem Verschwinden des Gastes sind wir Zeugen bzw. Zeuginnen der verschiedensten Versuche, diese signifikante, zugleich den Sinn wie die Sinne verrückende Begegnung wieder in den Alltag integrieren zu wollen. Diese Rücküberführung in die Geleise alltäglicher Lebenspraxis nimmt den größeren Teil des Films ein. Wie wir sehen werden, verhandelt und bewertet Pasolini diese Rücküberführung durch die einzelnen Beteiligten in einer sehr spezifischen Weise. Die von ihm angebotene Charakterisierung ist von einem heftigen Misstrauen dahingehend geleitet, dass in bürgerlichen Zusammenhängen wohl kaum ein individuell und kollektiv produktiver Umgang mit solchen Ereignissen geschehen könne. Mit einer Ausnahme: Emilia, das Dienstmädchen, verlässt den bürgerlichen Haushalt und kehrt in die ländliche Gemeinde, aus der sie stammt, zurück. Sie kann für die Übersetzung des Geschehenen auf ein bäuerlich-mythisches Wissen zurückgreifen, wobei sie dabei von der ländlichen Gemeinschaft unterstützt wird, mit der sie diese Begriffsgeleise und Bilder teilt und durch die sie Schritt für Schritt in ihren Handlungen bestätigt wird. Die Produktivität ihrer Art und Weise, das Geschehen zu verarbeiten, zeigt sich zum Beispiel an Wunderheilungen oder an einer Art Himmelfahrt Emilias. Gegen Ende des Films wird sie sich, lebendig begraben, in eine Quelle verwandeln, von der sie sagen wird, dass es sich dabei um keine Quelle des Schmerzes handelt. Alle anderen Familienmitglieder sind in dieser Übersetzungs- bzw. Rückführungsarbeit auf sich selbst zurückgeworfen und vereinzelt. Sie finden in den ihnen verfügbaren bürgerlichen bzw. wie Pasolini anderweitig1 präzisiert, kleinbürgerlichen Welten keinerlei Unterstützung oder Anhalts-

1

In seiner parallel zum Film in Buchform erschienenen gleichnamigen Parabel führt Pasolini Folgendes aus: »Es handelt sich um eine kleinbürgerliche Familie: Kleinbürger in ideologischem, nicht ökonomischem Wortsinn.« (Pasolini 1983b: 7)

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punkte, wie sie das Geschehen weiterführend und nicht (selbst-)destruktiv nutzen können. Nur das Familienoberhaupt, zugleich Industrieller, Ehemann, Vater und Dienstgeber, dessen Geschichte neben jener Emilias den zweiten Haupterzählstrang des Films bildet, wird eine radikale, Bürgertum und Kapitalismus entgegengesetzte Geste ausführen. Nach Versuchen, eine Ähnlichkeit des Erlebens mit einem jungen, am Bahnhof aus der Menge herausgegriffenen Mann einholen zu können, wird er sich wie der heilige Franziskus nackt ausziehen und in die (symbolische) Wüste gehen. Zugleich wird er seine Fabrik den Arbeitern und Arbeiterinnen in Selbstverwaltung übergeben – wobei der Film mit der Darstellung der Effekte dieser Geste beginnt. In einer Art Vorspann kommt, nach zunächst menschenleer wirkenden Einstellungen auf ein bekanntes Mailänder Fabrikgelände, eine kleine Gruppe von Männern ins Bild, manche davon Journalisten, die dieses ungewöhnliche Ereignis aufgeregt diskutieren: Wird durch die Übergabe der Fabrik an die Arbeiter/ -innen die Revolution verhindert? Werden aus den Arbeitern und Arbeiterinnen Kapitalisten und Kapitalistinnen? Der Film Teorema präsentiert eine Ausgangskonstellation und untersucht verschiedene mögliche Verlaufsformen derselben. Die dabei gestellte Frage lautet: Was geschieht mit der Institution der bürgerlichen Familie und mit dem Kapitalismus, wenn es zu einem Kontakt mit dem Heiligen kommt – zu einer »profanen Erleuchtung«2, um einen 1968 oft beanspruchten Begriff zu verwenden? Wenn es zum körperlich-sexuellen Kontakt mit einem irdischen Messias kommt? Wenn sich signifikante Begegnungen mit dem Ausgeschlossenen und Fremden ereignen? Welche Reihe von Geschehnissen kann dadurch angestoßen werden? Pasolini führt in der Auseinandersetzung mit diesen Fragen vor, dass solche Ereignisse über den Augensinn und den Körper verlaufen. Sie unterminieren bislang als gefestigt geltende Identitäten, aber auch Institutionen wie die bürgerliche Familie oder den kapitalistischen Unternehmer. Dennoch ist die Subversion des Gegebenen nur ein Teil der Geschichte – im Film ist ihr der erste Teil gewidmet. Subversion ist für Pasolini stets an eine Rückübersetzung der unterminierenden Ereignisse in alltägliche Lebenspraxis gebunden. Diese wird von ihm je-

2

Dieser Begriff stammt von Walter Benjamin. Er wurde zu einem zentralen Begriff für die 1968er-Bewegung. Siehe Benjamin 1977: 297.

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doch nicht als Rückkehr, sondern als notwendige Rücküberführung präsentiert. Die einzige Weise, wie sie nicht geschehen kann – auch wenn selbst dies eine Art Rücküberführung ist – ist jene, die im Film die Tochter des Hauses, Odetta, vorführt: Sie verharrt nach der sexuellen Begegnung mit dem Fremden in einem katatonischen Wahnzustand und wird in eine Anstalt abtransportiert. Es ist dieser zweite Teil, die Frage nach der Übersetzung3 des Ereignisses der signifikanten Begegnung in den Alltag, die Pasolini in erster Linie zu interessieren scheint. Wie bereits festgehalten, setzt er dabei sowohl sein Misstrauen in die bürgerliche als auch seine Liebe zur und seine Sehnsucht nach einer ländlich-subproletarischen Gemeinschaft in Szene. Diese Bewertung Pasolinis muss jedoch nicht übernommen werden. In der Auseinandersetzung mit der Frage: »Was geschieht, wenn es zu einem signifikanten, sowohl die Identität des Einzelnen als auch die herrschende Ordnung der Dinge umwälzenden Ereignis der Begegnung mit dem Anderen kommt?«, können einige Eckpunkte der von ihm vorgeschlagenen Konstellation anerkannt werden, ohne dass der Gang der Dinge zugleich kulturpessimistisch oder nostalgisch mit bewertet werden muss. So kann heute für die westliche und für einen Gutteil der sogenannten globalisierten Welt vorausgesetzt werden, dass allen, die in solche Ereignisse involviert sind, keinerlei Geländer überlieferter Tradition zur Verfügung stehen, auf die man sich bei der Verhandlung solches Geschehens stützen könnte. Dies führt jedoch nicht zu einer völligen Aufgabe von Tradition, sondern paradoxerweise können gerade solche signifikanten Ereignisse ein Erfinden von Tradition mit anstoßen, das meist kein völliges Neuerfinden ist, sondern in dem Versatzstücke bestehender oder zurückgelassener Traditionen belebt und neu miteinander kombiniert werden. Zugleich kann anhand des Films diskutiert werden, in welcher Form heute Erfahrungen des Heiligen, von Transzendenz, des Authentischen oder von Wahrheit individuell und kollektiv erlebt und bewältigt werden – trotz oder auch jenseits allen Wissens um die Konstruiertheit von Identität. Der Film präsentiert zudem das Entstehen von unvorhergesehenen Konstellationen, die von keinem und keiner der Beteiligten

3

Wie jede Übersetzung ist auch diese nie eine vollständige, sondern eine, die genauso eine Setzung und gewaltvolle Aneignung (und damit Transformation) vornimmt, wie sie versucht, Bedeutungen präsent zu halten und dabei akkurat zu sein.

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zur Gänze überblickt werden und die vielleicht – entgegen dem dargestellten Lauf der Dinge – nicht so gänzlich in Zuordnungsschemata wie unproduktives Bürgertum versus produktives Subproletariat aufgehen, wie es Pasolini darstellt. In der Folge wird der Film Teorema zum Ausgangspunkt genommen, um verschiedene Etappen und Aspekte von Ereignissen, die das Gegebene unterminieren, sowie ihrer Rückübersetzung in Alltagspraxis zu diskutieren. Dabei werde ich, wie der Film, chronologisch und schrittweise vorgehen. Eine wichtige Frage wird die nach der körperlichen Berührung durch ästhetisches Erscheinen sein sowie in welcher Weise dies mit der Konstitution des Subjekts bzw. in der Folge auch mit der Konstitution eines politischen Subjekts zusammenhängt. Indem der Film zum Ausgangspunkt der Verhandlung von Subversion genommen wird, werden auch Dinge zur Sprache kommen, die mit zum Thema gemacht werden: etwa das Faktum, dass der profane Gott in Pasolinis Teorema männlich ist und es ebenfalls das männliche Familienoberhaupt ist, für das sowohl das Ereignis des Kontakts mit dem heiligen Sexus selbst als auch die Effekte dieser Begegnung am schwierigsten zu bewältigen sind. Zugleich wird angesprochen, dass wir uns als Betrachter/-innen des Films in einer ähnlichen, auf den Augensinn bezogenen Situation bezüglich des Erscheinens von Signifikanz befinden wie die einzelnen Figuren im Film gegenüber dem profanen Gott; oder dass die Anerkennung, die Emilia in der ländlich-subproletarischen Gemeinschaft findet, etwas ist, das Pasolini in der Art der Ästhetik, die er für den Film wählt, einzuholen sucht.

V ORSPANN : E IN MÄNNLICHER G OTT SEINE WEIBLICHEN P ENDANTS

UND

Wir erfahren in Teorema so gut wie nichts über den Gast, der jeden Einzelnen und jede Einzelne aus der Familie, die er besucht, aus der Bahn werfen wird: nicht wie er heißt, weder woher er kommt noch wohin er geht, nichts über seine Vergangenheit. Dieser Gast erscheint vor uns jedoch als er. Sein Geschlecht steht dabei in einem Spannungsverhältnis zur Funktion, die er im Film einnimmt, da diese Funktion 1968, als der Film entstand, in Literatur und Film herkömmlicherweise von Frauen dargestellt wurde. Dann aber verkörpern diese Frauen dieselbe Funktion in zugleich ähnlicher und doch ganz anderer

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Weise. Sie tragen zum Beispiel immer einen Namen oder vielmehr, sie tragen so viele Namen, wie ihre Gegenüber, ihre Liebhaber und manchmal, wenn auch viel seltener, Liebhaberinnen, für sie erfinden: Lulu, Lu, Lola, Lolita, Dolores, Eva, Teufelchen. Wir erfahren zudem, zumindest in rudimentärer Form, ihre Geschichte und was aus ihnen wird. Sie landen in der Gosse, werden ermordet oder, wie Lolita, einfach nur erwachsen – wodurch die Lolita in ihnen jedoch stirbt. Pasolinis er gleicht diesen Figuren und ist doch ganz anders. Die Ähnlichkeit besteht darin, dass sowohl er als auch diese L-Figuren4 Begehren, eine signifikante körperliche und sexuelle Begegnung sowie das ganz Andere verkörpern. Sie setzen die Erzählungen in Bewegung und ihr Erscheinen hält die Geschichten in Gang. Zudem sind sowohl er in Teorema als auch Lulu oder Lolita unbefangen, authentisch und zugleich wandelbar. Sie posieren für den je Anderen oder die je Andere und entfachen über den Augensinn Lust und Begierde. Dies affiziert alles, was mit ihnen in Verbindung steht. So werden etwa Elemente ihrer Kleidung fetischistisch aufgeladen oder wie Reliquien verehrt. Ihre jeweiligen Gegenüber erleben sich als getroffen und hartnäckig involviert und erleiden einen zeitweiligen Verlust von Identität und einen Zerfall von Welt. Diese Figuren bringen auf diese Weise die herrschende Ordnung der Dinge durcheinander. Dennoch sind die Unterschiede zwischen ihm und den L-Figuren mindestens so zahlreich wie die Ähnlichkeiten: Wie bereits festgehalten ist er namenlos, sie dagegen tragen viele Namen. Zudem ist er bedürfnislos, sie sind berechnend; er ist ruhig und gelassen, sie sind nicht souverän; er ist passiv, gibt sich und lässt zugleich mit sich geschehen, während sie herausfordernd und frech sind; er liest wissenschaftliche Literatur sowie in einem Buch von Arthur Rimbaud, sie lesen Französisch sowie Modezeitschriften; er kommt von außen und verschwindet spurlos, sie sind in die Gesellschaft eingebunden; er scheint selbst emotionslos zu sein, sie zeigen heftige Emotionen; er ruht in sich, sie sind narzisstisch und betrachten sich wiederholt im Spiegel; er ist einzig, sie sind viele; er wird mit der Figur des Dionysos (vgl. Holthaus 2001) in Beziehung gesetzt, sie mit Pandora (vgl. Schober 2001b) bzw. den Unheilsgestalten, die ihrer Büchse entsteigen.

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Lulu und Lolita besetzen eine ähnliche Funktion, sind aber als Figuren nicht deckungsgleich. Mit ihnen setzte ich mich ausführlich auseinander in: Schober 2001b.

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Sowohl Pasolinis profaner Gott als auch Lulu oder Lolita verkörpern eine Authentizität von Begehren und Triebhaftigkeit. Wedekind arbeitet etwa in Zusammenhang mit Lulu heraus, dass eine solche Authentizität stets Gefahr läuft, durch Protagonisten der modernen, bürgerlichen Gesellschaft zerstört zu werden. Pasolini nimmt in Teorema solche Mythen auf und verschränkt sie mit anderen, insbesondere solchen, die das dionysische Prinzip5 verhandeln. Indem er (sexuelles) Begehren von einer männlichen Figur verkörpern lässt, stellt er die herrschende Geschlechterordnung seiner Zeit auf den Kopf. In der Art, wie sein er diese Funktion verkörpert, werden bestehende Mythen in Bezug auf Männlichkeit zugleich jedoch bestätigt. Am augenfälligsten unterscheidet sich der profane Gott in Pasolinis Film von Lulu oder Lolita durch die mit ihm verbundene Erhabenheit und Herausgelöstheit aus dem Getriebe des Alltags und dem diesem eigenen Beziehungsgefüge. Er bringt die gegebene Ordnung durcheinander und setzt seine Gegenüber außer sich, bleibt selbst dabei jedoch ruhig und gelassen, geht fürsorglich und souverän auf die Bedürfnisse aller ein, ohne in irgendeiner Weise in Beziehungen eingebunden zu sein oder ein privilegiertes Verhältnis zu einem der Gegenüber zu entwickeln. Er selbst zeigt keine Emotionen und erscheint auch dadurch uninvolviert, in sich versunken und ganz – er verkörpert eine Ganzheit, die fasziniert und an der seine Gegenüber teilhaben wollen. Seine Herausgelöstheit aus dem Getriebe des Alltags wird durch seine plötzliche, unvermittelte, nur durch eine Art Götterboten angekündigte Ankunft und Abreise noch gesteigert. In dieser Erhabenheit und Herausgelöstheit dominiert er den Raum der Geschichten, selbst wenn er abwesend ist. Diese Erhabenheit der Hauptfigur verleiht dem quasi-wissenschaftlichen Theorem, das Pasolini sich vornimmt, Ernsthaftigkeit, Seriosität und Bedeutsamkeit. Der im Film verhandelte Bezug zum Sinn wird

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Dionysos ist der Vegetationsgott und Schöpfer des Weinkults, er ist ein immer wieder in neue Gefilde einbrechender Fremder, mit dem ekstatische Wildheit, Rausch, Identitätswechsel und Maske sowie absolute Hingabe verbunden sind. Zu den verschiedenen Versionen des Dionysosmythos und zu dessen Bedeutung für das künstlerische Schaffen Pasolinis insgesamt und für Teorema im Besonderen siehe Holthaus 2001: 8ff.

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durch diese betonte Wissenschaftlichkeit6 von allen Verunreinigungen – etwa von Querbezügen zu Massenkultur, Frivolität und Konsum, wie sie den Figuren der Lulu oder Lolita eigen sind, – ferngehalten. In diesem Zusammenhang ist es bedeutsam, dass der männliche Gast sich wissenschaftliche Broschüren sowie ernste, hohe, wenn auch Bohemien-Literatur zu Gemüte führt, während Lulu französische Texte liest oder in Modejournalen blättert. Auch Pasolinis er verwandelt wie Lulu für seine Gegenüber alles – jedes Objekt, jeden Ort, jede Art der Erscheinung –, womit er in Berührung gekommen ist: seine Kleider, die Lucia mit den Augen abtastet und wie Reliquien aus der Umgebung herausheben wird, das Rasenstück im Garten, auf dem er sich im Liegestuhl mit Odetta und ihrem Vater ausruht und sogar das Licht, das am Morgen nach seiner Ankunft das Familienoberhaupt blendend und zugleich goldig-warm in Bann schlägt. Dennoch erscheint der fremde Gast zugleich aus diesen Bezügen herausgehoben und selbst nicht-affiziert zu sein, wohingegen Lulu sehr wohl in einer innigen, selbst faszinierten und involvierten Beziehung zu ihren Kleidern, ihren Frisuren, ihrem Spiegelbild und ihren Modeheften in Szene gesetzt ist. Lulu ist als signifikante Begegnung Teil einer Konsum- und Massenkultur. Er dagegen bleibt solch weltlichen Zusammenhängen enthoben.7 Wenn

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Auch der Titel des Films Teorema streicht die Wissenschaftlichkeit des Präsentierten hervor. Ein Theorem ist in der Mathematik die Aussage von etwas, das wahr ist. Die betonte Wissenschaftlichkeit, die dem Filmemachen Pasolinis auch im Allgemeinen eigen ist, wurde von anderen ebenfalls bemerkt. So schreibt Gary Indiana: »Pasolini was very seduced by a ›scientistic‹ way of looking at and writing about films; this ›scientism‹ informed the way he made films as well, with mixed results.« (Indiana 2000: 19) Auch im Teorema-Buch hält Pasolini fest: »Wie der Leser sicher schon bemerkt hat, handelt es sich hier weniger um eine Erzählung als vielmehr um das, was man in der Wissenschaft einen ›Bericht‹ nennt: also um etwas sehr Informatives; und darum, technisch gesehen und der Form nach, eher um ein ›Handbuch‹ als um eine Botschaft.« (Pasolini 1983b: 13)

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Dieses Festhalten an Hochkultur, Erhabenheit, Wissenschaftlichkeit und eine vor allem in seinen Spätschriften nachdrücklich vorgetragene Verachtung von Konsum steht in merkwürdigem Gegensatz dazu, dass Pasolini in diesen Jahren von der hochkulturellen Sphäre der Literatur in jene des (populären) Kinos übergewechselt ist – was ihn im Italien der 1950er und 1960er Jahre massiven Angriffen vonseiten mehrerer Intellektuellen-Kolle-

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der fremde Gast mit fetischartig aufgeladenen Objektbedeutungssystemen in Zusammenhang gebracht werden kann, dann eher mit einer Art religiösem Reliquienkult. Und wenn er mit zeitgenössischen, kontingent sich ergebenden Ereignissen in Bezug gesetzt wird, dann nicht, wie Lulu in manchen Versionen, mit dem Börsenkrach,8 sondern mit Revolution – die Begegnung mit ihm wird den Unternehmer schließlich dazu bringen, eine das Bürgertum tendenziell abschaffende Geste zu setzen. Dichotomien von Bedeutungsketten wie Weiblichkeit– Massenkultur–Konsum–das Private–In-Beziehungen-Verwickelte–Involvierte versus Maskulinität–Hochkultur–Theorie–Politik–Revolution–Heiliges-Aus-Beziehungen-Herausgehobenes werden dadurch bestätigt. Indem er sowohl weibliches als auch männliches Begehren zu entfachen und temporär zu befriedigen vermag und dabei sowohl fürsorgliche als auch herausfordernde9 Gesten setzt, wird der Gast von Pasolini als zweigeschlechtliche Figur präsentiert. Dennoch ist er nicht als androgyne Gestalt in Szene gesetzt, sondern wird durch Erscheinung sowie durch solche Bedeutungsketten nachdrücklich als männlich bestätigt. Signifikanten Ereignissen ist jedoch, wie noch ausgeführt werden wird, das Potential zu eigen, Kategorisierungen wie »männlich« und »weiblich« oder »Politik« und »Konsum« zu zerschlagen (Nancy 2003: 36). Revolution und Konsum sind demnach nicht so abgespalten voneinander, wie Pasolini es in Teorema in Szene setzt. Von den während der Französischen Revolution mitgeführten roten, phrygischen Mützen bis zu den Fahrrädern der Arbeiterbewegung, den Discos der

gen ausgesetzt hat. Zugleich hat das Kino mit Autoren wie Pasolini auf neue Weise kulturelle Legitimität erhalten. Vgl. dazu Viano 1993: 49. 8

Zum Beispiel in Alban Bergs Lulu-Oper.

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Vor allem in der in Buchform veröffentlichten, gleichnamigen Parabel nennt Pasolini wiederholt die Mütterlichkeit, das mütterliche Zartgefühl des fremden Gastes, das jedoch gepaart mit Ironie auftritt, wie ebenfalls mehrfach herausgestrichen wird. An manchen Stellen bringt er explizit zur Sprache, der Gast würde männliche und weibliche Eigenschaften vereinen, z.B. wenn er schreibt: »Sofort sind seine Augen erfüllt von jenem Leuchten, das wir schon an ihm kennen: ein väterliches Leuchten, voll mütterlicher Vertrautheit […] verständnisvoll und sanft-ironisch zugleich.« (Pasolini 1983b: 22 und 31)

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Schwulenbewegung oder den Karnevalskostümen von Pink-Block-Aktivistinnen der Alter-Globalisierungsbewegung gibt es viele Beispiele von Dingen und Orten, auch Konsumobjekten und Unterhaltungsorten, die in signifikante Begegnungen eingebunden werden und politische Produktivität entwickeln. Zugleich sind alle an einem sich kontingent ergebenden Gefüge beteiligten Elemente und Akteure bzw. Akteurinnen stets auch durch das Beziehungsgeflecht, in dem sie stehen, mit konstituiert, d.h. niemand und nichts ist so herausgehoben wie Pasolinis er – wobei jede und jeder der Beteiligten sowie jedes Objekt potenziell zu einem Auslöser von Signifikanz werden kann. Die Herausgelöstheit von Pasolinis Gott ähnelt in gewisser Weise jener der modernen Unternehmer/-innen, die agieren und bewegen, ohne selbst Details des Beziehungsgefüges, in dem sie stehen, preiszugeben. Begehren als Prinzip, das Zuordnungen zerschlägt, wird von Pasolini also auch rückgeführt in eine Mythenwelt, die überlieferte Formen von Maskulinität bestätigt, auch wenn er diese zugleich in Hinblick auf ein Paradigma der Heterosexualität hinterfragt: Paolo10 – Vater, Ehemann, Familienoberhaupt und Industrieller – landet durch das Erleben von homosexuellem Begehren in der symbolischen Wüste und setzt eine, seine bisherige Funktion radikal herausfordernde Geste. Pasolini weist damit sehr deutlich darauf hin, dass es Erscheinungsformen des Begehrens gibt, die in der herrschenden Welt der Bilder und Geschichten aufgehoben sind, sowie die Entdeckung eines tabuisierten oder anderweitig ausgeschlossenen Begehrens, das mit diesen bestehenden Welten in Konflikt treten kann. Der folgende Text handelt wie

10 Im Film wird auch der Unternehmer und Familienvater nicht mit seinem Namen genannt, sondern ist ganz einfach namenlos in seiner Position präsent. Aus dem gleichnamigen Buch von Pasolini kennen wir jedoch seinen Namen, weshalb ich ihn der Einfachheit halber in diesem Text an wenigen Stellen für diese Figur verwende. Diese Namenlosigkeit des Unternehmers und Familienhaupts wird von Pasolini im Buch thematisiert. »Aber an dieser Stelle glauben wir doch, dass es besser ist, den Vater nicht mehr bloß ›Vater‹, sondern mit seinem eigenen Vornamen Paolo zu nennen. Mag sich so ein Vorname, jeder beliebige, ganz unsinnig anhören, wenn er einem Vater gegeben wird: Entkleidet er ihn doch auf merkwürdige Weise seiner Autorität, entweiht ihn, stößt ihn zurück in den ursprünglichen Zustand des Sohnes; setzt ihn also allen Unbilden aus, allen dunklen und anonymen Wechselfällen im Leben der Söhne.« (Pasolini 1983b: 65)

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Pasolinis Film von einem Übergang zwischen Welten und in welcher Weise ein solcher Übergang durch ein Zusammentreffen mit dem Fremden ausgelöst wird.

AUSSER - SICH - GESETZT -W ERDEN DAS Z ERBERSTEN DER W ELT

UND

Der Gast in Pasolinis Teorema besticht durch seinen Körper und seine Erscheinung. Selbst wenn er spricht, sehen ihn seine Gegenüber, hören ihn jedoch nicht. Sobald er in einer Situation anwesend ist, erscheint diese uns in Farbe, während diverse Rückblenden in Situationen vor seiner Ankunft oder Blicke in die mit ihm verbundene symbolische Wüste in sepiafarbenem Ton gezeigt werden. Dies wird vor allem am Beginn des Films deutlich, wo in kurzen, schnell aufeinanderfolgenden Sequenzen die Situation und die einzelnen Beteiligten kurz vorgestellt werden. In einer dieser Sequenzen beobachten wir eine in einem eleganten, großbürgerlichen Haus stattfindende Party, in der plötzlich ein junger Mann auftaucht, der mit dem Sohn des Hauses bekannt ist und auffällt – insbesondere der Hausherrin sowie einer Freundin Odettas, der Tochter des Hauses. Er ist »nur irgendein Junge«, wie Odetta dieser Freundin auf die Frage antwortet, wer der Neuankömmling denn sei. Zugleich kündigt sich die Signifikanz, die dieser entwickeln wird, hier bereits an – nicht nur in den ihm zugeworfenen Blicken, sondern auch dadurch, dass dies die einzige dieser Rückblendesequenzen ist, die in Farbe gedreht ist. Etwas später ist dieser junge Mann dann unabhängig von solchen Festivitäten in derselben Familie zu Gast. Seine Ankunft und Abreise kündigt er handschriftlich an, jedoch ohne dass sein Name dabei sichtbar wird. Ansonsten kommuniziert er in allen Sequenzen allein durch seine körperliche Präsenz. Sobald er im Haus anwesend ist, erstrahlt der Film wieder in Farbe. Die sehr schnell erfolgenden signifikanten Begegnungen mit den einzelnen Familienmitgliedern und mit Emilia, dem Dienstmädchen, laufen ebenfalls über die Augen und die Körper. Die Kamera nimmt dabei wiederholt die Position jener ein, die fasziniert, bestürzt und berückt auf ihn schauen: den Blick Emilias, der, von der Gartenarbeit abgelenkt, dem Körper des Gastes entlangstreicht; jenen Pietros, der nächtens aufsteht, um den schlafenden Gast zu betrachten; jenen von Lucia, die zunächst seine im Gartenhaus herumlie-

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genden Kleider mit den Augen abtastet, bevor sie ihn am See mit einem Hund herumtollend fasziniert beobachtet; und schließlich jenen des krank im Bett liegenden Familienoberhaupts, das sich wiederholt erwartungsvoll zum Türrahmen wendet, in dem immer aufs Neue er erscheinen wird. Nur Odettas Zuwendung ist vermittelter in Szene gesetzt. Sie, die Vater und Gast des Längeren besorgt zusammen beobachtet hat, eignet sich plötzlich, über das Medium der Fotografie, das Begehren des Vaters an und überträgt seine Faszination auf sich selbst. Durch den narrativen view behind sind wir als Betrachter und Betrachterinnen des Films in dieses Fasziniert- und Berückt-Werden der einzelnen Gegenüber eingeweiht. Wir wissen, dass sich etwas in diesen Begegnungen ereignet, noch bevor die Einzelnen selbst wissen, was oder wie ihnen geschieht. Der Punkt, an dem ein alltägliches, zerstreutes Schauen und Tun in ein fasziniertes, berührtes und aus der Bahn geworfenes umschlägt, ist jeweils durch Schrecken markiert: Emilia erschrickt, während ihr Blick auf den Gast gerichtet ist, mehrfach, ihr kommen die Tränen, bevor sie, durch seinen Anblick angetrieben, ins Haus läuft und versucht, sich das Leben zu nehmen; wenn Pietro nächtens auf das Bett des Fremden zugeht und die Decke zurückschlägt, schreckt auch er sowohl vor dem Erwachen des Gastes als auch vor seinem eigenen Begehren auf und wirft sich daraufhin schluchzend und entschuldigend auf das Bett; auch Lucia erschrickt, wenn sie sich im Gartenhaus nackt auszieht, sichtbar, d.h. mit bebendem Körper, vor ihrem eigenen Tun, schafft jedoch, indem sie ihre Kleider aus einem Impuls heraus in den Garten wirft, zugleich unveränderbare Tatsachen; und der Vater, Paolo, legt sich, nachdem er sowohl ein gleißendes Morgenlicht wahrgenommen als auch seinen Sohn mit dem Gast in einem Bett schlafend beobachtet hat, zurück zu seiner Frau ins Bett und macht einen von Verzweiflungsgesten begleiteten Versuch, das erlebte homosexuelle Begehren durch einen (missglückenden, plötzlich abbrechenden) heterosexuellen Akt auszulöschen. Erst mit der Ankündigung der Abreise des Gastes sprechen die einzelnen Familienmitglieder die Suspendierung der ansonsten herrschenden Gesetzmäßigkeiten und das Außer-sich-gesetzt-Werden der bislang als selbstverständlich erlebten Identität diesem gegenüber explizit an. Auch hier ist wieder Emilia die Einzige, die sich nicht in einem solchen Geständnis verfängt, sondern ihre Getroffenheit durch emotionale Gesten zum Ausdruck bringt: Als sie den Koffer des Gastes aus seinem Zimmer trägt und dieser insistiert, ihr helfen zu wollen, nimmt

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sie plötzlich seine Hände und bedeckt diese mit Küssen. Alle anderen Familienmitglieder gestehen dem Gast einzeln den Zusammenbruch alles Bisherigen. In diesen Geständnissen sprechen alle davon, sich anders als bisher zu erleben sowie, dass bisherige Bezugssysteme keinerlei Bedeutung mehr für sie hätten. Sie berichten von Lust und Schrecken, durch die Begegnung mit dem Fremden bislang unbekannte Züge an sich entdeckt zu haben, sowie von der Betroffenheit, etwas zu sein, das ihnen die bisherige Ordnung der Dinge verwehrt hatte. Dabei sprechen insbesondere Pietro, Lucia und Odetta an, dass sie über diese Begegnung die Entfremdung, die ihre Position im Rahmen der bürgerlichen Zusammenhänge prägte, überwunden und Zugang zu einem anderen, von ihnen als wahrer erlebten Selbst gefunden hätten. Das Ereignis der Begegnung mit dem Fremden lässt also auch etwas wieder aufleben – im Fall von Lucia eine durch Ideologie der bürgerlichen Familie verdeckte sinnlich-mythische Dimension der Fülle, die eine bäuerliche Herkunft erahnen lässt (vgl. Holthaus 2001: 116ff). Nur für den Industriellen und Familienvater steht die Destruktion des Bisherigen im Vordergrund: Er berichtet davon, dass diese Begegnung die Vorstellung, die er von sich gehabt hatte, völlig zerstört habe und dass er keinerlei Möglichkeit für eine Re-Integration des Selbst sehe, die nicht mit einem Skandal verbunden sei, der einem zivilen Tod nahekommen würde. In diesen Geständnissen sind jedoch noch alle auf den Gast als Gegenüber bezogen. Sie sitzen ihm vis à vis oder gehen Seite an Seite mit ihm spazieren. Dabei berichtet jeder und jede davon, in ihm ihr Begehren, das, was ihnen, unbekannterweise, fehlte, aufgehoben zu sehen. Sie gestehen, wie sie durch ihn zu anderen geworden sind: Pietro, dass er seine Andersheit entdeckt hätte; Lucia, dass sich ihr Leben von einem ausgetrockneten Garten und einer Ansammlung falscher Werte in eine totale Wahrheit verwandelt hätte, und Odetta, dass sie durch ihn zu einem normalen Mädchen geworden sei, das vor Männern keine Angst mehr haben muss. Nur Paolo schildert detailreich den Zerfall seiner bisherigen Welt. Die Signifikanz der Begegnung kann von den Einzelnen jedoch nicht direkt angesprochen werden. Um sie zu übermitteln, greifen alle auf ihnen bekannte Sprachmuster und manchmal auch auf Klischees zurück. Die signifikante Dimension wird eher in einem Schluchzen kommuniziert, welches das Sprechen manchmal unterbricht, in einem Flehen in den Stimmen oder in den hängenden Schultern Paolos, als in

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dem, was die Einzelnen sagen. Die Berichte zeugen so auch von der Unfähigkeit der Einzelnen, ihre Erfahrungen mit dem Gast zum Ausdruck zu bringen. Allein Emilia scheint über ein Wissen zu verfügen, welches ihr nach dem anfänglichen Schrecken ermöglicht, einen selbstverständlichen, wenn auch zärtlich ergebenen Umgang mit dem fremden Gott zu finden. Bestehende, im bürgerlichen Haushalt herrschende Hierarchien und Machtverhältnisse werden durch die signifikante Begegnung also durcheinandergebracht. Am untersten Ende der Hierarchie ist Emilia angesiedelt – bzw. Emilia ist als Individuum eigentlich gar nicht präsent, sondern nur in ihrer Funktion als Dienstmädchen, was dadurch deutlich gemacht wird, dass auch die nach ihrer Abreise eingestellte Nachfolgerin mit demselben Namen gerufen wird. Durch den Kontakt mit dem Heiligen wird die erste Emilia jedoch angestoßen, diese Position der Nicht-Existenz zu verlassen. In der Folge wird sie selbst zu einer Art Heiligen. Der am obersten Ende der hierarchischen Pyramide angesiedelte Unternehmer und Familienvater dagegen überlässt den Gang der Dinge (und das Steuer des Autos) dem profanen Gott und erscheint diesem ausgeliefert. Dadurch gerät seine Autorität ins Wanken und er verliert jegliches Modell für eine soziale Existenz – der einzige Ausweg, den er schließlich sehen wird, ist, eine das Gegebene radikal herausfordernde Geste zu setzen. Auch die Identität Pietros ist durch das Erleben von homosexuellem Begehren nachdrücklich erschüttert – er thematisiert ebenfalls vor allem den sozialen Tod, den er als Erbe des bürgerlichen Unternehmens durch ein öffentliches Bekenntnis erleiden würde. Demgegenüber betonen Lucia und Odetta eher die positiven Aspekte der Begegnung mit dem Fremden: ein sinnliches Erleben von »Wahrheit« und »Fülle« im Fall von Lucia und eine Normalisierung im Fall von Odetta. Der Verlust einer bürgerlich keuschen Existenz wird von beiden als weniger wichtig dargestellt. Ein weiterer Bruch wird schließlich durch die Faktizität der Abreise geschaffen. Danach ist alles anders: Die bisherigen Handlungsschemata passen nicht mehr und jede/-r der Beteiligten – mit Ausnahme Emilias, die wie bereits bemerkt, von der ländlichen Gemeinde, in die sie zurückkehrt, schrittweise aufgefangen wird – strauchelt dabei, die Signifikanz der Begegnung in den Alltag re-integrieren zu müssen. Die Krise, die die Begegnung mit dem Fremden ausgelöst hat, bringt für alle Ambivalenzen in Bezug auf das eigene Selbst und die eigene Welt zutage, die sie zunächst zu reduzieren versuchen, die sich aber hartnä-

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ckig bemerkbar halten und die Existenz nachhaltig infrage stellen werden. Der Film berichtet also auch davon, dass die einzelnen Subjekte je in einem Zusammenhang von Bildern und Geschichten existieren, die sie am Platz halten. Die signifikante Begegnung öffnet einen Raum, in dem jeder und jede mit dem Fremden, einem bisher unbekannten Begehren, in Kontakt kommen kann. Dadurch erleben sich die Einzelnen als je andere und ihre bisherige Welt beginnt, auseinanderzufallen. Um eine Gewissheit des Alltags wieder herstellen zu können, werden alle Schritte setzen, um die Welt wieder ganz zu machen – Handlungen, die ihr Ziel zwar verfehlen, die aber gerade deshalb wiederholt ausgeführt werden. Bei diesen Übersetzungsversuchen erscheinen alle von einem Begehren angetrieben, das sie für einen Moment im Anderen bzw. Fremden als das ihrige erkannt haben. Wichtiges Merkmal dieses Begehrens scheint zu sein, dass es zu erfüllen verspricht, was dem oder der Einzelnen im bisherigen Weltgefüge fehlte: Fülle, Normalität, Diversität, das Heilige, Mystische – etwas, das mehr oder minder latent vorhanden war, das jedoch nicht zutage treten konnte (vgl. van de Port 1998: 65). Zudem machen die Handlungen, in die das Ereignis überführt wird, die Einzelnen im bisherigen gesellschaftlichen Gefüge zu Außenseitern bzw. Außenseiterinnen – etwas, das in den jeweiligen Geständnissen auch mit Schrecken vorausgeahnt wird: Odetta landet in einer Anstalt, Emilia wird zu einer Art Mystikerin, Lucia zur Nymphomanin, Pietro zum avantgardistischen Künstler und Paolo zu einer Art Wiedergeburt des Franz von Assisi bzw. zum Revolutionär.

S IGNIFIKANZ ALS S TELLE , AN DER ( IMMER WIEDER NEU ) ENTSTEHT

DAS

S UBJEKT

Wenn Pietro den Körper des Gastes nächtens heimlich enthüllt, indem er die Bettdecke zurückschlägt, wenn Lucia Objekte, die mit ihm in Berührung standen, mit den Augen und Händen abtastet oder wenn das Familienoberhaupt krank im Bett liegend, sich immer wieder erwartungsvoll der Tür zuwendet, in der Hoffnung, er würde bald durch sie eintreten, dann suchen alle jenen Punkt, an dem sich ihr eigenes Begehren physisch am begehrten Objekt zu erkennen gibt. Der Gast legt dabei einen ganz bestimmten Umgang mit diesem Begehren an den

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Tag. Solange er im Haushalt anwesend ist, entzieht er sich in keiner Weise, sondern fängt die Bedürfnisse aller auf und bestätigt und befriedigt sie. Sein sehr häufig mittels Close-ups in den Vordergrund gerückter Blick auf die einzelnen Gegenüber beschämt diese deshalb auch nicht. Die in Krise gesetzten, fragmentierten Subjekte können sich in ihm vielmehr für einen Moment wieder zusammensetzen. Alle können sich in seinem Blick für einen Augenblick zwar als anders als bisher, aber dennoch als ganz erleben. Der fremde Gott ist im Moment, in dem er den Blick erwidert, zugleich Spiegelfläche als auch erschreckender Anderer und Fremder (vgl. Holthaus 2001: 146 und 162ff.). Er steht mit revolutionärer Offenbarung, aber auch mit dem Absoluten11 in Beziehung. Dies wird im Film durch immer wieder in Zusammenhang mit ihm oder mit Erinnerungen an ihn eingeblendete kurze Einstellungen auf eine Wüste angezeigt: In bestimmten Traditionen des christlichen Mystizismus hat Gott die Wüste als Bühne der Offenbarung gewählt (vgl. Viano 1993: 131 und 205). Teorema untersucht also die mit solchen signifikanten Begegnungen einhergehende Transformation des Selbst und die damit je verbundene Umwälzung der Welten, in denen wir Gewissheit finden. Der Film führt uns vor Augen, dass wir uns in solchen Prozessen des Austauschs mit anderen als Subjekte erfahren – wobei diese Subjektivität nie fixiert und abgeschlossen, sondern stets im Werden ist. Darauf, dass die Konstitution des Selbst in Berührung mit anderen geschieht, hat zum Beispiel bereits Georg Simmel hingewiesen. »Aus den einzelnen Lebenselementen, deren jedes sozial entstanden oder verwebt ist«, schreibt er, »bilden wir dasjenige, was wir Subjektivität […] nennen, die Persönlichkeit, die die Elemente der Kultur in individueller Weise kombiniert.« (Simmel 1992: 467) Dabei sieht auch er jene Momente, in denen sich der oder die Einzelne mit anderen vergesellschaftet, zugleich als Punkte, an denen Subjektivität erlebt wird. Er spricht diesbezüglich von einem Prozess, im Zuge dessen sich »die Persönlichkeit […] an den sozialen Kreis hingibt und sich in ihm verliert, um dann

11 In einem 1968 Oswald Stack gegebenen Interview, das auch als Buch veröffentlicht wurde, hält Pasolini fest: »This character cannot be identified with Christ; rather with God, God the Father (or a messenger who represents the Father). It is an Old Testament, not a New Testament Visitor.« (Stack 1969: 162)

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durch die individuelle Kreuzung der sozialen Kreise in ihr wieder ihre Eigenart zurückzugewinnen.« (Simmel 1992: 467) Dieses Selbst-im-Werden ist jedoch kein stetig voranschreitender Prozess, sondern einer, in dem der Gang der Dinge an manchen Punkten ereignishaft unterbrochen und in neue Bahnen gelenkt wird – wobei ein solches Ereignis mit Überraschung und Überwältigung einhergeht. In der unvorhersehbaren Berührung durch den Anderen erleben die Einzelnen eine Form von Begehren, das eine erschreckende, destruierende Dimension hat und in den offiziellen und legitimen, aus Bildern und Geschichten bestehenden Welten nicht zur Darstellung kommen kann bzw. diese aufsprengt. Wie der Film zeigt, führen solche Ereignisse zu einer Erfahrung von Ganzheit, lösen aber auch eine Sinn- und Identitätskrise aus. Diese ist umso heftiger und wird umso totaler erlebt, je weiter oben in der gesellschaftlichen Hierarchie die Einzelnen angesiedelt sind. Nicht alle Begegnungen, die unsere Alltagsgeschäfte herbeiführen, eröffnen uns also eine solche Dimension – auch wenn jede Begegnung das Potential dazu in sich trägt. Zudem gibt es außerhalb des Gangs des Geschehens selbst nichts, was erlauben würde, die Signifikanz einer solchen Begegnung vorab zu erkennen oder zu ermessen. Ist ein solches Ereignis jedoch eingetreten, dann sehen sich die darin Involvierten aufgefordert, das in der signifikanten Begegnung Erfahrene in die Geleise von Alltagspraxis zu übersetzen, um auf diese Weise wieder Gewissheit und Stabilität zu gewinnen. Sie sind dabei auf andere angewiesen, wobei in Pasolinis Version Vereinzelung und Isolation überwiegen und, bis auf Emilias Geschichte, kein kollektiv produktiver Umgang mit solchen Ereignissen (jenseits einer als Horizont vorhandenen Revolution) präsentiert wird. Diese signifikanten Momente im Rezeptionsprozess erscheinen so als Stellen, an denen das Bestehende unterminiert und das Subjekt als zugleich transformiertes und ganzes bestätigt wird. Die von mir in einem früheren Text erwähnte, quer durch das 20. Jahrhundert so massiv auftretende Sehnsucht nach Subversion (Schober 2009: 361), kann demnach auch als eine Sehnsucht verstanden werden, das eigene Begehren immer wieder aufs Neue in der Begegnung und im Austausch mit anderen zu erkennen und sich dabei für einen Moment als verwandelt, anders als bisher, aber dennoch auch als ganz zu erleben. Das Begehren nach Momenten, in denen wir uns als ganz und wahr erfahren können, verschwindet also, wie auch Charles Lindholm

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(2002) gezeigt hat, nicht einfach, wenn Traditionen infrage gestellt werden und überlieferte Geleise der Handlungsorientierung an Autorität verlieren. Ganz im Gegenteil scheint die Sehnsucht nach solchen Erlebnissen und deren Kraft sich gerade dann besonders nachdrücklich bemerkbar zu machen, wenn bisherige Gewissheiten zerbrechen und überlieferte Orientierungsschemata unglaubwürdig werden.

D IFFERENZIERUNG UND K ONSUM Die signifikante Begegnung ist in Teorema zugleich Ort der Differenzierung. Diese Differenzierung ereignet sich jedoch in der plural erlebten Begegnung mit stets demselben fremden Gast, der die Fähigkeit zur Außer-sich-Setzung zu inkarnieren scheint. Über diese Begegnung erleben sich die Einzelnen sowohl von anderen als auch von ihrem bisherigen Selbst als unterschieden, werden also zu jemand anderem, wie auch ihre Welt zu einer anderen wird – woran sich auch Fantasien einer (beständig möglichen) Wiedergeburt heften können. Die verschiedenen Begegnungen mit dem immer selben fremden Gott bringen so zwar jeweils eine Identitäts- und Sinnkrise hervor – diese Krisen wirken im Film aber nicht zu einem revolutionären Umbruch zusammen, der auch andere außerhalb der Familie involvieren würde. In Teorema ist dieser Prozess der Differenzierung vor allem anhand von Pietro und der von ihm in der Begegnung mit dem profanen Gott entdeckten Homosexualität herausgearbeitet. Stockend bis schluchzend gesteht er dem fremden Gast, dass dieser ihn dazu gebracht hätte, anders zu sein – wobei er betont, in dieser Andersheit zugleich seine wahre Natur erkannt zu haben, die ihn jedoch mit der herrschenden Ordnung der Dinge in Konflikt zu bringen drohe. Pietro bekennt weiters, einzig in einem Bekenntnis zu dieser Andersheit einen Ausweg aus der Krise, in die er durch die Begegnung gestürzt sei, zu erkennen – auch wenn er sich damit jedem und allen entgegensetzen müsse. Pietro ist im Film insofern als gebrochen dargestellt, als sich die von ihm erlebte Andersheit des Selbst im Rahmen der Institution der bürgerlichen Familie nicht realisieren lässt. Deshalb verlässt er den väterlichen Haushalt nach der Abreise des Fremden, um in der Rolle des avantgardistischen Künstlers eine Überführung des Geschehenen in Lebenspraxis zu versuchen. Die bürgerliche Familie erscheint in Paso-

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linis Film demnach als Institution, die eine Realisierung von Formen des differenten Selbst ausschließt und die diejenigen, die sich darin versuchen, zu Außenseitern bzw. Außenseiterinnen macht. Zugleich entlarvt Pasolini in Teorema diese Institution als Scheinwelt, in der das Begehren der einzelnen Beteiligten in keiner Weise aufgehoben ist. 1968, der historische Zeitpunkt, zu dem Pasolinis Teorema entsteht, kann in Bezug auf die Monopolstellung der Institution der bürgerlichen Familie, auch in der italienischen Gesellschaft, als historischer Umschlagpunkt bezeichnet werden.12 Diese Institution ist noch dominant, zugleich jedoch durch die Studentenbewegung, die beginnende Frauenbewegung, aber auch durch Arbeitsmigration und zunehmend flexibilisierte Arbeitsverhältnisse für Männer und Frauen sowie durch den vom ökonomischen Boom dieser Jahre verursachten Wandel der Lebensweise nachdrücklich infrage gestellt. Parallel dazu entstehen neue soziale Bewegungen, über die verstärkt versucht wird, kultureller (ethnischer, sexueller, geschlechtlicher) Differenz öffentliche Präsenz und Anerkennung zu verschaffen. Mit diesen Umbrüchen geht eine Differenzierung von Lebensstilen einher, die sehr stark über Warenkonsum realisiert wird – wobei, regional sehr unterschiedlich ausgeprägt, bereits etwa seit den 1950er Jahren breitere Bevölkerungsgruppen, wie etwa die Angestellten oder auch Jugendliche, sich vermehrt über Konsum zu differenzieren beginnen (vgl. Schober 2001a: 206ff.). Den mit der Studentenbewegung aufkommenden Alternativen zur Institution der bürgerlichen Familie gegenüber positioniert Pasolini sich in Teorema ablehnend bis skeptisch – wie an den Figuren von Pietro und Lucia deutlich wird, die den, wieder geschlechtlich differenzierten Weg des intellektuellen Bohemiens oder der sexuell fixierten, promisken Liebhaberin einschlagen, was von Pasolini in beiden Fällen

12 Die zivile Auflösung der Ehe, d.h. die Scheidung, wurde in Italien erst 1970 legalisiert. Das Wirtschaftswunder der 1960er Jahre initiierte in Italien einen Übergang vom altmodischen Kapitalismus zum Konsumismus. Dieser Übergang war jedoch von Ungleichzeitigkeiten geprägt: Der Staatsapparat blieb eng an den Vatikan gebunden, behielt in weiten Teilen eine stark klerikale Färbung und entfernte sich zunehmend von der Lebensrealität vieler Italiener/-innen – vor allem im Norden des Landes. Demgegenüber entstand eine neue Bourgeoisie, die über moderne Zeitschriften sowie eine neue Art des Kinos, einem neuen, sexuell liberaleren und moderneren Italien öffentliche Präsenz verschaffen wollte (vgl. Viano 1993: 121).

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sowohl als persönliches Scheitern als auch für die Gemeinschaft unproduktiv präsentiert wird. Retrospektiv betrachtet ist mit 1968 jedoch eine Veränderung eingetreten. Diese kann als Übergang von einem Ausschluss von Differenzen, wie er mit der Institution der bürgerlichen Familie sowie mit zentralen Imperativen der Moderne13 einherging, hin zu einer, insbesondere seit den 1970er Jahren deutlich sichtbar werdenden, neuen Politik der Differenz beschrieben werden, wobei Letztere eng mit einem Markt der Differenzen verschränkt auftritt (vgl. Wieviorka 2003: 42ff.). Damit wird es eher möglich, eine in der Begegnung mit anderen erlebte Signifikanz in bislang nicht konventionelle Lebenspraxis zu überführen, ohne zum sozialen Außenseiter oder zur Außenseiterin zu werden. Die bürgerliche Familie ist nicht mehr die einzige fest verankerte Norm, jenseits derer es nur Ausschluss und symbolische Wüste oder subproletarisch, bäuerlich-mythische Zusammenhänge gibt. Allerdings sind gemeinschaftliche Zusammenhänge nun in gesteigerter Form nicht mehr durch Tradition gegeben, sondern müssen stets aufs Neue hergestellt bzw. aufrechterhalten werden. Genau dieser Bezug zwischen Differenzierung von Lebensstilen und Konsum ist es, den Pasolini nach dem Erscheinen von Teorema, also zwischen 1968 und 1975, so massiv kritisieren wird. In einem seiner Lutherbriefe, der den Titel Die Halbwüchsigen sind doppelt konformistisch trägt, schreibt er zum Beispiel: »Das ›Mehr‹, das die Halbwüchsigen leben, ist daher kein faschistisches ›Mehr‹, ein ›Mehr‹ an Autoritätsverehrung: oder zumindest nicht nur: Es gibt auch ein ›Mehr‹ an Ungehorsam, Anarchie oder Begeisterung für die proletarische Revolution […] Heute erteilen Dir Deine Altersgenossen nicht nur ›repressive‹ Lektionen, etwa wie man Autoritäten angreift, vor allem die unverhüllt umstürzlerischen (faschistischen) Aspekte der Autorität, sondern sie bringen Dir wahrscheinlich mehr als alles andere eine revolutionäre, kommunistische oder außerparlamentarische Gesinnung bei. Gleichzeitig geben sie Dir aber alle miteinander tagtäglich eine handfeste Lektion, wie man in einer konsumistischen Gesellschaft zu leben und zu denken hat.« (Pasolini 1983a: 47)

13 Zu den Universalismen der Moderne und zu den damit verbundenen Versuchen, Ambivalenz auszumerzen siehe Bauman 1993.

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Während Pasolini in Teorema die ländliche Gemeinde um Emilia noch mit einer gewissen utopischen Sensibilität porträtiert, die er dem VorIndustriellen, dem Sub-Proletariat und dem Anti-Modernen zunächst generell zukommen lässt, wird er 1975 auch für Körper aus diesen Zusammenhängen nur mehr Hass und Verachtung äußern können. Dabei macht er für den von ihm konstatierten Verfall, den er auch als »kulturellen Genozid« (Pasolini 1983a: 150) bezeichnet, wiederholt »den Konsumismus« verantwortlich. In diesem Geist publiziert er auch einen Widerruf der Trilogie des Lebens, der festhält: »Der progressive Kampf gegen Zensur und der Kampf für sexuelle Freiheit sind rücksichtslos weggefegt worden, da sich der Konsumismus entschlossen hat, eine breite (und damit grundfalsche) Toleranz zu gewähren […] Auch die ›Realität‹ der unschuldigen Körper ist vom Konsumismus vergewaltigt, manipuliert, unterjocht worden […] Die private Sexualität (wie meine) ist gleichermaßen von der falschen Toleranz wie der körperlichen Erniedrigung traumatisiert.« (Pasolini 1983a: 59ff.)

Diese Kommentare zeigen sich selbst als von Enttäuschung, Desillusionierung und Wut geprägt: Die früher so verehrten, fetischisierten Körper erscheinen ihm nun als »menschlicher Müll« (Pasolini 1983a: 61). Ist aber die von Pasolini beschriebene Transformation wirklich eine linear voranschreitende Geschichte des Verfalls? Und führt sie tatsächlich zu einer Welt, die fortan so ganz ohne das Heilige, Wahre und Authentische auskommen wird? Konsumobjekte und Konsumorte sind – entgegen Pasolinis Lesart – nicht per se davor gefeit, mit einer utopistischen Sensibilität14 wahrgenommen, zum Träger signifikanter Erfahrungen oder selbst politisiert zu werden, auch wenn sich mit ihnen verknüpfte Erfahrungen von Schönheit und Hässlichkeit, auch in Bezug auf Körper, rasant wandeln. Emilia greift in Teorema auf religiöse Gesten wie das Kreuzzeichen oder das Küssen von Heiligenbildern zurück und wird schließlich ein schwarzes Kopftuch anlegen, um den Kontakt mit dem heiligen Eros im neuen Leben, das sie als mystisch Erleuchtete führt, präsent zu halten. In durchaus ähnlicher Weise haben Protagonisten und Protagonistinnen der Arbeiterbewegung das rote Halstuch öffentlich als Symbol ihrer signifikanten Begegnung mit

14 Zu diesem Begriff in Zusammenhang mit Konsum und Entertainment siehe Dyer 1977.

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marxistischen Ideen und Führern ausgestellt und Feministinnen haben die lila Latzhose als materiellen Hinweis auf ihre hartnäckige Involviertheit in Bezug auf Emanzipation und/oder Differenz gewählt. Solche Prozesse haben sich seit den 1960er Jahren vervielfältigt, und oft wissen nur die innerhalb einer Gruppe Eingeweihten, welche Alltagsobjekte oder Gesten in welcher Weise zu interpretieren sind. Diese Übersetzungsprozesse sind jedoch nicht grundsätzlich andere als jener, den Emilia in Teorema vorführt, auch wenn die Objekte und Gesten andere sind und keinerlei Gemeinde vorab präsent ist, die Mythen und Bilder teilt, sondern Vergesellschaftung immer wieder neu, auch über ein solches ungewöhnliches Gebrauchen von Objekten und Bildwelten hergestellt werden muss. Signifikanten Begegnungen wohnt insofern stets eine politische15 Dimension inne, als sie gegebene Ordnungen von Welt herausfordern und eine Kraft entwickeln, die in der Folge nur über eine Umbildung des Gegebenen kommuniziert werden kann. Ähnlich wie Verliebte Alltagsobjekte, die assoziativ mit dem geliebten Objekt in Beziehung stehen, als Träger ihres Begehrens umnutzen, können auch politische Subjekte sich konstituieren, indem potenziell jedes Ding und jeder Ort mit der einer erlebten, die Einzelnen politisierenden Signifikanz in Beziehung gesetzt wird.16 Ja, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts ereignende Auflösung überlieferter Kreise der Vergesellschaftung macht eine, auch über eine solche fetischistische Umnutzung von Dingen geschehende Neukonstitution von Zusammenhängen umso drängender. Entertainment, Konsum und politisches Handeln sind auf diese Weise viel verschränkter, als es die von Pasolini so vehement artikulierte, aber auch heute immer noch sehr präsente Aufspaltung zwischen Konsum und Politik vermuten lässt. In den letzten Jahrzehnten hat sich die beschriebene Entwicklung von einem Ausschluss von Differenzen hin zu einer neuen Politik der Differenz bzw. einem Markt der Differenzen radikalisiert. Damit verbunden sind wir heute mit einem komplementären Phänomen konfron-

15 Zum Politischen in diesem Sinne siehe Laclau 1990. 16 Sigmund Freud beschreibt einen Prozess, in dem eine mit dem geliebten Objekt verbundene Überschätzung auf verschiedene, assoziativ mit diesem verbundene Dinge verschoben wird, die in der Folge ebenfalls aus dem Verbund alltäglicher Dinge herausgehoben und als Träger des Begehrens erscheinen. Siehe Freud 1972: 63ff.

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tiert: dem öffentlichen Zelebrieren eines Patchwork-Selbst bzw. der Ausbreitung eines Imperativs von Selbst-Transformation.17 Wie Pasolinis Film vorführt, ist die Signifikanz der Begegnung mit dem Fremden (und dem eigenen Begehren) jedoch in erster Linie davon geprägt, dass sie dem Einzelnen zustößt. Der Moment der Signifikanz ist also mit einer Nicht-Souveränität des Selbst, mit einem Ausgeliefert-Sein des Einzelnen verbunden. Begriffe wie Patchwork-Selbst, aber auch Neuerschaffung des Selbst oder Arbeit am Selbst spielen alle in der einen oder anderen Weise auf eine Souveränität des Handelns in Bezug auf eine Konstitution des Selbst an. Das Werden des Selbst wird als ein Prozess dargestellt, der von den Einzelnen gelenkt werden kann, der tendenziell erfolgreich ist und von allen Schwierigkeiten frei zu sein scheint. Diese Begriffe geben also in erster Linie von einer Fantasie der Meisterschaft in Bezug auf solche Prozesse Zeugnis – die einem weitverbreiteten Imperativ der Gegenwart wie etwa Flexibilität gut zu entsprechen scheint, der schnelle Anpassung des Einzelnen an neue Gegebenheiten verlangt. Auf diese Weise wird jedoch das Überraschende und Überwältigende an signifikanten Begegnungen mit anderen, das nur mit Schwierigkeiten in Alltagspraxis rückführbar ist, überspielt. Weiters wird in derzeit verbreiteten Verhandlungen des Selbst und von Subjektivität oft das Neue an solchen Selbst-Transformationen positiv hervorgehoben und von einer Arbeit am Selbst abgegrenzt, die auf Authentizität, Wahrheit und Innerlichkeit rekurriert.18 Auch bezo-

17 Vor allem auch im Kunstbetrieb der letzten zwei Jahrzehnte. Dies wird z.B. an der Ausstellung Posthuman bzw. am gleichnamigen Katalog derselben deutlich. Siehe Deitch 1992/93. 18 Eine Fetischisierung von Selbst-Transformation sowie ein damit verbundenes Postulieren einer Souveränität des Handelns spiegeln sich auch in der zeitgenössischen kulturwissenschaftlich-philosophischen Theoriebildung wider. So arbeitet zum Beispiel Cressida Heyes, angelehnt an Arbeiten von Foucault die Möglichkeiten der Selbst-Neu-Erschaffungen heraus. Sie ist zwar bemüht, ein verdinglichtes und recht vereinheitlichtes Konzept von Macht, das Foucaults Hauptschriften entnommen wird, zu differenzieren. Dennoch gelingt ihr das nur zum Teil und an mehreren Stellen fällt sie wieder in einen Jargon zurück, der postuliert, dass es eine recht homogen präsentierte Macht geben würde, die Identität produzieren oder an die Einzelnen verkaufen könne. Zudem stellt sie in ihrem Versuch, das foucault-

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gen darauf führt Pasolini in Teorema vor, dass solche Unterscheidungen zwischen neu/alt, äußerlich/innerlich, authentisch/nicht-authentisch oder wahr/falsch in Hinblick auf solche signifikante Momente der Begegnung mit dem Fremden nicht sehr hilfreich sind. Denn in dieser Begegnung treffen die Einzelnen auf ihr Begehren, das zugleich mit Schrecken und Fremdheit erlebt wird, sie aber dennoch dazu bringt, hartnäckig in das Geschehen involviert zu bleiben und sich als neu im Sinne von anders als bisher zu erleben. Diese Momente drängen dazu, in Alltagspraxis rückübersetzt zu werden, wobei die Betroffenen eher schlecht als recht in eine Tätigkeit der stolpernden Übersetzung involviert sind, die darauf angewiesen ist, Elemente des Bestehenden zu nutzen und dabei so zu transformieren, dass die Signifikanz des Erlebten mit bedeutet werden kann. In diesem Prozess ergeben sich die Einzelnen neu – wobei dieser Prozess nicht einfach durch die Suche nach Neuem in Gang gesetzt und in Gang gehalten wird, sondern durch eine Signifikanz im Erleben, durch die sich die Einzelnen als getroffen erleben und die sie als Moment der Unbestreitbarkeit oder Unhintergehbarkeit19 wahrnehmen – eine Unhintergehbarkeit, für die sie als beschreibende Begriffe behelfsmäßig Fülle oder wahre Natur verwenden. Dieses Erleben hat mit körperlichen Reaktionen des Erschreckens und der Erregung zu tun, mit sexuellem Begehren, aber auch mit Erfahrungen von Schmerz. Es ist an eine Unterbrechung des Imaginären gebunden, die als wahr erfahren wird und die das Bisheri-

sche Modell zu korrigieren, eher eine Souveränität des Handels der Einzelnen und ein bewusstes Wählen der Teilhabe (oder Nicht-Teilhabe) an Selbsttechnologien in den Vordergrund, als eine auf unkontrollierbaren Erlebnissen und Ereignissen basierende Kontingenz des Werdens. Dies grenzt sie zudem sehr nachdrücklich, aber schematisch von einer Arbeit am Selbst ab, die sich auf eine Authentizität des Erlebens bzw. die psy disciplines (Disziplinen des Psychischen) bezieht. Auf diese Weise kommt sie dazu, eine widerständige Arbeit am Selbst von einer dominanten abzugrenzen und etwa die Ausübung von Yoga als »a countercultural way of experiencing the body and evaluating what one feels« zu bezeichnen (vgl. Heyes 2007: 21, 37, 80, 116 und 131). Ein implizites Postulat einer Souveränität des Handelns vertritt auch der Begriff der plasticité, den Catherine Malabou geprägt hat (vgl. Malabou 2009). 19 Mattijs van de Port (2004) verwendet im Zusammenhang mit solchen Erfahrungen den Begriff incontestable.

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ge als Ideologie oder Schein offenbart und es zugleich seiner Kraft beraubt, uns zu binden.20 Pasolini rückt die Schwierigkeiten und das Straucheln in den Vordergrund, die mit einem solchen, das Gegebene unterbrechenden Erleben von sich und Welt als anders verbunden sind, aber auch die Heftigkeit und Hartnäckigkeit, mit der diese uns involvieren. Es ist diese Erfahrung von Unhintergehbarkeit, die uns antreibt, nach einer anderen Welt zu suchen. Diese Dimension verschwindet nicht einfach, wenn – wie in den heute so verbreiteten kulturwissenschaftlich-dekonstruktiven Lesarten – kritisch festgehalten wird, dass Authentizität stets eine Konstruktion sei.

20 Zur Unterbrechung, die diesen Prozess charakterisiert vgl. Pratt Ewing 1997: 259.

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Abbildung 1: »Er«, wahrgenommen von Emilia

Abbildung 2: Die vom Betrachteten berührte Emilia

Abbildung 3: Im Zimmer verstreute, wie Reliquien behandelte Kleidungsstücke

Abbildung 4: »Er«, wahrgenommen von Paolo

Abbildung 5: Die ländlichsubproletarische Gemeinde, die Emilia (an)erkennt

Abbildung 6: Emilia, sich in eine produktive Quelle verwandelnd

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R ÜCKÜBERFÜHRUNG : N EUGEWINNUNG VON S INN Im zweiten Teil von Teorema ringen die Einzelnen mit dem vergangenen Ereignis. So versucht etwa Lucia, die Dame des Hauses, die Signifikanz des Erlebens in der sexuellen Begegnung mit auf der Straße aufgelesenen jungen Männern einzuholen, wobei sie zunehmend aus der Bahn geworfen erscheint und schließlich Zuflucht in einer Kirche sucht. Pietro versucht, dem Erlebten über das Ausüben von avantgardistischen Kunstpraktiken, die er mit Selbstbeschimpfungsmonologen begleitet, nahezukommen. Odetta hat am wenigsten Spielraum zur Bewältigung des Erlebten zur Verfügung, da sie die Einzige ist, die den räumlichen Rahmen des bürgerlichen Haushalts nicht verlässt. Sie wird zunächst versuchen, über einzelne Stellen in Haus und Garten, die für sie mit dem fremden Gast verbunden waren, wieder in Kontakt zu ihrem Begehren zu treten, bevor sie in einen katatonischen Zustand fällt. Diese Geschichten sind von zwei Haupterzählungen flankiert, die sich in gewisser Weise spiegeln: jener Emilias und jener von Paolo, dem Familienoberhaupt und Unternehmer. Während Emilia sehr schnell von der Erscheinung des Fremden verführt wird und sich der Signifikanz der Begegnung sofort bewusst ist, erscheint dieser Prozess des Verführt-Werdens im Fall von Paolo als langsam, schwierig und von Krankheit begleitet ausführlich in Szene gesetzt. Umgekehrt ist jedoch die Übersetzung des Geschehenen in ein vom Heiligen erleuchtetes Dasein einer sich allein von Brennnesseln ernährenden Mystikerin und Wunderheilerin in der Figur von Emilia ausgiebig vorgeführt. Sequenzen, in denen diese Geschichte erzählt sowie Emilias diesbezüglicher schrittweiser Austausch mit der ländlichen Gemeinde präsentiert wird, sind wiederholt zwischen Sequenzen der Geschichten Lucias, Odettas und Pietros montiert. Gegenüber dem so ausführlich ausgearbeiteten Prozess des Verführt-Werdens nimmt die von Paolo vorgenommene Rücküberführung des Geschehens in Lebenspraxis nur geringen Raum im Film ein. Nachdem auch er zunächst versucht hat, dem Geschehenen über die anonyme Annäherung an einen am Bahnhof erkannten jungen Mann gerecht zu werden, wird er die bereits erwähnte radikale Geste setzen: sich seiner bisherigen Existenz entkleiden und die Fabrik den Arbeitern und Arbeiterinnen übergeben. Es ist dieses Ringen der Betroffenen mit dem Ereignis, das, wie bereits erwähnt, in Teorema ausgiebig in Szene gesetzt ist. Signifikan-

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te Begegnungen werden nicht einfach als subversive Unterbrechungen des Status quo gefeiert, sondern es scheint Pasolini vor allem um das mit ihnen verbundene hartnäckige Drängen zu gehen, sie in Alltagspraxis rückführen zu müssen. Dieser enge Bezug von Subversion und Rücküberführung wird wenige Jahre später auch von Vertretern der ästhetischen Theorie betont werden. Paul de Man zum Beispiel arbeitet diesbezüglich ebenfalls heraus, dass solche aus dem Alltag herausragenden Ereignisse ein Genießen mit sich führen, das die Mythen und Ideologien, die unsere Weltsichten organisieren, unterbricht, dass solche Momente jedoch stets nach einer Neueinschreibung in Begriffsgeleise der Kommunikation drängen, die wiederum mit einer Beanspruchung des Mythischen einhergeht. Eine solche Neueinschreibung nennt er auch Rückfall (relapse) bzw. Rückbildung (regression) von der Faktizität des Ereignisses, wobei er zugleich deutlich macht, dass ein solcher Rückfall bzw. eine solche Rückbildung keine Umkehrung ist (de Man 1996: 133). Eine solche Rückführung ist, wie Teorema zeigt, zum Beispiel in Form von Erlebnissen möglich, die in einer Beziehung der Äquivalenz zur signifikanten Begegnung mit dem Fremden stehen. Dies ist am augenfälligsten anhand von Lucias Geschichte vorgeführt. Nachdem sie mit einem der jungen, auf der Straße aufgelesenen Männern in dessen Untermietzimmer Sex hatte, zoomt sie jedes der herumliegenden Kleidungsstücke aus dem umliegenden Geschehen heraus (und nahe an uns heran) wie früher, im Gartenhaus, die Kleider und Objekte, die mit dem fremden Gott in Beziehung standen. Und wenn sie wenig später das Wohnhaus des jungen Mannes verlässt, nimmt sie ein ähnlich warmes, glühendes Licht wahr, wie es öfters in Zusammenhang mit dem fremden Gast aufgetreten war. Diese Kleider und dieses Licht erscheinen so als Details in der Welt, über die sie ihrem Begehren für einen Moment wieder begegnet und sich als ganz erleben kann. Auch Pietro begibt sich danach auf die Suche nach Äquivalenzerfahrungen – und zwar im Gefilde der Kunst, in das er sein Begehren nun verschiebt. Nachdem er die Farbe Blau als Markierung der Erinnerung an den profanen Gott identifiziert hat, wird er versuchen, über das Herstellen eines blauen Schüttbildes seinem Begehren nahezukommen. Sowohl Lucia als auch Pietro suchen ihren Alltag fortan zu bewältigen, indem sie sich auf eine Art zwanghafte Suche nach solchen Äquivalenz-Erfahrungen begeben – wobei sie das erlebte eigene Begehren in Erscheinungen der sichtbaren Welt verschieben, die jedoch in zumindest ei-

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nem Punkt (Kleider, die Farbe Blau) mit dem Fremden in Beziehung gesetzt werden können. Auch die anderen Beteiligten operieren in der Rücküberführung des Erlebten mit Äquivalenzen, die jedoch stärker in ungewöhnliche Handlungen verschoben auftreten: Odettas Begehren kann nur die Form eines katatonischen Zustands annehmen, der sie von nun an gefangen halten wird; Paolo sucht zunächst wie seine Frau seinem Begehren in Form von ähnlich aussehenden jungen Männern wieder zu begegnen, lässt jedoch sehr bald davon ab und wird allein in einer Geste, die seine bisherige gesellschaftliche Funktion radikal infrage stellt, eine Befriedigung finden und Emilia wird die ihr zugestoßene Gottesbegegnung in Handlungen verschieben, die sie zu einer Art Mystikerin machen. Im Zuge dieser Handlungen situieren21 sich die Einzelnen in einem Terrain widerstreitender Positionen: Odetta verschwindet aus der bürgerlichen Welt in eine Anstalt; Lucia wird zu einer Art getriebenen Nymphomanin, die junge Männer der Reihe nach konsumiert, sich dabei streckenweise jedoch an der Kippe zur Selbst-Entwürdigung (und Vergewaltigung) bewegt, zudem dem Blick der Heiligen und Kirchen ausgesetzt ist und von einem von diesen beobachteten Gewissen geplagt erscheint; Pietro wird zum Künstler, der jedoch ganz auf sich selbst und seine Selbstzweifel fixiert ist und keinerlei Anerkennung durch andere findet, noch nach einer solchen zu suchen scheint; Emilia greift in ihren Handlungen einen ländlich-subproletarischen Wissenszusammenhang auf, in dem sie durch andere bestätigt wird und der sich dadurch affirmiert neu ergibt. Nur Paolo wird eine explizit politische, das Gegebene radikal herausfordernde Geste setzen, in der er jedoch zunächst ebenfalls keine direkte Bestätigung durch andere, etwa die Arbeiter/-innen, findet. Denn sein Handeln scheint vor allem Irritation hervorzurufen und gibt aufseiten der Journalisten und Journalistinnen Anlass zu Gerede, aufseiten der Arbeiter/-innen jedoch zu verwundertem Schweigen. Pasolini arbeitet somit auch in diesem zweiten Teil des Films eine geschlechtliche Differenziertheit heraus: Die Frauen bewegen sich mit ihren Handlungen in den Bereichen des Privaten, der Sexualität, der Religion und des Wahns, während die Männer in der Kunst, in der intellektuellen Auseinandersetzung und im Politischen angesiedelt wer-

21 Zu dieser Situierung siehe Said 2004: 138.

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den. Verschoben dazu inszeniert Pasolini die Rücküberführungsversuche der Mitglieder der bürgerlichen Familie als durchwegs scheiternde und jenen von Emilia, wie bereits ausführlich dargestellt, als einzig gelungenen, da produktiven und in einer Gemeinschaft aufgehobenen. Pasolini beurteilt die jeweiligen Versuche, geleitet von seiner generellen Positioniertheit, die gegen das Bürgertum gerichtet ist und zu diesem Zeitpunkt in nachdrücklicher Sympathie mit dem (ländlichen) Subproletariat steht. Der Ausgang solcher Rücküberführungsversuche ist jedoch nicht notwendig so negativ, wie Pasolini es vorführt. Ganz im Gegenteil: Wir sind in der Übersetzung signifikanter Erlebnisse in eine Praxis des Alltags meist »erfolgreicher«, als Pasolini uns glauben macht – erfolgreicher in dem Sinn, als wir meist durchaus fähig sind, in einer solchen Rückführung temporäre Selbstverständlichkeit und Gewissheit im Austausch mit anderen re-etablieren zu können, ohne zu Außenseitern oder Außenseiterinnen zu werden. Wir sind zudem auch nicht, wie Pasolini in seinem quasi-wissenschaftlichen Theorem darstellt, jeweils nur einem Ereignis ausgesetzt, das wir dann relativ abgekoppelt von anderen rückzuführen suchen, sondern jonglieren meist damit, mehrere ungleichzeitig eingetretene und mit unterschiedlicher Intensität erlebte Ereignisse diverser Art (der Liebe, des Wissens, des Politischen, der Kunst und Kultur im weitesten Sinn) zu bewältigen. Auch wenn die strauchelnde Rücküberführung der Signifikanz der Begegnung in die Begriffsgeleise der Alltagspraxis und die dabei erfolgende Um-Nutzung der bestehenden Sprachen und Bildwelten alles ist, was uns zur Verfügung steht, um mit solchen Begegnungen umzugehen, gelingt es uns meist, eine Stabilität des In-der-Welt-Seins zu reetablieren – oft jedoch nur, indem bestimmte Begehrens- oder Schuldverhältnisse wieder aus der legitim erzählten und dargestellten Welt ausgeschlossen werden (vgl. van de Port 1998: 134ff.). Zudem stehen wir in einer solchen Re-Situierung, die immer auch eine Re-Positionierung ist, in Auseinandersetzung mit anderen Akteuren und Akteurinnen, die alle solche Ereignisse für sich rückzuführen versuchen. Wir bewegen uns dabei in fragilen, plural vor sich gehenden Prozessen des Bestätigens, Herausforderns und Umgestaltens von Welt, in denen unzählige Interventionsmöglichkeiten und Transformationsprozesse gleichzeitig präsent sind und Initiativen auf unvorhersehbare Weise zusammen- und gegeneinander wirken. Solche Prozesse der Re-Konstruktion von Sinn führen jedoch nicht dazu, dass wir uns, wie manche postmodernistische Subjekttheorien

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glauben machen, als völlig fragmentiert und aus einer Pluralität von Diskursen zusammengesetzt erleben. Claudia Strauss hat diesbezüglich herausgearbeitet, dass Narrationen, die wir in Bezug auf uns selbst entwickeln, nicht allein Übernahmen, sondern Aneignungen verschiedener, in einem Milieu präsenter Diskurse sind, sowie, dass in ihnen Fragmentierung und Integration ko-existieren. Sie legt dar, dass wir angesichts herausragender, unseren Alltag in Krise setzender Situationen auf Handlungsmuster zurückgreifen, die wir in emotional wichtigen frühen Lebensabschnitten gelernt haben. Allen Brüchen und Ereignissen zum Trotz sind wir also daraufhin ausgerichtet, über solche Rückgriffe und damit verknüpfte Adaptionen dessen, was uns zur Verfügung steht, für uns und für andere eine Kontinuität von Selbst und von Welt zu etablieren (vgl. Strauss 1997: 275 und 385).22 Pasolini macht uns dagegen eher auf die in gewisser Weise gegenläufige Dimension solcher Prozesse aufmerksam, die mit Transformation sowie mit einer gewissen gleichzeitigen Transzendierung derselben zu tun hat. Er führt explizit in Auseinandersetzung mit solchen signifikanten Ereignissen vor, dass es uns dabei in erster Linie darum geht, die Unhintergehbarkeit des Berührt-Seins, der wir in der Begegnung mit dem Anderen gewahr wurden, präsent zu halten. Dies bringt uns unter Umständen dazu, riskante Handlungen zu setzen, von denen wir in unserer bisherigen Existenz nicht einmal zu träumen wagten. Pasolini lenkt unsere Aufmerksamkeit also auf die Kraft, die eine solche Erfahrung von Unhintergehbarkeit entwickelt, und die wir in der Folge über eine Umbildung dessen, was uns zur Verfügung steht, zu re-integrieren trachten. Wie im Film anhand der Figur von Paolo vorgeführt wird, kann die Signifikanz der Begegnung mit dem Anderen auch in politisches Handeln übersetzt werden: Paolo übergibt die Fabrik den Arbeitern und Arbeiterinnen und versucht, über diese radikale Geste einen Bezug zu seinem Begehren aufrechtzuerhalten. Ein signifikantes Ereignis, jenes der Begegnung mit dem profanen Gott, dem heiligen Sexus, hat ein weiteres ausgelöst: jenes der Übergabe der Fabrik an die Arbeiter/-innen, das, wie der Vorspann des Films zeigt, wieder mit Aufruhr verhandelt wird und dessen Überführung in alltägliche Praxis wohl weite-

22 Strauss differenziert jedoch die Auslöser für solche Situationen nicht weiter von Ereignissen der Begegnung mit dem Fremden, wie Pasolini sie in Teorema untersucht.

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re Ereignisse auslösen wird. Die Handlung, die Paolo setzt, verpufft in Teorema jedoch auf merkwürdige Weise – da sich niemand findet, der oder die sie produktiv weiterführen würde. Paolo verhält sich zwar so, wie Pasolini es in einem Pamphlet, Il PC ai Giovani!! (Die KP den Jungen!)23 vom Bürger fordert, nämlich auf jegliches Recht sowie jede Macht zu verzichten, trifft aber auf keinen positiven Widerhall seiner Handlungen. Ganz im Gegenteil: Es sind zwar offensichtlich einige Arbeiter/-innen im Grüppchen um die Journalisten und Journalistinnen anwesend, die das Ereignis zur Sprache bringen, jedoch sind diese eher stumm und teilnahmslos starrend bei der Sache. Auch hier wieder stehen die von Pasolini angewandten Beurteilungsschemata einem produktiven Weiterdenken jener Prozesse, in die wir in Zusammenhang mit signifikanten Begegnungen verstrickt sind, entgegen, auch wenn sein Film zugleich Anhaltspunkte dafür bietet. Signifikante Begegnungen können zwar politisches Handeln anstoßen, sie sind jedoch – was der Film mit vorführt – darauf angewiesen, von anderen aufgenommen und weitergetragen zu werden, können aber auch bestritten werden oder – wie im Film – ins Leere gehen. Zugleich können solche Handlungen weitere signifikante Begegnungen eröffnen. Dies ist jedoch ein notwendig kontingenter Prozess, in dem nicht – wie Pasolini es mit seiner immer wieder aufgerufenen Dichotomie Subproletariat-Bürgertum macht – vorab entscheidbar ist, welche Gruppen oder Klassen und welche Objekte dabei welche (produktive oder unproduktive) Rolle spielen werden. Dennoch findet sich auch in dieser Geschichte vom Unternehmer, der seine Fabrik den Arbeitern und Arbeiterinnen übergibt, ein interessanter Hinweis auf zeitgenössische Veränderungen des politischen Raumes. Denn entscheidend ist, dass Paolo selbst handelt, d.h. er sieht sich und sein Begehren nicht von einem breiteren politischen Zusammenhang, etwa einer Partei, repräsentiert, sondern kann allein über eine solche direkte Aktion Befriedigung finden und sich selbst im Moment des Handelns als ganz erleben. Damit verweist seine Geschichte auch auf eine die gegenwärtige öffentliche Sphäre massiv prägende Krise der politischen Repräsentation sowie auf das damit verbundene

23 »Un borghese redento deve rinunciare a tutti i suoi diritti, e bandire dalla sua anima, una volta per sempre, l’idea del potere.« (Ein erlöster Bürger muss auf all seine Rechte verzichten und aus seiner Seele ein für alle Mal die Idee der Macht verbannen.) (zitiert nach: Moscati 1995: 32)

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Phänomen, dass wir heute eher daraufhin ausgerichtet sind, die öffentliche Meinung durch direktes Handeln (oder Nicht-Handeln) zu beeinflussen24 als über ein Uns-Einfügen in größere Zusammenhänge.

S UBVERSION ALS I DENTITÄT UND DAS E RWÄGEN VON S IGNIFIKANZ Bisher verfolgte ich schrittweise den Verlauf von Ereignissen, über die wir in der Begegnung mit dem Fremden bzw. Ausgeschlossenen außer uns gesetzt werden. Es wurde deutlich, dass uns solche Ereignisse zustoßen, wir sie also nicht steuern können, dass sie eine Krise von Selbst und Welt auslösen und ihnen zugleich ein Drängen innewohnt, das danach trachtet, die erlebte Signifikanz danach in Alltagspraxis zu integrieren. Solche Ereignisse operieren sehr stark über ästhetische Erscheinungen. Körper, Haltung, Gesicht, Gesten, Blick sowie Dinge, die mit einem solchen jemand in assoziative Beziehung gesetzt werden können, sind es, die uns verführen, involvieren und zu anderen machen. Der Titel des vorliegenden Textes spielt jedoch auf etwas anderes an. In heute verbreiteten Praktiken sowie den damit verbundenen Mythen finden sich eine ganz merkwürdige Verkehrung und Umbildung solcher mit signifikanten Ereignissen verbundener Prozesse. Diese Mythen erzählen davon, dass wir diejenigen sind, die andere außer sich setzen würden und deren Wahrnehmungen lenken könnten. Zudem identifizieren diese Mythen meist bestimmte Taktiken bzw. Tricks, die uns zu diesem Zweck zur Verfügung stehen würden und über die wir die anderen, aus Illusion und Schein heraus in eine (uns bereits bekannte) Wahrheit führen könnten. Kurz: Diese Mythen malen uns ein Fantasiebild voll von Souveränität und Kontrolle in Bezug auf solche per se unkontrollierbaren Prozesse des Außer-sich-gesetztWerdens und Außer-sich-Setzens aus.25

24 Letzteres findet sich in Hobsbawm 2009: 107. Damit einhergeht das Phänomen des Aufstiegs des Anti-Politikers, der in so unterschiedlichen politischen personae wie Barack Obama und Silvio Berlusconi auftreten kann. 25 Mit den von diesen Mythen beeinflussten Praktiken habe ich mich ausführlich auseinandergesetzt in: Schober 2009: insbesondere 103ff. Zu dem von mir benutzten Begriff des Mythos siehe Schober 2001a: 40ff. und 258ff.

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Die zu diesem Zweck identifizierten Taktiken sind meist ästhetische Verfahren, etwa Ironie, Parodie, Montage oder Verfremdung und werden sowohl in der Kunst als auch in der Werbung oder der PR (Public Relations) zum Zweck der Beeinflussung von Wahrnehmung eingesetzt – wobei Institutionen sowie nicht-institutionalisierte Agenten dabei in Auseinandersetzung um die Aufmerksamkeit des Publikums treten. Kunst, Werbung und PR, etwa auch Polit-PR, werden damit nicht gleichgesetzt – sie sind jedoch alle in der einen oder anderen Weise auf ein Publikum hin ausgerichtet und müssen damit umgehen, dass dieses sich als von den ästhetischen Ereignissen getroffen und involviert erlebt. Mir geht es hier jedoch weniger darum, zu zeigen, dass solche Taktiken ihr Ziel notwendigerweise verfehlen – da solche Ereignisse, wie wir ja gesehen haben, nicht steuerbar sind – oder dass sie andere als die erwarteten Effekte hervorrufen würden. Viel entscheidender ist es aufzuzeigen, dass sich an diese Taktiken eine Fantasie des Agieren-Könnens, Verführen-Könnens und der Meisterschaft heftet. Je stärker unser Zusammenhalt mit anderen aus bisherigen festen Bindungen befreit und von kontingent sich ergebenden Ereignissen abhängig ist, desto stärker tritt offenbar auch eine Fantasie der Meisterschaft hinsichtlich solcher Prozesse auf. Dies verbindet sich meist mit klaren Grenzziehungen und einer Hierarchisierung zwischen wir und sie. Wir sind dann diejenigen, die über ein Wissen in Bezug auf Illusion, Schein und Wahrheit verfügen, sie diejenigen, die in solchen Zuständen leben und von uns daraus befreit werden sollten. Kunstschaffende sind, anders als Philosophen und Philosophinnen, in ihrem Tun nicht damit beschäftigt, ein System zu schaffen, sondern, wie etwa Jean-Luc Nancy gezeigt hat, darauf aus, uns »den Sinn zu liefern« oder uns »dem Sinn auszuliefern«, indem sie versuchen, den Fluss des Sinns für einen Moment lang durch ein Rühren an etwas zu unterbrechen. Dementsprechend erscheint die künstlerische Tätigkeit insgesamt als ein »Ermessen« und »Kalkulieren« unkalkulierbarer Momente der Wahrnehmung (Nancy 1997: 9f. und 17). Dies verbindet sich quer durch das 20. und 21. Jahrhundert mit politischen Intentionen. Über ästhetische Verfahrensweisen soll das »Wohnen« auf dieser Erde verändert, verbessert, d.h. befreiter und emanzipierter gestaltet werden. In der genannten mythischen Umkehrung wird dies dahingehend transformiert, dass ein solches Ermessen als ein Kontrollieren und Meistern ausgelegt und einem Selbst einverleibt wird, das als essenziell subversiv präsentiert und von anderen Formen von Identität

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abgegrenzt wird, denen jede Subversivität abgesprochen und allein Einfügung in die herrschende Ordnung zugeschrieben wird. Wie in der Auseinandersetzung mit Teorema deutlich wird, sind Subversion, also Unterminierung des Bestehenden, genauso wie Rücküberführung in Alltagspraxis aneinander gekoppelt und an der Konstitution jeder Form von Subjektivität beteiligt. In den Mythen und Praktiken, die ich hier anspreche und die sich insbesondere in subkulturellen oder künstlerischen Bewegungen in den letzten hundert Jahren sehr stark ausgebreitet haben – auch wenn in den letzten Jahren diesbezüglich Innovationen des Mythischen aufgetreten sind, worauf ich noch zurückkommen werde –, erscheinen solche Prozesse demnach in aufgespaltener Form. Eine Seite davon, Subversion, wird der einen, eigenen Identität einverleibt. Diese wird als eingebettet in eine Art Hinterland präsentiert, in der alles Übertretung ist und von der Identität anderer als essenziell unterschieden dargestellt wird, die in einer repetitiv sich wiederholenden Alltagspraxis geprägt aus Schein und Illusion verortet wird. Zugleich wird aus dem Ermessen der Reaktionen des Publikums ein stets erfolgreiches Stören, Irritieren, Skandalisieren oder anderweitig ideologisches Bearbeiten desselben. Diese Fantasie der Meisterschaft stützt sich zudem wechselseitig mit der bereits beschriebenen Tendenz, die eigene ästhetische Existenz in der Welt vor allem über ein direktes Handeln zu inszenieren, im Zuge dessen man sich momenthaft wieder als ganz und nicht-fragmentiert wahrnehmen kann. Solche Mythen und Praktiken haben, wie ich an anderer Stelle aufgezeigt habe, – auch wenn sie viel weiter zurückreichen – vor allem seit der Studentenbewegung der 1960er Jahre eine Zuspitzung in diese Richtung und weite Verbreitung gefunden. Dennoch sind sie nicht starr oder uniform. Auch wenn sie im künstlerischen und politischen Aktivismus der Gegenwart immer noch sehr präsent sind, so sind punktuell auch die bereits erwähnten Innovationen des Mythischen feststellbar (vgl. Schober 2009: 199ff.). Dann wird die genannte Ungleichheit und Hierarchie zwischen Agierenden bzw. Kunstschaffenden und Publikum zugunsten einer neuen Betonung von Gleichheit aufgegeben und dem Publikum wird ein von Begehren und Kreativität geleiteter Umgang mit Interventionen in ihren Wahrnehmungshaushalt eher zugestanden. Wir befinden uns also derzeit bezüglich solcher öffentliche Praktiken begleitenden Mythen in einer Art Schwellensituation, die ein Nachzeichnen ihrer Genealogien überhaupt erst ermöglicht.

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N ACHSPANN : E IN

GEWISSER

R EALISMUS

Auch Teorema bezieht sich auf solche Mythen und Praktiken und positioniert sich ihnen gegenüber in spezifischer Weise. Denn Pasolini geht in diesem Film, mehr als in anderen seiner Film-Produktionen, auch damit um, dass wir uns als Betrachter und Betrachterinnen desselben in einer ähnlichen Situation befinden wie die Einzelnen im Film gegenüber dem fremden Gast. Auch unsere Aufmerksamkeit im Kino oder vor dem Fernseher wird über Augen und Körper in Gang gesetzt und in Gang gehalten, d.h. auch wir finden unser Begehren im Film repräsentiert und werden von bestimmten Bildern, Szenen und Körpern fasziniert und an manchen Stellen getroffen und hartnäckig involviert. Darauf spielt der Titel des Films an. Teorema stammt vom griechischen theorema her, was soviel wie Schauspiel und Intuition bedeutet. Eine weitere Sprachwurzel liegt in theorein, was anschauen und betrachten heißt und noch eine weitere in theoros, der Betrachter. Auch über das Aufrufen solcher Bedeutungsketten macht Pasolini deutlich, dass dieser Film eine Theorie des Betrachtens und des Schauspiels exemplifiziert sowie dass er uns zugleich in ein Spektakel von Theorie involviert (vgl. Viano 1993: 200). Film als Medium ist von Pasolini in Teorema in Komplizenschaft zu dem, was der Film vorführt, mit verhandelt. Film geht mit der Welt der Erscheinungen um. Er zeigt uns Gesichter, Körper, Gesten, Objekte und Orte sowie über point of view shots Blicke und über Close-ups Details in dieser Welt der Erscheinungen. Über die exemplarische Beziehung der einzelnen Filmfiguren zum fremden Gott und damit einhergehenden Eingriffen in ihre Wahrnehmungsgefüge wird auch unser Verhältnis als Betrachter/-innen sowohl des Films als auch der Welt der Erscheinungen generell reflektiert. Wahrnehmung wird als Aktivität gezeigt, die uns körperlich involviert26 wie auch die bereits genannte Erfahrung von Unhintergehbarkeit, die in dieser Beziehung auftreten kann, eine körperlich in Szene gesetzte ist. Diese in der Begegnung mit dem Anderen erfahrene Unhintergehbarkeit, die wir auch als Authentizität oder Wahrheit bezeichnen, ist jedoch, wie ich bereits gezeigt habe, nicht als universelle präsentiert. Auch wenn sie sich in der Begegnung mit dem immer selben fremden Gott ergibt, bringt sie nicht

26 Vgl. Viano 1993: 212. Zur körperlichen Dimension von Pasolinis Filmen siehe auch Kuon (Hg.) 2001.

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Vereinheitlichung, sondern Differenzierung hervor. Und ähnlich wie jeder und jede im Film über diese Begegnung zu einem oder einer Anderen wird, so differenzieren auch wir uns als Betrachter/-innen des je einen Films. Pasolini arbeitet die Unkontrollierbarkeit solcher Momente heraus sowie ihre Kraft, Welten zum Zerbrechen sowie neue zum Entstehen zu bringen. Die Frage nach unserem Entziffern der Welt der Erscheinungen wird im Film durch eine Diskrepanz zwischen der Ordnung der Erzählung und dem Erzählten aktuell gehalten (vgl. Viano 1993: 200). Im Vorspann sind wir mit dem Ergebnis vergangener Handlungen konfrontiert. Eine Fabrik wurde den Arbeitern und Arbeiterinnen in Selbstverwaltung übergeben. Diese Situation bleibt für uns als Zuschauer/-innen zunächst jedoch opak. Die darauf folgenden Erzählsequenzen stellen dann gewissermaßen Rückblenden dar, die das Versprechen in sich tragen, das Geschehene aufzuklären. Dadurch wird jedes Objekt, jede Geste und Haltung und jeder Blick bedeutungsvoll, da potenziell alles zu einem Schlüssel für ein Verständnis des Geschehenen werden kann. Auch durch diese Diskrepanz wird unsere Aufmerksamkeit in Gang gehalten und zugleich ist unser Verhältnis zur Welt der Erscheinungen als eines präsentiert, in dem Ereignisse auftreten können, die die Lesbarkeit der Welt und von uns selbst in Krise setzen können. In dieser Verhandlung seiner Beziehung zum Publikum nimmt Pasolini Abgrenzungen und Anleihen vor. So differenziert er seine Art, Filme zu machen, nachdrücklich von avantgardistischen Kunstpraktiken, die das Publikum schockieren und vor den Kopf stoßen wollen oder die den Skandal suchen – ein Weg, den in Teorema Pietro verfolgt und der von Pasolini als bürgerlicher und damit verfehlter repräsentiert wird. Pasolinis Filmauffassung unterscheidet sich von der oben genannten Tradition insbesondere dadurch, als er die Hierarchisierung zwischen Autor/-in und Publikum, die dieser eigen ist, ablehnt. Provokant gegen avantgardistische Filmemacher wie Godard, Straub oder Rocha gewandt, handhabt er die Beziehung zwischen Autor/-in und Adressat/-in als eine, die von »demokratischer Gleichheit« gekennzeichnet ist. »Im Zuschauer«, so schreibt er, »sieht der Autor nichts anderes als einen zweiten Autor […] Der Zuschauer ist nicht derjenige, der nicht begreift, der sich empört, der hasst, der lacht; der Zuschauer ist derjenige, der begreift, der sym-

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pathisiert, der liebt und sich begeistert. Dieser Zuschauer ist genauso skandalös wie der Autor.« (Pasolini 1979: 253-263, Herv. i.O.)

Für ihn ist Kunstschaffen demnach nicht auf ein Außer-sich-Setzen der Anderen hin ausgerichtet wie für die oben genannte ästhetische Tradition, sondern der Autor ist derjenige, der sich mit seinem Werk aussetzt: und zwar der Lächerlichkeit, der Missbilligung, dem Skandal, dem Bemerken von Andersartigkeit, aber auch der Bewunderung durch andere. Darüber hinaus betont Pasolini das Begehren, das Genießen sowie die Freiheit des Zuschauers – ja seine Theorie des Betrachtens kreist, wie Teorema vor Augen führt, genau darum. Demgegenüber sprechen die mit dem Außer-sich-Setzen-der-Anderen verbundenen Mythen dem Publikum Genießen und Begehren tendenziell ab, oder besser: Dem Publikum wird allein ein masochistisches Begehren zugestanden, d.h. eine Lust am Leiden und am Ertragen sowie ein Genießen, als in Schein und Illusion lebende Dummköpfe adressiert zu werden. Indem Pasolini diese Hierarchisierungen ablehnt und in verschiedenen Filmen, etwa Teorema aber auch La ricotta (1963) oder Salò o le 120 giornate di Sodoma (1975), thematisiert und durch das Konzept einer dramatischen Beziehung von Individuen, »zwischen denen demokratische Gleichheit herrscht« (Pasolini 1979: 255), ersetzt, erscheint er als eine Art Vorreiter jener oben genannten Innovationen des Mythischen und der damit verbundenen Transformationen ästhetischer Praxis. Denn auch manche zeitgenössische Kunst- und Filmschaffende erproben, wie bereits angesprochen, eine Beziehung zwischen Autorschaft und Publikum auf Augenhöhe. Neben solchen Abgrenzungen nimmt Pasolini aber auch Anleihen vor und bezieht sich dabei auf bestehende Mythen und Praktiken, die im Laufe der Zeit jedoch unterschiedlich akzentuiert auftreten. Ruft er in seinen frühen Filmen das Subproletariat als Identifikationsgestalten auf, so wird er sich in seinen späteren Filmen vor allem mit dem Vormodernen und kulturell Anderen27 verbünden. Stets jedoch verbindet er sich nicht mit den Wenigen, sondern mit den Vielen, d.h. sein Filmschaffen ist auf das Populäre hin ausgerichtet – wobei er die Ausei-

27 Am Filmfestival in Venedig 1968 wurde gemeinsam mit Teorema auch Appunti per un film sull’ India (1968, 35min.) von Pasolini gezeigt. Letzterer wurde zu diesem Zeitpunkt jedoch so gut wie nicht wahrgenommen (vgl. Caminati 2007: 58f.).

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nandersetzung mit dem Populären nicht als eine der Affirmation oder Huldigung sieht, sondern als eine des dauernden Kampfes und der ständigen Erfindung (Pasolini 1979: 262). Um einen weiten Kreis des Publikums jenseits von Klassifizierungsschranken ethnischer, religiöser oder klassenspezifischer Art zu adressieren, verarbeitet er populärreligiöse Mythen und von diesen geprägte Bildwelten, z.B. in Teorema den Dionysosmythos oder populäre, d.h. nicht konfessionelle, heidnisch-katholische Mythen. Über ein solches Aufrufen und produktives Um-nutzen geteilter Mythen, Gesten und Bilder verbündet er sich einmal mehr mit Emilias in Teorema erzählter Geschichte. Diese legt er uns als Betrachtende als »un certo realismo« (einen gewissen Realismus)28 nahe – wie er seine Art des Filmemachens einmal genannt hat. Wie ich in diesem Text zu zeigen versucht habe, vermischen sich in diesem Realismo das Populäre, positiv besetzte Weibliche und das Ineiner-Gemeinschaft-Aufgehobene auf widersprüchliche, aber durchaus produktive Weise mit der Re-Affirmation von binären Gegensätzen und Aufspaltungen wie Konsum/Politik, Hochkultur/Massenkultur, das Involvierte/das Erhabene und auch damit verbundenen Mythen bezüglich Männlichkeit und Weiblichkeit.

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28 In dem 1968 von Oswald Stack aufgezeichneten Interview sagte Pasolini: »I consider my own films realist compared with neo-realist films. In neorealist films day-to-day reality is seen from a crepuscular, intimistic, credulous, and above all naturalistic point of view […] Compared with neorealism I think I have introduced a certain realism, but it would be hard to define it exactly.« (Stack 1969: 129) Er distanziert sich damit von gängigen Vorstellungen von Realismus und vor allem auch von der Tradition des Neorealismus, beharrt aber zugleich auf einer gewissen, poetisch-kritischen Haltung, die Autor/-in und Publikum teilen und die durch das Medium des Films auf ein Verstehen von Welt bezogen bleibt (vgl. auch Viano 1993: 47ff.).

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Künstler/-innen in Bewegung S ABETH B UCHMANN , C RISTÓBAL L EHYT

P ROLOG Die Entscheidung, das anlässlich der 2008 im Künstlerhaus Stuttgart gezeigten Ausstellung Drama Projection geführte Gespräch mit dem Künstler Cristóbal Lehyt in leicht überarbeiteter Form wiederabzudrucken,1 begründet sich mit dessen substanziellen Reflexionen auf den gegenwärtigen Status von politisch-subversiven Ikonografien und Strategien. Lehyt, 1973 in Santiago de Chile geboren und heute in New York lebend, setzt sich in seinen Arbeiten mit der Wechselbeziehung von Kunst, Gesellschaft und Medien auf eine Weise auseinander, die in den informations- und kommunikationsorientierten, unter den Bedingungen der Militärregime zwischen den 1960er und 80er Jahren entstandenen Werkformen lateinamerikanischer Künstler/-innen wurzeln. Dies macht sich nicht zuletzt an seiner thematisch-inhaltlich und ästhetisch-technischen Agenda fest, die von prozessbezogenen Zeichnungen, über reproduktive Medien (Fotografie, Video) bis hin zu skulptural-installativen Formaten und partizipativ-interventionistischen Aktionen reicht. Wie aus dem Gespräch hervorgeht, ist Lehyt ein genauer Beobachter und Kritiker jener Mechanismen der Festschreibung, Vereinnahmung und Institutionalisierung sogenannter kritisch-subversiver Kunst

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»Dialogue between Sabeth Buchmann and Cristóbal Lehyt« in: Axel John Wieder (Hg.) (2010): Cristóbal Lehyt: Drama Projection, Stuttgart: Künstlerhaus Stuttgart, Zürich: jrp/ringier, S. 33-51, Deutsch: S. 133-139.

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durch den (westlichen) Kunstmarkt, der ihm aufgrund seiner eigenen Involvierung bestens vertraut ist. Aus dieser Disposition sind seine Werk- und Aktionsformen radikal rezeptionsorientiert. Das heißt, dass Subversion hier weniger von der Position und vom Habitus des Künstlers aus gedacht wird als vielmehr im Sinne eines spielerisch-mehrdeutigen Dialogs mit den Betrachtern und Betrachterinnen. Im Mittelpunkt steht dabei stets die Frage nach den Formen, die über die individuelle und kollektive Teilhabe an ästhetischer Wahrnehmung als kritische Wissensproduktion entscheidet. Lehyts Arbeiten wurden bislang am Carpenter Center (Cambridge), im House of Propellers (London), in der Room Gallery an der University of California (Irvine), im Künstlerhaus Stuttgart, im Kunsthaus Dresden, im Artists Space (New York), auf der Shanghai Biennale, im Whitney Museum of American Art u.a. gezeigt. Wie seine Ausstellungen in Santiago, Bogotá, Caracas, Mexico City und Rio de Janeiro verdeutlichen, ist er aktiver Teilnehmer des gegenwärtigen Ausstellungsgeschehens in den Ländern Lateinamerikas. Darüber hinaus war Cristóbal Lehyt Fellow an der John Simon Guggenheim Memorial Foundation und am Art Forum Harvard University und unterrichtet seit 2010 an der New School (New York).

G ESPRÄCH ZWISCHEN S ABETH B UCHMANN UND C RISTÓBAL L EHYT Deine Arbeit scheint, allgemein gesprochen, mit der Spannung zwischen funktionalen und formalen Aspekten von Darstellungsformen zu spielen, die sich innerhalb des Feldes und der Praxis der visuellen Künste mit Themen wie dem öffentlichen Raum, der Stadt oder dem Verhältnis von lokalem und globalem Raum beschäftigen. Auf diese Weise ist deine Arbeit mit Praktiken verbunden, die als Institutionskritik, Kontext-Kunst oder New Genre Public Art bezeichnet wurden – Praktiken wie Partizipation oder Intervention, die inzwischen selber institutionalisiert und zum Teil von Private-Public-Partnership-Ökonomien geworden sind. Wie gehst du mit dem Potential, der Ambivalenz, den Widersprüchen und Beschränkungen von Kritik in einem institutionellen Kontext um?

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Kritik ist ein hilfreicher Begriff, weil er an so etwas wie eine Möglichkeit des Widerstands erinnert. Ich bin jedoch skeptisch, ob sich das noch realisieren lässt: Kritik wird natürlich vereinnahmt, angeeignet, genossen … Deshalb ist Kritik innerhalb eines institutionellen Kontextes ein gutes Ziel, das aber nicht unbedingt erreicht wird. Es sollte genügend Vieldeutigkeit und Widerspruch geben, damit so etwas wie eine Frage nach der Richtung oder ein Gefühl von Instabilität entsteht, sei es in der Position als Produzent der Arbeiten oder in dem, was die Werke machen. Dass wir dieses Gespräch über Arbeiten führen, die in Deutschland zu sehen sind, und dass es in einem Buch zur Ausstellung abgedruckt wird, stellt bereits einen spielerischen Umgang mit Interpretationsfragen dar, den wir beide als Versuch für lohnenswert halten. Hat deine Haltung mit deinem sozio-kulturellen Hintergrund als chilenischer Künstler zu tun, in dem Sinne, dass du aus einer Tradition konzeptueller Kunst aus Lateinamerika kommst, in der Institutionskritik eine wesentlich direktere Beziehung mit dem Publikum beinhaltet? Hat diese Tradition vielleicht auch deine Entscheidung beeinflusst, die Personen zu zeichnen, die du während deiner Spaziergänge durch Stuttgart getroffen hast? Was bedeutet das in Bezug auf deine Rolle als ein bereits institutionalisierter Künstler? Man könnte dein Projekt mit Straßenkünstlern und Straßenkünstlerinnen assoziieren, die Leute für Geld zeichnen. Verstehst du die Personen, die du zeichnest, als aktive Teilnehmer/-innen an diesem Projekt? Das Publikum ist die bestimmende Größe in der Konstruktion der Arbeit. Ich denke immer daran, was ich selbst gerne sehen würde, wenn ich in eine Ausstellung gehe. Aus diesem Grund versuche ich das zu machen, was ich selber gerne im Rahmen einer bestimmten Ausstellung erleben möchte (Ausstellungen sind schließlich Ereignisse). Ich glaube, dass ein tiefes Misstrauen gegenüber der Institution als Ort der Kunstpräsentation in der Kunst Lateinamerikas eine Art von Konstante darstellt. Die Institution sollte nie als stabiler Raum aufgefasst werden – Teil seiner Eigenart ist es vielmehr, spezifische Interessen zu bedienen, und die Kunst aus Lateinamerika war meines Erachtens ziemlich erfolgreich darin, mit dem Problem von Zugang und Macht umzugehen. Hier haben bestimmte historische, politische künstlerische Praktiken in Lateinamerika eine poetisch-politische Zone der Wirksamkeit

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etabliert. Natürlich ist eine Institution in Lateinamerika etwas ganz anderes als in Europa oder den Vereinigten Staaten. Ich bin als chilenischer Künstler, der in New York lebt, für eine Ausstellung in Stuttgart eingeladen, und ich denke die produktivste Möglichkeit auf diese Tatsache zu reagieren ist es, sie direkt anzusprechen. Ich spreche in der Ausstellung darüber, wo ich herkomme, und ich mache eine Arbeit darüber, was Stuttgart meiner Ansicht nach ist: wie die Stadt für mich aussieht und was ich denke, was die Leute in Stuttgart gerne sehen möchten. Es ist im Grunde genommen ein Experiment, das durch die Dynamik des Künstlers auf Reisen in Gang gebracht wird, und weil ich möglicherweise als exotisch wahrgenommen werde, möchte ich mir diese angenommene Distanz (Santiago-New York-Stuttgart) zunutze machen. Die Besucher werden an diese drei Orte denken, wenn sie die Ausstellung sehen. Bereits diese Tatsache ist für mich sehr interessant, deshalb sollen die Arbeiten darauf reagieren. Die Öffentlichkeit ist insofern eingebunden, als ich sie direkt anspreche – ich zeichne lokale Einwohner, bilde ihre Stadt ab und zeige ihnen, wo ich herkomme. Außerhalb des Künstlerhauses bin ich ein Außenseiter, ich spreche nicht einmal die deutsche Sprache. Ich bin in der Stadt, sammle Abfall, wie eine poetische Figur, die das alles auf eine unbeteiligte Weise beobachtet, ähnlich wie Johann Moritz Rugendas in Chile, ein deutscher Maler aus dem 19. Jahrhundert, der loszog, um die Landschaft und die Menschen in Südamerika zu erfassen. Abgesehen davon, dass Nordchile offensichtlich ein völlig anderer Ort als Stuttgart ist: Weisen die Bilder aus der Serie El Norte (Der Norden) auch auf eine Art der persönlich-biografischen Erfahrung und der exemplarischen Darstellung eines sozialen Raumes hin? Oder sollten sie als Projektionsfelder oder other sites gesehen werden, die zugleich exotisiert werden können, wie sie sich dem auch verweigern? Sind sie Bilder, die das vermeiden, was Bilder sonst tun sollen, wenn sie bestimmte Orte und Räume darstellen? Sind sie mehrdeutig, wie Robert Smithsons Arbeit, die darum bemüht war, gleichzeitig innerhalb wie außerhalb der Institution wahrgenommen zu werden? El Norte soll exotisch wirken. In Nordchile liegt die trockenste Wüste der Welt, sie ist überwältigend, leer und unerreichbar, selbst für die Menschen in Chile. Ich möchte, dass die Leute die Entfernung und die Exotik dieses Ortes wahrnehmen. Es wäre ein Fehler, den Ort verste-

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hen zu wollen – er soll als etwas betrachtet werden, das sowohl aufgeladen wie auch unheimlich unbeschrieben ist. Ich versuche natürlich Informationen durch die Bilder zu geben: Einige sehen seltsam bekannt aus, einige sind verführerisch schön, während andere einfach nur als Kunstwerke funktionieren – als Malerei, Zeichnung oder Fotografie. Ich bin nicht sicher, ob sie irgendeine spezielle Einsicht bieten … Sie sind vielleicht einfach das, was sie sind. Sie funktionieren als Markierungen für einen anderen Ort außerhalb der Institution, und in diesem Sinne könnten sie tatsächlich ein bisschen wie Smithsons Arbeit funktionieren, aber die Vorgehensweise ist eine andere. In meinem Fall ist der Ort, den ich durch die Bilder zeige, die Gegend wo ich herkomme. Monuments of Passaic ist großartig, aber Smithson behauptet nicht, aus New Jersey zu sein, so wie ich behaupte (oder behaupten kann), dass ich aus Chile komme. Er ist nicht so amerikanisch (im Sinne von geboren in the Americas) wie ich es bin, also geht es hier um eine Identitätsfrage. Ich bin eingeboren in dem Sinn, dass üblicherweise automatisch angenommen wird, ich habe indigenes Blut, also versuche ich, mich mit dieser Frage mit Humor zu beschäftigen. Smithson setzt sich mit dieser Frage auf sehr effektive Weise in Hotel Palenque und Spiral Jetty auseinander, die beide sehr witzig sind, aber auch rassistisch. (In Palenque macht sich Smithson auf ironische Weise über die Mexikaner lustig, die das Hotel nicht fertig bekommen, und Spiral Jetty ist ein aggressiver Eingriff in die Landschaft, der ignoriert, dass das Symbol der Spirale für die Bewohner dieser Gegend eine entscheidende Bedeutung hat.) Der Wunsch danach, sich innerhalb wie außerhalb des Systems zu befinden: Ich bin mir nicht sicher, wie realistisch das ist. Ich nehme an, dass die meisten Leute die Institution so schnell wie möglich verlassen möchten – die Ausstellung sehen und dann rausgehen und etwas anderes machen. Innen und außen, öffentlich und privat: Das ist doch immer in Bewegung, oder? Ich denke nicht, dass man die Dinge so einfach irgendwo hinstellen kann; das geht nur, wenn sie eine Machtstruktur direkt angreifen … Aber wenn die Arbeiten eine Situation eher öffnen sollen, dann bin ich nicht sicher, ob sie das eine oder das andere sind. Hoffentlich stellen sie ein Problem dar!

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Abbildung 1: Cristóbal Lehyt, El Norte (2003), Installation, Rotunda Gallery, New York

Wenn das Publikum, wie du sagst, ein zentraler Teil deiner Arbeit ist, wie wirkt sich das auf dein Konzept von Wahrnehmung aus? Würdest du sagen, dass du eher ein physisches Modell ästhetischer Erfahrung aufrufst, etwa durch die architektonischen Skulpturen oder ein mehr sprachliches, kommunikatives Modell, wie es solche Arbeiten nahelegen, die mit Informationen operieren, etwa Wandzeichnungen, Poster, Texte und Zeichnungen? Ich weiß nicht, ob eine Art der Erfahrung so unterschiedlich ist wie die andere. Vielleicht ist an bestimmten künstlerischen Praktiken gerade interessant, dass sie in beiden dieser Bereiche operieren: Information und das, was man Phänomenologie nennen könnte. Ich denke, dass die interessanteste aktuelle künstlerische Produktion Kunst in einem solchen Sinne ist, dass sie eine eigene Präsenz hat und den Betrachtern und Betrachterinnen ihre Beziehung zu dem Werk und dem Raum, den sie sich gemeinsam teilen, bewusst macht. Auf der anderen Seite geht es diesen Arbeiten natürlich auch darum, eine bestimmte Information mitzuteilen – man könnte behaupten, dass das selbst die Minimal Art getan hat. Aber ich vermute, du fragst mich wahrscheinlich danach, was ich in Bezug auf meine Arbeit will. Ich wünsche mir, dass die Arbeiten in einem Raum existieren und dass die Betrachter/-innen, das Publikum oder die Zuschauer/-innen fühlen, dass sie sich in oder vor etwas befinden; es ist mir sehr wichtig, dass die Arbeiten (so) eine physische Präsenz haben. Diese Präsenz ist allerdings durch die Art der Information bestimmt, die ich bereitstelle, sodass sich der Raum

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und/oder das Objekt fortwährend verschieben. Das Bild könnte also mehr oder weniger erkennbar erscheinen, aber je mehr man weiß, wofür es steht, desto stärker verändert es sich physisch in der Wahrnehmung. Das ist mein Ziel. Ich vereinfache jetzt ein bisschen, um die Frage beantworten zu können, aber ich glaube, mich interessiert es eher, wenn die Arbeit eine offene Bedeutung hat und dafür ziemlich klar als Objekt in einem physischen Raum existiert. Ich bevorzuge formale Probleme, die den/die Betrachter/-in aktiv fordern, gegenüber interessanten Einsichten, die in einer didaktischen Geste einfach vorgeführt werden (was den schrecklichen Nachteil hat, eine hierarchische Beziehung zwischen der Arbeit und den Betrachtern und Betrachterinnen aufzubauen). Es geht (immer) darum, eine Erfahrung des Betrachtens anzuregen, damit beide Seiten in Bewegung sind. Aber Information kann immer auch ein MacGuffin2 sein, oder? Wie gehst du mit der landläufigen Wahrnehmung von (konzeptueller) Kunst aus Lateinamerika um, sie sei poetischer, sinnlicher, habe mehr Fleisch und sei körperlicher als die trockenen und intellektuellen Varianten aus Westeuropa und Nordamerika? Einerseits schloss der Konzeptualismus aus Lateinamerika offensichtlicherweise auch Dichtung, Tanz und Musik mit ein und erzeugte so andere – vielleicht subjektivere – Arten der Wahrnehmung. Andererseits konnte der oft temporäre und zerbrechliche Charakter von solchen Arbeiten nicht auf

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»François Truffaut: MacGuffin, das ist der Vorwand, nicht? Alfred Hitchcock: Das ist eine Finte, ein Trick, ein Dreh, wir nennen das gimmick. Ich werde Ihnen die ganze Geschichte des MacGuffin erzählen. Sie wissen, dass Kipling häufig über die Inder und Briten geschrieben hat, die an der Grenze von Afghanistan gegen die Eingeborenen kämpften. In all den Spionagegeschichten, die in dieser Gegend spielen, ging es ohne Unterschied immer um den Raub von Festungsplänen. Und das war der MacGuffin. MacGuffin ist also einfach eine Bezeichnung für den Diebstahl von Papieren, Dokumenten, Geheimnissen. Im Grunde sind sie ohne Bedeutung, und die Logiker suchen an einem falschen Ort nach der Wahrheit. Bei meiner Arbeit habe ich mir immer vorgestellt, die Papiere, die Dokumente oder Konstruktionsgeheimnisse der Festung müssten ungeheuer wichtig sein für die Personen des Films, aber ganz ohne Bedeutung für mich, den Erzähler.« Truffaut, François (1999): Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?, München: Heyne Verlag, S. 128.

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dieselbe Weise verobjektiviert werden wie die Minimal und Conceptual Art aus Nordamerika und Westeuropa. Was denkst du über diesen Unterschied in der Wahrnehmung der Konzeptualismen aus Lateinamerika und Nordamerika/Westeuropa? Und wie verhältst du dich zu dieser Tradition, in der die subjektive Erfahrung viel deutlicher im Vordergrund steht als das Verhältnis von Produktion/(Re-)Präsentation und der Institution? Ich bin nicht sicher, ob ich diese Frage beantworten kann, ohne auf sehr belastete Vorstellungen von Identität hereinzufallen. Also versuche ich es so zu formulieren: Ich denke, dass Lateinamerikaner/-innen eine Beziehung zum Fatalismus haben, die uns erlaubt, Dinge als gut oder lustig oder angenehm zu empfinden, während sie passieren. Das liegt an einem tiefsitzenden Glauben, dass – ganz unabhängig von der Qualität der Arbeit – diese trotzdem niemals wirklich funktionieren wird. Also kannst Du auch gleich Spaß bei der Arbeit haben und versuchen, das Ergebnis für die Betrachter/-innen positiv, interessant oder vergnüglich zu machen. Es ist eine Variante von no future. Man könnte hier zahlreiche Beispiele anführen, warum Latinos wärmer oder offener sind, und das ist gleichzeitig wahr, aber auch ein großes Klischee, je nachdem, wie man darüber denkt. Ich selber denke, dass ich mich schneller mit einer Person aus Italien (Arte Povera spielt eine wichtige Rolle), aus Spanien, aus Mexiko usw. verstehe, einfach weil wir den Glauben teilen, dass die Welt letztendlich verrückt ist und nur auf eine subjektive und persönliche Weise Sinn macht. Dazu kommt die Erkenntnis, dass die Briten, und später die Amerikaner, immer die Situation bestimmt haben, die definierte, wer wir sind. Das ist vielleicht ein bisschen albern, aber wahrscheinlich so gut wie jede andere Art, auf deine Frage zu antworten. Warum ist Broodthaers so bitter? Warum ist Polke clever und albern? Warum ist Mario Merz mystisch? Meine Antwort auf deine Frage ist Fatalismus. Ich glaube nicht, dass ich irgendetwas auslöse; ich versuche, eher instabile Arbeiten zu machen, indem ich das benutze, was ich kenne und mag. Nimm zum Beispiel deine Ausstellung El Norte, die in der Galería Metropolitana in Santiago gezeigt wurde: Ist das ein gutes Beispiel für das, was du Fatalismus nennst? In dieser Arbeit stellst du eine Verbindung zwischen einem Artikel her, der auf der ersten Seite einer Zeitung erschienen ist (Alarm am Strand wegen eines Hunderudels), und einem

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anderen Artikel auf der letzten Seite derselben Zeitung über den Besuch von Santa Claus im lokalen Sportstadion. Aufnahmen dieser beiden Szenen wurden auf einem Split-Screen gezeigt, daneben ein weiteres Video von einem schlafenden Pferd bei Nacht, in dem eine schreiende weibliche Stimme im Hintergrund zu hören ist: »Du bist kein richtiger Mann, du bist wertlos!« Dieser Ton wurde in einer Oase inmitten der Wüste aufgenommen. Die Decke des Galerieraumes, einer ehemaligen Lagerhalle, war mit einer blauen Plastikfolie abgehängt. Neben den beiden Monitoren und der Zeitung stand eine regalähnliche Skulptur mit Drähten, die an eine technische Einrichtung erinnerte. Ein Thema, um das es hier gehen könnte, ist die Politik der Aufmerksamkeit und die Art, wie wir Informationen über die Welt auf arbiträre und unvorhersehbare Weise wahrnehmen. Das Verhältnis zwischen objektiven und zufälligen Momenten scheint als eine Bedingung der Wahrnehmung von dir ausgestellt zu werden. Die Tatsache, dass das Bild des schlafenden Pferdes aufgrund der Nachtaufnahme sehr grobkörnig ist, fügt einen ästhetischen Filter hinzu, der uns das Video bewusst anschauen lässt und unsere gewohnte Art, Bilder zu betrachten, infrage stellt. Gleichzeitig scheint die Information genauso unlesbar oder lesbar wie die Drähte in der Regal-Skulptur. Ein weiterer optischer Effekt entsteht durch die blaue Folie, die den Galerieraum in blaues Licht taucht. Sollte dies ein bewusst billiger Effekt sein, um zu zeigen, dass die Galerie kein White Cube ist? Oder hast Du versucht, den physischen Raum der Betrachter/-innen mit dem immateriellen Raum der Medien zu verbinden? Der Raum der Galería Metropolitana ist bereits voller Bedeutungen. Er steht auf dem früheren Hof des benachbarten Hauses, in dem die Betreiber/-innen der Galerie, Ana María Saavedra und Luis Alarcon, leben. Die Galerie befindet sich in einem Arbeiterviertel der Stadt, und ihre ungewöhnlichen Öffnungszeiten richten sich an die Bewohner/ -innen dieser Gegend, die tagsüber arbeiten oder studieren. Gleichzeitig funktioniert sie als alternative space, den Leute aus allen Teilen der Stadt besuchen, um zeitgenössische Kunst zu sehen. All dies hat die Arbeit bestimmt, die ich für den Ort produziert habe. Ich wollte keine hohen Produktionskosten erzeugen (was aber auch sonst bei mir nicht unbedingt der Fall ist). Es gab außerdem ein kleines Künstlerbuch, das kostenlos mitgenommen werden konnte. Die Galerie besteht aus Blechelementen; man sieht solche Teile häufig in Nordchile, wo sie

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ein übliches Material für einfache Gebäude darstellen – in diesem Fall für eine Lagerhalle. Ich wollte, dass der Raum wie ein entfernter, verlagerter Raum aus dem Norden aussieht, deshalb das blaue Licht, das durch die Plastikfolie entsteht. Die Arbeiten handeln von Darstellungen des Nordens, die in Santiago gezeigt werden. Meine Aufnahmen von Santa Claus im Stadion in der Wüste und von diesen Hunden am Strand am selben Tag und dass diese beiden Ereignisse am nächsten Tag in der Zeitung erschienen, ist kompletter Zufall. Ich habe diese Nachrichten gefilmt – ohne zu wissen, dass es Nachrichten sind – und habe sie dann später durch die Medien neu gerahmt gesehen. Diese Arbeit ist traurig, aber auch humorvoll. Sie ist ein bisschen melancholisch, so wie auch der italienische Neorealismus melancholisch ist. Das Video über das Pferd, das wie ein Bild von Seurat aussieht, mit der Stimme der Frau, die den Mann beleidigt, soll sehr dramatisch sein. Diese Arbeit verhält sich zum Fatalismus, wie ich ihn vorher beschrieben habe, als einem Gefühl, das durch den Ort hervorgerufen wird. Die Werke versuchen dem nicht zu widersprechen, sondern dran zu bleiben, was sie komplizierter und künstlerisch weniger eindeutig macht. Sie sind direkt und sollen traurig sein. Ich betone Eigenschaften, die mit Nordchile verbunden werden (Trostlosigkeit), aber auch die spezifische Architektur der Galerie, die einer Garage ähnelt. Um auf deine vorherige Frage zurückzukommen: Ich denke vielleicht an Fatalismus als einen Zustand, in dem es darum geht, das Glück aus dem Moment herauszuquetschen, weil der Ausgang ohnehin im Vorhinein feststeht – und das bedeutet sinnlichere Werke, selbst wenn sie von ihrer Art her sehr konzeptuell sind. Diese Ausstellung versuchte, das Gefühl in der Wüste durch deren Abbildung in verschiedenen Medien zu reproduzieren, aber auch durch sehr ärmlich, billig produzierte Kunstwerke. Das ist nicht dasselbe wie eine Low-Budget-Arbeit für eine Kunsthalle; es ging mir wirklich darum, Arbeiten an einem Ort zu produzieren, an dem die Dinge einer anderen Logik folgen. Es ist nicht möglich, so eine Ausstellung in der Ersten Welt zu machen – das wäre obszön. Was ich hier machen konnte, war einer Produktionslogik zu folgen, in der man die wenigen zur Verfügung stehenden Ressourcen nutzt und die Arbeit mit dem geringsten möglichen Energie- und Materialaufwand macht, sodass absolut kein Abfall erzeugt wird. Die Ausstellung stellt dar, wie ich nach Nordchile gereist bin und dort einige Arbeiten über das dort Gesehene gemacht habe. Diese Darstellung war verwirrend und nicht dazu geeignet, irgendeine echte Vorstellung über diesen

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Ort zu vermitteln. Im Unterschied zu dem Zeitungsvideo Antofagasta haben die anderen Arbeiten keinen wirklichen Bezug zu einem Verständnis der medialen Kultur, wie wir es vielleicht im Anschluss an Post-Pictures und Craig Owens etc. kennen.3 Es war eine lokale Ausstellung. Die Drahtskulptur sah wie ein veraltetes Modell aus einer Schule aus, das wer weiß was darstellt. Sie war etwas, das man im Norden in den Ruinen einer verlassenen Minenstadt finden kann, aber auch in einer Schule in Santiago – ein Objekt, das nicht mehr benutzt, aber auch nicht weggeworfen wird. Abbildung 2: Cristóbal Lehyt, El Norte (2003), Installation, Galería Metropolitana, Santiago de Chile

Ein weiteres Beispiel ist Arrest, eine Installation, die du im selben Jahr wie El Norte im Whitney Museum in New York gezeigt hast. Wieder bildeten Informationen aus den Medien den Ausgangspunkt deiner Arbeit, in diesem Fall die direkt auf die Wand aufgebrachten Tuschzeichnungen, die auf Medienbildern aus den USA basierten; dazu eine Holzablage, Texte und eine Doppel-Diaprojektion. Zwei Jahre nach 9/11 hast du ein Bild der World Trade Center-Besucherterrasse neben ein nicht-autorisiertes Foto einer Militärschule in Santiago gestellt. Die möglichen Lesarten dieser Installation scheinen offensichtlich: eine Art paralleler Blick auf kapitalistische Formen von Macht-/Kontrollsystemen und deren Repräsentation sowie die Logik totaler Kon-

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Vgl. Wallis, Brian (Hg.) (1984): Art After Modernism: Rethinking Representation, New York: New Museum of Contemporary Art.

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trolle, die den Werten der sogenannten Demokratie und Bürgerrechten entgegengesetzt steht, die mit der Geschichte von Militärdiktaturen und/oder Polizeistaaten einherzugehen scheint. Die Installation bot keinen direkten Zugang zu den verschiedenen Bildern. Die Texte auf der Ablage und die knapp über dem Boden projizierten Bilder lenkten die Aufmerksamkeit auf den Raum, in dem sie ausgestellt waren. Die Installation scheint sich also mit der Frage nach dem Zugang in Bezug auf die politische Ikonografie zu beschäftigen. Stimmst Du mir zu, dass die Wandzeichnungen mit reproduzierten Medienbildern von Politikern und Politikerinnen, öffentlichen Ereignissen, Krieg, Katastrophen usw. auf die Geschichte und Praxis der Wandmalerei als Werkzeug der Gegeninformation zurückgehen? Allerdings sind sie auch sehr raffiniert und formal ziemlich subtil, sodass sie eigentlich genau das Gegenteil einer konventionelleren anti-ästhetischen Rhetorik informationsbezogener politischer Ikonografie darstellen. Diese Arbeit ist voller Einzelteile, die den/die Betrachter/-in auf eine Art und Weise auf ein Ziel zuführen, die ich mag und die dem ähnelt, wie die meisten Leute Kunst ansehen. Zuerst sehen sie die ganze Sache, haben keine Ahnung, was sie da eigentlich anschauen, und dann beginnen sie einzelne Dinge zu erkennen: ein Ablagebrett, ein paar Blatt Papier, einige Linien an der Wand und eine Diaprojektion. Normalerweise liest der/die Betrachter/-in nun den Text über der Diaprojektion, dann die kurzen Zusammenfassungen, die auf den Papierstapeln auf der Ablage gedruckt sind. Diese Erklärungen führen sie zurück zu den Linien auf der Wand, bei denen es sich eigentlich um Zeichnungen von Fotografien aus den US-Medien handelt, sodass die Betrachter/-innen die Zeichnungen schließlich vor dem Hintergrund des Textes neu begreifen und Figuren wie Rumsfeld, Condi, Verhaftungen etc. zu erkennen beginnen. Die Texte selbst sind beschreibend, aber nicht sehr klar, sodass die Erfahrung der Arbeit nicht in einem genauen Abgleich der Bilder zum Text liegt, sondern sich auf wenig penetrante Weise annähert. Für mich geht es in dieser Arbeit um den Prozess des Entzifferns von Bildern mit unvollständigen oder widersprüchlichen Informationen. Deine Interpretation der beiden Diaprojektionen ist richtig, heute scheint das ziemlich klar zu sein – aber zum Zeitpunkt der Ausstellung 2003 im Whitney Museum of American Art auf der Upper East Side war es wesentlich komplizierter. Viele Leute fühlten sich von der Arbeit beleidigt, und fast alle Kritiken griffen

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mich wirklich gezielt an. Ich habe sogar einen Brief an Art Monthly wegen deren Review geschrieben, weil ich es notwendig fand, einige der damals in New York üblichen Haltungen zu hinterfragen. Die Arbeit hat versucht, unser Verhältnis zu Medienbildern provokativ und auf den Moment bezogen infrage zu stellen – es wurde polemischer als ich es erwartet habe und als es jetzt wäre.

Abbildung 3: Cristóbal Lehyt, Arrest (2003), Installation, Whitney Museum of American Art, New York

Sprichst du über die Kritik an der Assoziation, die du zwischen 9/11 und der US-Beteiligung am Militärputsch gegen Allende am 11. September 1973 hergestellt hast? Ja, dieser Zufall war der ursprüngliche Grund für die Gegenüberstellung der Dias. Wenn ich es richtig verstehe, hat sich die Verbindung von Poesie, Information und Medienkultur im Zusammenhang von (konzeptueller) Kunst aus Lateinamerika aus Debatten über die Legitimität des politischen Projektes von Konstruktivismus, Produktivismus und Konkreter Kunst entwickelt, welche in den Postavantgarden der 1950er und 60er Jahre bestimmend wurden und schließlich eine offizielle ästhetische Sprache bildeten. Spielt diese historische Entwicklung eine Rolle für dein Modell der Stadt Stuttgart? Nein. All das ist vorbei und erledigt, das waren Motive für frühere Generationen. Heute würde das wirklich bourgeois erscheinen, weil es zu

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beladen und überflüssig ist – die Sammlungen von Kunst aus Lateinamerika sind voll damit. Ich bevorzuge schlechte Figuration. Was für europäische Kritiker/-innen oder Kunsthistoriker/-innen vielleicht interessant ist, muss nicht für jemanden wichtig sein, der aus diesen Ländern kommt, nicht mehr jedenfalls. Diese Neuinterpretationen von Konstruktivismus, Produktivismus und Konkreter Kunst sind inzwischen so versteinert, dass sie heute wirklich den konventionellsten Diskurs darstellen, durch den lateinamerikanische Kunst in den USA vermarktet und absorbiert wird. Abweichende Figuration, narrative Installationen und subkulturelle Annäherungen an einen dekadenten Widerstand sind da hilfreicher. Künstler/-innen wie Hélio Oiticica, Lygia Clark oder Gego sind großartig, ihre Antwort auf den Modernismus ist sehr interessant, aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist ihre Relevanz für aktuelle Praktiken ausschließlich historisch. Ich frage mich, ob das für den Minimalismus in den Zentren ähnlich ist. Aber deine Frage ist sehr interessant, weil es unseren Unterschied zeigt. In Europa erscheinen diese Wiederbearbeitungen des Modernismus dichter und andere Arbeitsformen, die schmutziger und heikler sind, wirken vielleicht näher an Folklore und Klischees. Aber ich möchte behaupten, dass diese Arten von Praktiken aufgrund der Art und Weise, wie sie benutzt werden, produktiver und zeitgemäßer sind. Die Re-readings der geometrischen Abstraktion sind so geregelt und festgeschrieben, dass es fast nach Mottenkugeln riecht. Sie sind jetzt Teil eines herrschenden Narrativs, und das macht sie, ganz grundsätzlich, unbrauchbar. Ich denke, dass Leute wie Juan Davila, Juan Francisco Elso und Arthur Bispo de Rosário, um nur ein paar Beispiele zu nennen, wesentlich prinzipieller mit lebensnotwendigen Fragen der Repräsentation beschäftigt sind, auch wenn sie in einem offensichtlichen Sinne vielleicht auch lebendiger aussehen, weil sie mit etwas vorhersehbaren Themen arbeiten – wie Magie oder Wahnsinn. Idealerweise ist meine Konstruktion der Stadt Stuttgart also intuitiv und voller Unfälle – die Serialität der Produktion wird aufgeführt und verfälscht. Wenn das Modell so aussieht wie ein Crystal-Meth-Labor und dabei immer noch einer Stadt ähnlich ist, dann bin ich glücklich damit. Ein weiteres ernsthaftes und pathosbeladenes Wiederlesen des abstrakten Modernismus durch einen konzeptuellen Rahmen wäre schrecklich und überholt. Das ist wirklich nur eine Ernsthaftigkeit am falschen Platz und – leider – das Moment, das eine ganze Generation von jungen Künstlern und Künstlerinnen aus Lateinamerika definiert, weil es die akzeptierte Form von ernsthafter

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Kunst ist, die uns die Zentren diktieren. Nachdem ich all das gesagt habe, kann ich dir übrigens erzählen, dass die interessanten Arbeiten in Chile durch eine Ausstellung von Wolf Vostell unter Pinochet ausgelöst wurden – das ist also eine ganz andere Tradition. Poesie und Sprache sind wichtige Einflüsse, ebenso wie Anti-Poesie – eine lokale literarische Bewegung, initiiert von Nicanor Parra, die in vielen Disziplinen sehr wichtig wurde. Walter Benjamin, Derrida, Foucault und andere hatten einen wesentlich größeren Einfluss auf die Theorien des Konzeptualismus als die modernistischen utopischen Debatten oder die Wiederanknüpfungen an den Modernismus, die an anderen Orten existierten. Ein besonders grundlegender Text ist Del Espacio de Acá von Roland Kay, einem deutschen Autor, der in den 1970er Jahren in Chile lebte. Dieser Text diskutiert das Werk von Eugenio Dittborn im Verhältnis zur Geschichte der Fotografie und beschreibt, wie Porträts und Landschaften von Amerika (im Sinne von the Americas) durch eine europäische Erfindung (die Kamera) gerahmt wurden, die mit einer ganz unterschiedlichen Phase der historischen und technologischen Entwicklung zusammenhing und die in die Entwicklung einer lokalen Bildtradition (Landschafts- und Porträtmalerei) einwirkte. Die Besatzung fand also auch auf den Ebenen der Visualität und der Selbstrepräsentation statt. Diese sind Diskurse, die für das Verständnis von chilenischer Kunst relevant sind und die sich von den Modellen, die zum Beispiel die Kunst in Brasilien oder Venezuela bestimmt haben, unterscheiden. Wie beeinflussen die genannten Bezüge die Art, wie du das Verhältnis zwischen Kunst und Politik behandelst? Als verbundene oder als getrennte Felder? Indem ich nicht direkt politisch bin und indem ich poetische (auch wenn dieses Wort missverständlich sein kann) Lesarten herausfordere, die instabil sind und mehrdeutig funktionieren, sodass sie nie festgeschrieben werden können. Das ist es, was Kunst aus Lateinamerika für mich auszeichnet – sie lehnt es ab, Arbeiten zu machen, die instrumentalisiert werden können. Also muss man so schlau wie möglich sein. So sehe ich die entinstitutionalisierte Erfahrung: ein Falten und Verschieben von Räumen, sodass die Werke (und hoffentlich die Betrachter/-innen) in diese sich immer weiter verschiebende Dynamik einbezogen sind.

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… eine sich immer weiter verschiebende Dynamik, die zwischen verschiedenen Verfahrensweisen und Anordnungen operiert, um die Ortsund Medienspezifizität von Präsentation und Distribution zu adressieren – sind Orte und Kontexte wie die Straße, die Galerie, lokale Ereignisse, Medien- und Popkultur. In der Geschichte der (Post-)Avantgarden stellten solche Ideen eine Alternative zu den begrenzten Bereichen der Kunst dar, ohne sich der Kulturindustrie zu ergeben. Oiticia ist dafür ein gutes Beispiel. Hältst du das noch für ein gültiges ästhetisches und politisches Modell oder siehst du in solchen wechselnden Bezugnahmen eher eine Nähe zum neoliberalen Imperativ der Flexibilität und Mobilität? Ist Einschreibung hier der Begriff, der am Werk ist? Wir wissen jetzt ja alle, was Kunst ist und was Kunst sein möchte. Ich bin nicht sicher, dass Oiticias Arbeit das überhaupt so leisten konnte – erst jetzt, im Rückblick, lesen wir sie auf diese Weise. Also, ja, so eine Art von Widerstand ist möglich, aber nur als ein verzögerter Effekt – falls man einen unmittelbaren Effekt erzeugt, spielt man wahrscheinlich tatsächlich der Logik des Neoliberalismus zu. Die Verschiebung, die ich vorschlage, ist temporär und vollständig abhängig von zukünftigen Einschätzungen; aber das Ziel ist, die Ausstellung dadurch zum Funktionieren zu bringen, dass ich ihre Vergänglichkeit betone. Ich bin mir nicht sicher, ob es eine Formel gibt, jenseits davon spezifisch zu sein und mit dem Kontext zu arbeiten, falls die Idee ist, dass die Arbeit nur für die Dauer des Ereignisses, der Ausstellung etc. funktioniert; danach funktioniert sie nur noch in der Erzählung oder sie geht an einen weiteren Ort, oder sie macht einfach keinen Sinn mehr, was auch gut ist. Eine weitere Frage in Bezug auf dein Vorhaben, innerhalb deines Stadtprojektes als Fremder aufzutreten. Lässt sich das vielleicht im Anschluss an die Idee der Surrealisten und Surrealistinnen und/oder Situationisten und Situationistinnen verstehen, dass Kunst als eine alltägliche subversive Erfahrung funktionieren kann? Wir sind inzwischen an Foucaults Kritik gewöhnt, dass Subversion als Teil des Systems funktioniert, das es zu untergraben sucht, weil es abweichende Verhaltensweisen für seine eigene Erneuerung braucht. Diese Vorstellung befindet sich in Einklang mit inzwischen verbreiteten pessimistischen Interpretationen der Avantgarde. Oder handelt es sich einfach

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um die Funktionsweise von institutional critique, die wir bereits diskutiert haben? Sicher. Subversion kann innerhalb oder rund um die Kunst funktionieren. Sie kann tatsächlich in allen möglichen Feldern funktionieren, aber die Sache an der Kunst ist, dass die Leute ihr einen speziellen Wert und eine spezielle Bedeutung zusprechen. Auf diese Weise können wir bequem über ihr subversives Potential reden, weil sie, dadurch wie die Dinge eben sind, geschützt ist und es eine ökonomische Struktur gibt, die uns diesen Raum der Befragung bereitstellt. Innerhalb dieses Raumes können wir subversiv sein und frei definieren, was wir machen, mehr als in anderen Bereichen. Idealerweise sind Kritik und Subversion in diesem Raum auf irgendeine Weise hilfreich für die Betrachter/-innen, damit sie und wir (als Betrachter/-innen, die wir schließlich auch sind) etwas damit anfangen können. Manchmal ist dieses Ideal erreicht – ich denke etwa an Allan Kaprow, John Cage oder Yvonne Rainer. Ihre Arbeit hat das Potential dazu, widerständig zu sein. Ich bin nicht sicher, aber ich nehme an, dass man viele Dinge tut, um seine Position infrage zu stellen, und vielleicht ist das in vielerlei Hinsicht auch genug; aber Subversion in einem größeren Maßstab macht keinen Sinn für mich. Eine Ausstellung, die man macht, ist für einen Monat zu sehen, und vielleicht finden einige Leute interessante Sachen darin – genug um nützlich zu sein, oder zumindest, um Räume aufzumachen, ohne notwendigerweise subversiv zu sein. Ich möchte gerne noch mal zum Verhältnis zwischen funktionalen und autonomen Objekten zurückkommen, das ich in deiner Arbeit sehe. Deine Skulpturen scheinen zwischen selbstbestimmten, solipsistischen Objekten und polyvalenten Zeichen und narrativen Metaphern zu oszillieren, die sich auf vorherrschende Regeln und Darstellungssysteme beziehen. Kann der Titel Drama Projection hier in einem doppelten Sinn gelesen werden? Alles, was ich benutzt habe, ist chiffriert und repräsentativ für etwas, oder es steht für etwas. Der Titel ist mehrdeutig, weil er lustig ist, aber auch wahr, weil er das beschreibt, was die Arbeiten machen. Jedes Kunstwerk macht das oder eher, es lädt uns ein, auf das Werk zu projizieren. Die Arbeiten sind Zeichen und nur interessant, wenn sie mit

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anderen Zeichen verbunden werden. Sie haben keinen eigenen Wert oder eine inhärente Bedeutung. Der Stil und die Stimmung der einzelnen Bilder aus der Serie Drama Projection unterscheiden sich ziemlich. Ist das eine Geste gegen einen persönlich signature style oder hat es mehr mit der Frage nach dem Kontext zu tun? Könnte man sagen, dass du versuchst, das Genre der Kunst im öffentlichen Raum (public art) zu personalisieren? Ich finde gar nicht, dass sich die Zeichnungen so stark unterscheiden. Ich wünschte, sie wären noch unterschiedlicher. In der Vergangenheit habe ich große Mengen von Zeichnungen gemacht und dann die ausgesucht, die für eine bestimmte Ausstellung am geeignetsten waren. Erst kürzlich habe ich angefangen, die Zeichnungen im Hinblick auf den Kontext zu machen. Eine Serie entstand in Kooperation mit Kristin Lucas. Ein Set von »Davor/danach«-Porträts, die zu einer Ausstellung gehörten, in der sie sich »erneuert hat«, indem sie ihren Namen von Kristin Sue Lucas zu Kristin Sue Lucas änderte und jetzt diese Arbeit für Stuttgart. In diesem Fall hast du mit der Definition als personalisierte public art sicher recht – auch in Bezug auf das Stadtmodell. Ich nehme an, wenn man auf diese Weise über die Arbeit nachdenkt, ist sie wie ein Nicht-Monument, das öffentlich ist, dabei aber auch vergänglich. Es ist seltsam, die Arbeit auf diese Weise zu beschreiben – ich bin nicht sicher, ob ich mich dabei wohlfühle, weil dabei auch eine Kritik an der Bronzestatue in der Mitte des Platzes mitschwingt, und das ist nicht meine Intention. Ich mag solche Monumente wirklich, weil sie so durchsichtig sind. Ich frage mich, ob die Arbeiten im Künstlerhaus genauso durchsichtig sind – ob die Vorgehensweise einfach genug ist: das Anti-Monument, personalisiert als meine Projektion auf die Stadt und ihre Bewohner/-innen.

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Abbildung 4: Cristóbal Lehyt, Drama Projection 6 (2008), Installation, Künstlerhaus Stuttgart

Wie bringst du die Logik der Repräsentation mit deinen Ideen von sozialer Partizipation in Verbindung? Die Tatsache, dass die zeitgenössische Kunst eine geliehene Sprache darstellt für jemanden, der wie ich nicht aus dem Zentrum kommt, ist die grundsätzliche (und möglicherweise falsche) Annahme, von der ich ausgehe. Das Soziale beginnt genau da. Ich bin nicht dazu berechtigt, Kunst zu machen wie ein Deutscher oder zu malen wie ein Belgier oder Performances zu machen wie jemand aus Kalifornien. Ich kann es einfach nicht – dies ist eine Tatsache, die bestimmt, wie ich Kunstproduktion wahrnehme und wie ich Kunst lese. Das Soziale bestimmt also die Sprache und die Art, wie ich die Informationen interpretiere, die ich benutze. Ich wünsche mir, dass die Arbeiten in ihren Bemühungen scheitern und sich dadurch gegenüber interessanten Lesarten öffnen. Die Informationen, die Bezüge, die Prozesse der Rekontextualisierung und Aneignung sind also alle sehr zynisch. Die Art, wie ich Ortsspezifik verwende, ist dagegen überhaupt nicht zynisch,

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sie ist eher immer sehr kompliziert und kann nie ganz gelöst werden – das ist der Moment, in dem Partizipation ins Spiel kommt. Die vielen Lesarten, die eine Arbeit haben kann, sind dadurch bestimmt, wie sie von den Betrachtern und Betrachterinnen kontextualisiert werden: wie diese Person sich innerhalb der Stadt, dem Staat, der Institution und in dem Raum vor dem Ding selber sieht. Hoffentlich kann die Installation diesen Moment reflektieren und damit arbeiten. In den letzten Jahren wurde Zeichnung als ein Medium wieder entdeckt, dem das Potential zugesprochen wird, die verobjektivierenden Tendenzen von Fotografie, Video und Filmdokumenten zu überwinden. Es privilegiert Subjektivität – d.h. den ephemeren Moment – ebenso wie den Produktionsprozess im Hinblick auf den Ausdruck und die Dauer. Und dann gibt es das konzeptuelle Zeichnen – eine eher systemorientierte ästhetische Praxis, das als eine Art Meta-Medium verstanden werden kann und sowohl zur Malerei als auch zur Skulptur und zur Architektur Bezüge aufweist. Was ist deine Herangehensweise an das Zeichnen, zumal angesichts der Tatsache, dass du die Zeichnungen anschließend in reproduzierbare Fotokopien und Fotografien verwandelst? Der Prozess des Fotokopierens, Fotografierens und anschließenden Vergrößerns der Zeichnungen ist nur einer der vielen möglichen Wege, diese Arbeiten zu produzieren. Ich sollte vielleicht erwähnen, dass ich die eigentlichen Zeichnungen noch nie gezeigt habe; sie wurden nur als Vorlagen für Arbeiten um sie herum gemacht. Durch diese Art, die Arbeiten herzustellen, wird der Herstellungsprozess selber deutlich und klar – die einzelnen Schritte der Produktion sind sichtbar, wenn die Arbeit an der Wand hängt. Ich versuche, auch mit anderen Verfahren ähnliche Effekte zu erreichen. Ich male beispielsweise die Zeichnungen in Öl auf Leinwand, was auf eine eigene Weise überraschend ist. Das Ephemere, zeitliche Dauer und Ausdruck spielen dabei in Bezug auf das Zeichnen eine wichtige Rolle, insbesondere, denke ich, durch eine gewisse Unmittelbarkeit und Intimität. Man kann nahe an sie herangehen, um sie genau zu sehen, aber noch wichtiger, jede/-r zeichnet! Jede/-r hat irgendwann in seinem oder ihrem Leben eine Zeichnung gemacht, als Kind und seitdem sicher noch einige tausend Mal. Das ist das Unglaublichste daran. Vielleicht ist inzwischen ein Video oder ein Foto zu machen, eine ähnlich allgemeine Tätigkeit,

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aber ich denke, es ist immer noch etwas anderes, weil Zeichnen so eng mit der Kindheit und der Herausbildung der Subjektivität zusammenhängt. Wenn ich eine Zeichnung mache, die auf einer ganzen Tradition der Kunstgeschichte basiert, der automatischen oder drogeninduzierten Zeichnung, die beide eng mit Dada, dem Surrealismus und den Avantgarden zusammenhängen, dann tue ich das durch die Sprache der Kunst und durch dieses spezifische Medium. Zeichnungen haben immer das Potential, direkter auf die Betrachter/-innen zu wirken. Wenn ich meine eigenen Zeichnungen ansehe, dann denke ich nicht, dass sie so anders sind als das, was andere Leute gemacht haben. Ich glaube wirklich, dass alle Zeichnungen (immer) interessant sind. Jede Einzelne enthält eine Menge Informationen. Meine Ausbildung als Künstler lässt sie mich zwangsläufig durch den Filter der Kunstgeschichte betrachten. All das finde ich sehr interessant und erstaunlich, und ich hoffe, dass die Betrachter/-innen eine ähnliche Form von Spannung erleben. Natürlich sind diese Zeichnungen im Kontext einer Kunstinstitution zu sehen, und das bestimmt wie sie angesehen werden. Zeichnungen öffnen Dinge und bilden eine horizontale Beziehung mit den Betrachtern und Betrachterinnen, die sehr ergiebig ist und hoffentlich großzügig in der Art, wie visuelle Kunst funktioniert. Hier ist auch der Punkt, an dem sie Projektion und Identifikation erlauben, was relationaler ist als alles andere. Widersprüche sind verkörpert und persönlich gemacht. Eine andere Arbeit, Drawings (2003), zeigt Mitarbeiter/-innen des Jendela Visual Arts Space in Singapur und aus anderen Orten wie Beijing dabei, wie sie Bilder nach Projektionen auf eine Wand zeichnen. Das könnte man als eine institutionalisierte Referenz an Mel Bochners »Anyone Can Learn to Draw« lesen. Stellen die Leute in den Fotografien dieses Jede/-r dar, und ist ihre Aktivität des Zeichnens das, worum es in diesem Werk geht? Diese Arbeiten entstanden aus der Notwendigkeit heraus. Sie wurden zuerst als Teil einer Ausstellung produziert, die über den Zeitraum von zwei Jahren durch sehr viele Orte in ganz Asien gereist ist. Also habe ich über eine Arbeit nachgedacht, die auf einfache und unterhaltsame Weise von Arbeitskräften in den Ausstellungshäusern gemacht werden kann. Ich habe Dias von meinen Zeichnungen geschickt, und die Teilnehmenden haben entschieden, welches sie davon reproduzieren wol-

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len, wie groß es werden soll usw. Wandzeichnungen machen mir Spaß, deshalb nahm ich an, dass sie es ebenfalls mögen (was vielleicht eine falsche Annahme ist). Diese Arbeit richtete sich nicht nur an die Personen, die in der jeweiligen Institution arbeiten, sondern auch an die Betrachter/-innen, die wussten, dass die Zeichnungen von anderen Einheimischen bestimmt und ausgeführt wurden. Das fand ich interessant. Ich finde, dass meine Vorstellung darüber, was Zeichnen leisten kann, in diesem Fall weit mehr mit dem Sozialen zu tun hat als mit Bochner oder selbst Sol LeWitt, der vielleicht die deutlichste Referenz ist. Außerdem bin ich nicht sicher, ob die Leute wirklich gezeichnet oder nicht doch vielmehr abgezeichnet oder umgesetzt haben, was andere Ideen mit der Konstruktion des Zeichnens ins Spiel bringt. In der Arbeit ging es eher um den Prozess selbst als um die tatsächlichen Resultate an der Wand. Obwohl es sich bei den Zeichnungen um sehr belastete Bilder aus den Nachrichten handelte, ging es in der Arbeit wirklich darum, wie sich diese Bilder von einem Kontext zum anderen bewegten. Die Arbeit hat eine konzeptuelle Seite, weil sie eine Logik bis zu ihrem Endresultat verfolgt. Das kann ermüdend sein, obwohl es auch Aspekte gab, die durch meine Vorstellungen von den Leuten, die teilnehmen würden, und deren Vermutungen, was ich vielleicht erwartete, bestimmt wurden. Ich illustriere diese Arbeit in Katalogen oder in Vorträgen normalerweise mit Fotos von den Leuten beim Zeichnen, obwohl die eigentliche Arbeit im Ausstellungsraum nur aus dieser Reihe von Linienzeichnungen und einer Beschreibung des Prozesses bestand. Die Arbeit wurde später in New York gezeigt, ich konnte nicht da sein, also haben wir das gleiche Prinzip angewandt.

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Abbildung 5: Cristóbal Lehyt, Drawings (2003), Installation, Jendela Visual Arts Space, Singapur und National Gallery, Kuala Lumpur

Meine letzte Frage betrifft die Art, wie du Sprache benutzt, also die Titel deiner Arbeiten. Es gibt einige Arbeiten, die El Norte (Der Norden) heißen. Ist das eine Referenz an deine Biografie und/oder die Wahrnehmung von Orten, um an den Ort von Kunst in einem allgemeineren Sinne zu denken? In dieser speziellen Reihe von Arbeiten geht es um die Notwendigkeit, über einen bestimmten Ort zu sprechen. Biografie ist ein konstruiertes Narrativ, und ich benutze es, um mich sowohl gegenüber dem Ort, von dem ich komme, wie auch dem Ort, an dem ich jetzt lebe, zu positionieren. Das ist also eine wichtige Serie für mich, die weiterhin relevant bleibt. Der Name selbst ist so, wie es in Chile genannt wird – El Norte. Aber natürlich spielt er auch mit dem Gedanken, dass mein Norden euer Süden ist und so weiter.

Dekoloniale Ästhetik Das Museum verlernen und wiedererlernen durch Pedro Laschs Black Mirror/Espejo Negro W ALTER M IGNOLO

0 Im Herbst 2008 präsentierte das kürzlich eröffnete Nasher Museum an der Duke Universität in Durham, USA, eine prachtvolle Ausstellung mit dem Titel Von El Greco bis Velázquez: Kunst während der Herrschaft Philipp des Dritten.1 Im selben Zeitraum (von August bis November) zeigte Pedro Lasch in einem angrenzenden Raum die parallel laufende und auf polemische Weise dialogische Ausstellung Black Mirror/Espejo Negro. Gegen Ende der Ausstellung wurde ein Round Table veranstaltet, bei dem auf Einladung von Pedro Lasch mehrere Wissenschaftler/-innen über die Installation reflektierten. Die Erzählung, die ich Ihnen untenstehend darlege, ergab sich aus Gesprächen mit Pedro Lasch, der Besichtigung der Ausstellung und der Teilnahme am Round Table. Als ich die Einladung der Herausgeber/-innen erhielt, einen Beitrag zu dieser Publikation zu verfassen, kam mir sofort der Text, den ich über Black Mirror/Espejo Negro geschrieben hatte, in den Sinn.2

1

http://www.nasher.duke.edu/elgreco/

2

Dieser Beitrag erschien in Original auf Englisch als »Decolonial Aesthetics: Unlearning and Relearning the Museum Through Pedro Lasch’s Black Mirror/Espejo Negro«, in: Pedro Lasch (Hg.) (2010): Black Mirror/Espejo

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Die einleitenden Zeilen des Abstracts zu der hier vorliegenden Publikation waren das unmittelbare Bindeglied. »Stellt die Krise der marktkapitalistischen Ökonomie auch eine Krise der Kunst dar und führt sie zur weiteren Marginalisierung künstlerischer Positionen, oder bietet sie nicht vielmehr die Möglichkeit für neue, radikale künstlerische Ansätze? Gerade in ökonomischen und sozialen Krisenzeiten, in der sich die Risse in vorherrschenden Macht- und Wissensverhältnissen deutlicher offenbaren, wird verstärkt von unterschiedlichsten Seiten die Forderung und Hoffnung an die Kunst herangetragen, Lösungsmöglichkeiten und Auswege aus der gegenwärtigen Gesellschaftsverfassung zu finden. Was das Verhältnis von Politik und Ästhetik betrifft, so haben manche in Bezug auf den Begriff der Subversion festgehalten, dass dieser eigentlich nur mehr unter Anführungszeichen zu verwenden sei, oder ist nicht mit der Krise auch das Bedürfnis wieder gestiegen, diesen Begriff inhaltlich aufzufüllen und zu schärfen?« 

Mehrere Themen, die sich in diesen Absätzen finden, spreche ich in der folgenden Erzählung an: Kunst und Kapitalismus und die Begrifflichkeiten Subversion sowie Politik und Ästhetik. Lassen Sie mich mit dem Begriff Subversion beginnen. Subversion ist ein nützliches Konzept, um die Entwicklungslinien, welche die Kunst seit der Renaissance oder genauer gesagt seit der Romantik, vollzogen hat, zu verstehen. Es trifft auf einen engen geografischen Raum und einen eingeschränkten Zeitrahmen zu. Gleichzeitig ist es jedoch ein wichtiges Konzept, um die eurozentristische Kritik an der Moderne im Kunstfeld zu verstehen. Ich führe dazu das Konzept der dekolonialen Ästhetik ein.3 Dekoloniale Ästhetik gehört zu einem anderen Gedächtnis und einer anderen Art von Genealogie des Fühlens und Denkens. Anstatt ei-

Negro. Catalog of the Exhibition, Durham: Duke University Press, S. 86103. 3

Dieses Konzept habe ich bereits in anderen Publikationen behandelt. Vgl. dazu Mignolo (2010): »Aesthesis decolonial«, in Calle 14, 4, Bogotá: Universidad Distrital (http://gemini.udistrital.edu.co/comunidad/grupos/calle 14/Volumen4/ContenidoVol4.html) und »Prefacio«, in: Zulma Palermo (Hg.) (2009), Arte y estética en la encrucijada descolonial, Buenos Aires: Ediciones del Signo sowie das Globalization and the Humanities Project an der Duke Universität.

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ner eurozentristischen Kritik an der europäischen Moderne ist der Ausgangspunkt des dekolonialen Denkens jene Weltregion, die über die letzten 500 Jahre aus europäischen Kolonien bestand oder sich unter US-amerikanischem Einfluss oder Kontrolle befand. Das Dekoloniale kann vielleicht die Subversion ergänzen, jedoch nicht darunter subsumiert werden. Es sei denn, Subversion würde als neues, abstraktuniversales und in dieser Hinsicht imperiales Konzept aufgefasst werden; ein Konzept, das in die ganze Welt hinaus projiziert wird, ungeachtet der Bedeutung von Kunst und aisthesis jenseits von Europa oder den dekolonialen Arbeiten von nach Europa und in die USA immigrierten Wissenschaftler/-innen und Intellektuellen. Das ist eine mögliche Vorgehensweise, die notwendig ist, um erst zu verlernen, um dann wieder neu lernen zu können. Das Dekoloniale ist ein Beitrag zu diesem Prozess. Diese vorangegangenen Überlegungen beziehen sich auf das Ästhetische. Ästhetik im Europa des 18. Jahrhunderts war ein Konzept, das die antike griechische Vorstellung von aisthesis (als sinnliche und körperliche Wahrnehmung und Empfindung, wie die in der griechischen Tragödie durch mimesis beabsichtigte katharsis) übersetzte: das Wahrnehmen und Empfinden des Schönen und Erhabenen. Ästhetik in der kodifizierten Form machte sich das weite Feld der aisthesis zu eigen und wurde sogleich zum globalen und definitiven Referenzpunkt, um sowohl das Schöne und Erhabene zu verstehen und schätzen zu können als auch für die Bestimmung, wer noch nicht in der Lage war, ein derartiges Verständnis zu erlangen. Das Projekt der dekolonialen aisthesis hat zum Ziel die Ästhetik zu dekolonialisieren, um im Anschluss die aisthesis befreien zu können. Deshalb wird die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Politik auf eine andere Ebene gehoben: Das Dekoloniale in Kunst, Kunstkritik und Kunstgeschichte war immer schon politisch. Und das führt uns zur Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Kapitalismus. Ohne Zweifel hat sich Kunst von einer im Staat eingebetteten Praxis (wie die Ausstellung Von El Greco bis Velázquez zeigt) zu einer Ware gewandelt, wie das 20. Jahrhundert verdeutlicht hat. Selbst subversive Kunst konnte den Fängen des kapitalistischen Marktes nicht entfliehen. Also was nun? Was schlägt die dekoloniale aisthesis vor? In wenigen Worten: sich vom Markt zu entkoppeln und dekoloniale Konzeptualisierungen und Praxen, anstatt an marktorientierten

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eher an gemeinschaftlichen Lebensformen auszurichten.4 Und genau das ist es, was die Performances und Arbeiten (ich bin abgeneigt weiterhin von Kunst zu sprechen, ohne zuvor das Konzept dekolonialisiert zu haben, was ich an dieser Stelle nicht tun kann) von Pedro Lasch und, neben anderen, Fred Wilson oder Tanja Ostojiü leisten. Kurz gesagt, das Dekoloniale und das Subversive sind zwei unterschiedliche Wege, die einander ergänzen können, solange das Subversive als Teil des Entstehens einer Pluri-versalität und nicht als eine neue subversive Universalität angesehen wird.

I. Als Sie, der Reisende, in einer Winternacht die Ausstellungshalle des Nasher Museums an der Duke Universität betreten, um Pedro Laschs Installation Black Mirror/Espejo Negro zu besichtigen, stellen Sie mit Befremden fest: Alle Statuen und Gefäße, die den Höhepunkt der Ausstellung bilden, wenden Ihnen den Rücken zu. Ihre Anwesenheit lässt sie kalt, sie sagen nicht: »Hier bin ich, sehen Sie mich an.« Abbildung 1: Teilübersicht über die Installation Black Mirror/Espejo Negro

4

Mit gemeinschaftlich meine ich weder die marxistische Auffassung des Kollektiveigentums noch die liberale Vorstellung des Gemeinwohls. Siehe dazu Walter Mignolo (2009): »The communal and the decolonial«, in: Turbulence 5, November 2009, http://turbulence.org.uk/turbulence-5/deco lonial/. Eine deutsche Übersetzung ist in analyse & kritik – Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 549 am 16. April 2010 erschienen.

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Abbildung 2: Teilübersicht über die Installation Black Mirror/Espejo Negro

Wenn Sie sich den Statuen nähern, sehen Sie, dass deren Gesichter im schwarzen Spiegel, der vor ihnen hängt, reflektiert werden. Nachdem Sie eine Vorstellung von der Zusammenstellung und der Art der Installation gewonnen haben, nähern Sie sich einer der Skulpturen, um ein besseres Verständnis davon zu erlangen, was hier genau vor sich geht. Aus unbekannten Gründen bleiben Sie vor einer Komposition mit dem Titel Mimesis und Transgression stehen. Abbildung 3: Mimesis und Transgression

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Während Sie das Gesicht der Statue im Spiegel betrachten – weil Sie in deren Rücken stehen – und über die Bedeutung des Titels nachdenken, erkennen Sie, dass es noch andere Figuren im Spiegel gibt, die jedoch nicht reflektiert oder hervorgehoben werden. Ungeachtet der Tatsache, ob Sie die Figuren erkannt haben oder nicht, fällt Ihnen auf, dass diese Bilder nicht von einer mesoamerikanischen Zivilisation, sondern von der spanischen Kultur stammen. Jemand nähert sich Ihnen, betrachtet dasselbe Bild und sagt: »Interessant, das ist José de Rivera, La mujer barbuda (1631). Wissen Sie, das Original befindet sich im Hospital de Tavera, in Toledo, und ich glaube, es gehört zur Sammlung Lerma.« Und jetzt erkennen auch Sie sich dort wieder, im Spiegel reflektiert, hineingemengt zwischen der Statue und La mujer barbuda. Abbildung 4: La mujer barbuda

Weil Sie sich noch immer auf die präkolumbianische Statue aus der Region der atlantischen Wasserscheide Costa Ricas konzentrieren, erreichen Sie die Worte »bärtige Frau« als würden sie von einem anderen Planeten stammen. Sie blicken auf die Person, die Sie über Riveras Gemälde unterrichtet hat und fragen ihn, woher er das wisse. »Oh, ich bin Professor für europäische Kunstgeschichte«, antwortet die Person. Dann kehren Sie zu Ihren eigenen Gedanken zurück und müssen erkennen, dass Sie sich in einer äußerst komplexen Ausstellung befinden, in der Kunst, Lichter, Spiegelungen, Archäologie, Geschichte und Kolonialität die Machtverhältnisse verworrener Kompositionen wiedergeben. Sie beginnen nun zu verstehen, dass die erwarteten Macht-

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verhältnisse in einer gewissen Weise verzerrt, aber doch nicht eindeutig umgedreht wurden. Es ist so, als ob die Person, die die Installation erstellt hat, darüber nachgedacht habe, wie das imperiale Spanien die Geschichten über die Kolonialisierung der Amerikas erzählte und nun das, was Sie betrachten, die Geschichte aus der Perspektive derer ist, denen es nicht erlaubt war ihre Geschichte zu erzählen. Da Sie selbst eine gebildete Person sind, wenngleich kein Kunsthistoriker oder Experte alter mesoamerikanischer Zivilisationen, sagen Sie sich: Ich kann hier zwei unterschiedlichen Interpretationssträngen folgen. Eine Möglichkeit wäre, die Ausstellung aus dem Blickwinkel der Geschichte der Geometrie und dabei am ehesten von der griechischen Antike beginnend aufwärts zu verstehen. Damit könnte ich meine Argumente mit Edmund Husserls zweitem Teil zur Krisis der europäischen Wissenschaften oder Edgar Morins Arbeiten zur Komplexität stützen. Aber Sie wissen von einer allgemeinen Lektüre zu alten mesoamerikanischen Zivilisationen, dass deren Vermessung und Konzeptualisierung des Raumes außerordentlich elaboriert waren. Sie realisieren, dass Sie Husserl nicht benötigen. Dennoch bleibt es eine Tatsache, dass Sie mehr über Husserl und das westliche Verständnis von Raum wissen als über jenes der Maya oder Azteken. Sie kommen zu diesem Heureka-Moment und sagen sich: Ich muss verlernen was ich gelernt habe, um wieder neu zu erlernen. Aber sogar wenn Sie nicht besonders versiert wären in der alten mesoamerikanischen Konzeption von Raum, würden Sie genug wissen über die spanische Eroberung des Tals von Anáhuac und deren Expansion südwärts zu den Stätten der Maya. Sie erinnern sich an die spanischen Narrative aus einem Kurs, den Sie während des Grundstudiums besucht haben. In diesen kolonialen Narrativen, egal ob die mesoamerikanischen Zivilisationen verehrt wurden oder nicht, waren deren Bevölkerungen, Gebäude und Institutionen immer im Hintergrund, auch wenn die Azteken und Maya die Hauptakteure der Geschichte darstellten. Sie beginnen nun zu erkennen, dass Sie nie daran gedacht haben, dass die Menschen in den Erzählungen der Spanier (und in anderen imperialistischen europäischen Narrativen) ihre eigene Perspektive haben; dass sie Handlungsfähigkeit besitzen, dass sie Menschen sind und nicht nur passive Empfänger westlicher Zivilisationen. Und jetzt begreifen Sie auch, dass in dieser komplexen Installation das Problem nicht mit Husserl oder Morin behandelt werden kann. Sie erkennen, dass Sie, als Sie die Ausstellung betreten haben, ein Bild von Ge-

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schichtlichkeit im Kopf gehabt haben, das vom Kolonialismus geformt und aufrechterhalten worden ist. Es sind die siegreichen imperialen Narrative, die die fortschreitende Zivilisierung hervorheben und gleichzeitig verhüllen, was sie zerstören, zurückweisen und entwerten mussten, um ihren eigenen Vormarsch zu rechtfertigen. Und in Ihrem Kopf breitet sich der Gedanke aus, dass, wenn die Spanier und später die Franzosen und Briten und auch die Holländer den Kolonialismus rechtfertigten, indem sie auf einen Diskurs von Zivilisation und Heilbringung setzten, es nun an der Zeit ist, anders zu denken, … nun ja … de-kolonial zu denken. Bedeutet dies, das Verlernen zu lernen? Wahrscheinlich ist es das. Und ganz plötzlich erfasst es Sie mit noch nicht da gewesener Klarheit, als Sie mit Ihrem Blick auf Ihre eigenen Augen im schwarzen Spiegel zwischen der Statue und La mujer barbuda treffen: es ist das dekoloniale Denken hinter diesen Kompositionen, nicht einfach die Komplexität. Oder falls es doch die Komplexität sein soll, ist es eine solche, die von den kolonialen Machtverhältnissen strukturiert ist, welche in der Ausstellung enthüllt werden.

II. Jetzt können Sie mit einem Gefühl der Zufriedenheit vor sich hin lächeln, und als Sie sich zum nächsten Ausstellungsgegenstand bewegen, fangen Sie an die Aussagekraft dieser Komplexität zu begreifen. Sie wissen, dass Sie, wenn Sie Museen besuchen, aus irgendeinem Grund zuerst den Titel des Ausstellungsobjekts oder der Installation ansehen und dann erst das Gemälde, die Skulptur oder die Installation selbst betrachten. Diese hier heißt Inzest, Narzissmus und Melancholie. Dann konzentrieren Sie sich auf das Bild und reden zu sich selbst.

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Abbildung 5: Inzest, Narzissmus und Melancholie

Hm, murmeln Sie den Monolog fortführend. Mal sehen, ob ich mir daraus was zusammenreimen kann, ob ich lerne zu verlernen. Neben Ihnen ist wieder der Kunsthistoriker. Er lehrt Sie, dass die nichtgespiegelten Figuren, die von hinter dem Glas auf Sie blicken, ein Porträt von Philipp IV. und Anna darstellen, das um 1607 herum gemalt wurde und jetzt im Kunsthistorischen Museum in Wien zu sehen ist. »Ha!«, sagen Sie in einer spontanen Reaktion und fühlen, dass das Verlernen funktioniert. »Und die sitzende Figur und der Behälter daneben?«, fragen Sie. »Das weiß ich nicht«, antwortet Ihr Gesprächspartner. Aber die Person zu Ihrer Rechten, von der Sie bald erfahren, dass er ein Archäologe ist, hakt ein und sagt: »Ich denke, dass die sitzende Figur aus Monte Albán kommt und zur Sammlung des Nasher Museums gehört. Die meiste Zeit wird es gelagert, aber nicht ausgestellt. Und ich denke, das Gefäß mit dem Bildnis eines Jaguars kommt aus dem Südwesten Nicaraguas. Tatsächlich gehört diese Statue auch zur Sammlung des Nasher Museums.« »Oh«, sagen Sie spontan, da die Gedanken in Ihrem Kopf zu kreisen beginnen bei dem Versuch, Philipp und Anna mit einer sitzenden Figur mit einer Schlangenmaske und einem Gefäß mit einem Jaguarbildnis darauf zu verknüpfen. »Das waren also alles zeitgleiche und parallele Entwicklungen …«, denken Sie. Ihre Gedanken, in diesem Moment verschwommen, kehren wieder zu dem zurück, was Sie in Ihrem Grundstudium gelernt haben: Als die Spanier ankamen, endete die mesoamerikanische Geschichte und es gab einen Neubeginn. Die von nun an von den Europäern gemachte Geschichte erfand das neue Amerika und setzte damit den Zeitpunkt fest, der die Zivilisationen der Maya und Azteken in die

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Vergangenheit verwies. Und wieder ergibt diese Szenerie Sinn, indem Sie die gleiche Logik wie zuvor anwenden. Sie ermahnen sich, dass Sie verlernen müssen, um wieder zu erlernen. Aber jetzt müssen Sie etwas über den Black Mirror in Erfahrung bringen. Hm … hier müssen Sie lernen bei gleichzeitigem Verlernen. Der Kunsthistoriker steht noch immer neben Ihnen. Deshalb fragen Sie ihn: »Wissen Sie zufällig, wofür der Black Mirror steht?« »Aber selbstverständlich. Von ungefähr 1700 bis 1850 machten Maler und erste Touristen in Europa Ausflüge in die Natur und nahmen dabei schwarze, runde Spiegel mit, ähnlich der Obsidianscheibe in der Mitte dieser Installation hier. Die Europäer nannten diese Objekte Claude-Glas und setzten sie dazu ein, die Abbilder schöner Landschaften, die im dunklen Glas gespiegelt und so kurzzeitig aufgefangen wurden, zu betrachten. Diese Suche nach gefälligen, pittoresken Landschaftsbildern, die im Spiegel geformt wurden und den Kompositionen von Landschaftsgemälden glichen, beeinflussten die Landschaftsgestaltung und die ästhetische Haltung gegenüber der Umwelt. Die Geschichte des Claude-Glases und des Pittoresken deutet darauf hin, dass bestimmte Völker eher als Teil der natürlichen Landschaft denn als Teil der menschlichen Zivilisation oder Kultur angesehen wurden.« Jetzt erweitern Sie Ihre eigene Gedankenwelt, indem Sie neu erlernen. So dann, denken Sie, was wir im Black Mirror erkennen können sind, anstelle von liebenswürdigen Indianern oder unzähligen Touristenfotos, die heutzutage gemacht werden, die pittoresken Eingeborenen aus Spanien. Die Spanier oder Europäer im Allgemeinen sind nicht mehr die Beobachter, die nicht beobachtet werden, sondern werden jetzt selbst betrachtet, und zwar unter dem Gesichtspunkt, wie sie in den Amerikas hochentwickelte Zivilisationen zerstörten.

III. Und so kommt es, dass Sie sich zu dritt im Café des Nasher Museums wiederfinden und über den Black Mirror/Espejo Negro nachsinnen. »Aber da gibt es noch einen anderen Punkt«, sagen Sie: »Warum Black Mirror/Espejo Negro, wenn weder die Maya noch die Azteken Spanisch als ursprüngliche Sprache hatten. Es gibt ein Latino- oder,

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man könnte sagen, ein Chicano-5 oder hispanisches Element in der Komplexität dieser Installation.« »Selbstverständlich«, antwortet der Archäologe. »Ich weiß, dass Pedro Lasch Mexikaner ist und ich vermute, dass die Gesamtsicht der Installation nicht archäologisch ist«, (»Genau so wenig wie sie über die Geschichte der spanischen Malerei ist«, wirft der Kunsthistoriker ein), »sondern ein ästhetischer politischer Akt.« »Ein ästhetischer politischer Akt?«, fragen Sie, nicht weil Sie nicht verstehen, was der Archäologe sagt, sondern weil Sie darüber noch nicht nachgedacht haben und gerne ausführlicher darüber sprechen möchten. »Ja«, sagt der Archäologe. »Sie sehen, Lasch ist kein Archäologe, der in den Stätten gräbt, um die Überreste von Kulturen zu finden, die von den erobernden Zivilisationen begraben wurden. Er gräbt im Kellergeschoss des Museums und legt frei, was Museen ganz allgemein nicht regelmäßig ausstellen – aus welchen Gründen auch immer. Es ist nicht so, dass die Öffentlichkeit nicht daran interessiert wäre. Die meiste Zeit sind es die Museen, welche bei der Öffentlichkeit kein Interesse an bestimmten Fragen oder Themen wecken wollen, die als weniger bedeutsam als andere angesehen werden.« »Haben Sie bemerkt«, unterbricht der Kunsthistoriker sich an Sie wendend, »dass in diesem Museum zu genau diesem Zeitpunkt eine gut beworbene und spektakuläre Ausstellung mit dem Titel Von El Greco bis Velázquez gezeigt wird?« »Aber sicher«, antworten Sie. »Ich habe sie noch nicht gesehen. Aber ich reise oft nach Madrid und besuche jedes Mal, wenn ich dort bin, das Museo del Prado. Hauptsächlich möchte ich mir jeweils den Triumph des Todes von Bruegel ansehen, doch geschieht es mir dann immer, dass ich bei den spanischen Gemälden lande.« »Warum Der Triumph des Todes?«, fragt der Kunsthistoriker. »Weil er mir als eine realistische Vorstellung der heutigen westlichen kapitalistischen Gesellschaft erscheint.« »Hm«, murmelt der Kunsthistoriker. Er ist der Autor eines Buches über Pieter Bruegel, das vor nicht allzu langer Zeit veröffentlicht wurde. »Aber was wollten Sie sagen?«, fragen Sie den Archäologen, indem Sie sich zu ihm wenden. »Ich erinnerte mich gerade an Fred Wilsons Eröffnungsinstallation im Museum der Weltkulturen in Göteborg. Sind Sie mit Fred Wilson vertraut?«, fragt Sie der Archäologe. »Nein«, sagen Sie, während der

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Chicano bezeichnet in den USA Menschen mit mexikanischer Abstammung (A.d.Ü.).

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Kunsthistoriker mit ja antwortet. »Übrigens, Jennifer González, die hier diese Woche noch einen Vortrag halten wird, hat in ihrem Buch Subject to Display: Reframing Race in Contemporary Installation Art ein wunderbares Kapitel über Wilson verfasst. Ich glaube, es wurde von MIT Press veröffentlicht.« »Jedenfalls«, führt der Archäologe weiter aus, »Jette Sandahl, die Leiterin des Museums der Weltkulturen, die Fred Wilson eingeladen hatte, musste erkennen, dass es ein ziemlich riskantes Unterfangen ist, ihn in ein Museum zu lassen. Er gräbt sich methodisch durch die Sammlung und bringt Exponate zum Vorschein, die seinem Zweck dienlich sind: ein Puzzle von sonderbaren Kleinteilen zu schaffen und auf diese Weise eine unerwartete und vollkommen neue Perspektive zu ermöglichen – oft mit einer subtilen, aber beeindruckenden Darstellung von Macht und Ausgrenzung. Es gibt in der Tat das Gerücht, dass Sandahl kurz nach dem Skandal, den Wilsons Installationen im gesitteten Göteborg hervorgerufen hatten, zurücktrat. Ich glaube, sie ist jetzt in Neuseeland. Aber egal, ich schweife hier vom Thema ab. Um wieder zum Thema zurückzukommen: Sandahl meinte, dass sie Fred Wilson gebeten habe ihr dabei behilflich zu sein, ihre eigenen maßgeblichen Dämonen freizulegen. Er ist sehr geschickt darin, auf interessante und subtile Art und Weise die Grundfesten kolonialer Macht, evolutionstheoretischer Annahmen, sowie auch von Rassismus und Sexismus, welche selbst zu Stützen der Gesellschaft geworden sind, aufzuzeigen.«6 Der Archäologe fährt fort: »Was ich an Fred Wilsons Arbeit und insbesondere an der Ausstellung im Museum der Weltkulturen faszinierend finde und was ich mit Black Mirror/Espejo Negro in Verbindung bringe, ist eine beharrliche Ermahnung daran, dass seine Erfahrung, seine Existenz und sein Blickwinkel zwar westliche Denkkategorien teilen, er aber auch die Erfahrungen und das Wissen von hunderttausenden Afrikanern in den Amerikas mit denkt – versklavte Afrikaner, entkommene Sklaven, Religionen wie Candomblé und Voodoo, Santería und Rastafari. In den Arbeiten von Pedro Lasch werden wir unentwegt an einen anderen Aspekt desselben historischen Prozesses erinnert, in dem alte Zivilisationen in diesem Land zu Eingeborenen gemacht wurden.« »Hm, ich denke da zum Beispiel an Las Meninas«, murmeln Sie zu sich selbst, aber doch laut genug, um gehört zu werden. »Las Meninas?!«, ruft der Kunsthistoriker überrascht aus. »Was

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http://www.thevitalspark2007.org.uk/speakers/jette-sandahl

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hat Las Meninas mit all dem zu tun?« »Ich werde es Ihnen gleich erklären« (und Sie verspüren wieder dieses Gefühl des Verlernens), »aber bitte erzählen Sie Ihre Geschichte zuerst zu Ende«, sagen Sie zum Archäologen. »Interessant, Las Meninas, ich glaube, ich weiß, welche Verbindung Sie herstellen wollen. Aber was ich sagen wollte ist, dass eine der Stärken von Fred Wilsons Arbeiten darin begründet liegt, dass seine Exponate und Installationen am Nerv der Sache rühren: Die Dämonen sind in der Tat Kategorien und Zuschreibungen, die als selbstverständlich angesehen werden. Wilson deckt diese Kategorien auf, er legt sie frei, entblößt sie und wir finden Gefallen daran oder reagieren negativ darauf, je nachdem, ob wir uns in der nach diesen Kategorien klassifizierten Welt wohlfühlen oder unterdrückt, in die Enge getrieben, verdächtig in der Art und Weise, wie wir selbst in diese natürliche Ordnung fallen, welche die Dämonen-Kategorien zu Etiketten machen. Fred Wilson ist amerikanischer Staatsbürger, aber er ist nicht europäischer Abstammung. Das bedeutet, dass seine Subjektivität und seine Perspektive von Palenques und Quilombos (d.h. zum Beispiel von sozialen Formationen von aus der Sklaverei geflohenen Afrikanern) geformt wird und nicht von Athen und Rom (das Äquivalent von Palenques und Quilombos für Europäer und Menschen europäischer Abstammung in Amerika, der Karibik, Australien oder Südafrika). Worauf ich hinzuweisen suche, ist die radikale Abkehr und Loslösung von westlichen Vorstellungen von Kunst und Museumsinstallationen, die Künstler wie Pedro Lasch und Fred Wilson vollziehen. Es werden hier verschiedene Welten und Subjektivitäten geschaffen. Dabei ist auch interessant, dass, wenn diese Art der Installation in eine Ware umgewandelt wird, da Sie sich mit der kapitalistischen Zivilisation beschäftigen« – der Anthropologe spricht Ihren vorherigen Kommentar zu Bruegel an – »es sehr gut sein kann, dass es die Aneignung einer Ware ist, die beginnt, das System von innen auszuhöhlen, eine vergiftete Ware, sozusagen.« »Oh, ich verstehe«, sagen Sie. »Wenn ich also Ihrer Argumentation folge, haben wir es hier in Black Mirror/Espejo Negro mit einem tiefen« (und Sie zögern dieses Wort zu gebrauchen, aber es fällt Ihnen zu diesem Zeitpunkt kein anderes ein) »und mühevollen Schürfen zu tun. Ein Ausgraben von Vorstellungen der Moderne, des Mythos der Kunst, der Rolle des Museums in der Formung von Subjektivitäten und mit anderen Worten, deren Auftreten, das jenem eines Zauberers

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gleicht: Diesmal erkennen Sie es, ein andermal nicht.« »So was in der Art«, stimmt der Archäologe zu. Der Kunsthistoriker pflichtet bei und fügt einige Informationen über die Geschichte der Museen, einer westlichen Institution, die als Teil des Prozesses der nationalen Identitätsbildung in Europa entstand, hinzu. Dabei erwähnt er auch die Gründung des Louvre und des British Museums und die Schöpfung der Wunderkammer (Cabinet des curiosités) in der europäischen Renaissance, die einen Vorläufer des Museums darstellte. Worum es hier geht, ist, dass die Wunderkammer der Ort für die Sammlung von Objekten aus den europäischen Kolonien wurde. »Lassen Sie mich ein Beispiel geben«, sagt der Kunsthistoriker, während er einen Laptop nimmt, ihn auf den Tisch stellt und nach einem Bild auf der Festplatte sucht. »Hier, sehen Sie sich das an!« Abbildung 6: Museum Wormianum, 1655

»Später erfolgte die Trennung zwischen Kunstmuseen und naturhistorischen Museen, wobei die letzteren für die Kunst der europäischen Kolonien vorgesehen waren. Jetzt verstehe ich«, so der Kunsthistoriker weiter, »die Perspektive der Renaissance, die in dieser Darstellung so offensichtlich ist, wurde in Laschs Installation entfernt … Nicht nur sind wir mit dem Rücken der ausgestellten Skulpturen konfrontiert und sehen dunkle und graue Abbilder von spanischen Gemälden, sondern wir sehen auch uns selbst auf die Installation blicken. Der außenstehende Betrachter wird miteinbezogen in das, was er oder sie beobachtet.« »Bingo!«, unterbrechen Sie mit einem Lächeln und einem leichten Schlag auf den Tisch. »Das ist genau, wo Las Meninas ins Bild hinein-

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spielt. Sie sehen, was Velázquez tat und der französische Philosoph erklärte.« Sie zögern … »Michel Foucault …«, wirft der Kunsthistoriker ein. »Ja, er«, setzen Sie fort. »Was der eine abbildete und worüber der andere schrieb, war eine Verlagerung innerhalb der Geschichte der europäischen Perspektive, die dazu führte, dass das Auge der Betrachter/-innen beobachtet wird. In Las Meninas sehen die Betrachter/innen, was die Subjekte, die gemalt werden (König und Königin), sehen. Velázquez kehrt also die Perspektive um, indem er sie im Spiegel bricht. Dies ist vergleichbar mit Cervantes Roman, in dem Don Quijote im zweiten Teil über seine Abenteuer, die uns bereits im ersten Teil erzählt wurden, liest. Beide, Velázquez und Cervantes, folgen der Entstehung des modernen Subjekts und emanzipieren es aus ihrer eigenen Vergangenheit, obwohl sie, ohne es zu wollen, bereits die Existenz des kolonialen Subjekts in ihrer eigenen Gegenwart ausradieren. Ich spreche hier nicht nur von den Spaniern und deren Landung in den Amerikas, sondern auch und vor allem, über die indigene und afroamerikanische Bevölkerung, die nicht passive und glückliche Empfänger der europäischen Zivilisation waren, sondern sich in einen aktiven Prozess der Entkolonialisierung hineinbegaben. Es ist diese Genealogie, mit der sich Lasch und Wilson in ihren Arbeiten, in ihrer dekolonialen Ästhetik, beschäftigen und nicht jene von Velázquez und Cervantes.« Jetzt merken Sie, dass Sie dabei sind zu predigen, aber Sie wollen den Prozess des Verlernens/Wiedererlernens testen. »Die Umkehrung der Perspektive«, fahren Sie fort, »und die Spiegelung, die den Blick des Betrachters einfängt in Las Meninas, sind ein großer Moment in der Herausbildung des modernen europäischen Subjekts. Dieses moderne Subjekt ist jedoch bereits mit dem Kolonialismus verknüpft. Das ist bei Cervantes offensichtlicher. Der Erzähler des Don Quijote ist Cide Hamete Benengeli, ein arabischer Chronist. Aber, voilà, alle Verweise beziehen sich auf Wissen in Latein, Griechisch und Spanisch, und kein einziger Verweis auf die großen Denker der islamischen Vergangenheit ist zu finden. »Ich kann dem nicht folgen«, sagt der Kunsthistoriker. »Ich auch nicht«, fügt der Archäologe hinzu. »In Ordnung, hören Sie und passen Sie auf, dass Sie nicht professorenhaft werden. Ich zeige Ihnen, wie mit Lasch und Wilson, aber vor allem mit Lasch, die Verwendung des Spiegels etwas anderes ins Blickfeld rückt. Zunächst einmal werden beide Installationen bzw.

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Ausstellungen von modernen, aber auch kolonialen Subjekten ausgedacht und inszeniert. Sind nicht Afro-Amerikaner und Chicanos koloniale Subjekte?« »Ja, das könnte man so sagen«, sagt der eine und der andere nickt zustimmend. »Na, dann, was wir hier haben, ist also nicht nur eine Umkehrung der Perspektive, in der der Betrachter oder die Betrachterin den Maler ansieht, sondern eine, in der das moderne Subjekt (durch seine Fähigkeiten und sein Wissen) abgewertet wird und sich im Schatten des Spiegels, welcher die Inkarnation des Kolonialismus darstellt, wiederfindet. Wilson, wie Sie sagten«, den Archäologen ansprechend, »erreicht ein ähnliches Ziel, aber er bringt das in den Vordergrund, was das Museum im Untergrund aufbewahrte, nämlich im Keller. Die Umkehrungen und Brechungen sind hier in der Tat ein Beitrag zur Formierung des dekolonialen Subjekts auf dieselbe revolutionäre Art und Weise, wie Velázquez und Cervantes zur Bildung des modernen Subjekts und moderner Subjektivitäten beigetragen haben. Deshalb sind Wilson und Lasch die wahren Cide Hamete Benengelis, die uns die Geschichte des Schweigens des modernen Subjekts erzählen! Picassos Las Meninas aus dem Jahr 1957 ist nur ein Federstrich und eine Verdrehung des modernen europäischen Subjekts, das in seine postmoderne Phase eintritt. Man kann sagen, dass Picasso das Werk von Velázquez innerhalb der europäischen Kultur und Kosmologie dekonstruiert. Im Gegensatz dazu dekolonisieren Wilson und Lasch die Ästhetik und ihr Fundament, das moderne/postmoderne Subjekt.« »In Verbindung stehend mit dem«, meint der Kunsthistoriker, »was ich vorher ausdrücken wollte, als ich von der RenaissancePerspektive sprach, ist, dass es mir nun erscheint, als wäre das, was Pedro Lasch und Fred Wilson tun, nur eine Loslösung von der Geschichte des Museums und dessen Komplizenschaft mit der Kunst.« »Das ist die Bedeutung von im Keller des Museums schürfen, wie Sie vorhin sagten«, fahren Sie fort dieses Mal den Archäologen ansprechend. »Das ist interessant«, und Sie fügen hinzu: »Nun, wenn Kunstmuseen Teil des imperialen Imaginären sind, das einerseits zur Schaffung und zum Gebrauch unserer eigenen Vorstellung von uns als Museumsbesucher/-innen und dessen, was wir als Kunst begreifen, beigetragen und andererseits unser Bild des naturhistorischen Museums geformt hat – was wiederum eine Unterscheidung zwischen Kunst- und natürlichen Gegenständen schafft – dann sind das, was wir in Black Mirror/Espejo Negro sehen, Objekte, die zum naturhistorischen Museum und nicht zum Kunstmuseum gehören, und deshalb be-

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finden sie sich im Keller.« »Genau«, sagt der Archäologe. »Nun …«, fahren Sie fort, »wenn all das nur imperiale Geschichte und deren koloniale Auswirkungen darstellt, können wir dann sagen, dass Pedro Laschs und Fred Wilsons Installationen dekoloniale Interventionen sind?« »Ich glaube schon«, sagt der Archäologe. »Die wichtigsten Protagonisten dieser Installation sind nicht Teil der westlichen Geschichte, aber gleichzeitig werden sie hier nicht als Kuriosität oder exotische Beispiele vergangener Zivilisationen ausgestellt.« »Nein, sie werden prominent in Szene gesetzt und im Angesicht der dunklen und grauen Gestalten der europäischen Zivilisationen beleuchtet. Sie sehen, das ist also der Unterschied zwischen touristischem Exotismus oder dem National Geographic und den Installationen von Lasch und Wilson.« »Jetzt verstehe ich«, fügen Sie zum Archäologen gewandt hinzu, »was Sie vorher meinten, als Sie sagten, dass diese Installation ein Akt ästhetischen, epistemischen und politischen Ungehorsams sei. Black Mirror/Espejo Negro hinterfragt, wie wir fühlen (Sinn, aisthesis). Es sagt uns, dass unser naturalisiertes Verständnis von Wissen unvollständig ist, und inszeniert damit einen politischen Akt, der uns einlädt, mit dem westlichen Kodex zu brechen … Aber, die Obsidianscheibe in der Mitte der Installation. Wie erklären Sie sich das?« Abbildung 7: Obsidianscheibe in der Ausstellung Black Mirror/Espejo Negro

»Oh, das ist eine lange und komplizierte Geschichte«, erwidern der Archäologe und der Kunsthistoriker gleichzeitig. Der Kunsthistoriker gewinnt Oberhand und erwähnt, dass Arnaud Maillet, Autor von The

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Claude Glass. Use and Meaning of the Black Mirror in Western Art am Ende der Woche ebenfalls einen Vortrag halten wird. »Lange Rede, kurzer Sinn. Wie auch schon gut von Pedro Lasch selbst zusammengefasst, kann man sagen, dass es zwei Phasen in der Geschichte des schwarzen Spiegels gibt. Die erste Phase geht zurück ins europäische Mittelalter und reicht bis zur Renaissance. Sie war an Rituale der Wahrsagerei und Zauberei geknüpft. In der zweiten Phase, in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, als der schwarze Spiegel von Claude Lorraine umgedeutet wurde, war er an die Geometrie und nicht mehr an die Magie gebunden.« »Aber es gibt noch eine dritte Phase, die nicht in Ihre Chronologie passt«, gibt der Archäologe dem Kunsthistoriker zu bedenken. »Die Verwendung und Bedeutung von etwas Ähnlichem, was Sie den schwarzen Spiegel nennen, in den altertümlichen Zivilisationen der Maya und Azteken, lange bevor die Spanier oder Briten einen Fuß in dieses Land gesetzt hatten. Aber ich denke, was für die Installation relevant ist, ist jener Moment, in dem die europäischen und mesoamerikanischen Geschichten im sechzehnten Jahrhundert aufeinandertreffen und sich unter wohl strukturierten Machtverhältnissen vermischen. Man könnte sagen, dass der Schwarze Spiegel, der im Zentrum dieser Installation steht, das Band zwischen den beiden Seiten, d.h. zwischen der europäischen Moderne und dem europäischen Kolonialismus, die den mesoamerikanischen Kulturen aufgezwungen wurden, formt. Hier«, sagt er und kramt ein Stück Papier aus seiner Tasche hervor. »Ich habe das aus dem Internet kopiert. Es wurde von Pedro Lasch selbst verfasst. Es ist eine gekürzte Version, die ich für meine Studierenden vorbereitet habe, aber Sie finden es auch im Internet: Die Azteken verbanden den Obsidian unmittelbar mit Tezcatlipoca, dem tödlichen Gott des Krieges, der Zauberei und sexuellen Verfehlung. Demgegenüber verbot in Europa, das von ähnlichen Verbindungen mit Zauberei und Devianz bedroht war, Papst Johannes XXII. die Verwendung von Spiegeln für religiöse Zwecke im Jahr 1318. Doch Jahrhunderte später sollten Obsidianscheiben aller Formen und Größen auf christlichen Altären in ganz Spanien und seinen Kolonien eingeführt werden …

Sie sehen also, wie parallele Geschichten zusammenkamen. Aber gemäß Lasch gab es eine weitere Wendung in der zweiten von Ihnen erwähnten Phase«, bedeutet der Archäologe dem Kunsthistoriker, »und

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das war, als der schwarze Spiegel seiner Vergangenheit, die mit Magie verbunden war, entledigt wurde und in eine Gegenwart eintrat, die mit Wissenschaft und Technologie verknüpft war.« »Es war das Zeitalter des Beobachters, dargestellt in Jonathan Crarys Techniken des Betrachters«, vervollständigt der Kunsthistoriker. »Das ist es, danke. Nun«, fährt der Archäologe fort, »das achtzehnte Jahrhundert war nicht nur die zweite Phase der Geschichte des schwarzen Spiegels, sondern auch der Expansion des europäischen Kolonialismus. Das also sagt Pedro Lasch über den komplexen Moment, als der Funktionswandel des schwarzen Spiegels Hand in Hand mit der Veränderung in der Vormachtstellung der imperialen europäischen Mächte ging. Dieses optische Gerät markiert einen Übergang zu einem neuen Zeitalter, als Ritual und Magie wissenschaftlichem Illusionismus und kolonialistischer Expansion wichen. Wir verwenden den schwarzen Spiegel nicht mehr dafür, mit den Toten zu sprechen oder den Blick auf Objekte zu werfen, die etwas länger bestehen als wir selbst. Dennoch schweben noch immer kleine schwarze Augen in Form von Kameras in vielen öffentlichen Gebäuden und Plätzen um uns herum. Diese schwarzen Spiegel fungieren noch immer als Bindeglieder zwischen dem Gegenwärtigen und dem Abwesenden, dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dem Kolonialherren und dem Kolonisierten.« Sie also, der Reisende, der stillschweigend und aufmerksam dem Gespräch zwischen dem Archäologen und dem Kunsthistoriker gefolgt ist, fassen zusammen, ohne es zu merken: »Der Obsidianspiegel funktioniert wie der Schrägstrich ›/‹, der Modernität/Kolonialismus trennt und gleichzeitig verbindet. Diese beiden Erscheinungsbilder der europäischen Expansion, die sowohl über eine magische als auch eine epistemische Macht verfügen (ich benutze hier das Oxymoron ganz bewusst)«, sagen Sie, »eröffnen für Pedro Lasch die dekoloniale Perspektive, welche die Installation in Bewegung setzt.« Sie wissen nicht, ob Ihre Gesprächspartner einverstanden sind, aber sie schweigen und die Situation wird dadurch aufgelöst, dass jemand zum Tisch kommt und die Bekanntschaft Ihrer Gesprächspartner macht.

Aus dem Englischen von Nina Bandi und Michael G. Kraft

Kunst jenseits von Gesellschaft Subversion und Rekuperation der zeitgenössischen Kunst S UZANA M ILEVSKA

Die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Gesellschaft, sei es ein Verhältnis von Komplizenschaft oder Konflikt, Widerstand oder sogar Subversion, beinhaltet immer eine bestimmte paradoxe Vorstellung: dass Kunst irgendwie über oder jenseits von Gesellschaft operiere. Da sich subversive Künstler/-innen nicht mit dem bestehenden gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Mainstream einverstanden erklären, scheint es, als hätten wir die Vorstellung von Kunstschaffenden als eine Art von Verrückten oder Ausgestoßenen noch nicht überwunden. Daher rührt die Idee, dass es ihnen einerseits erlaubt ist und sie dazu fähig sind, jenseits oder trotz gesellschaftlicher Normen zu existieren und andererseits, dass sie als eine Art Märtyrer aufgefasst werden, die es ertragen müssen, von der Gesellschaft, innerhalb derer sie tätig sind, nicht verstanden zu werden. In diesem Beitrag möchte ich einige der wichtigsten Ursprünge derart paradoxer Anschauungen untersuchen und der Frage auf den Grund gehen, wie, d.h. mit welchen Methoden und Mitteln, diese Vorstellungen von den Künstlern und Künstlerinnen selbst genährt werden. Wann immer ich den Ausdruck Subversion im Kunstkontext vernehme, kommt mir unverzüglich eine simplifizierte Unterscheidung zwischen Diversion und Subversion in den Sinn, von der ich erstmals

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im Einführungskurs zur Allgemeinen Volksverteidigung (ONA)1 erfahren hatte. Die Unterscheidung zwischen Diversion und Subversion (gemäß meiner dilettantischen Notizen als Studentin der Kunstgeschichte in Skopje) wurde als Gegensatz von Quantität und Qualität der Handlungen gegen die feindliche Streitmacht und Infrastruktur erklärt. Diversion wurde als diskrete Intervention definiert, die darauf ausgerichtet war die Aufmerksamkeit des Gegners abzulenken, während Subversion als genau geplante Aktivität mit konkreten Folgewirkungen aufseiten des Gegners dargelegt wurde. Der Hauptgrund, weshalb ich auf diese Unterscheidung mit Ironie verweise, hat mit den Umständen zu tun, unter denen ich mir dieses Wissen aneignete: als Studienanfängerin im Fach der Kunstgeschichte, das ich als eines der apolitischsten Themen gewählt hatte, um letztlich doch wieder mit der wichtigsten kommunistischen Vorschrift in Ex-Jugoslawien konfrontiert zu sein – es führt kein Weg an Politik, Patriotismus und Krieg vorbei.2 Eine derartige Terminologie der Kriegsführung kann jedoch auch auf die aktuellen Kunststrategien angewandt werden, mit denen Künstler/-innen versuchen durch konkrete Handlungen zu sozialen Transformationen beizutragen. Sie zielen darauf ab, die etablierten gesellschaftlichen Hierarchien und Vorschriften zu verunglimpfen, welche gemäß ihrer Auffassung einer Neugestaltung bedürfen. Nichtsdestotrotz werden die Künstler/-innen als eine Art gesellschaftlicher Kontrollmechanismus positioniert, der beurteilt, was gut und schlecht ist für das gesellschaftliche Wohlbefinden.

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Allgemeine Volksverteidigung (auf mazedonisch: Opshto narodna odbrana [ONA]) war ein Kurs, den alle Abschlussklassen der Grundschule und alle Studienanfänger/-innen in Ex-Jugoslawien belegen mussten ungeachtet dessen, ob sie Kunst, Geistes-, Sozial- oder Naturwissenschaften studierten. Dies gründete auf der Überzeugung, dass keine Berufsarmee derart schlagkräftig sei wie eine partizipative Armee der territorialen Verteidigungskräfte, die aus einer ganzen Nation bestand und welche die grundlegenden Konzepte der Kriegsführung verstand und bereit war, für das Vaterland zu kämpfen. »Nichts kann uns überraschen«, war das Diktum dieser Doktrin.

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Neben Allgemeiner Volksverteidigung war auch Marxismus ein verpflichtender Kurs aller Studienanfänger/-innen.

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Das anfangs erwähnte Unbehagen und die Assoziation mit einer gänzlich anderen kontextuellen Verwendung des Begriffs Subversion veranlasste mich, die Reflexion über meine eigenen Beweggründe aus der Vergangenheit für meine Zurückhaltung gegenüber der Diskussion von politischen Fragen und von politischen Implikationen künstlerischer Praktiken in Angriff zu nehmen.3 Mit diesem Beitrag möchte ich zeigen, dass die Beleuchtung der Frage der Einstellung zum Politischen im Kontext von post-sozialistischen Ländern mit besonderem Fokus auf Einparteiensysteme notwendige Aspekte zu dieser Debatte liefert. Der Grund, warum ich diese Aspekte für bedeutsam halte, besteht nicht nur einfach darin, dass ich in einem solchen System geboren und ausgebildet wurde. Es hat auch damit zu tun, dass die Künstler/-innen, deren Arbeit ich später diskutieren werde, ihre künstlerischen Laufbahnen unter ähnlichen Umständen begonnen haben. Genauer gesagt handelt mein Beitrag von Kunst in einer Übergangsperiode, nämlich in der Zeit des Wandels von sozialistischen zu post-sozialistischen Gesellschaften in den Ländern von Ex-Jugoslawien. Ich werde versuchen etwas Licht auf diesen Zeitabschnitt zu werfen, indem ich zuerst eine Unterscheidung nicht zwischen Kunst und Aktivismus treffe, sondern zwischen einer Kunst, die über das Politische spricht und einer Kunst, die in den Bereich des Politischen eintritt und darin operiert. Selbst aktivistische Projekte können in Wirklichkeit darauf beschränkt sein, an Diskussionen über das Politische teilzuhaben, ohne aber das Politische zu transformieren und umgekehrt können Kunstprojekte Eingang in die politische Sphäre finden und diese verändern. Auf diese Weise möchte ich das Problem des Sichtbar-Machens des Politischen als solches behandeln. Das ist etwas, was Kunst, welche sich mit politischen Fragen beschäftigt, das heißt, welche aus dem Inneren des Politischen heraus agiert, und Aktivismus als gemeinsamen Ausgangspunkt haben: das Bestreben, die Muster sichtbar zu ma-

3

Zumindest seit den letzten 15 Jahren kuratiere und schreibe ich ausschließlich über Kunstprojekte, die sich mit dem Verhältnis von gesellschaftlichem Sein und Handeln beschäftigen. Ich beziehe mich dabei hauptsächlich auf meine intellektuellen und philosophischen Interessen aus der Zeit der 1980er Jahre, also vor dem Zusammenbruch Jugoslawiens: abstrakte Kunst und Formalismus, Modernismus, klassische Sprachen und Philosophie, Phänomenologie, analytische Philosophie, etc.

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chen, innerhalb derer das Politische agiert und Wege zu finden, dieses zu unterminieren. Um näher auf das Phänomen der Abjektion oder Verwerfung des Politischen, wie zu Beginn dieses Textes geschildert, einzugehen, möchte ich aufdecken, woher dieses politisch Abjekte stammt. Dafür ist es erforderlich, in die 1980er Jahre zurückzugehen und sich auf die heute nicht mehr existente kulturelle und politische Geografie von ExJugoslawien zu beziehen. Zunächst möchte ich noch erwähnen, dass der Begriff des Abjekten in seinem ursprünglichen theoretischen Kontext – in Julia Kristevas Buch The Powers of Horror – religiöse Wurzeln hat und hauptsächlich von primärer Verdrängung und Überschreitung handelt. Sie schreibt: »Unbehagen, Unruhe, Taumel, die von einer Ambiguität herrühren, welche durch die Gewalt der Auflehnung einen Raum ausweist, aus dem Zeichen und Objekte hervorgehen.« (Kristeva 1982: 10) Die Effekte der Abjektion führen für Kristeva jedoch zur Konstitution der eigenen Kultur: »Das Abjekte ist die Grenze, nicht Ich, nicht das Andere. Aber auch nicht Nichts. Ein ›Etwas‹, das ich nicht als Ding erkenne. Eine Masse an Bedeutungslosigkeit […] an der Grenze von Nicht-Existenz und Halluzination, von einer Realität, die mich auslöscht, wenn ich sie anerkenne. Das Abjekte und die Abjektion sind da meine Rettungsanker. Der Leitfaden meiner Kultur. (Kristeva 1982: 2) 

Das politisch Abjekte war in den ex-kommunistischen Ländern definitiv der Leitfaden für die eigene Kultur, da das eigens entwickelte Gefühl des Unbehagens an der politischen Kultur die einzige Alternative war, sodass beides nicht vermischt werden durfte. Im Falle der Vermischung von Politik und Kultur wäre Abscheu die einzige Folge gewesen, so wie bei der Verletzung von Tabus in der Mischung von Nahrung, über die Kristeva schreibt. Ich bin nicht sicher, ob Kristeva der Idee der Herauslösung des Abjekten aus seinem ursprünglichen Kontext und der Anwendung dieses Konzepts auf einen politischen und sozialen Kontext zustimmen würde. Die Tatsache, dass sie nie ein Buch schrieb, das ausdrücklich ihre bulgarische Vergangenheit behandelt, bringt einen auf den Gedanken, dass dies möglicherweise ein Ergebnis einer ähnlichen Zurückweisung bzw. Abjektion der Erfahrung des Politischen in ihrer Jugend war. (Sie thematisierte das Politische jedoch in Strangers to Ourselves und als

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sie über die politische Theoretikerin Hannah Arendt schrieb [vgl. Kristeva 2000]). Dies ist eine der möglichen Antworten auf die Frage, warum sehr viele Künstler/-innen im Osten bisher nicht die Möglichkeiten erkundet haben, die durch aktivistische künstlerische Praktiken eröffnet werden, obwohl sie paradoxerweise selbst ein stärkeres politisches Bewusstsein haben müssten, da sie in kommunistischen Gesellschaften herangewachsen sind. (Aber vielleicht wird die Abscheu vor politischem Engagement von jenen unterschätzt, die nicht als Jugendliche in Allgemeiner Volksverteidigung geschult wurden). In den späten 1980er und frühen 90er Jahren gab es kaum Kunst in Osteuropa, welche sich nicht mit den politischen Fragen der Auflösung der kommunistischen Länder befasst hätte, und es war in dieser Zeit, dass das Politische sichtbar wurde (im Gegensatz zu den klandestinen künstlerischen Praktiken aus den früheren Perioden, als selbst abstrakter Kunst eine gewisse politische Bedeutung zukam). Das heißt aber noch lange nicht, dass diese Künstler/-innen Aktivisten und Aktivistinnen waren. Obwohl es nun einige Künstler/-innen und künstlerische Gruppen gibt, die gerade begonnen haben, sich der Agitation und dem Aktivismus zu verschreiben, ist die Zahl anderer aktivistischer Gruppen und Organisationen doch insgesamt ungleich größer (während der Wahlen in Mazedonien im Jahre 2003 gab es 160 Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs), die sich alle einer Vereinigung anschlossen, welche die Koalition von zwei Parteien unterstützte, die die Wahlen gewann und bis heute das Land regiert). In den 1980er Jahren gab es in Ex-Jugoslawien für Intellektuelle, Künstler/-innen, Schriftsteller/-innen und anderweitig beruflich Tätige, die vom kommunistischen Parteiprogramm nicht überzeugt waren, kaum Wahlmöglichkeiten hinsichtlich politischer Positionen. Es gab jedoch hauptsächlich drei Optionen, welche unterschieden werden können. Alle waren notwendigerweise inoffiziell, illegal oder oppositionell. 1. Es war möglich, sich gänzlich von der einzigen offiziellen politi-

schen Partei zu distanzieren und sich heimlich des Status der Nicht-Zugehörigkeit zu rühmen (es sei denn, die Mitgliedskarte fiel zufällig aus der eigenen Brieftasche). Obwohl in den 1980er Jahren (insbesondere nach dem Tod von Tito, Jugoslawiens Führungsfigur, im Jahre 1981) einige der Schriftsteller/-innen, die

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Mitglieder der Kommunistischen Partei waren, journalistische Kommentare mit Titeln verfassten wie »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns«, war es möglich und sogar populär, intellektuell aktiv, und dennoch nicht Mitglied zu sein. Darüber hinaus wurden Parteimitglieder in den jenseits der Partei angesiedelten intellektuellen Gemeinschaften verachtet und waren daher gezwungen, unter sich zu bleiben und untereinander zu verkehren. 2. Die zweite Möglichkeit war die Domäne der Mutigsten. Man

konnte nationalistischen Bewegungen angehören, die zunächst heimlich, aber sehr bald öffentlich auftraten. Die Nationalisten und Nationalistinnen waren bereits in den 1980er Jahren öffentlich sicht- und hörbar, aber ihre Aktivitäten waren nicht legal. Sehr bald, in den späten 1980er Jahren, führten die verschiedenen nationalistischen Oppositionen in den jeweiligen Republiken die Aufteilung von Jugoslawien herbei, was zu ethnischen Konflikten führte, die in höchst grausame lokale Kriege mündeten. Diese beiden Positionen waren jedoch nicht voneinander isoliert. Es war möglich, Mitglied der Kommunistischen Partei und dennoch Nationalist/-in zu sein oder sich mit einer apolitischen Vergangenheit zu brüsten und dennoch heimlich der Partei anzugehören. 3. Letzteres war die ambivalenteste der möglichen Positionen – Mit-

gliedschaft in der Kommunistischen Partei, aber in der Öffentlichkeit nicht aktiv, dazugehören, ohne dabei zu sein. Sich des einfachen Zugangs zur Macht zu bedienen (garantiert waren nicht nur kleine Privilegien, sondern die Mitgliedschaft war auch für jede Position in der Universität oder leitende Funktion erforderlich) und sie dennoch zu kritisieren war eine Art von simulierter Opposition und wurde als schlimmste Form von Heuchelei betrachtet. Obwohl sie aus heutiger Perspektive als eine Pseudo-Opposition erscheint, war sie weder unschuldig noch sicher. Wurde ein heimliches Mitglied aufgedeckt, gab es keine Rückkehr in den eigenen intellektuellen Kontext und die ambivalente Haltung wurde von beiden getäuschten Seiten geahndet. Diese Position war wahrscheinlich die am häufigsten praktizierte und auch die komfortabelste, aber sie konnte nicht von langer Dauer sein.

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Ich möchte behaupten, dass sich diese Verschränkung verschiedener politischer Positionen auch noch heute in allen Ländern findet, die sich nach der Auflösung von Jugoslawien herausbildeten, eine Verschränkung, die Probleme für das Engagement in der Sphäre der Politik mit sich bringt. Die Parteien veränderten ihren Namen und tauschten ihre Führer aus, Mitglieder wechselten von einer Partei zur nächsten und tun dies auch heute noch. Die NGOs sind grösstenteils mit dieser chaotischen Möchtegern-Demokratie verstrickt. Vieles veränderte sich nach den kriegerischen Konflikten und das Bedürfnis, die eigene Einstellung zum Politischen infrage zu stellen und eine neue Position zu beziehen, kam auf. Die politische Ambivalenz der Vergangenheit vermischte sich mit dem politischen Erwachen in der Gegenwart und mündete in einer sehr spezifischen politischen Arena. Heute ist es nicht nur im Osten nahezu unmöglich geworden, das rechte und das linke, das demokratische und das konservative, das nationalistische und das fundamentalistische Lager zu unterscheiden. Diese Verschränkung von politischen Positionen spiegelt sich auch unmittelbar in der Kunstszene wider. Wie können wir von Künstler/-innen und Aktivist/-innen, die sich mit politischen Themen befassen, erwarten, konsequent in der Behandlung von etwas zu sein, das selbst nicht konsequent ist? Wenn die politische Arena ihre Sprache verändert, werden Künstler/-innen unvermeidlich darauf reagieren, umso mehr, wenn sie in einem politischen Rahmen agieren. Das heißt aber nicht notwendigerweise, dass sie mimetisch handeln. Das Beispiel der slowenischen Künstlergruppe IRWIN, einem Teil der NSK (Neue Slowenische Kunst) Bewegung, die sich 1983 formte und sich später in NSK Staat umbenannte, ist das beste Beispiel für ein solches Bedürfnis, die Sprache der Kunst und ihr Verhältnis zur Realität zu verändern. In diesem Zusammenhang möchte ich den Fall des bekanntesten Intellektuellen von Ex-Jugoslawien aufgreifen, Slavoj Žižek, ein slowenischer Philosoph, der in der frühen Phase seiner Karriere einen ähnlichen politischen Kontext durchlief (und dessen Name mit den Aktivitäten von NSK und Laibach verbunden ist, der Musikgruppe von NSK). 1976 veröffentlichte er sein Buch Sign, Signifier, Letter sowohl auf Slowenisch als auch auf Kroatisch. Mit diesem Buch brachte er die erste seriöse Rezeption der Psychoanalyse in Jugoslawien in Gang. Auf der Grundlage dieses Buches war es jedoch unmöglich, die politi-

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sche Anwendung der Psychoanalyse in den späteren Texten von Žižek vorherzusagen. Das Buch umfasst eine sehr komplexe Lektüre von Lacan, indem es die Psychoanalyse und die Borromäischen Knoten bzw. Verflechtungen zwischen den Ordnungen des Realen, des Imaginären und des Symbolischen mit zeitgenössischen philosophischen Interpretationen von Hegel und Kant verknüpft. Es fehlen jedoch jegliche Referenzen auf konkrete Ereignisse und Personen aus dem Alltagsleben in Jugoslawien und auch die psychoanalytischen Spiele mit politischen oder sozialen Themen. Es zeichnet sich folglich noch nicht jener Schreibstil ab, der Žižek später in das Blickfeld der internationalen Intellektuellenszene rückte. Auch wenn man in einigen Texten das psychoanalytische Konzept des Gesetzes des Vaters als Referenz auf die politische Figur von Tito hätte lesen können, wäre dies eine bewusst in diese Richtung gesteuerte Interpretation gewesen, die nicht im Text begründet ist. Erst in den späten 1980er und frühen 90er Jahren begann Žižek an seinen berühmten Essays über Film zu schreiben. Er nahm dann erstmals seinen kulturellen Kreuzzug auf, anstatt sich auf einen ausschließlich philosophischen Diskurs einzulassen. Interessanterweise wurde er zur gleichen Zeit, 1990, von der Liberaldemokratischen Partei als offizieller Präsidentschaftskandidat für die Republik Slowenien nominiert. Der berühmte Essay Why are Laibach and NSK not Fascists?, den Žižek 1993 über die slowenische Musikgruppe Laibach und das Phänomen des Künstlerkollektivs NSK verfasste, war der erste Text, der versuchte, dieses Phänomen zu erklären. NSK nahm 1984 seinen Anfang, als sich drei Gruppen (die Musikband Laibach, das fünfköpfige Künstlerkollektiv IRWIN und das Theater Gledalizce Sestre Scipion Nasice), die alle 1983 entstanden, unter dem gleichen Namen organisierten. »Was eine Gemeinschaft am tiefsten verbindet, ist nicht so sehr die Identifikation mit dem Gesetz/der Norm, welche/s ihren normalen Alltag reguliert, sondern eher die Identifikation mit einer spezifischen Form der Überschreitung, der Suspendierung dieser Norm (im psychoanalytischen Sinn, verbunden mit einer bestimmten Form von Freude).« (Žižek 1993) 

Žižek führt als Beispiel die heimliche Freude von Mitgliedern des Ku Klux Klan am Quälen ihrer schwarzen Opfer an. Ich denke, dass eine

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ähnliche Freude in Ex-Jugoslawien unter Intellektuellen und Künstler/ -innen vorzufinden war, die sich weigerten, am politischen Leben des Landes teilzuhaben, eine Solidarität in der Schuld sozusagen, erbracht durch die Teilnahme an der gemeinsamen Überschreitung der kommunistischen Regeln. »Dieses bange Gefühl wird genährt durch die Annahme, dass es sich bei ironischer Distanz automatisch um eine subversive Haltung handle. Was wäre, wenn die herrschende Einstellung des zeitgenössischen postideologischen Universums auf nichts anderes als auf eine zynische Distanz gegenüber öffentlichen Werten hinausliefe, wenn diese Distanz, weit davon entfernt, eine Bedrohung für das System darzustellen, die höchste Form des Konformismus bezeichnete, da das normale Funktionieren des Systems zynische Distanz erfordert? In diesem Sinne erscheint die Strategie von Laibach in einem neuen Licht: sie frustriert das System (die herrschende Ideologie) insofern, als sie nicht dessen ironische Imitation darstellt, sondern eine Über-Identifikation mit diesem. Indem sie die obszöne Über-Ich Unterseite des Systems ans Licht bringt, suspendiert die Über-Identifikation seine Effizienz.« (Žižek 1993)

Unter Rückgriff auf Althussers Modell der Über-Identifikation und des ideologischen Staatsapparates schlug Žižek eine Interpretation von Laibach und NSK vor, die bis heute Ausgangspunkt für jede Lektüre der Praxis dieses Phänomens geblieben ist. Einen Punkt, den Žižek richtig sieht,4 ist, dass es weder für den Staat noch für intellektuelle und künstlerische Projekte wirklich um Leben und Tod ging. Letztere wurden oftmals als harmlos eingestuft oder von der Kommunistischen Partei einfach übersehen. Die Geschichte des Poster Skandals am Tag der Jugend von 1986/87 führt die Fragilität der Behauptung von Gefahr und Bedrohung für Kunst, die sich in die politische Sphäre begibt, deutlich vor Augen. Damals löste die Design Gruppe Neuer Kollektivismus (die vierte Untergruppe von NSK, die aus Mitgliedern von Laibach, IRWIN und dem Theaterkollektiv Gledališce Sestre Scipion Nasice bestand), über eine seltsame Abfolge von Ereignissen, eine echte Verstrickung zwischen Kunstwelt und politischer Welt aus.

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Im Gegensatz zu vielen Diskrepanzen und Widersprüchen, die in diesem und auch in späteren Texten über verschiedene Projekte von NSK und über Performances von Laibach gefunden werden können.

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Zu dem Skandal kam es, als das Plakat der Gruppe Neuer Kollektivismus, das beim nationalen Wettbewerb den ersten Preis gewonnen hatte und bereits für den Tag der Jugend verteilt wurde (Titos offizieller Geburtstag, der in ganz Jugoslawien immer am 25. Mai gefeiert wurde), von den Behörden eingezogen wurde. Sie hatten den Hinweis erhalten, dass das Plakat auf die Nähe zwischen sozialistischem Realismus und Nazi-Kunst verwies (es handelte sich bei dem Plakat um eine Neugestaltung eines Nazi-Plakats von Richard Klein aus den 1930er Jahren, ein von der Jury offensichtlich nicht erkannter Sachverhalt). Im Anschluss an den Skandal, der den Kommunismus indirekt mit dem Faschismus in Verbindung gebracht hatte, wurde das alljährliche Ritual der Feier von Titos Geburtstag abgeschafft. Es wurde jedoch niemand inhaftiert oder gefoltert, zumindest wenn man die endlosen Interviews mit den Mitgliedern von Laibach im staatlichen Fernsehen oder in Magazinen ausklammert, in denen die Journalisten und Journalistinnen sich darin wiederholten, ähnliche Fragen zu stellen, wie jene, welche jede/-r im Kopf hatte: »Aber seid ihr Faschisten, seid ihr wirklich Faschisten?«5 Deshalb ist die Subversion und Subversivität als eine bewusste künstlerische Praxis von Anfang an etwas Paradoxes – sie kann keine Strategie sein, die von Künstler/-innen zum Schutz ihrer Integrität oder für die Abschirmung ihrer Ideen gegenüber den Zentren der Macht forciert wird.6 Im Gegensatz zu gewissen risikoreichen Kunstaktionen

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Ein Beispiel für eine solche Frage, die doppeldeutig beantwortet wurde, stammt aus dem Interview, das Laibach dem slowenischen Magazin Mladina gegeben hatte. »Mladina: Meine letzte Frage: ›Seid ihr Faschisten oder nicht?‹ Laibach: ›Ist es nicht offensichtlich?‹« (http://www.ljudmila. org/embassy/3a/exc/l3.htm). Das provokanteste Interview ist nach wie vor jenes aus dem Jahr 1983 für das staatliche Fernsehprogramm, bei dem die Mitglieder von Laibach in Uniformen auftraten (vgl. http://www.nskstate. com/laibach/interviews/laibach-interviews.php).

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Inke Arns (2002) macht diese Doppeldeutigkeiten und Spannungen innerhalb von IRWINs Kunstprogramm und deren Strategie in der lokalen Politik aus: »Indem sie einen emphatischen Eklektizismus anwandten, der sich all jener Zeichen bediente, die das slowenische Territorium über die Zeit hinweg durchzogen haben – z.B. Sozialistischer Realismus und Nationalsozialistische Kunst, Italienischer Futurismus und Sowjetischer Konstruktivismus, Motive aus der slowenischen Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts

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und -konzepten, die für ihre Autoren und Autorinnen reale Gefahren mit sich bringen, gibt es unter Künstler/-innen und Möchtegern-Aktivisten und -Aktivistinnen häufig ein verborgenes Motiv: Dieses ist oftmals heuchlerisch kalkuliert und zielt darauf ab, die auf Neugier und Erwartung beruhende Energie der Betrachter/-innen auszubeuten. Die Unterscheidung zwischen tatsächlicher und inszenierter Gefahr und Subversion ist in der Kunst allerdings nur schwer auszumachen, da dies für jegliche Form politischer Aktion zutrifft. Für Kunst gilt genau dasselbe wie für die Gesellschaft, in der sie operiert: Die Tiefe und das Ausmaß von Subversion sind überall nur schwer abzuschätzen. Darüber hinaus ist es schwierig eine klare Trennlinie zwischen den beiden sich entgegengesetzten Elementen zu ziehen – der Sprache der Kunst über das Politische und die Sprache der Kunst, die innerhalb des Politischen agiert. Die Paradoxien, die aus den lokalen Umständen erwachsen, verwischen diesen grundlegenden Gegensatz. Erst seit kurzem haben manche Künstler/-innen begonnen auf der Ebene des Politischen zu arbeiten und damit die Sprache der Kunst zu verändern, die Abjektion gegenüber dem Handeln in der politischen Sphäre zu überwinden sowie die Reichweite ihrer Arbeiten in der Gesellschaft mit unterschiedlichen Mitteln wie z.B. der inversen Rekuperation auszudehnen. Als Fallbeispiel möchte ich dazu das langfristig angelegte, partizipatorische Kunstprojekt CODE:RED des slowenischen Künstlers Tadej Pogaþar analysieren, das er 1999 begann. In diesem Projekt nimmt Pogaþar eine Mehrheit der bereits existierenden sowie der neu aufkommenden Argumente und Auseinandersetzungen zu Sexarbeit in sozialer, ökonomischer, politischer und künstlerischer Hinsicht auf. Pogaþar

sowie Laibachs Leitmotive wie Adler, Hirsch, Sämann, kleiner Trommler und Malewitschs schwarzes Kreuz – rief IRWIN eine Nationalkultur aus und beanspruchte die neue nationale slowenische Kultur und eine Plattform für nationale Authentizität zu begründen. Was IRWIN tatsächlich aussagte, war, dass es eigentlich keine slowenische Kultur gibt. Oder anderes ausgedrückt: Während sie behaupteten, die Begründer einer neuen nationalen Kunst zu sein, bestanden IRWINs Arbeiten aus allem anderen außer original slowenischem Material. Das deutete darauf hin, dass die slowenische Identität ein Stückwerk aus allen möglichen kulturellen Einflüssen war.« (Arns 2002).

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behandelt in einer fortlaufenden Veranstaltungsreihe von Performances, Konferenzen, Workshops, öffentlichen Kunstprojekten und Diskussionen Themen wie Menschenhandel, die damit einhergehenden sozialen, kulturellen und gesundheitlichen Aspekte, die Frage der Menschenrechte von Sexarbeitern und -arbeiterinnen sowie andere dringende sozio-ökonomische und politische Phänomene, welche diese unterprivilegierte Gesellschaftsschicht betreffen. CODE:RED hat sich von Anfang an darauf konzentriert, die unterschiedlichen Aspekte der Sexarbeit als eine spezifische Form der Schattenökonomie und des Ungehorsams gegenüber dem Wirtschaftssystem zu untersuchen und zu diskutieren. Das Gesamtprojekt funktioniert als eine fortlaufende interdisziplinäre Plattform der Zusammenarbeit, das durch eine Reihe von aufeinanderfolgenden Projekten das Potential analoger ökonomischer Modelle von unterschiedlichsten isolierten Gruppen und sozialen Minderheiten erkundet. Der wichtigste Aspekt all dieser Veranstaltungen ist allerdings die Absicht des Künstlers, Akte des freien Willens, aktives Handlungsvermögen und Subversion als eine Quelle positiven Handelns zu verorten, anstatt die Sexarbeiter/-innen als die zu beklagenden Opfer darzustellen. In Bezug auf den Diskurs zum Verhältnis von Kunst und Subversion leitete CODE:RED eine Debatte ein, die weit über die ursprünglichen Argumente bezüglich einer Kunst, die sich nur auf der diskursiven Ebene zu politischen Themen äußert, hinausgeht. Ich möchte damit verdeutlichen, dass Pogaþar, anstatt sich der landläufigen Anschauung von Sexarbeitern und -arbeiterinnen als passive Opfer des zirkulären Austausches anzuschließen, selbige als Subjekte und potenzielle Akteure und Akteurinnen in der Verschiebung der sozialen und ökonomischen Verhältnisse zwischen den Geschlechtern auffasst. Ausgangspunkt des Künstlers ist die Tatsache, dass die Sexindustrie überall auf der Welt eine lebensnotwendige Einnahmequelle für unterschiedliche Gesellschaftsschichten, die von der Mainstream-Ökonomie ausgeschlossen sind, darstellt. Menschen, die in die Prostitution gedrängt werden, kommen gewöhnlich aus unterprivilegierten sozialen Schichten, die am Rande der Gesellschaft leben und oft stigmatisiert, ihrer grundlegenden Menschenrechte beraubt oder sogar physisch angegriffen werden. CODE:RED untersucht die spezifischen Formen der Selbstorganisation derartig marginalisierter Gruppen und Gemeinschaften, die sich außerhalb des dominanten sozialen, ökonomischen

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und politischen Rahmens entwickeln und damit für Sexarbeiter/-innen bessere Arbeitsbedingungen schaffen. CODE:RED hat sich bei mehreren Anlässen reale öffentliche Räume und virtuelle Geografien zunutze gemacht und damit einen offenen Dialog zwischen Pogaþar, den anderen eingeladenen Künstlern und Künstlerinnen, den Sexarbeitern und -arbeiterinnen und der Öffentlichkeit initiiert. Das Projekt verstärkt die öffentlichen Aktivitäten und den Aktivismus existierender Organisationen von Sexarbeitern und -arbeiterinnen, die sich bereits selbst organisiert haben und sich ihrer subversiven Stärken bewusst sind. Die subversiven Aktionen solcher Gemeinschaften in den urbanen, medialen und virtuellen Räumen im Kontext von CODE:RED begannen während der ersten öffentlichen Präsentation dieses Projektes im Rahmen der 49. Biennale von Venedig 2001. Der Erste Weltkongress der Sexarbeiter/-innen und des neuen Parasitismus, der in Zusammenarbeit mit dem Komitee für die Rechte von Prostituierten (Comitato per I Diritti Civili delle Prostitute) aus Pordenone, Italien, organisiert wurde, war ein essenzieller Bestandteil dieser Ausgabe des Projekts CODE:RED. Das Projekt bestand aus einer öffentlichen Diskussionsplattform sowie öffentlichen Aktionen und wurde offiziell vom Kulturministerium der Republik Slowenien unterstützt. Der Kongress endete mit einem Langen Marsch der Sexarbeiter/-innen, die in Venedig als Vertreter/-innen unzähliger Sexarbeiter/-innen-Organisationen aus Europa, Asien, Amerika und Australien zusammenkamen. Die Abschlussroute führte von den Giardini über den Markusplatz bis zur A+A Galerie, doch die Projektaktivitäten konzentrierten sich hauptsächlich auf ein extra für CODE:RED aufgestelltes weißes Zelt in der Nähe der Venediger Giardini auf der Via Garibaldi. Den Ort benannte man in ironischer Anspielung auf die nationalen Pavillons an der Biennale als Prostituierten Pavillon (Padiglione delle Prostitute). Selbst organisierte Sexarbeiter/-innen-Organisationen aus Europa, Taiwan, Kambodscha und Vietnam trafen sich bei der Eröffnung und diskutierten Themen, mit denen Sexarbeiter/-innen in ihrem täglichen Leben und in ihrer Tätigkeit konfrontiert sind. Eine Sonderausgabe der Zeitung Sex Worker wurde zur Dokumentation der Aktivitäten herausgegeben. Eine ähnliche Veranstaltung fand im Jahr 2002 in New York statt. Die Konferenz The Ultimate Sex Worker Conspiracy Soiree: Conference and Party kam in Kooperation mit einer Reihe führender Akti-

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visten und Aktivistinnen und Organisationen aus New York, Washington, Boston und Baltimore, zustande. In Diskussionen und Round Tables mit Experten und Expertinnen, Soziologen und Soziologinnen, Aktivisten und Aktivistinnen sowie Sexarbeitern und -arbeiterinnen diskutierte CODE:RED USA Themen wie Gender, die Rechte von Sexarbeiter/-innen und deren spezifische urbane Lebens- und Arbeitsbedingungen in New York. Das P.A.R.A.S.I.T.E. Museum of Contemporary Art (PMCA) baute Verbindungen zwischen lokalen Organisationen, Künstler/-innen, Aktivist/-innen und Protagonist/-innen auf. Mittels einer eigenen Website hatte die allgemeine Öffentlichkeit direkten Zugang zu einer Datenbank und der Projektdokumentation. Durch Performances, öffentliche Aktionen, Interventionen und Modeschauen behandelten die Teilnehmer/-innen dieser Projekte unterschiedliche Themen wie z.B. die Auswirkungen der Globalisierung und neuer Technologien auf die Praktiken der Sexarbeiter/-innen, die Steuerung öffentlicher Körper, Parallelökonomien und marginalisierte Gemeinschaften, das Recht auf Arbeit, Menschrechte, gesetzliche und soziale Bestimmungen, Tabus, der Kreislauf von Geld und Frauen, etc. Seitdem der Begriff der Rekuperation von den Situationisten und Situationistinnen und Guy Debord in den 1950er und 60er Jahren verwendet wurde, um den Prozess zu beschreiben, mittels dessen die Massengesellschaft eine radikale Idee aufnimmt und sie als sichere Ware in einem neuen Gewand erscheinen lässt, haben Künstler/-innen versucht eine Erfolgsstrategie zu finden, um diesen nahezu unausweichlichen gesellschaftlichen Effekt zu verunmöglichen. Erst unlängst haben Theoretiker/-innen argumentiert, dass wir geradezu dazu gedrängt werden gegen das System zu rebellieren, um Zugang zum System zu erlangen – das sei die Logik des Systems. Folglich ist ein derartiges künstlerisches Ansinnen im Sinne der Rekuperation als kritisches Konzept von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Daraus ergeben sich für mich zwei Fragen: einerseits, ob es möglich ist, die bestehenden Formen von Rekuperation herauszuarbeiten und sie gleichzeitig in einem einzigen Kunstprojekt zu überwinden und andererseits, ob es in einer Zeit, in der es unzählige marginalisierte Systeme gibt, immer noch so verwerflich ist, aus Rebellion Geld zu machen. Das Projekt CODE:RED Tirana te mbijetuarut/survivors (2005), das Teil der Ausstellung Democracies (kuratiert von Zdenka Badovinac im Rahmen der Dritten Tirana Biennale) war, wurde in Kooperati-

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on mit der NGO Albanian Girls and Women (AAGW), einem Haus für Opfer von Frauenhandel und Zwangsprostitution, realisiert. AAGW wurde von früheren Opfern von Frauenhandel in Tirana gegründet, um betroffenen Mädchen und Frauen Hilfe und Unterstützung anzubieten. AAGW unterhält eine Vielzahl an Projekten wie etwa die Bereitstellung von geschützten Unterkünften, berufliche Ausbildung, Stellenvermittlung, die Herstellung künstlerischen Handwerks und Fundraising-Aktivitäten. Alle Produkte, die in der Installation in der Nationalen Kunstgalerie ausgestellt waren, wurden von Opfern des Frauenhandels hergestellt und bei der Tirana Biennale zum Verkauf angeboten. Jennifer Higgie bezeichnete das Projekt als »eine ernüchternde Erinnerung an die Rolle der Imagination im Wiederaneignungsprozess« (Higgie 2006). Die Recherchen Pogaþars haben gezeigt, dass die meisten albanischen Frauen und Mädchen, die dem Frauenhandel zum Opfer fallen, nach Italien oder Griechenland geschickt werden, obgleich manche von ihnen auch in England, Deutschland, Belgien und Norwegen landen. Bis 2001 war Menschenhandel in Albanien nicht illegal und nur eine Handvoll von Menschenhändlern sind verurteilt worden – meist nur für ein paar Monate Gefängnishaft. Offiziellen Schätzungen zufolge wurden mehr als 6000 albanische Mädchen und Frauen Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution. Eine der jüngsten Ausgaben von CODE:RED, die Modeshowperformance des Modelabels Daspu, ist ein weiteres Projekt von Pogaþar. Es wurde in Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Kollektiv Davida anlässlich seiner Teilnahme an der 27. São Paulo Kunstbiennale 2006 durchgeführt. Daspu ist ein Modelabel, das von Sexarbeitern und -arbeiterinnen betrieben wird und großes Medieninteresse auf sich gezogen hat. Im Rahmen von CODE:RED São Paulo untersuchte Daspu sowohl die Welt der Prostitution und die Formen von Parallelökonomien, welche in Gemeinschaften von Sexarbeitern und -arbeiterinnen wirken, als auch die Wende im Prominentenzirkus. Die São Paulo Kunstbiennale, die größte Kunstausstellung Lateinamerikas, setzte damit neue Akzente. Sie brachte Kunst der Öffentlichkeit näher, indem sie eine Modeschau von Sexarbeitern und -arbeiterinnen präsentierte, die nicht nur ihre eigene Mode vorführten, sondern auch vom Publikum der Ausstellung profitierten. Der Höhepunkt der Show war ein Hochzeitskleid, das aus Bettlaken von brasilianischen Stundenhotels zusammen mit einem Schleier aus Kondomen angefertigt wurde. Das

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Modelabel Daspu wurde 2005 von der brasilianischen Prostituiertenorganisation Davida und ihrer Gründerin Gabriela Leite ins Leben gerufen. Der Name Daspu ist abgeleitet aus das putas – von den Huren und macht eine ironische Anspielung auf die teuerste Modeboutique in São Paulo Daslu. Zu Beginn sorgte Daspu in Brasilien noch für großen Aufruhr, doch schon bald wurde das Label zu einer populären Marke, deren T-Shirt-Kollektion bei der Biennale rasch ausverkauft war. Im Kontext von Tadej Pogaþars Projekten wird der Geldfluss durch Kunstkanäle in eine unerwartete Richtung umgeleitet. Deshalb ist das Projekt CODE:RED eine originelle Überwindung des liberalen Teufelskreises der Rekuperation subversiver Kunst. Hier wird das neoliberale ökonomische System zur Rekuperation marginalisierter Gruppen eingesetzt, im Gegensatz zur debordschen Überschätzung der Fähigkeit der Gesellschaft, Kunst zwecks seiner eigenen Rekuperation zu unterwerfen.7 Subversion bezieht sich oft auf Freiheit, oder genauer gesagt, auf das Streben nach Freiheit in reglementierten Gesellschaften. Politische Theoretiker/-innen beschreiben den Liberalismus gemeinhin als eine normative politische Doktrin, die die Aufrechterhaltung der individuellen Freiheit als Ziel per se anerkennt. Freiheit wird als Grenze sowohl zu den Zielen der Regierung als auch zu der Art wie diese Ziele verfolgt werden, verstanden. Obwohl Foucault individuelle Freiheit nicht normativ auffasste, ordnete sogar er ihr einen zentralen Platz in seiner Darstellung des Liberalismus als einer Form von gouvernementaler Rationalität ein. Die Bedeutung, die der Liberalismus der individuellen Freiheit zumisst, ist, so Foucault, einerseits eng mit dem Ziel verknüpft, das Regieren seiner selbst für seine größeren Vorhaben zu gewinnen (was den Liberalismus ganz allgemein mit jeder politischen Rationalität verbindet), und liegt andererseits in einer berechtigten Sorge begründet, dass der Staat beim Regieren zu weit gehen könnte. Daher könnten staatliche Reglementierungen bestimmter Verhaltensformen in der Tat kontraproduktiv sein (Marxismus und Allgemeine Volksverteidigung waren die am meisten verschmähten Kurse in Ex-Jugoslawien). Allerdings hat autoritäre Herrschaft auch immer eine

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Für diesen Teil meiner Argumentation bin ich der Diskussionsrunde zu Recuperation of Culture: End of Artistic Rebellion verpflichtet. Die Diskussionsrunde wurde von Edi Muka moderiert und fand im Stacion – Centre for Contemporary Art in Prishtina am 6. Dezember 2007 statt.

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wichtige Rolle gespielt in Regierungen, die sich selbst der Aufrechterhaltung und Verteidigung der individuellen Freiheit verpflichten – wie natürlich auch in Regierungen, die keine derartigen Zusagen machen. Auch heute noch spielen unterdrückende und repressive Praktiken in vielen Regierungen eine wichtige Rolle, nicht nur in den unabhängig gewordenen Staaten, die den alten imperialen Mächten folgten, sondern auch in westlichen Ländern: im Justizsystem, dem behördlichen Umgang mit Roma-Gemeinschaften, in der Vernachlässigung von AIDS-Patienten und -Patientinnen, Immigranten- und Immigrantinnengruppen und den sogenannten urban poor, im Zugang zu Sozialhilfeleistungen und nicht zuletzt in der Führung von großen öffentlichen und privaten Organisationen (vgl. Hindess 2005). So ambivalent Subversion als künstlerische Strategie politisch engagierter Künstler/-innen auch sein mag, so ist sie in derartigen Situationen doch oft der einzig verfügbare Raum, der eine Reaktion auf die autoritäre Herrschaft von Regierungen, die zu weit gehen, zulässt.

L ITERATUR Arns, Inke (2002): »IRWIN (NSK) 1983-2002: From Was ist Kunst? via Eastern Modernism to Total Recall«, in: ARTMargins vom 15.06.2002, http://www.artmargins.com/index.php?option=com_ content&view=article&id=316:irwin-nsk-1983-2002-from-qwasist-kunstq-via-eastern-modernism-to-total-recall, abgerufen am 20.03.2011. Higgie, Jennifer (2006): »Tirana Biennale 3«, in: Frieze 96, http:// www.frieze.com/issue/review/tirana_biennale_3/, abgerufen am 20.03.2011. Hindess, Barry (2005): »Politics as Government: Michel Foucault’s Analysis of Political Reason«, in: Alternatives 30, S. 389-413. Kristeva, Julia (1982): Powers of Horror. An Essay on Abjection, New York: Columbia University Press. Kristeva, Julia (2000): Crisis of the European Subject, New York: Other Press. Žižek, Slavoj (1993): »Why are Laibach and NSK not Fascists?«, in: M'ARS 3/4, Ljubljana: Moderna Galerija. Aus dem Englischen von Nina Bandi und Michael G. Kraft

Kunst, Politik und Polizei im Denken Jacques Rancières N INA B ANDI , M ICHAEL G. K RAFT , S EBASTIAN L ASINGER »wenn die polizei vorbei fährt, ja! Ja dann halt ich erst mal an, ja! Ja nehm ne ziese aus der schachtel, ja! und spiel auf harmlos nach schema f, ja! ja.« LIEDZEILE AUS TUTENCHAMUN DER HAMBURGER BAND HGICH.T.

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Was kann Kunst heute noch leisten? Welche gesellschaftspolitischen Ausblicke kann sie geben? Gibt es eine politische Kunst oder haben wir es nach der »›utopischen‹ und ›totalitären‹ Katastrophe« (Rancière 2008a: 49) bestenfalls mit temporären Mikro-Politiken, so Bourriaud (1998), zu tun? Kann sich der Künstler oder die Künstlerin nur noch im mikropolitischen Rahmen gegen Herrschaftsverhältnisse auflehnen und sind große gesellschaftliche Entwürfe nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus nicht mehr denkbar? Oder gehen wir von einer gänzlich falschen Fragestellung aus? Ist das Bestreben, Kunst zu politisieren nicht ein grundlegend fehlgeleitetes Ansinnen? Solche nach Bourriaud (1998) kommunitaristische und emanzipatorische Elemente der Kunst erweisen sich für Rancière bei genauerer Betrachtung als selbstgenügsame Nachbarschaftspolitik, welche den durch die bestehenden Herrschaftsverhältnisse abgesteckten Rahmen

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nicht verlässt. Er weist uns darauf hin, dass es andere Wege gibt, das Verhältnis von Kunst und Politik zu denken. Eine der zentralen Thesen der ästhetischen Schriften Rancières bezieht sich auf das ästhetische Regime der Kunst, das sich in seinen Augen im Laufe der Moderne, aber insbesondere zum Ende des 18. Jahrhunderts herausbildete. Hauptaussage ist, dass Kunst primär keine repräsentative Funktion mehr habe. Im zuvor bestimmenden repräsentativen Regime der Kunst wurde in erster Linie eine Geschichte erzählt, in der sowohl der/die Erschaffer/-in und die verwendeten Instrumente und Werkzeuge als auch der/die Betrachter/-in einer Adäquation entsprachen. Diese Adäquation bezog sich einerseits auf das im Werk Dargestellte und andererseits auf die sozialen Verhältnisse, die repräsentiert wurden. Im ästhetischen Regime der Kunst hingegen, werden diese Verbindungen aufgelöst. »Ich nenne ästhetisches Regime ein Regime, welches keine Form der Entsprechung mehr, das heißt, keine Hierarchie dieser Art […] voraussetzt. Dieses Regime qualifiziert die Dinge der Kunst nicht nach den Regeln ihrer Produktion, sondern nach ihrer Zugehörigkeit zu einem besonderen Sensorium und zu einem spezifischen Erfahrungsmodus. […] Das soll heißen, dass die Produkte der Künste nicht länger über die Höhe der Stellung der Sujets, die sie behandeln, qualifiziert werden, oder über Bestimmungen, die sie erfüllen oder über soziale Kräfte, denen sie dienen. Sie schreiben sich in eine eigene Sphäre der Erfahrung ein.« (Rancière 2008b: 40f.)

Diese Sphäre der Erfahrung ist durch die Auflösung aller üblichen Verbindungen und Ordnungen gekennzeichnet und stellt einen Bruch mit der gesellschaftlichen Ordnung dar. Kunst wird im ästhetischen Regime von jeglichen Vorgaben und Hierarchien befreit (vgl. Egger 2011). Erst durch die Auflösung dieser strategischen Logiken – der linearen Verbindungen zwischen dem, was ist, dem, was sichtbar ist, und dem, was damit intendiert wird – ist das von Rancière beschriebene ästhetische Regime der Kunst überhaupt möglich. Wenn vor dieser Wendung Kunst in erster Linie dazu diente, bestehende Ordnungen wiederzugeben und damit auch zu perpetuieren, wäre im ästhetischen Regime also eine neue Möglichkeit der Erfahrung gegeben. Was aber ist innerhalb dieser ästhetischen Erfahrung möglich? Diese Frage ist insbesondere relevant, wenn wir das Verhältnis von Politik und Kunst näher untersuchen wollen und auf die Frage eingehen, ob und wie Kunst politisch sein kann.

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Dass das Verhältnis von Politik und Kunst dem rancièreschen Kunstbegriff implizit innewohnt, da beide eine Aufteilung des Sinnlichen vornehmen, ist sicherlich eine der Stärken Rancières und einer der Gründe für seine Aktualität.1 Um die Möglichkeit dieser neuen ästhetischen Erfahrung zu fassen, ist es zentral, sich mit Rancières Konzept der Aufteilung des Sinnlichen (partage du sensible) näher zu beschäftigen. »›Aufteilung des Sinnlichen‹ nenne ich jenes System sinnlicher Evidenzen, das zugleich die Existenz eines Gemeinsamen aufzeigt wie auch die Unterteilungen, durch die innerhalb dieses Gemeinsamen die jeweiligen Orte und Anteile bestimmt werden. Eine Aufteilung des Sinnlichen legt sowohl ein Gemeinsames, das geteilt wird, fest als auch Teile, die exklusiv bleiben. Diese Verteilung der Anteile und Orte beruht auf einer Aufteilung der Räume, Zeiten und Tätigkeiten, die die Art und Weise bestimmt, wie ein Gemeinsames sich der Teilhabe öffnet, und wie die einen und die anderen daran teilhaben.« (Rancière 2008c: 25f.)

Diese Aufteilung legt somit zweierlei fest: Einerseits zieht sie eine Grenze zwischen denen, die zur Gemeinschaft gehören, einen zugewiesenen Platz in der gemeinschaftlichen Ordnung haben und somit sicht- und wahrnehmbar sind sowie jenen, die von all dem ausgeschlossen bleiben. Andererseits betrifft sie aber auch die raumzeitliche Aufteilung der Teile der Gemeinschaft und die Verteilung der ihnen zugewiesenen Tätigkeiten und Fähigkeiten (vgl. Egger 2011). Unsere Wahrnehmung und damit der Raum des Sicht- und Machbaren ist bestimmt von der Aufteilung des Sinnlichen. Dazu gehört, was wir als gegeben erachten, wen wir an welchem Platz zugewiesen sehen und in welchen Logiken wir unser Handeln und Denken einschreiben. Was

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Die Schriften Jacques Rancières haben vor allem im letzten Jahrzehnt breite Rezeption erfahren. Neben erstarktem Interesse im deutschen und kontinentaleuropäischen akademischen Diskurs wurde sein Werk auch im anglo-amerikanischen Raum entdeckt, verbreitet und diskutiert. Außerhalb des Feldes der politischen Philosophie fand er mit seinem Werk zur intellektuellen Emanzipation Der unwissende Lehrmeister Eingang in die Debatten der Erziehungswissenschaften und Pädagogik, und, was vor allem an dieser Stelle von Interesse ist, mit seinen jüngeren Schriften auch breite Rezeption im Kunstdiskurs.

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Kunst (seit der Wende am Ende des 18. Jahrhunderts) leisten kann, ist diese Aufteilungen des Sinnlichen zu verschieben, neue Risse aufzutun und andere zu schließen. Ästhetik – so verstanden – kann nicht mit einer bloßen Ästhetik der Kunst gleichgesetzt werden. Es geht hier um sinnliche Erfahrungen, die weit über das Ästhetische der Kunst hinausgehen. Zentral ist die Frage nach der Wahrnehmbarkeit von Gegebenem und Nicht-Gegebenem und der Frage, wie sich diese Trennungen verschieben. »Ästhetik ist weder eine allgemeine Kunsttheorie noch eine Theorie, die die Kunst durch ihre Wirkungen auf die Sinne definiert, sondern eine spezifische Ordnung des Identifizierens und Denkens von Kunst. Ästhetik ist eine Weise, in der sich Tätigkeitsformen, die Modi, in denen diese sichtbar werden, und die Arten, wie sich die Beziehung zwischen beiden denken lässt, artikulieren […].« (Rancière 2008c: 23)

Solche Verschiebungen können für Rancière politische Folgen zeitigen, doch darf die Verbindung von Kunst und Politik nicht linear gedacht werden. Kunst und Politik gründen auf zwei Formen der Aufteilung des Sinnlichen, die ineinandergreifen, aber gleichzeitig nicht auf derselben Ebene verortet werden können. Rancière wendet sich damit aber auch gegen die oftmals vorgebrachte Vorstellung zweier voneinander getrennter, autonomer Bereiche und insbesondere gegen eine postulierte Autonomie der Kunst. Dies führt ihn zu einer Analyse der Ästhetik der Politik, in die sich die Politik der Ästhetik einschreibt (vgl. Rancière 2008c). Rancière spricht in dem Zusammenhang auch von einer »primären Ästhetik« (Rancière 2008c: 27), die wiederum die Verbindung von Kunst und Politik durch spezifische Aufteilungen des Sinnlichen beeinflusst. Sowohl der Kunst wie auch der Politik liegt eine gewisse Form von Ästhetik zugrunde. »Erst auf der Basis dieser primären Ästhetik lässt sich die Frage nach ›ästhetischen Praktiken‹ im üblichen Sinne stellen, das heißt nach den Formen der Sichtbarkeit künstlerischer Praktiken, nach dem Ort, den sie einnehmen, und danach, was sie im Hinblick auf das Gemeinsame ›tun‹.« (Rancière 2008c: 27)

Die Frage nach den emanzipativen Möglichkeiten der Kunst und ihrem Bezug zum »Gemeinsamen« ist somit noch nicht definitiv beantwortet. Es lassen sich aber folgende Punkte festhalten:

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Erstens lässt sich aus dem – dem ästhetischen Regime innewohnenden – Paradox schließen, dass jegliche lineare Verbindung zwischen Kunst und gezielter politischer Wirksamkeit verunmöglicht ist. Die strategischen Logiken, die »die Zwecke den Mitteln und die Sinnlichkeit dem Verstand unterordnen« sind aufgehoben (vgl. das Interview mit Jacques Rancière in diesem Band). Künstlerische Praktiken können somit weder per se subversiv sein, noch können im Vornherein bestimmte politische Wirkungen erzielt werden. Zweitens kann man hervorheben, was Kunst zu schaffen vermag. Einerseits geht es um die Verschiebung von Grenzen und Brüchen, um eine Neuaufteilung des Sinnlichen, und damit um das Aufbrechen des Konsenses. Rancière versteht die Politik der Kunst »als Konstruktion sinnlicher Landschaften und als Herausbildung von Sichtweisen, die den Konsens dekonstruieren und zugleich neue Möglichkeiten und Fähigkeiten schaffen« (Interview mit Jacques Rancière in diesem Band). Durch die Aufhebung der Gegensätze von Aktivität und Passivität, von Wissen und Nichtwissen, kann Kunst, so Rancière, den Konsens aufbrechen und damit neue Situationen und Verhältnisse schaffen. Andererseits geht es um das »Weder-noch« der ästhetischen Erfahrung. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass sie weder einem objektiven Urteil entspricht, das eine bestimmte Kollektivität voraussetzt, noch einem individuellen Empfinden, das losgelöst von jeglicher Gemeinschaft existieren würde. Es geht weder um eine individualisierte Konsumation von Kunst noch um eine im Vornherein bestimmte Kollektivierung der ästhetischen Erfahrung. Gerade durch diese Nicht-Abgeschlossenheit ist durch die ästhetische Erfahrung ein Ausblick auf eine kommende Gemeinschaft möglich, aber ohne dass diese instrumentalisiert werden könnte. Denn der »Künstler arbeitet ›mit Blick‹ auf ein Ende, das diese Arbeit nicht selbst erreichen kann, er arbeitet ›mit Blick‹ auf ein Volk, das ›noch fehlt‹.« (Rancière 2008b: 11)

Das »Weder-noch« der ästhetischen Erfahrung erlangt unter anderem dadurch eine politische Bedeutung. Schließlich findet sich auf der politischen Ebene eine analoge Trennung. Im Interview sagt Rancière dazu:

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»Insofern ist die subjektive Universalität […] dasjenige, was die Idee einer Politik herauszubilden erlaubt, die weder mit der Zusammenzählung der individuellen Präferenzen noch mit dem objektiven Ausdruck einer substanziellen Kollektivität gleichzusetzen ist.« (Interview mit Jacques Rancière in diesem Band)

Kunst und Politik stehen also in einem analogen Verhältnis zueinander. Um die Tragweite der beiden obig genannten Punkte zu verstehen und die daraus folgenden Konsequenzen kritisch beleuchten zu können, wird im folgenden Kapitel näher auf Rancières Konzeption von Politik und insbesondere auf die Trennung von Politik und Polizei eingegangen. Eine besondere Rolle spielt auch Rancières Gleichheitsgrundsatz.

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Obgleich sich Rancière seit dem letzten Jahrzehnt vermehrt mit Fragen der Ästhetik beschäftigt, ist unbestritten, dass Ästhetik und Politik im Werk des französischen Philosophen eng miteinander verwoben sind. Daher wollen wir vorweg darauf hinweisen, dass Rancières Beiträge zu den unterschiedlichen Disziplinen nicht entkoppelt von seinem philosophischen Œuvre gelesen werden können, da dies notgedrungen zu Verkürzungen und Reduktionen führen würde. Ebenso wie der Kunst liegt für Rancière auch der Politik eine Aufteilung des Sinnlichen zugrunde. Die Infragestellung dieser Aufteilungen und Zuordnungen ist die irreduzible ästhetische Dimension der Politik. Politik handelt für Rancière nicht von politischen Institutionen, parteilichen Koalitionen oder formal-juridischen Abläufen, sondern sie trennt einen bestimmten Raum, eine Sphäre sinnlicher Wahrnehmung ab. Diese Abtrennung fußt, so Rancière, auf einer »primären Ästhetik«, so wie wir sie oben beschrieben haben, der Unterteilung von Zeiten und Räumen, des Sichtbaren und Unsichtbaren. »Die moderne Erscheinung der Ästhetik als autonomer Diskurs, der eine autonome Aufstückelung des Sinnlichen diktiert, ist die Erscheinung eines Wertschätzens des Sinnlichen, das sich von jedem Urteil über seinen Gebrauch trennt, und somit eine Welt virtueller Gemeinschaft – geforderter Gemein-

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schaft – als Überblenden einer Welt der Befehle und der Aufteilungen definiert, die jedem Ding seinen Gebrauch gibt.« (Rancière 2002: 69)

Diese Verselbstständigung der Ästhetik wird für Rancière zu einem Teil der modernen Konfiguration der Politik, denn sie fungiert als »Knoten zwischen der Ordnung des Logos und der Aufteilung des Sinnlichen« (Rancière 2002: 69). Politik stört die scheinbar natürliche Ordnung und weist darauf hin, dass Konsens bestenfalls temporär ist. In diesem Sinne ist Politik destabilisierend und als heteronomer Prozess dazu zu verstehen, was Rancière als Polizei bezeichnet. In Anlehnung an Foucaults Machtanalyse meint Polizei die Gesamtheit der Prozesse, welche die Macht organisieren, Aufgaben, Stellen und Funktionen zuweisen und diese Zuteilung legitimieren. Im allgemeinen Sinn zielt Polizei daher auf eine spezifische »Anordnung der Körper« ab und definiert »die Weisen des Handelns, des Seins und des Redens« (Rancière 2010a: 82). Dadurch ordnet Polizei den Raum des Wahrnehmbaren sowie des Sag- und Machbaren. Politik stellt diese Distribution infrage. Politik als Infragestellung dieses sinnlich Gegebenen basiert auf einem Paradox, und zwar der Einforderung einer Gesamtheit, einer singulären Allgemeinheit, vonseiten eines Teils der Gesellschaft, der keine Teilhabe hat (la part des sans-part). Wenn die Ausgeschlossenen ihre Stimme erheben und ihren Platz als rechtmäßige Partner einklagen, stören sie die Ordnung des Gesellschaftskörpers, in der alle einen bestimmten Platz zugewiesen bekommen haben. Durch die Sichtbarmachung dieses Dissenses entsteht für Rancière Politik. Diese Einklage der Teilhabe baut auf das fundamentale Prinzip der Gleichheit aller sprechenden Wesen. Nur aufgrund dieser ist es möglich, dass ein Anteil jener, die keinen Anteil haben, sich erhebt und diese Gleichheit einfordert. Politik ist somit das Bestreben, die Voraussetzung der Gleichheit einzuklagen. »Politisches ist also die Benennung jener Tätigkeit, von der die Ordnung der auf Stellen, Funktionen und Mächte verteilten Körper durch das Einbringen einer Voraussetzung, die dieser Ordnung vollkommen äußerlich ist, aufgehoben wird: Der Voraussetzung von der Gleichheit eines jeden sprechenden Wesens mit einem jeden anderen sprechenden Wesen.« (Rancière 2010a: 83)

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Rancière spricht dabei von einer spezifischen Form von Gleichheit. Es geht ihm nicht, wie man vermuten könnte, um die Realisierung von Gleichheit als Endzustand oder als Ziel zur Verwirklichung einer gerechten Gesellschaft. Der (absoluten) Gleichheit kommt vor allem im Hinblick auf das emanzipatorische Moment in Rancières Theorie eine zentrale Rolle zu. Sie ist, wie bereits erwähnt, weder Ziel noch Zustand, sondern ein fundamentales a priori, das sich anschickt, diese Voraussetzung der Gleichheit jedes sprechenden Wesens mit einem jeden anderen sprechenden Wesen einzufordern. Gerade durch derartige Praktiken wird der polizeilichen Ordnung widersprochen und es entsteht, so es einen Ort für diesen Dissens gibt, Politik. Rancières ontologische Setzung der fundamentalen Gleichheit kann somit nicht als Aufteilung des Sinnlichen verwirklicht werden. Eine derartige Aufteilung weist Rancière der polizeilichen Ordnung zu und diese bedeutet stets Ungleichheit. Gleichheit kann bloß ereignishaft bleiben und die Einklage derselben stört die polizeiliche Aufteilung des Sinnlichen. Doch daraus folgt eine neue polizeiliche Aufteilung des Sinnlichen, gegen die das Prinzip der Gleichheit erneut ins Feld geführt werden kann. Rancières radikal-egalitärer Ansatz findet besonderes Augenmerk in seinem Buch Der Unwissende Lehrmeister (Le maître ignorant). In diesem Buch erzählt er die Geschichte des französischen Lehrers JeanJoseph Jacotot, der flämischen Studenten Französisch unterrichtete, obwohl er selbst kein Niederländisch sprach (vgl. Rancière 2007). Anhand dieses Beispiels macht Rancière die Bedeutung des Prinzips der Gleichheit aller deutlich. Er beharrt darauf, dass es notwendig sei, zunächst diese Gleichheit einzufordern und erst dann von diesem Standpunkt die Ungleichheit anzugehen. Anders ist es für ihn unmöglich, die polizeiliche Ordnung zu durchbrechen und auf die fundamentale Verrechnung (le mécompte) hinzuweisen (vgl. Rancière 2002 und 2010b). Wenn wir dieses a priori als gegeben hinnehmen, so bleibt doch die Frage, wie es tatsächlich vom Anspruch der Gleichheit zum öffentlichen Sprechakt und dem Betreten der Bühne des Sichtbaren kommt, wo aufgezeigt und sichtbar wird, dass die Polizei der Gleichheit Unrecht antut. Daran schließt die Frage nach dem politischen Subjekt an. Wer ist tatsächlich in der Lage, diese absolute Gleichheit auch einzufordern? Wer ist zum Beispiel das Volk? Ist der Akt dieses Einklagens notwendigerweise ein emanzipatorischer? Stellen wir diese Fragen, so

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sehen wir uns zwangsweise mit Machtverhältnissen, Herrschaft und Unterdrückung konfrontiert. Wenngleich Rancière diese Fragen mitdenkt, so bleibt eine eingehende Beschäftigung mit Konzepten von Macht und Herrschaft in seinen Schriften weitgehend aus. Abbildung 1: Reinhard Lang, Graffiti in Kairo, aufgenommen während des Arabischen Frühlings

Eine Leerstelle in der Polizei? Slavoj Žižek (2010) wirft in seinem Buch Die Tücke des Subjekts Rancière vor, dass er unrealistische Positionen einnehme und unmögliche Idealzustände der politischen Praxis postuliere, um seine Hände sauber zu halten. Wie könne man folglich von einer politischen Mobilisierung reden, ohne Machtstrukturen und ökonomische Ressourcen mitzudenken, wenn womöglich die Ökonomie von ihrer Form her gerade nicht auf Politik reduzierbar sei? (vgl. Žižek 2004: 75). Im Interview mit Peter Hallward nimmt Rancière dazu Stellung und hält fest, dass diese Frage für ihn persönlich von sekundärem Interesse ist und Politik und Macht voneinander zu trennen seien (vgl. Rancière und Hallward 2009: 97). Politik habe zwar mit Macht und deren Implementierung zu tun und natürlich seien Fragen der Organisation bedeutsam, doch seien sie nicht dasselbe. Dabei rekurriert Rancière auf die zuvor getroffene Unterscheidung zwischen Polizei und Politik und weist abermals darauf hin, dass man Politik gerade nicht auf Fragen der Formen von Gewalt und Herrschaft reduzieren dürfe, sondern diese zu einer Neukon-

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figuration des Raumes des Sichtbaren und Sagbaren führen müsse (vgl. Rancière und Hallward 2009: 97). »Man spart die Politik von vornherein aus, wenn man sie mit der Ausübung der Macht und dem Kampf um deren Besitz gleichsetzt. Man spart aber auch ihr Denken aus, wenn man sie als eine Theorie der Macht oder als eine Suche nach der Grundlage ihrer Legitimität auffasst.« (Rancière 2008d: 7)

Nichtsdestotrotz, so der Vorwurf, bleibe Polizei in den Schriften Rancières unterbelichtet. Diese Frage nach der theoretischen Schwerpunktsetzung mündete insbesondere in einer akademischen Debatte zwischen Rancière und Bourdieu. Im Schlusskapitel seines Buches Der Philosoph und seine Armen (ursprünglich 1983 auf Französisch erschienen als Le Philosophe et ses pauvres), bezeichnet Rancière Bourdieu implizit als »Soziologenkönig« (le sociologue roi) und wirft ihm in seiner Kritik der Habitustheorie vor, an die Stelle der Philosophie die Soziologie als neue Königsdisziplin stellen zu wollen. Einzig der Soziologe bzw. die Soziologin als distanzierte/r Beobachter/-in könne die »Blindheit gegenüber der Notwendigkeit von gesellschaftlichen Unterschieden aufdecken« (Sonderegger 2010: 30). Aber, so der Vorwurf Rancières, Bourdieu decke mit seinen empirischen Studien Klassenstrukturen nicht nur auf, sondern schreibe diese auch fest. In Anhang I: Einige Überlegungen zur Methode des von Rancière am heftigsten kritisierten und zugleich bekanntesten Werkes Bourdieus Die feinen Unterschiede vermerkt letzterer, dass die von ihm gewählte empirische Methode »gemeinhin als zuverlässigste Bürgschaft für Wissenschaftlichkeit gelte« (Bourdieu 1982: 784). Diese Art der wissenschaftlichen Bürgschaft »die zwangsläufig mit einer Reihe von Auslassungen und Verkürzungen erkauft wird« (ebd.) müsse er sich zu eigen machen, da sich sonst »die Vorbehalte derer verstärken dürfen, die noch immer einer naiv empiristischen Vorstellung von wissenschaftlicher Arbeit anhängen« (ebd.). Demzufolge räumt Bourdieu selbst ein, dass sein Vorhaben, die »Klassentheorie des Geschmacks« (Sonderegger 2010: 28f.) mit empirischen Methoden zu fassen, Leerstellen aufweist, die er um den Preis der wissenschaftlichen Etablierung seines Vorhabens ausblenden muss. Für Rancière mündet dies in einer gänzlich unemanzipatorischen Beschreibung polizeilicher Ordnung und es wird dadurch jeglicher progressiver Ansatz, die Habitusgrenzen zu durchbrechen, verwirkt.

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Bourdieu ist mit seinen Studien allerdings in der Lage zu zeigen, warum vorherrschende Ungleichheiten, Unterdrückung und Zuweisungen innerhalb der polizeilichen Ordnung nach wie vor von einer schweigenden Mehrheit akzeptiert werden. Das Zusammenspiel von sozialem und kulturellem Kapital zeitigt dahingehend starke »Herrschaftseffekte« (Bourdieu 1982: 601), indem es Ungleichheiten bei den beherrschten Klassen als »Gefühl von Inkompetenz, Scheitern und kultureller Unwürdigkeit« (ebd.: 602) erfahren lässt. Die Ungleichverteilung von inkorporiertem sozialem und kulturellem Kapital bildet nach Bourdieu auch den Ausgangspunkt zu einer bestimmten »ästhetischen Position« (ebd.: 107), die durch »Aneignungsweisen von Kunst« (ebd.: 416) und durch Geschmacksurteile verstärkt wird und damit die Disposition zu einem bestimmten Lebensstil ausprägt. Anhand von »kulturellen Ressourcen, Praktiken und Institutionen« (Haller 2003: 53) können Subjekte je nach Verfügbarkeit der Kapitalsorten ihre soziale Position also absichern oder verbessern. Allerdings findet die angestrebte Verbesserung schon immer innerhalb eines vorgegebenen ästhetischen Wertesystems statt. Distinktion spielt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle, denn sie ermöglicht es, den Habitus des eigenen sozialen Feldes von dem eines anderen abzugrenzen und gleichzeitig auch die eigene Stellung zu legitimieren (vgl. Bourdieu 1982: 107). Was aber bedeutet dies gemäß Bourdieu für die unteren Schichten? »Der außerordentliche Realismus der unteren Klassen findet seine wohl beste Begründung in dem unerbittlichen Gebot, das die Homogenität dieses unmittelbar erfahrenen sozialen Universums durch seine Geschlossenheit verhängt: nur die bestehende Sprache, nur der bestehende Lebensstil, nur die bestehenden Affinitäten sind zulässig. Der Raum der Möglichkeiten ist geschlossen. Die Erwartungen der anderen verstärken nur die von den objektiven Verhältnissen auferlegten Dispositionen.« (Bourdieu 1982: 597, Herv. i.O.)

Dass Bourdieu die Unmöglichkeit einer Veränderung dieser Art zudem empirisch zu belegen sucht, macht auch die Schwächen seiner Theorie deutlich. Er führt eine strukturalistische Theorie ins Feld, der es daran mangelt, die entscheidende Frage zu erklären, wie Habitus-Grenzen überwunden werden können bzw. wie sozialer Wandel vonstattengehen kann.

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Im Gegensatz dazu geht es Rancière um die Momente der Emanzipation und Subjektivierung. Entgegen der kritischen Tradition der Soziologie meint Rancière, dass nicht die kritischen Befunde der Sozialwissenschaftler/-innen die Unterschichten emanzipieren. Es ist vielmehr »die Möglichkeit dieses interesselosen Blickes, die den Arbeiter emanzipiert. Es ist die Dissoziation eines Arbeiterkörpers, die die Konstitution einer Arbeiterstimme erlaubt.« (Rancière 2008b: 66) Vor dem Hintergrund dieses Spanungsfeldes einer Philosophie, die nach den Bedingungen der Möglichkeit und Momenten emanzipatorischen Handelns fragt, und einer Soziologie, die profunde empirische Einblicke in die polizeiliche Ordnung und bestehende Machtverhältnisse gibt, hält auch Žižek fest, dass das soziologische Projekt einer emanzipativen Erweiterung bedürfe: »Rancière’s thought is today more actual than ever: in our time of the disorientation of the Left, his writings offer one of the few consistent conceptualizations of how we are to continue to resist.« (Žižek 2004: 79, Herv. i.O.)

Aber was impliziert das nun für Kunst und welchen Verschränkungen und Aufteilungen wird dadurch Vorschub geleistet?

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Die Frage, was Kunst heute noch leisten kann, muss in demselben Rahmen betrachtet werden wie das Moment der Politik und vor dem Hintergrund der fundamentalen Gleichheit. Rancière verortet ein emanzipatorisches Potential in der Kunst durch den spezifischen Begriff der Ästhetik und sinnlicher Aufteilungen und Ordnungen. Durch die der Kunst eigene Politik der Gleichheit ist künstlerischen Praktiken im ästhetischen Regime die Möglichkeit gegeben, neue Ausblicke zu schaffen und Elemente einer möglichen Gemeinschaft darzustellen. Dass diese Visionen nie abgeschlossen sein können und deren Umsetzung immer unmöglich bleibt, ist genau Teil der paradoxen Seinsweise von Kunst. Gleichzeitig haben künstlerische Praxen immer auch politische Elemente an sich, indem sie eben neue Zuschreibungen machen können. Das heißt aber nicht, dass Kunst in einem herrschaftsfreien Raum regiert, auch sie wirkt aufgrund von Aufteilungen des Sinnli-

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chen, wie z.B. die Polizei im rancièreschen Sinne, und kann das, worauf sie referenziert, die fundamentale Gleichheit, nie verwirklichen. Es bleibt auch nicht zu vergessen, dass Kunst niemals (emanzipatorische) Politik ersetzen kann. Politische Emanzipationsprozesse vermögen kollektive Prozesse in Gang zu setzen, die Gemeinschaft des »Weder-noch« zu bilden, woran die Kunst Anleihen nehmen kann, aber nicht als Ersatz funktioniert. Von hier rührt Rancières vehemente Kritik an partizipatorischer Kunst. Da ästhetische Wirkungsmechanismen nie vorweggenommen werden können, muss für ihn jegliche Kunst, die explizit politische Strategien verfolgt, scheitern. »Die Künste leihen den Unternehmungen der Herrschaft oder der Emanzipation immer nur das, was sie ihnen leihen können, also das, was sie mit ihnen gemeinsam haben: Positionen und Bewegungen von Körpern, Funktionen des Worts, Verteilungen des Sichtbaren und des Unsichtbaren. Die Autonomie, derer sich die Künste erfreuen, und die Subversion, die sie sich zuschreiben können, beruhen auf derselben Basis.« (Rancière 2008c: 34)

Daraus müsste auch klar hervorgehen, dass der Vorwurf der Romantisierung der Emanzipationspotentiale von Kunst (vgl. Früchtl 2007) bei Rancière nicht derart einfach ins Feld zu führen ist. Ganz im Gegenteil, Rancière stellt sich gegen die Suspension der Politik zugunsten einer universellen Ethik und einer moralisierenden Kunst. Denn solche Auswüchse und Manipulationen führen einzig zur Ununterscheidbarkeit von Kunst und Politik. Politik und Dissens verschwinden ebenso wie eine Ästhetik, die in die Ethik kippt. Dies, so Rancière, verunmögliche die »Einschreibung des unaufgelösten Widerspruchs zwischen ästhetischem Versprechen und der Wirklichkeit einer Welt der Unterdrückung.« (Rancière 2008a: 147f.) Wie auch schon in Bezug auf das Politische erwähnt, gehen die unterdrückenden und normalisierenden Aspekte von Kunst und Kunstinstitutionen in Rancières Analyse weitgehend verloren. Daher lassen sich Bourdieus Schriften auch durchaus als komplementär verstehen und können das emanzipatorische Projekt anreichern. Kunst kann diesen »Blick auf ein Volk, das noch fehlt« eröffnen und durch die Neugestaltung der sinnlichen Erfahrung jene Grundlage dafür liefern, auf der »Formen der politischen Subjektwerdung« (Rancière 2008c: 90) entstehen können. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Rancière mit seinen Überlegungen wertvolle Einblicke in die Bedingungen der

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Möglichkeit widerständigen Handelns gibt. Einen Anstoß dafür, die Politik wieder fest im Zentrum der Gesellschaft zu verankern, hat er mit seiner politischen Philosophie jedenfalls vorgelegt. Auch zu den Verknüpfungen, wie Kunst und Politik miteinander zusammenhängen, liefern seine Schriften wertvolle Grundlagen. Dass er über die (potenziell) widerständigen Subjekte jedoch kaum Worte verliert und selbige »bei Rancière einfach immer schon da« (Sonderegger 2010: 33) sind, erscheint problematisch. So bleibt für die Frage nach dem wie eine profunde (soziologische) Analyse der Machtverhältnisse und Zuteilungen von gesellschaftlichen Positionen in der polizeilichen Ordnung unerlässlich. Denn eine Erforschung der disziplinierenden und repressiven Wirkungen polizeilicher Mechanismen muss nicht notwendigerweise in einem legitimatorischen Projekt münden, sondern kann sehr wohl Räume für emanzipatorisches Handeln aufzeigen.

L ITERATUR Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bourriaud, Nicolas (1998): Esthétique relationnelle, Dijon: Les Presses du réel. Egger, Stefan (2011): »Vom Blick auf ein Volk, das noch fehlt. Mit Niklas Luhmann und Jacques Rancière zur Funktion der Kunst«, in: ALL-OVER 1, http://allover-magazin.com/?p=405, abgerufen am 13.12.2011. Früchtl, Josef (2007): »Auf ein Neues: Ästhetik und Politik. Und dazwischen das Spiel. Angestoßen durch Jacques Rancière«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55, S. 209-219. Haller, Max (2003): Soziologische Theorie im systematisch-kritischen Vergleich, Opladen: Leske + Budrich. Rancière, Jacques (2002): Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Rancière, Jacques (2007): Der unwissende Lehrmeister: Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, Wien: Passagen. Rancière, Jacques (2008a): Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien: Passagen. Rancière, Jacques (2008b): Ist Kunst widerständig?, Berlin: Merve.

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Eine andere Art von Universalität 1 J ACQUES R ANCIÈRE

Auf den letzten Seiten von Das Unvernehmen wird angesichts des postdemokratischen Konsenses und der weltweiten Polizei ein »gegenwärtiges Verschwinden« (Rancière 2002: 149) der Politik konstatiert, die Hand in Hand mit der »Aufhebung des Erscheinungsbereichs des Volkes« (Rancière 2002: 112, Übersetzung verändert, A.d.Ü.) geht. Die Einschreibung eines Anteils der »Anteillosen«, die Bedingung ist für die Existenz der Politik, scheint hier nicht mehr möglich. Ihre jüngsten Schriften beschäftigen sich mehr mit der Kunst und der ihr eigenen Politik. In Ihrem Text Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien (Rancière 2006: 75-99) warnen Sie davor, dass man den Kunstdispositiven eine »Ersatzfunktion« (Rancière 2006: 96) für die Politik zuweist. Kann es eine Politik der Kunst geben, die jenseits einer solchen Funktion als Modell für eine neue Politik der Partizipation dienen könnte? Ich habe von einem zeitweiligen Verschwinden, nicht von einer Unmöglichkeit der Politik gesprochen. Das Fehlen von starken Formen politischer Subjektivierung zieht notwendigerweise zweierlei nach

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Jacques Rancière im Interview mit Markus Klammer, Stéphane Montavon, Stefan Neuer und Mladen Gladic. Dieser Text erscheint im Frühjahr 2012 im Band Die Erfindung des Möglichen von Jacques Rancière, hg. von Peter Engelmann, übersetzt von Richard Steurer im Passagen Verlag. Die Rechte im deutschen Sprachraum liegen beim Passagen Verlag. Die Herausgeber/-innen danken dem Passagen Verlag für die Abdruck-Genehmigung der Übersetzung.

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sich: einerseits eine Verschiebung der Dissens-Äußerungen zu anderen Orten wie etwa zur Kunst; andererseits Theoretisierungen, die versuchen, diese Verschiebung zum Prinzip einer neuen Politik zu machen, in der Kunst und Politik zusammenfallen würden. Zum ersten Punkt ist zu sagen, dass es eine Tatsache ist, dass sogar eine bestimmte Anzahl von elementaren politischen Funktionen wie die Information oft von künstlerischen Dispositiven sichergestellt werden: Anlässlich einer Performance von Walid Raad habe ich zum ersten Mal vom Vorgang der extraordinary rendition gehört, und oft sind es Kunstwerke, die Unterdrückungs- oder Konfliktsituationen eine sinnliche dissensuelle Form verleihen, die die Medien ignorieren oder nur über ein paar diskursive und visuelle Stereotypen kennen. Ich sehe natürlich nichts Schlechtes darin, dass man versucht, die Mittel und die Orte der Kunst zu verwenden, um dem eine neue sichtbare und provokante Form zu geben, was die Regierungs- und Medienapparate im Gewebe des Konsenses verschwinden lassen. Genau so verstehe ich auch die Politik der Kunst, nämlich als Konstruktion sinnlicher Landschaften und als Herausbildung von Sichtweisen, die den Konsens dekonstruieren und zugleich neue Möglichkeiten und Fähigkeiten schaffen. Der traditionelle Irrtum über die Politik der Kunst bestand darin, eine implizite Zielgerichtetheit vorauszusetzen, die aus dieser Neugestaltung der sinnlichen Landschaft ein bloßes Instrument machte, die aktivistischen Energien und Strategien zur Verfügung stünden. Der Fehler war, das innerste Paradox des ästhetischen Regimes zu verkennen, nämlich nicht zu verstehen, dass die ästhetische Erfahrung politische Wirkung zuerst dadurch hervorruft, dass sie die strategischen Logiken aufhebt, die die Zwecke den Mitteln und die Sinnlichkeit dem Verstand unterordnen. Der Verfall des »kritischen« Modells, das die Waffen für die Revolte schmieden sollte, indem es die Herrschaftsformen demaskierte, und das zur nihilistischen Demonstration der Allmacht der Ware und des Spektakels geworden ist, veranschaulicht dies am besten. Das Problem ist, dass dieser Zusammenbruch, der zu einer neuerlichen Infragestellung hätte führen können, aufgrund der Schwäche der politischen Bühne im Gegenteil zu einer Flucht nach vorne geführt hat, entweder zur Vorstellung, dass die Kunst endlich direkt politisch werden sollte, indem sie das Museum verlässt und eine Form des Eingreifens ins Reale wird oder indem ihre eigenen Performances zu Formen einer zeitgenössischen Politik gemacht wurden. Das Problem ist aber gerade, dass es nicht das Museum auf der einen und das Reale auf der

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anderen Seite gibt und dass die Politik nicht der Übergang zum Realen ist, sondern die Vervielfältigung des Realen, die Infragestellung des Monopols des Realen, das von den herrschenden Machtapparaten konstruiert wird. Die Gleichsetzung der Politisierung der Kunst mit ihrem Hinausgehen ins Reale hat in Wirklichkeit zur Wiederholung von aktivistischen Formen der 1960er und 70er Jahre durch die Künstler geführt. Eine gewisse Anzahl von Künstlern wurde zu Sozialarbeitern, indem sie die Studenten nachahmten, die sich in den Fabriken etabliert haben. Da jedoch die Bildung revolutionärer Arbeitergruppen nicht mehr wirklich auf der Tagesordnung steht, besteht die Gefahr, dass das Ergebnis sich auf den Beitrag der Künstler reduziert, die »Brüche im Gemeinschaftsgefüge« (Bourriaud 1998: 37) zu kitten. Andere haben die Politisierung der Kunst mit symbolischen Aktionsformen gleichgesetzt, die das große Zeitalter des Linksradikalismus kennzeichneten: die Performance/Demonstration im Stile von Reclaim the Streets oder die Infiltrierung der Zirkel der Macht wie durch die Yes Men. Das sind nun aber Formen, die vom Standpunkt der Politik beurteilt wurden hinsichtlich ihres Vermögens, subjektive Formulierungen jedermanns Fähigkeit herauszubilden (die Yes Men haben den Kapitalisten ein paar Streiche gespielt, aber welche neuen Möglichkeiten kollektiver Subjektivierung haben sie durch diese Streiche geschaffen?), anstatt als richtige Formen der Politisierung der Kunst geschätzt zu werden. Das Ende der Flucht nach vorne ist erreicht, wenn man die Politik der Kunst in der Vorstellung zusammenfasst, dass jetzt alles Produktion ist, dass die Produktion immer immaterieller wird und dass daher alle produktiven Leistungen an der großen Entfesselung der Macht der Multituden teilhaben, die das kapitalistische System in die Luft sprengen werden. Ich habe diesbezüglich nicht verlangt, dass man zu einem L’art pour l’art zurückkehrt, das es niemals gegeben hat, sondern dass man die Besonderheit der Kunstpolitiken neu denkt, die auf dem ästhetischen Einschnitt zwischen Ursache und Wirkung beruhen. Es schien mir, dass die Künstler, die daran erinnern, dass die Politik der Kunst durch Bilder, auf Bildschirmen und durch die Verbindung von Lichtpunkten vor Besuchern ausgeübt wird, die nicht wissen, weswegen sie gekommen sind, und die nicht wissen, was sie mitnehmen werden, uns vielleicht besser erlauben, die Möglichkeiten neu zu denken, die diese Politik bietet, als jene Künstler, die dieselben Räume mit Bildern ihrer realen Performances füllen oder mit Installationen, die ihre politische Wirksamkeit durch ihre Riesenhaftigkeit beweisen.

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Das Subjekt politischer Partizipationsakte, so wie Sie sie in Das Unvernehmen analysiert haben, ist ein kollektives Subjekt. Aber spießt sich eine politische Lesart der kantschen Ästhetik nicht mit der Tatsache, dass sowohl die ästhetische Erfahrung als auch das ästhetische Urteil in der Kritik der Urteilskraft als subjektiv auch im Sinne von individuell gedacht sind? Wirft die Verbindung der subjektiven ästhetischen Erfahrung mit der Zustimmung durch die anderen, die alleine eine ästhetische Gemeinschaft hervorrufen kann, nicht bereits bei Kant Probleme auf? Wie verhält sich das Subjekt der Politik gegenüber dem Subjekt der ästhetischen Erfahrung? Subjektiv heißt nicht individuell und steht nicht im Gegensatz zu universell. Subjektiv ist der Gegensatz zu objektiv. Das ästhetische Urteil ist subjektiv in dem Sinn, als die Qualität, die es behauptet (»das ist schön«), keiner Eigenschaft des Objekts, auf das es sich bezieht, entspricht. Es wird gerade dadurch zum Begründer einer anderen Art von Universalität, die nicht mit der Zählung der Stimmen, die jene Behauptung teilen, gleichgesetzt werden kann. Das Urteil verlangt nicht, dass jeder dasselbe schön findet, sondern dass jeder von etwas sagen kann, dass es schön sei, indem diese Behauptung ebenso von der Zuweisung einer objektiven Eigenschaft des Dinges wie von einer individuellen, momentanen Stimmung getrennt ist. Insofern ist die subjektive Universalität des ästhetischen Urteils nicht das, was in einem Gegensatz zur Politik steht, sondern im Gegenteil dasjenige, was die Idee einer Politik herauszubilden erlaubt, die weder mit der Zusammenzählung der individuellen Präferenzen noch mit dem objektiven Ausdruck einer substanziellen Kollektivität gleichzusetzen ist. Das »Weder-noch« der ästhetischen Erfahrung (weder ein Erkenntnisgegenstand noch eine Sache der individuellen Stimmung) hat eine politische Bedeutung annehmen können, weil bereits im Wesen der politischen Subjektivierung die Behauptung einer zweifachen Trennung derselben Art besteht: weder das Ganze der Gemeinschaft noch eine Zusammenzählung von Individuen. In dem Sinne hat das »Wir sind das Volk« der ostdeutschen Demonstranten funktioniert. Die Demonstranten waren vielleicht nur einige Hunderte. Aber sie sagten, was das politische Volk ist, nämlich die Öffnung eines Gemeinschaftsraumes durch die Tat, der sich von der Gesamtheit trennt, die von der Volks-Republik und der Summe der Individuen verkörpert wird, die diese verkörperte Gesamtheit als Einheiten erfordert.

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Was die ästhetische Struktur der politischen Subjektivierung charakterisiert und sie von der Form des kantschen ästhetischen Urteils unterscheidet, ist gerade, dass sie mehr als ein Urteil ist. Sie ist die Form einer Praxis, und zwar einer kollektiven Praxis. Sie ist von vornherein die Setzung nicht nur von dem, was die Mitglieder eines Kollektivs gemeinsam fühlen und behaupten mögen, sondern von dem, was sie als Gemeinschaft sind, von dem, was aus ihnen ein Subjekt macht. In Das Unvernehmen stellen Sie ein »Als-ob«, das »Als-ob« des ästhetischen Spiels, einem politischen »Als-ob« entgegen, dem »Als-ob« der Anteillosen, die die politische Bühne betreten, indem sie so tun, als ob ihnen das zustehen würde, als ob es immer eine Partizipation gegeben hätte. Inwiefern sind die »Aufteilungen« gleich, die jedes dieser »Alsob« vollzieht? Inwiefern unterscheiden sich ihre Funktionen? Das ästhetische »Als-ob« und das politisch »Als-ob« haben gemeinsam, der objektivistischen Fiktion des Konsenses, der erklärt, dass die Dinge »so sind«, eine subjektive Fiktion entgegenzustellen. Sie sind also gleichermaßen Operatoren des Dissenses. Aber das politische »Als-ob« hat die Form der Behauptung einer kollektiven Fähigkeit: Ich tue nicht nur so, als ob alle dasselbe Urteil teilen könnten, sondern wir tun so, als ob wir Mitglieder einer bereits existierenden Gemeinschaft wären. Wir tun das gerade, insofern wir diejenigen sind, die nicht zu dieser Gemeinschaft zählen. Wir tun das, indem wir in unsere Zählung diejenigen einbeziehen, die uns nicht mitzählen, die unsere Leistung nicht als einen politischen Akt und die Raum-Zeit, in der wir sie vollbringen, nicht als dem Raum und der Zeit der Politik zugehörig anerkennen. Die Politik hat diese dialogische und polemische Struktur, in der das Wir eine polemische Bühne errichtet, die die Zählungen und Personen neu verteilt. Die Neugestaltung des Sinnlichen ist dabei mit einer Neuverteilung der Aussagefähigkeiten gleichzusetzen. Wenn ein Künstler die Landschaft des Sinnlichen neu gestaltet, ist das nicht dasselbe. Der Künstler kann ein Künstlerkollektiv sein, aber das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass die künstlerische Neugestaltung nicht mit der Hervorbringung eines Subjekts gleichgesetzt werden kann, das »wir« sagt. Die künstlerische Arbeit führt für eine beliebige ästhetische Gemeinschaft eine Neugestaltung der Sichtbarkeitsformen des vom Konsens als seiend Gegebenen durch. Wenn

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man die Entwicklungen der Künste seit dem 19. Jahrhundert betrachtet, stellt man fest, dass diese Neugestaltung von sich aus dazu neigt, das Gewebe des Konsenses zu zerreißen, im Sinne einer Polymerisierung der subjektiven Universen. Die Haecceïtäten von Deleuze und Guattari sind in etwa das: die Demokratie der entfesselten Perzepte und Affekte, die sich auf keine Einteilung in subjektive polemische Einheiten reduzieren lässt. Es besteht natürlich immer die Versuchung, über den ästhetischen Einschnitt und zugleich die künstlerische Desubjektivierung hinauszugehen, im Sinne einer Selbstüberschreitung der Kunst, ihrer Identifizierung mit den kollektiven Mächten des neuen Lebens. Doch die gebräuchlichste Form des Verhältnisses zwischen den beiden Formen des Dissenses ist die Form der immer zufälligen Vermittlungen, der begrifflosen Vermittlungen zwischen künstlerischer Desubjektivierung, ästhetischer Unterbrechung und politischer Subjektivierung. In Die Aufteilung des Sinnlichen behaupten Sie: »Produzieren fügt der Handlung, etwas herzustellen, eine Handlung hinzu, die etwas sichtbar macht und definiert so ein neues Verhältnis zwischen tun und sehen. Die Kunst antizipiert die Arbeit, weil sie deren Prinzip verwirklicht, nämlich die Umwandlung der sinnlichen Materie in die Selbstdarstellung der Gemeinschaft.« (Rancière 2006: 69) Wenn die Kunst paradigmatisch die Arbeit der Gesellschaft sichtbar macht, dann stellt sich die Frage, für wen sie das tut und warum gerade die Kunst diese Eigenschaft besitzt. Worauf und wie richten sich die Fähigkeiten der Mitglieder einer globalisierten Gesellschaft ein, um die Zeichen der Kunst und ihrer Verformungen zu lesen, um an der Arbeit der Verformung teilzunehmen und eine ästhetische Gemeinschaft zu formen? Was ich an der Stelle, auf die Sie anspielen, beschrieben habe, ist nicht meine Auffassung von den Verhältnissen zwischen der Kunst und der Arbeit, sondern eine bestimmte geschichtliche und theoretische Konstellation ihres Verhältnisses, die das geprägt hat, was man die Zeit der Avantgarden nennt, als die Arbeit und die Maschine als die konstitutiven Vermögen einer neuen Gesellschaft erschienen. Diese Auffassung begründet noch die gegenwärtige inflationäre Verwendung des Begriffs der Produktion im Denken der »Multituden«, wo die künstlerische Arbeit an den Perzepten und Affekten in die große Bekundung der kollektiven immateriellen Produktion eingelassen ist, in welche die kapi-

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talistische Logik in ihrer eigenen Negation münden würde. Die Frage, die man mir gestellt hatte, bezog sich auf diesen Denkhorizont, und ich habe versucht, sie in diesem Sinne auszuführen. Aber es ist klar, dass diese Gleichsetzung zwischen einem Sichtbar-Machen und einem Handeln für mich gerade problematisch ist. Die Ästhetik ist eben die Spannung zwischen beiden. Sicherlich führt sie als imaginären Zweck ihre eigene Überschreitung mit sich, die Durchsichtigkeit des Handelns oder das Handlung-Werden der Produktion von Repräsentationen. Diese Tendenz hat ihre geschichtlichen Manifestationsformen gehabt. Heute befindet sie sich eher im Zeitalter ihrer Karikatur. Die Kunstformen können heute also nur viel bescheidener die Veränderungen sichtbar machen, die die Stellung der Handlungen, das Gesicht der Dinge oder die Sichtweisen kennzeichnen. Als ich die erste Frage beantwortete, versuchte ich, dem Ausdruck zu verleihen. In Ihrem Vortrag »The Emancipated Spectator« (Rancière 2007, vgl. auch Rancière 2009, A.d.Ü.) geben Sie gegen die Partizipationsmodelle, die der klassischen Avantgarde entstammen, und die versuchen, das Publikum so einzubeziehen, dass es eine Gemeinschaft in sich beziehungsweise mit dem Künstler bildet, zu bedenken, dass eine »emanzipierte Gemeinschaft« sich nur durch die Vermittlung durch einen »dritten Term« gründen lässt. Könnte man den klassischen Kunstwerkbegriff, als in sich geschlossene Einheit und als auktoriale Behauptung, den die Avantgarden des vergangenen Jahrhunderts im Namen der Partizipation kritisiert und aufgelöst haben, könnte man den als jenen »dritten Term« verstehen? Sie beschreiben die »emanzipierte Gemeinschaft« als Publikum, das sich ausgehend von dieser Vermittlung als eine »Gemeinschaft von Erzählern und von Übersetzern« (Rancière 2009: 33) bildet. Bedeutet das, dass diese »emanzipierte Gemeinschaft« eine Gemeinschaft »des Diskurses« ist, eine Gemeinschaft, die sich mehr im Reden über Kunst konstituiert als in der Unmittelbarkeit einer ästhetischen Erfahrung? Es muss klar sein, dass die Hervorhebung eines dritten Terms nichts mit der Vorstellung von einem in sich geschlossenen Kunstwerk zu tun hat, das die souveräne Autonomie der Kunst versinnbildlichen würde. Der Begriff der Autonomie ist selbst der Ort einer Zwiespältigkeit. Die ästhetische Autonomie des Werkes ist nicht seine künstlerische Autonomie, sie ist nicht gleichwertig mit einer »auktorialen Behauptung«,

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sie ist vielmehr ein Verfügbarmachen für jeden Beliebigen, durch das das Werk aufhört, der Ausdruck oder die Unterschrift eines Schöpfers zu sein. Umgekehrt neigt die vorgeblich kritische Position, die das Werk in eine Geste verwandelt, dazu, die auktoriale Behauptung und die souveräne Figur des Künstlers zu stärken, indem sie das Produkt untrennbar mit dem Produzenten verbindet. Eine emanzipierte Gemeinschaft ist eine Gemeinschaft, in der jeder seine Bildung daher nehmen kann, wo er sie findet. Das setzt voraus, dass er es mit einer Welt von verfügbaren Worten, Geschichten, Dingen und Bildern zu tun hat, von denen aus er seine eigenen Geschichten, seine »intellektuellen Abenteuer« konstituieren kann, und nicht mit Bildungs- oder Motivationsprogrammen, deren Verfasser bereits seinen Platz vorgezeichnet hat. Das setzt auch eine andere Auffassung von der sinnlichen Umgebung dieser Beziehungen voraus. Die traditionelle Auffassung wird von der Polarität zwischen Herstellen und Empfangen, zwischen dem Aktiven und dem Passiven geleitet. Der Zuschauer wird mit dem passiven Individuum gleichgesetzt, das empfängt. Ausgehend davon kann man die Strategien derer, die ihm gute Worte und gute Bilder liefern wollen, von denen trennen, die ihn aus seiner Zuschauerrolle herausbringen, ihn aktiv machen wollen, das heißt eigentlich zum Schauspieler/Handelnden (acteur) ihres eigenen Programms, der in ihre eigene Aufführung miteinbezogen wird. Ich sage hingegen, dass der Zuschauer aktiv ist, dass er selbst strukturiert, was er sieht, dass er es in sein eigenes Abenteuer einbaut. Das heißt auch, dass man niemals in der Unmittelbarkeit eines Sehens oder eines Empfindens ist, sondern dass man es immer mit einer Begegnung zwischen »Schöpfern«, die ihr eigenes Abenteuer verfolgen, und den aktiven Zuschauern, die es in das ihre integrieren, zu tun hat. Das heißt, dass die Werke existieren, indem sie eine Welt bilden, und sie bilden eine Welt, wenn man einen Raum schafft, in dem sie sich begegnen, sich verschieben, sich verformen und neu formen. Deswegen ist es wesentlich, dass es gegen das ganze Geschwätz über die Werke, die sich selbst genügen und vor dem Gift des Kommentars und des Diskurses bewahrt werden müssen, jenes diskursive Gewebe gibt, das sie außer sich bringt: Was wäre das Kino ohne all die Worte, die ihm eine Welt bereitet haben, indem sie seine Bilder verformt haben? In Die Aufteilung des Sinnlichen analysieren Sie die »anti-repräsentative Revolution« der Malerei im Zusammenhang mit der »Flachheit

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der Schriftseite« (Rancière 2006: 31). Im ästhetischen Regime ist die Kunst vom Verzicht auf die platonische Verurteilung der Oberflächlichkeit der Schrift gekennzeichnet, der zur Zeit der Renaissance in der Malerei weiterwirkte in der Darstellung der Tiefe und in ihrem »Anspruch, einen lebendigen Sprechakt […] erfassen zu können« (Rancière 2006: 30). Welches Verhältnis sehen Sie zwischen Ihren Ausführungen über die Schrift und dem Begriff der Schrift bei Derrida oder auch der Idee einer »literarischen Gemeinschaft« im Denken der Gemeinschaft von Jean-Luc Nancy? Das Verhältnis ist eigentlich recht distanziert. Ich habe meine Sicht nicht dadurch gebildet, dass ich die Gegenwartsphilosophen gelesen hätte, sondern eher, indem ich einander scheinbar fremde Diskursuniversen miteinander in Beziehung gesetzt habe: das Arbeiterarchiv, die moderne Romanliteratur, die antike Philosophie … Das Nachdenken über die Schrift hat sich für mich nicht ausgehend von den Thesen Derridas über das Pharmakon organisiert, sondern von den literarischen und dichterischen Manuskripten aus, die in den Arbeiterarchiven begraben sind. Ich habe wahrgenommen, welche Bedeutung der Eintritt in ein Sprachuniversum vom Gesichtspunkt der Emanzipation hatte, das ein Universum der anderen und getrennt vom mündlichen Universum war, das das der Arbeiterwelt und der Volkskultur sein sollte. Ausgehend davon hat mich bei Platon interessiert, was politisch auf dem Spiel stand bei der Kritik der Schrift: Die Schrift ist jene Weitergabe des Wortes, die von der Autorität des Lehrmeisters getrennt ist und die umherschweift, ohne zu wissen, mit wem man sprechen soll und mit wem nicht. Ich habe die Wirkung dieses Verbots in der endlosen Polemik der Mächtigen und der Eliten gegen die tödlichen Gefahren der Deklassierung der Männer und Frauen aus dem Volk durch das Gift der Schrift wiedererkannt. Jene Männer und Frauen aus dem Volk sind ebenso Emma Bovary und Jude the Obscure wie die emanzipierten Arbeiter. Die einen wie die anderen erbauen mit den verfügbaren, herrenlosen Worten ein sinnliches Universum, das gefährlich ist für die rechte Ordnung der Haushalte und der Gesellschaft. Die Literatur ist der Ort, an dem sich im 19. Jahrhundert beispielhaft zugleich die spaltende Macht der Schrift und der Versuch, sie anzuklagen oder zu kontrollieren abspielt. Man kann sicher Entsprechungen zwischen meiner Problemstellung und der Derridas oder Nancys finden, aber sie ist auf anderen Wegen und mit anderen Zielsetzungen entstanden.

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Ihr Buch Politik der Literatur hilft dabei, die Rolle zu verstehen, die in Ihren Schriften im Hintergrund eine Figur wie Debord spielt, dessen Hauptvorhaben sich in dem abgespielt zu haben scheint, was Sie in einem Interview mit der Zeitung L’Humanité vom 5. April 2007 ein »Schwanken zwischen dem Singulären und dem Kollektiven« genannt haben. Die Instanz »Debord« lebt – zwischen einer Theorie auf der einen Seite, die zugleich die Diagnose der Totalität des Spektakels aufstellt und die Medizin eines Kollektivs liefert, das sie verdoppeln könnte, und andererseits dem Abdriften, das es mit den unpersönlichen Intensitäten erlaubt, virtuell über die Sätze, Gesten und »Haecceïtäten« der anderen zu verfügen, um das Porträt eines Herrn über die Zeit (Panegyrikus) zu zeichnen – von ihrem einzigartigen Schweben zwischen Unvernehmen und Missverständnis. Dieses Schweben ist im Grunde eine Strategie der Aufhebung des Subjekts, das zugleich das Ganze und die Einheiten bearbeitet (Rancière 2011: 58). Warum musste die letzte Wendung der Kritik der Avantgarde darin bestehen, »Debord« dazu zu bringen, Debord umzubringen? Man kann vielleicht das, was ich hier sage, auf Debord anwenden, indem man sich dazu entschließt, ihn als Schriftsteller anzusehen. Ich habe aber überhaupt nicht an ihn gedacht, als ich diese Zeilen schrieb, weil ich einen anderen Blick auf ihn habe. Mit Debord ist es mir ergangen wie mit vielen anderen meiner Zeitgenossen: Ich habe ihn ziemlich spät gelesen, zu einer Zeit also, als er weniger positiven oder negativen Einfluss auf mein Denken ausüben konnte, als mir vielmehr als Bezug diente, um Abstände kenntlich zu machen und auch um die Arbeit der Zeit ermessen zu können. Die Dualität, auf die Sie hinweisen, sehe ich persönlich weniger als literarische Neuzählung der Einheiten, als unter dem Blickwinkel des Verhältnisses der Figur zu dem, was sie zur Schau stellt. Unter diesem Gesichtspunkt nehme ich bei Debord die zwei Figuren wahr, von denen Sie gesprochen haben: Es gibt den Ankläger des Spektakels, der das marxsche Schema der auf dem Kopf stehenden Welt weiterführt, und der zur Rückgewinnung der gespaltenen Gesamtheit aufruft. Und es gibt den Spieler, der der Spaltung nicht das Ganze entgegensetzt, sondern einen individuellen Lebensstil dem Lebensstil der Masse. Es gibt im Grunde folgende Trennung: Die Kritik, die das Spektakel demontiert, demonstriert zugleich, dass die Kritik des Spektakels unfähig ist, die Umkehrung der Welt herbeizuführen. Die Aktion ist nicht dem Spektakel entgegenzu-

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setzen, sondern die Aktion hat ihr Modell in Verhaltensweisen, die nichts zu tun haben mit der Welt des Kapitals, sondern mit einem aristokratischen Lebensstil von der Art eines großen Herren der Fronde wie etwa Retz. Meiner Ansicht nach ist beiden Debords dieselbe von oben herabsehende Haltung von jemandem gemeinsam, der sich dem gemeinsamen Maß entzieht, indem er die Versklavung aller behauptet. Diese von oben herabsehende Stellung wurde in der banalsten Form vom Diskurs unserer Zeitgenossen übernommen, die die Massendemokratie und die grenzenlose Macht der Ware und des Spektakels gleichsetzen. Es ist nicht nötig, »Debord zu töten«, aber es wäre gut, Schluss zu machen mit dem Diskurs der Kritik des Spektakels, der zur herrschenden Ideologie geworden ist. Und es ist notwendig, die Genealogie der Tradition zu etablieren, auf der sie beruht. Jene, die die Kritik der Bilder und des Spektakelkonsums erfunden haben, sind die Eliten des 19. Jahrhunderts, die sich vor der unkontrollierten Verbreitung von Erfahrungsformen ängstigten, die durch die neuen Formen der Ausstellung der Dinge, der Bilder und der Zeichen jedem Beliebigen verfügbar gemacht wurden. Die Tradition der Emanzipation hat sich von diesem Elitendiskurs über die von den im Bann der Bilder stehenden Massen und von der Überlegenheitspose, die er impliziert, anstecken lassen. Debord hat sicher nicht geholfen, sie davon zu befreien.

L ITERATUR Bourriaud, Nicolas (1998): Esthétique relationnelle, Dijon: Les Presses du réel. Rancière, Jacques (2002): Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, aus dem Französischen von Richard Steurer, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Rancière, Jacques (2006): Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, aus dem Französischen von Maria Muhle, Berlin: b_books. Rancière, Jacques (2007): »The Emancipated Spectator«, in: Artforum 45, 7, S. 271-280. Rancière, Jacques (2009): Der emanzipierte Zuschauer, aus dem Französischen von Richard Steurer, Wien: Passagen.

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Rancière, Jacques (2011): Politik der Literatur, aus dem Französischen von Richard Steurer, Wien: Passagen, 2. Auflage.

Aus dem Französischen von Richard Steurer

Teil II

Absageagentur T HOMAS K LAUCK

I. Die Absageagentur ist Anfang 2005 kurz nach der massiven Änderung der Sozialgesetzgebung, gewöhnlich Hartz IV genannt, in Berlin gegründet worden. Der moralisch bereits vorhandene Arbeitszwang wurde in Deutschland nun auch – bei gleichzeitiger Absenkung der Sozialsätze – gesetzlich verankert. Mit der Absageagentur wollen wir in den öffentlichen Diskurs über Arbeit eingreifen und die Fetischisierung von Arbeit kritisieren. Als Parodie auf das deutsche Arbeitsamt, das sich in Arbeitsagentur umbenannt hatte und nun nicht mehr Arbeitslose, Arbeitssuchende und Sozialhilfeempfänger/-innen, sondern Kundinnen und Kunden betreute, eröffnete die Absageagentur ein öffentlich zugängliches Büro. Dort und auf unserer Internetseite – www.absageagentur.de – konnten unsere Kunden und Kundinnen, statt sich auf eine Arbeitsstelle zu bewerben, kostenlos Absagen auf ausgeschriebene Stellenangebote verschicken. Zum Service der Absageagentur zählt, bei der Formulierung der Absagen zu helfen, diese kostenlos zu verschicken und den geschriebenen Absagen eine Öffentlichkeit zu bieten, indem sie auf unserer Internetseite veröffentlicht oder im Rahmen von Diskussionsveranstaltungen, Lesungen und Aktionen präsentiert werden. Auf diese Wiese wollen wir zur Meinungsbildung über die Prekarisierung der Lebensverhältnisse durch Arbeit beitragen. Dazu entwickelten wir drei sogenannte Standardformulierungen, die für unsere Kunden und Kundinnen einen reibungslosen Ablauf ga-

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rantieren und die Schwelle, eine Absage zu schreiben, niedrig halten. Eine Standardformulierung lautet: Sehr geehrte Damen und Herren, ich danke Ihnen für die Ausschreibung oben genannter Stelle. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass die o.g. Ausschreibung nicht meinen Ansprüchen gerecht wird. Daher muss ich Ihnen hiermit bedauerlicherweise eine Absage schicken. Ich versichere Ihnen, dass meine Entscheidung keine Abwertung Ihrer Person oder Ihrer Firma bedeutet, sondern ausschließlich auf meine Auswahlkriterien zurück zu führen ist. Mit der Bitte um Verständnis und mit freundlichen Grüßen

Viele unserer Kunden und Kundinnen kreieren jedoch auch eigene, frei formulierte Absagetexte. Die Absageagentur hat in zweierlei Hinsicht einen experimentellen und offenen Charakter. Erstens wussten wir nicht, ob überhaupt jemand Absagebriefe schreibt oder eher darüber geklagt wird, dass wir die wenigen Arbeitsplatzanbieter/-innen mit unseren Briefen schlecht machen. Zweitens war es unklar, welche Kritik in den Absageschreiben formuliert werden würde, denn neben der formalen Ablehnung einer konkreten Arbeitsstelle wird in selbst formulierten Absagen eine persönliche Kritik des Absageschreibers bzw. der -schreiberin übermittelt. Vielleicht kann man die Gründe, warum Menschen unseren Service nutzen, in drei Gruppen einteilen, wobei es häufig Überschneidungen gibt: Die radikalste Gruppe schreibt Absagen, weil sie die Identifikation des Menschen über Arbeit ablehnt und unsere Aktion dazu nutzt, das Prinzip »Arbeit bestimmt den Wert eines Menschen« infrage zu stellen. Die zweite Gruppe will konkrete Praxen von Branchen oder Stellenanbietern demaskieren, weil es zum Beispiel üblich geworden ist, Stellen mit unbezahlten Praktikanten und Praktikantinnen zu besetzen und unterbezahlte Arbeitsplätze unter immer schlechteren Arbeitsbedingungen anzubieten. In dieser Gruppe von Absageschreibern und -schreiberinnen ist der Anteil an Freiberuflichen, Selbständigen und Menschen, die im Kunst- oder Kulturbetrieb arbeiten, am größten, weil sich besonders dort prekäre Beschäftigungsverhältnisse massiv ausbreiten. Die dritte Gruppe nutzt das Schreiben

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einer Absage, um persönlichen Frust über missglückte Bewerbungen oder das aktuelle Arbeitsverhältnis zu äußern oder etwas von dem enormen Druck, den das Arbeitsamt ausübt, abzulassen. Durch die Offenheit und den formalen Charakter der Absageagentur können relativ viele Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus ihre Kritik an der gesellschaftlichen Herrschaftsform Lohnarbeit, an konkreten Arbeitsbedingungen usw. zum Ausdruck bringen oder einfach ihrem Frust und ihrem Ärger Luft verschaffen. Der Inhalt der Absagen liegt zwar bei unseren Kunden und Kundinnen und ist prinzipiell frei, aber wir haben doch Grenzen gesetzt. So haben wir eine Absage, die sich über englische Formulierungen in einer Stellenanzeige mokiert hat, nicht verschickt, weil wir nationalistische Äußerungen ablehnen und diese Kritik an unserem Anliegen vorbei zielt bzw. ihr sogar hinderlich ist. Dies war aber die einzige Ausnahme. In den meisten Fällen richtete sich die geäußerte Kritik gegen den herrschenden Arbeitsdiskurs und seine konkreten Auswirkungen im Alltag. Daneben gab es auch Absageschreiben, die bestimmte Praktiken von Firmen und/oder Branchen kritisiert haben, die nicht direkt etwas mit Arbeitsverhältnissen zu tun haben. Diese Absagen haben wir auch verschickt, wenn sie nicht nationalistische, rassistische oder sexistische Positionen vertraten, obwohl sie nicht direkt in unser Inhaltsspektrum fielen. Die Absager/-innen haben bei der Formulierung von Absagen größte Fantasie bewiesen und nicht nur stilistisch hervorragende Briefe verfasst, sondern auch ansprechende Kritiken geschrieben, oder aber sehr passende Arbeitgeber/-innen ausgewählt, wie zum Beispiel die Arbeitsagentur selbst. Ob eine Standardformulierung gewählt oder selbst formuliert wird, allen gemeinsam ist, dass sämtliche Absageschreiber/-innen ihre meist defensive und/oder resignierte Haltung ablegen und auf gleicher Augenhöhe mit den Arbeitgebern und Arbeitgeberinnen auftreten. Dies ist für uns ein wichtiger Schritt, in eine aktive Rolle zu kommen, um überhaupt wieder über den gesellschaftlichen Stellenwert von Arbeit nachdenken zu können.

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Abbildung 1: Schreiben der Absageagentur

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II. Die Grundidee dabei ist relativ simpel und liegt in einer einfachen Umkehrung, die aber einen Perspektivwechsel ermöglicht. Anstatt »ja, danke und amen« zu sagen zu jeder noch so schlecht bezahlten Arbeitsstelle, die Erwerbslosen angeboten oder durch den verschärften Arbeitszwang unter Hartz IV aufgezwungen wird, bieten wir den Service an, NEIN zu sagen. Dies gilt auch für verschlechterte Arbeitsbedingungen von Arbeitsplatzbesitzern und -besitzerinnen und generell für das Prinzip, die eigene Arbeitskraft verkaufen zu müssen. Uns scheint die Möglichkeit, bestimmte Arbeitsbedingungen oder Arbeit an sich abzulehnen, im gesellschaftlichen Diskurs überhaupt nicht mehr vorhanden zu sein. Jede Arbeitsstelle, egal wie schlecht die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung sind, ob sie gesellschaftlich sinnvoll ist oder nicht, scheint besser zu sein, als überhaupt keine Arbeit zu haben. Dieses Phänomen nennen wir die Fetischisierung von Arbeit. Denn nicht die fehlende Arbeit ist das vorrangige Problem, sondern das fehlende Geld. Menschen, die über genügend Geld verfügen, wird gesellschaftlich selten vorgeworfen, nicht zu arbeiten. Sie gelten nicht als arbeitslos, was im Umkehrschluss zeigt, dass die Arbeitslosen eigentlich Geldlose sind. Wenn aber diese Widerstandsmöglichkeit – Arbeit auch mal abzulehnen – nicht mehr vorhanden ist oder wie im Moment kaum mehr gedacht werden kann oder darf, wird die durch Sozialabbau und die Einführung eines Niedriglohnsektors beschleunigte Verschlechterung der Lebensbedingungen von Lohnabhängigen zur Abwärtsspirale. Wenn z.B. immer mehr Menschen unbezahlte Praktika, sogenannte Ein-Euro-Jobs oder schlechte Arbeitsbedingungen akzeptieren, stellt sich für die Unternehmen die berechtigte Frage, warum sie nicht immer mehr solcher Stelle schaffen sollen. Wir wollen allerdings nicht den Eindruck vermitteln, dass es leicht wäre, sich der Fetischisierung von Arbeit zu entziehen und einfach mal so eine Stelle oder Arbeitsgelegenheit abzulehnen. Es besteht ja gerade für Lohnabhängige der ökonomische Zwang ihre Arbeitskraft verkaufen zu müssen, um überleben zu können. Dazu gesellt sich das Arbeitsethos: Arbeit gilt als Lebenserfüllung. Negativ gewendet bedeutet das aber: Wer nicht arbeitet, hat auch nichts verdient – im materiellen und im moralischen Sinne. Diese Maxime wird im Kapitalismus ideologisch und immer stärker auch materiell durchgesetzt. Ideologisch gilt sie auch für die Zeiten, die man

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gerne vom Kapitalismus unterscheiden möchte und zum Beispiel in Deutschland Soziale Marktwirtschaft nennt.

III. Der offene Charakter der Absageagentur ermöglicht es vielen Menschen, die ansonsten eher nicht an politischen Aktionen teilnehmen, ihre Kritik oder wenigstens ihren Frust öffentlich zu äußern. Dies liegt daran, dass wir unsere Kritik, wie sie zum Teil oben formuliert ist, nicht direkt auf der Oberfläche – also dem Kontaktraum zu unseren Rezipienten und Rezipientinnen – präsentieren. Zu Anfang des Projekts hielten wir eigene politische Stellungnahmen im Hintergrund, um den experimentellen, offenen Charakter des Projekts nicht zu gefährden und die Gruppe unserer Kunden und Kundinnen so groß wie möglich zu halten. Wenn uns jemand direkt fragte, erläuterten wir unsere Motivation und unsere Kritik an der Fetischisierung von Arbeit oder verbreiteten sie auf Diskussionsveranstaltungen, aber auf unserer Internetseite und in unseren Räumen war sie nicht sichtbar. Auf der Internetseite haben wir eigene Stellungnahmen erst nach einem Jahr veröffentlicht. Es war Teil unserer Strategie, zwischen der Außendarstellung gegenüber den Absageschreibern und -schreiberinnen und direkten Informationsveranstaltungen oder Presseartikeln zu trennen. Wer sich also informieren wollte über unsere persönliche Kritik an der Fetischisierung von Arbeit, hatte dazu – nach und nach – die Möglichkeit, musste es aber nicht und konnte die eigene Kritik selbständig innerhalb der oben beschriebenen Grenzen äußern. Ein weiterer Faktor, der darüber entscheidet, welche möglichen Rezipienten und Rezipientinnen überhaupt in Betracht kommen, ist die Räumlichkeit. Als wir die Absageagentur in einem Kreuzberger Ladenlokal mit Schaufenster starteten, kamen ganz andere Leute als ein halbes Jahr später in einer städtischen Galerie. Das erscheint banal, ist aber für die Frage nach dem subversiven Charakter entscheidend. Menschen aus der Nachbarschaft kamen und fragten, was für einen Service wir anbieten oder ob wir damit Geld verdienen. Andere Menschen kamen zu uns, um mit uns über ihr persönliches LohnarbeitsDilemma zu reden, usw. Die Schwelle einer Galerie oder allgemeiner eines Ortes der Kunst zu übertreten, ist für viele Menschen dagegen zu hoch, um aktiv an solchen Aktionen teilzunehmen. Dorthin kommen

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für gewöhnlich kunstinteressierte Menschen, die sich zwar ebenso aktiv einbringen, jedoch verbleibt meist der gesellschaftliche oder politische Anspruch innerhalb des Raumes der Kunst. Das heißt, er regt bestenfalls zum Nachdenken an, was schon ungemein viel bedeutet, kann aber subversionsabwehrend als Kunst deklariert und damit politisch neutralisiert werden. Das heißt – für unser Projekt, denn hinsichtlich des subversiven Charakters lassen sich wenig allgemeine Aussagen treffen –, die Absageagentur erreichte mehr Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus, solange sie als Agentur in der Öffentlichkeit agierte und der politische Gehalt dadurch nicht so leicht als Kunst abgeschwächt werden konnte. Die Unklarheit des Status – Gewerbe, staatliches Amt, Kunst oder Politik – ist von großem Vorteil für einen subversiven Charakter. Die Stärke dieser Unklarheit liegt gerade darin, schwer einzuordnen zu sein und daher bei einem möglichst breiten gesellschaftlichen Publikum ein potenzielles Interesse zu wecken. Dennoch muss selbstkritisch eingeräumt werden, dass unsere Form der Politik, die anderswo als Kommunikationsguerilla beschrieben wird, in erster Linie einem links-akademischen, bürgerlichen Publikum zugänglich ist. Dies zeigte sich daran, dass die Presse zeitweise ein wesentlich größeres Interesse an unserer Aktion zeigte als das durch unser Büro zufällig aufmerksam gewordene Laufpublikum auf der Straße. Je nach Medium führte diese enorme Presseresonanz jedoch wiederum zu einem Interesse jenseits des linksalternativen akademischen Milieus. Die Absageagentur wurde von der Presse inhaltlich vereinnahmt, indem diese ihre eigenen Interpretationen (meist als »Rache der Arbeitslosen«) platzierte und unser politisches Anliegen wenig Gehör fand. Aus diesem Grund beschlossen wir im Laufe der Zeit, unsere eigenen Inhalte zunehmend aktiver durch Informationsveranstaltungen, Statements auf unserer Homepage oder durch strategische Interviewantworten einzubringen. Unser Anliegen, gegen die Fetischisierung von Arbeit vorzugehen, indem wir unterschiedlichste Personengruppen dazu anregen, über Arbeitsverhältnisse im Allgemeinen und im Besonderen nachzudenken, erschien uns wichtiger als die Frage, ob unsere Aktion subversiv ist. Die Frage, ob ein Projekt oder eine Aktion subversiv ist, ersetzt oft die Frage danach, was solche Projekte oder Aktionen politisch kritisieren. Wir unterscheiden analytisch daher zwischen einer subversiven Aktionsform und subversiven Inhalten. Wenn die politische Positionierung

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nicht klar erkennbar ist, kann eine subversive Form leicht als der Schlüssel zu einer gelungenen Taktik erscheinen. Obwohl eine subversive Form wie jede andere Form auch nie ohne Inhalt sein kann, erscheint es manchmal, als wäre sie für sich allein ausschlaggebend. In unserem Projekt ist die Form – das Absagenschreiben – enorm wichtig, weil sie für Offenheit sorgt und Aufmerksamkeit erzeugt. Ohne inhaltliche Bestimmung jedoch können mit Absageschreiben aber auch sehr viele andere Inhalte transportiert werden. Die Klarheit über das zu kritisierende Objekt ist daher eine wichtige Möglichkeit, eine nie auszuschließende Gefahr der Vereinnahmung zu verringern. Wenn eine subversive Strategie mit einer inhaltlichen Kritik verknüpft ist, lässt sich zwar die Form vereinnahmen, was prinzipiell schwer zu umgehen ist. Die Kritik muss sich dann eine neue passende Form suchen, in der sie geäußert werden kann, will man nicht ausschließlich bei nicht zu unterschätzenden klassischen Bildungsformen stehen bleiben. Wenn sich die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern, kann auch der Inhalt seine subversive Kraft verlieren und auch dann gilt es, neben neuen subversiven Aktionsformen die inhaltliche Kritik entsprechend den gesellschaftlichen Verhältnissen auf die Höhe der Zeit zu bringen.

DETOX TWO Detox yourself in an artificiaLINZed area C HRISTIANE S CHULLER , F LORIAN T AMPE

DETOX versteht sich als mehrstufige Laborsituation zur Untersuchung von (zwischen-)menschlichen Befindlichkeiten mit verschiedenen Stationen. Der Mittelpunkt ist eine immer neu und eigens für den Ort konzipierte und vor Ort erbaute Sauna. Am Anfang und am Ende steht der bekleidete Mensch. In einem Parcours aus Befindlichkeitsprüfung, Scham und Drang, Überprüfung der individuellen Möglichkeiten bis zur eventuellen Überwindung bewegt sich der Besucher auf das Herzstück DETOX zu. In diesem Moment der Spannung beginnt das Ritual der Entspannung. DETOX TWO auf der Subversivmesse stellte sich Fragen wie: • • • • •

Kann man eine ganze Sauna aus recycelten Materialien bauen? Wird sich wer ausziehen und wer wird schwitzen? Welche Wirklichkeiten prallen aufeinander und welche umarmen sich? Wird jemand im Schlamm baden oder in die Donau springen? Und gibt es etwas Schöneres als glückliche Gesichter an dampfenden Körpern?

DETOX ist ein interaktiv-soziales Kunstprojekt, das folglich nur existiert, wenn Mensch mitmacht. Grundsätzlich richtet sich das Projekt an alle Menschen. Auf der Subversivmesse haben wir erfahren, wie sehr DETOX vom Kontext abhängig ist.

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Abbildung 1: DETOX TWO bei der Subversivmesse

So hatten wir in Linz weit aus weniger Subversionsgehalt als bei DETOX ONE, das auf dem Dockville, einem Kunst- und Musikfestival, durchgeführt wurde, welches für die breite Masse konzipiert war. Die meisten Besucher der DETOX TWO waren mit der Thematik des Recycelns vertraut, auch die Zweckmäßigkeit einen Ort zu verändern, haben viele bereits selber erprobt. Diese Erfahrungen fehlten den DETOX ONE Besuchern und Besucherinnen zum großen Teil und so standen sie schon zu Beginn des Experimentes vor größeren individuellen Herausforderungen wie der, sich überhaupt darauf einzulassen. Eine Ausnahme in Linz war ein Hafenarbeiter. Wir lernten ihn während der Aufbauphase kennen, er besuchte uns oft und wir glauben, dass er sich immer wieder fragte: »Geh ich jetzt in die Sauna oder lieber doch nicht?« Schlussendlich tat er es nicht, wohl aber besuchte er die Messe. Für uns war DETOX TWO im Vergleich zu DETOX ONE eher eine Sauna als ein subversiver Akt. Das machte es nicht weniger schön, entspannend und einfach gut – aus experimenteller und subversiver Sicht jedoch uninteressanter. Für DETOX TWO wäre es spannend gewesen, mehr Hürden einzubauen, es nicht so leicht zugänglich zu machen, um den Fokus auf das eigene Erleben bzw. das Bewusstsein zu lenken: Entscheide ich mich für eine Erfahrung, entscheide ich mich

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dagegen? Das Bewusstsein, dass eine Entscheidung getroffen wurde, kommt gewöhnlich in der entspannten Phase danach. Abbildung 2: DETOX TWO Saunagäste in Linz

Herausragend bei DETOX TWO war die Materialbeschaffung. So konnten wir den Leiter der städtischen Recyclinghöfe überzeugen, uns im Namen der Kunst freien Zugang zu allen Recyclinghöfen zu unterzeichnen. Wahre Goldgruben – ohne sie hätte es uns nicht gegeben. Unsere Erfahrung hat gezeigt: Je natürlicher und offener wir als Aussteller/-innen und Künstler/-innen auf die Besucher/-innen zugehen, desto bereitwilliger und freier legen sie ihre Scham ab und geben sich dem Erlebnis hin. Unterstützend wirkt die Bereitstellung von Sicherheiten, wie z.B. eine kompetente Kleiderverwahrung, Bereitstellung von Handtüchern, Trinkwasser und Abkühlung, Sensibilität gegenüber Grenzüberschreitungen.

R ESÜMEE Mit DETOX haben wir ein Konglomerat aus einer konventionellen Methode der Entspannung und ihrer Verfremdung hergestellt. Subversive Methoden werden wohl immer auch in anderen Kontexten zu finden sein – aber es geht ja auch umgekehrt. Entscheidend hierbei ist also vielleicht nicht (nur) die Methode sondern (auch) der Zweck. Mit DETOX befinden wir uns in genau diesem Konflikt: Wann werden wir zur mobilen Sauna, die auf jedem coolen Event herumsteht. Was

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macht ein solcher Anspruch mit uns, wann sind wir überhaupt imstande, subversiv zu sein bzw. welche Rolle spielt das Bewusstsein, welche Rolle spielt das Projekt in unserer sozialen und emotionalen Verbindung und welche Auswirkungen hat eine gelebte Subversivität auf uns? Fragen über Fragen. Für unsere Subversivität brauchen wir persönliche Erfahrungen, Authentizität und eine Menge Hoffnung und Glauben. DETOX entwickelt sich hoffentlich weiter, vielleicht und wenn, dann mit sozialen, emotionalen, erlebbaren Zusammenhängen.

Dummy yourself! B IEDERPUNK

I. Biederpunk ist der Versuch eine gegenwärtige Ästhetik aus der Harmonie von scheinbaren Gegensätzen zu begreifen und zu entwickeln. Deswegen sind Gegensätze in unserem Projekt notwendig, wir suchen sie, wie der Hund die Trüffel. Eine Subversivmesse schien also die optimale Möglichkeit einer Auseinandersetzung der Biederpunks mit politischen Themen. Den Titel der Veranstaltung als Omen betrachtet, führte zwangsläufig zur Bearbeitung der Begriffe Subversion und Messe. Das haben wir dadurch versucht, indem wir das Thema der Subversion auf eine seiner Bedingung, nämlich den Mut, reduziert und diese Reduktion als Grundsätzlichkeit für die subversive Kultur vorgestellt haben. Die Subversion gehört zu den extremen Bewegungen eines hochmütigen 20. Jahrhunderts. Subversion ist mit der Bestrebung nach Revolution, Umsturz und Putsch verbunden. Das Wort Subversion spielt auf eine Drehung an: »Der derzeitige gesellschaftliche Umstand sollte durch schockierende Aktionen umgedreht werden, zugunsten einer neuen Ära.« Somit ist die Subversion keiner bestimmten Ideologie verpflichtet, vielmehr ist ihr die Richtungsänderung eigen. Die genannten schockierenden Aktionen sind oft kämpferischer Natur, Nazismus und Faschismus waren in ihren Anfängen subversiv und ihre Kraft baut auf den Mythos des tapferen Menschen, der zur Tat schreitet. Ernesto Guevara war subversiv nicht in seinem Amt als Minister, sondern als unberechenbarer Guerillero im Dschungelkampf; Gandhis subversiver Pazifismus hat durch den Schock seiner unerwarteten tapferen Haltung

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gewirkt und die Figur des Hitler-Attentäters Graf von Stauffenberg hat sich durch seine mutige Tat profiliert. Die Subversion ist mit der Idee des Subjekts, das sich für die Sache aufgibt, eng verknüpft. Die Bereitschaft, Kopf und Kragen zu riskieren, ist für die Subversion sicher nicht alleine ausreichend, aber dennoch ein notwendiges Element. Nicht zufällig ist dann die abendländische Kultur, zu der auch wir beiden Feiglinge gehören, heutzutage die am wenigsten subversive Kultur, da sie von Angst beherrscht ist: Angst vor Ausländern, Viren, Identitäts- und Gedächtnisverlust, Terrorismus, Finanzkrise, Klimawandel, Gentechnik. Es ist hier nicht die Frage, ob diese Ängste begründet sind, aber sie scheinen in einer nicht verzweifelten europäischen Gesellschaft hemmend gegen alle Subversionstriebe zu wirken.

II. Im epochalen Sinn ist unsere Arbeit weder subversiv noch revolutionär. Wenn sie mit irgendeinem Umkippen zu tun hat, handelt es sich eher um eine Aufmerksamkeitsumdrehung. In diesem Sinne haben wir ein Produkt vorgestellt, das mit den Grundelementen des Paares subversiv und Messe spielt – »Mut und Werbung« – und haben ein interaktives Objekt mit einer offenbar künstlichen Bedeutung dazu beigetragen: die homöopathische Übung der Gefahr. Dummy yourself! ist ein Versuchsaufbau, bestehend aus einer fünf Meter langen Schienenbahn auf der sich ein auf Rollen gelagerter Schlitten bewegt. Dieser ist durch Gummizüge mit einer Wand verbunden und wird wie ein Katapult gespannt und auf diese Art angetrieben. Der Dummy, welcher jede entsprechend risikobereite Person sein kann, nimmt in einem auf dem Schlitten befestigten Sessel Platz. Ein bis drei Personen spannen den Schlitten und lassen bei maximaler Spannung los, sodass dieser sich mit hoher, aber nicht gefährlicher Beschleunigung in Richtung Wand bewegt, wo es dann zum Aufprall kommt. Die Maschine wurde durch Merchandising (Poster, Aufkleber, Banner, Promotion) begleitet, um sie als notwendiges Werkzeug der Subversion darzustellen.

D UMMY

YOURSELF!

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Abbildung 1: Versuchsaufbau von Dummy yourself!

In etwa 300 Personen waren bereit, begleitet von unterschiedlichen Reaktionen Dummy yourself! zu testen. Dabei war sicher die Risikobereitschaft praktisch wie theoretisch ein wichtiges Thema. Es war stets ein Schritt sich bereit zu erklären die Position des Dummys einzunehmen, der vorerst in den entsprechenden Zusammenhängen wie Paaren, Familien, Freunden, Schülergruppen und Betriebsausflügen verhandelt wurde und insofern auch das soziale Gefüge der jeweiligen Gruppe thematisierte. Wer ist der Dummy, wer der Puller? Wer beweist Mut, wer Zurückhaltung, wer sitzt im Mittelpunkt, wer ist im Hintergrund aktiv, wer ist Opfer, wer ist Rächer? Trotz einer hohen FreizeitparkErprobtheit wurde Dummy yourself! als eigenständige Kategorie akzeptiert und dabei sehr unterschiedlich bewertet. Auch wenn Dummy yourself! nicht als Spielzeug gedacht ist, spielen Humor und Ironie in der Art der Reflexion eine Rolle und der Spaßfaktor bildete sicher einen erheblichen Zugang zur Installation. So kommentierten beispielsweise Schüler/-innen: »Geiler Schoaß« oder qualifizierter im dadaistischen Sinne: »Genial, macht ja überhaupt keinen Sinn«. Gestützt von der Behauptung Dummy yourself! sei ein Hometrainer, der dazu diene die eigene Risikobereitschaft in einer Welt, in der Ängste durchaus eine repressive Wirkung entfalten, zu verbessern, propagierten wir ebenfalls Nachahmung und Eigenbau. Was auch durch das eigenständige Erscheinungsbild von Dummy yourself!, seine improvisierte und gebastelte Ästhetik, bestärkt wurde. So konnte uns Spionage, wie z.B. die eines Mannes, der dadurch auffiel, dass er alle technischen Details besonders in Augenschein nahm und begann Maß zu nehmen, im negativen Sinne nicht beeindrucken. In der Annahme es könnte sich um

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eine polizeiliche Sicherheitskontrolle handeln, stellte sich bei einer Nachfrage heraus, dass der Mann Pfarrer ist, der Dummy yourself! für sein Jugendzentrum nachbauen wollte. Ob etwas daraus geworden ist, wissen wir leider nicht. Andere wiederum waren weniger am Gerät und einer Fahrt, als vielmehr an den Merchandise-Artikeln, wie Poster, Aufkleber und Shirts interessiert. Neben dem Einwand, das sei doch nur platt, gab es selbstverständlich auch tiefgründigere Kritik, wie die Risikobereitschaft als eine Abgestumpftheit gegenüber der Gefahr, als blinden Gehorsam gegenüber kapitalistischen Marktmechanismen, zu bewerten. Will man ein Fazit ziehen, würden wir behaupten: Biederpunk sitzt zwischen den Stühlen.

Games for Social Change Das Computerspiel Frontiers von gold extra S ONJA P RLIû , K ARL Z ECHENTER »Socially minded films and television programs can only dramatize their politics, but we now have a medium where you can interact with them, as an engaged participant. Indeed, the revolution will not be televised – instead, it’ll come with a game pad.« WAGNER JAMES AU

»T HE

REVOLUTION WILL NOT BE TELEVISED , INSTEAD …« Die Revolution mit dem game pad? Als Wagner James Au das bekannte Diktum Gil Scott-Herons abwandelte, hatte er State of Emergency, ein kommerzielles Computerspiel, dem die WTO-Proteste in Seattle als Vorbild dienten, im Sinn. Seither ist eine neue Spielkultur entstanden, die auch von Künstlern und Künstlerinnen, unabhängigen Studios und Aktivisten und Aktivistinnen mitgeprägt wird. Die österreichische Künstler/-innengruppe gold extra hat mit Frontiers ein Computerspiel geschaffen, das an die Grenzen Europas führt. Das Spiel thematisiert Flucht, Migration und die Situation an den EU-Außengrenzen, erreicht neue Zielgruppen und führt mitten hinein in das Spannungsfeld von Politik und Kunst und – ganz spezifisch – hin zur Frage der Wirkung von Serious Games.

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D AS O FFENSICHTLICHE

SICHTBAR MACHEN

Im Computerspiel Frontiers geht es um Flüchtlinge. Die gesellschaftspolitische Situation ist vertraut: 2008 waren 42 Millionen Menschen (UNHCR 2009: 3) weltweit auf der Flucht, insgesamt vier Fünftel fanden Zuflucht in Entwicklungsländern, die meisten davon in Pakistan, Syrien und Iran. In Europa suchten 2008 333.000 Menschen um Asyl an (UNHCR 2009: 15). Seit Ende 2006 patrouillieren Frontex-Einheiten im Mittelmeer. Ihre Aufgabe ist es, die Flüchtlinge zurückzuweisen oder ihre Ausreise vorbeugend in den Bereichen vor den Grenzen zu verhindern (vgl. Herzog 2008). Finanziert wird Frontex (aus frontières extérieures gebildet) zum größten Teil von der EU. Das Jahresbudget beläuft sich auf 80 Millionen Euro.1 Abbildung 1: Szene aus dem Computerspiel Frontiers

Das Thema ist medial allgegenwärtig, die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit als eines der wichtigsten gesellschaftspolitischen Themen bleibt trotzdem gering. In Österreich dienen Flüchtlinge in der Form von Asylanten als Projektionsfläche für das »Geschäft mit der Angst«, das strategisch für Stimmengewinne eingesetzt wird, wie der FPÖ-Politiker und Ex-Staatssekretär Eduard Mainoni im Gespräch mit Oliver

1

http://www.europeonline-magazine.eu/stichwort-frontex_53086.html? wpf_eol_mainmenu=6&wpf_eol_country=3, abgerufen am 03.07.2010.

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Geden 2006 freimütig bekannte (vgl. Geden 2006). In unterschiedlicher Ausprägung gilt Ähnliches für viele Länder der EU. In einem Gespräch vor kurzer Zeit zeigte der ehemalige Leiter der Hilfsorganisation Cap Anamur Elias Bierdel2 Fotos von einem Plakat in einem italienischen Hafen aus dem Jahr 2006, auf dem stand: »Kein Krieg gegen Flüchtlinge«. Man muss Elias Bierdel beipflichten, wenn er bemerkt, dass im Hinblick auf das schwere Gerät, das zur Abwehr der Flüchtlinge eingesetzt wird, 2010 der Krieg da ist. Soweit so bekannt, so offensichtlich. Wie bei vielen Kunstprojekten mit gesellschaftspolitischem Anspruch standen auch wir vor der Frage, wie das an sich Offensichtliche kommuniziert werden kann. Hier kommt die Arbeitsweise von gold extra ins Spiel: Die Idee schafft das Format. Wir gehen nicht von einer bestimmten Kunstform aus, in der wir alles zum Ausdruck bringen wollen, sondern forschen interdisziplinär nach neuen Formen, in der sich die jeweilige Inspiration am sinnfälligsten ausdrückt. Dementsprechend sind wir in Bildender Kunst, Performance, Musik und Hybrid-Media tätig. Für unser Interesse am Thema Migration und Flucht suchten wir deshalb bewusst nach einer Form, die ein größeres Publikum ansprechen könnte und dies auch auf andere Weise tut als es bei traditionellen Kunstformen (Ausstellungen, Theaterproduktionen) der Fall ist; vor allem weil man sich dort ohnehin einem wohlmeinenden Publikum gegenübersähe – »preaching to the converted«, heißt das treffend. Ein Computerspiel versprach dagegen neue Wege das politische Interesse auszudrücken, eine ästhetische Position zu definieren, schließlich neue Wege in der Kommunikation mit dem Publikum und der Distribution zu entdecken – und es kam natürlich auch unserer Lust am Spiel entgegen. An Frontiers arbeiten seit 2006 die gold extra-Künstler/-innen Tobias Hammerle, Georg Hobmeier, Sonja Prliü und Karl Zechenter zusammen mit dem Medienkünstler Jens Stober als Produzenten.

»C HANGE

THE INFORMATION «

»Wir sind keine Verbrecher«, sagt Isfan Osama. Er steht mit fünfzig anderen Flüchtlingen aus dem Sudan, Niger, Mali und Kaschmir im spanischen Flüchtlingslager Centro de Estancia Temporal de In-

2

www.borderline-europe.de

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migrantes (CETI) in der spanischen Exklave Ceuta um das vierköpfige Künstler/-innenteam von gold extra herum. Alle wollen ihre Geschichte erzählen, berichten von vier, fünf Jahren auf der Flucht durch Wüsten, Berge und über das Meer, bis sie hier in der europäischen Stadt auf afrikanischem Boden gestrandet sind. Wir sind entsetzt, verstört, beeindruckt. »Es wurde mir in dieser Situation ganz deutlich bewusst, wie wichtig es wirklich ist mit Frontiers möglichst viele Menschen zu erreichen« erzählt Sonja Prliü. Recherchereisen haben das Team von Frontiers an den äußersten Osten und Süden Europas geführt. An der neuen Schengen-Außengrenze zwischen der Slowakei und der Ukraine informierten wir uns über die enorme technische Aufrüstung der Grenzpolizei in diesem Gebiet, die in krassem Gegensatz zu den katastrophalen humanitären Bedingungen in den Flüchtlingslagern in der Ukraine steht. »Hier entsteht ein neuer Eiserner Vorhang und zwar als Elektronischer Vorhang«, war mein eigener Eindruck von der Situation. Noch stärker gesichert ist die Küste Andalusiens an der Meerenge von Gibraltar und an den spanischen Exklaven, den Städten Melilla und Ceuta, die sich auf afrikanischem Boden befinden. Das Team von gold extra suchte in seiner Recherche den persönlichen Kontakt zu Flüchtlingen, Experten und Expertinnen, zu Polizei, Grenzschutz und staatlichen Organisationen sowie zu NGOs, Medien- und Kunstorganisationen, die europaweit und spezifisch in diesen Regionen mit Flüchtlingen und in Informations-, Vernetzungs- und Hilfsprojekten arbeiten. Die Recherche vor Ort war ergebnisreich, intensiv und manchmal – angesichts der Schicksale der Flüchtling – entmutigend. Gerade darin lag aber eine Herausforderung für die Positionierung des Projekts. Eine der wenigen unabhängigen verbleibenden Flüchtlingshelfer/-innen in Ceuta, die betagte kirchliche Schwester Paula Dominges, fasste das in einem Interview als Aufforderung an uns, als sie sagte: »You have to change the information«. »Change the Information« wurde zu einem Motto von Frontiers: Das Computerspiel kann das politische Problem nicht lösen – eine Anfrage, die regelmäßig in Präsentationen auftaucht – und/oder kann auch nicht andere Medien ersetzen. »Change the information« bedeutet, dass wir Frontiers als Teil einer Medienlandschaft verstehen, in der das Spiel dazu beitragen kann, dass Informationen z.B. aus Informationsmedien wahrgenommen, verstanden und erinnert werden kön-

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nen, indem es eine Beziehung zu Orten und Situationen an den EUAußengrenzen herstellt.

S PIELE , G AMES UND F RONTIERS : I MMERSION UND P ARTIZIPATION »Wir haben uns besonders für Immersion interessiert: das Eintauchen in die Spielwelt. Das war ein wichtiger Ausgangspunkt für die Arbeit an Frontiers«, erklärt Georg Hobmeier. In Frontiers bedeutet das Eintauchen in eine Spielwelt zugleich ein Eintauchen in eine politische Situation. Ästhetische und politische Wirkung sind im Spiel eng miteinander verknüpft. In Folge wollen wir nun Computerspiele allgemein, modding, das game play von Frontiers und das Feld von Serious Games beleuchten, um Wirkung und Wirkungskontexte von Frontiers zu skizzieren. Computerspiele3 sind vom popkulturellen Randphänomen zu einem wichtigen Träger von popkulturellen Trends geworden, präsentiert in großen Messen und Medienberichten. 88 Prozent aller 13- bis 19-jährigen Jungen und 51 Prozent aller gleichaltrigen Mädchen in Deutschland hatten oder wünschten sich 2008 Computerspiele laut einer Meldung des Verbands der Unterhaltungssoftware Deutschland e.V.4 Spiele als »interactive digital art« (Paul 2003: 198), wichtiges Unterhaltungsmedium und selbstverständlicher Teil von Popkultur, erfahren eine zugleich segmentierte und widersprüchliche Rezeption. Ästhetische und künstlerische Ansprüche, das Interesse von Spielern und Spielerinnen, der Zugang von an Popkultur Interessierten unterscheiden sich. Am selben Spiel interessiert berühren sich die Kreise selten, die Teilöffentlichkeiten, die Spiele auf unterschiedlichen Ebenen mit unterschiedlichem Know-how rezipieren, sind breit aufgefächert, wie die periodisch wiederkehrenden Shooter-Diskussionen zei-

3

Wir verwenden den Begriff Computerspiele als Überbegriff für Spiele, die am PC, auf einer Konsole oder auf einem Smartphone gespielt werden analog zur Begriffsbestimmung in Carr et al. 2008: 4.

4

Vgl. http://helliwood.mind.de/vud_home/SID/1b416f3ce0cfff1c061a5866 1728219b/index.php?id=22 und http://helliwood.mind.de/vud_home/SID/ 1b416f3ce0cfff1c061a58661728219b/index.php?id=15, abgerufen am 06. 12.2009.

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gen. Frontiers ist eine Modifikation eines first person shooter und ist damit – wenn auch, wie später gezeigt wird, in ungewöhnlicher Form – Teil dieses Diskurses. Wie funktioniert Frontiers? Die Spieler/-innen können zwischen zwei Rollen wählen: Als Flüchtling oder Grenzwache können sie verschiedene Grenzsituationen, jeweils Stationen auf dem Weg von Afrika nach Europa spielen. Die Levels des 3-D-Online-Spiels basieren auf realen Grenzorten. Details der Grenzsituationen wurden recherchiert und vermitteln ein angenähert realistisches Bild der Situation. Gespielt wird online auf Servern von gold extra und dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) Karlsruhe im Multi-Player-Modus. Derzeit haben ca. 30.000 Menschen das Spiel heruntergeladen, zwei Level sind online: das Grenzgebiet zwischen Niger und Algerien in der Sahara sowie eine Szene am Zaun von Ceuta. Fertiggestellt wurden 2010 die Spielszenarien spanische Stadt, sowie Hafen von Rotterdam. Als Level in Vorbereitung ist der Weg aus Asien nach Europa über die Stationen Iran, Türkei, Ukraine, mit demselben Ziel: Rotterdam. Frontiers hat eine doppelte Natur: Zum einen ist es Kunstprojekt, das als solches Vermittlungsformen und -traditionen unterliegt, zum anderen sollte ein Spiel geschaffen werden, das als game (vgl. Carr et al. 2008: 9ff.) funktioniert, d.h. von Spielern und Spielerinnen im privaten Rahmen als Freizeitbeschäftigung ohne zusätzliche Information gespielt werden kann. Für Frontiers war es deswegen notwendig zwei Ziele zu erreichen: eine immersive Spielwelt und einen partizipatorischen Rahmen zu schaffen. Für die Immersion (vgl. Ryan 1994)5 sind eine Reihe von Faktoren ausschlaggebend, die vor allem in 3-D-Spielen erreicht werden, u.a. die einnehmende Qualität der bildlichen Darstellung oder auch die Möglichkeit sich im virtuellen Raum zu bewegen, um den Effekt des »disappearing computer« zu erzeugen. Hierin unterscheidet sich Frontiers auch von anderen Interactive-Digital-ArtProjekten wie Linda Ercegs Skin Pack oder Jodis SOD in denen die Hard- oder Software bzw. der – oft dekonstruktivistische – Eingriff der

5

Ryan (1994) benennt eine Reihe weiterer Faktoren für die Immersion, z.B. technische Kategorien wie »depth« und »breadth of information« und beschreibt den »disappearing computer« derart: »Insofar as immersion is ›the blocking out of the physical world‹ (Biocca 1992: 25), it cannot be experienced if the user remains aware of the physical generator of the data, namely the computer.«

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Künstler/-innen als Verfremdungseffekt im Zentrum des Projekts stehen.

M ODDING : AUS DER VIRTUELLEN R EALITÄT IN DIE G EGENWART Neben der Immersion als grundlegende Strategie, die vor allem auch durch technische Mittel erreicht wird (3-D-Engine, Grafik, Sound), spielt modding als partizipative Methode eine Rolle für die Entstehung und für die Wirkung des Spiels. Frontiers ist eine Modifikation des Spiels Half-Life2 bzw. von dessen Online-Multiplayer-Variante, dem Shooter Deathmatch. Als Grundstruktur des Spiels wird die klassische Situation eines First-Person-Spiels, in dem zwei Teams gegeneinander antreten, übernommen. Diese Situation wird jedoch adaptiert und modifiziert: Frontiers setzt sich bewusst mit den Regeln und Konventionen von Online-Multiplayer-Games auseinander und bietet neue Möglichkeiten für die Spieler. Modding fungiert hier also als Produktionsmethode, als Mittel der Verfremdung und als Instrument zur Partizipation. Modding als Produktionsmethode bedeutet die game engine von HalfLife2 zu verwenden und alle Oberflächen, die im originalen Spiel vorhanden sind, von der Benutzeroberfläche über den Sound bis hin zu allen Objekten und Personen auszutauschen und durch eigene Models, Characters, Maps, GUIs zu ersetzen. Über diese Umgestaltungen an der Oberfläche hinaus haben wir wesentliche Veränderungen an der Spielstruktur, dem game play vorgenommen. Wir haben neue Spielfunktionen hinzugefügt, die im shooter nicht vorhanden sind. Dazu zählen die Funktionen thematisch realitätsnaher Spieloptionen wie Verhaften und Bestechen. Im Zusammenhang mit diesen Funktionen steht die Intervention, die sich mit dem Hauptelement der shooter auseinandersetzt. Mit dem Human-RightsIndex6, der sich auf die Punkte, die ein Team erreichen kann und auf verschiedene andere spielentscheidende Faktoren auswirkt, wird Ge-

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In Frontiers sind die Teams der Grenzpolizei zwar wie die realen Grenzpolizeieinheiten mit einer Waffe ausgestattet, doch wird im Spiel der Waffengebrauch mit dem Human-Rights-Index sanktioniert. Wer schießt, schadet dem Ansehen des Landes in der internationalen Gemeinschaft, schadet seinem Team und verliert Punkte.

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waltanwendung sanktioniert. Diese Maßnahme führt aus der virtuellen Realität in die Gegenwart und wirkt als Herausforderung und Provokation von Spielenden, die sich in unterschiedlichen Foren, im Web, aber auch in Diskussionen und Spieletests zu Wort gemeldet haben, neue Spielverhalten ausprobiert und die Thematik des Spiels sowie das Genre an sich zum Diskussionsgegenstand gemacht haben. Die Neudefinition des Mediums durch die Veränderung wesentlicher struktureller Parameter wird so zum wichtigen Bestandteil des Diskurses. Das Spiel wird zum wirklich gesellschaftlich relevanten Kunstwerk, weil es mit gewohnten Haltungen und Strukturen bricht und so einen Dialog über das Spielen selbst provoziert. Eine dritte Funktion des moddings ist der partizipative Rahmen, der dadurch geschaffen wird. Für Half-Life2 steht die game engine samt Editor zur Verfügung, die Zahl von aktiven moddern ist enorm. Die mod database (moddb.com), eine der wichtigsten Diskussionsplattformen für Game-mods, verzeichnete im Dezember 2009 10.800 dort registrierte mods. Die Zahl der bloßen Spieler/-innen dieser mods ist noch um ein Vielfaches höher. Mit dem form-mod dockt das Spiel Frontiers also an eine bestehende Community an und wird von dort aus weiterverbreitet, diskutiert und weiter entwickelt. Indem das Instrumentarium jedem und jeder offensteht, können alle Spieler/-innen auch zu Mitgestaltern und Mitgestalterinnen der virtuellen Realität werden. Mit dieser Möglichkeit der aktiven Partizipation erweitert sich die Reichweite des Diskurses beträchtlich. Politische und ästhetische Fragen verbinden sich in einem Dialog über die Konstruktion der virtuellen Welt, die in Diskussion über Fragen der Migrationspolitik umschlägt. Frontiers funktioniert wie Medienkunstwerke generell in und durch die Medien, in diesem Fall auch dadurch, dass es gespielt, besprochen, angesehen, auf der Website und anderen Internetforen diskutiert wird. Die hohe Zahl an Downloads belegt, dass Frontiers Spieler/-innen erreicht, bei Live-Präsentationen treffen wir auf großes Interesse und Engagement. Schließlich wurde Frontiers in Fachmagazinen und Nachrichtenmedien besprochen, darunter ARD Tagesthemen, BR, ARTE, ORF, WDR, Die Zeit, Der Spiegel sowie eine große Reihe von österreichischen und deutschen Zeitungen. Bei Frontiers lassen sich politische Dimension und ästhetische Funktion nicht voneinander trennen. In dieser Offenheit in beide Richtungen funktioniert das Spiel als Tool für eine Präsentation von Amnesty International wie auch in

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der Dauerausstellung World Of Games im ZKM Karlsruhe und entfaltet in beiden Fällen eine diskursivierende Funktion. Ein weiterer Aspekt, der für die Wirkung und Produktion von Frontiers zugleich wichtig ist, ist die Produktionsweise als work in progress. Vom Beginn der Produktion an haben wir versucht den Entwicklungsprozess offen zu gestalten, d.h. das Spielkonzept als Idee, als Prototyp unterschiedlichen Gruppen präsentiert, Flüchtlingen, Kunstinteressierten, Experten und Expertinnen in Universitäten, Kulturzentren, Flüchtlingshäusern in Spanien, Portugal, der Ukraine, Österreich und Deutschland. Im offenen Prozess war es dabei möglich Ideen beizusteuern, zu kritisieren, und auch selber zum Projekt beizutragen.

V ON S ERIOUS G AMES S OCIAL C HANGE

ZU

G AMES

FOR

»Wir haben immer großen Wert darauf gelegt, dass das Spiel auch so gut funktioniert, dass es wirklich von Jugendlichen gespielt wird und nicht nur in Galerien ausgestellt wird«, erklärt Tobias Hammerle. Dazu tragen die fünf Kategorien für die Funktionsweise von Serious Games bei, die Ute Ritterfeld so beschreibt: »Technische Funktionalität, Game-Design, visuelle und akustische Gestaltung, eine gute Storyline und die Möglichkeit der Partizipation« (Ritterfeld 2008). Darüber hinaus ist aber ein reframing nötig: »In politics our frames shape our social policies and the institutions we form to carry policies. To change our frames is to change all of this. Reframing is social change.« (Lakoff zitiert nach Raessens 2009: 500)

Frontiers trägt zu diesem reframing bei, indem es ein bekanntes Spielformat neu interpretiert und ein politisches Thema in einer Form präsentiert, die ungewohnt ist und zu Fragen, Diskussionen und Experimentieren anregt: Eine politische Thematik wird als offene Situation erlebt. Damit ist Frontiers kein Klassenzimmerspiel, in dem die Intentionen der Produzenten das Spiel überlagern, die Spieler/-innen also das gewollte Spielverhalten mimen können und das Spielziel erreichen, ohne dass dabei Anteilnahme oder Engagement entsteht. Es gibt bereits jetzt eine Reihe von Serious Games von UN-Organisationen, NGOs, Regierungsorganisationen und ihre Zahl wird weiter steigen.

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Der gute Wille allein reicht aber nicht, wie Henry Jenkins feststellt: »We do not simply want to tap games as a substitute for the textbook« (Jenkins et al. 2009: 450). So kann, um Wagner James Aus Gedanken wieder aufzunehmen, die »revolution« nicht nur »televised« werden – ob im Spiel oder Film. Derart könnte sie tatsächlich mit dem game pad kommen: Frontiers setzt als mod auf Partizipation und auf mediale Selbständigkeit der Benutzer/-innen, des Publikums: Die Informationstiefe können die Spielenden innerhalb des Spiels selbst bestimmen. Auf jeden Fall jedoch wird durch Immersion der virtuelle Grenzort zum Erinnerungsort gemacht. Das Spielerlebnis kann sich durch die aktive Spielteilnahme im Gedächtnis der Spielenden verankern und führt durch den Spielverlauf selbst zu einer Auseinandersetzung mit der Thematik, im Idealfall auch zu einem vertieften Wunsch nach Information, einer neuen Haltung oder aktivem Handeln, weil die Spieler/-innen sich eingebunden und aktiviert fühlen. »›Was soll ich tun?‹, wurden wir von den Flüchtlingen gefragt, die uns im CETI, dem Auffanglager in Ceuta, umringt haben«, sagt Sonja Prliü. »Sie haben uns ihre Abschiebungspapiere gezeigt. Nach fünf Jahren durch die Wüste können sie aber auch nicht zurück. Wir können das mit unserem Spiel nun nicht einfach beantworten. Aber wir können damit aufzeigen, dass wir alle gemeinsam daran arbeiten müssen, eine Antwort darauf zu finden, was wir tun sollen.« Frontiers wird produziert von gold extra. Produzenten und Produzentin sind: Tobias Hammerle, Georg Hobmeier, Jens M. Stober, Sonja Prliü und Karl Zechenter. Frontiers ist downloadbar unter www.frontiers-game.com.

L ITERATUR Carr, Diane/Buckingham, David/Burn, Andrew/Schott, Gareth (2008): Computer Games. Text, Narrative and Play, Cambridge: Polity Press. Geden, Oliver (2006): Diskursstrategien des Rechtspopulismus, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Herzog, Roman (2008): »Manuskript von Krieg im Mittelmeer. Von der Cap Anamur zu Frontex und Europas neuen Lagern«, http://

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www.swr.de/swr2/programm/sendungen/feature/-/id=659934/nid= 659934/did=3510294/w8hs6t/index.html, abgerufen am 03.07. 2010. James Au, Wagner (2002): »Burn down the shopping malls!«, http:// www.salon.com/tech/feature/2002/02/22/state_of_emergency/, abgerufen am 19.12.2009. Jenkins, Henry et al. (2009): »From Serious Games to Serious Gaming«, in: Ute Ritterfeld/Michael Cody/Peter Vorderer (Hg.), Serious Games. Mechanisms and Effects, New York/London: Routledge, S. 448-468. Paul, Christiane (2003): Digital Art, London: Thames & Hudson. Raessens, Joost (2009): »The Gaming Dispositif. An analysis of Serious Games from a Humanities Perspective«, in: Ute Ritterfeld/ Michael Cody/Peter Vorderer (Hg.), Serious Games. Mechanisms and Effects, New York/London: Routledge, S. 486-512. Ritterfeld, Ute (2008): »Nur Qualität macht Spaß«, http://www.check point-elearning.de/article/5425.html, abgerufen am 14.12.2009. Ryan, Marie-Laure (1994): »Immersion vs. Interactivity: Virtual Reality and Literary Theory«, in: SubStance 89, S. 110-137. UNHCR (2009): 2008 Global Trends. Refugees, Asylum-Seekers, Returnees, Internally Displaced and Stateless Persons, Report vom 16. Juni 2009.

Parasitäre Publikationen und Feindliche Übernahmen R UPPE K OSELLECK

I CH UND I KEA Ich bin ein Vertreter des Subversiven Opportunismus und der Parasitären Publikation. Die nicht legitimierte und selbst beauftragte Intervention im gesellschaftlichen Kontext ermöglicht die maximale Freiheit, mit der ich versuche, meine Kunst zu verbreiten. Abbildung 1: Ruppe Koselleck, Ich und Ikea, Filiale in Hengelo, 2005

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Unter Parasitäre Publikationen verstehe ich nicht legitimierte Interventionen und Beilagen im halböffentlichen Raum. Im Tausch gegen die semi-schwedische internationale Musterfamilie, welche in der Möbelausstellung von IKEA in Wechselrahmen hängt, setzte ich mich und meine Familie ein. Ich entwendete die Fotos und Drucke von Ikea und ersetzte diese mit Fotos von mir und meiner Familie als musterrahmentaugliche Intervention in das Ambiente des Möbelhauses. So wurden ich selbst und meine Kunst Teil der weltweit erfolgreichsten Ausstellung. Durch 21 Filialen und quer durch Europa zieht sich meine parasitäre Spur durch die Möbelausstellungen von IKEA. Abbildung 2: Ruppe Koselleck, Ich und Ikea, Schnitzel in Bielefeld, 2006

Was mit dem Austausch von Fotos begann, endete mit allem, was ich zu entsorgen gedachte. Ich hinterließ verbrauchte Handtücher in Hengelo, ein altes Handy in Wallau, packte Pornos in die Schubladen von Schrankelementen in Essen oder trennte mich von den abgelegten Goldringen in der Filiale in München. Die vorhandenen Mülleimer dienten mir als parasitäres Entsorgungssystem für meinen Haushaltsmüll. Ich schlug neue Nägel ein, hängte Bilder um – baute also die ikeale Musterwelt im Sinne eines künstlerischen Parasiten so um, wie es mir beliebte. Als allerletzten parasitären Eingriff werde ich einen Sarg konstruieren, der in einem fertigen Ikea Karton dort günstig zu erwerben

P ARASITÄRE P UBLIKATIONEN UND FEINDLICHE Ü BERNAHMEN | 229

ist. Direkt an den Kassen soll er stehen. Einen echten Preisdrücker von 66 Euro. Lebst Du noch oder kurbelst Du schon? Abbildung 3: Ruppe Koselleck, Ich und Ikea, Porno in Essen, 2006

F EINDLICHE Ü BERNAHME

VON

BP

Subversion in der Kunst ist mehr als einfach nur eine zersetzende Kraft – sie stellt eine Sub-Version dar. Sie kreiert eine andere, mögliche Version oder Vision von Wirklichkeit. Subversion ist damit eine ebenso künstlerische wie utopische Strategie – eine adäquate Anmaßung, die Wirklichkeit zu verbessern oder auch nur ein wenig schöner zu machen. Mit rohem Öl gegen den Konzern oder der Versuch, BP mit den eigenen Mitteln zu schlagen Ich sammle Teer- und Ölverschmutzungen an allen mir erreichbaren Stränden und Küsten dieses Planeten. Aus diesen strandlagigen bituminösen Klumpen fertige ich Rohölbilder an. Der Verkauf dieser rohen Ölmalerei finanziert mir den Aktienankauf von BP, den ich so über seinen eigenen Müll zu schlucken gedenke. Der Preis meiner Malereien errechnet sich aus dem Aktienkurs von BP. Der Wert meiner Kunst schwankt also mit dem Börsenwert des

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Konzerns. Für eine kleine Ölzeichnung veranschlage ich den Wert von zwei Aktien. Eine Aktie kaufe ich an der Börse und von dem Wert der anderen finanziere ich den Erhalt des Büros und meiner Familie. Abbildung 4: Ruppe Koselleck, Feindliche Übernahme von BP

In Linz kostete die Ölzeichnung mit einer Ölsorte 10 Euro und dank der breiten Unterstützung durch die Messebesucher setzte ich knapp 500 Euro um. Am Ende der Messe konnte ich meinen Aktienbestand auf 715 von insgesamt 18.739.810.358.902 BP Aktien erhöhen. Die Übernahme war damit um eine homöopathische Dosis vorangeschritten. Die Anwendung des ökoästhetischen Verursacherprinzips aus der engagierten Sicht eines einzeln agierenden Künstlers gegen einen multinational operierenden Konzern ähnelt dabei dem Kampf von David gegen Goliath und verweist auf das Bild vom Mann und dem Meer. Die ästhetische Haltung der vergnüglichen Vergeblichkeit eines berechtigten Vorhabens verwandelt sich dabei im Kommunikationsprozess mit den Ölbildkäufern und -käuferinnen. Sie bestimmen die Wahl der gefundenen Ölsorten – bevorzugen beispielsweise Peleponnes als Malstoff für klassisch griechische Ölmalerei oder wünschen die Verwendung von Belfast, weil sich der Geruch eines Konfliktes in die Arbeit mischt. Der Einfluss der Käufer/-innen verschiebt die Bedeutung der Arbeit in Richtung ökologischer Ernsthaftigkeit oder satirischer Absicht.

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Abbildung 5: Ruppe Koselleck, Feindliche Übernahme von BP

Das Büro zur Feindlichen Übernahme von BP lebt von der Begegnung mit Menschen, deren Kaufmotive sich grundlegend unterscheiden. Die einen haben bei einer BP-Tankstelle gearbeitet und wünschen sich einen neuen Chef, die anderen erzählen von Badeurlauben und schwarzen Füssen. Die reale Ausführung eines ungeheuer unwahrscheinlichen Vorhabens entspricht einem Lebensgefühl des Ausgeliefertseins an übermächtige globale Konzerne, denen man etwas entgegensetzen will. Interessant ist dabei für mich als Künstler, dass zu den Interessenten und Interessentinnen nahezu alle Bevölkerungsschichten gehören. Viele kaufen das erste Mal in ihrem Leben ein Kunstwerk und helfen damit die Grenzen aus Witz, Humor und elfenbeinturmartigem L’art pour l’art zu unterlaufen. Die Tatsache, dass subversive Strategien aktuell en vogue sind, belegt der Bedarf an einer Sub-Version anderer Wirklichkeiten. Sollte sich der Mensch als Existenzform auf diesem Planeten halten können, so wird das Bedürfnis an Subversion und Zersetzung überholter und übermächtiger Machtkonzentration zunehmen. Ob es gelingt, wird die Feindliche Übernahme von BP zeigen.

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Abbildung 6: Ruppe Koselleck, Deephorizontale Impressionen in Öl, 2010

Als am 20. April 2010 die Plattform Deepwater Horizon unterging, erhöhte sich täglich die Übernahmewahrscheinlichkeit um viele Tonnen Rohöl im Meer, mit denen ich aktuell in Florida male, um mir Aktie um Aktie den Multi einzuverleiben. Ruppe Koselleck, Florida 2010 CEO/BP in spe für TAKE-OVER-BP.com

R UPPE K OSELLECK IM I NTERVIEW MIT ALAIN B IEBER Wird Subversion heute immer wichtiger? Wenn ja, warum? Subversion als zersetzende, überwindende, umstürzlerische Kraft ist eine für die Veränderung erstarrter Systeme notwendige Energie. Wenn das subversiv attackierte System anpassungsfähig und innovativ ist, wird es sich die Subversion stets zunutze machen, und sich das Beste zum Überleben oder das Bessere zum Überwinden seiner selbst herauspicken. Die Subversion, die zur Überwindung des Sozialismus führte, wurde von den Spitzen des Systems selbst organisiert. Die subversive Energie kam mit Michael Gorbatschow schließlich aus den höchsten Rängen des KGB – wurde vom inner circle initiiert. Danach

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konnte man den Dissidenten ihren Tribut zollen, die zur Notwendigkeit der Systemüberwindung das existenzielle Risiko als verfolgte und abtrünnige Subversive ertragen mussten. So gesehen erhöht Subversion den Sauerstoffanteil in der Luft. Wenn es zu stickig wird, benötigt das System seine subversive Energie, damit es wieder atmen kann. Sicherlich ist das aktuell von dringlicher Notwendigkeit, wenn man sich den Allgemeinplatz der Globalisierungsproblematik anschaut. (Sehr wirksam scheint mir dabei die Idee eines copy left oder eines Patentdiebstahls, das der Dritten Welt erlaubt, kostengünstige Innovationen zu verwirklichen, die sie sich nicht leisten kann. Das Urheberrecht und Medikamentenpatente wirken hier tödlich. Hier wirken subversive Strategien Wunder.) Subversion und Kunst – wie geht das zusammen? Oder geht das nur so zusammen? Kunst kann nicht anders als subversiv sein. Selbst die reine und wahre, gute Schönheit ist subversiv – weil sie auf eine andere als die reale Realität verweist. Subversion in der Kunst ist mehr als einfach nur eine zersetzende Kraft – sie stellt eine Sub-Version dar. Sie kreiert eine andere, mögliche Version oder Vision von Wirklichkeit. Subversion ist damit künstlerische Utopie. Kunst ernährt sich von Subversionen möglicher Wirklichkeiten und spuckt andere und manchmal sogar neue Wirklichkeiten aus bzw. spuckt dem Betrachter bzw. der Betrachterin Böses oder Hässliches entgegen. All das kann sichtbar werden, was Sie noch nie wissen wollten! Aber man sollte die Wirkung von Kunst nicht überschätzen, weil sie quasi institutionell im Betriebssystem Kunst verankert ist und dieses artifizielle Betriebssystem mit Subversion operiert. In Schärfe ausgedrückt: Subversion ist programmatische und willkommene Zersetzung eines sich stets neu erfindenden und zersetzenden Systems der Kunst. Was reizt Dich an der Subversion bzw. was bedeutet Dir die Subversion? Ich bin ein Vertreter des Subversiven Opportunismus und der Parasitären Publikation. Die nicht legitimierte und selbst beauftragte Intervention im gesellschaftlichen Kontext ermöglicht die maximale Frei-

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heit, mit der ich versuche, meine Kunst zu verbreiten. Mit Opportunismus verfolge ich ein Projekt der Anpassung an Gegebenheiten zwecks subversiven Eindringens in den Konsumhaufen, aus dem wir uns geistig und körperlich ernähren und ernähren müssen. Meine Strategie passt sich dabei jedoch nicht dem Kunstsystem an, sondern operiert außerhalb desselben, um ungestört vom Markt eine Position zu produzieren, die erst später als Dokumentation in den Kunstsektor wechselt. In der Intriganten Intervention verfolge ich den Austausch von Werbematerialien bei Lidl und Aldi, sodass der Kunde bei Aldi mit den Informationen von Lidl durch den Discounter spaziert, sich verläuft und in dem Moment eine Irritierung erlebt. Ich selbst bleibe dabei unsichtbar – mein Kunstbegriff ist nebensächlich und ephemer. (In Zeiten des Wahlkampfes lasse ich schon mal die CDU Flyer der SPD verteilen und umgekehrt.) Dabei verfolge ich Strategien einer absurden Öffentlichkeitsarbeit, die sich im zunächst übersehenen Detail äußert. Bei Ikea eine Postkarte mit einer seltsamen Fischstäbchenkonstruktion zu hinterlassen, die ein Hakenkreuz assoziieren lässt, stellt Fragen, deren Antwort ich nicht geben will. »Ich kann beim besten Willen kein Fischstäbchen entdecken«, ist dabei zugleich eine Hommage an Kippenberger und eine Ausstellung für eine Person – nämlich den zufälligen Entdecker der Intervention. Wie/wann kam es zu Ich und Ikea? Und wie lange machst Du das schon? Die Musterausstellung des Möbelhauses Ikea ist mit seinen täglichen zehntausend Besuchern und Besucherinnen die beständig und weltweit erfolgreichste Ausstellung. Mit meinen Parasitären Publikationen bei Ikea bin ich ein substanzieller Teil dieses Erfolges geworden und das kann im Sinne einer Erhöhung der Rezeptionswahrscheinlichkeit nicht schädlich sein. Seit 1998 besuche ich Filialen von Ikea, quer durch ganz Europa und hinterlasse dort Interventionen in den partiell öffentlichen Privat-Raum-Fake der Möbelausstellung. Zunächst tauschte ich die semischwedische Musterfamilie aus, die dort etwa als glückliches Paar im Bilderrahmen des eingerichteten Schlafzimmers im Wechselrahmen dem Betrachter und der Betrachterin entgegengrinst. Ich setzte mich und meine Familie dort ein. Niemandem fiel das auf.

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Innerhalb von zwei bis drei Stunden durchkämmte ich eine durchschnittliche Filiale und hinterließ an den Pinnwänden, in den goldenen oder den schlichten Holzrahmen alle mir familiär nahestehenden Personen und Haustiere vom Badezimmer, der Büroabteilung bis zum Kinderzimmer. Die Bilder verblieben über Monate in der Möbelausstellung, sodass ich beschloss mein Konzept zu erweitern. Ich inszenierte besondere Bilder – etwa ich mit Glatze und Schnitzel auf dem Kopf oder mit Lakritzstangen in der Nase. Bilder, auf deren Rückseite meine Website vermerkt war. Die wurden schnell entdeckt und in Bielefeld reagierte die Filialleitung mit der Publikation einer Entdeckung. Er vermeldete: Ich habe Kunst bei Ikea entdeckt und zog daraus einen werbetechnischen Nutzen. Zeitungen begannen über die Aktion zu berichten. Danach radikalisierte ich mein Programm, indem ich allen Müll aus meiner Wohnung nach Ikea transferierte. Alte Handtücher räumte ich in die dafür vorgesehenen Schränke, Pornos packte ich in Schubladen, ein kaputtes Handy, ein altes Radiogerät usw. entsorgte ich auf Tischen, Bänken und Schränken. Auch das blieb wiederum unentdeckt, bis ein Bericht im WDR Fernsehen auf Westart die Ich-undIkea-Story brachte und ich für eine Weile nicht mehr unentdeckt bei Ikea operieren konnte. Möglicherweise wurden anschließend alle Parasitären Publikationen aus den Filialen entfernt. Ob das für Hengelo, Straßburg und London auch gilt, habe ich nicht überprüft. Ikea Osnabrück brachte ein Heftchen heraus mit dem Titel Ikea und Ich, das einen Baum zeigt, in dessen Rinde die Liebesgeschichte eingeritzt ist. Andere Filialen bieten heute an, sich selbst dort in Form von Fotos einzusetzen bzw. eine Party dort zu begehen usw. Das Marketingsystem Ikea reagierte wiederum selbst subversiv und, anstatt mich wegen illegalen Interventionen zu verklagen, weil ich ihre Corporate Identity beschädigt habe, übernahmen sie alles, was ihnen für ihre eigenen Zwecke so in den Kram passt. Vielleicht ein kleines Mission-Statement – um was geht es Dir bei deinen Projekten? Zu Ikea: Es verbleiben noch zwei Interventionen bei Ikea. Einmal werde ich dort Krücken und Prothesen zurücklassen, weil in der ikealen Wirklichkeit, Versehrtheit und Krankheit einen echten Ausstellungsbedarf haben. Hier muss eine Lücke geschlossen werden, die in

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Form einer Zahnprothese im Glas vor dem Spiegel im Badezimmer der Filiale (vielleicht in Hannover?) sichtbar werden sollen. Als Allerletztes möchte ich einen Sarg konstruieren, der in einem fertigen Ikea Karton dort günstig zu erwerben ist. Direkt an den Kassen soll der stehen. Einen echten Preisdrücker von 66 Euro? Lebst Du noch oder kurbelst Du schon? Für einen Sarg würde ich mich sogar von Ikea einkaufen lassen und eine erste legitimierte Publikation dort machen. Allgemein: Mir geht es um unerwartete Ausstellungssituationen für aufmerksame Personen, die zufällig auf meine Interventionen stoßen; um die Verfolgung unwahrscheinlicher Vorhaben, wie der feindlichen Übernahme des Ölmultis BP, den ich durch den Verkauf von gesammelten Teer und Öl, das als Verschmutzung am Meer und auf dem Strand umherliegt, schlucken werde. Ich male mit den Ölverschmutzungen Bilder, deren Verkauf den Aktienankauf von BP und damit die Übernahme in 255 Jahren ermöglicht. Bilder wie der Mann und das Meer, der Einzelne gegen die Übermacht … Die Haltung der vergnüglichen Vergeblichkeit, das vehemente Bestehen auf humorvollen Strategien und dem Einsatz entwaffnender Anteile von Satire in der Kunst. Dem ernsthaften Grauen nicht mit grauenhaftem Ernst zu begegnen, sondern mit bösem und vergnüglichem Witz. Sich nicht durch das alltägliche und durchschnittliche (ökologische, pädagogische, politische usw.) Verbrechen an der Zukunftswahrscheinlichkeit der Menschheit die Laune verderben lassen. Kurz und gut: Weltverbessereien aller Art.

LIFE@WORK Der Unternehmensauftritt von Monkeydick-Productions S ONJA M ÖNKEDIECK , R HODA T RETOW »Die einzig mögliche Revolution ist das Unternehmen, das die Wandlung der Individuen betreibt. Die Revolution als Angebot von Unternehmen« POLLESCH 2003: 334 Wer möchte nicht Teil eines solchen Unternehmens sein?

Um auf diskursiver wie auch praxeologischer Ebene einen Ort der Verhandlung bzw. Irritation anzubieten, wurde das Unternehmen Monkeydick-Productions ins Leben gerufen. Das Unternehmen verfügt über einen Firmensitz, weltweite Filialen, eine Corporate Identity, eine Homepage, ein tanzendes Maskottchen, und die Imagebroschüre Performance of Performance.1 Es muss wohl nicht extra erwähnt werden, dass das Unternehmen Monkeydick-Productions auch professionelle Mitarbeiter/-innen beschäftigt. Neoliberalem Brauch entsprechend, werden die Mitarbeiter/-innen im Monkeydick-Versuchslabor ermutigt,

1

http://www.monkeydickproductions.com/blog/wpcontent/uploads/2010/03/ performance_of_performance_2010.pdf) sowie den Imagefilm LIFE@ WORK (Trailer zur Dokumentation http://www.youtube.com/watch?v= 9eGnJ3Y1lP8).

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die Grenze zwischen Arbeit und Leben verschwimmen zu lassen. Wo lässt sich dies besser erproben als auf einer gemeinsamen Reise zu einer Handelsmesse? Die Entscheidung, eine Delegation zur Subversivmesse nach Linz zu entsenden, war schnell getroffen. Abbildung 1: Büro von Monkeydick-Productions

Zunächst möchten wir das Projekt in einen größeren theoretischen Kontext einbetten: Auf theoretischer Ebene wird die der neoliberalen Unternehmer/-innenfigur immanente Widersprüchlichkeit aus einer dekonstruktivistischen Perspektive anhand der Kategorien sex, gender, desire, performance analysiert. Diese Widersprüchlichkeit zeigt sich insbesondere darin, dass von der Heteronorm abweichende Geschlechter und Sexualitäten gleichzeitig sowohl mit einer strikten Heteronormativität als auch mit deren Flexibilisierung zugunsten von Leistungsbereitschaft konfrontiert sind. Dies bedeutet in erster Linie, dass die Subjekte trotz gesamtgesellschaftlicher Normen dazu angehalten sind, im Rahmen von Leistung ihr Geschlecht und ihre Sexualität individuell zu gestalten. Vor dem Hintergrund einer Neudefinition des Sozialen stellt sich die Frage, inwiefern Kategorien wie Geschlecht, Sexualität und Leistung in neoliberalen Politiken Gegenstand von Transformationen werden (vgl. Lessenich 2008, Mönkedieck 2008). Die anfängliche Konzentration auf die Analysekategorien Geschlecht und Sexualität weicht in zunehmendem Maße dem Selbstanspruch, intersektionaler zu arbeiten. Auf der Subversivmesse hat insbesondere der Kontakt zu dem Projekt Kanak Attak noch einmal diesen

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Bedarf nach einer Erweiterung um andere Kategorien sozialer Ungleichheit deutlich gemacht. So soll zukünftig die Einbeziehung intersektionaler Perspektiven verstärkt im Mittelpunkt unserer methodischen Überlegungen stehen. Besondere Bedeutung kommt bei Monkeydick-Productions Tätigkeiten der Perspektive der Performativität zu. In erster Linie interessiert die Frage, inwiefern diese Perspektive für die Verbindung zwischen der diskursiven Ebene der Analyse und der praxeologischen Ebene der Krisenexperimente2 sinnvoll einnehmbar ist. In den Krisenexperimenten bzw. Performances konzentriert sich die Spieler/-innengruppe auf die Widersprüchlichkeiten zwischen dem neoliberalen Versprechen individueller Leistungsbelohnung und den oftmals sehr anderen Bedingungen, die in der Praxis vorzufinden sind. In den Krisenexperimenten bzw. Performances sollen Irritationen hinsichtlich Repräsentationen individuellen Erfolges produziert werden. Diese Irritationen verstehen wir als Bearbeitung der Grenze, indem Herrschaftsverhältnisse dekonstruiert und Ambivalenzen performativ hervorgebracht werden. In unserem aktionsforscherischen Unternehmen werden Grenzen dekonstruiert, um sie gemeinsam mit einem Publikum kommunikativ bzw. performativ zu stabilisieren, zu überschreiten oder zu verschieben. Die Krisenexperimente und Performances richten sich an alle, die auf der Suche nach einem Verhandlungsraum für die Kritik an identitären und damit einhergehenden herrschaftlichen Ansprüchen sind. In künstlerischen, politisch-repräsentationskritischen und akademisch-queer-feministischen Kontexten wird das Unternehmen als praktische Anwendung von poststrukturalistischen und postmarxistischen Ansätzen verstanden. Gleichzeitig sehen wir uns der durchaus berechtigten Kritik ausgesetzt, sowohl nicht wirklich queer-feministisch, als auch zu hedonistisch bzw. zu wenig materialistisch für eine echte Kapitalismuskritik zu sein. So war es der Teilnehmerin einer

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Das Krisenexperiment ist eine Methode qualitativer Sozialforschung. Es ist ein verändernder Eingriff in die Wirklichkeit, mit dem soziale Reibungspunkte aufgezeigt werden. Im Krisenexperiment werden Menschen in ihrem Alltag mit Irritationen der Normalität konfrontiert. Von einem Krisenexperiment ist die Rede, wenn »[…] ein System kulturell selbstverständlicher Hintergrunderwartungen und Gewissheitserfahrungen gestört wird« (Kordes 1994: 13).

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Konferenz in New York City, USA3, nicht möglich, den Unternehmensnamen Monkeydick-Productions4 auszusprechen. Anstelle dessen sprach sie von »Monkey-Business«, was übersetzt soviel wie fauler Zauber oder auch Unfug bedeutet. Ebenso kritisierte sie, dass die Frage materieller Umverteilung auf performativem Wege nicht zufriedenstellend diskutiert werden könne. In anderen Kontexten, zumal in nicht -akademischen, wird dem Projekt meist völliges Unverständnis entgegengebracht. Derartige Erfahrungen konfrontieren uns mit unseren eigenen Widersprüchen: Gerne maßen wir uns in unserer Funktion als Monkeydick-Mitarbeiter/-innen an, für Andere über ihre Ungleichheitserfahrungen zu sprechen. Als wäre das noch nicht Anmaßung genug, müssen wir in Reflexionsrunden häufig feststellen, dass wir von denen, für die wir zu sprechen meinen, überhaupt nicht verstanden werden. Auch ernten wir manchmal Zustimmung aus eindeutig nicht-subversiver Ecke. Im Verlauf unserer Performance Charity for Image5, bei der wir Fundraising für unsere Imagebroschüre Performance of Performance betrieben, klopften uns Marktliberale zustimmend auf die Schulter: »Schöne Initiative, die Ihr da an den Tag legt!« Die von uns beschriebenen Widersprüche aus unserer Performance-Praxis gehen durch jegliches Sprechen und Handeln hindurch. Das Projekt kann nicht von sich behaupten eine richtige Kritik zu äußern und auf der Seite der Guten zu stehen: Wir gehen nicht davon aus, dass es Praxen gibt, die per se subversiv sind. Wir gehen allerdings davon aus, dass der Moment der Irritation bei Publikum als auch bei Spieler/-innengruppe etwas Subversives besitzt. Dabei geht es uns nicht darum, zu verhindern, dass diese irritierenden Momente nicht auch in anderen Kontexten Verwendung finden, da es uns nicht um den Erhalt unserer subkulturellen Identität geht. Allerdings hat es sich erwiesen, dass über den künstlerischen Kontext hin-

3

Diskussion im Anschluss an Sonja Mönkediecks Vortrag Neo-Liberal Deregulation of the Separation of Work and Life – Monkeydick-Productions Performing Praxeological and Discursive Cycles im Rahmen der Konferenz Cycles, University of New York, Stony Brook am 12.03.2010.

4

Dies könnte allerdings auch der Tatsache geschuldet gewesen sein, dass der Name für anglophile Muttersprachler/-innen eine besondere Vulgarität besitzt.

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Kurhotel, Hamburg, 16.02.2007.

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aus, das Unternehmen Monkeydick-Productions kaum oder selten anschlussfähig ist. Zwar sind wir in verschiedenen Medien vertreten gewesen, wurden jedoch dort entweder der Lächerlichkeit preisgegeben (vgl. Euke Klaavs für Brisant, ARD6) oder unserer Kritik wurde der Zahn gezogen, indem Monkeydick-Productions in den Kunstbereich abgeschoben wurde (vgl. u.a. ARD Tagesthemen, 14.05.2009). Die Subversivmesse in Linz haben wir genutzt, um mit dem Messepublikum die praktische Produktion von Ambivalenz zu proben. Das Monkeydick-Mantra für die Subversivmesse lautete: Authentische Ambivalenz. Monkeydick-Productions wollte zwar ausgewählte Aspekte herrschender Anforderungen an Arbeit bzw. Leistung aufführen. Die Akteure und Akteurinnen dieser Performance sollten jedoch nicht allein in kritischer Distanz zu ihrer Rolle verharren, sondern versuchen, für sie persönlich existierende Widersprüche auszuführen und dabei aufzuführen. Es stellten sich u.a. folgende Fragen: Wie kann es aussehen, wenn man einerseits gerne erfolgreich wäre, andererseits keine Ausgrenzung produzieren möchte? Wie passt es zusammen, dass Monkeydick-Productions einerseits ihre Nachbarn von der European Advertising Agency (EUAA) dafür kritisiert, dass sie auf der Messe »kulturelles Kapital abgreifen« wollen (vgl. Borker 2009b), andererseits selbst Mitarbeiter/-innen für die Teilnahme an einem Stencil Workshop7 freistellen, in dem diese dann Monkeydick-Firmenlogo und Schriftzug als Graffitischablone produzieren lernen (vgl. Borker 2009a)? Oder auch, etwas weniger entscheidend da vergleichsweise synergiefreundlich: Sind wir immer noch dabei zu netzwerken oder entspannen wir uns schon in der messeeigenen Sauna DETOX TWO? Auch die interne Gruppendynamik ließ ein widersprüchliches Gefühl zurück. Dieses Gefühl lässt sich wie folgt beschreiben: Strebt man gerechtes Verstehen und Handeln an, erscheint Konsens, wie er in der »idealen Sprechsituation« (Habermas 1973: 258) zum Ausdruck kommen sollte, illusorisch und unerreichbar. Um mit Jean-François Lyotard zu sprechen: »Consensus does violence to the heterogeneity of language-games« (Lyotard 1984: xxv). Wenn eine Gruppe von sechs Personen für fast eine Woche zusammenlebt, -arbeitet und -wohnt,

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http://www.youtube.com/watch?v=s8zmj-dIZ2M&feature=player_embedded

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http://subversivmesse.net/ausstellerinnen/Kurzbios/terri-fruhling-u-helgaschager/stencil-workshop-fur-madchen-und-frauen

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zeigt es sich, wie schmerzhaft und schön Differenz sein kann. Obwohl dies ein Plädoyer für Differenz sein soll, möchten wir gleichzeitig vor allzu schnellen und scheinheiligen Lippenbekenntnissen warnen. Denn die Toleranz von Differenz ist eine Höchstleistung. Abbildung 2: Vertreterin von Monkeydick-Productions

Ist das alles, was Monkeydick-Productions macht? Im Prinzip ja. Allerdings wertschätzt Monkeydick-Productions auch herkömmliche Formen politischen Aktivismus: Obwohl die Mehrheit der Mitarbeiter/-innen sich nur ungern zu politischer Repräsentation auf die Straße treiben lässt, weil immer die Gefahr besteht, vor lauter Eindeutigkeit unter dem Niveau einer komplexen Welt herumzualbern, sind wir doch bei Demonstrationen vertreten. So stand nicht nur in Linz demonstrating business gegen den Parteitag der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) auf dem Programm, sondern auch in Hamburg war im Dezember 2009 eine Monkeydick-Delegation bei der

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Recht-auf-Stadt-Parade8 dabei, um auf aktuelle Gentrifizierungsprozesse aufmerksam zu machen. Auch dies geschieht mit widersprüchlichen Gefühlen. Sowohl bei der Demonstration gegen die FPÖ als auch bei der Anti-Gentrifizierungsdemonstration fand man den Grad der eigenen Involvierung verschränkt mit der Protestform zu unterkomplex, um die eigene Verwobenheit und Verantwortung für herrschende Verhältnisse zum Ausdruck bringen zu können. Natürlich sind alle Mitarbeiter/-innen gegen Rassismus und soziale Ungleichheit. Wer in unserem persönlichen Umfeld ist denn schon (öffentlich) dafür? Interessanter und unangenehmer für uns ist die Frage, welche Rolle ich in Ungleichheits- und Ausgrenzungsprozessen spiele und inwieweit Bereitschaft besteht, eigene Privilegien zu reflektieren, zu verlernen und abzugeben. Wie zuvor erwähnt, ist das Unternehmen Monkeydick-Productions nicht mehr als eine Grenzbearbeiterin. Grenzen des Bestehenden werden in einem ersten Schritt dekonstruiert, um dann in einem nächsten experimentellen Schritt kommunikativ bzw. performativ überschritten, verschoben oder an gleicher Stelle rekonstruiert zu werden. Monkeydick-Productions kann als ein soziales Labor verstanden werden, in dem mit einer anderen Form der Kommunikation experimentiert wird. Ob dieses Labor subversiv ist, wird sich zeigen, wenn sich diese Form der (De-)Konstruktion als Kommunikationsstil weiter etabliert hat.

L ITERATUR Borker, Lars (2009a): LIFE@WORK (Video, Regie: Lars Borker, 17 Min). Borker, Lars (2009b): Theorizing Monkeydick-Productions (Video, Regie: Lars Borker, 13 Min). Habermas, Jürgen (1973): »Wahrheitstheorien«, in: Helmut Fahrenbach (Hg.), Wirklichkeit und Reflexion: Festschrift zum 60. Geburtstag von Walter Schulz, Pfullingen: Verlag Günter Neske, S. 211-265. Kordes, Hagen (1994): Das Aussonderungs-Experiment. Rechenschaftsbericht zum ›Krisenexperiment‹ der Aussonderung von

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http://www.rechtaufstadt.net/recht-auf-stadt/recht-auf-stadt-die-paradedemonstration-des-initiativen-netzwerks-am-1810

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›Deutschen‹ und ›Ausländern‹ durchgeführt vor einer Mensa der Universität Münster am 28. Januar 1994, Münster: LIT Verlag. Lessenich, Stephan (2008): Die Neuerfindung des Sozialen: Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld: transcript. Lyotard, Jean-François (1984): The Postmodern Condition. A Report on Knowledge, Minneapolis: University of Minnesota Press. Mönkedieck, Sonja (2008): Performativität der Unternehmerin ihrer selbst. Die Aktionsforschung Monkeydick-Productions, Berlin: Wissenschaftsverlag. Pollesch, René (2003): World Wide Web-Slums, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Im Café Museum J OHANNES G RENZFURTHNER / MONOCHROM

Einmal Skandal, Herr Ober. Gerne, gnädige Frau. Wir hätten einen Medikamentenskandal, einen Pflegeskandal oder einen Korruptionsskandal. Alles mit Schlag. Gar keinen Kunstskandal? Nein, gnädige Frau. Na geh, was für eine Enttäuschung! Ich hätte aber so Lust auf einen Kunstskandal! Das dürft ein bisserl schwer werden, gnädige Frau … Aber wieso denn? Wir leben ja nicht mehr in den 1960ern, gnä’ Frau. Was hat denn das mit meinem Kunstskandal zu tun? Eine ganze Menge, gnä’ Frau. Wir können Ihnen heutzutage ja kaan echten Kunstskandal mehr zubereiten. Aber ich bitte Sie! In Salzburg hats doch erst vor a paar Jahren einen geben, den mit dem Plastilin-Penis!

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Und das sehen gnä’ Frau als einen anständigen Kunstskandal an? Aber ich bitt’ sie! Wenn gnädige Frau mir diese Bemerkung gestatten: Die Haltbarkeit von einem solchen Skandal ist kleiner-gleich eine TwitterSekunde. Da kriegen wir Ärger mit dem Gesundheitsamt, wenn wir Ihnen so was vorsetzen. So einen Gammel-Kunstskandal, wenn Sie gestatten möchten. Aha, na gut, aber dieser äh … der Dings … na … Schlingensief … Gnädige Frau sehen mir – mit Verlaub – nicht so aus, als wären gnädige Frau an so einem McSkandal interessiert. Anbieten könnte ich Ihnen eine traditionelle österreichische Schwarzgeld-Affäre? Frisch aus der Zeitung … Gehen Sie. Was interessiert mich eine Schwarzgeld-Affäre … des ist was für meine Dienstboten … Schauen Sie, ich bin vielleicht zum letzten Mal in meinem Leben in Wien und möchte daher jetzt meinen Kunstskandal … Wie früher … 68 … Uniferkelei … so was Pikantes … Ich bin eine alte Dame und habe mich an gewisse künstlerische Extravaganzen gewöhnt! Gestatten Sie mir untertänigst eine Frage: Was gefällt gnädiger Frau denn an so einem Kunstskandal? Ah, schaun’s: Diese Beschwingtheit – sagenhaft … diese gesellschaftliche Dimension, diese herrlichen Empörungslandschaften … also … und dann diese Medien … grad in Österreich … es ist halt eine Abwechslung. Man spürt was, wissen Sie. Man spürt sich selber auf einmal … wie damals 1944 bei diesen Luftangriffen … Ich verstehe, ich verstehe … aber … Wann Sie so was wollen, müssen Sie in eine anständige Disziplinargesellschaft … da sind sie bei uns herinnen falsch … Eine was … bitte!? Eine Disziplinargesellschaft, gnädige Frau. Bloß, die meisten traditionellen Disziplinargesellschaften sind jetzt eh schon renoviert und um’baut … hier drinnen in Wien zumindest. Sie könnten’s vielleicht ein-

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mal draußen im Weinviertel probieren … Es könnt’ sein, dass Sie da so was noch entdecken. Oder in Osttirol … T’schuldigung, aber das versteh ich jetzt nicht … müssen’s mir schon erklären. Wissen Sie, die Kontrollgesellschaft is’ ja des neiche Standardmodell, schon von wegen der Effizienz. Burli, hat meine Großmutter immer gesagt, tu nicht in einer Disziplinargesellschaft lernen, sondern schau gleich, dass du in so einer guten Kontrollgesellschaft unterkommst, weil das is’ die Zukunft. Und was ist da jetzt der Unterschied …! Des ist einfach, gnädige Frau: Unter dem Begriff der »Kontrollgesellschaft« fasst der französische Philosoph Gilles Deleuze eine Reihe von Tendenzen der heutigen Gesellschaftsform zusammen, die er von der von Michel Foucault beschriebenen »Disziplinargesellschaft« absetzt. Was Deleuze hier leistet, ist gewissermaßen eine Analyse der Verschiebung der gesamtgesellschaftlichen Machtmechanik, wenn Sie verstehen. Machtmechanik? Was ist denn das bitteschön, ich kenn’ nur einen herrschaftsfreien Diskurs … Die Disziplinargesellschaft – aus der mittelalterlichen Souveränitätsgesellschaft entstanden – ordnet Michel Foucault dem 18. und 19. Jahrhundert zu und macht ihren Höhepunkt im 20. Jahrhundert aus. Der herrschaftsfreie Diskurs des is’ was, woran nur die Piefke glauben mit ihrer Informationsgesellschaft … wann Sie sich abends nach dem Skifahren noch ein bisschen mit dem Pensionswirt unterhalten wollen, weil Sie glauben, des is’ im Preis inbegriffen … Ach so, dann ist die ja eh noch nicht so alt. Aber Sie müssen mir des schon genauer erläutern, also woran man die dann erkennt? Schaun’s amal: Die Disziplinargesellschaft funktioniert über so Einschließungsmilieus. Der Begriff verweist auf ein Ensemble von Techniken und Verfahren der Überwachung, des Messens, des Trainings

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und der Lenkung und Anordnung von Individuen. Des Individuum wechselt in seinem Leben von einem geschlossenen Einschließungsund Disziplinierungs-Milieu ins nächste, wobei jedes seine eigenen Gesetze hat: Nach der Familie, wo es sich in die Familienordnung einfügen muss, wechselt’s in die Schule, wo ihm quasi gesagt wird, dass es hier »nicht Zuhause« ist und sich also entsprechend benehmen muass. Dann kommt es vielleicht in die Kaserne, wo ihm eingetrichtert wird, dass es nicht mehr in der Schule ist. Weiter geht es dann in die Fabrik, von Zeit zu Zeit in die Klinik und eventuell in das Einschließungsmilieu schlechthin: der Häfen. Alle diese Einschließungsmilieus haben die Funktion, das Individuum zu disziplinieren und unterzuordnen. Ja, ja, Herr Ober. Ich begreif’ des schon. Und was ist dann der kleinste gemeinsame Nenner zwischen die verschiedenen Gesellschaftsdings? Da würd’ ich direkt sagen wollen: Es geht um die Nutzbarmachung von Körpern, um ihre Anordnung in den Produktionsapparaten, um die Produktion von guten, gesunden und gelehrigen Körpern, um Fortpflanzung, Züchtung, Rassenhygiene und so weiter – Sie wissen scho: Biopolitik … Biopolitik? Ja, wenn Sie erlauben wollen: Es geht um eine rationale Ökonomie der Körper, die des am Laufen halten, was sie am Laufen hält. Die Disziplinargesellschaft erlaubt also leiwand die Aufrechterhaltung von Herrschaft und Unterordnungsverhältnissen, ohne die permanente Kontrolle jedes einzelnen Individuums ständig gewährleisten zu müssen. Des ist ja sehr wiff! So könnt man das sagen, gnädige Frau, dass des wiff is’. Der Schwerpunkt liegt hier nämlich darauf, dass diese Techniken nicht permanent und gegen jede und jeden eingesetzt werden müssen, sondern sich die Mehrzahl – Sie müssen die Dopplungen entschuldigen – diszipliniert verhält. Die Institutionen der Disziplinargesellschaft stützten sich also im wesentlich auf zwaa Mittel, um die ihr Unterworfenen gefügig zu

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halten: überwachen und strafen. Beide san ja eh recht effektiv, aber sie erzeugen halt auch einen inneren Widerstand, und sie enthalten zugleich die Möglichkeit, ihnen zu entgehen. Also wann sie ned blöd san, geht des nämlich schon. Und wie soll des gehen mit dem Entgehen … Ich denk’ mir, dass des ja dann schwierig sein müsst’ … Es is’ schwierig, könnt man sagen, aber eben net unmöglich. Weil wo überwacht wird, da kann etwas der Überwachung – Sie müssen entschuldigen, wenn ich mich jetzt ein bisschen rustikal ausdrück’ – durch die Lappen gehen, durchflutschen, ausfuxen, sie austricksen, ihr auf der Nase herumtanzen, also sich ihrer Mechanismen bewusst werden und sie gerade dadurch unterlaufen. Wo überwacht wird, entstehen Nischen – ich erinner’ zum Beispiel an den Fall Natascha Kampusch … Entsprechend hatten zum Beispiel die Arbeiter und Arbeiterinnen im klassischen disziplinargesellschaftlichen Betrieb meist eine recht hoch entwickelte Technik, Überwachungslücken aufzuspüren und zu nutzen, sich also der Überwachung punktuell zu entziehen. Ja, sie ham ja bisweilen ganz sinnlose, aber voll Genugtuung verschaffende Subversionsrituale kultiviert. Lang aufs Häusl gehen oder das Malad-Sein faken. Sowas hoit. Aber gehen Sie: Jetzt kommen Sie ja vom Hundertsten ins Tausendste! Was hat des alles mit meinem Kunstskandal zu tun? Weil, schau’n Sie: Ich werd’ nimmer lang leben, sagt mein Arzt und ich wollt so gern noch einmal einen echten Kunstskandal gustieren, wie früher, wo ich jung war und wo sich alle aufg’regt ham über irgendeinen … Schaaß … Entschuldigen gnä Frau, aber des müssen Sie jetzt nur noch auf des Feld ästhetischer Praxis übertragen, was sich ja quasi gesellschaftlich konstituiert. Es is’ ja die Kunst nur die Wiederholung der Gesellschaft unter spieltheoretischen Prämissen … In der Tat! Und was haaßt des jetzt für mich? Wo es klare Grenzen gibt, wo es aiso an festg’schriebenen Gesellschafts-Kodex gibt, da kann gegen diesen supa vorgegangen werden.

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Wo eine Mauer ist, da findet sich schon der passende Hammer. Wenn Sie sich bitt’schön erinnern wollen: Die Wiener Aktionisten wurden gerne einmal von der Exekutive verhaftet. Erregung – a schönes Wort! – öffentlichen Ärgernisses. Nun, wann Sie sich einmal die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von dem anschauen wollen … die sechz’ger Jahr. Es war halt a schöne katholische Gesellschaft bei uns in Österreich beieinander. Und es gab ja auch die ganze Verdrängung da, was die jüngere Geschichte betrifft. Da hat des schön z’ammpasst. Weil einen solchen Rahmen zu sprengen und die Grenzen von so was auszuloten oder zu überschreiten … also des is’ natürlich ka Kunst, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf. Aber heutzutage kann sich eine solche Performance – wenn Sie zum Beispiel a Sau schlachten wollen in einer Unibibliothek … also da müssen’s schon ins Burgenland, damit des noch wen stört, außer die Putzfrauen. Heut wo Sie ja die ganzen neuen Medien haben und wo man ja vor lauter Medien gar ka Grenzen mehr sehen kann, da würd’ so eine Aktion vom Brus wahrscheinlich nicht mal auf dem Flickr-Stream von einem georgischen Touristen auftauchen, weil’s eh scho wurscht is’. Aber trotzdem … des ist doch ka Ausrede, Herr Ober! Wenn man sucht, findet man auch eine Grenze. Grenzen gibt es doch immer … Weil, schauen Sie, wenn ich jetzt zum Beispiel zu dem Herrn da hin geh, der wos da sei Gulaschsupp’n isst und ich würd ihm des Salzstangerl entwenden und würd’s mir in meine doch recht alte Fut stecken, vor alle Leit’, des wär doch schon was, wo ma sag’n könnt: a Transgression … Des könnten’s natürlich machen. Aber wo is’ dann die Verbindlichkeit!? Des Ungooglebare … Die Grenze, die Sie da überschreiten würden, die is’ ja beliebig … Und Österreich – ich mein’ jetzt Österreich als soziale Übereinkunft – wär’ des wurscht, kommt ma vor. Na, eh, ich will des ja nicht machen, weil ich will die Grenzüberschreitung ja net inszenieren, ich will die Grenzüberschreitung ja konsumieren … Aber ich weiß schon: in der Zeitung würd des wahrscheinlich nicht stehen … weil mich kennt ja auch niemand … die sin’ ja alle scho tot, die mich kennen könnten … Aber früher, da hat man mich einmal gekannt, des versichere ich Ihnen …

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Und außerdem befinden sich die disziplinargesellschaftlichen Institutionen – also Gefängnis, Krankenhaus, Fabrik, Schule, Familie oder der Herr da drüben – ja in einer Krise. Und zwar, weil sich die Machtverhältnisse eben analog zur Entfaltung der gesellschaftlichen Produktionsmittel verschoben haben. An die Stelle der Disziplinierung is’ die Kontrolle getreten: Während die Disziplinierung noch innerhalb der Dauer eines geschlossenen Systems funktioniert, operiert die Kontrolle diffuser, subtiler, schwerer fassbar und ist dennoch allgegenwärtig. Plus: Kontrolle ist ka starre Form. Nix fix. Sie passt sich ständig an. Wie ein Quallerl. Zu sehen etwa am Beispiel des Geldes: In den Disziplinargesellschaften hat noch der Wert des Goldes als Eichmaß für den Wert des Geldes herhalten müss’n und hat damit als Motor für die Disziplin gedient. In den Kontrollgesellschaften wird da ein Verweis auf schwankende Wechselkurse draus. Aber das Geld ist doch weiterhin der Motor …! Money makes the world go round … Kennen Sie des … ein so ein wunderschönes Lied … Aber selbstverständlich, gnä’ Frau. Als Kontrollmechanismus der neuen, offenen Systeme fungiert weitgehend des Geld und als Ideologie des Marketing, des die unterschiedlichsten Anforderungen an rein ökonomischen Überlegungen ausrichtet. Eine ähnliche Tendenz lässt sich auch bei den staatlichen Bildungseinrichtungen beobachten: Dort wird die Schule tendenziell von einer permanenten Weiterbildung abgelöst – Stichwort Lebenslanges Lernen … Ah so, des is »Lebenslanges Lernen« … davon hab’ ich neulich was g’lesen … Sehen Sie – und warum haben Sie davon was gelesen? Weil die kontinuierliche Kontrolle das Examen nämlich ersetzt hat in die Diskurse, die wos da zirkulieren. Und schauen Sie: Im Strafvollzug gibt es Ansätze, anstelle der Haftstrafen Hausarrest zu erteilen. Das Gefängnis verliert als institutionalisiertes Einschließungsmilieu an Relevanz, während eine erhöhte Kontrolle des Individuums – also personal tracking oder stadtweite Videoüberwachung – die bisherige Einschließung ersetzt. Und die Fabriken, die werden alle zu Unternehmen um-

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definiert. Wos praktisch haaßt: Der Arbeiter wird a Angestellter – was aber net haaßt, dass er mehr verdient, sondern dass er sich über sein Arbeitsplatz und seine Arbeitszeit hinaus mit der Corporate Identity des Unternehmens identifiziert. Er oder sie kriegt also einen Teil des Lohnes als Identität ausbezahlt, als so eine Art geistige Aktie. Net wahr? Im Unternehmen wird die Fabrik umverteilt auf die, die in ihr arbeit’n. Weiters wird durch Heimarbeit die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit zunehmend schlabbriger … Ich bitte sie, Herr Ober! Ich hab nimmr soviel Zeit und hätt’ jetzt gern a Fazit von dem allen … Des Fazit könnt’ sein, dass die Kontrollgesellschaft die Kontrollfunktion ins Innere von die Subjekte verlegt hat. Tiaf eine. Und des is des blede. Wenn die Subjekte die Kontrolle gleichsam internalisieren, also zum Bestandteil ihres psychischen Apparates und ihres Denkens gemacht haben, dann wird die Kontrolle absolut. Es lässt sich ihr nichts mehr entgegensetzen und es gibt kein Außerhalb der Kontrolle mehr. Aber setzt das nicht viel früher an, Herr Ober? Ja, dieser geschichtliche Umbruch hat aber net nur mit der Veränderung von Arbeitsverhältnissen zu tun, sondern setzt schon ein mit der Erfindung des Gewissens im Protestantismus gegenüber der HimmelHölle-Theologie des mittelalterlichen Katholizismus. Mit der Moral der bürgerlichen Gesellschaft – Kants kategorischer Imperativ, Sie werden des kennen. Mit der Erfindung der Vernunft in der Aufklärung. Mit der modernen Psychologie, und so weiter. Das strotzt ja alles nur vor so grausliche double binds! Das beste Beispiel hierfür wäre, wenn Sie mal ins Religionsbuch von ihre Enkel schauen wollen: Da wird ja des Owestrudeln … Bitte was? Na des Wixen. Des mit dem Onan! Des wird ja nimmer verboten, wie’s ja Jahrhunderte lang katechetische Praxis war, was aber heut einfach nimmer geht. Aber ma kann jetzt praktisch einen verantwortlichen Umgang mit der ganzen Sexualität fordern, wobei eh kaner waas,

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was des haaßt. A perfider Trick, um die alte Unterdrückungsform in eine neue hinein zu retten. Da wird mir ja gleich ganz schwindelig, Herr Ober! Ich will einen Kunstskandal und sie erzählen mir von meine Enkel, die wos I eh net hab! Ich hab doch nur mehr den Kunstskandal … Müssen entschuldigen, gnädige Frau, ich wollt Ihnen ka kleinbürgerliche Prokreation unterstellen! Aber des ist wichtig! Der polizeiliche Blick in den Disziplinargesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts hat das Individuum erst sichtbar gemacht; es wurde von der Macht beleuchtet und in den zukünftigen Kontrollgesellschaften wird es halt durchleuchtet. Es geht um das gewandelte Auftreten der Macht, die in der Disziplinargesellschaft noch enger mit Institutionen und Orten verbunden war, während sie in der Kontrollgesellschaft auf einer anderen Ebene operiert. Aus geschlossener Kontrolle wird a offene. Heißt dass, das es sozusagen keinen richtigen Kunstskandal mehr geben kann? Ja. Bei einem Skandal handelt es sich um eine Entrüstung oder Empörung im Sinne eines moralischen Wallungswertes. Zu wissen, worüber sich eine Gesellschaft empört, lässt ablesen, wo und wie die überschrittenen Grenzen liegen. Insofern lassen sich über Skandale Rückschlüsse auf die jeweiligen Norm- und Wertvorstellungen einer Gesellschaft ziehen. Haaßt des jetzt: Unsere Gesellschaft ist viel zu fragmentiert, um gemeinsame Norm- und Wertvorstellungen zu haben? Ich würd sagen »Jein!« In einer Welt der Mikrogesellschaften und des Nischenkapitals is’ es zusehends schwieriger geworden, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten. Und, gnädige Frau, da bin ich auch sehr froh darüber. Wie meinen Sie jetzt des? Nun, es gibt kaan richtigen Kunstskandal im Falschen. Wir leben in einer Gesellschaft des Antispektakel-Spektakels. Selbst die Yes Men waren doch schon 2005 auf der Titelseite des Hustler Magazine! Der

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Kunstskandal, dieses wunderbare Rudiment, dieser Wurmfortsatz bürgerlicher Kunstmoral, hat ausgedient. Genauso wie das Bürgertum sich im neoliberalen Mahlstrom aufzulösen beginnt. Aber Herr Ober … das wäre ja schrecklich! Grad für mich … als alte Frau … wo soll ich dann noch hin … Gnädige Frau, sie haben schon recht. Aber ich verweise auf ein ORFInterview mit dem Hip-Hop-Wicht Jan Delay. Wo der angegeben hat, er würd’ den Papst jederzeit als schwul bezeichnen. Über den Islam sich mokieren, würd’ er aber nicht, da hätt’ er »zu viel Respekt«. So ein Schisser aber auch! Sie meinen also, solange Menschen Respektszonen haben, solange könnte es Skandale geben? Ja, in etwa. Diese Respektzonen werden aber kleiner und kleiner. Ein Teil des Problems ist das paradoxerweise ebenso hypersensible wie abgestumpfte Mediensystem. Der spanische Künstler Santiago Sierra etwa leitete Autoabgase in eine Synagoge in Pulheim-Stommeln. Wie solls weitergehen? Schlage vor a chinesischer Künstler isst sein eigenes Kind als Embryo, was er vorher mit einer Prostituierten gemacht hat. Des müsst aber vertraglich vereinbart sein. Also alles praktisch bloß noch Tauschbeziehungen unter Vertragspartnern. Der Kunstskandal ist demnach letztlich nur Befindlichkeits-Surfing. Aber es hat doch jeder seine ganz privaten Befindlichkeiten … Nun, die Befindlichkeiten werden mikrokristallin und nivellieren sich aus. Und was soll ich dann tun? Suchen sie sich einfach einen neuen geografischen Lebensmittelpunkt. Ich soll aus dem schönen Österreich weg?

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Werden sie doch nicht nostalgisch! Im Iran ist es auch schön. Das Wetter soll ein Traum sein und da werden täglich Leute wegen … zum Beispiel … ihrer sexuellen Ausrichtung oder ihrer Gesinnung abgemurkst. Herr Ober, das ist ja kaum zu glauben! Ja, gnädige Frau. Suchen sie sich einfach eine schöne strikte Disziplinargesellschaft, dann klappt es auch mit dem Skandal. … Danke! Ich würd’ dann gerne noch mal in die Kart’n schauen … Wie gnädige Frau wünschen, rufen Sie mich, wenn Sie was gefunden haben. [Dreht sich um und will gehen.] Herr Ober … Ja, gnädige Frau! Könnten Sie mir dann wenigstens des Rezept geben für einen echten Kunstskandal … ich bin halt a nostalgischer Mensch … Tut mir leid, unser alter Koch is’ vorletztes Jahr gestorben. Aber ich könnt’ ihnen a Event bringen, manche sagen, sie schmecken da kan Unterschied.

LET ME OUT! O NDREJ B RODY , K RISTOFER P AETAU

D AS P ROJEKT Ondrej Brody und Kristofer Paetau werden an ihrem Messestand an der Subversivmesse eine lebende Skulptur präsentieren. Sie stellen ihr geliebtes Haustier Marcel, einen afrikanischen Graupapagei (Psittacus erithacus), der in einem goldenen Käfig gefangen ist, vor. Es wird erwartet, dass Marcel an seinem Messestand während der gesamten Subversivmesse eine kurze und herzzerreißende Rede hält und dabei lauthals schreit: »LET ME OUT!« Dadurch wird er die Besucher/-innen der Subversivmesse direkt ansprechen und das Thema der Subversion in einem goldenen Käfig kommentieren. Die Schreie des Papageis werden omnipräsent sein und die Besucher/-innen mit einem exotischen Haustier, das nach Freiheit schreit, konfrontieren. Realisierung (Februar-April 2009) Wir kauften von einer Privatperson in Belgien einen ein Jahr alten afrikanischen Papagei. Obwohl uns der Verkäufer die medizinischen Atteste des Papageis präsentierte hatte, zeigte er bereits nach einer Woche alarmierende Signale: Er wollte nicht mehr essen und sein Gesundheitszustand verschlechterte sich. Daraufhin brachten wir ihn zu einem Tierarzt, der uns mitteilte, dass er an einer starken Psittakose (Chlamydophila psittaci) leide. Der Arzt begann umgehend mit der Behandlung. Trotz all unserer Anstrengungen, dem Papagei täglich seine Medizin zu verabreichen, verstarb er nach zweiwöchiger Behandlung.

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Wir entschieden daraufhin, den toten Papagei ausgestopft (in der Stellung, in der wir ihn tot auffanden) in seinem Käfig auszustellen. Es war uns bewusst, dass dies eine etwas eigenwillige Vorgehensweise sein würde, doch es scheint, dass das Leben viel subversiver sein kann als irgendein ausgeklügeltes oder stumpfsinniges Kunstprojekt – vor allem dann, wenn es ein subversives Kunstprojekt ruiniert. Einen Spezialisten baten wir, den Papagei in exakt jener Position, in der er starb, zu präparieren und verfolgten seine Arbeit aufmerksam. Zu einem gewissen Zeitpunkt – noch bevor die Arbeit abgeschlossen war – fanden wir den Vogel gereinigt und ausgenommen auf dem Tisch des Tierpräparators liegend, zusammengefaltet wie ein Kostüm. Wir beschlossen, ihn in dieser eigenartigen Pose zu erhalten – mit der Idee, dass dies den endgültigen Aufstieg der Seele aus dem Körper verbildlichen könnte.

S UBVERSIVES P OTENTIAL

UND

P UBLIKUM

Als zeitgenössische Visual Artists beschäftigen wir uns einerseits mit den üblichen Verdächtigen aus der Kunstwelt, andererseits erreichen wir, dank des Internets und Massenmailing-Kampagnen, die unsere hauptsächlich genutzten Kanäle darstellen, eine breitere Öffentlichkeit. Das subversive Potential unserer Projekte ist grundsätzlich auf unterschiedlichen Ebenen zugänglich und verständlich. Für die breitere Öffentlichkeit dürften unsere Projekte weniger als Kunst denn als Jack-Ass-Komödien-Performances angesehen werden. Für ein spezifischeres, kunstinteressiertes Publikum sind unsere Projekte womöglich schwieriger zu akzeptieren, da unsere Arbeiten meistens gewisse, der Kunstwelt inhärente Mechanismen und deren Konventionen kritisieren und parodieren. Das Internet kann ein nützliches Instrument sein, doch letztendlich sind kulturelle und künstlerische Institutionen entscheidend, welche die künstlerische Arbeit bewerben und kommunizieren. Ohne deren Vermittlung hat solche Kunst weder gegenwärtig noch in der Zukunft einen großen Einfluss auf die Kunstszene.

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S UBVERSIVE P RAKTIKEN ? Es gibt viele subversive Klischees, die wir auf eine spezifische Art und Weise und in einem bestimmten Kontext in unseren Arbeiten anwenden: Sex, scheißen, pissen, erbrechen, etc. Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass es keine künstlerische Praxis gibt, die an sich subversiv wäre. Subversion passiert nur in einem bestimmten Kontext und in einem bestimmten Moment. Wir sind überzeugt davon, dass man wirkmächtige Praktiken entwickeln kann, aber wir sind uns nicht sicher, ob dies die Gesellschaft verändert, zumindest nicht alleine und nicht bloß durch künstlerische Aktivitäten. Eventuell mithilfe der Medien, Bildung und Politik und einer Menge Glück und Zeit könnten manche unserer künstlerischen Arbeiten Einfluss auf zukünftige Generationen haben.

AUSBLICK Wir sind der Auffassung, dass Subversion nahezu immer verzögert auftritt: zu spät oder zu früh, aber nie zum richtigen Zeitpunkt. In diesem Sinne ist Subversion ein hochspekulatives Unterfangen. Daher beabsichtigen wir, mit einer Kombination von Spekulation und viel Arbeit weiterzumachen. Untenstehend findet sich unsere Adaptierung und Re-Editierung von Auszügen aus Adolf Hitlers Mein Kampf. Wir sind der Auffassung, dass dies in diesem Kontext von Bedeutung sein kann: Viereinhalb Jahre (Kampf) gegen Lügen, Dummheit und Feigheit Indem der Künstler versucht, sich gegen die eiserne Logik der Macht aufzubäumen, gerät er in Kampf mit den Grundsätzen, denen auch er selber sein Dasein als Künstler allein verdankt. So muss sein Handeln gegen die Macht zu seinem eigenen Untergang führen. Eine gewisse Zeit kann man natürlich auch hier die Macht verhöhnen, allein die Rache bleibt nicht aus.

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Immer ist die innere Veranlagung des Künstlers bestimmend für die Art der Auswirkung äußerer Einflüsse. Was bei den einen zum Verhungern führt, erzieht die anderen zu harter Arbeit. Der Künstler ist nicht in seinen geistigen Eigenschaften an sich am größten, sondern im Ausmaße der Bereitwilligkeit, alle Fähigkeiten in den Dienst der Kunst zu stellen. Der Selbsterhaltungstrieb hat beim Künstler die edelste Form erreicht, indem er das eigene Ich seiner Kunst willig unterordnet und, wenn die Stunde es erfordert, auch zum Opfer bringt. Abbildung 1: Ondrej Brody und Kristofer Paetau, Hitler-Montage

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Wer Kunst machen will, der kämpfe also, und wer nicht streiten will in dieser Welt des ewigen Ringens, verdient es nicht Künstler zu sein. Der wahre Künstler muss wissen, dass der Kampf gegen Dummheit, Feigheit und eingebildetem Besserwissen Ehre und Ruhm vor der Nachwelt, in der Gegenwart aber nichts bieten kann. Unsere Prioritäten können an einer Hand abgezählt werden: Eine geradlinige Haltung in zwiespältigen Situationen. Wortgetreu zu sein, ist ein konzeptioneller Vorteil. Humor ist eine Waffe. Kritik ist lebensnotwendig – alles andere ist eine Ausrede dafür, die bestehenden Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten. 5. Wir werden kämpfen bis zum ENDE. 1. 2. 3. 4.

Aus dem Englischen von Nina Bandi und Michael G. Kraft

Radical ATM Service I VÁN K OZENITZKY , F EDERICO L AZCANO

S OFT T ERRORISM Terrorismus ist zweifelsohne die politische Praxis, welche in den vergangenen Jahren die größte Verbreitung erfahren hat. Er wird sowohl von Staaten, Unternehmen als auch von jenen Gruppierungen vorangetrieben, die auf den Status quo der herrschenden Verhältnisse nur mit purer Gewalt zu antworten wissen. Terrorismus ist so weit verbreitet, dass es uns in vielen Fällen schwerfällt, ihn als solchen zu identifizieren. Angst ist in gesellschaftlichen Debatten bereits derart gegenwärtig, dass wir sie oft als den Normalzustand empfinden. Es gibt Hunderte Beispiele für Terrorismus. Nicht immer präsentiert er sich als eine geheime Organisation, die Bomben explodieren lässt oder eine Militärregierung, unter deren Herrschaft die Bevölkerung gefoltert und ermordet wird. Eine besondere Form ist der Terrorismus der Medien und der Werbung. Rechts gerichtete Medien sehen ihre Aufgabe darin, mittels objektiver Berichterstattung Angst und Hass in einer Gesellschaft zu schüren. Ähnliches gilt für Unternehmen, die den Verkauf ihrer Produkte mit einer Werbung vorantreiben, welche die Bevölkerung terrorisiert. Ohne zu hinterfragen konsumieren die Menschen, aus der Angst heraus, ansonsten vom System links liegen gelassen zu werden. Wer sind die Opfer dieses medialen Terrorismus? Es ist die Mutter, die ihrem Kind ein künstlich mit Milchsäurebakterien angereichertes Joghurt zum Essen gibt, damit es nicht dümmer und körperlich anfälliger wird als das der Nachbarin, die ihren Nachwuchs täglich mit jenem magischen Lactobacillus casei füttert. Es ist der Nachbar, der an

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allen Fenstern und Türen seines Hauses Gitter, Zäune und Alarmanlagen installiert und monatlich eine nicht unwesentliche Summe an ein privates Sicherheitsunternehmen überweist, bloß um nicht der Unsicherheit zum Opfer zu fallen. Diese Art des Terrorismus ist nicht nur eine gewöhnliche Praxis innerhalb des kapitalistischen Diskurses. Er stellt gleichzeitig eine auf ganzer Linie erfolgreiche Kommunikationsstrategie dar, die darin besteht, die Aufmerksamkeit des Gegenübers mittels Angst zu erregen. Gelingt es, einem Anderen Angst einzuflößen, ist das Interesse für einen gewissen Zeitraum garantiert. Das Projekt Radical ATM Service, ein gefälschter Geldautomat, der Karten für einen begrenzten Zeitraum einbehält, kalkuliert die Angst der Karteninhaber/-innen bewusst ein, jedoch um ihnen wichtige Botschaften zu übermitteln. Er respektiert seine Nutzer/-innen, behandelt sie aber nicht wohlwollend. Er zwingt sie dazu, mit dem Bildschirm zu interagieren und sich dort Teile ihrer Wirklichkeit anzuhören und anzusehen, von denen sie vielleicht lieber nichts wüssten. Anders als das Geld, das man einfach nur abheben muss, verspricht der Radical ATM keine Erlösung. Zwar beruhigt er die Nutzer/-innen, indem er ihnen versichert, dass sein Geld in Sicherheit und Raub nicht das Motiv dafür ist, die Karte einzubehalten. Die Karteninhaber/-innen können sich frei bewegen und werden nicht gefilmt, aber ihnen wird klar gemacht, dass sie ihre Karte erst dann zurückerhalten, wenn sie gehorchen. Und paradoxerweise ist es gerade jenes Moment, jene Aufforderung zum Gehorsam, die dazu führt, dass die Nutzer/-innen ihr Geld einen Moment lang vergessen und sich ganz auf die Lieder, Spiele und Texte auf dem Radical ATM einlassen. Für den Markt besteht eine langfristige Strategie darin, bei den Menschen Angst zu erzeugen, denn nur eine verängstigte, eingeschüchterte Bevölkerung muss permanent konsumieren, um ihre allgegenwärtige Beklemmung zu unterdrücken. Unser Gebrauch der Angst ist hingegen rein taktischer Natur. Wir erzeugen beim Karteninhaber bzw. bei der Karteninhaberin einen kurzen Moment der Besorgnis (Wo ist mein Geld? Wo ist meine Karte?), um anschließend einen Diskurs zu eröffnen, welcher die Regeln des herrschenden Systems radikal infrage stellt. Radical ATM respektiert die Freiheit der Einzelnen, ordnet sie jedoch dem Gemeinwohl unter. Das Projekt beruft sich auf die Angst und das Recht der Stärkeren – jedoch ausschließlich als Kommunikationsstrategie. Radical ATM ist ein neuartiger Soft Terrorism.

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W IE

FUNKTIONIERT

R ADICAL ATM?

Radical ATM Service ist eine Dienstleistung, die zum Ziel hat, das kritische Bewusstsein der Masse der Konsumenten bzw. Konsumentinnen zu stärken. Im Mittelpunkt stehen gefälschte Geldautomaten. Beim Versuch des Kunden oder der Kundin am Radical ATM Service Geld abzuheben, behält der Automat die Karte für einige Minuten ein. Die Karteninhaber/-innen werden dann dazu gezwungen, subversive Inhalte auf dem Bildschirm des Geräts zu konsumieren. Danach bekommen sie ihre Karte wieder zurück. Abbildung 1: Radical ATM Service – get involved!

Nachdem das Opfer seine Karte in den Geldautomaten gesteckt hat, erscheint auf dem Bildschirm des Geräts folgender Text: ACHTUNG! ACHTUNG!*** GEBEN SIE KEINE GEHEIMZAHL EIN! Dies ist ein Automat der Gruppe Radical ATM Service. Wir haben uns dazu entschlossen, Ihre Karte für einige Minuten einzubehalten. Danach erhalten Sie sie vollständig und unbeschädigt zurück. Wir stehlen Ihnen kein Geld und keine persönlichen Daten. Bleiben Sie also ganz ruhig. Sie werden von keiner Kamera überwacht und können sich ganz normal verhalten.

Im Anschluss können die Karteninhaber/-innen im Menü unter den folgenden Optionen auswählen: radikale Computerspiele, Kampagnen, Dokumentarfilme, Musik u.a. In allen Bereichen werden Projekte und

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Arbeiten vorgestellt, die die Karteninhaber/-innen dazu anregen, sich mit aktuellen gesellschaftlichen Themen wie Ökologie, Konsumverhalten, Soziale Bewegungen und Open-Source-Software kritisch auseinanderzusetzen. Am Ende der Aktion bekommt das glückliche Opfer seine Karte wieder zurück und erhält anstelle von Geld ein kleines subversives Geschenk (Sticker, Aufnäher, Buttons etc.).

S UBVERSIVES P OTENTIAL Radical ATM richtet sich an alle Inhaber/-innen von Geldkarten – unabhängig von ihrem Alter, ihrer sozialen Herkunft, ihrer politischen Überzeugung, ihrer sexuellen Orientierung oder ihrem religiösen Glauben. Jede Person liest die Aktion auf ihre Weise. Von Anhängern und Anhängerinnen der herrschenden Ordnung wird der Radical ATM Service als Provokation wahrgenommen. Doch uns ist es wichtig, nicht nur die Spießer/-innen zu schocken, sondern uns mit den bürgerlichen Werten auseinanderzusetzen, die einen hohen Stellenwert in der Gesamtgesellschaft genießen – in diesem Fall der Gebrauch von Geld. Gleichzeitig versuchen wir die ganz normalen Menschen mit einzubeziehen, indem wir sie zu Hauptdarstellern und Hauptdarstellerinnen unserer Aktion werden lassen. Wie unsere Arbeit konkret ankommt, hängt aber vor allem davon ab, wo sie ausgestellt wird. Natürlich wäre es für uns am besten, wenn wir immer im öffentlichen Raum ausstellen könnten, damit wir ein möglichst breites Publikum erreichen. Jeder soll unsere Arbeit verstehen können. Wir verwenden bewusst keine gekünstelte Sprache, die nur einem eingeweihten Publikum zugänglich ist. Aber leider beinhaltet eine Aktion im öffentlichen Raum für uns auch rechtliche Risiken: Erst kürzlich hatten wir ein Strafverfahren, das ein privater Fernsehsender gegen uns angestrengt hat - wegen einer Intervention, die schon Jahre zurücklag.

S UBVERSIVE P RAKTIKEN ? Auf der Subversivmesse haben wir den Radical ATM in der Eingangshalle aufgestellt, neben dem Kartenverkauf, dem Messeshop und der

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Bar. Wir dachten uns, dass dies der Platz mit der größten öffentlichen Wirkung sei. Als Träger unserer Aktion haben wir deshalb einen Geldautomaten gewählt, weil er uns ermöglicht, mit Menschen in Kontakt zu treten, die primär nicht daran interessiert sind, was wir ihnen zu sagen haben. Sie gehen an einen Automaten, um Geld abzuheben. Abbildung 2: Radical ATM Service Comic

Die beste Strategie, um zu vermeiden, im System der Kunst oder der Mainstream-Kultur gefangen zu sein, besteht darin, den öffentlichen Raum zu gebrauchen (vor allem die Straße, aber auch das Internet, selbstverwaltete Räume usw.). Denn anders als im Museum richten sich hier unsere Aktionen an ein breites, gemischtes Publikum. Das System der Kunst führt hingegen dazu, dass unsere Aktionen entschärft werden. Das kann für den Abschluss eines Projekts manchmal auch sinnvoll sein. Wenn eine Arbeit im Museum angekommen ist, wird sie gewissermaßen formell bestattet. Das Museum kann dazu beitragen, dass die Erinnerung an eine Aktion bewahrt wird. Ein Katalog ist dann nicht mehr als ein Nachruf. Wir glauben nicht, dass es möglich ist, Praxen zu entwickeln, denen es gelingt, über einen längeren Zeitraum hinweg subversiv zu sein. Ganz einfach deswegen, weil der Markt sich längst darauf spezialisiert

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hat, sich von randständigen und kritischen Äußerungen zu ernähren und sie später als seine eigenen Errungenschaften und Neuheiten zu verkaufen. Doch das muss nicht per se schlecht sein. Denn es zwingt uns als Kritiker dazu, uns ständig zu verändern und immer neue Antworten zu entwickeln. Das trägt am Ende dazu bei, unsere subversive Kraft zu stärken. Wir leben in einer Zeit, in der Lebensstile ihre Identität immer über eine ästhetische Praxis vermitteln. Wir sind uns unsicher, ob es möglich ist von einem Ort aus zu agieren, der ästhetische Praxis ausschließt. Beim Radical ATM gibt es zudem eine starke technologische Komponente. Wir setzen auf die Weiterentwicklung von Low-TechGeräten, die vollständig aus recycelten Materialien und nicht mehr benutzten Geräten gebaut sind, wie zum Beispiel alten Druckern. Das verleiht dem ganzen Projekt zusätzlich eine ökologische Dimension. Der Gebrauch der freien Treibersoftware Arduino zur Steuerung der Hardware ist von uns bewusst gewählt, denn wir sehen uns als Teil der Open-Source-Bewegung. Wir legen sowohl die Quellcodes unserer Programme als auch den Aufbau unseres Geräts offen. Jeder soll die Möglichkeit haben, den Radical ATM nachzubauen. »Mit diesen Versen wirst du die Revolution nicht machen. Mit Tausenden von Versen wirst du sie nicht machen«, schrieb einst der argentinische Lyriker und revolutionäre Aktivist Juan Gelman. Seine Worte helfen uns, einen Teil der Erwartungshaltung an unsere Aktionen herauszunehmen. Nicht mit Tausenden von Versen wirst du die Revolution machen und auch nicht mit Tausenden von politischen Flugblättern oder mit Tausenden gefälschter Geldautomaten. Wir glauben, dass man unsere Ausdrucksformen und die anderer subversiver Akteure und Akteurinnen unter einem bestimmten Gesichtspunkt heraus betrachten muss: Keine der Praxen, die heutzutage die Gegenkultur bilden, werden die Welt verändern. Aber wenn wir sie aus einer Bewegungsperspektive betrachten, und uns darüber im Klaren sind, welche Verbindungen es heute zwischen uns allen auf globaler Ebene gibt, dann sehen wir, welche Kraft in allen unseren Aktionen steckt.

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AUSBLICK Die Grammatik des Marktes richtet sich im Gegensatz zu der Grammatik des Staates in erster Linie an den freien Menschen. Wir sollen frei sein, um grenzenlos konsumieren zu können. Wir sollen frei sein, um den Lebensstil zu finden, mit dem wir uns am besten identifizieren können. Aber diese Lebensstile sind nichts anderes als die vorgefertigten Warenregale eines Supermarkts. Wir packen unseren Wagen voll, mit dem was wir uns aussuchen und stärken das System des gleichförmigen Konsums. Traditionelle Subversive gehen immer noch davon aus, dass die Grammatik des Staates hegemonial ist. Sie glauben, dass man den Staat angreifen muss und so die Welt verändert. Doch sie verhalten sich ähnlich anachronistisch wie die Maschinenstürmer zu Zeiten der Industriellen Revolution. Denn längst hat der Markt die Herrschaft übernommen. Unserer Meinung nach ist es wichtig, dass die Subversion des 21. Jahrhunderts die Logik des Marktes destabilisiert und Identitäten hervorbringt, die nicht über Konsum oder Verwertbarkeit vermittelt sind. Auf der Mikroebene heißt das, dass wir unsere emotionalen Schutzräume stärken müssen: die sozialen Netze, die keinen kommerziellen Zwängen unterliegen, die Orte an denen die Gemeinschaft über dem Gewinnstreben steht. Auf allgemeiner Ebene gehe ich davon aus, dass man sich verstärkt mit den Sektoren auseinandersetzen muss, bei denen sich die wirtschaftliche Macht konzentriert. Wir müssen die sinnentleerten Lebensstile bekämpfen, die sie an uns herantragen. Denn bei ihnen geht es nur um einen unkritischen Konsum und die Vereinzelung der Menschen.

Aus dem Spanischen von Jessica Zeller

I-R.A.S.C. [ i-ràs ] – Infrarotlicht gegen Überwachungskameras U.R.A./FILOART, O LAF A RNDT

I.-R.A.S.C. ist das Gerät, das den Bürgern und Bürgerinnen einen zuverlässigen Schutz vor den Sicherheitsmaßnahmen des Staates bietet. I.-R.A.S.C. ist die Sicherheit vor der Sicherheit und somit eine Reaktion auf die Asymmetrie der Kräfte zwischen dem Staat und dem Individuum. Statt einer Interaktion zwischen den Menschen bzw. zwischen Mensch und Maschine, stellt I.-R.A.S.C. eine Interaktion zwischen Maschinen dar. Auch dies ist Teil einer absurden Situation – obwohl der ganze Aufwand der Schutzmaßnahmen für die vermeintliche Sicherheit für die Bürger/-innen gemacht wird, rutscht der Mensch auf der Bedeutungsskala des gegenwärtigen Sicherheitskonzeptes immer tiefer nach unten. I.-R.A.S.C. ist ein Infrarotlichtgerät zum Abschirmen vor Infrarotüberwachungskameras. Es kann ohne besonderes technisches Wissen von jedem nachgebaut werden. Das Gerät strahlt das infrarote Licht aus, das die Aufnahmen von Infrarotüberwachungskameras stört. Das Gesicht der überwachten Person wird von einem Lichtball überdeckt. Da die ganze Interaktion in einem nicht sichtbaren Spektrum (in Frequenzen zwischen 780nm und 1mm) erfolgt, bemerkt der Mensch nichts davon bzw. er sieht weder die infrarote Strahlenemission der Überwachungskamera noch die von der I.-R.A.S.C.

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I-R.A.S.C. – V ERWEIGERUNGSPORTRÄT Porträts begleiten die Menschen durch ihre ganze Geschichte. Mal als ein Versuch sich über den Tod hinaus für die Nachkommen lebendig zu halten, mal als Demonstration der Macht. Von früheren Porträts, den sogenannten Mumienporträts, bis hin zur Gegenwart, ist jedes Porträt stets bemüht, größtmögliche Ähnlichkeit zu zeigen. Es waren zuerst Herrscher/-innen und Heilige, die als Ikonen, später auch als autonome Individuen porträtiert wurden. So wissen wir, wie die Päpste, Bischöfe und Kardinäle, Könige und Königinnen, Kriegsherren und Fürsten, wie Kaufleute, Patriarchen, treue Staatsdiener, ihre Frauen und manche berühmte Philosophen und Philosophinnen und Dichter/-innen aussahen. Wir sehen, was sie begehrt und besessen haben, denn möglichst sorgfältig und getreu – auch der Vorstellung von eigener Größe und Bedeutung – sollten die Bildnisse gefertigt werden. Spätestens seit der Renaissance hat das Porträt einen festen Platz in der Kunstgeschichte angenommen. Es wurde und wird allerdings immer noch für andere Zwecke verwendet: Als Garant der Seriosität werden die Bildnisse von bedeutenden Personen auf Münzen geprägt und als Motiv für Banknoten genommen oder in Darstellungen der Paradevertreter/-innen der Nationen für Briefmarken verwendet. Gesuchte Verbrecher/-innen werden mit Hilfe von Kopfgeldblättern gesucht; die Gefangenen werden durch Polizeifotos abgebildet. Porträts werden gewöhnlich nach Ansicht (frontal, Viertelprofil, Halbprofil, Dreiviertelprofil, Profil …) oder nach Darstellungsformen (Bildniskopf, Büste, Brustbild …), gemacht und durch unterschiedliche Medien festgehalten (Skulptur, Malerei, Grafik, Fotografie, Video, CAD Programme). Meist beherrschen die abgebildeten Personen das ganze Format – ihr Gesicht erstrahlt den Raum des Bildes oder die räumlichen Gegebenheiten des Mediums. Mit dem Aufbruch der Moderne und des Zeitalters der Technik verändert sich auch der Anspruch des Porträts. Nicht mehr bzw. nicht ausschließlich die äußere Erscheinung der porträtierten Person steht im Vordergrund – vielmehr ist es ein Ausdruck des Künstlers bzw. der Künstlerin, der vermittelt werden möchte. Es ist in erste Linie seine bzw. ihre Sicht der Welt. Während diese Entwicklung im Bereich der Kunst als ein Befreiungsprozess angesehen wird, der für die moderne Gesellschaft neue Horizonte geöffnet zu haben scheint, wirkt ein »Bildnis«, das durch Einsatz von I.-R.A.S.C. zustande kommt, als ver-

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zweifelter Versuch der Bürger/-innen sich ihre hart erkämpfte Freiheit zu bewahren. Abbildung 1: I.-R.A.S.C. Verweigerungsporträt

Das I.-R.A.S.C. Verweigerungsporträt stellt eine radikale Veränderung nicht nur gegenüber früheren Erscheinungsformen des Porträts dar, sondern auch bezüglich seiner Bedeutung. Das Gesicht ist nicht zu erkennen, mehr noch – es verschwindet gänzlich. In dem dokumentierten (aufgenommenen, gefilmten) Material erscheint ein Lichtball anstelle eines Gesichts/Porträts. Denn die Porträtierten möchten unerkannt, also anonym, ungestört bleiben. Damit entsteht eine neue Funktion des Porträts – es wird zum Bildnis der Verweigerung.

B AUANLEITUNG I.-R.A.S.C. I.-R.A.S.C. ist ein Gerät, mit dem man sich zuverlässig gegen Infrarotüberwachungskameras schützen kann. Das Gerät ist einfach konstruiert und eignet sich zum selber bauen. Sie benötigen dafür ein Infrarotlicht und der Lichtstärke entsprechende Batterien. Um das Infrarotlicht mit den Batterien zu verbinden, brauchen Sie ein Kabel mit zwei Leitungen (+ und –). Wenn Sie die Verbindung hergestellt haben, leuchtet das Infrarotlicht.

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Um das Gerät an- und auszuschalten, können Sie einen Schalter installieren oder es durch das Einsetzen der Batterie einschalten bzw. durch Entnehmen der Batterie ausschalten. Um sich ausreichend vor Infrarotüberwachungskameras zu schützen, ist eine starke InfrarotLampe notwendig. Nach Bedarf können Sie die benötigte Stärke mit einer Reihe von mehreren Infrarot-LEDs erreichen. Um die InfrarotLampe richtig zum Einsatz zu bringen, müssen Sie sie vorne auf dem Kopf tragen. Dafür nehmen Sie ein Kopfband oder eine Mütze (einen Hut, ein Tuch – spielen Sie mit Ihrer Fantasie) und befestigen Sie darauf die Lampe.

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SEE ON

CCTV« 1

Jemand drückt sich in einer fleckigen Waschbetonecke herum. Ein Sadist von der Post hat dort einen Münzfernsprecher aufgehängt. Weil der Sockel des Plattenbaus gern zum Urinieren missbraucht wird, weist eine Videokamera in diese fiese Ecke. Der Telefonierende hat eine Tasche dabei. Die steht auf dem Boden vor ihm. Seit 9/11 sehen solche abgestellten Taschen gefährlich aus. Man denkt an I.E.D. improvisierte Sprengladungen. Soweit alles normal. Alltägliche Paranoia. Aber eins lässt das Bild höchst befremdlich erscheinen. Der Protagonist mit dem Hörer in der Hand trägt keinen Kopf auf den Schultern, sondern einen Strahlenkranz; einen leuchtenden Ball. Wie kann das sein? Wir haben für Sie recherchiert. Auskunft erteilte die Gruppe U.R.A./FILOART. Der Akt von Sabotage ist Teil eines verstörenden Projektes. Im Internet kursiert eine Bauanleitung für eine Platine. Open Source. Jede/-r darf sie kostenfrei benutzen. Kein Zeitzünder für eine Bombe, aber verflucht ähnlich. Jede/-r kann sie für weniger als 20 Euro nachbauen. Ohne jede Kenntnis in Elektrotechnik. Die Platine befeuert mithilfe einer 9-Volt-Blockbatterie einen Kranz von Infrarot-LED. Diese senden für das Auge unsichtbares Licht. Die Videokamera wird blind davon. Die Infrarotstrahlen haben noch einen guten Effekt. Sie pflegen die Haut. Deswegen nennen U.R.A./FILOART ihre Platine Face Care.

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Dieser Text von Olaf Arndt erschien ursprünglich in: Kunsthalle Nürnberg (Hg.) (2009): El Dorado. Über das Versprechen der Menschenrechte, Bielefeld: Kerber.

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Das ist Kunst auf der Höhe der Zeit. Als kritisch-politischer Kommentar? Man erfährt es nicht. Ebenso wenig, wie man etwas über die Identität der Gruppenmitglieder herausfinden kann. U.R.A./FILOART sind eine Kultur-Matrjoschka. Hat man die Schale der ersten Gruppe durchbrochen, findet man mehrere weitere Gruppen darunter versteckt. Und noch mehr Kryptonyme: F.C.P. (Face Care Project) und I.R.A.S.C.: schnell gelesen und englisch intoniert, heißt das »Hebe die Augen«. Die Projekte sind – wie die Gruppen – selbstähnlich. Sie betreiben das Geschäft der Subversion. »Nothing to see on CCTV«, reimte das Modeblatt Stylemag kürzlich. Nichts zu sehen auf der Überwachungskamera. Ist das eigentlich verboten? Das Verweigerungsporträt (U.R.A./FILOART) ist ein Aufruf, Zivilcourage zu beweisen. Macht mit! Macht euch unsichtbar! Dabei stehen U.R.A./FILOART auf solidem Boden: Mumienporträts und Kopfgeldblätter gehören in ihre Ahnenreihe. Ihren Platz im Museum erkämpfen sie gerade.

The Superenhanced Generator UBERMORGEN.COM

B EFRAGUNG EINES M INDERJÄHRIGEN Hr. Khadr: Wir haben schon seit längerem die kanadische Regierung angefragt. Unbekannter Mann: Stimmt das? Hr. Khadr Ja. Mann, es ist nicht so einfach, wie es sein sollte. Mann: In Ordnung, dann holen wir uns noch was, und wie wär’s, wenn wir morgen wieder zu einem Gespräch zusammenkommen? Hr. Khadr: Kein Problem. Mann: Okay. Hr. Khadr: Ich bin sehr froh dich zu sehen. Mann: Ja, es ist gut dich zu sehen. [Die Hand von Herrn Khadr bedeckt sein Gesicht. Er zieht sein Hemd hoch.] Hr. Khadr: Ich kann meine Arme und all das nicht bewegen … ist das etwa normal? [Er zeigt dem Mann seine Brust.] Mann: Nein. Hr. Khadr: Ist das normal? Ich kann meinen Arm nicht bewegen. Ich habe schon lange um eine ärztliche Untersuchung gebeten. Sie tun nichts. [Er bedeckt sein Gesicht und schluchzt.] Mann: Nein, sie schauen so aus als würden sie gut heilen. Ich bin kein Arzt, aber ich denke, du bekommst eine gute medizinische Versorgung. Hr. Khadr: Nein, das tue ich nicht. Sie sind ja nicht hier. [Er weint.] Ich habe meine Augen verloren, meine Füße, alles.

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Mann: Nein, du hast noch immer deine Augen und deine Füße sind noch immer am Ende deiner Beine. Schau, ich möchte, dass du dir etwas Zeit nimmst und dich zusammenreißt. Entspann dich ein wenig, nimm dir was zu essen und dann fangen wir noch mal an. Weißt du, es ist mir klar, dass es für dich anstrengend ist, aber wenn du eine derartige Strategie für unser Gespräch verfolgst, ist das nicht sehr hilfreich. Du weißt, wir haben nur beschränkt Zeit und wir haben diese Geschichte schon vorher gehört. Hr. Khadr: Ich bin Ihnen egal, deshalb. Mann: Du bist mir nicht egal, aber ich möchte mit dem aufrichtigen Omar sprechen, mit dem ich mich gestern unterhalten habe. Ich möchte nicht mit diesem Omar reden. Hr. Khadr: Es war nicht aufrichtig. Mann: Doch, das war’s. Mr. Khadr: Sehen Sie, Sie werden mir sowieso nicht glauben. Mann: Schau mir direkt in die Augen und sag’ mir, dass du aufrichtig warst. Hr. Khadr: [Sieht zu dem Mann auf.] Ich bin aufrichtig. Mann Omar, du kannst mich kaum ansehen, wenn du so etwas sagst. Mr. Khadr: [Sieht ihn an.] Ich kann es nicht ertragen Sie anzusehen? Mann: Nimm deine Hand runter. Hr. Khadr: [Er versteckt sich hinter seiner Hand und weint.] Nein, ich bin Ihnen egal. Mann: Okay. Warten wir ein paar Minuten … Nimm dir eine Pause und iss ein wenig, bevor dein Hamburger kalt wird. Ein anderer Mann: Zieh’ dein Hemd an! Mann: Entspann’ dich ein wenig! Frau: Schalte die Klimaanlage wieder an! Hr. Khadr: Sie nehmen mich nicht ernst. Mann: Das stimmt nicht, die Leute nehmen dich ernst. [Die beiden Männer und die Frau stehen auf.] Der andere Mann: Stell’ den Ventilator an, damit du ein bisschen abkühlst. Frau: Zieh’ dein Hemd wieder an! Mann: Nimm dir ein paar Minuten und entspann’ dich ein wenig. [Herr Khadr zieht sein Hemd wieder an. Er legt die Hände auf seinen Kopf und sackt weinend zusammen. Der Raum ist jetzt leer.]

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[Ein anderer Raum. Herr Khadr sitzt auf einer blauen Couch. Der Mann setzt sich auf einen Sessel an der Wand.] Mann: Nun schau, ich war gestern sehr enttäuscht. Aber solche Dinge passieren nun einmal. Wir haben nur ein paar Tage hier, du und ich, um miteinander zu sprechen. Ich denke es ist wichtig, dass wir in dieser Zeit soviel wie möglich erledigen. Hast du darüber nachgedacht, was wir vorher besprochen haben? Sag’ mir, was du darüber denkst. [Herr Khadr trinkt aus einer Limonadendose.] Hr. Khadr: Ich denke an den Tag, an dem ich von hier raus komme. Mann: Und was willst du an diesem Tag machen? Hr. Khadr: Zurück nachhause gehen. Mann: Wo ist zuhause? In Kanada? Hr. Khadr: [Unverständlich.] [Zeit vergeht.] Frau: [Lacht.] Mann: Du könntest einen Schokoriegel vertragen oder so etwas? Meinst du nicht? Hr. Khadr: Ich will zurück nach Kanada. Mann: Du willst zurück nach Kanada? Nun, da kann ich leider nicht helfen. Ich möchte mit dir hier in Kuba bleiben. Kannst du mir dabei behilflich sein? Hr. Khadr: [Es hört sich so an als sagte er: »Ich denke nicht, dass es gut ist, hier zu bleiben.«] Mann: Nicht? Das Wetter ist schön, es gibt keinen Schnee. [Zeit vergeht.] Mann: Was möchtest du mir sonst noch erzählen? Hr. Khadr: Ich möchte wissen, wie ich zurück nachhause komme. Mann: Hm, das ist schwierig zu sagen, oder? [Zeit vergeht. Es sind Personen zu sehen, die aufstehen und den Raum verlassen.] [Herr Khadr sagt etwas, das sich so anhört wie: »Ich möchte meine Großeltern anrufen.«] Mann: Wie bitte? [Herr Khadr sagt etwas, das sich so anhört wie: »Ich möchte meine Großeltern anrufen.«] Mann: Tja, da kann ich nichts machen. Hr. Khadr: Sie helfen mir überhaupt nicht. Mann: Wie bitte? Hr. Khadr: Sie können mir nicht helfen.

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Mann: Wir können nichts machen. Zweiter Mann: Wir können gar nichts für dich tun, du kannst dir nur selbst helfen. [Der Mann stellt den Ventilator an.]

O MAR A HMED KHADR Omar Ahmed Khadr, geboren am 19. September 1986, ist das fünfte Kind der kanadischen Familie Khadr. Er wurde im Juli 2002 im Alter von 15 Jahren von amerikanischen Streitkräften nach einem Feuergefecht im afghanischen Dorf Ayub Kheyl, bei dem ein amerikanischer Soldat einer Spezialeinheit getötet wurde, gefangen genommen. Khadr soll mit einer Handgranate einen US-Soldaten bei einem Gefecht nahe einer US-Basis getötet und einen weiteren Soldaten schwer verletzt haben. Der Begehung verschiedener Kriegsverbrechen, der vorsätzlichen Tötung und des Terrorismus angeklagt, verbrachte er sieben Jahre im Gefangenenlager Guantánamo. Im Februar 2008 veröffentlichte das Pentagon versehentlich Dokumente, die enthüllten, dass Khadr zwar in besagtem Haus war, es aber keinerlei andere Beweise dafür gab, dass er die Granate geworfen hatte. In der Tat hatten Militärs ursprünglich berichtet, dass ein anderer der überlebenden Kämpfer die Granate geworfen hatte, kurz bevor er getötet wurde. Sie schrieben ihren Bericht danach so um, dass Khadr der Täter war. Die Anwälte der Verteidigung wiesen auch darauf hin, dass der Soldat durch friendly fire von seinen eigenen Kameraden getötet worden sein könnte. Es wurde später festgestellt, dass Khadr selbst beim Kampf schwer verletzt wurde und von den Explosionen fast erblindete und gelähmt war. Die US-Soldaten bemerkten ihn nur, als einer von ihnen auf seinen blutüberströmten Körper trat. Khadr, ein in Toronto geborener kanadischer Staatsbürger, ist der jüngste Häftling des Gefangenenlagers Guantánamo und wurde als »Kindersoldat von Guantánamo« bekannt. Khadr ist der einzige sich noch in Guantánamo befindliche Bürger eines westlichen Landes. Sein Schicksal ist insofern einzigartig, als Kanada sich trotz Drängens von Amnesty International, UNICEF und anderen Organisationen weigert, einen Auslieferungs- oder Rückführungsantrag zu stellen. 2009 wurde bekannt, dass die kanadische Re-

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gierung über 1,3 Mio. US-Dollar ausgegeben hatte, um sicherzustellen, dass Khadr in Guantánamo bleibt. Das kanadische Bundesgericht forderte im April 2009 die Regierung in Ottawa auf, Omar Khadr nach Kanada zurückzuholen, denn seine Behandlung als Gefangener des US-Militärs verstoße sowohl gegen die kanadischen Grundrechte als auch gegen die internationale Menschenrechtskonvention. Die kanadische Regierung hat es jedoch abgelehnt, seine Zurückführung zu verlangen und zog den Fall weiter bis vor das Oberste Gericht. Im Januar 2010 kam dieses zum Schluss, dass Khadrs Grundrechte eindeutig verletzt wurden. Es ließ aber davon ab, die Regierung aufzufordern, seine Rückführung zu verlangen. Khadr war der einzige Fall, der auf Grundlage des Military Commissions Act von 2006 verhandelt und bei dem das Guantánamoverfahren nicht boykottiert wurde. Omar Khadr ist immer noch in Guantánamo und wird es immer sein.

SUPERENHANCED GENERATOR Der Superenhanced Generator ist eine Befragungssoftware, um Verhöre zu automatisieren, zu entmenschlichen und digital zu optimieren. Zunächst wird ein Screening durchgeführt, um den Status des Benutzers bzw. der Benutzerin zu bestimmen (Terrorist/-in, Fragesteller/-in, Nicht-Beteiligte/-r). Danach beginnt die Befragung. Der Generator stellt nicht nur Fragen, sondern befiehlt auch Handlungen (Folter). Nach der Befragung wird der Prozess per E-Mail fortgeführt. Die Software verwendet ein backend, das sich laufend aktualisiert, und nutzt dazu auch zusätzliche Informationen von Google und Facebook. Das Interface ermöglicht dem Administrator einen Überblick über die gesamte Verhörgeschichte, die zusätzlichen Informationen sowie den aktuellen Status des Häftlings. Das Ziel des Generators ist es, Geständnisse hervorzubringen. Die Software kann zuhause verwendet werden und eignet sich für Rollenspiele, sie ist jedoch nicht für den individuellen Gebrauch gedacht. UBERMORGEN.COM verwendet den Superenhanced Generator für Hardcore-Befragungs-Performances inklusive verbaler Misshandlungen und physischer Folter von lokalen Opfern (Subversivmesse Linz, Jerusalem, Zürich, Tokio, Madrid, Brescia, Wien, Warschau).

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Abbildung 1: Der Superenhanced Generator

Die Maschine beginnt mit dem bzw. der Gefangenen (user) auf unterschiedlichen Ebenen zu kommunizieren, sobald der Name und die EMail-Adresse eingegeben sind. Die befragte Person findet sich in einem kafkaesken System simulierter Realität wieder. Es gibt allerdings Ausstiegspunkte. Die Maschine beginnt selbständig Fragen festzulegen und ändert diese autonom. Mit der Zeit muss man dem Generator bei der Ausführung der Befragung nicht mehr unterstützen, denn die Maschine legt die Fragen, den Befragungsverlauf und das zusätzlich hinzugezogene Material aus anderen Quellen (Google, Facebook, etc.) selbst fest und wächst autonom an. Man kann das System dann als lebenden Organismus betrachten und zusehen, wie es sich an unter-

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schiedliche Sicherheitssituationen anpasst und die Software Entscheidungen für uns trifft. Auf diese Weise ist kein Mensch mehr für irgendwelche Handlungen, die im Rahmen von Befragungen vorgenommen werden, verantwortlich. http://superenhanced.com http://ipnic.org/superenhanced

Aus dem Englischen von Nina Bandi und Michael G. Kraft

X. und Y. gegen Frankreich P ATRICK B ERNIER , O LIVE M ARTIN

Der nachfolgende Text wurde im Jahre 2004 für die Ausgabe 53 der Zeitschrift esse aus Quebec unter dem Titel Utopie und Dystopie verfasst. Seitdem wurde er in verschiedenen Kunstzeitschriften, aber auch in solchen aus dem Bereich des Rechts – Plein droit, Nr. 72, April 2007 – und aus der interdisziplinären Forschung – Logs, micro-fondements d'émancipation sociale et artistique, éditions e®e, 2005 – abgedruckt. Er ist ebenso der Plädoyer-Akte beigefügt, welche dem Publikum der Performance X und Y v. France: Plädoyer für einen Präzedenzfall, die wir im Mai 2009 im Rahmen der Subversivmesse präsentiert hatten, ausgeteilt wurde. Vom utopischen esse zur subversiven Messe. Vom erträumten Künstler/-innendasein zur Aufführungsperformance an der Messe. Von der Subversivmesse ist uns die angenehme Erinnerung geblieben an ein gleichzeitiges, aber fröhliches Aufeinandertreffen einer Messe für zeitgenössische Kunst, eines Sozialforums und des Concours Lépine – dieser Teil der Messe Paris, wo Erfinder/-innen die Möglichkeit haben, ihre neuesten Geistesblitze der Öffentlichkeit vorzustellen in der Hoffnung, Verteilkanäle zu finden oder die Kunst, Nägel einzuschlagen, zu revolutionieren. Hier wie dort, jede/-r rivalisiert mit dem Erfindungsgeist der anderen in der Präsentation seines/ihres Werkes, Konzepts oder Werkzeugs. Dasselbe gilt für uns, die zuerst die potenziellen Kunden über unseren Aufmacher im Stile der Rechtsguerilla anlocken: »Zwei Anwälte bewaffnen sich mit der Gastfreundlichkeit des Urheberrechts um die Feindseligkeit des Fremdenrechts zu durchbrechen«, um dann unsere Anwälte kraft des Arguments, der Unterlagen und der Rhetorik zeigen zu lassen, dass das Urheberrecht auf

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dienliche Art und Weise herangezogen werden kann für die Verteidigung eines Ausländers bzw. einer Ausländerin, dem/der die Abschiebung droht. Diese juristische Pirouette, der wir uns bedienen, zeugt vielleicht weniger von einem subversiven Instrument als einer möglichen Subversion der Perspektive, welche – einigen wir uns darauf – eine gänzlich ästhetische Weise darstellt, die Welt umzustürzen.

E RZÄHLUNG

VOR EINEM

G ERICHT

Vor dem Verwaltungsgericht in N. erhebt sich an einem Morgen im September 20xx eine Ausländerin ohne Aufenthaltsberechtigung, die gegen die vom Präfekten bereits verfügte Ausweisung klagt, und tritt vor den Richter. »Herr Richter«, sagt sie, »ich habe Einspruch erhoben gegen die Verfügung des Präfekten, mich abzuschieben. Wenn Sie diese Verfügung bestätigen, werde ich in das Land zurückgeflogen, das ich unter schmerzlichen Opfern und unkalkulierbaren Risiken verlassen habe. Die Instanzen Ihres Landes haben die Gründe, aus denen ich geflohen bin, nicht anerkannt und mir das Asyl verweigert. Heute werden die Gründe, aus denen jede Rückkehr einen Angriff auf mein Privatleben, ja eine Gefahr für mein Überleben bedeutet, nicht berücksichtigt. Und obwohl ich Sie sehr schätze, habe ich kaum Hoffnung, dass Sie meinen Argumenten zugänglich wären, angesichts der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen, die Ihr Land derzeit mit meinem Herkunftsland knüpft: Alles ist dort in bester Ordnung, Herr Richter, alles ist in Ordnung. Lassen Sie mich Ihnen nur mitteilen, bevor Sie grünes Licht für meine Ausweisung geben, dass ich Ihr Territorium nicht allein verlasse, sondern dass ich ein Werk mitnehme, das ich in Zusammenarbeit mit P. konzipiert habe, einem Künstler Ihrer Nationalität. Sie brauchen nicht meinen Bauch zu mustern, da können Sie nichts feststellen, ich bin nicht schwanger, ich erwarte kein Kind, dessen Geburt in diesem Land es zu einem hiesigen Bürger machen und mir die Aufenthaltserlaubnis erwirken würde. Meine Beziehung zu P. ist rein freundschaftlich und künstlerisch. Seinen Anteil an dem Werk hat er meinem Gedächtnis anvertraut; ich bin dessen Treuhänderin und Deuterin, die Mitautorin in dem Maße, wie es in meinem Gedächtnis heranreift. Dieses Werk ist eine Erzählung. Die Erzählung von einem

X.

UND

Y.

GEGEN

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künstlerischen Projekt und dessen Wirkung. Hören Sie diese an, so wie ich sie heute vortrage, schon morgen werde ich sie anders erzählen. Vor einiger Zeit hatte ein Ausstellungskurator von internationalem Ansehen P. eingeladen, mit ihm die Verantwortung für eine Ausstellung versuchsweise zu teilen. Er bot ihm an, zehn Werke verschiedener Künstler auszuwählen, die neben anderen in einer anerkannten Galerie in London gezeigt werden sollten. Ein paar Tage später liest P. in der Zeitung, dass ein junger Iraker an der Einfahrt in den Tunnel unter dem Ärmelkanal starb, und zwar unter den Rädern des Lastwagens, mit dem er England erreichen wollte. Dieser fatale Versuch wirkt auf ihn wie die Verkehrung des Vorschlags jenes Kurators. Die Einladung, auf der anderen Seite des Ärmelkanals Werke auszustellen, wird überlagert von der Unmöglichkeit für manche Menschen, dieses bisschen Wasser zu überwinden. Wie kann man diese Einladung, Werke hinüberzuschaffen, dazu nutzen, Personen hinüberzuschaffen? Nun arbeitet P. schon seit einiger Zeit mit einem Erzähler zusammen, dem er seine künstlerischen Erfahrungen anvertraut, damit dieser sie öffentlich verbreite, nach Maßgabe seines Könnens und seines eigenen Gedächtnisses. So entsteht die Idee, eine Zusammenarbeit von anerkannten Künstlern mit jenen Transitpersonen herbeizuführen, Werke zu konzipieren, die sich weder in einem Objekt noch in einem Text materialisieren noch in anderen greifbaren Formen, sondern die eine derartige Immaterialität behielten, dass allein ihre Träger es vermöchten, sie durch ihre spezifischen Fähigkeiten zu realisieren, etwa erzählen, ein Instrument spielen, tanzen, singen, unterrichten … Werke also, deren Präsentation in London es nötig machen würde, jene ausweislosen Künstler/-innen, Mitautoren und -autorinnen und alleinigen Interpreten und Interpretinnen dieser Originalwerke über den Ärmelkanal zu bringen. Werke also, die die legal Eingereisten zu Schleusern machen würden. Er sucht also Künstler/-innen, Forscher/-innen, Choreografen und Choreografinnen, Filmemacher/-innen, Komponisten und Komponistinnen auf, deren Versuche und Methoden zu dieser Idee passen könnten. Ihm erscheint es wichtig, dass es um mehr geht als bloße Patronage, es soll sich um wirkliche Zusammenarbeit handeln, von der jede/-r etwas hat. Die Künstler/-innen antworten, und die Zusammenarbeit mit den Visalosen kann mithilfe von Unterstützern und Hilfsorganisationen beginnen. Der Choreograf zeigt eine Verkettung von Bewegungen, die er der jüngsten Geschichte des zeitgenössischen Tanzes entnimmt,

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einem jungen Kurden, der sie ausführt, dabei aber um neue Gesten bereichert. Der Komponist ersinnt ein Musikstück für ein Instrument, das ein Afghane auf seinem langen Fluchtweg gebaut hat. Eine Konzeptkünstlerin umschreibt mit wenigen präzisen Worten eine Skulptur, die von einer Nigerianerin mit Wörtern voller Heimweh ausgestaltet wird. Abbildung 1: X. und Y. gegen Frankreich

Diese Schleuser von Werken schreiben an die französischen und englischen Behörden, um die Erlaubnis zur Einreise nach England zu erhalten und der ehrenvollen Einladung Folge zu leisten und die Werke vorzustellen, deren Mitschöpfer/-innen, Mitträger/-innen und Mitdeuter/-innen sie sind. Sie erhalten keine Antwort. Die Künstler/-innen schreiben ihrerseits, um den Trägern ihrer Werke die Einreise zu ermöglichen, damit deren Präsentation in London zustande kommt. Der Präfekt antwortet, dass es angesichts der irregulären Situation jener Personen nicht möglich ist, ihrer Bitte nachzukommen und weist sie überdies darauf hin, dass jede Hilfeleistung für illegale Einreisen oder Aufenthalte einen Straftatbestand darstellt. In seiner Eigenschaft als zweiter Kurator der Ausstellung schreibt P., um die Einreise der zehn Personen zu erbitten, welche die Gesamtheit der Werke in sich tragen, die er ausgewählt hat. Er bekommt dieselbe Antwort, ergänzt um den Hinweis, dass die Strafe für jenes Delikt mindestens verdoppelt wird, wenn es von einer organisierten Bande verübt wird. Der Hauptkurator der Ausstellung schreibt, dass die Einreiseverweigerung für jene zehn Personen seine Ausstellung um wesentliche Beiträge amputiert. Ihm antworten die britischen Behörden, dass bilaterale Verträge zwischen dem britischen und dem französischen Innenministerium verhindern,

X.

UND

Y.

GEGEN

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seiner Bitte nachzukommen. Aus Angst vor der Reaktion seiner wichtigsten öffentlichen Förderer schreibt der Leiter der Galerie überhaupt nicht. Keiner der Schleuser erhält eine Einreiseerlaubnis nach England. Am Tag der Vernissage in London entdeckt das Publikum neben den gezeigten Werken, die von anderen Mitkuratoren und -kuratorinnen ausgewählt wurden, zehn Schilder, die auf die fehlenden Werke verweisen. Man liest dort die Titel jener Werke und die Namen der Mitwirkenden sowie die Erläuterung, dass die französischen und die britischen Behörden den ausführenden Urhebern die Einreise verweigert haben und die Veranstalter/-innen deshalb zu ihrem Bedauern jene Werke nicht präsentieren könnten. Die Besucher/-innen werden aufgefordert, Beschwerdebriefe an die Behörden zu schicken. Sehr viele tun es, aber niemand erhält eine Antwort. Einige der daran beteiligten Künstler/-innen sind anwesend. Man drängt sie, ihre Werke selber vorzuführen; das lehnen sie ab, aber sie berichten von ihren Erfahrungen. Das spricht sich herum. Ein Boykott wird organisiert, dem sich Künstler/-innen anschließen, die genug davon haben, dass sich an ihren Werken jene bereichern, die sie nicht kritisieren dürfen. Musiker/ -innen, die sich lösen wollen von den transnationalen Firmen, Autoren und Autorinnen, die den Verlagen entkommen wollen, deren Eigentümer Waffenhändler/-innen sind, Bildhauer/-innen, die nicht mehr den spekulativen Kunstmarkt beliefern wollen, beschließen, nichts mehr zu veröffentlichen oder auszustellen oder aufzuführen. Sie erinnern sich daran, dass es schon einmal einen literarischen Widerstand gab, in dem Männer und Frauen verbotene Bücher allein in ihrem Gedächtnis aufbewahrt und nur jenen anvertraut haben, die es wollten. Sie sind bereit zur Gegenaktion und jetzt, wo nicht mehr Bücher unter Wäsche verborgen, sondern Menschen in LKWs versteckt zirkulieren, ihre neuesten Schöpfungen dem Gedächtnis jener anzuvertrauen, die keine Papiere und keine Rechte haben, deren Existenz selber geleugnet wird. Sie verbannen jede materialisierte Form ihrer Werke: nur noch Bücher oder Filme oder Platten, deren Zirkulation allein durch Mitwirkung von persönlichen Trägern und Trägerinnen möglich ist. Werke entstehen nur noch durch Zusammenarbeit: die Träger/-innen passen das Werk ihrem Gedächtnis an, bereichern es durch ihre Geschichte und ihr Wissen. Sie geben es auf ihre Weise wieder, mehr oder weniger vollständig oder fragmentarisch, mehr oder weniger originalgetreu oder vermischt.

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In der ersten Zeit zwingt die mehr oder weniger illegale Situation der Mitschöpfer/-innen dazu, die Darbietungen auf heimliche Zusammenkünfte zu beschränken. Eines Tages wird eine Frau verhaftet. Ihr Aufenthalt ist illegal, sie hat keine Papiere, ist aber Trägerin eines Werkes. Das Gericht erachtet die Tatsache, dass sie ein immaterielles nationales Kulturgut hegt, nicht als Hinderungsgrund ihrer Abschiebung und bestätigt die Ausweisungsverfügung trotz des Protestes des künstlerisch Mitwirkenden, der anwesend ist und sich ein wenig leichtfertig auf das unveräußerliche Urheberrecht beruft. Während ihrer Inhaftierung und vor ihrer effektiven Ausweisung mehren sich die Kunstliebhaber/-innen, die sie besuchen und das Werk kennenlernen wollen. Die Anrufe der Menschen, welche die Besuchszeiten wissen wollen, blockieren die Telefonzentrale und lassen die Polizeiwache, in der sich die Arrestzellen befinden, wie einen Theatersaal ertönen. Die Fälle von Kollaboration mehren sich. Es sind nicht mehr nur die Künstler/-innen, die ihre Schöpfungen dem Gedächtnis der Papierlosen anvertrauen: Wissenschaftler/-innen machen es mit ihren Entdeckungen, große Zeitzeugen und -zeuginnen mit ihren Memoiren, Meisterköche und -köchinnen mit ihren Rezepten; und im Rhythmus der Ausweisungen geht Stück um Stück auch das nationale Gedächtnis außer Landes. Zwar gelangen nun nicht mehr die Werke und die Künstler/-innen ins Ausland, wohl aber ihr Ruhm. In allen Ländern üben die Künstler/innen Druck auf ihre Behörden aus, damit diese Träger/-innen ausländischer Werke einreisen lassen. Die Weigerung der Behörden erzeugt in Künstler/-innenkreisen das Empfinden, von den neuesten Entwicklungen abgeschnitten zu sein. Sie erfahren davon nur noch durch vereinzelte Reisende, die das Werk in diesem oder jenem Land gehört haben; oft stammen die Berichte nicht aus erster Hand, sondern wurden schon vom einen zum andern weitergesagt, sind durch mehrere Gedächtnisse gegangen. Sie verklären sich und vermischen sich mit dem Echo der Erfolge in dieser Ausstellung oder bei jenem Kolloquium. Die Künstler/-innen verlassen immer häufiger die sich abschottenden Länder. Die künstlerischen Aktivitäten verlagern sich an die Grenzen. Auffanglager für Ausländer/-innen wandeln sich zu Kunstzentren, während die künstlerischen Institutionen der abgeschotteten Länder verkommen. Um zu verhindern, dass die Sammlungen rückständig und die Museen lethargisch werden, zeigen sich die Konsulate jener Länder allmählich flexibler und erteilen Werk-Trägern und -Trägerinnen

X.

UND

Y.

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Einreiseerlaubnisse, während diese allerdings immer noch darauf warten, dass ein Richter, der womöglich ästhetisches Empfinden besitzt, den Ausweisungsbeschluss aufhebt, der gegen eine von ihnen besteht. Meinen Gruß und Dank an alle, die Ohren haben, um zu hören.« Das Urteil wird zur Beratung ausgesetzt.

Queer Beograd Borderfuckers Cabaret J ET M OON

Queer Beograd ist ein queeres antifaschistisches Kollektiv aus Serbien, das seit 2005 neben anderen Aktivitäten radikal-kulturelle Festivals organisiert. Herzstück des kulturellen Programms der Festivals war die Gründung eines politischen Theaters in der Form des Border Fuckers Cabaret. In Linz auf der Subversivmesse waren wir mit einer Show vertreten, bei der das Kollektivmitglied Jet Moon Regie führte. Methodisch nutzt sie dabei persönliche Geschichten, die sie in einen politischen Kontext einbettet. Es handelt sich um ein queeres Kabarett, das Themen wie Antimilitarismus, Sexismus, Homophobie und Antikapitalismus verarbeitet und dabei Methoden wie Gelächter und sexiness einsetzt, um sein Publikum hin zu einer radikaleren politischen Sensibilität zu (ver-)führen. Die Hauptschwierigkeit (abgesehen von der Beschaffung der Reisevisa) lag dabei in der Frage begründet, wie man eine Show für ein nicht so queeres Publikum gestaltet. Wir hatten bereits Erfahrungen gesammelt, äußerst politische Botschaften einer queeren, aber nicht besonders politisierten Öffentlichkeit zu vermitteln, als wir 2008 in London eine Abwandlung des Border Fuckers Cabaret beim Transfabulous, einem Transgender-Kunstfestival, präsentierten. Die Subversivmesse stellte für uns eine ähnliche Herausforderung dar, allerdings aus einem anderen Blickwinkel. Es ging darum, queere und trans Themen einem eher aktivistischen Publikum darzubieten.

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Wir wollten uns ursprünglich mit dem Thema Grenzkontrollen im Zusammenhang mit Immigration und den durch die Europäische Union hervorgerufenen ökonomischen und kulturellen Folgen beschäftigen und darin ein Verständnis von queerem und antifaschistischem Kampf einbetten. Letztendlich stellten wir eine Show zusammen, die Stücke zu einer Bandbreite von Themen wie Anhaltelager, Genozid, antifaschistischer Kampf und häusliche Gewalt, Kapitalismus sowie Homophobie und Transphobie enthielt. Das hört sich alles nicht besonders lustig an, doch wir sind der Überzeugung, dass es eine Frage der Darstellung ist. Mit viel Humor und einem großartigen Soundtrack inszenierten wir friedensaktivistische Soldaten als Burleske, antifaschistische Schwule mit Regenbogenflagge, nackte Girls, die ihre tänzerischen Qualitäten darboten und natürlich alle möglichen Dinge, die über die Grenze geschmuggelt wurden. Im Queer Beograd Border Fuckers Cabaret, einer Show, die die Grenzen zwischen Nationen, Kulturen, Geschlechtern und Geschlechtlichkeiten überschreitet, wurden Aktivisten und Aktivistinnen (mit besonderen Gästen aus Berlin und London) zu Performern. Als Kollektiv haben wir unsere Arbeit immer darin begriffen, Verknüpfungen zwischen allen Aspekten unserer Gesellschaft herzustellen und zu verstehen, welche Wirkungen diese Faktoren auf uns haben und wie sie ein System der Unterdrückung perpetuieren. Ein politisches Projekt oder eine politische Aktivität kann niemals nur als alleinstehendes Ereignis begriffen werden, genauso wenig wie wir längerfristig davon ausgehen können, erfolgreich eine Politik zu verfolgen, welche sich in singulären Anliegen erschöpft. Um die Hintergründe ein wenig darzulegen: Wir sind ein radikales, queeres Kollektiv, das sich zu einer Zeit gebildet hat, als es unmöglich war, in Serbien eine Pride-Parade abzuhalten. Wir formten das Kollektiv mit der Absicht eine radikale, queere Szene und Politik von Grund auf aufzubauen. Wir benötigten einen Raum, wo wir uns treffen und ausdrücken konnten, ohne vor alltäglicher Gewalt auf der Straße Angst haben zu müssen. Außerdem wollten wir etwas unternehmen, um zunächst unsere eigene Gemeinschaft und unsere Positionen zu stärken und damit die Grundsteine für eine integrative queere Politik zu legen, die aufzeigt, wie ein militaristischer und nationalistischer Staat, die Macht der orthodoxen Kirche und der Kapitalismus eine sexistische, rassistische und homophobe Gesellschaft propagieren.

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Abbildung 1: Marija Saviü (Queer Beograd Kollektiv) als ›Cigarette girl‹ und Tom of Tottenham als Soldat im ›Border Fuckers Cabaret‹ beim Transfabulous Festival.

© absolutqueer photography

Zuallererst wollten wir jedoch einen freien Kulturraum als Mikrokosmos schaffen, bevor wir uns darüber den Kopf zerbrechen, wie wir dies der Öffentlichkeit in einer homophoben Gesellschaft präsentieren. Nach den gewaltsamen Ereignissen bei der Pride-Parade 2001 und der Unmöglichkeit 2004 eine erneute Ausgabe zu veranstalten, waren queere Menschen derart erschöpft, dass wir uns eine Strategie zurechtlegen mussten, die es uns erlaubte einen Raum für uns selbst zu haben. Die Festivals waren so angelegt, dass sie sowohl ein Ort waren, wo sich Menschen treffen und Zeit miteinander verbringen konnten, als auch Orte der politischen Bildung und des Handelns, wo marginalisierten Stimmen in Serbien eine Bühne gegeben wurde. Es ging in erster Linie um die Schaffung dieses Raumes, in dem wir erhofften durch unsere kollektive Solidarität individuelle Ermächtigung und Potential für die Zukunft zu finden. Diese Festivals vereinten verschiedene Ansätze in dem Sinne, wie wir es beabsichtigt hatten. Zum einen Teil war es sozial – als ein freier Begegnungsraum, wo gemeinsam gekocht wurde und die Menschen bei Veranstaltungen mitmachen konnten, von denen das Kabarett nur ein Teil davon war. Die anderen Aktivitäten umfassten direkte Aktionen wie anti-homophobe, antifaschistische Banneraktionen oder die

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einfache Tatsache, dass wir als eine große Gruppe sichtbar queerer Menschen in der Öffentlichkeit zusammenkamen, wie z.B. ein gemeinsames Picknick im Park. Darüber hinaus gab es noch die politischen Panels, die im Präsentations- und Diskussionsformat organisiert waren und Themen wie queeren Widerstand gegen Militarismus oder den Aufstieg der orthodoxen Kirche in Südosteuropa und die Verbindungen zur Homophobie behandelten. Zu den Vorträgen luden wir sowohl lokale als auch Referenten und Referentinnen aus anderen Ländern ein, die einen wertvollen Beitrag leisten konnten. Daneben veranstalteten wir auch Partys und jedes Jahr gaben wir eine Publikation heraus, die die politischen Diskussionen, die Performances und alle unsere anderen Aktivitäten dokumentierte. Unser erstes Publikum bestand aus queeren, lesbischen, schwulen, trans, nicht-festgelegten, radikalen, anarchistischen, linken, künstlerischen und kulturinteressierten Personen, die entweder vom Bedürfnis nach einem queeren Freiraum angezogen waren oder Solidarität mit uns bekunden wollten. Es war ein Netzwerk von Leuten, mit denen wir persönlich in Kontakt standen und von dem aus wir unser eigenes soziales und politisches Netzwerk aufzubauen begannen. Mit dem Kabarett verfolgten wir anfangs nur die Idee, eine politische Botschaft zu vermitteln, ohne dabei jeden zu Tode zu langweilen. Unser Ziel war es, eine Mischung an queeren und subkulturellen Theaterpraktiken mit unseren breiteren radikal-politischen Ansprüchen zu verbinden und dadurch das Interesse der Leute zu wecken. Indem wir versuchten, auf eine andere Weise zu kommunizieren, zu unterhalten und eine Erfahrung von Freiheit – wenngleich auch nur für eine Stunde in einem kleinen Rahmen – zu schaffen, reihten wir uns in eine lange Tradition ein. Unsere erste Performance war natürlich stark von der Tradition des Weimarer Kabaretts beeinflusst, aber auch von situationistischen Ideen. Zusätzlich hatten viele von uns Erfahrung mit autonomen Räumen – entweder durch die freie Partyszene oder durch globalisierungskritische Praktiken. Es war nicht nur die Art, sondern auch der Inhalt der Shows, der radikal war. Jet Moon arbeitete mit Leuten zusammen, die hauptsächlich Aktivisten und Aktivistinnen sind. Sie hörte sich deren persönliche Geschichten an, schrieb Skripte und ermutigte diese Leute sich in den Schreibprozess einzubringen. Als Regisseurin ging es für sie darum, Menschen, die keine schauspielerische Erfahrung hatten, an den Punkt zu bringen, dass sie ihre eigenen Geschichten in den Shows dar-

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stellen konnten. Der konzeptionelle Schwerpunkt lag dabei immer auf einer sorgfältigen Einbettung dieser persönlichen Anekdoten in einen größeren politischen Kontext. So handelt z.B. eines der Stücke des Border Fuckers Cabaret von einem Typen, der in Srebrenica als forensischer Wissenschaftler sterbliche Überreste identifiziert und dabei auch über Themen wie den körperlichen Essentialismus und sein eigenes Verhältnis zu Gender spricht. Wie werden Menschen in einer Gesellschaft gesehen? Wie werden Rassen-, Kultur- und Genderfragen zu einem essenzialistischen Thema gemacht, wenngleich es in der Realität unmöglich ist, derart eindeutige Grenzziehungen zu machen? Zumindest die Hälfte des Materials für die Show kam von einer unserer Panel-Diskussionen über Transgender-Themen. Der Schauspieler sprach über seine Erfahrungen als Transgender Person, die sich nicht für Hormone oder eine Operation entschieden hatte und darüber, wie es sich anfühlte, mit einer Identität aufzuwachsen, die nicht in eine Schublade von entweder/oder eingepasst werden kann. Zufälligerweise war er ein forensischer Wissenschaftler, der mit sterblichen Überresten arbeitete, und in Zusammenarbeit mit der Regisseurin schrieb er über diesen Teil seiner Arbeit und über die Geschichte von Srebrenica. Es ist eine Performance, die viele unterschiedliche Handlungsstränge miteinander verbindet und die Menschen in derselben Aufführung oftmals zum Lachen und zum Weinen bringt. Er ist ein sehr lustiger Typ, der gern herumscherzt, dass er einen zu großen Busen habe, und trotzdem ist da auch diese schiere Brutalität des Krieges, die Details, mit denen er diese Geschichte anreichert, wenn er beschreibt, wie die Form eines Schussloches in einem Schädel aussieht. Es gibt nicht nur eine Ausgewogenheit zwischen Humor und der entsetzlichen Realität, sondern es wird auch die Möglichkeit geschaffen, über die ideologischen Mythen, auf deren Grundlage sich Krieg und Hass manifestieren, zu reden. Die politische Botschaft ist, den Schwachsinn und die Destruktivität jeglicher Grenzen zu erkennen, seien sie politische, soziale oder ökonomische Schranken, die uns davon abhalten, uns gegenseitig in erster Linie als Menschen zu sehen.

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Abbildung 2: D. Sarzinski performt »körperlichen Essentialismus« im ›Border Fuckers Cabaret‹ beim Transfabulous Festival.

© absolutqueer photography

Als Kollektiv gründen wir alle unsere Aktivitäten auf unserem alltäglichen politischen und sozialen Leben – von wo aus sonst könnten wir denn auch handeln? Es geht um diese alte Geschichte, »das Persönliche ist politisch« und darum dies auszuweiten und um unsere eigenen Geschichten anzureichern. Von diesem Punkt aus handeln wir. Denn welche Bedeutung könnte Politik sonst haben? Wenn Politik nur als abstrakte Theorie, entkoppelt von den Lebensrealitäten der Menschen, existiert, wie soll sie uns dann einen Anstoß für unser Handeln geben? Die alltägliche Realität der Menschen und deren Kämpfe sind Grundlage und Inhalt von Politik. Wenn wir nach dem Wert und dem Potential von Kunst als subversive Praktiken gefragt werden, so möchten wir in einem vielleicht etwas antagonistischen, argumentativen Zugang zurückfragen: »Warum

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nur das subversive Potential von Kunst und was zum Teufel ist überhaupt Kunst?« Der Anarchist und Schriftsteller Octavio Buenaventura hält dazu Folgendes fest: »Ein Weg, sich als Künstler nützlich zu machen, ist, sich gegen Spiegelglasfenster zu werfen und ›fuck you‹ auf Gebäudewände zu schreiben.« Natürlich schreibt er auch hoffnungsvollere Dinge als das. Zu Erzählungen und deren Potentialen meint er: »[…] es gibt Geschichten, die bleiben dir ein Leben lang, Geschichten, die dich mit einer bestimmten Zeit, einem Raum oder Menschen verbinden. Eine Geschichte, die von einer Gemeinschaft freier Menschen geschaffen wird, ist eine Geschichte, die nicht ausgelöscht werden kann.« 1 Auch wir sehen Kunst nicht entkoppelt, als elitäre Institution, als eine höhere Form von Widerstand, sondern verankert in der Kraft kultureller Tätigkeit, die als Facette vollständig in unser Leben als politisch aktive und widerständige Menschen integriert ist. Eine Gegenkultur beginnt mit einem politischen Projekt im Kopf, obwohl man dabei stets Gefahr läuft, dass Politik von ihren Subjekten entkoppelt wird – wie die entsetzlichen sozialistischen Monolithen, die uns vormachen, dass Identität ein Randthema sei und all unsere Probleme auf die Zeit »nach der Revolution« verschoben werden müssten, anstatt sie zur Grundlage unseres revolutionären Lebens selbst zu machen. Es ist möglich, eine aktive politische Basis zu formen, die den Mainstream angreift und dabei die Balance zwischen marktwirtschaftlicher Vereinnahmung und dem Zurückfallen in ein subkulturelles Ghetto schafft. Subkultur ist keine schlechte Sache. Sie schafft Raum für Gleichgesinnte, wo zuvor keiner existierte. Sie kann ein Ort sein, wo man Zugehörigkeit und persönliche Wertschätzung erfährt, und wo man eine gemeinsame Kultur inmitten einer feindlich gesinnten Umgebung zu schätzen und zu entwickeln beginnt. Weniger zielführend ist, wenn derartige Subkulturen als Ghettos oder Modeerscheinungen erstarren, oder noch schlimmer, wenn sie als Nischenmärkte funktionieren, in denen die Subkultur selbst zur Ware wird und dadurch die politische und soziale Dringlichkeit, die sie einst konstituiert hat, verliert.

1

Buenaventura, Octavio (2009): »Interview with Margaret Killjoy«, in: Margaret Killjoy (Hg.), Mythmakers & Lawbreakers, anarchist writers on fiction, Edinburgh: AK Press.

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Wie immer man auch subversive Aktivitäten, ob künstlerisch oder nicht, definieren mag, ihnen allen liegt die Spannung zwischen Subund Gegenkultur sowie zwischen Menschen, die um ihr tägliches Überleben und um Sichtbarkeit in der alles konsumierenden Überkultur kämpfen, zugrunde. Kunst hat eine lange Geschichte im Aufrechterhalten einer unbehaglichen Verknüpfung zwischen der Welt der Eliten und der restlichen Gesellschaft. Im Kapitalismus existiert ein beeindruckendes Potential dafür, jeglichen kulturellen Output der Konsumgesellschaft einzuverleiben. Für unser Kollektiv scheint es in dieser Hinsicht keine allzu große Gefahr zu geben. Bis jetzt ist es uns gelungen unser Festival zu etablieren, bei mehreren internationalen Festivals eingeladen zu werden, unsere Bücher zu veröffentlichen, die Website am Laufen zu halten und bei einigen faschistischen Gruppierungen in Serbien sehr bekannt zu werden. Besonders interessant ist, dass wir bei manchen Leuten immer wieder das Verlangen beobachten, aus der Politik-ohne-Inhalt einen Fetisch zu machen. Es sind dies jene, die das Kollektiv als die »kämpfenden serbischen Queer« exotisieren und dabei die Elemente einer transnationalen Zusammenarbeit verneinen. Sie sprechen uns einen speziellen Grad an Authentizität und queerer Politik zu, ohne aber selbst irgendwie aktiv werden zu wollen. Wir könnten ja eine Kleiderlinie entwerfen und besonders erfolgreich an diese Leute verkaufen. Natürlich haben wir an der Etablierung einer radikal-politischen Kulturszene in Belgrad, dem Aufbau von soliden Beziehungen zwischen queer-anarchistischen und antifaschistischen Gruppierungen und dem Kampf um queere Räume und Rechte mitgewirkt. Wir waren also in viele unterschiedliche politische Aktivitäten involviert. Die gesamten politischen und sozialen Resultate der eigenen Aktionen können aber nicht leicht quantifiziert werden, denn manchmal werden solche Dinge erst Jahre später sichtbar und verständlich oder sie kommen gar nie zum Vorschein. Andererseits ist es in einer mediatisierten Gesellschaft von besonderer Bedeutung, eine Präsenz im Internet zu haben und Bücher zu veröffentlichen, die im Pdf-Format gratis heruntergeladen werden können, um damit queere Bilder des Kampfes zu kreieren, die in gewisser Weise viel größer als unsere Aktionen als Kollektiv sind, da wir alle einen Sinn für eine Vision für die Zukunft benötigen. Es scheint unmöglich eine ästhetische Praxis zu begreifen, die per se subversiv ist. Ist eine Bombe subversiv? Ein Pinselstrich? Ein Haar-

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schnitt? Ist irgendeine politische Denkrichtung an sich subversiv? Es geht um den Kontext, um die Frage durch wen? Wo? Mit welcher Absicht? Was im Vordergrund steht, ist die Abstimmung der Ideen mit der Praxis und nicht irgendeine Top-down-Beziehung zwischen Theorie und Praxis oder sogar in der umgekehrten Richtung. Es geht um die wechselseitige Beziehung zwischen den beiden, zwischen Absicht und Ausführung, die ein Mittel für Veränderung darstellen kann. Als Kollektiv führen wir unsere Arbeit, sowohl gemeinsam als auch einzeln, in einem breiten Netzwerk von Organisationen und Aktivitäten fort. In Frauenorganisationen, in lesbischen Organisationen, in antifaschistischen und anarchistischen Gruppen, als Schriftsteller/ -innen, Künstler/-innen, Performer/-innen – auf jede mögliche Weise, die ein Teil unseres täglichen Lebens darstellt. Abbildung 3: Majda Puaca and Jet Moon (Queer Beograd Kollektiv) präsentieren das ›Border Fuckers Cabaret‹ beim Transfabulous Festival.

© absolutqueer photography

Die größten Probleme bleiben dabei die alltäglichen: genug Geld zum Leben zu verdienen, in der Lage sein, Rechnungen und Mieten bezahlen zu können, die physische und mentale Kraft auch nach Jahren prekärer Arbeit aufzubringen, um eine politische und kulturelle Praxis am Leben zu erhalten, die nicht nur uns selbst herausfordert und vorantreibt, sondern unsere ganze Gesellschaft. Angriffe auf unser Festival durch Faschisten und Faschistinnen sowie ein erneuter Fehlschlag, die Pride in Serbien abzuhalten – dieses

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Mal durch den Verrat von staatlicher Seite und von der Polizei – haben dem Kollektiv im Hinblick auf die Ausrichtung öffentlicher Festivals beträchtliche Energien genommen. Darüber hinaus ist jede Idee oder Aktivität keine ewige, unverrückbare Angelegenheit, sondern muss sich entsprechend der Zeit verändern. Nach einer Periode der Neuausrichtung bewegen wir uns hin zu einer neuen Strategie – der Versuch eine gewisse Kohärenz zu erhalten und dabei selbst Aktivitäten zu setzen, die wir physisch und emotional aufrechterhalten können. Dieses Mal leisten wir die Grundlagenarbeit für einen queeren Verlag in Belgrad, was aber nicht heißt, dass wir keine Demonstrationen mehr besuchen, keine Performances mehr machen und uns nicht mehr politisch organisieren. Ganz im Gegenteil, dieser Freiraum kann in unterschiedlicher Art und Weise erhalten bleiben und die Strategien müssen an bestimmte Situationen angepasst werden. Wir wollen in Belgrad eine andere Art von Vermächtnis hinterlassen – den Zugang zu Informationen und Ideen in der Form von Büchern. Es ist der Zugang zu Information, der in der serbischen Gesellschaft nur schwer zu erlangen ist. Dabei wollen wir im Zuge unserer Projekte weiterhin jenen Stimmen Gehör verschaffen, die so wichtig sind und doch so wenig gehört werden. Wir weigern uns, wie immer schon, uns nur singulären Themen hinzugeben. Für uns wird radikale queere Politik immer eine Politik des Handelns bleiben – auf so vielen wie nur möglichen Ebenen und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Wir werden diese ausführen von jedem Boden aus, auf dem wir uns befinden und mit allen, mit denen wir uns darauf wiederfinden.

Aus dem Englischen von Nina Bandi und Michael G. Kraft

Innocent Subliminals G REGOR R OZANSKI

L EGALE K ONZEPTE ZUR ILLEGALEN V ERWIRKLICHUNG ? Dieses Projekt basiert auf der nicht-offensiven physischen und virtuellen Verteilung von Inhalten, die als gefährlich, risikoreich oder zumindest im öffentlichen Raum als störend empfunden werden. Dabei sind zum Beispiel enthalten: Rezepte für selbst gebastelte Sprengmittel und Anwendungen für Grass-Roots-Lähmungen des Systems, Anleitungen, die von ihrem ideologischen Kontext entkoppelt werden, rein visuelle und rhetorische Widerstandsästhetik. Legale Konzepte für eine illegale Umsetzung also, fragt man sich. Als Knowhow der urbanen Guerilla umfasst Innocent Subliminals z.B. Illustrationen von einfachen Baukästen für die Herstellung von Nitroglycerin, wobei manche von ihnen William Powells Anarchist Cookbook entnommen sind. Eine solche Position wird als nicht vertrauenswürdig eingestuft, was die Frage aufwirft, ob derartige Informationen schockierender und verbotener sind als reale Gefahren. Die Vermittlung dieser Arbeit war sehr komplex und ziemlich kompliziert. Einerseits lag der Zweck der Präsentation in der Vorstellung des Projektkonzepts, aber andererseits war die Präsentation auch ein grundsätzlicher Bestandteil dieses Projekts. Es war eine sitespezifische Installation für einen Trade-fair-Kontext. Entsprechend meinen Ideen war alles so ausgerichtet, dass es gleichzeitig äußerst subversiv und so unschuldig wie möglich erscheint.

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Abbildung 1: ohne Titel

Aus der Atmosphäre eines pathetischen Radikalismus oder ideologischer Spekulation heraus wollte ich die imaginierte Grenze zwischen der vollkommen legalen Situation dieses Ereignisses und des subversiven Ausdrucks seines Statements verwenden, um die Grenzen der Informationsfreiheit infrage zu stellen. Wenn der Kapitalismus all unser Aufbegehren absorbiert, muss dann wahre Subversion immer unterschwellig sein? Macht Subversion innerhalb des Systems überhaupt noch Sinn? Manche von uns haben noch immer ein wenig Hoffnung, dass wir eines Tages die wahre und reine Revolution erleben werden.

W AS TUN R EBEL S CUM ? E IN PAAR ANMERKUNGEN ZUR SUBVERSIVEN K UNST •



Die Notwendigkeit für politische und subversive Veränderungen ist wie die Notwendigkeit der Veränderung der eigenen Persönlichkeit – in beiden Fällen ist es besonders schwierig oder sogar unmöglich. Das System und seine Aktivitäten sind dabei nicht das Problem. Das Problem liegt vielmehr darin, dass wir selbst mit unserer Unzufriedenheit und unserem glücklosen Zustand nicht umgehen können. Es gibt keine Idealzustände, da es keine idealen Menschen gibt. Es macht keinen Unterschied, ob wir in Zeiten dynamischer Ökonomien der Aufmerksamkeit oder dem intellektuellen Mittelalter

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leben. Das Potential der Subversion ist immer nahezu das Gleiche (solange wir typisch vorhersehbare menschliche Wesen sind, auch bekannt als homo sapiens). Heutzutage gibt es so viele selbst ernannte subversive Künstler, die immer um jeden Preis versuchen radikal und expressiv zu sein. Anscheinend ist das der einfachste Weg, um billig und banal zu werden. Die Errungenschaften der 1968er-Bewegung werden nicht für immer fortdauern. Ich denke die Bedeutung der großen Veränderung kann nicht mehr in einer neuen sozialen Massenrevolution liegen, sondern eher in einer mentalen oder psychischen Revolution in unseren Köpfen. Regierungsgebäude anzuzünden, sich Straßenschlachten mit der Polizei zu liefern oder geheime Pentagon-Server zu hacken ist in keiner Weise zielführend. Wahre Veränderung erfordert intellektuelle Anarchie (nicht im stereotypen Sinne von Chaos und Verrücktheit, sondern im Sinne von Selbststeuerung ohne höhere Macht) und Autonomie, um unseren eigenen individuellen Staat in unserer Imagination zu errichten (»Zerstöre keinen Staat – gründe deinen eigenen?«). Nach einem derartigen Akt ist nichts mehr von Bedeutung und keine Macht kann mehr eine Bedrohung unserer inneren Freiheit darstellen. Daher sind die Möglichkeiten für wirkliche Veränderungen auch eher bei der Kunst und Kultur anzusiedeln als bei politischen Aktivisten. Kunst wird oft von langweiligen Diskursen über öffentlichen Raum, Nachhaltigkeit, Demokratie etc. dominiert. Sie sind zwar an sich nicht schlecht, können aber auf sehr vorhersehbare und langweilige Art und Weise diskutiert werden, ohne irgendwelche konstruktiven Schlussfolgerungen oder zumindest Spaß zuzulassen. Man ist auf der sicheren Seite, wenn man über Themen spricht, die für ein institutionelles oder ideologisches System keine Gefahr darstellen. Konzeptkunst als Institutionskritik ist auf der Verliererstraße. Traditionelle Konzept-Strategien sind oftmals wirkungslos geworden, aber vielleicht ist die postmoderne Wirkungslosigkeit die neue Wirkmächtigkeit? Ich habe viel Respekt vor der Konzeptkunst der 1960er und 70er Jahre, aber jetzt schreiben wir das Jahr 2010. Vielleicht sind die glorreichen Zeiten der sichtbaren und radikalen Veränderungen in Kultur und Gesellschaft endgültig vorbei und wir können uns nur noch nicht daran gewöhnen oder sollten wir

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leise warten und an einer neuen Qualität arbeiten, an etwas noch nie Dagewesenem? Diskussionen über das Subversive sind Diskussionen über Enttäuschungen. Manchmal machen uns Enttäuschungen glücklich und die Dinge einfacher und klarer. Wenn hohe Erwartungen durch eine banale Enttäuschung aufgelöst werden, ist es wie eine Antwort, die noch mehr Fragen hervorruft. Abbildung 2: ohne Titel

Aus dem Englischen von Nina Bandi und Michael G. Kraft

Psychological Prosthetics D EE H IBBERT -J ONES , N OMI T ALISMAN

Wir sind: Psychological Prosthetics™ Unsere Agenda: Konversationen anregen, Raum zum Nachdenken schaffen, Diskussionen entfachen, zu Handlungen anstiften. Unsere andere Agenda: Firmenmarketing und politische Propaganda infrage stellen und die Machenschaften dieser Institutionen aufzeigen, wie sie öffentlich Angst und Verunsicherung schüren, um ihren Willen durchzusetzen. Psychological Prosthetics™ sind fest davon überzeugt, dass die Manipulation von Ängsten dafür eingesetzt wurde und noch immer wird, um politische Agenden zu befördern. Diese Agenden werden mit dem Glanz kommerzieller Werbung verpackt und der Öffentlichkeit so verkauft. Wir wollen die Ausbeutung der Angst genauer untersuchen, die manipulativen Methoden zum Vorschein bringen und den Dialog in die Öffentlichkeit tragen. Wir begannen Consume Your Fear am Ende der zweiten Amtsperiode von George W. Bush (wir sind aus Kalifornien) in der Ära von 9/11, dem Irakkrieg, dem Krieg in Afghanistan, dem War on Terror; zu einer Zeit als die nationale Sicherheit (Homeland Security) nicht nur als Regierungsagentur auftrat, sondern auch zum Titel und Schlagwort – ähnlich wie der Patriot Act – wurde, hinter dem alles andere sekundär, unbedeutsam, unamerikanisch und eine potenzielle Gefahr für die Gesellschaft wurde. Auf der Subversivmesse luden wir die Besucher dazu ein, über ihre Ängste zu sprechen, sie zu benennen, ihre Ängste zu bewerten und sie

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letztendlich zu konsumieren. Wir machen uns Strategien des Massenmarketings und der politischen Propaganda zu eigen, um diese Systeme genauer zu untersuchen. Dabei ahmen wir das Erscheinungsbild und die Sprachlichkeit von medizinischen Firmen, Marketingkampagnen und Selbsthilfe-Handbüchern nach. Unseren personae liegt eine gewisse Form der Ironie, des Humors und der Subversion zugrunde. Wir hoffen natürlich, dass unsere Fragen und Untersuchungen beim Publikum ankommen, weshalb wir Aufkleber und Luftballone verteilen, Slogans verfassen und Broschüren erstellen. Irgendwo wird irgendwer diese Dinge kaufen, sich anhören oder weitersagen. Wie bei allen Projekten von Psychological Prosthetics™ ist das Hauptaugenmerk darauf gerichtet, Raum zum Nachdenken und zur Reflexion zu schaffen, wovon wir uns erhoffen, dass die Teilnehmer dies in politische Handlungen umsetzen werden. Meistens gehen wir dazu auf die Straße, richten uns an ein zufällig zusammengewürfeltes Publikum, das aus Passanten aus den unterschiedlichen Quartieren, in denen wir uns aufstellen, besteht. Dabei geben wir uns nicht als Künstler/-innen zu erkennen und nur einmal, seit wir das Projekt im Jahr 2005 begonnen haben, hat uns jemand danach gefragt, ob wir eine Künstler/-innengruppe seien und was unsere Hintergedanken wären. Meistens glauben die Leute, dass wenn etwas wie eine Firma ausschaut, wenn es wie ein Produkt verpackt ist und sich wie eine Werbung liest, wir etwas verkaufen müssen und es etwas geben muss, dass sie kaufen können. Tatsächlich verkaufen wir eine alternative Perspektive, aber unser Publikum ist nur deshalb bereit zuzuhören, weil wir unsere Ideen derart verpacken, dass sie kommerziell erscheinen, vorgepackt und für den Konsum bereit – darin liegt die Ironie. Es hat uns erstaunt, dass Passanten gewillt sind, mit uns zu reden, wenn sie meinen, dass wir ihnen Produkte oder Dienstleistungen anbieten. Manche erklären sich bereit an einer Umfrage teilzunehmen, wenn sie glauben, damit zur Entwicklung eines Prototypen beitragen zu können. Wir bekommen sogar noch mehr Aufmerksamkeit, wenn wir neben unserer Produktlinie und deren Verpackung auch eine Videokamera dabei haben. Die Tatsache, dass die Öffentlichkeit eher bereit ist mit Verkäufer/-innen und Vermarkter/-innen über Politik zu reden als mit Künstlern und Künstlerinnen, ist erstaunlich. Aber dass wir unsere Botschaft über diese Methode kommunizieren können, ist fantastisch.

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Wir sind der Auffassung, dass unsere Methode in dem Ausmaß funktioniert, dass wir damit Diskussionen anregen und andere Kreise der Bevölkerung miteinbeziehen als die üblichen. Ist diese Art der Subversion erfolgreich? Wir sind wirklich nicht imstande, darüber eine Aussage zu treffen. Die Ausbreitung und Sichtbarkeit ist gering – eine oder zwei Personen jeweils. Wir begannen mit Gruppenschulungen und öffentlichen Vorträgen, um ein größeres Zielpublikum zu erreichen. Die Tatsache, dass wir eine persona geschaffen haben und der Erfolg des Engagements an uns und die Erfüllung dieser Rolle gebunden ist, scheint gewisse Beschränkungen für unsere Botschaft mit sich zu bringen. Wir fühlen uns beide unwohl in der Psychological Prosthetics™ Rolle, die wir spielen. Aufgrund der Enttäuschung, sich in einer derart diffusen und allgemeinen Art mit einem unspezifischen Publikum auseinanderzusetzen, haben wir unseren Ansatz in den letzten beiden Projekten verändert. Unsere jüngste Arbeit verfolgt einen direkteren Zugang und verlangt, dass wir uns selbst enttarnen, um unsere Rollen und Verantwortlichkeiten als Künstler genauer zu untersuchen. Wir hören uns immer noch Geschichten an und erzählen unsere eigene, aber wir haben unsere Maske abgelegt, unsere persona ist weg. Darüber hinaus suchen wir nach neuen Methoden, um unsere Arbeit zu verbreiten. Wir schaffen neue Formen der Zusammenarbeit über die Disziplinen hinweg, damit wir die Kanäle, über die wir eine breitere Zuhörerschaft erreichen, ausweiten und vertiefen. Unsere gegenwärtige Arbeit untersucht die US-Immigrationspolitik, die Rolle von Rasseneinteilungen und Bestrafung und findet sich unter www.operatinginstructions.org. Wir haben unseren subversiven Ansatz erweitert, indem wir mit nicht-künstlerischen Organisationen in eingebetteten Projekten und mit Spezialisten und Spezialistinnen über einen längeren Zeitraum hinweg zusammenarbeiten. Diese Arbeiten firmieren unter dem Dach Operating Instructions, ein virtuelles Zuhause für künstlerische Kollaborationen und Projekte, die Systeme und Sozialstrukturen genauer untersuchen und ungehörten Narrativen eine Stimme geben. Dabei arbeiten wir gegenwärtig an zwei Projekten: I140, ein Stück über die US-Immigrationspolitik, die gleichgeschlechtliche Paare betrifft, und eine animierte Dokumentation, welche die Auswirkungen der Todesstrafe auf Gemeinschaften und auf Familien von zum Tode verurteilten Gefängnisinsassen untersucht. Diese Pro-

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jekte setzen von der Produktion bis hin zur Distribution unterschiedliche Taktiken, Strategien und Methodologien ein. Für das Projekt I-140 hielten wir handgemachte Schilder auf den kalifornischen Autobahnen in die Luft und erzählten unsere eigene Geschichte des Kampfes mit der US-Immigrationsbehörde. Als gleichgeschlechtliches Paar sind wir nicht in der Lage zu heiraten bzw. unserem Nicht-US-Partner die Staatsbürgerschaft zu übertragen. Das ist unser bisher persönlichstes Projekt. Es enthüllt Details über unser persönliches Leben, während wir die Bürgerrechte thematisieren. Dazu haben wir ein Video und eine Fotoserie angefertigt. Unsere handgemachten Schilder sehen wir sowohl als Zeichnungen als auch als informative Untertitel an. Als wir am Rande der kalifornischen Autobahnen filmten, wurden wir in einer Art und Weise ignoriert, wie die amerikanische Gesetzgebung die Misere von gleichgeschlechtlichen Paaren ignoriert. Niemand hielt an, um sich unsere Geschichte anzuhören. Wir waren nur ein Schandfleck, eine Störung des Bildes, die man nur im Augenwinkel wahrnimmt. Wir sind dabei, diese Arbeit auszuweiten, um auch die Geschichten anderer Paare zu integrieren, um mit Migrations- und Menschenrechtsorganisationen zusammenzuarbeiten und das Projekt in der Form von Plakatwerbung für die Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Wir machen dieses Projekt auch zugänglich für die Nutzung durch politische Kampagnen. Unser animierter Dokumentarfilm über die Auswirkungen der Todesstrafe ist das herausforderndste Projekt, das wir je durchgeführt haben. Wir hören Menschen zu, die über Verlust sprechen – Verlust der Liebsten, der Zuversicht, von Glauben und Vertrauen. Wir hören Menschen zu, die eine Realität beschreiben, die wir uns nicht einmal vorstellen können: der von der US-Regierung sanktionierte Tod eines geliebten Menschen. Wir haben Animation als Ausdrucksform gewählt, um diese surreale, unreale und hyperreale Realität zu vermitteln, um sie gleichzeitig konkret und abstrakt darzustellen. Für dieses Projekt haben wir den bisher höchsten Förderungsbetrag von all unseren Arbeiten erhalten und wir hoffen, dass wir es auf allen möglichen Wegen verbreiten können: von Ausstellungen, Film- und TV-Vorführungen bis hin zu öffentlichen Vorträgen, universitären Gesprächsrunden und Interessenkampagnen. Dazu arbeiten wir mit Anwälten und Anwältinnen, Psychologen und Psychologinnen, Soziologen und Soziologinnen, Gemeinschaftsvertretern und -vertreterinnen sowie Aktivisten und Aktivistinnen zusammen. In den USA, das einzige westliche Land, das

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noch immer Menschen auf der Grundlage seines Rechtssystems exekutiert, wird dieses Projekt als zutiefst politisch und kontrovers angesehen. Wir sind fest davon überzeugt, dass beide Projekte über Kunstproduktion, ästhetische Werte und nur unsere Stimmen, Meinungen und Interessen hinausgehen. Wir hoffen, dass wir diese Themen einer größeren Öffentlichkeit zur Erkundung und Reflexion näherbringen können. Wir machen, was wir am besten können – Kunstprojekte, die wie wir, in dieser herausfordernden, unvollständigen und immer wieder aufs Neue inspirierenden Welt existieren.

Aus dem Englischen von Nina Bandi und Michael G. Kraft

Open Source Ecology M ARCIN J AKUBOWSKI

Das Open Source Ecology Project hat zum Ziel ein robustes und reproduzierbares Toolkit zum Aufbau von Post-Knappheit- und widerstandsfähigen Gemeinschaften zu entwickeln. Wir erstellen OpenSource-Hardware, welche die Infrastruktur für solche Gemeinschaften herstellen kann. Unser Experiment besteht aus einer real existierenden Gemeinschaft; drei Jahre dauerte die Entwicklung und gegenwärtig befinden wir uns in der Aufbauphase. Wir bedienen uns praktischer Experimente und gehen dabei folgenden Fragen nach: Wie errichtet man belastbare Infrastrukturen? Wie setzt man eine Subsistenzwirtschaft um? Wie schafft man ein Modell einer fortschrittlichen Zivilisation, die ihre lokalen Ressourcen nutzt? Das Potential unserer Arbeit ist beträchtlich. Indem wir nachhaltige Lebens- und Arbeitsinfrastrukturen erschaffen, wollen wir zeigen, dass jede interessierte Person einen sinnvolleren und integrativen Lebensstil umsetzen kann. Wir sind der Überzeugung, dass dies ein Mittel gegen jeglichen geopolitischen Kompromiss darstellt. Unser Projekt richtet sich an jene Menschen, welche die Grenzen der Zentralisierung verstehen und aktiv nach Alternativen suchen. Während die ersten Anwender/-innen aus dieser Personengruppe stammen werden, wollen wir in Zukunft eine breitere Öffentlichkeit ansprechen. Dies gründet darin, dass wir an einer Infrastruktur arbeiten, die eine Lebensqualität ermöglicht, die mindestens so gut ist wie jene eines Großteils der Bevölkerung. Da dieser allgemeine Standard jedoch an allen Ecken und Enden bröckelt, glauben wir, dass diese Alternative auf breiter Basis angenommen werden wird.

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Wir sehen die größte Schwierigkeit darin, dass die Menschen die Potentiale einer intelligenten Handhabung moderner Technik verstehen, da diese eine völlig neue Qualität des Lebens zu schaffen imstande ist. Wir werden in der heutigen Gesellschaft aktiv daran gehindert, zu glauben, dass Derartiges möglich ist, und so stießen wir für unser Vorhaben nur auf bedingte Unterstützung. Die Leute müssen den Wandel, von dem wir sprechen, selbst sehen und erfahren. Dies kommt langsam in Bewegung. Wir haben soeben unser erstes, vollständiges Open-Source-Produkt veröffentlicht – den Liberator. Es handelt sich dabei um eine Hochleistungspresse zur Erzeugung komprimierter Erdziegel, die in Konkurrenz zu Maschinen steht, die um die 70.000 US-Dollar kosten. Unsere Maschine kostet in Teile zerlegt nur 3000 US-Dollar und stellt daher für uns eine wunderbare Gelegenheit dar, Geld zu verdienen, während wir der Konkurrenz um Längen voraus sind. Aber nicht nur das – sowohl unser Produkt als auch das gesamte Geschäftsmodell sind vollständig Open Source. Das bedeutet, dass wir andere nicht nur dazu ermutigen, die Maschine für sich selbst zu bauen oder von uns zu einem Bruchteil des Preises der Konkurrenz zu kaufen, sondern selbst Produzenten und Produzentinnen der Maschine zu werden. Dies ist der wahre Geist des freien Unternehmertums ohne Monopolisierungstendenzen. Der Grund für die Herstellung von Open-Source-Produkten ist transformativ. Wir werben Marktanteil von der Mainstream-Ökonomie ab und bieten eine Alternative an mit dem einfachsten, transparentesten und benutzerfreundlichsten Design. Dieses ist darauf ausgerichtet, ein Leben lang zu halten und nicht nur kurzlebig zu sein. Wir erzeugen Produkte, die den Menschen wahrlich dienen. Die Menschen können ihre eigenen Maschinen verstehen und warten, was zu ihrer Unabhängigkeit vom bestehenden System beiträgt. Wir sind wirklich drauf und dran, eine Post-Knappheit-Gesellschaft zu verwirklichen, weil unser Geschäftsmodell auf dem Prinzip der Teilhaberschaft beruht. Das ist für die meisten Menschen schwierig zu verstehen, aber sobald die positiven Ergebnisse in breiteren Kreisen sichtbar werden, werden immer mehr Menschen davon Kenntnis nehmen. Wir gehen davon aus, dass ein Post-Knappheit-Denken zur Norm wird, was eine grundlegende Evolution des menschlichen Bewusstseins mit sich bringen wird.

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Unsere Maschine ist einfach und effektiv, ohne Schnickschnack, aber sie bietet kompromisslose Leistung. Das ist unsere Ästhetik und sie wird von allen verstanden, die den wahren Wert schätzen. Da unsere Pläne Open Source sind, ist es schwierig, diese Maschine zu unterwandern oder sich anzueignen. Diese Einfachheit spricht auch all jene an, die keine kostspieligen Reparaturen wollen. Allgemeine Ersatzteile können lokal beschafft werden. Darüber hinaus werden wir weiterhin in der Lage sein, sie zu produzieren und zu verkaufen, auch wenn viele andere die Maschine produzieren. Der Markt dafür ist groß und wir sind effektive Produzenten und Produzentinnen. Der Wert unserer Arbeit bleibt durch die Produktion dieser Maschine immer bei uns. Niemand kann die Produktion monopolisieren, weil sie mit unserer effektiven Produktion konkurrieren müssten. Wir wollen, dass alle diese Maschine verwenden und produzieren und glauben nicht, dass wir die einzigen Hersteller/-innen sein sollten. Diese Maschine ist unsere erste Produkteinführung. Folgen werden Hochleistungs-Traktoren, Sägewerke, weitere Maschinen, erneuerbare Energien, Kraftstoffe, Motoren, und all das, was benötigt wird, um eine fortschrittliche Zivilisation auf der Grundlage lokaler Ressourcen zu verwirklichen. Wir gehen so weit, Aluminium aus Tonerde und Silizium aus Sand zu verhütten. Es gibt keine Grenzen – wir sind nur durch unsere eigene Vorstellungskraft gefangen. Unser Experiment soll zeigen, dass wir eine fortgeschrittene Zivilisation auf einem Flurstück verwirklichen können. In unseren Augen ist dies der einzige Weg, verantwortungsvoll zu leben, ohne anderen zu schaden. Den meisten Menschen fehlt die Aufmerksamkeit oder das Bewusstsein diese Tatsache ernst zu nehmen, aber wir wollen dies ändern, indem wir ein erstes funktionierendes Beispiel präsentieren. Wir sollten im 21. Jahrhundert danach streben, eine Ökonomie des Überflusses zu schaffen. Fülle ist kein unbeschwerter Hippie-Begriff. Es ist eine notwendige Bedingung für eine effektive Produktion, bei der – anstatt entfernter Machtzentren – Individuen selbst verantwortlich sind für die Erfüllung ihrer Bedürfnisse und für die Erzeugung der Produkte auf einem Post-Knappheits-Niveau. Dies war und wird immer der Schlüssel zu Frieden und Wohlstand sein, aber es braucht Menschen, die Verantwortung für eine derartige Post-Knappheit-Lebenseinstellung übernehmen.

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Daher ist die wahre Subversion die Umsetzung einer PostKnappheit-Ökonomie, in der jede/-r abgesichert ist. Sie basiert auf Menschen, die stärker und leistungsfähiger werden als je zuvor, um den Bedarf, der zur Deckung all ihrer Grundbedürfnisse nötig ist, in einem Bruchteil der Zeit zu produzieren. Dadurch können sie sich mehrheitlich auf die wahrhaftig erstrebenswerten Dinge und die Entwicklung der Gesellschaft als Ganzes konzentrieren. Abbildung 1: OSE, Global Village Construction Set

Unsere Rolle darin ist eine praktische. Wir entwickeln die wirksamen Produktionsgeräte, das Global Village Construction Set, welches obige Vorstellung Realität werden lässt. Unser erstes Produkt war ein ermutigender Erfolg. Alle unsere Gewinne stellen wir mittels Bootstrap-Finanzierung für Investitionen in zukünftige Entwicklungen zur Verfügung. Wir laden alle ein, unsere Arbeit zu unterstützen und OpenSource-Produktentwickler zu werden. Wir müssen die gesamte Wirtschaft auf Open Source umstellen, damit die Post-Knappheit-Ökonomie Realität wird.

Aus dem Englischen von Nina Bandi und Michael G. Kraft

European Advertising Agency (EUAA) Agentur der Europäischen Union (2002-2009) D ANIEL B LENINGER , M ASAO A KIYAMA

Im Zentrum des Projekts EUAA stehen inszenierte Vorgänge rund um eine fiktive Agentur der Europäischen Union, die sich um die Organisation und Durchführung einer europaweiten Werbeliberalisierung kümmert. Im Rahmen dieser Reformen sollen neue Marketingstrategien zugelassen werden, die vor allem auf einer Freigabe von bis dato staatlich geschützten Bereichen für eine Nutzung durch die Werbewirtschaft basieren. Am stärksten polarisiert bei dieser Reform die Aufwertung der Euro-Banknoten zu Werbeflächen. Die Vermarktung dieser neuen Werbefelder wird von einer übergeordneten Behörde übernommen, der European Advertising Agency. Die Motivation der Union hinter den Reformen ist nachvollziehbar: Mit einer modifizierten Werbegesetzeslage könnten neue Einnahmen lukriert werden und durch ein gesteigertes Konsumverhalten werden die Steuereinnahmen erhöht. Diese Mehreinnahmen sollen direkt in die Bildungs-, Kulturund Umweltbudgets der einzelnen Staaten fließen und somit der Bevölkerung direkt zugutekommen. Diesen utilitaristischen Grundsatz soll auch der EUAA-Slogan ausdrücken: »Advertising for the People«. Das Herzstück des Projekts ist das Promotion-Video der European Advertising Agency, eine fiktive, dystopische Belangsendung der EU, in der diese werbepolitische Entwicklung vorgestellt und beworben wird. Das Promotion-Video gibt vor, ein hochoffizieller Werbefilm zu sein, der die Bürger Europas auf die kommenden Umstellungen vorbereiten will. Mehrere Studiogäste, darunter der Chef der EUAA und die Rektorin der Europäischen Universität in Lüttich gaukeln den Zuse-

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henden eine gewisse Authentizität vor. Nach und nach driftet die Sendung aber von einer seriösen, hochpolitischen Belangsendung in Richtung Polit- und Mediensatire ab und endet in einem furiosen Finale. Ein Bruch, der sich schleichend und unmerklich auf inhaltlicher Ebene abspielt und gegen Ende auch visuell erfahrbar wird (der Präsident der EUAA lässt sich vor laufenden Kameras für viel Geld das Logo eines Getränkeherstellers tätowieren), trennt den authentischen Anfangsteil der Sendung vom satirisch-zynischen Ende, und hinterlässt bei den Zusehenden einen fahlen Nachgeschmack.

AUSZÜGE AUS V IDEO -B LOG

DEM

EUAA S UBVERSIVMESSE -

12. Mai Community Agencies der Europäischen Union Diese Woche im Internet-Video-Programm der Europäischen Kommission zu Community Agencies der EU präsentierte Bo-Dennis Böök vom EUAA-Regionalbüro Nord in Stockholm einige Punkte der EUAA-Agenda für die schwedische EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2009. Mr. Böök kündigte die erste Kooperation mit einem bekannten schwedischen Autohersteller an und erklärte die Bedeutung Schwedens als »Probemarkt für die Eurozone«. Wir sind gespannt, ob Schweden alle Versprechungen von Bo-Dennis halten wird – falls nicht, ist es ein guter Hinweis von Bo-Dennis, dass es ein »paar günstige Flüge runter auf den Kontinent gibt.« 13. Mai EUAA auf der Subversivmesse in Linz (Österreich) Da die Europäische Kommission die Europäische Kulturhauptstadt kofinanziert, wurde die EUAA eingeladen, bei ausgewählten Linz09Programmen Marktforschung mit spezialisierten Zielgruppen durchzuführen. Die EUAA Austria entschied sich dafür, auf der Subversivmesse, welche sich selbst als Fachmesse für Gegenkultur und Widerstandstechnologien begreift, einen Messestand zu mieten. Wir waren der Auffassung, dass das Schlüsselkonzept, das hinter der neuen Gesetzgebung steht, ein guter Anknüpfungspunkt für Diskussionen zu so-

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zialen Umstürzen sein könnte. Von heute an werden wir täglich einen kurzen Video-Blog über diese eher unübliche Messe veröffentlichen. 13. Mai Aufbau! Nach ersten interessanten Diskussionen mit verschiedenen Kollegen und Kolleginnen freuen wir uns auf die morgige Eröffnung. Obwohl wir das Gefühl haben, dass wir etwas overdressed sind, versuchen wir die EUAA von ihrer besten Seite zu präsentieren. 14. Mai Der erste Tag Ein langer und intensiver erster Tag an der Subversivmesse in Linz, Österreich. Im Vergleich zu den anderen Messen, auf denen wir bisher vertreten waren, erscheint hier alles unglaublich anders. Das beste Beispiel ist die offene Volxküche von Wam Kat, die leckeres veganes Essen für Teilnehmer/-innen und Besucher/-innen zubereitet. Vielleicht sind ja wegen des nahrhaften und gesunden Essens alle hier so entspannt und umgänglich. Wir beginnen mit der Marktforschung Gedanken zur Liberalisierung, bei der es sich um eine langfristige Studie über den Einfluss neuer Werbestrategien handelt. 15. Mai Young-Radicals-Europainting-Wettbewerb Wie jedes Jahr veranstaltet die EUAA auch heuer den YoungRadicals-Europainting-Wettbewerb. Heute begannen wir damit, den Gewinner oder die Gewinnerin aus Österreich zu finden, welche/r im Herbst am Finale in Frankfurt teilnehmen wird. Zum ersten Mal ernannte unser Generalsekretär die Gewinner/-innen selbst. Unter den zehn jungen und radikalen Europa-Interns, wurde die gemeinsame Arbeit eines Paares auserkoren! Glückwünsche an Lola & Billy aus Wien!

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16. Mai EUAA-Lern-Tour Heute versuchten wir, die Kommunikation und den Austausch zwischen der EUAA und anderen Ausstellern und Ausstellerinnen zu stärken. Wenn es einen Aspekt gibt, den die EUAA in jede Einheit ihrer Organisation einzubauen sucht, dann ist es die Bereitschaft voneinander zu lernen. Daher haben wir die Messekojen von Monkeydick, Guerilla Gardening, Ruppe Koselleck, Biederpunk und vielen anderen besucht. Am Abend hatten wir eine kurze Sitzung mit Jacob Chromy von Antipreneur zu viralem Marketing und den durch die Gesetzgebung geschaffenen neuen Möglichkeiten. Nachricht nach Frankfurt: »Es wäre cool Chromy bei unseren nächsten Think-Tank-Tagen im Team zu haben!« Abbildung 1: Das Team der EUAA

17. Mai Pressekonferenz Da wir die Subversivmesse dazu verwendet haben, kritische Subkulturen besser kennenzulernen, haben wir uns bereit erklärt, bei einem kleinen und improvisierten Pressemeeting gefolgt von einem kurzen »Fragen und Antworten« einen ersten Einblick in die Ergebnisse unserer Marktanalyse zu gewähren. Wir gaben dabei ein erstes positives Signal für Kontinuität: Die EUAA wird sich bemühen, nächstes Jahr in Brüssel eine Folgeveranstaltung zur Subversivmesse zu organisieren! Übrigens, das Gerät, welches wir zur Ankündigung dieser Veranstal-

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tung verwendet haben, nennt sich Free Speaker – wir sind der Ansicht, dass es das perfekte Gadget für all die langweiligen Treffen in Frankfurt oder Brüssel sein könnte. Denkt darüber nach!

Autorinnen und Autoren

Bandi, Nina ist freischaffende Philosophin und Politikwissenschaftlerin. Studien der Politikwissenschaft an der Universität Genf und der Sozialen und Politischen Theorien an der University of Sussex (UK). Diverse Projekte im Bereich soziale und politische Konflikte und Transformationsprozesse sowie Migration. Bernier, Patrick und Martin, Olive trafen sich erstmals an der École des Beaux Arts in Paris. Ihr gemeinsam entwickeltes Werk vereint unterschiedliche Kunstrichtungen wie Fotografie, Installation, Performance und Film. 2005 stellten sie den 35mm Kurzfilm Manmuswak fertig, der von K., einem in Frankreich lebenden afrikanischen Einwanderer, handelt und der auf zahlreichen Festivals wie Locarno, Rotterdam, Edinburgh, Leeds, Belfort, Barcelona und Clermont-Ferrand gezeigt wurde. Seit 2007 haben sie das Project for a Legal Precedent entwickelt, welchem auch der in diesem Band vorliegende Beitrag entstammt. In einem neuen Film La Nouvelle Kahnawaké (2010) be-

schäftigen sie sich mit der Verbindung von Neuen Medien und den Fragen von Identität und Territorialität. Die dazugehörende Ausstellung Singing the Net wurde im Yerba Buena Center for the Arts in San Francisco (2010) und in der Kadist Art Foundation in Paris (2011) gezeigt. Sie leben und arbeiten in Nantes, Frankreich. Biederpunk wurde 2008 von Andrea Spreafico und Michl Schmidt gegründet. Das Label setzt sich mit scheinbaren Gegensätzlichkeiten bzw. Polaritäten ästhetischer Erscheinungen auseinander und untersucht dabei Klischees und Vorurteile sowie deren Konterkarierung. Die Aufmerksamkeit liegt auf der Improvisation bzw. deren Umsetzung in Disziplinen wie dem DIY, dem Selbermachen und der Baste-

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lei. Ideologisch entziehen sich diese Bereiche einer Einordnung und bleiben eher widersprüchlich. An diesen Widersprüchen knüpfen die Aktivitäten von Biederpunk an. In spezifischen und situativen Projekten entwickelt Biederpunk Konzepte und deren interventionistische und installative Umsetzung. Bleninger, Daniel und Akiyama, Masao arbeiten beide bei der European Advertising Agency (EUAA). Masao ist Assistant Analytics Officer der EUAA. Ausgebildet in Betriebswirtschaftslehre und Europäischer Kulturgeschichte verfügt Akiyama über ein fundiertes Verständnis zweier wichtiger Dimensionen der EU. Seine Aufgaben sind die Erschließung regionaler Märkte für die Aktivitäten der EUAA. Daniel, Publizistikstudium in Wien und Glasgow, Mitarbeiter des Bundeskanzleramts in Brüssel (2000-2003), ist seit 2003 Communication Coordinator für die EUAA in Wien und Prag, zuständig für die CEE Länder. Seit 2008 ist er außerdem Kommunikationsberater im Kunstbereich (ARGE Schwarz, Austrian Art Boys). Brody, Ondrej und Paetau, Kristofer trafen sich 2004 in Berlin und arbeiten seither zusammen. Ondrej wurde 1980 in Prag und Kristofer 1972 in Porvoo, Finnland, geboren. Ausstellungen (Auswahl): The Global Contemporary. Art Worlds After 1989, Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe (2011); Mediations Biennale/Erased Walls, Poznan; Voyeurism, Muzeum Sztuki, Lodz; Degenerate Art, Karlin Studios, Prag; Kunstpreis Balmoral 03, Schloss Balmoral, Bad Ems (alle 2010) und Subversivmesse, Linz (2009). Buchmann, Sabeth, Kunsthistorikerin und -kritikerin. Seit 2004 ist sie Professorin für Kunstgeschichte der Moderne und Nachmoderne an der Akademie der bildenden Künste Wien. Herausgeberin gemeinsam mit Helmut Draxler, Clemens Krümmel und Susanne Leeb von PoLYpeN – einer Reihe zu Kunstkritik und politischer Theorie. Jüngste Veröffentlichungen (Auswahl): Film, Avantgarde, Biopolitik, Wien: Akademie der bildenden Künste und schlebrügge, 2009 (hg. mit H. Draxler, S. Geene); Denken gegen das Denken. Produktion, Technologie, Subjektivität bei Sol LeWitt, Yvonne Rainer und Hélio Oiticica, Berlin: b_books 2007.

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Diabl, Christian studierte in Wien Politikwissenschaft und Geschichte. Im Rahmen des Studiums beschäftigte er sich schwerpunktmäßig mit Political Leadership in Lateinamerika und jüdischer Migrationsgeschichte. Neben seinen Tätigkeiten als Unternehmer, Konzeptionist, freier Autor und Videojournalist engagiert er sich seit seiner Jugend für politische und soziale Anliegen. In Linz treibt er sich am liebsten in der freien Kunst- und Kulturszene herum. Christian Diabl lebt in Linz und Wien. Grenzfurthner, Johannes ist Künstler, Autor, Kurator, Regisseur und Gründer der Kunst- und Theoriegruppe monochrom. Er lehrt Kunsttheorie und künstlerische Praxis an der Fachhochschule Joanneum und Kommunikationsguerilla an der Kunstuniversität Linz. Er ist Leiter des Festivals Arse Elektronika (Thema: Sex und Technologie) in San Francisco und Co-Organisator der Roboexotica (Cocktail-Robotik). Hibbert-Jones, Dee und Talisman, Nomi gründeten Psychological Prosthetics im Jahr 2005, um Ihre politischen Gefühle zu erforschen. Psychological Prosthetics unterstützen Sie dabei, mit Ihrem emotionalen Gepäck in diesen politischen Zeiten klarzukommen. Ihre Produkte und Dienstleistungen reichen von deluxe bis economy. Jedes Service und jedes einzelne Produkt ist speziell für Sie konzipiert, um Ihre politischen Gefühle der Angst, Schuld, Schande, Apathie, Wut, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Reue zu ergründen. Erforschen Sie die gesamte Palette an Produkten vom 30-Sekunden rant recorder (untersuchen Sie ihre Wut) bis hin zu unserem benutzerdefinierten Koffer für Ihr persönliches emotional-politisches Gepäck. Jakubowski, Marcin ist der Gründer des Open Source Ecology Projects, einer gemeinnützigen Forschungs- und Bildungseinrichtung die versucht einen offenen Zugang zu nachhaltigem, gesundem, und erschwinglichem Leben zu erschließen. Die Grundsätze dafür lauten: 1.) offener Zugang zu praktischem Wissen, 2.) die gemeinsame Entwicklung von funktionsfähigen ökonomischen Modellen mittels des gemeinnützigen Sektors und 3.) Bildung, Veranschaulichung und Training zur Umsetzung integrierter, ökologischer und regenerativer sozialer Unternehmen.

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Kastner, Jens, Dr. phil., Soziologe und Kunsthistoriker, lebt als freier Autor und Dozent in Wien. Seit 2008 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter/Senior Lecturer am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften der Akademie der bildenden Künste Wien. Veröffentlichungen in diversen Zeitschriften zu sozialen Bewegungen, Cultural Studies und zeitgenössischer Kunst. Seit 2005 koordinierender Redakteur von Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst. Klauck, Thomas, 1968 in Saarbrücken geboren. Studium der Philosophie und Kulturwissenschaft in Hamburg und Berlin. Magister 2003. Seit 2005 Absageagentur. Freiberuflich tätig in der politischen Bildungsarbeit, u.a. mit künstlerischer Medienarbeit. Daneben Workshops und Seminare zu marxistischer Gesellschaftskritik und Antisemitismus. Er lebt in Berlin. Koselleck, Ruppe, 1967 in Heidelberg geboren. Er lebt und arbeitet in Münster und unterwegs. Studium Freie Kunst an der Kunstakademie in Münster. Projekte und Ausstellungen (Auswahl): Situatives Brachlandmuseum, Bochum; Sie kaufen Kunst und ich BP, Lehmbruck Museum, Duisburg (beide 2011); TAKE-OVER-BP Tour, New Orleans, Pensacola Beach, Gulfshores, USA; Intriguing Intervention, MexicoCity; Grenzpunten, Enschede, Niederlande (alle 2010); Translokative Aurachirurgie, Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen (2009); Der Titel ist die halbe Miete, 15½, Köln; Feindliche Übernahme von BP, FIT, Berlin; Cola Kreuze, RE-ART, Bur Juman, Dubai, Arabische Emirate; Parasitäre Publikationen, Bernsteinzimmer, Nürnberg (alle 2008). Kozenitzky, Iván und Lazcano, Federico leben und arbeiten in Rosario, Argentinien. Ivan ist Architekt, Web-Designer und Künstler. Er engagiert sich in verschiedenen aktivistischen Medienkunst-Kollektiven (z.B. CatEaters, einer auf dem Gebiet der Kommunikation agierenden Guerilla-Gruppe). Seit 2008 arbeitet er an diversen subversiven low-tech Projekten wie Radical ATM Service oder Call Center Experience mit. Federico ist Elektrotechnik-Ingenieur, Musiker und Künstler. Zu seinen zahlreichen Interessen gehören freie Software, Hacktivismus und die Infrastruktur von Informationssystemen. Er war am Planeta X Collective beteiligt und gründete in diesem Rahmen das

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HackLab@PX. Seit 2008 ist er an subversiven low-tech Projekten beteiligt. Kraft, Michael G., Sozialwissenschaftler und Philosoph, lehrt soziale Bewegungen an der Johannes Kepler Universität Linz. Doktorat in ökonomischer Theoriegeschichte an der Wirtschaftsuniversität Wien und Freien Universität Berlin. MA in International Education and Development an der University of Sussex und Studium der Philosophie an der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind politische und Sozialphilosophie, soziale Bewegungen, emanzipatorische Bildung und internationale politische Ökonomie. Lasinger, Sebastian lehrt Soziale Bewegungen und soziale Konflikte an der Johannes Kepler Universität Linz. MSc in Vergleichenden Politikwissenschaften an der London School of Economics and Political Science. Studium der Soziologie an der Johannes Kepler Universität Linz und der Pontificia Universidad Javeriana in Kolumbien. Seine Forschungsschwerpunkte sind soziale Bewegungen, Konfliktforschung sowie politische und soziale Transformationsprozesse im Spannungsfeld von Kunst, Politik und Gesellschaft. Lehyt, Cristóbal, 1973 in Santiago, Chile geborener Künstler. Er lebt und arbeitet in New York und hat in den letzten Jahren vor allem in den USA und Südamerika an wichtigen Ausstellungen teilgenommen. Ausstellungen (Auswahl): Drama Projection, House of Propellers, London; If Organizing is the Answer, What’s the Question?, Carpenter Center for the Visual Arts, Cambridge, MA (beide 2010); Ocular Espectacular II, Die Ecke, Santiago; El Penúltimo Paisaje, Sala de Arte Fundación Telefónica Chile, Santiago (beide 2009); Dramaprojektion, Künstlerhaus Stuttgart, Stuttgart (2008). Mignolo, Walter ist William H. Wannamaker Professor für Literatur und Romance Studies und Leiter des Centers for Global Studies and the Humanities an der Duke University in Durham, USA. Er promovierte 1974 an der École des Hautes Études, Paris und lehrte u.a. an den Universitäten Toulouse, Indiana, Michigan, Warwick und Bremen. Veröffentlichungen (Auswahl): The idea of Latin America, Oxford: Blackwell 2005; Local histories/global designs: coloniality, subaltern knowledges, and border thinking, Princeton: Princeton University

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Press 2000; The Darker Side of the Renaissance, Ann Arbor: University of Michigan Press 1995. Milevska, Suzana, Kunst- und visuelle Kulturtheoretikerin und Kuratorin. Sie lebt in Skopje, Mazedonien. Derzeit unterrichtet sie Kunstgeschichte an der Fakultät für Bildende Kunst der Universität St. Kyrill und Method in Skopje. Zu ihren Forschungs- und kuratorischen Interessen gehören: postkoloniale Kritik hegemonialer Macht in der Kunst, die komplexen Beziehungen zwischen Gender-Theorie und Feminismus in Kunstpraktiken sowie sozial engagierte und partizipatorische Projekte. Mönkedieck, Sonja und Tretow, Rhoda, sind Teil der MonkeydickProductions. Sonja ist Politikwissenschaftlerin und promovierte an der Universität Hamburg. Gefördert wurde ihre Doktorarbeit durch das künstlerisch-wissenschaftliche Graduiertenkolleg Dekonstruktion und Gestaltung: Gender, Hamburg. Zurzeit lebt und arbeitet sie in New York City und ist Visiting Scholar an der New School for Social Research. Rhoda ist Lehrbeauftragte an der Universität Hamburg. In Assoziation mit der Forschungsgruppe Arbeit-Gender-Technik (agentec) der Technischen Universität Hamburg-Harburg erhielt sie Stipendien der Humboldt Universität Berlin sowie des künstlerisch-wissenschaftlichen Graduiertenkollegs Dekonstruktion und Gestaltung: Gender, Hamburg. Moon, Jet ist Künstlerin und Aktivistin. Sie versucht in ihren politisch orientierten Arbeiten Performance, Literatur und Film zu verbinden. Die überwiegende Mehrheit ihrer Arbeiten entsteht außerhalb des traditionellen Kunstkontextes. Durch ihr Engagement bei der globalisierungskritischen Bewegung hat sie einen eigenen Stil entwickelt, der in einer Praxis der Grenzüberschreitung zwischen Geografie, Kultur, Sexualität, Gender und dem Sichtbaren oder Unsichtbaren fußt. Als Gründungsmitglied des Queer Beograd Kollektivs produziert Jet seit über 20 Jahren feministische Arbeit in unterschiedlichen Kontexten. Prliü, Sonja und Zechenter, Karl sind Mitbegründer der Künstlergruppe gold extra. Sonja studierte Literatur in Wien, Dramaturgie in Frankfurt am Main und ist derzeit Doktorandin am Schwerpunkt Wissenschaft und Kunst in Salzburg. Seit 1999 arbeitet sie als freie Regis-

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seurin, Dramaturgin und Autorin an Projekten zwischen Performance, Neuen Medien und Technologien. Für ihre Arbeiten erhielt sie unter anderem das Dramatikerstipendium der Republik Österreich und den Autoren- und Produzentenpreis des Jungen Theaters Bremen. Karl lebt und arbeitet in Salzburg als Regisseur, Autor und Kurator. Er studierte Deutsche Philologie und Politikwissenschaft an der Universität Salzburg und leitete von 1999-2005 das Kulturzentrum ARGEkultur. Er war Vorstandsmitglied des Dachverbands Salzburger Kulturstätten. Viele seiner Arbeiten entstanden mit gold extra, darunter Ein Heldenpark in Kooperation mit der Hessischen Theaterakademie, das Robotertheaterstück Black Box oder das Computerspiel Frontiers. Rancière, Jacques, geboren 1940, ist emeritierter Professor für Philosophie und Kunsttheorie. Er lehrte von 1969 bis 2000 an der Universität Paris VIII (Vincennes und Saint-Denis) und war lange Herausgeber der Zeitschrift Révoltes logiques. Sein vielseitiges Werk wird getragen von der Überzeugung, dass Gleichheit nicht als Wert oder telos, sondern als notwendige Voraussetzung von Theorie anzusehen ist. Le monde diplomatique bezeichnete ihn als »einen der derzeit bedeutendsten Theoretiker Frankreichs«. Rozanski, Gregor, 1988 in Wroclaw, Polen, geboren. Er ist Künstler und lebt und arbeitet in Berlin. Gregor interessiert sich für kurzlebige Ideen und Situationen, post-konzeptionelle Skulpturen im weitestmöglichen Sinn, Handlungen zwischen dem Sublimen und Radikalen, Kontextmanipulationen, Neudefinitionen, Rückwirkungen, PostPolitik, Heterotopien, (Un-)möglichkeiten des Fortschritts, symbolische Mechanik und Chaos. Schober, Anna, gegenwärtig Mercator-Gastprofessorin am Institut für Soziologie der Justus-Liebig-Universität Gießen. Sie war zuvor Visiting Professor an der Universität Verona. Sie arbeitet interdisziplinär zur Geschichte, insbesondere des 18. bis 21. Jahrhunderts, in kulturvergleichender Perspektive, zu Theorie und Geschichte von Öffentlichkeit und Popkultur, zu visueller Kultur und zu Gender Studies. Veröffentlichungen (Auswahl): The Cinema Makers. Public life and the exhibition of difference in Western and South-Eastern Europe since the 1960s (im Erscheinen); Ironie, Montage, Verfremdung. Äs-

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thetische Taktiken und die politische Gestalt der Demokratie, München: Wilhelm Fink 2008. Schuller, Christiane und Tampe, Florian, arbeiten seit 2008 am Projekt DETOX. Christiane beschäftigt sich seit 1995 mit der NeuGestaltung und Um-Nutzung von Pflanzenräumen aller Art. Seit 2006 ist sie freiberuflich in der Darstellenden Kunst als Schauspielerin, Regie- und Produktionsassistentin tätig. Seit 2007 erweiterte sie ihre Aktivitäten auf unterschiedliche Künstlergruppen. Florian arbeitet seit 2001 in Künstlergruppen, unter anderem FLSHBX, DETOX und dem Gängeviertel in Hamburg. Er beschäftigt sich mit Siebdruck, Design und Leuchtobjekten und mit der Um- und Neugestaltung von Orten. Leere Gebäude findet er toll, wenn sie wie im Gängeviertel nicht ganz legal von Menschen belebt werden. UBERMORGEN.COM (AT/CH/USA) is a fxxxist net.artist duo: lizvlx and Hans Bernhard living&working in Vienna & St. Moritz. Übermorgen is the German word both for »the day after tomorrow« and »super-tomorrow« if you don’t get help here pls get help somewhere http://UBERMORGEN.COM. The art happens when a user starts to think EOF. U.R.A./FILOART und Arndt, Olaf, auf der Suche nach neuen Wegen in der Kunst wird 1984 eine Gruppe aus Ideen gebildet. Diese Gruppe nannte sich FILOART. Sie arbeitete interdisziplinär. Im Jahr 1989 zersplitterte die Gruppe. In den 1990er-Jahren gründen sich mehrere Gruppen, die das Konzept von FILOART als Grundstein für ihre Arbeit nutzen. Diese Gruppen arbeiten autonom, ihre Themen und Ausdrucksformen sind unterschiedlich. Bis Ende des 20. Jahrhunderts zählt die FILOART-Bewegung acht Gruppen: Sammlerfamilie (1991), Psychiatriepatienten (1992), D.N.K.-Dashuria Ndaj Katrorit (1993), L.E.O. (1993), Mrs. Brainwash (1995), U.R.A. (1996), Globalodromia (1996), P.M.S. (1996). Olaf arbeitete zunächst im Bereich Performance. In Zusammenarbeit mit anderen Künstlern entwickelte er Inszenierungen, die das Themenfeld Mensch-Maschine zur Schau stellen. 1989 gründete er die Maschinenperformancegruppe BBM (Beobachter der Bediener von Maschinen). Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt ist die Entwicklung von Ausstellungskonzepten und die Herausgabe von Begleitpublikationen zu Themen der Industrie- und Medienkultur.

Kultur- und Medientheorie Uta Daur (Hg.) Authentizität und Wiederholung Künstlerische und kulturelle Manifestationen eines Paradoxes Juli 2012, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1924-9

Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien Mai 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

Sandro Gaycken (Hg.) Jenseits von 1984 Datenschutz und Überwachung in der fortgeschrittenen Informationsgesellschaft. Eine Versachlichung Juni 2012, ca. 170 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2003-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kultur- und Medientheorie Sven Grampp, Jens Ruchatz Die Fernsehserie Eine medienwissenschaftliche Einführung Juni 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-8376-1755-9

Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Juni 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2

Markus Leibenath, Stefan Heiland, Heiderose Kilper, Sabine Tzschaschel (Hg.) Wie werden Landschaften gemacht? Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Konstituierung von Kulturlandschaften September 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1994-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Lars Koch, Christer Petersen, Joseph Vogel (Hg.)

Störfälle Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2011

2011, 166 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-1856-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 10 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

www.transcript-verlag.de

Jacques Rancière im Passagen Verlag Hg. von Peter Engelmann

Chronik der Konsensgesellschaft 2011, 1. Auflage, 224 Seiten ISBN 9783851659771 Passagen forum

Der unwissende Lehrmeister 2009, 2. Auflage, 168 Seiten ISBN 9783851658859 Passagen forum

Politik der Literatur 2011, 2. Auflage, 264 Seiten ISBN 9783851659788 Passagen forum

Das Unbehagen in der Ästhetik 2008, 2. Auflage, 160 Seiten ISBN 9783851658736 Passagen forum

Und die Müden haben Pech gehabt! Interviews 1976-1999 2012, 1. Auflage, 164 Seiten ISBN 9783709200216 Passagen forum

Philosophien Gespräche mit M. Foucault, K. Axelos, J. Derrida, V. Descombes, A. Glucksmann, E. Lévinas, J.F. Lyotard, J. Rancière, P. Ricoeur und M. Serres 2007, 2. Auflage, 160 Seiten ISBN 9783851657838 Passagen forum

Der emanzipierte Zuschauer 2010, 1. Auflage, 160 Seiten ISBN 9783851659085 Passagen forum

Der Philosoph und seine Armen 2010, 2. Auflage, 320 Seiten ISBN 9783851659313 Passagen forum

www.passagen.at